Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta [1 ed.] 9783428552481, 9783428152483

Der Schutz von Ehe und Familie wird in Deutschland und Europa seit einiger Zeit kontrovers diskutiert, nicht zuletzt auf

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Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta [1 ed.]
 9783428552481, 9783428152483

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Schriften zum Europäischen Recht Band 179

Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta Von Viktor Rogalla

Duncker & Humblot · Berlin

VIKTOR ROGALLA

Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 179

Der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta

Von Viktor Rogalla

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-15248-3 (Print) ISBN 978-3-428-55248-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85248-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2016 von der Juristischen Fakultät der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover als Dissertation angenommen. Literatur und Rechtsprechung konnten noch bis Anfang 2017 berücksichtigt werden. Großer Dank gebührt Frau Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf, LL.M., für die vorzügliche Betreuung der Arbeit und die bereichernde Zeit als Mitarbeiter an ihrem Lehrstuhl. Weiterhin danke ich Herrn Prof. Dr. Kay Waechter für die überaus zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Der größte Dank jedoch gebührt meinen Eltern, ohne deren fortwährende Unterstützung in jedweder Hinsicht die Arbeit nicht entstanden wäre; ihnen ist sie deshalb gewidmet. Hannover, im Mai 2017

Viktor Rogalla

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Erster Teil

Überblick über den rechtlichen und gesellschaftlichen Wandel von Ehe und Familie in Europa und über die Verfassungen der Mitgliedstaaten 

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A. Ehe und Familie im antiken Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 I. Die römische familia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 II. Die römische Ehe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 B. Ehe I. II. III.

und Familie im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die germanische Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die germanische Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Einfluss der Kirche auf die Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Ehe und Familie in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Säkularisierung der Ehe durch Reformation und Aufklärung . . . . . . II. Französische Revolution, Code Civil und neue eherechtliche Vielfalt in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Wandel der Familie durch die Industrielle Revolution . . . . . . . . . . . IV. Entwicklung von Ehe und Familie im 20. und 21. Jahrhundert . . . . . . . . V. Zusammenfassung zur Geschichte von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . .

31 31

D. Der Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ehe und Familie als Schutzobjekte des internationalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schutz von Ehe und Familie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick über den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG . . . a) Verhältnis von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begriff der Ehe in Art. 6 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Begriff der Familie in Art. 6 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sachliche Gewährleistungen und Dimensionen des Ehegrundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Sachliche Gewährleistungen und Dimensionen des Familiengrundrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8 Inhaltsverzeichnis

f) Institutsgarantien von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Institutsgarantien in der Weimarer Staatsrechtslehre . . . . . . . bb) Institutsgarantien im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Schutzgut der Institutsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Schutzwirkung der Institutsgarantie . . . . . . . . . . . . . . cc) Kriterien zur Bestimmung der Existenz einer Instituts­ garantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Kritik an der Figur der Institutsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Die von der Institutsgarantie geschützten Strukturmerkmale der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Der Schutz von Ehe und Familie als wertentscheidende Grundsatznorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie in den übrigen Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Mitgliedstaaten ohne verfassungsrechtliche Normen zum Schutz von Ehe und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Mitgliedstaaten, in denen Ehe und Familie verfassungsrechtlich geschützt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zweiter Teil

Die Dogmatik des Schutzes von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta 

A. Die Funktionen der Grundrechte in der Grundrechtecharta  . . . . . . . . . . I. Die grundlegende Unterscheidung von Abwehrrechten und Leistungsrechten in der deutschen Grundrechtsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Unterscheidung von Abwehrrechten und Leistungsrechten anhand der Art der Verpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die weitere Differenzierung der Leistungsrechte im weiteren Sinne . . . IV. Die Übertragbarkeit der Einteilung der Grundrechtswirkungen nach ihrem Verpflichtungsinhalt auf das Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Verhältnis zwischen den Grundrechtsquellen der Europäischen Union und der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Bedeutung der Grundrechtecharta als Rechtsquelle . . . . . . . . . . . . . II. Der Vorrang und die Autonomie der Grundrechtecharta gegenüber den Grundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Autonomie der Grundrechtecharta als Rechtsquelle . . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu den Grundrechten und Grundsätzen der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Bedeutung von Art. 52 Abs. 3 S. 1 und 2 GRC für die Dogmatik des Schutzes von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta . . . . . . . . . 1. Die Diskussion im Konvent über die inhaltliche Reichweite des Grundrechtsschutzes durch die Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis9

2. Die Bedeutung der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta für die Auslegung von Art. 52 Abs. 3 GRC . . . . . . . . . . 94 a) Die rechtliche Qualität der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta gemäß Art. 6 Abs. 1 uA 3 EUV . . . . . . . . . . . . 94 b) Die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 Abs. 3 GRC . . . . . . 96 3. Das Mandat des Europäischen Rates in Köln zur Erarbeitung der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4. Gefahr des Zurückbleibens des Schutzniveaus der Grundrechte­ charta hinter dem Schutzniveau der allgemeinen Rechtsgrundsätze  . 97 5. Konflikte mit der EMRK bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 C. Tragweite derjenigen Chartarechte, die solchen der EMRK entsprechen  100 I. „Entsprechen“ der Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II. Rechtsfolge: „gleiche Bedeutung und Tragweite“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Identität des Schutzes durch sich-entsprechende Rechte in der Grundrechtecharta und der EMRK? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Die dogmatische Einordnung der Rechtsfolge: „Inkorporations­ klausel“ oder Auslegungsdirektive? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 III. Entsprechung der Art. 9, 7 und 33 GRC mit Rechten der EMRK  . . . . . 109 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 I. Die Rechte des Art. 12 EMRK als Mindestgehalt des Art. 9 GRC . . . . . 112 1. Das Recht, eine Ehe einzugehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Der Ehebegriff des Art. 12 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Die Gewährleistungsdimensionen des Rechts auf Eingehung einer Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Schranken und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 2. Das Recht, eine Familie zu gründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 a) Der Familienbegriff des Art. 12 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 b) Gewährleistungsdimensionen des Rechts auf Familiengründung . 126 c) Schranken und Schranken-Schranken der Familiengründungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 II. Die Eheschließungsfreiheit des Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 1. Die Eheschließungsfreiheit des Art. 9 GRC als normgeprägtes Grundrecht  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2. Art. 9 GRC als Institutsgarantie zugunsten der Ehe . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Der Ehebegriff des Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 a) Entstehungsgeschichte und Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 c) Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 d) Telos, Regelungen in den Mitgliedstaaten und Ehebegriff des Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

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aa) Begründung eines Rechtsverhältnisses durch freiwilligen Entschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 bb) Auf Herstellung einer Lebens- oder Rechtsgemeinschaft zwischen zwei Personen gerichtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 cc) Mit einem frei gewählten Partner: Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 dd) Unauflöslichkeit der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 ee) Besondere Form und Publizität der Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 4. Schranken und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit . . . 146 a) „Ausgestaltung“ der Eheschließungsfreiheit gemäß Art. 9 GRC? . 146 aa) Die Ausgestaltungslehre in der deutschen Grundrechts­ dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 bb) Keine Ausgestaltung der Eheschließungsfreiheit aus Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 b) Art. 9 GRC und Art. 52 Abs. 1 GRC als „doppelte Schranken“ der Eheschließungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 c) Schranke und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit gemäß Art. 52 Abs. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 aa) Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 bb) Verhältnismäßigkeitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 (1) Das Untermaßverbot als Gegenstück zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 (2) Die Elemente des Untermaßverbotes . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (a) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 (b) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 (c) Verhältnismäßigkeit i. e. S. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 cc) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 e) Beurteilungsspielräume durch den Hinweis auf die Rechts­ vorschriften der Mitgliedstaaten in Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Das Recht, eine Familie zu gründen in Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 1. Das Verhältnis des Familiengründungsrechts zu dem Recht, eine Ehe einzugehen in Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 2. Der Schutzbereich der Familiengründungsfreiheit gemäß Art. 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 3. Gewährleistungsdimensionen der Familiengründungsfreiheit . . . . . . . 170 4. Schranken der Familiengründungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Schutz von Ehe und Familie in Art. 8 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . 1. Das Verhältnis der einzelnen Gewährleistungen des Art. 8 EMRK zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Begriff der Familie in Art. 8 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Eheleute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nichteheliche Lebensgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. III. IV. V.

c) Gemeinschaft aus Eltern und ihren Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 d) Gemeinschaft aus Kindern und ihren nicht zusammenlebenden Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 e) Adoptiv- und Pflegekinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 f) Andere verwandtschaftliche Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Gewährleistungsdimensionen des Rechts auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 4. Schranken und Schranken-Schranken des Rechts auf Achtung des Familienlebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5. Das Verhältnis des Schutzes von Ehe und Familie gemäß Art. 8 EMRK zu dem Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 12 EMRK . 183 Der Familienbegriff des Art. 7 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Dimensionen des Familienschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 Schranken und Schranken-Schranken des Art. 7 GRC . . . . . . . . . . . . . . . 188 Zusammenfassung zum Schutz von Ehe und Familie in Art. 7 und 9 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188

F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 I. Die Gewährleistung des Art. 33 Abs. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 1. Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft ­zusammenhängenden Grund (Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC) . . . . . . . . . 191 a) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 b) „Mutterschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 c) Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammen­ hängenden Grund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 d) Die Gewährleistungsdimensionen, Schranken und SchrankenSchranken des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 2. Die Gewährleistung bezahlten Mutterschaftsurlaubes und Eltern­ urlaubes (Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 a) Mutterschaftsurlaub (Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC) . . . . . . . . . . . . . 194 b) Elternurlaub (Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 c) Gewährleistungsdimensionen, Schranken und SchrankenSchranken der Rechte auf Mutterschafts- und Elternurlaub . . . . . 198 II. Die Gewährleistung des Art. 33 Abs. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 1. Schutzbereich: Der Familienbegriff des Art. 33 Abs. 1 GRC . . . . . . . 199 a) Die Entstehungsgeschichte des Art. 33 Abs. 1 GRC . . . . . . . . . . . 200 b) Gemeinschaft aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern . . . . . 201 c) Eheleute ohne Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 d) Menschen ohne Kinder, die in einer nichtehelichen Lebens­ gemeinschaft leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 e) Eltern und ihre erwachsenen Kinder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 f) Sonstige Verwandtschafts- oder Nähebeziehungen . . . . . . . . . . . . 208 g) Zusammenfassung zum Familienbegriff des Art. 33 Abs. 1 GRC . 208

12 Inhaltsverzeichnis

2. Rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Schutz der Familie gem. Art. 33 Abs. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 a) Die Gewährleistungsdimensionen des Art. 33 Abs. 1 GRC: Der „Schutz“ und die „Förderung“ der Familie . . . . . . . . . . . . . . . 209 aa) Fördergebot zugunsten der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 bb) „Schutz“ i. S. d. Art. 33 Abs. 1 GRC durch Abwehr hoheitlicher Eingriffe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 b) Der Inhalt der Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 aa) Der rechtliche Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 bb) Der wirtschaftliche Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 cc) Der soziale Schutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Die rechtliche Einordnung des Art. 33 GRC: Gewährleistung von Rechten oder Grundsätzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 1. Die Wirkung der Rechte und Freiheiten der Grundrechtecharta . . . . . 217 2. Die Wirkung der Grundsätze in der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . 218 a) Rechtsverbindlichkeit der Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 b) Die unmittelbare Anwendbarkeit von Grundsätzen . . . . . . . . . . . . 223 aa) Die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit ­primärrechtlicher Normen des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . 224 (1) Die Supranationalität des Unionsrechts als Grundlage für die unmittelbare Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 (2) Abgrenzung von unmittelbarer Wirkung und unmittel­ barer Geltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 (3) Die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung . . . . . . 226 (a) „Hinreichend bestimmt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 (b) „Inhaltlich unbedingt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 (4) Positive Handlungspflichten als Ausschlusskriterium der Unbedingtheit oder hinreichenden Bestimmtheit? . . . 230 (5) Gewährung subjektiver Rechte als Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 (6) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 bb) Folge der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts . . . . . . . . 239 (1) Einräumung subjektiver Rechte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 (2) „Substitution effect“ und „exclusionary effect“ . . . . . . . . 242 (3) Unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 (4) Besonderheiten bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 c) Normativer Gehalt des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC: Die Anordnung eingeschränkter Justiziabilität der Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . 249 d) Die Rechtmäßigkeitskontrolle von Umsetzungsakten gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC: „Soziales Rückschrittsverbot“? . . . . . . . 253 aa) Der Gegenstand der Rechtmäßigkeitskontrolle am Maßstab der Grundsätze: Der Begriff des Umsetzungsaktes . . . . . . . . 254

Inhaltsverzeichnis13

bb) Der Prüfungsmaßstab der Rechtmäßigkeitskontrolle i. S. d. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Abwehrrechtlicher Schutz vor der Absenkung bereits ­gewährter Vergünstigungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Konkretisierung formeller Unterlassenspflichten durch das Untermaßverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Aktivierung des Untermaßverbotes: Die Beeinträchtigung von Umsetzungsakten . . . . . . . . . . (2) Der legitime Zweck des Unterlassens der bisher gewährten Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Geeignetheit und Erforderlichkeit der Reduzierung des Leistungsniveaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Spielräume der Union und der Mitgliedstaaten . . . . . . . . (6) Unanwendbarkeit des Untermaßverbotes im Rahmen der Reprobationswirkung der Grundsätze gem. Art. 52 Abs. 5 GRC? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kriterien für die Qualifizierung einer Norm als Recht oder Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auffassungen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Stellungnahme und eigene Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Einordnung der Gewährleistungen des Art. 33 GRC als Recht oder Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Art. 33 Abs. 1 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Art. 33 Abs. 2 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung zum Schutz von Ehe und Familie in Art. 33 GRC  .

256 258 259 259 260 261 261 263 265 268 268 271 276 276 278 280

Dritter Teil

Einfluss des Ehe- und Familienschutzes der Grundrechtecharta auf das bestehende Sekundärrecht der Europäischen Union 

283

A. Anwendungsbereich der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie . . . . . . . . . . I. Grundrechtskonformität der Eigenverwaltung der Europäischen Union am Beispiel des europäischen öffentlichen Dienstes  . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mutterschaftsurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Elternurlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Leistungen der sozialen Sicherheit für Kinder  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. „Partnerschaftsförderung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung zum Schutz von Ehe und Familie im Dienstrecht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ehe- und Familienschutz im Freizügigkeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289 289 291 291 292 292 298 299

14 Inhaltsverzeichnis

1. Anwendbarkeit des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV auf ­Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die selbst Unions­ bürger sind  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Abgeleitetes Freizügigkeitsrecht von drittstaatsangehörigen Fami­ lienmitgliedern aus der Freizügigkeitsrichtlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Freizügigkeit drittstaatsangehöriger „Ehegatten“ und „Lebenspartner“ von Unionsbürgern  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Freizügigkeitsrecht sonstiger Familienangehöriger von Unionsbürgern, die selbst keine Unionsbürger sind . . . . . . . . . . . . III. Ehe und Familienschutz in der Familienzusammenführungsrichtlinie . . . IV. Der Einfluss des Ehe- und Familienschutzes auf das „Dublin-Regime“ im Flüchtlingsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Der Schutz von Ehe und Familie im Koordinationsrecht in Familien­ sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

299 300 302 304 305 308 310

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Rechtlicher und gesellschaftlicher Wandel von Ehe und Familie in Europa und ihr Schutz in den Verfassungen der Mitgliedstaaten . . . . II. Die Unterscheidung von Abwehrrechten und Leistungsrechten in der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Grundrechtecharta im System des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union gemäß Art. 6 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ehe und Familie in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Ehe und Familie in der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Der Schutz von Ehe und Familie in Art. 33 GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Einfluss des Ehe- und Familienschutzes der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317 317 317 318 319 320 321 322

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Personen- und Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

Einleitung Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts haben den Blick auf Ehe und Familie grundlegend gewandelt. Noch im Jahre 1962 befand der BGH, dass sich Eltern, die es ihren verlobten Kindern gestatten, „wie Mann und Frau“ zusammenzuleben, der schweren Kuppelei gemäß der damaligen §§ 180 ff. StGB schuldig machen.1 Zur Begründung heißt es, „die sittliche Ordnung fordere, daß sich der Verkehr der Geschlechter grundsätzlich in der Einehe vollziehe, weil der Sinn und die Folge des Verkehrs das Kind ist, das nur in der Gemeinschaft der Familie gedeihen kann, und daß daher der ernstliche Wille der Verlobten zur Ehe für sich allein nicht die Unzüchtigkeit des Verkehrs zwischen ihnen beseitigt.“2 Deutlicher kann das traditionelle Familienverständnis nicht zum Ausdruck gebracht werden: Familie ist, jedenfalls idealerweise, die eheliche Familie. Nichteheliche Familien sind zu vermeiden, eheliche Familien schützens- und fördernswert. Geschlechtsverkehr, ohnehin nur zwischen Mann und Frau akzeptiert, hat sich auf die Ehe zu beschränken. Er führt nicht nur zur Schwangerschaft, sie ist auch sein Zweck. Die Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten moderne Verhütungsmethoden hervor, allen voran die Entwicklung der Antibabypille, beendeten die Zwangsläufigkeit der Schwangerschaft und enttabuisierten Sexualität. Familienplanung wurde möglich, ohne ein Leben in Keuschheit führen zu müssen. Zugleich wurde der Weg zur Gleichberechtigung der Frau geebnet, die nun nicht mehr darauf beschränkt war, Kinder zu bekommen und diese versorgen zu müssen. Statt Hausfrau zu sein, können Frauen heute einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Das „male breadwinner model“ wurde durch Doppelverdienerehen abgelöst. Nichtehelich geborene Kinder werden nicht mehr als mit dem Makel der Unzucht behaftet angesehen. Die Familienformen sind vielfältiger geworden, Menschen bekommen Kinder, ohne verheiratet zu sein, sie heiraten, ohne sich für Kinder zu entscheiden oder verzichten auf Ehe und Kinder. Hinzu kommen „patchwork-“ und „Regenbogenfamilien“, die das hergebrachte Muster von Vater, Mutter und Kindern sprengen. Das Leitbild der bürgerlichen Familie ist unter Druck geraten, das Verhältnis der Ehe zur Familie unsicherer geworden. Dies gilt umso mehr, seit sich in den vergangenen 1  BGHSt 2  BGHSt

17, 230 (231). 17, 230 (232).

16 Einleitung

Jahrzehnten Tendenzen abzeichnen, auch gleichgeschlechtlichen Partnerschaften rechtliche Anerkennung zukommen zu lassen oder die Ehe für gleichgeschlechtliche Partner zu öffnen. Gleichzeitig hat die Planbarkeit von Familie dazu geführt, dass die Geburtenrate stark zurückgegangen ist. Seit 1972 übersteigt die Zahl der Sterbefälle in Deutschland die Zahl der Geburten. Zusammen mit einer gestiegenen Lebenserwartung der Menschen kommt es zu einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur. Die Bevölkerung schrumpft und altert, der demografische Wandel hat begonnen. Die Zunahme des Anteils älterer Menschen an der Bevölkerung und der Mangel an Kindern verursachen gesellschaftliche Probleme. Der hiermit einhergehende Mangel an erwerbsfähigen Personen in der Wirtschaft wird dauerhaft selbst durch steigende Automatisierung nicht auszugleichen sein. Wirtschaftswachstum zu generieren wird schwieriger, mittelfristig drohen Stagnation und Rezession. Der demografische Wandel bedroht zudem die Sozialversicherungssysteme. Ein umlagefinanziertes Rentensystem wie das deutsche basiert auf der Annahme, dass genügend Erwerbstätige vorhanden sind, um die Versorgung der Leistungsbezieher zu finanzieren.3 Der legendäre, Konrad Adenauer zugeschrieben Ausspruch „Kinder kriegen die Leute immer!“ hat sich als Irrtum erwiesen und die Grundlagen des Rentenversicherungssystems sind in Gefahr. Die deutsche Politik ist sich des Problems bewusst. Die Familie rückt nicht als sittlich-moralische, sondern als wirtschaftliche, bevölkerungspolitische Keimzelle der Gesellschaft in den Vordergrund. Familienpolitik wird auch Bevölkerungspolitik, Familienförderung bedeutet unter anderem, die Entstehung von Familien zu begünstigen4 und die Gefahren, die Familien drohen, abzuwenden. Besonders die Erwerbstätigkeit beider Partner birgt die Gefahr, dass sich Kinderwünsche nicht realisieren lassen, weil Familie und Beruf nicht ausreichend miteinander vereinbar sind.5 Den grundrechtlichen Rahmen bildet dabei vor allem Art. 6 Abs. 1 GG, wonach Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen. Der demografische Wandel ist indes kein deutsches, sondern ein europäisches Problem. Ganz Europa altert und schrumpft, die Geburtenrate liegt in allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union unter dem Generationenersatzniveau. Das Problem ist längst auf der Tagesordnung der Organe der EU angekommen. Die Kommission betont in ihrer Mitteilung „Die demografische Zukunft Europas – Von der Herausforderung zur Chance“ die Notwen3  Vgl.

§ 153 SGB VI. Steuerbarkeit der Geburtenrate durch staatliche Familienförderung BrosiusGersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 118 ff. 5  Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 93 ff. 4  Zur

Einleitung17

digkeit, aber auch die Möglichkeit eines Europas, das die demografische Erneuerung begünstigt.6 Die Europäische Union ist jedoch kein Staat, sondern eine supranationale Organisation. Gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung darf sie nur tätig werden, wenn und soweit ihr die Mitgliedstaaten eine entsprechende Kompetenz eingeräumt haben. Eine ausdrückliche Kompetenz zum Schutz von Ehe und Familie oder zur Regelung des Familienrechts wird man in den Verträgen vergeblich suchen. Ehe, Familie und ihr Schutz sind vornehmlich Sache der Mitgliedstaaten. Angesichts der angestrebten „immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 Abs. 1 EUV) muss das allerdings nicht auf ewig so bleiben. Der Schutz von Ehe und Familie hat jedenfalls bereits Eingang in das Primärrecht gefunden. Seit dem Inkrafttreten des Vertragswerkes von Lissabon im Jahre 2009 verfügt die Europäische Union mit der Charta der Grundrechte7 der Europäischen Union über einen kodifizierten Grundrechtskatalog. Die Grundrechtecharta enthält auch Normen, die sich mit Ehe und Familie befassen. Art. 9 Grundrechtecharta (GRC) gewährt jedem Menschen das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Gem. Art. 7 GRC hat jeder Mensch Anspruch auf die Achtung seines Familienlebens. Damit lässt es die Grundrechtecharta aber nicht bewenden. Art. 33 Abs. 1 GRC gewährleistet den rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie, Art. 33 Abs. 2 GRC Gewährleistungen zu Mutterschutz und Elternurlaub. Aus grundrechtlicher Sicht scheint die Europäische Union für den Schutz von Ehe und Familie gut gerüstet zu sein. Zugleich werden viele Fragen aufgeworfen: Erstens danach, ob es überhaupt einen europäischen Ehe- und Familienbegriff gibt, weil der Begriff der Ehe in den Mitgliedstaaten kontrovers diskutiert wird und der Union keine Kompetenzen zur Regelung dieser Materien zukommen. Zweitens danach, welche Schutzdimensionen den Grundrechten innewohnen; ob es sich um Abwehrrechte handelt oder ob sie die Union zu Tätigkeiten zugunsten des Schutzes der Familie oder der Ehe verpflichten und möglicherweise ein Fördergebot zugunsten der Familie enthalten. Insbesondere bei Art. 33 CRC ist nicht geklärt, welche Rechtswirkungen er zu erzeugen vermag, ob die Norm überhaupt „Grundrechte“, oder nur „Grundsätze“ enthält. Mit anderen Worten sind die dogmatischen Strukturen des Schutzes von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta bisher ungeklärt. Diesen Fragen soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Dazu wird zuerst ein kurzer Überblick über die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa gegeben. Im Anschluss folgt ein Blick auf die mitgliedstaatlichen 6  Europäische Kommission, Mitteilung v. 12.10.2006, KOM (2006) 571 endgültig; bekräftigt in der Mitteilung vom 29.4.2009, KOM (2009) 180 endgültig. 7  Im Folgenden „Grundrechtecharta“.

18 Einleitung

Verfassungen um herauszufinden, ob sich für die Mitgliedstaaten eine gemeinsame Verfassungstradition des Schutzes von Ehe und Familie ausmachen lässt (Erster Teil). Im dem sich anschließenden zweiten Teil wird der Schutz von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta untersucht. Das hauptsächliche Augenmerk liegt auf den Begriffen Ehe und Familie, wodurch auch ihr Verhältnis zueinander angesprochen ist, sowie auf den Gewährleistungsdimensionen des Ehe- und Familienschutzes und der daraus folgenden dogmatischen Struktur und rechtlichen Wirkung der Normen. Zum Schluss wird im dritten Teil ein Blick auf den gemeinschaftlichen Besitzstand jenseits der Grundrechtecharta geworfen und der Frage nachgegangen, ob der Ehe- und Familienschutz der Grundrechtecharta nicht bereits heute praktische Auswirkungen zeitigt. Weitestgehend ausgeklammert bleibt das Antidiskriminierungsrecht. Die Gleichheit von Frauen und Männern (Art. 23 GRC) und das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung (Art. 21 Abs. 1 GRC) haben zwar einen beträchtlichen Einfluss auf Ehe und Familie, ihre Wirkungen gehen aber weit darüber hinaus. Zudem sind sie, im Gegensatz zum Schutz von Ehe und Familie nach der Grundrechtecharta, bereits Gegenstand umfangreicherer Untersuchungen.

Erster Teil

Überblick über den rechtlichen und gesellschaftlichen Wandel von Ehe und Familie in Europa und über die Verfassungen der Mitgliedstaaten Ehe und Familie sind Begriffe mit langer Tradition. Der Schutz von Ehe und Familie hat seinen Ursprung weit in vorchristlichen Zeiten. Wenn auch Ehe und Familie teilweise auf „biologischen Grundtatbeständen“ beruhen mögen,1 sind sie in erster Linie soziale Erscheinungen und demgemäß einem historischen Wandel unterworfen. Während diese Tatsache für die Ehe heute angesichts mannigfaltiger Erscheinungsformen in der Welt, aber auch im Verlaufe der Geschichte, nahezu selbstverständlich erscheint, ist sie für die Geschichte der Familie eine relativ neue Erkenntnis.2 Mit dem Wandel des Verständnisses von Ehe und Familie veränderte sich ebenfalls deren Verhältnis zueinander. Im Folgenden soll die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa kurz skizziert werden. Rechtliche und gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich dabei nicht eindeutig trennen. Das ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass gesellschaftliche Entwicklungen der Entwicklung des Rechts vorangehen, das Recht der Ehe und der Familie in Europa zum anderen stets uneinheitlich und im Fluss war. Es lassen sich im Verlaufe der europäischen Geschichte nicht mehr als rechtlich-gesellschaft­ liche Leitbilder der Familie ausmachen, die in unterschiedlichem Maße den Realitäten entsprachen.3 Zudem dürften die Lebensmuster der Menschen je nach sozialer Stellung sehr unterschiedlich gewesen sein. In der Ständegesellschaft des Mittelalters war im europäischen Adel, aber auch in besitzenden städtischen Schichten, die Blutsverwandtschaft aufgrund der damit verbundenen Erbfolge wesentlicher, als in den Schichten des städtischen Proletariats.4 Die Ausführungen müssen sich notwendig auf eine skizzenhafte Darstellung der Leitbilder in Recht und Gesellschaft beschränken.

1  Stern,

Staatsrecht, Band IV/1, § 100 I 1 (S. 330). Vom Patriarchat zur Partnerschaft, S. 21 f. 3  Fuhs, Zur Geschichte der Familie, S. 20. 4  Fuhs, Zur Geschichte der Familie, S. 29. 2  Mitterauer/Sieder,

20

1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

A. Ehe und Familie im antiken Rom Die Begriffe von Ehe und Familie im hochentwickelten römischen Recht haben die weitere Rechtsentwicklung nachhaltig geprägt. Die Regelungen von Ehe und Familie unterlagen im Römischen Reich selbst einem historischen Wandel, der in der Spätphase Roms vor allem von den Lehren des zur Staatsreligion erstarkten Christentums geprägt war.

I. Die römische familia Der Begriff der Familie hat seinen etymologischen Ursprung im Lateinischen, im Begriff der familia. Er verweist auf die famuli, das zum Haus gehörende Gesinde und die Sklaven.5 Mit dem Begriff wurde deshalb auch nicht, wie im heutigen deutschen Sprachgebrauch üblich, das Verhältnis der Eltern und ihrer Kinder, oder die Gesamtheit der Blutsverwandten bezeichnet. Die familia bezeichnete das „Haus“ im Sinne des ganzen Haushaltes. Die römische Familie war in vorklassischer Zeit nicht nur eine Gemeinschaft blutsverwandtschaftlich verbundener Personen, sondern eine Gemeinschaft von Angehörigen der grundlegenden Wirtschafts- und Produktionseinheit.6 Ihr entscheidendes Ordnungsprinzip war die agnatisch (d. h. in der männlichen Abstammungslinie)7 weitergegebene Hausgewalt (patria potestas). Wer diese innehatte, war das Familienoberhaupt (pater familias) und die zentrale Figur der familia. Der pater familias repräsentierte die Familie nach außen (als einziges Rechtssubjekt der familia)8 und bei religiösen Anlässen.9 Hausvater war der älteste noch lebende Verwandte in männlicher Abstammungslinie. Frauen konnten keine Hausgewalt innehaben. Zur familia gehörten alle unter der Hausgewalt des pater familias stehenden Personen. Dazu gehörten nicht nur gegebenenfalls die Frau und die (ehelichen) Kinder des Hausvaters, sondern auch deren Kinder und gegebenenfalls Enkel, die vom Hausvater als Kinder angenommenen (adoptierten) Personen, unfreies Gesinde, etc.10 Die patria potestas war das entscheidende Ordnungsprinzip der römischen Familie. Ursprünglich war sie eine unbegrenzte Herrschafts5  Haibach, Familienrecht in der Rechtssprache, S. 11; Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 46, Fn. 6. 6  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 18; Auer/Kaufmann, in: StL, Bd. 2, Eintrag „Ehe und Familie“, Sp. 105. 7  Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 90. 8  Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 72. 9  Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 90. 10  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 46, die Herrschaft über die Sklaven jedoch war Eigentum, Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, S. 80.



A. Ehe und Familie im antiken Rom21

gewalt über alle Mitglieder der familia, zu der auch gehörte, dass der Hausvater über die Annahme neugeborener Kinder in die familia zu entscheiden hatte oder sie anderenfalls aussetzte; eine Praxis die erst unter dem Einfluss des Christentums im Jahre 318 n. Chr. verboten wurde.11 Die Kinder blieben nicht nur bis zu ihrer Volljährigkeit unter der Gewalt ihres Vaters, sondern dessen Gewalt über sie endete erst mit dem Tode des pater familias.12 Die Söhne konnten sich nur unter besonderen Umständen von der Gewalt des Vaters befreien (z.  B. Adoption durch einen anderen, Freilassung durch emancipatio, unfrei werden des pater familias). Die Gewalt über die Töchter des Hauses konnte anlässlich ihrer Eheschließung auf den Bräutigam oder, wenn er selbst nicht gewaltfrei war, auf dessen pater familias übertragen werden (conventio in manum).13 Mit dem Tode des pater familias oder durch Emanzipation wurden seine Söhne, oft auch Adoptivsöhne oder angenommene Söhne,14 selbst jeweils patresfamilias mit der entsprechenden potestas über ihre Hausangehörigen, Kinder und gegebenenfalls Ehefrauen. Die unverheiratete Frau wurde durch den Tod ihres pater familias gewaltfrei, ebenso die Ehefrau in der manusEhe nach dem Tode ihres Ehemannes.15 Ehefrau und Töchter kamen jedoch unter die Geschlechtsvormundschaft (tutela mulierum) ihres nächsten männlichen Verwandten, die ihre Rechtsfähigkeit jedoch nicht berührte16 Im Verlaufe der Entwicklung des römischen Reiches trat das agnatische Prinzip in den Hintergrund. Auch die Rolle der patria potestas und der familia als rechtlich nach außen geschlossener Gruppe nahm ab. Sonderregelungen erlaubten es bestimmten Personengruppen, eigenes Vermögen zu haben, obwohl sie unter potestas standen.17 Die Rolle der Frau verbesserte sich ebenfalls, ihre Rechtsstellung und rechtliche Handlungsfähigkeit glich annährend der des Mannes.18 Das ursprüngliche Modell, das nur den Hausvater als rechtsfähig anerkannte, wurde durch die Herauslösung des Individuums mit beschränkter Vermögensfähigkeit aus dem Familienverband relativiert.19

11  Gies/Gies,

Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 19, 27. Römisches Privatrecht, S. 352. 13  Kaser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, S. 79 f. 14  Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 369; Kaufmann, Zukunft der Familie, S. 14. 15  Kaser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, S. 59. 16  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 48. 17  Kaser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, S. 268 ff., Zweiter Abschnitt, S.  163 ff. 18  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 52 ff. 19  Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 367. 12  Kaser/Knütel,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

II. Die römische Ehe Die Ehe wurde von den Römern als private Angelegenheit zwischen den Eheleuten angesehen, als primär soziale, rechtlich anerkannte Tatsache.20 An der Eheschließung war keine religiöse oder staatliche Instanz beteiligt.21 Wesentlich für das Bestehen einer Ehe war bei dem Zusammenleben der Partner der Ehewille. Gewisse Gegebenheiten, wie das Versprechen einer Mitgift (dos) begründeten ein Indiz dafür, dass die Eheleute als solche zusammenleben wollten. Die Zahlung einer dos setzte nämlich das Bestehen einer Ehe voraus.22 Eine Heirat unter verschiedenen sozialen Klassen war verpönt, aber nicht illegal. Sklaven waren nicht ehefähig,23 die Ehe war den römischen Bürgern vorbehalten,24 nur sie hatten das conubium. Auch Ehehindernisse konnten das Entstehen einer Ehe vereiteln. So existierten etliche, zunächst sehr strenge Inzestverbote, die sich später etwas lockerten.25 Sie bezogen sich nicht nur auf leibliche Verwandte, sondern bis zu einem gewissen Grade auch auf Verschwägerte.26 Die Scheidung der Ehe war grundsätzlich möglich.27 Wer nicht heiraten konnte, dem blieb nur das Konkubinat, welches jedoch keine Rechtswirkungen zu erzeugen vermochte. Kinder aus diesen Verhältnissen fielen nicht unter die potestas des Erzeugers, sie waren illegitim.28 Der vornehmliche, in der paganen Vorstellungswelt der Römer naturrechtlich gedachte Ehezweck bestand in der Zeugung von Nachkommen.29 Verhütung, Abtreibung, der Verkauf und die Tötung von Kindern wurden indes durchaus praktiziert, die Kindstötung wurde erst durch Konstantin im Jahre 318 zum Kapitalverbrechen.30 Das Konkubinat war jedoch verbreitet und nicht verboten, sondern wohl größtenteils geduldet, was unter dem Einfluss

20  Zum Streit um die Frage, ob es sich bei der römischen Ehe um ein Rechtsverhältnis oder lediglich eine rechtlich anerkannte soziale Tatsache handelte vgl. Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 17 ff. 21  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 20 f.; Saar, Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S. 12. 22  Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 157. 23  Kaser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, S. 315. 24  Saar, Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S. 15. 25  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 22 f. 26  Kaser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, S. 316. 27  Kaser, Das römische Privatrecht, Erster Abschnitt, S. 326. 28  Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 139 f. 29  Stern, Staatsrecht IV/1, S. 339; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, S. 333; Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 116 ff. 30  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 27.



A. Ehe und Familie im antiken Rom23

des Christentums in der Spätphase des Römischen Reiches abgenommen haben dürfte.31 An das Bestehen der Ehe wurden erhebliche Rechtsfolgen geknüpft.32 Eine der wichtigsten, wenn nicht gar die wichtigste Rechtswirkung der Ehe war die Legitimierung der aus ihr hervorgegangenen Kinder.33 Die Legitimität der Kinder war von entscheidender Bedeutung, so vermittelte sie den Status des Vaters (zwangsläufig den status civitatis, da nur römische Bürger heiraten durften). Uneheliche Kinder folgten dem Status der Mutter. Zudem war das Kind nur dann erbberechtigt, wenn es durch die Ehe legitimiert war.34 Durch die Ehe wurde somit die Vaterschaft vermittelt.35 Aus der patriarchalen Familienorganisation der römischen Gesellschaft in der republikanischen Zeit ergab sich die Notwendigkeit, die Herrschaft über die Frau, die mit der Eheschließung faktisch den Familienverband ihrer Eltern verließ, zu regeln.36 In der republikanischen Zeit geschah diese Zuordnung zu der Familie des Ehemannes im Wege der manus-Ehe dadurch, dass die Herrschaftsgewalt des Vaters der Braut über diese (manus, im Wesentlichen vergleichbar mit der patria potestas37) durch Rechtsakt auf den Bräutigam oder, wenn er selbst noch nicht sui iuris, also noch unter seiner (groß-) väterlichen potestas stand, seinen pater familias überging. Dies geschah durch den (später nur symbolischen) Brautkauf (coemptio) und die Übertragung der Herrschaftsgewalt über die Frau (conventio in manum)38 oder durch Ersitzung (usus), d. h. nach einem Jahr ehelicher Gemeinschaft, das jedoch dadurch neu zum Laufen gebracht werden konnte, dass die Frau den Haushalt drei Tage lang verließ.39 Neben der manus-Ehe existierte die Eheform sine manu40, in der die Frau unter der bisherigen potestas blieb.41 War die Frau sui iuris, behielt sie ihr Kaser, Das römische Privatrecht, Zweiter Abschnitt, S. 183 f. Römisches Privatrecht, S. 344. 33  Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 131. 34  Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 161. 35  Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 136, 140. 36  Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, S. 333. 37  Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 345 f. 38  Auer/Kaufmann, in: StL, Eintrag „Ehe und Familie“, Sp. 105; Ob dies wirklich eine Rechtswirkung der Ehe ist, oder es nur eine Eheform gibt, zu der als eigener Rechtsakt die Übertragung der manus auf den Ehemann hinzukommen konnte, aber nicht musste, ist umstritten. Vgl. zum Ganzen Grosse, Freie römische Ehe und nichteheliche Lebensgemeinschaft S.  104 f. m. w. N. 39  Hausmanninger/Selb, Römisches Privatrecht, S. 153 f. 40  Eisenring, die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 10. 41  Kaser/Knütel/Lohsse, Römisches Privatrecht, S. 354. 31  Vgl.

32  Kaser/Knütel/Lohsse,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Vermögen.42 Unterbrachen die Eheleute die Jahresfrist des ehelichen Zusammenlebens dadurch, dass die Ehefrau den Haushalt für drei aufeinanderfolgende Nächte verließ (trinoctium), begann die Jahresfrist erneut zu laufen und die Ehe blieb eine manusfreie.43 Zunächst in republikanischer Zeit wohl noch die Ausnahme,44 wurde die manusfreie Ehe spätestens seit der Kaiserzeit zur Regel. Die Begründung der manus durch usus war später nicht mehr anerkannt45 und die manus-Ehe geriet außer Gebrauch.46 Für die Frau hatte die römische Ehe im Wesentlichen die Wirkung, dass sie durch die rechtmäßige Ehe, das iustum matrimonium, dem sozialen Stand des Mannes nachfolgte.47 Das galt mit Einschränkungen auch für die manusfreie Ehe, da die Ehefrau in diesem Fall weder familia noch gens wechselte, sie also auch nicht z. B. zur Patrizierin werden konnte.48 Im Zuge des Verschwindens der manus-Ehe und der Zurückdrängung von patria potestas und Geschlechtsvormundschaft gelangte die Frau spätestens zum Ende der Klassik in Rom zu fast vollständiger rechtlicher Gleichstellung mit dem Mann hinsichtlich ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit.49 Das traditionelle römische, rein private Ehemodell wurde durch die Gesetzgebung des Augustus angegriffen, da sie von staatlichen Interessen geleitet war.50 Über die Regelung der Ehe nahm Augustus Einfluss auf die Familienstruktur. Die bedeutendsten Ehegesetze des Augustus waren die lex Iulia de maritandis ordinibus und lex Papia Poppaea. Die lex Iulia statuierte eine Ehepflicht für Männer zwischen 25 und 60 und für Frauen zwischen 20 und 50 Jahren.51 Bei Ende der Ehe durch Tod oder Scheidung bestand die Pflicht zur Wiederheirat. Die lex Papia verlangte die Zeugung ehelicher Kinder. Es sollten bei Bürgern mindestens drei und bei Freigelassenen mindestens vier Kinder aus der Ehe hervorgehen. An die Nichtbefolgung dieser Pflichten 42  Kaser/Knütel/Lohsse,

43  Hausmanninger/Selb,

Römisches Privatrecht, S. 357. Römisches Privatrecht, S. 153  f.; Kaser/Knütel, Römi-

sches Privatrecht, S. 340. 44  Abgesehen von der faktischen Möglichkeit, den Übergang der manus auf den Ehemann durch das trinoctium zu verhindern, Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 49 f. 45  Hausmanninger/Selb, Römisches Privatrecht, S. 154; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, S. 341. 46  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 51; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, S. 334. 47  Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 146 f. 48  Corbett, The Roman Law of Marriage, S. 112. 49  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, 52 ff. 50  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 25; Kaser/Knütel, Römisches Privatrecht, S. 338. 51  Honsell, Römisches Recht, S. 178.



B. Ehe und Familie im Mittelalter25

waren Nachteile geknüpft. Ziel dieser Ehegesetzgebung war die Förderung der Ehe, insbesondere um die römische Bürgerschaft durch mehr legitime Nachkommen zu stärken.52 Die augusteischen Gesetze waren demnach ein Mittel der Bevölkerungspolitik, allerdings nicht einer gesamtgesellschaftlichen Politik, sondern einer Politik, die auf eine Veränderung der Binnenstruktur der Bevölkerung zielte. Der ursprünglich moralisch-religiöse Anspruch, eheliche Kinder zu bekommen, um die agnatische Ahnenfolge fortzusetzen, wurde dadurch zu einem staatlichen Interesse am Erhalt der römischen Bürgerschaft. „Familienpolitik“ wurde durch „Ehepolitik“ betrieben. Erreicht wurden diese Ziele durch die augusteische Gesetzgebung jedoch nicht.53 In der Spätphase des Römischen Reiches nahm die mittlerweile zur Staatskirche erstarkte christliche Religion verstärkt Einfluss auf die Ehe- und Familienstrukturen im Römischen Reich.

B. Ehe und Familie im Mittelalter Mit der Spätantike begann die Völkerwanderung und mit ihr der Einfluss germanischer Kulturen auf das römische Recht. Die Vorstellungen der Germanen von Ehe und Familie vermengten sich mit denen der römischen Bevölkerung. Römische und „barbarische“ germanische Bräuche existierten noch nebeneinander und verschmolzen erst allmählich.54 In der Ständegesellschaft des mittelalterlichen Europas unterschieden sich die Familienmuster erheblich, je nachdem welchem Stand die Familie angehörte und wo sie lebte. Mit dem Untergang des Römischen Reiches ging auch der Niedergang des römischen Rechts einher. Das beginnende Mittelalter war gekennzeichnet durch das Fehlen eines Machtzentrums, staatlicher Strukturen und deshalb auch zentraler Rechtsnormen. Lokal unterschiedliches Gewohnheitsrecht, örtliche Bräuche, überkommene Rechtsnormen sowie das erstarkende Kirchenrecht standen nebeneinander und waren regional unterschiedlich.55 Das Kirchenrecht erfuhr im Verlaufe der Zeit eine Vereinheitlichung und mündete schließlich im Corpus Iuris Canonici.56

52  Saar,

Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S. 23 f. Römisches Privatrecht, S. 351; Hausmanninger/Selb, Römisches Privatrecht, S. 155. 54  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 47. 55  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 71. 56  Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 237 f. 53  Kaser/Knütel/Lohsse,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

I. Die germanische Familie Auch bei den Germanen fand sich eine dem Rom der Frühzeit vergleichbare Struktur, in der das Individuum eine relativ gering Rolle spielte. Der Einzelne war Mitglied einer Sippe, deren Zugehörigkeit agnatisch vermittelt wurde.57 Die Sippe ist so gesehen die germanische Entsprechung der gens im antiken Rom. Die Bedeutung der Sippe nahm im Verlaufe des Mittelalters ab und die reine Blutsverwandtschaft wurde wichtiger.58 Die wesentliche rechtliche Grundeinheit war dennoch das „Haus“, ähnlich der familia, dem der Hausvater vorstand, und dessen hausväterlicher Gewalt (der munt) seine ehelichen Kinder, seine Ehefrau und das Gesinde unterstanden.59 Die munt war im Vergleich zur patria potestas dennoch weniger ausgeprägt, z. B. unterfielen ihr die Söhne in der Regel nicht bis zum Tode des Vaters.60 Dennoch kamen Kinder durch Aufnahme des Hausvaters unter seine munt. Der Hausherr hatte die seiner Hausgewalt Unterworfenen dabei auch rechtlich zu vertreten, z. B. vor Gericht.61 Wie der pater familias in Rom durfte der Vater seine Kinder aussetzen, bis diese Praxis nach der Christianisierung der Germanen verboten wurde.62 Zudem kamen dem Hausvater, wie dem pater familias, kultische Aufgaben zu.63 Unter der bäuerlichen Familie des frühen Mittelalters war somit der Personenverband aller Mitglieder der bäuerlichen Gemeinschaft zu verstehen, wohingegen verwandtschaftliche Beziehungen weiterhin nicht notwendig waren.64 Für die Familie als blutsverwandte Generationenabfolge gab es in der alteuropäischen Gesellschaft, abgesehen von den weiter gefassten Begriffen der Sippe und Magschaft, keinen eigenen Begriff: Die Familie war „das ganze Haus“.65 Die römisch-katholische Kirche dominierte im Verlaufe ihrer Erstarkung die Vorstellungen von Ehe und Familie in Europa. Im Mittelalter vermochte sie die Vorstellungen von Ehe und Familie in Europa zwar in wesentlichen Punkten zu vereinheitlichen, die Rechtslage war dennoch zersplittert.66 57  Conrad,

Deutsche Rechtsgeschichte, S. 31. Deutsche Rechtsgeschichte, S. 152. 59  Mitteis/Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 53; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 34. 60  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 60; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 39. 61  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 34. 62  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 157. 63  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 34. 64  Sieder, Sozialgeschichte der Familie, S. 17. 65  Mitterauer/Sieder, Vom Patriarchat zur Partnerschaft, S. 29 ff.; Kaufmann, Zukunft der Familie, S. 15. 66  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 71. 58  Conrad,



B. Ehe und Familie im Mittelalter27

II. Die germanische Ehe Das deutsche Recht kannte, insoweit ähnlich dem römischen Recht, mehrere Erscheinungsformen der Ehe. Die Hauptform war die munt-Ehe, bei der die Frau aus der väterlichen Gewalt ausschied und unter die munt ihres Ehemannes gelangte. Als munt-freie Ehe bestand darüber hinaus noch die Friedelehe, wobei sich munt-frei nur auf die Ehe bezog, nicht auf die Ehefrau, denn sie blieb in diesem Falle unter der munt ihres Vaters.67 Als wenig verbindliche Form des Zusammenlebens bestand die sogenannte Kebsverbindung.68 Die munt-Ehe war ein Rechtsgeschäft unter den beteiligten Sippen, bei der die Herrschaftsgewalt auf den Ehemann übertragen wurde.69 Die Frau war daran nicht beteiligt, wenn es auch Sitte gewesen sein mag, den Willen der Frau nicht zu ignorieren.70 Anders die Friedelehe, bei der es auf den übereinstimmenden Willen der Brautleute ankam.71 „Eheverbote“ im Sinne sozial nicht tolerierter Verbindungen72 gab es zwischen Freien und Unfreien, sowie zwischen Verwandten.73 Eine einseitige Scheidung war jedenfalls dem Mann möglich, der Frau jedoch bei der munt-Ehe nicht.74 Im Gegensatz zum römischen Recht war die germanische Ehe keine Einehe. Mehrere Ehen nebeneinander waren für den Mann möglich.75 Die Ehe begründete zwischen den beteiligten Sippen ein Friedens- und Freundschaftsverhältnis.76 Bezogen auf die Eheleute war sie als Lebens- und Geschlechtsgemeinschaft gedacht, deren hauptsächlicher Zweck in der Erzeugung von (männlichen) Nachkommen bestand.77 Wenn auch dies der vornehmliche Ehezweck war, hing die Legitimität der Nachkommen ursprünglich nicht von ihrer Ehelichkeit ab, sondern war mit der biologischen 67  Kroj,

Die Abhängigkeit der Frau, S. 12 f. in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 1. 69  Auer/Kaufmann, in: StL, Eintrag „Ehe und Familie“, Sp. 105; Kroj, Die Abhängigkeit der Frau, S. 7 ff. 70  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 36, 154. 71  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 37. 72  Zum faktischen Charakter der „Ehehindernisse“ Saar, Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S.  128 f. 73  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 155. 74  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 37, 155. 75  Saar, Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S. 162 f. 76  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 36; Saar, Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S. 107. 77  Kroj, Die Abhängigkeit der Frau, S. 10; Saar, Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S. 107. Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 35. 68  Brosius-Gersdorf,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Abstammung verknüpft. (Uneheliche) Kinder konnten durch den Mann legitimiert werden.78

III. Der Einfluss der Kirche auf die Ehe Das Christentum hat bezüglich der Familien- und Ehebräuche in Europa einen erheblich vereinheitlichenden Einfluss gehabt. Mit dem Aufstieg zur Staatsreligion im Römischen Reich und dem Erfolg auch bei den germanischen Stämmen wurde die römisch-katholische Kirche mehr und mehr institutionalisiert und konnte als zentralistische Organisation mit einem starken Papst an der Spitze entscheidenden Einfluss auch auf die Rechtsentwicklung nehmen. Die christliche Lehre nahm zwar direkten Einfluss auf die Familie, indem zum Beispiel Kinder vom Hausvater nicht mehr angenommen werden mussten,79 sondern direkt mit der Geburt in seine Gewalt fielen und Aussetzung und Kindstötung verboten waren, den wesentlichen Einfluss übte die Kirche über die Gestaltung des Eherechts aus. Die Regelung der Ehe und Familie gelangte im Verlauf des Mittelalters in die Zuständigkeit der Kirche und seit dem zwölften Jahrhundert waren ausschließlich kirchliche Gerichte mit der Entscheidung ehelicher Streitigkeiten betraut.80 Das war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Kirche das Familienrecht so nachhaltig prägen konnte,81 sowie einer der Gründe für eine gemeineuropäische Anschauung über das Wesen von Ehe und Familie, jedenfalls innerhalb der Kirche. Die Kirche formulierte für die Ehe kategorische Regeln.82 Das erstaunt aus heutiger Sicht, weil die Bibel selbst kein konsistentes System von Eheregeln bereithält. Das Alte Testament befand die Ehe als den normalen Modus des Zusammenlebens von Mann und Frau. Das wird im Neuen Testament bestärkt, der Jungfräulichkeit aber ein höherer Wert zugemessen. Im Gegensatz zum Alten Testament wurde die Ehe im Neuen Testament jedenfalls für unauflöslich erachtet, d. h. es kam nicht mehr auf einen kontinuativen Konsens an, wie es für die Ehe des antiken Roms angenommen wurde,83 sondern nur noch auf den Initialkonsens. Dass dadurch begründete Eheband war sodann 78  Saar,

Ehe – Scheidung – Wiederheirat, S. 110. Deutsche Rechtsgeschichte, S. 157. 80  Kroj, Die Abhängigkeit der Frau, S. 76; Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, S. 166; Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 134. 81  Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 240 f. 82  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 36 ff. 83  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 51 f. 79  Conrad,



B. Ehe und Familie im Mittelalter29

in seinem Bestande unabhängig vom Willen der Ehepartner.84 Die Unauflöslichkeit der Ehe, die Zustimmung der Frau zur Heirat und die Durchsetzung der kirchlichen Ehehindernisse waren die wesentlichen Punkte, die die katholische Kirche im Verlauf des Mittelalters vor allem gegen die germanischen Vorstellungen durchzusetzen versuchte.85 Eine Scheidung als nachträgliche Auflösung des Ehebandes kam dementsprechend nicht in Betracht. Eine Beendigung der Lebensgemeinschaft in Form der „Trennung von Tisch und Bett“ war jedoch nicht ausgeschlossen. Ebenso gab es zwingende Ehehindernisse, die eine Annullierung der Ehe ermöglichten.86 Der initiale Konsens der Ehepartner wurde von der Kirche als essentiell betrachtet. Das Zustandekommen der Ehe war demgemäß nicht etwa abhängig nur vom Willen der Eltern, sondern es bedurfte der Willensübereinstimmung der Ehepartner.87 Die Durchsetzung dieser Vorstellung war ein langwieriger Prozess,88 und es kann angenommen werden, dass der Adel nicht unbedingt konform mit den kirchlichen Regeln lebte.89 Weiterhin akzeptierte die Kirche nur die Einehe, was im Widerspruch zu germanischem Recht stand. Die Kirche betrachtete nur die munt-Ehe als echte Ehe und erkannte Nebenehen nicht an.90 Auch das Konkubinat (also die nicht eherechtlich geregelte sexuelle Beziehung zwischen mehreren Personen) war Ziel der kirchlichen Kritik,91 denn die Ehe wurde als einzig legitime Form der Ausübung von Sexualität betrachtet. Faktisch hielt sich das Konkubinat noch längere Zeit in der Bevölkerung, wurde aber über den Status der außerehelich (auch vorehelich92) entstandenen Kinder sanktioniert, z. B. indem diese nicht erbberechtigt waren.93 Die Rechtsstellung unehelicher Kinder verschlechterte sich unter dem Einfluss der Kirche erheblich.94 Um das christliche Bild der unauflöslichen Einehe durchzusetzen, bekämpfte die Kirche die Friedelehe 84  Kaiser,

StL, Band 2, Eintrag „Eherecht, kirchliches“, Sp. 142. Deutsche Rechtsgeschichte, S. 156; Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 174; Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 375 ff.; Schwab, Ehegesetzgebung in der Neuzeit, S. 16. 86  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 88 f.; Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 405. 87  Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 164, 258. 88  Vgl. Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 51 ff. 89  Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 53 f. 90  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 158. 91  Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, S. 81. 92  Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, S. 208. 93  Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, S. 208. 94  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 158; Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, S. 90, 208 f. 85  Conrad,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

und suchte die munt-Ehe als einzig legitime Eheform zu etablieren.95 Kinder aus Friedelehen wurden nicht mehr als legitime Kinder angesehen, sondern nur solche, die in einer munt-Ehe gezeugt und geboren wurden.96 Die Verwandtschaft ging nicht mehr von der Sippe aus, sondern es wurden Ehemann und Ehefrau als Grundlage der Familie angesehen.97 Eine weitere, schon früh betriebene wesentliche Modifikation der europäischen Heiratsregeln waren die exzessiven Verbote der Heirat unter Verwandten.98 Diese bezogen sich nicht nur auf Blutsverwandte, sondern auch auf Verschwägerte und sogar „spirituelle Verwandte“, mithin Paten und Patenkinder, wobei in diesen Fällen eine großzügige Dispenspraxis geherrscht haben dürfte.99 Welche Anforderungen an die Schließung einer wirksamen Ehe zu stellen waren, war nicht unumstritten. Wesentliche Bedingung des Eheschlusses war nach christlicher Lehre jedenfalls der Konsens der Ehepartner.100 Ob es für die Eingehung einer wirksamen Ehe über den Konsens der Ehegatten hinaus auch des Vollzuges der Ehe bedurfte, klärte sich erst im 12. Jahrhundert durch Papst Alexander III., der den Konsens für ausreichend erklärte, die Unauflöslichkeit der Ehe setzte jedoch ihren Vollzug voraus.101 Wenn auch die Ehe durch kirchliche Regeln umgeformt wurde, konnte sie weltlich, ohne die Beachtung besonderer Formvorschriften, geschlossen werden. Zwar bemühte sich die Kirche um die Etablierung der kirchlichen Eheschließung, allerdings war dies insbesondere dem praktischen Problem der Eingehung clandestiner Ehen geschuldet,102 die mangels Publizität ein faktisches Problem bei der Verhinderung von Mehrehen darstellten und den umfassenden Anspruch der Kirche auf die Hoheit über Fragen des Eherechts unterstrichen. Erst mit dem Tridentinum im Jahre 1563 wurde die Eheschließung zwingenden Förmlichkeiten unterworfen, nämlich der Eheschließung vor Zeugen und dem Pfarrer.103

95  Conrad,

Deutsche Rechtsgeschichte, S. 155. Deutsche Rechtsgeschichte, S. 158, 408. 97  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 400. 98  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 404. 99  Vgl. Gies/Gies, Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 302. 100  Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, S. 37; Kaufmann, Zukunft der Familie, S. 16 f. 101  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 403. 102  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 403. 103  Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 404, zur Aufnahme dieser Regelung in Europa Friedberg, das Recht der Eheschließung in seiner geschichtlichen Entwicklung, S.  127 ff. 96  Conrad,



C. Ehe und Familie in der Neuzeit31

C. Ehe und Familie in der Neuzeit Das weltliche Recht Kontinentaleuropas erfuhr durch die (erneute) Rezeption des römischen Rechts in Form des Corpus Iuris Civilis in der Neuzeit eine gewisse Vereinheitlichung.104 Das einheitliche kanonische Recht der katholischen Kirche hingegen zerbrach durch die Reformation. Durch die Einflüsse der Aufklärung und die Entstehung und Erstarkung des Nationalstaates konnte dieser in den protestantischen Gebieten nicht nur das Kirchenrecht verstaatlichen, auch das Familien-, insbesondere das Eherecht rückte in das Bewusstsein der weltlichen Ordnungsmacht. Entsprechend der staatlichen Vielfalt in Europa entwickelte sich eine Vielfalt des Eherechts. Die Strukturen der Familie wurden nachhaltig durch die Industrielle Revolution und die ihr folgenden gesellschaftlichen Umwälzungen verändert. Urbanisierung und die räumliche Trennung von Wohnung und Erwerbsarbeit waren die maßgeblichen Entwicklungen.

I. Die Säkularisierung der Ehe durch Reformation und Aufklärung Der Beginn der Neuzeit hat weniger das Verhältnis von Ehe und Familie, als vielmehr die Ehe selbst grundlegend verändert. Durch Reformation und Aufklärung wurde die Ehe von der Heiligen Schrift als Erkenntnisquelle gelöst und auf eine neue Grundlage zu stellen versucht. Damit ging nicht nur eine Veränderung des Inhalts der Ehe einher, sondern auch der Übergang der Definitionsmacht von der Kirche auf den im 15. Jahrhundert im Entstehen begriffenen Territorialstaat. Die Spaltung der Kirche und die religiöse Fragmentierung des westlichen Kontinents in katholische und protestantische Staaten bedingten, dass die gemeineuropäische Entwicklung sehr unterschiedlich verlief. Die geistigen Umwälzungen der frühen Neuzeit wirkten sich auf die mittelalterlichen Eheund Familienstrukturen zunächst nicht aus.105 Am Ende der Entwicklung stand trotz des rechtlichen Pluralismus ein gemeineuropäisches Ergebnis: Ein umfassender Säkularisierungsprozess und die Geburt der bürgerlichen Ehe.106 Bereits Martin Luther lehnte das sakramentale römisch-katholische Eheverständnis ab, indem er die Ehe ein „weltlich ding“ nannte, „weltlicher

104  Wesel,

Geschichte des Rechts in Europa, S. 238. Geschichte des Rechts in Europa, S. 372 ff. 106  Goody, Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, S. 183. 105  Wesel,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

oberkeit unterworfen“.107 Auch Aufklärung und Naturrechtslehre suchten die Inhalte der Ehe nicht mehr aus göttlicher Offenbarung, sondern anderen Quellen wie Vernunft oder Natur abzuleiten. Der moderne Staat reklamierte die Regelungshoheit für Fragen der Ehe und der Familie, wenngleich die Regelungen der Ehe oder Familie mit christlichen Werten verbunden wurden, oder auf christlichen Normen aufbauten.108 Während Martin Luther nur die rechtliche Regelung der Ehe weltlicher Obrigkeit überantwortete, sie ihrer Natur nach aber nicht als säkularisiertes, sondern religiöses Institut betrachtete, taugte dem Geist der Aufklärung die Bibel auch nicht mehr als Erkenntnisquelle zur Bestimmung des Inhaltes der Ehe. Von welchen Erwägungen sich die fürstlichen Gesetzgeber bei der Ehegesetzgebung leiten ließen, ist nicht immer eindeutig. Der Staat des aufgeklärten Absolutismus ließ jedenfalls auch Erwägungen der „guten policey“ in seine Ehegesetzgebung einfließen, durchaus in Form teilweise recht unchristlicher Ehehindernisse.109 Darin lässt sich der Beginn öffentlicher Familienpolitik in der Neuzeit erblicken, wenn auch noch keine kohärenten Zwecke verfolgt wurden, bzw. die Zwecke teilweise mit Familienpolitik in keinem Zusammenhang standen. Die Freiheit für Jedermann, eine Ehe eingehen zu dürfen, lag aufklärerischem Geist zum Trotz noch in weiter Ferne. Diese Entwicklung betraf nicht nur die protestantischen Staaten Europas. Die unter katholischer Hoheit geführten Staaten der Neuzeit haben die vom katholischen kanonischen Recht geprägten Eheregeln ebenfalls stark umgestaltet,110 nachdem sie die Kompetenz dazu der katholische Kirche abgerungen hatten.

II. Französische Revolution, Code Civil und neue eherechtliche Vielfalt in Europa Die Französische Revolution bedeutete ein „Erdbeben“ für die europäische Gesellschaft, nach dem kein Stein auf dem anderen bleiben sollte. Das Eheund Familienrecht blieb davon naturgemäß nicht verschont. Das revolutionäre Frankreich führte zunächst ein radikal liberales Eherecht ein, das von religiösen Quellen gänzlich gelöst war.111 Es enthielt unter anderem das Gebot der obligatorischen Zivilehe und ein liberales Scheidungs107  Luther, von Ehesachen, zitiert nach Schwab, Ehegesetzgebung in der Neuzeit, S. 105. Näher zur wechselhaften Ehelehre des Protestantismus: Friedberg, Das Recht der Eheschließung in seiner geschichtlichen Entwicklung, S. 153 ff. 108  Coester-Waltjen, Ehe und Familie im Rechtsvergleich, S. 71. 109  Mit anschaulichen Beispielen bei Schwab, Ehegesetzgebung in der Neuzeit, S.  197 ff. 110  Schwab, Ehegesetzgebung in der Neuzeit, S. 11, 193. 111  Dazu m. w. N. Schwab, Ehegesetzgebung in der Neuzeit, S. 218 ff.



C. Ehe und Familie in der Neuzeit33

recht.112 Sein Bestand war jedoch nicht von Dauer, und so fand der Code Civil Napoleon Bonapartes zu einer patriarchalen Ehe- und Familienauffassung zurück.113 Bei der säkularen Natur der Ehe blieb es aber: So war die Ehe des Code Civil eine obligatorische Zivilehe. Die Möglichkeit der Scheidung blieb ebenfalls bestehen, aber unter strengeren Voraussetzungen. Zwischenzeitlich wurde sie gänzlich wieder beseitigt.114 Der Code Civil fand durch die napoleonischen Eroberungskriege in weiten Teilen Europas Anwendung. Nach der Niederlage Napoleons in den Befreiungskriegen der Jahre 1813–1815 änderte sich die Lage wiederum und etliche Länder setzten den Code Civil außer Kraft. Italien führte bereits 1814 die obligatorische kirchliche Trauung wieder ein.115 Im Unterschied zum Code Civil, demnach die Ehe grundsätzlich jedermann offen stand,116 sah das Allgemeine Preußische Landrecht noch das Ehehindernis des Standesunterschiedes vor (§ 30, II, 1 ALR). Auch Soldaten benötigten zur Eheschließung eine Erlaubnis (§ 34, 35, II, 1 ALR). England mit seiner „eigenen“ Reformation durch Heinrich VIII. führte die Zivilehe im Jahre 1836 ein. Für ganz Deutschland wurde sie durch das Personenstandsgesetz 1875 im Zuge des preußischen Kulturkampfes festgeschrieben.117 Spanien und Griechenland waren die letzten in Europa, die 1979 bzw. 1983 die Zivilehe – wenn auch neben der kirchlichen Trauung – einführten.118 Gleiches gilt für die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Ehe.119

III. Der Wandel der Familie durch die Industrielle Revolution Das gesellschaftliche Bild der Ehe hat sich seit dem Beginn der Reformation im 16. Jahrhundert bis heute grundlegend gewandelt, der veränderte Blick auf die Ehe hatte auf die Familienstruktur jedoch zunächst keine Auswirkungen. Es war nach wie vor unbestritten, dass die Ehe die einzig akzep112  Dörner, Industrialisierung und Familienrecht, S. 128 ff.; Schwab, Ehegesetzgebung in der Neuzeit, S. 219 f.; Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 488. 113  Dörner, Industrialisierung und Familienrecht, S. 139 ff. 114  Schwab, Ehegesetzgebung in der Neuzeit, S. 221, Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 488. 115  Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 489. 116  Wobei es auch in der Folgezeit blieb, Ramm, Das Familienrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts und des Code Civil, S. 148. 117  Dazu näher Glombik, Perspektiven einer Europäisierung des Eherechts, S. 40 f. 118  s. die Übersicht bei Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 627. 119  Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 634.

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

tierte Form des sexuellen Zusammenlebens von Menschen war. Der aufgeklärte absolutistische Staat war zudem der Auffassung, dass nur heiraten sollte, wer auch ökonomisch unabhängig war. Entscheidend für die Veränderung der Familienstrukturen in Europa waren die Auswirkungen der Industriellen Revolution. Durch die Entstehung und das Erstarken der Industrie wurde die bäuerliche Gesellschaft unwichtiger. Das neu entstandene Proletariat hatte mit der bäuerlichen Familie nicht mehr viel zu tun: Gesinde gab es dort keines, auch kein Haus. Erwerbsarbeit prägte nun das Leben, die Familie verlor ihre Funktion als wirtschaftliche Produktionseinheit, sie bestand nunmehr nur noch aus der Kernfamilie, also Eltern und Kindern.120 Doch auch die „bürgerliche Familie“ der bürgerlichen Schicht war zu einem Raum des Privaten geworden, der den Individualismus in den Staaten Europas beförderte.121 Die Erwerbsarbeit fand außerhalb des Hauses statt und wurde vom Mann bestritten, während die Frau als Hausfrau den Haushalt leitete.122 Der Mann blieb das „Haupt“ der Familie, Frau und Kinder ihm Untertan. Diese Vorstellung manifestierte sich auch im Familienrecht des BGB.123

IV. Entwicklung von Ehe und Familie im 20. und 21. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert hat Ehe und Familie endgültig in Richtung einer Gleichberechtigung der Geschlechter umgestaltet. Die Frauenerwerbsquote hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark erhöht.124 Der moderne Wohlfahrtsstaat errichtete Systeme der sozialen Sicherheit, die die Familie in dieser Funktion teilweise ablösten.125 Das Modell der „bürgerlichen Ehe“ mit dem erwerbstätigen Ehemann und der Hausfrau wird dadurch wieder zurückgedrängt.126 Die Ehe ist darüber hinaus zu einem Institut geworden, das grundsätzlich allen Menschen offen steht, allerdings ist sie auch nicht mehr die einzige akzeptierte Form des Zusammenlebens von Männern und Frauen. Neuerdings wurde die Ehe in einigen Mitgliedstaaten auch für gleichgeschlechtliche Ver120  Dörner,

Industrialisierung und Familienrecht, S. 67 f. Familienpolitik in Westeuropa, S. 31. 122  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 130. 123  Dazu Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 192 ff. 124  Vgl. dazu eingehend Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 97. 125  Bahle, Familienpolitik in Westeuropa, S. 33. 126  Bahle, Familienpolitik in Westeuropa, S. 34 ff. 121  Bahle,



C. Ehe und Familie in der Neuzeit35

bindungen geöffnet. Durch die Gleichstellung nichtehelicher Kinder hat sie ihre Bedeutung als Institut zur Legitimierung von Nachfahren verloren. Demgemäß ist die Erstheiratsrate in Europa deutlich gesunken. Die Erstheiratsrate gibt im Wesentlichen die durchschnittliche Wahrscheinlichkeit einer Person an, in ihrem Leben erstmals zu heiraten. Das heißt, dass die Neigung, im Leben überhaupt zu heiraten, abgenommen hat. Erstheiratsraten von über 70 % hatten zu Beginn der 21. Jahrhunderts nur noch Griechenland und Portugal. Die niedrigsten Raten finden sich in Schweden, Estland, Lettland, Ungarn, Tschechische Republik und Slowenien mit Raten von unter 50 %.127 Stattdessen leben Europäer vermehrt in nichtehelichen Lebensgemeinschaften zusammen.128 Die Anzahl außerehelich geborener Kinder hat sich ebenfalls erhöht. Im Jahre 2010 lag sie EU-weit bei 37,4 %, 1990 lag sie noch bei 17,4 %.129 Auch dabei sind starke Differenzen in den Mitgliedstaaten zu verzeichnen. Den niedrigsten Anteil unehelich geborener Kinder hatte Griechenland mit 6,9 % aufzuweisen, den höchsten Anteil Estland mit 59,1 %. Auch das durchschnittliche Alter von Frauen bei der Geburt hat sich erhöht und lag im Jahre 2009 bei 29,8 Jahren.130 Die Veränderungen in den Heiratsgewohnheiten und Familienstrukturen ist dabei in Europa keineswegs gleichzeitig verlaufen, auch bestehen je nach Mitgliedstaat erhebliche Unterschiede. Eine gemeineuropäische Entwicklung ist die starke Abnahme der Zahl der Geburten seit der Erfindung der Antibabypille. Der auch dadurch ausgelöste demografische Wandel kennzeichnet ganz Europa. Im Jahre 1980 gab es zwar noch Staaten in Europa, die eine sehr hohe Fruchtbarkeitsrate131 aufwiesen, wie den „Spitzenreiter“ Irland mit einer Fruchtbarkeitsrate von 3,2, die Rate ist im Jahre 2009 auf 2,1 gesunken, womit Irland die Tabelle allerdings noch immer anführt. Das „Schlusslicht“ bilden Lettland, Portugal und Ungarn mit einer Rate von jeweils 1,3.132 Die durchschnittliche Fruchtbarkeitsrate in der EU lag im Jahre 2009 bei 1,59. Bei einem Wanderungssaldo von 0 bedarf es einer Fruchtbarkeitsrate 127  Höpflinger/Fux,

Familien – intereuropäische Perspektive, S. 60. Familien – intereuropäische Perspektive, S. 60. 129  Europäische Kommission (Hrsg.), Europe in figures – Eurostat yearbook 2012, S. 128. 130  Europäische Kommission (Hrsg.), Europe in figures – Eurostat yearbook 2012, S. 131. 131  Die mittlere Anzahl lebend geborener Kinder, die eine Frau im Verlauf ihres Lebens gebären würde, wenn sie im Laufe ihres Gebärfähigkeitsalters den altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern der betreffenden Jahre entsprechen würde (http://epp. eurostat.ec.europa.eu/statistics_explained/index.php/Glossary:Fertility/de. Zuletzt abgerufen am 5.12.2013). 132  Europäische Kommission (Hrsg.), Europe in figures – Eurostat yearbook 2012, S. 129. 128  Höpflinger/Fux,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

von 2,1 um die Bevölkerung konstant zu halten. Da dieses im Jahre 2010 in keinem Mitgliedstaat der EU erreicht wurde,133 ist für die gesamte EU ein reproduktives Defizit zu konstatieren. Die Lebenserwartung der Europäer ist hingegen angestiegen und lag im Jahre 2009 im EU-Durchschnitt bei 79,4 Jahren. Diese beiden Faktoren sind die wesentlichen Ursachen für den demografischen Wandel innerhalb der gesamten EU.

V. Zusammenfassung zur Geschichte von Ehe und Familie In der antiken römischen Gesellschaft waren Ehe und Familie zunächst geprägt durch die patriarchale, agnatische Gesellschaftsorganisation. Die Ehe war insbesondere dadurch mit der Familie verknüpft, dass sie Einfluss auf die Familienzugehörigkeit und den sozialen Stand der Frau hatte, je nachdem, ob sie in einer manus-Ehe lebte, oder die Ehe manusfrei blieb. Weiterhin hatte sie durch ihre Legitimationsfunktion entscheidenden Einfluss auf die Familienzugehörigkeit der Kinder, da nur die in iustum matrimonium empfangenen Kinder der potestas des Ehemannes unterfielen und somit zu dessen familia gehörten. Letztlich löste die Legitimationswirkung der Ehe das praktische Problem der Bestimmung der Vaterschaft. Die Römer mögen die Ehe als naturrechtliche Einrichtung angesehen haben, der einzig „natürliche“ Anknüpfungspunkt war jedoch die Zeugung von Kindern und die Regelung der Frage, wer der biologische Vater eines Kindes war. Letztlich ist sie damit weniger mit natürlichen Gegebenheiten als mehr mit der patriarchalen, agnatischen Gesellschaftsorganisation Roms verknüpft. Die manus-Ehe geriet im Verlaufe der Zeit außer Gebrauch und war in der klassischen Zeit vollständig verschwunden.134 Dadurch und durch die Angleichung von Rechts- und Handlungsfähigkeit der Geschlechter erreichten die römischen Frauen wirtschaftlich und rechtlich nahezu gleiche Rechte wie Männer, wenn auch sie von öffentlichen Ämtern weitgehend ausgeschlossen blieben.135 Durch die Ehegesetze des Augustus wurde staatlicherseits der Versuch unternommen, den privaten Raum der Familie über die Regelung der Ehe zu beeinflussen. In der Spätphase des Römischen Reiches begann das Christentum Einfluss auf die Regelung der Ehe zu nehmen. Eine bedeutende gesellschaftliche Veränderung der Familie von der Antike bis zum Ende des Mittelalters liegt in einem ersten Funktionsverlust. Die 133  Europäische Kommission (Hrsg.), Europe in figures – Eurostat yearbook 2012, S. 131. 134  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart. S. 51. 135  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 55 f.



C. Ehe und Familie in der Neuzeit37

Funktion der Familie als sakraler Einheit ist mit der Christianisierung auf die Kirche übergegangen.136 Durch die weitreichenden Inzestverbote und die Monopolisierung der Sexualität in der monogamen, unauflöslichen Ehe wurde die Ehe zur einzig legitimen Wurzel der Kleinfamilie, wenn auch der Begriff des „Hauses“ (oder der familia) sich nicht in dieser Kleinfamilie erschöpfte. Die wesentliche bäuerliche Einheit war nach wie vor „das ganze Haus“. Die Kirche versuchte, das christliche Leitbild der Einehe und ihre Legitimierungsfunktion im Vergleich zum germanischen Recht weiter zu stärken. Die munt-Ehe wurde zur einzig legitimen Eheform erklärt und nur die Kinder aus einer solchen Ehe waren in den Augen der Kirche legitime Kinder. Gemeinsam mit dem Verschwinden der Bedeutung der Sippe und damit agnatischer Prinzipien gewann die Blutsverwandtschaft erheblich an Bedeutung, jedoch nur diejenige zwischen verheirateten Eltern und ihren Kindern.137 Als „gewillkürte Verwandtschaft“ spielte nunmehr nur die Patenschaft noch eine Rolle. Durch die Umformung der Ehe, insbesondere durch ihre Ausgestaltung als Konsensehe durch die Kirche, verbesserte sich die Situation der Frau in der Familienhierarchie im Vergleich zum germanischen Recht, obwohl sie nach wie vor von dem Ehemann dominiert wurde.138 Für die Frau bedeutete das Recht des Mittelalters und der frühen Neuzeit einen Rückschritt gegenüber dem Recht der klassischen Periode und des späten Römischen Reiches.139 Das christliche Verständnis von Konsens war nicht das eines kontinuativen Konsens wie im römischen Recht, sondern das eines Initialkonsenses.140 Das Eheband war, sofern die Ehe vollzogen wurde, unauflöslich. Zudem konnte nur eine Ehe bestehen, das bestehende Eheband war ein Ehehindernis. Außereheliche sexuelle Beziehungen zwischen Frauen und Männern wurden bekämpft und die Situation unehelicher Kinder dementsprechend schlecht. Eine besondere Form der Eheschließung war nicht vorgesehen, die obligatorische kirchliche Eheschließung wurde von der römisch-katholischen Kirche erst auf dem Konzil von Trient eingeführt. Die europäischen Staaten übernahmen Formerfordernisse in ihr Eherecht, zunächst die katholisch dominierten, schließlich auch die protestantischen Staaten.141 136  Gies/Gies,

Marriage and the Family in the Middle Ages, S. 295 f. Deutsche Rechtsgeschichte, S. 400. 138  Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, S. 163 f. 139  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 77. 140  Meder, Familienrecht von der Antike bis zur Gegenwart, S. 51 f. m. w. N.; kritisch gegenüber der Verwendung des Begriffspaares für das römische Eherecht Eisenring, Die römische Ehe als Rechtsverhältnis, S. 251 ff. 141  Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 186. 137  Conrad,

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Die europäischen Staaten der Neuzeit bemächtigten sich der Rechtsetzung über die Ehe und gestalteten die Eheregeln um, nicht ohne auch öffentliche Interessen eine Rolle spielen zu lassen. Die Industrielle Revolution beseitigte schließlich endgültig das Leitbild des „ganzen Hauses“ als ländlicher familiärer Einheit. Die Familie entwickelte sich dank der Trennung von häuslichem Bereich und Erwerbsarbeit zu einem privaten Raum. Das 20. Jahrhundert hat zur rechtlichen Gleichberechtigung der Frau in der Ehe und der unehelichen Kinder in der Familie geführt. Moderne Verhütungsmethoden haben die gewollt kinderlose, partnerschaftliche Ehe erst möglich werden lassen. Auch die Monopolisierung der Sexualität in der Ehe hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihr Ende gefunden.142 Ehe und Familie fallen demgemäß nur noch akzidentiell zusammen.143 Die Ehe hat sich theoretisch gänzlich von der Familie gelöst, wenn auch viele Familien „eheliche Familien“ sind. Niedrige Geburtenraten führen in ganz Europa zu einem demografischen Wandel und mittelfristig zu schrumpfender Bevölkerung.144 Eine erhöhte Scheidungshäufigkeit hat die Familienformen pluralisiert, Alleinerziehendenfamilien oder „patchwork-Familien“ sind häufiger geworden. Insgesamt gibt es in der gesamten EU jedoch weniger Geburten als zur Erhaltung der Bevölkerung notwendig wären. Dadurch und durch eine gestiegene Lebenserwartung findet in der EU ein demografischer Wandel statt, die Bevölkerung der EU altert. Insgesamt lässt sich kein konstantes Ehe- und Familienbild im Verlaufe der europäischen Geschichte zeichnen. Die Ehe – und in geringerem Maße auch die Familie – w ­ aren im Laufe der Historie erheblichen Veränderungen unterworfen. Selbst die Gleichberechtigung der Frau lässt sich mit Blick auf das römische Recht seit der Klassik im Rückblick nicht als wirkliches Novum des letzten Jahrhunderts ausmachen. In jüngster Vergangenheit und Gegenwart dürfte die Öffnung der Ehe für Homosexuelle die bedeutendste Neuerung sein, da die Exklusivität der Ehe für Verbindungen zwischen Mann und Frau eine Konstante in der europäischen Geschichte darstellt. Die Entwicklung von Ehe und Familie hängt in hohem Maße mit der Entwicklung der Gesellschaft und den jeweiligen Anschauungen zusammen. Nicht nur der Begriff der Ehe, sondern auch der Familie sind stets das Produkt der herrschenden Verhältnisse.

142  Vgl. anschaulich Bottke, in: de Boor/Meurer, Über den Zeitgeist, Band II, S.  242 ff. 143  Vgl. zu Heiraten und unehelichen Geburten Höpflinger/Fux, Familien – intereuropäische Perspektive, in: Ecarius (Hrsg.), Handbuch Familie, 2007, S. 57 (58). 144  Höpflinger/Fux, Familien – intereuropäische Perspektive, in: Ecarius (Hrsg.), Handbuch Familie, 2007, S. 57 (64 f.).



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU39

D. Der Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Selbstverständlich ist der Schutz von Ehe und Familie in der Europäischen Grundrechtecharta keine Neuentdeckung der Europäischen Union. Ehe und Familie sind die Objekte zahlreicher Regelungen im internationalen Menschenrechtsschutz und in den Verfassungen der Mitgliedstaaten. Von ihnen sind die Regelungen in der Grundrechtecharta zum Teil inspiriert. Im Folgenden wird daher ein Überblick über die Regelungen zum Schutz von Ehe und Familie im internationalen Menschenrechtsschutz (s. Ziff. I.) und in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegeben (s. Ziff. II).

I. Ehe und Familie als Schutzobjekte des internationalen Menschenrechtsschutzes Dem Grundrecht des Art. 9 GRC vergleichbare Grundrechte finden sich auch jenseits des nahezu wortgleichen Art. 12 EMRK an verschiedenen Stellen im internationalen Menschenrechtsschutz. Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verleiht heiratsfähigen Männern und Frauen das Recht, eine Ehe zu schließen und eine Familie zu gründen. Die Ehe darf nur auf Grund freier und voller Willenseinigung der Ehepartner geschlossen werden. Schließlich bekräftigt Art. 16 Abs. 3 AEMR die Rolle der Familie als „natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft“ und ihren Anspruch auf Schutz. Eine ähnliche Formulierung trifft Art. 23 Abs. 1 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR). In dessen Abs. 2 heißt es, dass das Recht von Mann und Frau im heiratsfähigen Alter, eine Ehe einzugehen, anerkannt wird. Gemäß Art. 23 Abs. 3 IPbpR darf sie nur im freien und vollen Einverständnis der zukünftigen Ehegatten geschlossen werden. Laut Art. 23 Abs. 4 IPbpR ist von den Vertragsstaaten sicherzustellen, dass die Ehegatten gleiche Rechte und Pflichten haben. Außerdem ist für den nötigen Schutz der Kinder bei Auflösung einer Ehe zu sorgen. Der Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen hatte im Rahmen einer Individualbeschwerde Gelegenheit, sich zur Auslegung des Ehebegriffes in Art. 23 IPbpR zu äußern.145 Die Beschwerde betraf zwei lesbische Paare aus Neuseeland. Die Partner lebten jeweils seit längerer Zeit zusammen, führten einen gemeinsamen Haushalt und kümmerten sich gemeinsam 145  Communication

No. 902/1999.

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

um ihre jeweils aus einer früheren Ehe stammenden Kinder. Da das neuseeländische Recht die Ehe nur jeweils einem Mann und einer Frau eröffnete, sahen die Antragsteller sich in ihrem Recht aus Art. 23 Abs. 2 IPbpR verletzt. Der Ausschuss kam zu dem Ergebnis, dass angesichts der eindeutigen Bezugnahme auf „Männer und Frauen“ in Art. 23 Abs. 2 IPbpR davon auszugehen sei, dass die Vorschrift die Staaten lediglich dazu verpflichte, Verbindungen zwischen Männern und Frauen als Ehe anzuerkennen.146 Demnach ist die gleichgeschlechtliche Ehe nicht von Art. 23 IPbpr geschützt. Art. 10 des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte147 (IPwskR) nennt die Ehe im Zusammenhang mit der Familie als „natürliche[r] Keimzelle der Gesellschaft“. Es heißt dort lediglich, dass eine Ehe nur im freien Einverständnis der künftigen Ehegatten geschlossen werden dürfe. Eine nähere Definition der Ehe erfolgt nicht, die Einbettung in den Familienartikel, der sich vor allem mit den Rechten von Müttern und Kindern beschäftigt und die Familie in Art. 10 Abs. 1 IPwskR als Grundeinheit der Gesellschaft anerkennt, ist unter der „Ehe“ in diesem Sinne die „traditionelle“ monogame, heterosexuelle Ehe zu verstehen, die auch hier der prototypische Kern der Kleinfamilie bestehend aus Eltern und Kindern sein soll. Bezüglich der Familie trifft die Vorschrift weitere Regelungen zum Mutter- und Kinderschutz, insbesondere zur Verhinderung sozialer und wirtschaftlicher Ausbeutung von Kindern. Die Familie ist ebenfalls das Schutzobjekt verschiedener völkerrechtlicher Menschenrechtsdokumente. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Laut Art. 16 Nr. 3 AEMR sei die Familie „die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft“. Sie habe Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat. Ähnlich lautet die Formulierung in Art. 10 IPwskR wonach „die Familie als die natürliche Kernzelle der Gesellschaft größtmöglichen Schutz und Beistand genießen soll, insbesondere im Hinblick auf ihre Gründung und solange sie für die Betreuung und Erziehung unterhaltsberechtigter Kinder verantwortlich ist.“148 Art. 16 AEMR und Art. 10 IPwskR liegt ein traditionelles Familienbild zu Grunde. Der Familienschutz ist in demselben Artikel wie die Heirats- und Familiengründungsfreiheit normiert und der Hinweis auf die Familie als natürlicher Grundeinheit der Gesellschaft und sogar „Keimzelle der Gesellschaft“ kann als Hinweis auf ihre Reproduktionsfunktion verstanden werden, wobei nicht übersehen werden darf, dass die englische Sprachfassung des Art. 10 IPwskR statt von „Keimzelle“ von der „fundamental group 146  Communication

No. 902/1999, Ziff. 8.3. 1973, S. 1569. 148  BGBl. II, 1976, S. 428. 147  BGBl. II,



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU41

unit“ spricht und damit eher der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ähnelt. Art. 10 IPwskR enthält nur auf den ersten Blick eine des Art. 16 Nr. 3 AEMR ähnliche Norm, wenn die Familie als die natürliche Kernzelle der Gesellschaft („natural and fundamental group unit of society“) bezeichnet wird. Art. 10 IPwskR konkretisiert den Familienbegriff nämlich dadurch, dass der Schutz der Familie insbesondere im Hinblick auf die Zeit zu gewährleisten ist, in der sie für die Betreuung und Erziehung unterhaltsberechtigter Kinder verantwortlich ist. Das impliziert bereits, dass die Familie jedenfalls auch vor und nach diesem Zeitraum eine Familie im Sinne der Norm bleibt und grundsätzlich Schutz genießt („insbesondere“). Das Committee on Economic, Social and Cultural Rights hat dementsprechend im Zusammenhang mit den Rechten älterer Menschen betont, dass die Vertragsparteien alle erforderlichen Anstrengungen unternehmen sollten, die Familie zu unterstützen, schützen, zu stärken und ihr dabei zu helfen, auf die Bedürfnisse ihrer älteren hilfsbedürftigen Mitglieder zu reagieren.149 Der IPBPR enthält mit Art. 23 IPBPR eine ähnliche Vorschrift, nach der die Familie die natürliche Kernzelle („fundamental group unit“) der Gesellschaft ist und Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat hat. Schließlich wird die Familie in der Europäischen Sozialcharta geschützt. In Art. 16 ESC heißt es, dass die Vertragsparteien den wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Schutz des Familienlebens fördern, insbesondere durch Sozial- und Familienleistungen, steuerliche Maßnahmen und den Bau familiengerechter Wohnungen und Hilfen für junge Eheleute.

II. Der Schutz von Ehe und Familie in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union Mit dem Aufkommen des Verfassungsstaates haben Ehe und Familie Eingang in die Verfassungsurkunden europäischer Staaten gefunden, allerdings nicht in jede Verfassung und wenn doch, so in unterschiedlichem Ausmaß. Nicht nur die Familienrechtslage ist in Europa sehr heterogen, sondern auch die Verfassungsrechtslage zum Schutz von Ehe und Familie. Es lassen sich im Wesentlichen drei Verfassungstypen unterscheiden. Einige Mitgliedstaaten verfügen über keinerlei verfassungsrechtliche Vorschriften zum Thema Ehe und Familie. Andere mitgliedstaatliche Verfassungen beschränken sich auf Freiheitsrechte wie die Eheschließungsfreiheit und die Familiengründungsfreiheit. Eine Dritte Gruppe von Mitgliedstaaten hat in ihren Verfassungen auch soziale Rechte für Ehen oder Familien normiert. 149  General

Comment No. 6 (1995).

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Darüber hinaus muss beachtet werden, dass die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich sind. Nicht alle Rechtsordnungen kennen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Gesetzen am Maßstab ihrer Verfassung. Das Vereinigte Königreich hat als Sonderfall sogar keine Verfassung, die normativen Vorrang beansprucht. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über den ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie in den Mitgliedsstaaten gegeben werden. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die in einigen Mitgliedstaaten dem einfachen Recht vorgeht oder sogar Verfassungsrang genießt, wird nicht gesondert berücksichtigt, weil der Schutz von Ehe und Familie durch die EMRK wegen ihres besonderen Einflusses auf die Auslegung der Art. 7 und 9 GRC jeweils im Zusammenhang mit der Untersuchung dieser Normen erfolgt. Zunächst wird der Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG skizziert (s. Ziff. 1.). Sodann werden die Verfassungen der Mitgliedstaaten auf Normen zum Schutz von Ehe und Familie hin untersucht (s. Ziff. 2). Schließlich wird das Bild des Schutzes von Ehe und Familie in der Verfassungstradition der Mitgliedstaaten zusammengefasst (s. Ziff. 3). 1. Überblick über den Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG In Deutschland wurden Ehe und Familie verfassungsrechtlich erstmals in Art. 119 Abs. 1 WRV erwähnt, wonach die auf der Gleichberechtigung der Geschlechter basierende Ehe „als Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation“ unter den besonderen Schutz der Verfassung gestellt wurde. Die Paulskirchenverfassung sah noch kein Grundrecht zum Schutz von Ehe und Familie vor, sondern garantierte lediglich in Art. 5 § 150 Paulskirchenverfassung die obligatorische Zivilehe. Das Grundgesetz enthält in Art. 6 GG grundrechtliche Normen zu Ehe und Familie. In Art. 6 Abs. 1 GG heißt es: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“. Art. 6 Abs. 2 GG enthält die elterliche Erziehungspflicht und das entsprechende Erziehungsrecht, sowie die Aufgabe des Staates, darüber zu wachen (sog. Wächteramt des Staates). Art. 6 Abs. 3 GG regelt, dass Kinder nur bei einem Erziehungsversagen oder drohender Verwahrlosung von den Erziehungsberechtigten getrennt werden dürfen. Art. 6 Abs. 4 GG normiert einen Schutzauftrag für werdende Mütter. Art. 6 Abs. 5 GG schließlich statuiert ein spezielles Diskriminierungsverbot zugunsten nichtehelich geborener Kinder.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU43

a) Verhältnis von Ehe und Familie Umstritten ist zunächst, in welchem Verhältnis Ehe und Familie in Art. 6 Abs. 1 GG stehen, ob zwischen ihnen nur ein faktischer oder auch ein rechtlicher Zusammenhang besteht,150 die Ehe mithin als Vorstufe der Familie, oder die Ehe mit Kindern als Idealbild der Familie anzusehen ist.151 Die Ehe selbst, ohne dass Kinder aus ihr hervorgegangen sind, ist jedenfalls keine Familie. In dieser Hinsicht sind Ehe und Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG rechtlich vollständig unabhängig voneinander. Die Entscheidung der Ehegatten darüber, ob sie Kinder haben wollen, ist Teil ihrer selbstverantwortlichen Lebensgestaltung und damit der Ehegestaltungsfreiheit.152 b) Begriff der Ehe in Art. 6 GG Unter dem Begriff der Ehe versteht das BVerfG „die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft (…), begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates (…), in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen (…) und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können …“153. c) Begriff der Familie in Art. 6 GG Der Begriff der Familie erfasst nach Auffassung des BVerfG zunächst die „umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern“.154 Darunter fällt jedenfalls die leibliche Kleinfamilie, also die durch biologische Abstammung vermittelte Eltern-Kind-Beziehung.155 Nicht von Belang ist, ob es sich um eine eheliche oder nichteheliche Familie handelt156 oder ob ein Elternteil al-

150  Für eine vollständige rechtliche Entkopplung von Ehe und Familie BrosiusGersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 43; dagegen Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 17; Burgi, Der Staat 39 (2000), S. 487 (500); Tettinger, Essener Gespräche 35 (2001), S. 117 (138); Di Fabio, NJW 2003, S. 993 (998). 151  v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 18. 152  BVerfGE 105, 1 (11); Steiner, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, § 108, Rn. 11. 153  BVerfGE 105, 313 (345). 154  BVerfGE 10, 59 (66); 48, 327 (339); 108, 82 (112); 127, 263 (287 ff.). 155  BVerfGE 10, 59 (66); 18, 97 (105 f.); 79, 256 (267), 80, 81 (90); 108, 82 (112); Kloepfer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 43 Rn. 73; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 101. 156  BVerfGE 36, 126 (136); 106, 166 (176); 108, 82 (112); 112, 50 (65).

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

leinerziehend ist.157 In Bezug auf den biologischen Vater hat das BVerfG vertreten, dass dieser sich nur dann auf das Familiengrundrecht berufen kann, wenn bereits soziale Beziehungen zu dem Kind bestehen.158 Der EGMR hat allerdings entschieden, dass auch der biologische Vater, der keine sozialen Kontakte zu dem Kind aufgebaut hat, sich auf den Schutz des Familienlebens aus Art. 8 EMRK berufen und Umgang mit dem Kind verlangen kann, sofern er ein Interesse an dem Kind bekundet hat und ein Kontakt mit dem leib­ lichen Vater dem Kindeswohl förderlich ist.159 Bezüglich der entgegenstehenden Rechtslage in Deutschland hat der EGMR eine Konventionsrechtsverletzung festgestellt. Das BVerfG geht davon aus, dass Art. 1 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 59 Abs. 2 GG die verfassungsrechtliche Pflicht statuiert, die EMRK bei der Auslegung des Grundgesetzes heranzuziehen. Die Rechtsprechung des EGMR dient „auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen […] für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des GG.“160 Demnach ist auch Art. 6 Abs. 1 GG dahingehend auszulegen, dass sich der biologische Vater grundsätzlich auf den Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG berufen kann.161 Noch weitgehend ungeklärt sind die Folgen assistierter Reproduktion, wenn dadurch biologische und genetische Elternschaft auseinanderfallen, z. B. bei der Leihmutterschaft oder der Eizellspende.162 Das BVerfG hat seinen Familienbegriff in jüngster Zeit erweitert und somit dem Familienbegriff der EMRK angenähert. Von familiärer Verbundenheit geprägte engere Beziehungen zwischen Großeltern und Enkeln oder nahen Verwandten in der Seitenlinie unterfallen demnach ebenfalls dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG.163 d) Sachliche Gewährleistungen und Dimensionen des Ehegrundrechts Dem Ehegrundrecht werden verschiedene sachliche Gewährleistungen entnommen. So schützt Art. 6 Abs. 1 GG die Eheschließungsfreiheit. Sie beinhaltet als positive Eheschließungsfreiheit das Recht, eine Ehe mit einem Partner der Wahl, sofern er nicht dem gleichen Geschlecht angehört, zum 157  BVerfGE 18, 97 (105 f.); 25, 167 (196); 80, 81 (90); 45, 104 (123); 56, 363 (382); 79, 203 (211); 108, 82 (112). 158  BVerfGE 108, 82 (112). 159  EGMR FamRZ 2011, 269 (270); EGMR FamRZ 2011, 1715 (1716). 160  BVerfGE 74, 358 (370); 83, 119 (128); 111, 307 (317); 120, 180 (200 f.); 128, 326 (367 f.). 161  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 106. 162  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 108. 163  BVerfGE 136, 382 (388 f.).



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selbstgewählten Zeitpunkt einzugehen.164 Die Eheschließungsfreiheit wird als Abwehrrecht qualifiziert.165 Eine Ehe nicht eingehen zu wollen, hält das BVerfG für von Art. 2 Abs. 1 GG geschützt und nicht von Art. 6 Abs. 1 GG.166 Umstritten ist, ob Art. 6 Abs. 1 GG ein Recht auf Ehescheidung enthält.167 Das BVerfG verneint ein Recht auf Scheidung aus Art. 6 Abs. 1 GG.168 Mit der Scheidung wiedererlangen die ehemaligen Ehepartner jedoch ihr Recht zu heiraten.169 Das Ehegrundrecht gewährleistet ferner die Ehegestaltungsfreiheit. Darunter ist zu verstehen, dass die Ehegatten die gesamte eheliche Lebensgemeinschaft frei gestalten können.170 Dazu zählen die unterschiedlichsten Bereiche, wie die Wahl des Ehenamens, des Wohnortes der Ehegatten oder die Frage, ob nur ein Ehegatte, beide oder keiner erwerbstätig ist.171 Das Ehegrundrecht vermittelt darüber hinaus eine Schutzpflicht und ein entsprechendes subjektives Recht der Ehegatten.172 Der besondere Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat zudem zur Förderung der Ehe.173 164  BVerfGE 29, 166 (175); 31, 58 (67); 36, 146 (161); 105, 313 (342); 112, 50 (65); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 61; Antoni, in: Hömig, GG, Art. 6 Rn. 8; Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 6 Rn. 22. 165  Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 154 Rn. 61; Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 62. 166  BVerfGE 56, 363 (384); Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 154 Rn. 61  f.; a.  A. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 64; Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 22; v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 25. 167  Dafür Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 65; Antoni, in: Hömig, GG, Art. 6 Rn. 8; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, Art. 6 Rn. Abs. 1 Rn. 62; a. A. Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 154 Rn. 50; Merten, in: Mertens/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 42 Rn. 153; Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, § 100, IV 4 (S. 416); Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 23. 168  BVerfG NJW 2001, 2874. 169  BVerfGE 31, 58 (82 f.). 170  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 66; v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 30; Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 25; Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 154 Rn. 38. 171  Vgl. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 66 ff. m. w. N. 172  BVerfGE 6, 55 (76); 105, 313 (346); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 89; v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 34. 173  BVerfGE 6, 55 (76) BVerfGE 6, 55 (76); 28, 104 (113); 53, 224 (248); 76, 1 (41); 99, 216 (231 f.); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 85.

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Überdies wird in Art. 6 Abs. 1 GG ein spezielles Diskriminierungsverbot zugunsten der Ehe verortet.174 e) Sachliche Gewährleistungen und Dimensionen des Familiengrundrechts Prinzipiell werden die gleichen Gewährleistungen auch dem Familiengrundrecht zugeschrieben. So enthält Art. 6 Abs. 1 GG die Familiengründungsfreiheit. Wenig geklärt erscheint, ob die Familiengründung durch eine Adoption vom Schutzbereich der Familiengründungsfreiheit erfasst ist.175 Das BVerfG hat die Thematik bisher vornehmlich unter gleichheitsrechtlichen Gesichtspunkten am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG untersucht.176 Wie auch bezüglich der Ehe besteht bezüglich der Familie eine umfassende Gestaltungsfreiheit der Familienmitglieder. Sie können das familiäre Zusammenleben in persönlicher wie wirtschaftlicher Hinsicht frei gestalten.177 Hinzu tritt eine Schutzpflicht des Staates, Störungen der Familie durch Dritte abzuwehren.178 Dem Gebot des besonderen Schutzes wird auch zugunsten der Familie eine Förderpflicht des Staates entnommen.179 Schließlich kommt dem Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG ein Diskriminierungsverbot zu.180 f) Institutsgarantien von Ehe und Familie Aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt nach ganz herrschender Ansicht eine sogenannte Institutsgarantie der Ehe und Familie. Die Institutsgarantie soll die wesentlichen Strukturmerkmale der Ehe und der Familie vor Abänderung oder Abschaffung durch den Gesetzgeber schützen. Die Annahme eines besonderen grundrechtlichen Schutzes der Ehe und Familie vor dem Zugriff des Gesetzgebers ist naheliegend, weil es sich insbesondere bei der Ehe um 174  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art.  6 Rn.  91  ff.; v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 36; Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 34. 175  Kritisch Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 119, die allein das Kindeswohl als Maßstab anlegt. 176  BVerfG NJW 2013, 847; dazu Reimer/Jestaedt, JZ 2013, S. 468. 177  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art.  6 Rn.  121; BVerfGE 21, 329 (353); 91, 130 (134); v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 22. 178  BVerfGE 6, 55 (76); 28, 324 (347); 87, 1 (35); 105, 313 (346); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 132. 179  BVerfGE 6, 55 (76); teilweise i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip, BVerfGE 82, 60 (85 ff.); 99, 216 (233); 107, 205 (213). 180  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 133 f., Uhle, in: Epping/Hillgruber, Art. 6 Rn. 34.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU47

ein zivilrechtliches Rechtsinstitut handelt, das durch den Gesetzgeber erst einfachgesetzlich konstituiert werden muss. Setzte Art. 6 Abs. 1 GG dem einfachen Gesetzgeber keine Grenzen der Gestaltung von Ehe und Familie, stünde die Wirksamkeit seiner Gewährleistung im Belieben des Gesetzgebers und das Grundrechte entbehrte einer eigenständigen grundrechtlichen Substanz. Dem Art. 9 GRC wird im deutschsprachigen Schrifttum ebenfalls eine Institutsgarantie der Ehe entnommen.181 Aus diesem Grund wir die dogmatische Figur der Institutsgarantie im Folgenden näher dargestellt. Die Institutsgarantie ist ein Begriff der deutschen Grundrechtsdogmatik. Die Lehre von den Institutsgarantien hat ihren Ursprung in der Weimarer Staatsrechtslehre (dazu unter lit. aa]) und wurde von der bundesdeutschen Staatsrechtslehre rezipiert und für die Dogmatik der Grundrechte des Grundgesetzes fruchtbar gemacht (dazu unter lit. bb]). Ihr Nutzen als Element der Grundrechtsdogmatik ist jedoch nicht ohne Kritik geblieben. Die wesentlichen Einwände gegen die Lehre von den Institutsgarantien werden deshalb abschließend kurz dargestellt (dazu unter lit. cc]). aa) Institutsgarantien in der Weimarer Staatsrechtslehre Die Lehre von den Institutsgarantien oder auch institutionellen Garantien oder Einrichtungsgarantien entstammt der Weimarer Staatsrechtslehre.182 Die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung (WRV) wurden zunächst als politische Programmsätze verstanden, die nicht justiziabel waren. Doch auch als sich diese Auffassung wandelte, boten die Grundrechte keinen Schutz gegen den Gesetzgeber, da der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz nicht anerkannt war. Eine Art. 1 Abs. 3 GG entsprechende Regelung enthielt die WRV nicht. Zudem standen die Grundrechte der WRV großteils unter weitgehenden Gesetzesvorbehalten. Aus dem Bedürfnis, die Grundrechte gegen den Gesetzgeber besser abzusichern, entstand die Lehre von den Einrichtungsgarantien. Der Begriff der Einrichtungsgarantie wurde erst später von Klein geprägt und fasst institutionelle Garantien, die sich auf öffentlich-rechtliche Gewährleistungen beziehen, und Institutsgarantien, die privatrechtliche Institute sichern sollen, als 181  Frenz, Handbuch Europarecht IV. Rn. 1523; Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts, S. 310; Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar Europäische Grundrechte-Charta, Art. 9 Rn. 27; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16 Rn. 54, Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 14. 182  Zur Entwicklung der Figur in Weimar Abel, Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Bonner Grundgesetzes, S. 17 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 68 I.

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Oberbegriff zusammen.183 Ob die Unterscheidung von Institutsgarantie und institutioneller Garantie zielführend ist, kann hier dahinstehen,184 da es mit Ehe und Familie um Erscheinungsformen des Privatrechts und somit Institute geht. Ehe und Familie sind die Objekte der Garantie, die Schutzgüter. Die Eigenart der Institutsgarantien besteht darin, dass sie „bestimmte, besonders benannte Rechtseinrichtungen vor einer Beseitigung oder Antastung ihres Wesensgehalts oder Kernbereichs (…) namentlich durch den Gesetzgeber“ schützen.185 Liegt eine Institutsgarantie vor, folgt daraus ein besonderer, verstärkter Schutz. Die spezifische Schutzwirkung der Garantie ist, das vorgefundene Institut in seinen wesentlichen Grundzügen zu erhalten, ihm einen vom (einfachen) Gesetzgeber nicht anzutastenden Kern zuzuschreiben, einen „Wesensgehalt“ in diesem Sinne. Die Lehre von den Einrichtungsgarantien verfolgt damit zuvörderst den Zweck, der Aushöhlung der Grundrechte durch den Gesetzgeber entgegenzuwirken. Die Ehe als Grundlage der Familie stand gem. Art. 119 WRV unter dem besonderen Schutz des Staates. Subjektive Rechte begründete Art. 119 WRV nach verbreiteter Meinung jedoch nicht.186 Man sah in Art. 119 WRV aber eine Institutsgarantie zugunsten von Ehe und Familie. Schutzwirkungen entfalten konnte die Lehre von den Einrichtungsgarantien freilich nicht mehr, wie es an den nationalsozialistischen Gesetzen zu Ehe und Familie besonders deutlich wird.187 bb) Institutsgarantien im Grundgesetz Die Lehre von den Institutsgarantien wurde von der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik rezipiert und das Dictum des Bundesverfassungsgerichts, Art. 6 Abs. 1 GG enthalte eine Institutsgarantie, ist im Wesentlichen unbestritten.188 Das BVerfG entschied schon in den Anfangszeiten der Bundesrepublik: „Unbestritten umschließt das verfassungsrechtliche Bekenntnis zu 183  F.

Klein, Institutionelle Garantien und Rechtsinstitutsgarantien, S. 104. Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 68 II 4 (S. 782); Kloepfer, in: Merten/ Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 43 Rn. 29. 185  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 68 I 2 (S. 761). 186  Vgl. die Nachweise bei Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 4. 187  Vgl. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, S. 400. 188  Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, § 100, IV, 5 (S. 419 in Fn. 363), krit. zur Figur der Institutsgarantie insgesamt Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie. 184  Kritisch



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU49

Ehe und Familie zugleich die Gewährleistung beider Lebensordnungen, enthält also eine sogenannte Instituts- oder Einrichtungsgarantie. In dieser Eigenschaft sichert er Ehe und Familie lediglich in ihrer wesentlichen Struktur, so daß insoweit seine juristische Wirkungskraft in der Rechtswirklichkeit nur darin besteht, einen Normkern des Ehe- und Familienrechts verfassungsrechtlich zu gewährleisten“189 Um beurteilen zu können, ob Art. 9 GRC ebenfalls eine solche Institutsgarantie enthält, ist die Bedeutung der Figur näher zu beleuchten. (1) Das Schutzgut der Institutsgarantie Zunächst stellt sich die Frage nach dem Schutzgut der Einrichtungsgarantie, im Falle des Art. 6 GG bzw. Art. 9 GRC nach dem Institut der Ehe. Nach der vorherrschenden Auffassung in der Literatur muss es sich bei den garantierten Instituten um Rechtsinstitute handeln, mithin bereits von der Verfassung vorgefundene rechtliche Gebilde,190 um einen Normkomplex, der sich durch gemeinsame Strukturmerkmale zu einem Institut verbindet. Das soll nicht bedeuten, dass die Rechtsinstitute nicht auch einen Bezug zur Gesellschaft haben. So ist für Ehe und Familie augenfällig, dass die einfachgesetzlichen Regelungen, die von der WRV und später von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes vorgefunden wurden, die vorherrschenden moralisch-religiösen Anschauungen des Zusammenlebens von Erwachsenen untereinander einerseits und mit ihren Kindern andererseits widerspiegelten.191 Teilweise wird das Vorliegen einer Institutsgarantie auch daraus abgeleitet, dass das Institut dem Einzelnen Kompetenzen im Sinne einer rechtlichen Gestaltungsmacht verleiht. Im Rahmen des Ehegrundrechts aus Art. 6 Abs. 1 GG namentlich das Recht, eine Ehe einzugehen, sowie die eheliche Gemeinschaft rechtlich zu gestalten. Der Sinn der Institutsgarantie sei demgemäß darin zu sehen, es dem Gesetzgeber zu verbieten die entsprechenden Kompetenzen zu beseitigen.192 Damit stünde weniger eine objektiv-rechtliche, sondern eine individualschützende Funktion der Institutsgarantie im Vordergrund. 189  BVerfGE 6, 55 (72), st. Rspr. 10, 59 (66); 32, 260 (267); 51, 386 (396), 53, 224 (248), 55, 115 (126); 62, 323 (329 f.); 80, 81 (92); 105, 313 (344 f.). 190  Die von Klein versuchte Ausdehnung auf gesellschaftlich-tatsächliche Sachverhalte hat in der Wissenschaft keine Zustimmung gefunden, vgl. die Kritik von Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, S. 28 f. 191  Kloepfer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 43 Rn. 28, 66; zu dem ungeklärten Verhältnis von Recht und Wirklichkeit bei der Bestimmung des Instituts Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, S.  115 ff. 192  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 221.

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(2) Die Schutzwirkung der Institutsgarantie Die Wirkung der Institutsgarantie ist ein spezifischer, gesteigerter Schutz insbesondere vor dem unbegrenzten Zugriff des Gesetzgebers zugunsten des geschützten Instituts. Grundgedanke der Institutsgarantie ist, dass die Einrichtung nicht durch den Gesetzgeber abgeschafft oder seine typusbestimmenden Gehalte ausgehöhlt werden dürfen.193 Für das Institut der Ehe bedeutet dies, dass die Ehe als Schutzobjekt der Garantie zwar nicht nur der einfachgesetzlichen Ausformung zugänglich ist, sondern dieser Ausformung als Rechtskonstrukt konstitutiv bedarf, die rechtliche Gestalt der Ehe jedoch einen von verfassungswegen dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers entzogenen Kern aufweist. Diesen Kern zu bewahren, ist der Gesetzgeber objektivrechtlich verpflichtet. Die Institutsgarantie ist, findet man sie in einem Grundrecht vor, zugleich die objektivierte Gewährleistung des grundrechtlichen Schutzgutes. Die Garantie umfasst jedoch nicht das Rechtsinstitut in seiner Gesamtheit, sodass der gegenwärtige einfachrechtliche status quo verfassungsrechtlich zementiert würde, sondern sie beschränkt sich auf den Kernbereich des Instituts, seine wesensmäßigen essentialia. Der Randbereich hingegen unterliegt der Verfügungsgewalt des einfachen Gesetzgebers.194 Misst man der Institutsgarantie darüber hinaus eine subjektiv-rechtliche Dimension zu, so kann der Einzelne, sofern der Schutzbereich des Instituts betroffen ist, auch Verletzungen der eigentlich objektiv-rechtlichen Dimension der Einrichtung abwehren. Qua Teilnahme an dem Institut hat er gewissermaßen das erforderliche Interesse an der objektiven Bewahrung dessen verfassungsrechtlich versteinerten Kerns. Für die Ehe kann das bedeuten, dass eine verheiratete Person die Institutsgarantie der Ehe gegen deren Veränderungen verteidigen könnte, auch wenn diese sie in ihrer sonstigen persönlichen Situation nicht beeinträchtigt. Beispiele wären, dass sich Eheleute gegen eine Änderung des Heiratsfähigkeitsalters oder eine Abschaffung von Ehehindernissen wenden könnten. Die objektiv-rechtlichen Gehalte des Instituts würden dadurch subjektiviert, um ihren Schutz zu verstärken.195 Eine offensichtliche Schwierigkeit bereitet die Bestimmung der Grenze zwischen der (noch) zulässigen Ausgestaltung und der verfassungswidrigen Verletzung des Kernbestandes des Instituts.196 Nahe liegt eine Bestimmung nach 193  Stern,

Staatsrecht, Bd. III/1, § 68, VI 3 (S. 855). die Institutsgarantie der Ehe in Art. 6 GG vgl. BVerfGE 105, 313 (345); Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 358. 195  Str., so Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 68 (S. 873), a. A. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S.  238 f.; Kloepfer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 43 Rn. 38 f. 196  Zu den verschiedenen Ansätzen Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, § 68 VI 5 (S. 869); Mager, Einrichtungsgarantien, S. 428 ff. 194  Für



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dem historischen Willen des Verfassungsgebers, möglich sind aber auch teleologische Erwägungen, die eine flexiblere Handhabung ermöglichen. Die Möglichkeit der Veränderung des Institutskerns wird dementsprechend unterschiedlich beurteilt. Teilweise werden die Voraussetzungen der Verfassungsänderung verlangt.197 Demgegenüber betonen andere, dass die Bestimmung des „Kernbereichs“ nicht in Stein gemeißelt, sondern „entwicklungsoffen“ sei.198 cc) Kriterien zur Bestimmung der Existenz einer Institutsgarantie Ob konkret eine Institutsgarantie vorliegt, richtet sich nach der Formulierung der Norm. Dass ein bestimmtes Schutzgut von der Verfassung genannt wird, genügt selbst noch nicht für die Annahme einer Institutsgarantie, es kommt vielmehr darauf an, ob die Verfassung das Institut ausdrücklich einem besonderen Schutz unterstellen will.199 Dazu sei bei mangelnder Ergiebigkeit des Verfassungstextes in dieser Hinsicht200 auf die spezifische Eigenart des Schutzobjektes abzustellen. Dieses müsse zumindest partiell normgegprägt sein.201 Das Vorhandensein einer Abhängigkeit vom einfachen Recht sei dafür allein noch nicht ausreichend, da es mit Art. 16 GG auch Grundrechte gebe, die normabhängig sind, aber keine Einrichtungsgarantie verbürgten.202 Es müsse sich vielmehr inhaltlich um einen „Faktor von grundlegend und eigengewichtig ordnender (kanalisierender) Funktion für den verfaßten Staats- (und Gesellschafts-)Aufbau“ handeln.203 Die Institutsgarantien der Ehe und Familie sind demnach eindeutige Fälle, stellt Art. 6 GG sie doch ausdrücklich unter besonderen Schutz. dd) Kritik an der Figur der Institutsgarantie Die überkommene dogmatische Figur der Institutsgarantie ist nicht ohne Kritik geblieben.204 Aufgrund der spezifischen Entstehungsgeschichte der 197  Für die Ehe Uhle, in: BeckOK-GG, Art. 6 Rn. 2; Papier, Sondervotum in BVerfGE 105, 357 (357 f.). 198  Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, 68 VI (S. 868, 870). 199  Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, S.  120; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 (S. 791). 200  Dazu Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, S. 129 ff. 201  Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, S. 137. 202  Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, S. 137. 203  Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, S. 29. 204  Vgl. jüngst die Kritik bei Mainzer, Die dogmatische Figur der Einrichtungsgarantie, S. 162 ff.; für überflüssig hält das Konstrukt auch Waechter, Die Verwaltung 29 (1996), S. 47 (57 ff.).

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Institutsgarantien vor dem Hintergrund der Weimarer Reichsverfassung ist zunächst fraglich, ob die Konstruktion der Einrichtungsgarantie nicht durch Geschichtswerdung des Deutschen Reiches und die veränderten Bedingungen unter dem Grundgesetz obsolet geworden ist. Jedenfalls für die Institutsgarantien wird dies gelegentlich vertreten.205 Die Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte folgt nunmehr ausdrücklich aus Art. 1 Abs. 3 GG. Das Bedürfnis einer besonderen Absicherung grundrechtlicher Schutzgüter gegen den Zugriff des Gesetzgebers könnte damit entfallen sein. Die grundsätzliche Bindung auch des Gesetzgebers an die Verfassung sage aber noch nichts über die „Schutzfunktion“ oder die Schutzdichte aus, sodass die Bindung aller Staatsgewalt an die Grundrechte die Funktion der Institutsgarantie als besonderer Sicherung nicht entfallen lasse.206 Kloepfer erkennt eine weitere vermeintliche Funktion der Institutsgarantie, die er am Beispiel der Ehe ausführt: die objektiv-rechtliche Bewahrung der normativen Kernbereiche. Auch wenn sich der Einzelne nicht gegen die Einführung der Vielehe oder der gleichgeschlechtlichen Ehe zur Wehr setzen könne, wäre es die Institutsgarantie, die eben das verhinderte.207 Dagegen könnte sprechen, dass die Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 Abs. 2 GG diese Funktion der Institutsgarantie erfüllen könnte. Die strukturtragenden Prinzipien der Ehe könnten als deren Wesensgehalt anzusehen sein und dürfen vom Gesetzgeber nicht angetastet werden. Abgesehen von der Uneinigkeit, die über die Bestimmung des Wesensgehalts besteht,208 wird dem entgegengehalten, dass Art. 19 Abs. 2 GG nichts darüber aussage, wie der Wesensgehalt zu bestimmen sei oder woraus er bestehe.209 Der gleiche Einwand lässt sich wiederum auch gegen die Bestimmung der veränderungsfesten Merkmale der Einrichtungsgarantien formulieren. Weiterhin wird eingewandt, dass Art. 19 Abs. 2 GG nur für Grundrechte gelte.210 Abel ist der Ansicht, dass die Wesensgehaltsgarantie die Institutsgarantien nicht ersetzt habe, sondern in Bezug auf diese nur deklaratorische Funktion habe. Denn wenn, so sein Beispiel, Art. 14 GG Erbrecht und Eigentum gewährleisteten, 205  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 444; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S.  239 f.; Waechter, Die Verwaltung 29 (1996), S. 47 (63); Willke, Stand der neueren Grundrechtstheorie, S. 124. 206  Mager, Einrichtungsgarantien, S. 400. 207  Kloepfer, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte Bd. II, § 43 Rn. 39. 208  Dazu Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, S. 62  ff. und S.  83 ff. 209  Mager, Einrichtungsgarantien, S. 402. 210  Schmidt-Jortzig, Die Einrichtungsgarantien der Verfassung, S. 61 f.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU53

sei damit direkt die verfassungsrechtliche Bestandsgarantie dieser Institute verbürgt, weil ihr Bestehen Voraussetzung der Ausübung der dort bestehenden subjektiven Rechte sei.211 g) Die von der Institutsgarantie geschützten Strukturmerkmale der Ehe Welche Strukturmerkmale als abänderungsfester Kern des Rechtsinstituts der Ehe durch die Institutsgarantie dem Zugriff des Gesetzgebers entzogen sein sollen, ist in der deutschen Staatsrechtslehre umstritten. Das BVerfG zählt zu den wesentlichen Merkmalen der Ehe, dass sie auf Lebenszeit, bzw. auf Dauer angelegt ist.212 Daraus soll sich ihre grundsätzliche Unauflösbarkeit ergeben.213 Allerdings hat sich die einfachrechtliche Ausgestaltung des Ehescheidungsrechts seit Bestehen der Bundesrepublik erheblich gewandelt. Insbesondere mit dem Übergang vom Verschuldens- zum Zerrüttungsprinzip im Jahre 1977 ist die Ehe zwar nach wie vor auf Dauer angelegt, kann jedoch grundsätzlich geschieden werden. Das Scheitern der Ehe wird nach dreijährigem Getrenntleben der Ehegatten gem. § 1566 Abs. 2 BGB unwiderlegbar vermutet. Nur ausnahmsweise kann die Härtefallklausel des § 1568 BGB die Ehescheidung hinauszögern. Das BVerfG hat die Regelungen im Wesentlichen als mit Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar angesehen.214 weiterhin muss die Ehe auf einem freien Entschluss gleichberechtigter Partner be­ ruhen,215 die nur ein216 Mann und eine Frau sein 217 können. Schließlich ist die Mitwirkung des Staates an der Eheschließung obligatorisch.218 Art. 6 Abs. 1 GG soll auch eine Institutsgarantie der Familie enthalten.219 Die Institutsgarantie der Familie hat in der Praxis keine 211  Abel, Die Bedeutung der Lehre von den Einrichtungsgarantien für die Auslegung des Bonner Grundgesetzes, S. 39. 212  BVerfGE 29, 166 (176); 62, 323 (330); 105, 313 (345). 213  BVerfGE 10, 59 (66); 53, 224 (225); a. A. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 80; Richter, in: AK-GG, Art. 6 Rn. 38. 214  BVerfGE 53, 224 (245). 215  BVerfGE 29, 166 (176); 37, 217 (249 ff.); 62, 323 (330); 103, 89, (101); 105, 313 (345). 216  BVerfGE 10, 59 (66 f.); 29, 166 (176); 31, 58 (69); 62, 323 (330); a. A. BrosiusGersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 79; Model/Müller, GG, Art. 6 Rn. 4. 217  BVerfGE 10, 59 (66); 29, 166 (176); 53, 224 (245); 62, 323 (330); 105, 313 (345); a. A. Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 81. 218  BVerfGE 29, 166 (176); 62, 323 (330); 105, 313 (345). 219  BVerfGE 6, 55 (72); 76, 1 (49); 80, 81 (92); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 128; Uhle, in: BeckOK-GG, Art. 6 Rn. 29.

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

große Bedeutung erlangt und die Kernelemente des Instituts der Familie sind nicht geklärt.220 h) Der Schutz von Ehe und Familie als wertentscheidende Grundsatznorm Aus der objektiv-rechtlichen Dimension des Schutzes von Ehe und Familie soll nicht nur die Institutsgarantie, sondern auch der Charakter der Norm als wertentscheidende Grundsatznorm folgen.221 Damit sei Art. 6 Abs. 1 GG eine verbindliche Wertentscheidung für den gesamten Bereich des Ehe und Familie betreffenden privaten und öffentlichen Rechts.222 Von einer verstärkenden Betonung des Schutzauftrages des Art. 6 Abs. 1 GG abgesehen bleibt allerdings unklar, ob damit etwas anderes ausgesagt wird, als die Vieldimensionalität des Ehe- und Familiengrundrechts. Möglicherweise ist die Förderpflicht zugunsten von Ehe und Familie der objektiv-rechtlichen Funktion als wertentscheidende Grundsatznorm zu entnehmen.223 Teilweise wird vertreten, dass der besondere Schutz der Ehe verlange, diese gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens zu privilegieren. Im Zusammenspiel mit der Institutsgarantie stautierte Art. 6 Abs. 1 GG damit ein Abstandsgebot zwischen Ehe und anderen Lebensformen, insbesondere auch der eingetragenen Lebenspartnerschaft.224 Das BVerfG hat sich dieser Ansicht nicht angeschlossen.225 Das Ehe- und das Familiengrundrecht des Art. 6 Abs. 1 GG stehen unter keinem Gesetzesvorbehalt, sodass Beschränkungen, seien es Eingriffe oder Unterschreitungen des Schutz- und Fördergebotes, nur durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden können.226 Als SchrankenSchranke kommt jeweils das Verhältnismäßigkeitsprinzip zum Tragen.227

220  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 128; Uhle, in; BeckOK-GG, Art. 6 Rn. 32. 221  BVerfGE 6, 55 (71 ff.); 31, 58 (67); 51, 386 (396); 62, 323 (329); 76, 1 (41 ff.); 80 (92 f.). 222  BVerfGE 6, 55, (71 ff.); 9, 237 (242); 22, 93 (98); 31, 58 (67); 55, 114 (126 f.); 105, 313 (342 ff.); 108, 351 (363); BVerfGE 111, 160 (172); 131, 239 (259). 223  Di Fabio, NJW 2003, S. 993 (997). 224  Uhle, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Art. 6 Rn. 36; v. Coelln, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 50. 225  Vgl. BVerfGE 124, 199 (217 ff.); 126, 400 (414 ff.); 131, 239 (255 ff.); 132, 179 (191); 133, 377 (487 ff.). 226  BVerfGE 24, 119 (135); 31, 58 (68 f.); Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grund­ gesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 140; v. Coelln, in: Sachs, GG, Art. 6 Rn. 23; Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke, GG, Art. 6 Rn. 8. 227  Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 97, 140.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU55

2. Der verfassungsrechtliche Schutz von Ehe und Familie in den übrigen Mitgliedstaaten. Nachdem der Schutz von Ehe und Familie im deutschen Verfassungsrecht kurz skizziert wurde, sind die Verfassungen der übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Normen zum Schutz von Ehe und Familie zu untersuchen. Sollten sich dabei Gemeinsamkeiten feststellen lassen, ergibt sich aus diesen möglicherweise eine gemeinsame Verfassungstradition, die Auswirkungen auf die Auslegung der Normen der Grundrechtecharta zeitigen kann. Die überwiegende Zahl der Verfassungen der Mitgliedstaaten beinhalten Regelungen zur Ehe und / oder zur Familie. Dies sind neben Deutschland Belgien, Bulgarien, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Polen, Portugal, Rumänien, die Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, Ungarn und Zypern. a) Mitgliedstaaten ohne verfassungsrechtliche Normen zum Schutz von Ehe und Familie Einige mitgliedstaatliche Verfassungen enthalten keinerlei Regelungen über Ehe und Familie. Dies sind Dänemark, Schweden, die Niederlande, Malta, Österreich und das Vereinigte Königreich. In Dänemark und Schweden ist der Grundrechtsschutz traditionell eher schwach ausgeprägt.228 Die skandinavischen Verfassungen gehören zu den älteren in Europa und orientieren sich an einem klassisch-liberalen Staatsverständnis, sodass sofern Grundrechte vorhanden sind, diese eher die klassischen liberalen Freiheitsrechte sind.229 Zudem beanspruchen die skandinavischen Verfassungen zwar Geltungsvorrang vor dem einfachen Recht, die Gerichte üben jedoch eine große Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber („judicial self-restraint“) und machen von der Möglichkeit, Gesetze wegen eines Verfassungsverstoßes für nichtig zu erklären, keinen (Dänemark) oder nur sehr zurückhaltenden (Schweden)230 Gebrauch.231 In Schweden nimmt aber die EMRK gemäß 228  Nielsen, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Dänemarks, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 89 (92). 229  Nielsen, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Dänemarks, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 89 (109). 230  Westerhäll, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Dänemarks in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), S. 563 (586). 231  Nielsen, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Dänemarks, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 89 (93).

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

§ 19 des zweiten Kapitels der Regierungsform eine Sonderstellung ein, da dieser Vorschrift nach kein nationales Gesetz im Widerspruch zur EMRK stehen darf. Die Niederlande verfolgen einen entsprechenden Ansatz. Auch die niederländische Verfassung (Grundgesetz) enthält keine Regelungen zum Schutz von Ehe und Familie. Art. 120 des niederländischen Grundgesetzes schließt jedoch die Verwerfung einer Gesetzesnorm durch die Gerichte des Weiteren ausdrücklich aus. Ebenfalls keine Regelungen zum Schutz von Ehe und Familie enthält die Verfassung Maltas. Einen Sonderfall stellt das Vereinigte Königreich dar, das über keine Verfassung mit Geltungsvorrang verfügt und daher auch keinen verfassungsrechtlichen Schutz von Ehe und Familie kennt. Das österreichische Bundesverfassungsrecht enthält abgesehen von der mit Verfassungsrang inkorporierten EMRK keine Vorschriften zum Schutz von Ehe und Familie. Schutzpflichten sind dem österreichischen Verfassungsrecht darüber hinaus insgesamt fremd.232 Einen status positivus vermitteln die österreichischen Grundrechte über die Gewährleistungen der EMRK hinaus nicht.233 Ebenfalls keinen über das Maß des Schutzes von Ehe und Familie in der EMRK hinausgehenden Schutz von Ehe und Familie gewährt die belgische Verfassung. Sie statuiert in ihrem Art. 22 die Achtung des Privat- und Familienlebens. Weitere Gewährleistungen zum Schutz von Ehe und Familie finden sich in der belgischen Verfassung nicht. Die Ehe wird in der belgischen Verfassung nur in Art. 21 erwähnt, in dem die obligatorische Zivilehe vor Einsegnung der kirchlichen Ehe vorgeschrieben wird. Der Verfassungsgerichtshof Belgiens entnimmt dem Art. 21 jedoch keine materiellen Anforderungen an die Ausgestaltung der Ehe. Die Vorschrift habe lediglich verhindern wollen, dass Personen ausschließlich kirchlich heirateten, um Rechtsfolgen zu erzeugen. Irgendein religiöses oder sonstiges Ehekonzept sei in der belgischen Verfassung nicht enthalten.234 b) Mitgliedstaaten, in denen Ehe und Familie verfassungsrechtlich geschützt werden Die Verfassung der Republik Bulgariens enthält eine ausdrückliche Bestimmung zum Familienschutz. In Art. 14 der bulgarischen Verfassung heißt es, dass Familie, Mutterschaft und Kinder den Schutz von Staat und Gesell232  Öhlinger/Stelzer, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Österreichs, in: Illiopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 497 (509). 233  Öhlinger/Stelzer, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Österreichs, in: Illiopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 497 (502 f.). 234  Urteil Nr. 159/2004 vom 20.10.2004, B.5.3.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU57

schaft genießen.235 Art. 32 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung enthält die Gewährleistung des Schutzes vor Eingriffen in die Familiensphäre. Die Ehe wird in Art. 46 Abs. 1 der bulgarischen Verfassung als freie Vereinigung zwischen Mann und Frau bezeichnet, wobei nur die Zivilehe anerkannt wird. In Art. 46 Abs. 2 der bulgarischen Verfassung heißt es, dass die Ehepartner in der Ehe und der Familie die gleichen Rechte und Pflichten haben. Die bulgarische Verfassung geht damit offenbar von einer Verbindung zwischen Ehe und Familie aus. Die estnische Verfassung schützt in § 26 das Privat- und Familienleben. In § 27 wird die Familie als fundamental für den Erhalt und das Wachstum der Gesellschaft anerkannt und geschützt. Finnland schützt die Familie seit dem Jahre 2000 verfassungsrechtlich. Finnland ist ein Wohlfahrtsstaat skandinavischer Tradition, mit sozialen Rechten, die traditionell nicht als verfassungsrechtliche Verbürgungen, sondern durch das einfache Recht gewährt werden.236 Im Jahre 2000 trat in Finnland eine neue Verfassung in Kraft, die normativen Vorrang beansprucht und in Art. 106 auch eine Kompetenz der Gerichte vorsieht, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu überprüfen. Davon wird praktisch bislang kaum Gebrauch gemacht.237 Der Schwerpunkt der Verfassungsmäßigkeitskontrolle von Gesetzen liegt auf einem präventiven Kontrollverfahren.238 Die neue finnische Verfassung enthält nunmehr auch eine Regelung zum Familienschutz. Gemäß Art. 19 Abs. 3 der finnischen Verfassung wird die Unterstützung der Familien und Personen, die für den Unterhalt eines Kindes Sorge tragen, gewährleistet. Die Vorschrift wird als Staatsauftrag gesehen, der den Staat zur Ergreifung von Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele der Norm verpflichtet.239 Die Ehe wird nicht erwähnt. In Frankreich werden gemäß der Präambel der französischen Verfassung von 1946, deren Gewährleistungen durch die Präambel der aktuellen Verfas235  In englischer Sprache abrufbar unter http://www.parliament.bg/en/const/ (zuletzt abgerufen am 4.2.2014). 236  Tuori/Bruun/Van Ascherot, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Finnlands, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 165 (168). 237  Tuori/Bruun/Van Ascherot, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Finnlands, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 165 (181, 191). 238  Tuori/Bruun/Van Ascherot, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Finnlands, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 165 (193). 239  Tuori/Bruun/Van Ascherot, Der Schutz der sozialen Grundrechte in der Rechtsordnung Finnlands, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 165 (180, 182).

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

sung von 1958 Teil des Verfassungsrechts sind, der Familie die zu ihrer Entfaltung notwendigen Bedingungen zugesichert.240 Die Ehe hingegen wird nicht erwähnt. Die griechische Verfassung von 1975 enthält in ihrem Art. 21 Abs. 1 eine Gewährleistung zum Schutz von Ehe und Familie. Es heißt dort, dass die Familie, der Eckpfeiler der Erhaltung und Weiterentwicklung der Nation, sowie Ehe, Mutterschaft und Kindheit unter dem Schutz des Staates stehen.241 Die Vorschrift enthält eine Art Institutsgarantie der Ehe und Familie.242 Die Vorschrift statuiert einen Schutzauftrag des Staates, jedoch kein subjektives Recht.243 Zur Geltendmachung von Sozialleistungen vor den Gerichten bedarf es nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und herrschender Lehre zunächst der Schaffung von Anspruchsgrundlagen im einfachen Recht durch den Gesetzgeber.244 Dennoch handele es sich bei der Norm nicht lediglich um einen unverbindlichen Programmsatz, sondern um zwingendes, den Staat bindendes Recht, das trotz mangelnder subjektivrechtlicher Qualität bei der Auslegung des einfachen Rechts zu beachten ist und an dem sich Gesetze messen lassen müssen. Weiterhin ist es möglich, Art. 21 Abs. 1 der griechischen Verfassung zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen bzw. Ungleichbehandlungen heranzuziehen.245 In Bezug auf die Ehe wurde bereits entschieden, dass Art. 21 Abs. 1 der griechischen Verfassung ein Diskriminierungsverbot der Ehe gegenüber nichtehelichen Lebensgemeinschaften zu entnehmen ist.246 Als Ausdruck des Schutzauftrages zugunsten von Ehe und Familie werden auch Gesetze angesehen, die Sozialleistungen gewähren, wie die Fortzahlung des Gehaltes berufstätiger Mütter sechs Monate nach der Geburt eines Kindes durch den

240  Zur Rechtsprechung des Conseil Constitutionell vgl. die Nachweise bei Rousseau/Pavia/Dubut, in: Illiopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, Frankreich, S. 209. 241  „The family, being the cornerstone of the preservation and the advancement of the Nation, as well as marriage, motherhood and childhood, shall be under the protection of the State“ http://www.hellenicparliament.gr/UserFiles/f3c70a23-7696-49db9148-f24dce6a27c8/001-156 %20aggliko.pdf (Zuletzt abgerufen am 10.01.2014). 242  Iliopoulos-Strangas/Leventis, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 272. 243  Iliopoulos-Strangas/Leventis, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 272. 244  Iliopoulos-Strangas/Leventis, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S 281. 245  Iliopoulos-Strangas/Leventis, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S 282. 246  Nachweis bei Iliopoulos-Strangas/Leventis, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 283 in Fn. 122.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU59

Staat.247 Art. 21 der griechischen Verfassung enthält darüber hinaus weitere speziellere Gewährleistungen zum Schutz kinderreicher Familien in Abs. 2, sowie die besonders moderne Verpflichtung zur Planung und Durchführung einer Demografiepolitik in Abs. 5. Die Verfassung Irlands schützt Ehe und Familie in ihrem Art. 41.248 In Art. 41 Abs. 1 uA 1 der irischen Verfassung heißt es, dass die Familie die natürliche und ursprüngliche Grundeinheit der Gesellschaft sei, dem positiven Recht vor- und übergeordnet.249 In Art. 41 Abs. 3 uA 1 der irischen Verfassung heißt es weiter, dass die Familie auf der Institution der Ehe gegründet sei. Der irische Supreme Court hat demzufolge entschieden, dass nur die eheliche Familie dem Schutz des Art. 41 der irischen Verfassung unterfällt.250 Eine eheliche Familie sei nach Auffassung des irischen High Court überdies auch dann schon vorhanden, wenn die Ehepartner keine Kinder haben. Die Ehe selbst ist mithin nach Auffassung des irischen High Court bereits eine Familie im verfassungsrechtlichen Sinne.251 Unter der Ehe versteht der irische Supreme Court die lebenslange, auf Konsens gegründete Partnerschaft, die in Form eines Vertrages eingegangen wird.252 Die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, ist rechtlich bindend und klein bloßer Programmsatz. Art. 41 der irischen Verfassung statuiert zwar einen Auftrag zum aktiven Schutz der Familie und somit eine Förderpflicht253, darunter wird jedoch weniger eine wirtschaftliche Förderpflicht als ein Beeinträchtigungsverbot verstanden. Daran – und nicht an dem Diskriminierungsverbot des Art. 40 Abs. 1 der irischen Verfassung – seien familienbelastende Maßnahmen zu messen.254 Der Unterschied zwischen einer wirtschaftlichen Förderpflicht und dem Benachteiligungsverbot liegt darin, dass das Benachteiligungsverbot eine Betrachtung der gesamten Familienförderung ermöglicht und kleinere Belastungen daher durch die insgesamt bestehende Förderung

247  Iliopoulos-Strangas/Leventis, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 272. 248  Abrufbar unter http://archive.constitution.ie/reports/ConstitutionofIreland.pdf (zuletzt abgerufen am 19.1.2016). 249  So sieht es auch der Supreme Court, Western Health Board v. H. W. and C. W. [2001] 3 IR 622. 250  State (Nicolaou) v An Bord Uchtála [1966] IR 567, 590 (per Murnaghan, J); 622 (per Henchy, J); 644 (per Walsh, J); Murray/Rossa Phelan, in: IliopoulosStrangas(Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 352; Forde, Constitutional Law of Ireland, S. 569 f. 251  Murray v Ireland [1985] IR 532 (per Costello, J). 252  J. M. Kelly: The Irish Constitution, S. 1831. 253  So deutet es Forde, Constitutional Law of Ireland, S. 574 an. 254  Murphy v. Attorney General [1982] IR 241.

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

der Familie durch Familienleistungen gerechtfertigt werden könnten.255 Als Ausdruck des Familienschutzes werden daher, abgesehen von Familienleistungen und steuerlichen Begünstigungen, insbesondere rechtlicher Schutz in Form des Familienrechts, wie die Einschränkung der Testierfreiheit zugunsten überlebender Ehegatten oder (ehelicher) Kinder oder auch Zeugnisverweigerungsrechte angesehen.256 Ob es ein verfassungsrechtliches „Privilegierungsgebot“ im Sinne eines „Abstandsgebotes“ gibt, oder ob das irische Parlament auch andere als eheliche Familien (und demgemäß andere Partnerschaften als eheliche, z. B. polygame) gleichermaßen fördern darf, ist bisher nicht entschieden.257 Art. 41 der irischen Verfassung wurde jüngst nach einer Volksabstimmung geändert. Die irische Verfassung erlaubt nunmehr die Eingehung der Ehe ohne Rücksicht auf das Geschlecht der Nupturienten.258 Die Verfassung der Italienischen Republik259 schützt in Art. 29 Ehe und Familie. Unter der Familie wird dabei nur diejenige verstanden, die auf der Ehe gegründet ist.260 Uneheliche Kinder werden zwar durch Art. 30 Abs. 2 der italienischen Verfassung geschützt, dies jedoch nur, soweit der Schutz „mit den Rechten der Mitglieder der ehelichen Familie vereinbar ist.“ Die Ehe beruht nach Art. 29 Abs. 2 der italienischen Verfassung auf der Gleichberechtigung der Ehepartner. Die Ehe ist im italienischen Zivilrecht nur zwischen Mann und Frau möglich. Der Corte Costituzionale hält es für mit der italienischen Verfassung vereinbar, dass ausländische gleichgeschlechtliche Ehen nicht anerkannt werden.261 Neben der Zivilehe entfaltet auch die von einem Geistlichen vorgenommene Trauung Rechtswirkungen.262 Die Scheidung der Ehe ist seit 1970 möglich und verfassungsrechtlich bestätigt.263 Der Schutz der Familie in Art. 29 Abs. 1 der italienischen Verfassung wird nicht als wirtschaftlicher Schutz verstanden, sondern als ethischer und sozialer Schutz.264 diese Richtung wohl Forde, Constitutional Law of Ireland, S. 572 f. Constitutional Law of Ireland, S. 575 f. 257  In letztere Richtung J. M. Kelley: The Irish Constitution, S. 1839. 258  Thirty-fourth Amendment of the Constitution (Marriage Equality) Bill 2015 vom 29.8.2015. 259  Aktuelle Fassung auf der Homepage des Südtiroler Landtags, http://www. landtag-bz.org/download/Verfassung_Italien.pdf (zuletzt abgerufen am 16.11.2015). 260  de Vergottini, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 408. 261  Corte Costituzionale Urteil No. 138 OF 2010 vom 23.3.2010. 262  Kindler, Einführung in das italienische Recht, S. 175. 263  Kindler, Einführung in das italienische Recht, S. 190. 264  de Vergottini, in: Iliopoulos-Strangas(Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 408. 255  In

256  Forde,



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU61

Die Förderung von Familien und die Förderung der Familiengründung werden in Art. 31 der italienischen Verfassung geregelt, der das Bestehen einer Familie nicht von dem Verheiratetsein der Eltern abhängig macht.265 Insgesamt haben die verfassungsrechtlichen Regelungen zu einer Modernisierung des italienischen Familienrechts geführt. Wenn auch die Regelung in Art. 29 der italienischen Verfassung sich auf die eheliche Familie bezieht, haben die allgemeine Förderpflicht aus Art. 31 Abs. 1 der italienischen Verfassung sowie die Pflicht zum Schutz der nichtehelichen Kinder aus Art. 30 Abs. 3 der italienischen Verfassung das Primat der ehelichen Familie wesentlich zurückgedrängt.266 Dem italienischen Gesetzgeber werden bei der Einlösung sozialer Schutzpflichten weitgehende Spielräume zugestanden. Schließlich ist das italienische Verfassungsgericht in neuerer Zeit zurückhaltend bei der Entscheidung über sozialrechtliche Ansprüche und überlässt es dem Gesetzgeber, die Gewährung des Schutzes einfachgesetzlich zu konkretisieren und die entsprechenden Anspruchsgrundlagen zu schaffen.267 Ein unbedingtes soziales Rückschrittsverbot im Sinne einer Bestandsgarantie wird den Schutzvorschriften jedenfalls nicht entnommen.268 Art. 62 der kroatischen Verfassung normiert, dass die Familie den besonderen Schutz des Staates genießt. Laut Art. 62 Abs. 2 der kroatischen Verfassung werden die Ehe und die Rechtsbeziehungen der Ehe durch Gesetz geregelt. Eher traditionelle Gewährleistungen zum Schutz von Ehe und Familie enthalten auch die Verfassungen Lettlands, Litauens und Polens. Gem. Art. 110 der lettischen Verfassung schützt und fördert der Staat die Ehe und die Familie. Die Ehe ist eine Verbindung zwischen Mann und Frau. In Art. 38 der litauischen Verfassung269 heißt es, dass die Familie die Grundlage der Gesellschaft und des Staates sei. Die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau und die Familie stehen unter dem Schutz des Staates. Die Verfassung der Republik Polen enthält, neben dem Schutz des Privat- und Fami­ lienlebens in Art. 47, eine Gewährleistung des Schutzes von Ehe, Mutterschaft und Familie in Art. 18. Art. 71 Abs. 1 polnische Verfassung sieht darüber hinaus vor, dass der Staat bei seiner Wirtschafts- und Sozialpolitik das Wohl der Familie berücksichtigt. Die Ehe ist nach Art. 18 polnische Verfassung die Verbindung von Mann und Frau. 265  Schefold,

266  Beispiele

in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische Recht, S. 35. bei Troiano, in: Grundmann/Zaccaria, Einführung in das italienische

Recht, S. 299. 267  Frosini, in: Ferrari (Hrsg.), Introduction to Italian Public Law, S. 205 f. 268  Sagmeister, Die Grundsatznormen der Europäischen Grundrechtecharta, S. 113. 269  In englischer Sprache abrufbar unter http://www.lrkt.lt/Documents2_e.html (zuletzt abgerufen am 4.2.2014).

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg schützt in Art. 11 Abs. 1 die „natürlichen Rechte der Familie“. Die Frage, ob dieser Vorschrift auch eine Schutzpflicht oder ein Fördergebot zukommen könnte, wurde von Rechtsprechung und Lehre bisher nicht aufgeworfen, sodass die Vorschrift praktisch vornehmlich eine abwehrrechtliche Funktion hat.270 Die portugiesische Verfassung271 von 1976 ist nach der spanischen die jüngste Verfassung Europas, sieht man von den Verfassungen der ehemaligen Ostblockstaaten ab. Sie gewährleistet einen umfangreichen Katalog sozialer Rechte, bei deren Auslegung häufig Bezug auf die deutsche Staatsrechtslehre genommen wird. Dementsprechend enthält die portugiesische Verfassung nicht nur ein Freiheitsrecht zum Thema Ehe und Familie, sondern auch eine Regelung zum Familienschutz. Unter der Titelüberschrift „Rechte, Freiheiten und Garantien“ gewährt Art. 36 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Die Gleichstellung nichtehelicher Kinder ordnet Art. 36 Abs. 4 der portugiesischen Verfassung an. Unter dem Titel „Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten“ heißt es in Kapitel 2 „soziale Rechte und Pflichten“ in Art. 67 der portugiesischen Verfassung: „Als ein grundlegendes Element der Gesellschaft hat die Familie das Recht auf Schutz durch die Gesellschaft und den Staat sowie auf die Verwirklichung der erforderlichen Bedingungen um den Familienmitgliedern persönliche Erfüllung zu ermöglichen“. In Art. 36 Abs. 2 der portugiesischen Verfassung wird nicht abschließend aufgezählt, welche Maßnahmen der Staat zu ergreifen und welche konkreten Ziele er zu verfolgen hat, um das Schutzversprechen der Verfassung einzulösen. Dies sind insbesondere die soziale und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Familien, die Zusammenarbeit mit den Eltern bezüglich der Erziehung ihrer Kinder, Unterstützung bei der Familienplanung, die Regelung der künstlichen Befruchtung, die Regelung von Steuern und sozialen Begünstigungen im Hinblick auf die Familienlasten, die Durchführung einer allgemeinen Familienpolitik und die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in Abstimmung mit anderen sozialen Zielen des Staates. Während Art. 36 der portugiesischen Verfassung die Familiengründungsfreiheit sowie die Eheschließungsfreiheit verbürgt, erweitert Art. 67 der portugiesischen Verfassung den verfassungsrechtlichen Schutz für die existierende Familie. Sie wird durch Art. 67 der portugiesischen Verfassung institu270  Seifert/Schintgen, in: Illiopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, Luxemburg, S. 438. 271  In englischer Sprache abrufbar unter http://app.parlamento.pt/site_antigo/ ingles/cons_leg/Constitution_VII_revisao_definitive.pdf (zuletzt abgerufen am 14.01.2014).



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU63

tionell garantiert.272 Mit der Bezeichnung als soziale Realität und als Reflex der Menschenwürde273 wird der Familie als Einheit ein gewisser vorstaatlicher, naturrechtlicher Charakter zugemessen. Damit deckt sich die Rechtsprechung des portugiesischen Verfassungsgerichts, wonach es sich bei den verfassungsrechtlichen Normen zu Ehe (und Familie) um Regelungen handele, die anerkennen, dass Menschen zusammenleben und dieser Tatsache einen vorstaatlichen, naturrechtlichen Charakter zuweisen. Allem modernen Individualismus zum Trotz erkennt die portugiesische Verfassung den Einzelnen nicht nur als Solitär, sondern auch als „zoon politikon“ an. Das Recht, eine Ehe einzugehen in Art. 36 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung verbürgt ein Abwehrrecht, das es dem portugiesischen Staat verbietet, dem Einzelnen die Eingehung der Ehe unmöglich zu machen oder zu erschweren. Weiterhin enthält Art. 36 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung eine institutionelle Garantie: Sie gebietet, dem Einzelnen das Recht zuzugestehen, zu heiraten und beschränkt die Möglichkeit, das Rechtsinstitut oder seinen wesensnotwendigen Kern abzuschaffen.274 Fraglich ist allerdings, worin dieser wesensnotwendige Kern besteht. Die portugiesische Verfassung definiert den Begriff der Ehe nicht. Das Tribunal Constitucional erkennt zwar an, dass die Ehe von der Familie rechtlich entkoppelt ist, da die Ehe rechtlich von dem Zweck oder der Intention, sich fortzupflanzen, getrennt wurde. Dennoch werde die Ehe von der Verfassung in ihrem familiären Kontext geschützt.275 Das Tribunal Constitucional hält die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner gleichwohl nicht für eines der verfassungsrechtlich geschützten Strukturmerkmale der Ehe. Dies seien vielmehr nur die Beschränkung auf zwei Personen, die grundsätzliche Lebenslänglichkeit, eine umfassende Lebensgemeinschaft, die durch einen Rechtsakt errichtet wird und rechtlich bindende Folgen habe.276 Was genau unter einer Familie zu verstehen ist, wird in der Verfassung ebenfalls nicht konkretisiert. Der Begriff wird vom Tribunal Constitucional als offen und plural angesehen, als anpassungsfähig in Bezug auf sich verändernde soziale Bedürfnisse und Wirklichkeiten.277 In Portugal fielen darunter 272  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 217. 273  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 217. 274  AcTC 121/2010 v. 8.4.2010, I, Rn. 24. 275  AcTC 121/2010 v. 8.4.2010, II, Rn. 24. 276  AcTC 121/2010 v. 8.4.2010, Rn. 23. 277  AcTC 121/2010 v. 8.4.2010, II, Rn. 24; Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 217.

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

jedenfalls die Eltern-Kind-Beziehung, also die Kleinfamilie bestehend aus beiden Elternteilen und Kindern. Alleinerziehende und die Großfamilie fielen ebenfalls darunter.278 Der Begriff der Familie werde in den Art. 67, 68 und 71 der portugiesischen Verfassung jeweils mit der Abstammung in Verbindung gebracht, deren Rolle als zentral für die Institution der Familie angesehen werde.279 Ehepartner ohne Kinder werden ebenfalls als Familie betrachtet.280 Die Ehe steht nach Ansicht des portugiesischen Verfassungsgerichts daher jedenfalls in engem Zusammenhang mit der Familie. Dass die Ehe nur verschiedengeschlechtlichen Partnern offenstehe, sei dennoch nicht Inhalt der Institutsgarantie des Art. 36.281 Die Vorschrift umfasst auch ein Abwehrrecht der Ehegatten gegen die Störung des familiären Zusammenlebens. Andererseits enthält sie im Hinblick auf die Erziehungsverantwortung der Eltern auch Pflichten.282 Diese Doppelnatur als Rechte und Pflichten vermittelnde Vorschrift kennzeichnet nach herrschender Auffassung in Portugal viele soziale Grundrechte.283 Die beispielhafte Aufzählung verschiedener Handlungspflichten in Art. 67 der portugiesischen Verfassung macht deutlich, dass unter den Schutzauftrag des Art. 67 Abs. 1 der portugiesischen Verfassung sowohl rechtlicher Schutz (lit d] und e]) als auch wirtschaftlicher Schutz in Form von finanziellen Begünstigungen fallen. Die Pflicht zur Gewährleistung finanzieller Begünstigungen muss dabei unter dem Vorbehalt des Möglichen stehen.284 Es ist ein Verfassungsverstoß durch Unterlassen möglich.285 Wie auch aus den anderen sozialen Grundrechten folgen aus Art. 67 der portugiesischen Verfassung in seiner leistungsrechtlichen Dimension keine subjektiven Rechte, der Bürger kann sie also nicht einklagen.286 Es bedarf grundsätzlich vielmehr erst einfachgesetzlicher Anspruchsgrundlagen.287 Der Gesetzgeber ist verfassungs278  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 217. 279  AcTC 121/2010 v. 8.4.2010, Rn. 31. 280  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 218. 281  Tribunal Constitucional, Urteil Nr. 121/2010. 282  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 218. 283  AcTC 121/2010 v. 8.4.2010. 284  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 107. 285  AcTC 474/02 v. 19.11.2002. 286  Vieira de Andrade, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 558; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 97. 287  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 108.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU65

rechtlich zur Umsetzung verpflichtet und Art. 67 der portugiesischen Verfassung ist demnach justiziabel.288 Dem Gesetzgeber kommt allerdings ein weiter Beurteilungsspielraum zu.289 Unter Umständen kann einzelnen Rechten in Mindeststandard entnommen werden.290 Ob Art. 67 der portugiesischen Verfassung auch ein Rückschrittsverbot normiert, ist umstritten.291 Ein unbeschränktes Rückschrittsverbot wird wohl nicht vertreten, sondern nur ein Verbot der willkürlichen Rücknahme sozialer Begünstigungen bzw. ein spezieller Vertrauensschutz.292 Dass diese Gewährleistungen im sozialen Bereich keinesfalls wirkungslos sind, zeigen mehrere Urteile des portugiesischen Verfassungsgerichts der letzten Jahre. Die weltweite Bankenkrise ab dem Jahre 2008 und die auch daraus resultierende horrende Staatsverschuldung von Mitgliedstaaten wie Portugal hatten zu einer Staatsfinanzierungskrise Portugals geführt. Die Maßnahmen der Austeritätspolitik der portugiesischen Regierung wurden teilweise vom Verfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt, jüngst die pauschale Kürzung der Altersbezüge von Beamten. Die rumänische Verfassung293 regelt in ihrem Art. 44, dass die Familie sich auf die Ehe gründet. Im selben Satz heißt es, dass die Ehegatten die gleichen Rechte und Pflichten bezüglich der Kinder haben. Damit geht die rumänische Verfassung offenbar von der Ehe als Vorstufe der Familie aus. Die Verfassung der Slowakischen Republik294 enthält in Art. 41 Abs. 1 die Gewährleistung des Schutzes von Ehe, Elternschaft und Familie. Art. 6 der slowakischen Verfassung enthält einen Gesetzgebungsauftrag zur Umsetzung dieses Schutzes Die Verfassung der Republik Slowenien bezieht sich in ihrem Art. 53 auf Ehe und Familie. In Art. 53 Abs. 1 der slowenischen Verfassung sind die obligatorische Zivilehe sowie die Gleichberechtigung der Eheleute normiert. 288  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 109; Vieira de Andrade, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.) Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 550. 289  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 108. 290  Häußling, Soziale Grundrechte in der portugiesischen Verfassung von 1976, S. 111; Vieira de Andrade, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 550. 291  Dafür Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 99; Dagegen Vieira de Andrade, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa nach Lissabon, S. 559 f. m. w. N. 292  Polakiewicz, ZaöRV 1994, S. 340 (370 ff.). 293  Auf Deutsch abrufbar unter http://www.cdep.ro/pls/dic/site.page?id=258&idl= 4&par1=1 (zuletzt abgerufen am 4.2.2014). 294  In englischer Sprache abrufbar unter: http://www.concourt.sk/en/A_ustava/ ustava_a.pdf (zuletzt abgerufen am 29.1.2014).

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

Art. 53 Abs. 2 der slowenischen Verfassung erteilt einen Gesetzgebungsauftrag zur Regelung von Ehe, nichtehelicher Lebensgemeinschaft und Familie. Nach Art. 53 Abs. 3 der slowenischen Verfassung schließlich „schützt“ der Staat „Familie, Mutterschaft, Vaterschaft, Kinder und Jugendliche und schafft die dafür notwendigen Voraussetzungen“. Unter dem Begriff der „Familie“ wird wohl lediglich die eheliche oder nichteheliche Beziehung zweier Personen unterschiedlichen Geschlechts und ihrer Kinder verstanden.295 Der Begriff der Ehe und nichtehelichen Lebensgemeinschaft wird im einfachen Recht als auf verschiedengeschlechtliche Partnerschaften beschränkt angesehen.296 Die Regelungen zu Ehe und Familie in der spanischen Verfassung ähneln den Regelungen der Grundrechtecharta in besonderem Maße. Art. 32 der spanischen Verfassung schützt die Freiheit, eine Ehe einzugehen, wohingegen in Art. 39 Abs. 1 der spanischen Verfassung die öffentliche Gewalt zur Sicherstellung des sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Schutzes der Familie verpflichtet wird. Die Grundrechte in der spanischen Verfassung lassen sich laut Art. 53 in drei Kategorien einteilen.297 Zum einen in die Grundrechte der Art. 14–29 der spanischen Verfassung. Es handelt sich bei diesen Bestimmungen um subjektive Rechte. Zudem können sie gemäß Art. 53 Abs. 2 der spanischen Verfassung in einem beschleunigten Verfahren vor den ordentlichen Gerichten und im Wege der Verfassungsbeschwerde (recurso de amparo) vor dem Tribunal Constitucional geltend gemacht werden. Die zweite Gruppe sind die in Art. 53 Abs. 1 der spanischen Verfassung genannten Rechte des zweiten Abschnitts des zweiten Kapitels, also die Art. 30–38 der spanischen Verfassung. Sie vermitteln ebenfalls subjektive Rechte und sind demnach der gleichen Normkategorie zuzuordnen wie die erste Gruppe. Der Unterschied liegt lediglich in einem schwächeren Rechtsschutz, da sie nicht in dem beschleunigten Verfahren des Art. 53 Abs. 2 der spanischen Verfassung und bis auf Art. 30 auch nicht im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden können. Die dritte Gruppe schließlich sind die Leitprinzipien der Wirtschafts- und Sozialpolitik im dritten Kapitel des ersten Titels, Art. 39 bis 52 der spanischen Verfassung. Zu ihnen heißt es in Art. 53 Abs. 3 spanische Verfassung, dass sie vor den Gerichten nur im Rahmen der sie ausgestaltenden gesetzlichen Regelungen geltend gemacht werden können. Aus der For295  Mavčič/Avbelj, Legal Study on Homophobia and Discrimination on Grounds of Sexual Orientation – Slovenia, S. 4 (http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_up loads/336-FRA-hdgso-NR_SI.pdf. (zuletzt abgerufen am 16.11.2015). 296  Mavčič/Avbelj, Legal Study on Homophobia and Discrimination on Grounds of Sexual Orientation – Slovenia, S. 18 (http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_up loads/336-FRA-hdgso-NR_SI.pdf (zuletzt abgerufen am 16.11.2015). 297  Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, S. 142; Ibán, Einführung in das spanische Recht, S. 62.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU67

mulierung wird deutlich, dass es sich bei den Leitprinzipien nicht um Rechte handelt, aufgrund derer ein konkretes Handeln eingeklagt werden kann. In Art. 53 Abs. 1 der spanischen Verfassung heißt es zwar, dass die Rechte und Freiheiten des zweiten Kapitels (also die ersten beiden Gruppen von Rechten) alle Staatsgewalt binden, daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Rechte der dritten Gruppe lediglich rechtlich unverbindliche Programmsätze wären.298 Art. 53 Abs. 1 S. 1 der spanischen Verfassung normiert nämlich weiterhin, dass Gesetzgebung, Verwaltungs- und Judikativhandeln auf der Achtung, Anerkennung und dem Schutz dieser Prinzipien beruhen sollen und dass sich der Einzelne vor Gericht im Zusammenhang mit den sie konkretisierenden Bestimmungen des einfachen Rechts auf sie berufen kann. Sie binden die drei Staatsgewalten also durchaus bei deren Tätigkeit und sind zu berücksichtigen.299 Art. 53 der spanischen Verfassung lässt durch seinen Wortlaut auch deutlich werden, dass es sich bei den Leitprinzipien um eine andere Normkategorie handelt als bei den Rechten der ersten und zweiten Gruppe, nämlich um „Prinzipien“. Die Leitprinzipien werden gemeinhin mit Staatszielbestimmungen verglichen.300 Mit anderen Worten: Die eingeschränkte Möglichkeit der Geltendmachung der Leitprinzipien bezieht sich vor allem auf die leistungsrechtliche Dimension der Leitprinzipien.301 Das Recht zu Heiraten aus Art. 32 der spanischen Verfassung gehört zur zweiten Gruppe von Rechten. Es enthält nach Auffassung des spanischen Verfassungsgerichts sowohl ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat, als auch eine Institutsgarantie.302 Der Mindestgehalt sei darin zu sehen, dass die Ehe eine emotionale Vereinigung sei, die ein rechtliches Band zwischen zwei Personen erzeuge, auf gegenseitige Unterstützung und einen gemeinsamen Lebensplan ausgelegt sei, in der die Ehepartner gleichberechtigt seien und die freiwillig eingegangen wurde.303 Das Tribunal Constitucional entnimmt auch der abwehrrechtlichen Dimension des Ehegrundrechts einen objektiven „Mindestgehalt“. Im Hinblick auf die Ehedefinition sei dieser mit 298  In diese Richtung aber grundsätzlich Ibán, Einführung in das spanische Recht, S.  66 f. m. w. N. 299  So auch Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  105 f. m. w. N. 300  Adomeit/Frühbeck, Einführung in das spanische Recht, S. 26; García de Enterría, Der normative Wert der spanischen Verfassung, S. 67 f. 301  Polakiewicz, ZaöRV 1994, S. 340 (352). 302  STC 198/2012 v. 6.11.2012, nicht-offizielle Übersetzung abrufbar unter http:// www.tribunalconstitucional.es/es/jurisprudencia/restrad/Paginas/JCC1982012en.aspx (zuletzt abgerufen am 18.3.2015); Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, S. 175. 303  STC 198/2012 v. 6.11.2012, II., 9., nicht-offizielle Übersetzung abrufbar unter http://www.tribunalconstitucional.es/es/jurisprudencia/restrad/Paginas/JCC1982012 en.aspx (zuletzt abgerufen am 20.1.2014).

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

der Institutsgarantie deckungsgleich. Dazu zähle auch das Recht, nicht zu heiraten, wobei es dem Gesetzgeber nicht verwehrt sei, an das Zusammenleben in nichtehelicher Gemeinschaft Rechtsfolgen zu knüpfen.304 Die Familie wird in Art. 39 Abs. 1 der spanischen Verfassung geschützt, der Familienschutz ist demnach ein Leitprinzip der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Art. 39 Abs. 2 bis 4 der spanischen Verfassung konkretisieren diesen Schutz in Bezug auf Kinder. Der Begriff der Familie wird auch in der spanischen Verfassung nicht näher definiert. Er wird flexibel im Hinblick auf die sich verändernden gesellschaftlichen Realitäten verstanden. Die entscheidenden Merkmale seien verwandtschaftliche Verbundenheit und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Familienmitgliedern. Jedenfalls ist die ElternKind-Beziehung, unabhängig von der Ehelichkeit der Geburt, erfasst.305 Ehen fallen auch dann unter den Begriff der Familie, wenn sie kinderlos sind.306 Da es sich bei den Regelungen zum Familienschutz um Leitprinzipien handelt, gewähren sie keine konkreten Leistungsansprüche und können folglich nur im Rahmen der sie ausgestaltenden Gesetze geltend gemacht werden. In diesem Rahmen bilden sie nicht nur eine Auslegungshilfe. Das Verfassungsgericht kann auch Gesetze wegen Verstoßes gegen die Leitprinzipien für nichtig erklären.307 Art. 39 der spanischen Verfassung ist voll justiziabel.308 Dies gilt auch für den allgemeinen Art. 39 Abs. 1 der spanischen Verfassung, dem jedenfalls ein Benachteiligungsverbot von Familien entnommen werden kann.309 So verbietet er die steuerliche Benachteiligung von Familien und erlaubt ihre Bevorzugung.310 Im Hinblick auf Art. 39 Abs. 2 der spanischen Verfassung, die Gewährleistung der Gleichstellung nichtehelich geborener Kinder, zeigt sich, dass die Norm auch ähnlich einem Diskri304  STC 198/2012 v. 6.11.2012, II., 10., nicht-offizielle Übersetzung abrufbar unter http://www.tribunalconstitucional.es/es/jurisprudencia/restrad/Paginas/JCC1982012 en.aspx (zuletzt abgerufen am 20.1.2014). 305  Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der spanischen Verfassung, S. 167. 306  STC 198/2012 v. 6.11.2012, II., 5., nicht-offizielle Übersetzung abrufbar unter http://www.tribunalconstitucional.es/es/jurisprudencia/restrad/Paginas/JCC1982012 en.aspx (zuletzt abgerufen am 20.1.2014). 307  García de Enterría, Der normative Wert der spanischen Verfassung, S. 68; Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, S. 184, grundsätzlich auch STC 45/1989 v. 20.2.1989, F.4, zitiert nach Polakiewicz, ZaöRV 1994, S. 340 (361). 308  García de Enterría, der normative Wert der spanischen Verfassung, in: López Pina (Hrsg.) Spanisches Verfassungsrecht, S. 69; zweifelnd Prats-Canut, in: Grabitz (Hrsg.) Grundrechte in Europa und USA, Band I, Spanien, S. 671. 309  A. A. Ibán, Einführung in das spanische Recht, S. 67. 310  Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der spanischen Verfassung, S. 168.



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU69

minierungsverbot wirken kann. Art. 39 Abs. 2 S. 2 der spanischen Verfassung, der dem Gesetzgeber den Auftrag erteilt, die Erforschung der Vaterschaft gesetzlich zu gestatten, ist konkret genug, um ihm ein subjektives Recht, jedenfalls gerichtet auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers, zu entnehmen. Die Norm ist aber nicht konkret genug, um Ansprüche auf konkrete Handlungen vermitteln zu können. Nur das „Ob“, nicht das „Wie“ der Gestattung der Erforschung der Vaterschaft wird geregelt. Schließlich stellt sich die Frage, ob der spanischen Verfassungsrechtsordnung ein absolutes Verbot des sozialen Rückschritts zu entnehmen ist. Allgemein ist dies wohl zu verneinen.311 Für den Bereich der Sozialleistungen ist angesichts des Vorbehalts des Möglichen nachvollziehbar, warum ein solches Rückschrittsverbot nicht angenommen werden kann und sollte. Bei der Gewährung rechtlicher, grundsätzlich nicht kostspieliger Schutzmaßnahmen greift das Argument des „Vorbehalts des Möglichen“ allerdings nicht. Das Verhältnis von Ehe und Familie in der spanischen Verfassung ist nicht einfach zu bestimmen. Jedenfalls sind die Begriffe Ehe und Familie rechtlich voneinander unabhängig.312 Nach spanischem Verständnis ist jede Ehe eine Familie, auch die kinderlose Ehe. Auch sie ist demnach gemäß Art. 39 Abs. 1 der spanischen Verfassung als Familie geschützt. Deshalb darf sie gegenüber anderen Formen des Zusammenlebens bevorzugt werden, allerdings nur, wenn sich der dadurch entstehende Nachteil für unverheiratete Paare nicht auch auf Familien mit Kindern auswirkt.313 Daraus wird zum einen deutlich, dass die Privilegierung von Ehen gegenüber der Eltern-Kind-Einheit verboten ist, da sie eine Benachteiligung von Familien mit Kindern bedeutete. Weil die Ehe selbst schon als Familie angesehen wird, kann man dies als intrainstitutionelles Diskriminierungsverbot bzw. Neutralitätsgebot zugunsten der Ehe und anderer Familienformen beschreiben,314 auf das sich der Einzelne aber mangels subjektiv-rechtlicher Qualität des Art. 39 der spanischen Verfassung nicht direkt berufen kann. Es ist aber denkbar, dass sich die Wertungen des Art. 39 der spanischen Verfassung z. B. über den Gleichheitssatz aus Art. 14 der spanischen Verfassung durchsetzen lassen.315 Letztlich soll 311  Polakiewicz,

ZAÖR 1994, S. 340 (373 f.). 198/2012 v. 6.11.2012, II., 5 und 8., nicht-offizielle Übersetzung abrufbar unter http://www.tribunalconstitucional.es/es/jurisprudencia/restrad/Paginas/JCC198 2012en.aspx (zuletzt abgerufen am 20.1.2014). 313  Romanski, Sozialstaatlichkeit und soziale Grundrechte im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in der spanischen Verfassung, S. 167. 314  Zu dem Begriff Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S.  220 ff. 315  So das Beispiel von Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, S. 185, allerdings nur bezogen auf die Gleichbehandlung ehelicher und nichtehelicher Kinder gem. Art. 39 Abs. 2 spanische Verfassung, 312  STC

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1. Teil: Überblick über den Wandel von Ehe und Familie in Europa

die Vorschrift des Art. 53 Abs. 3 der spanischen Verfassung nur ausschließen, dass sich konkrete Handlungen von Einzelnen gestützt auf die Leitprinzipien einklagen lassen. Die Verfassung der Tschechischen Republik besteht nicht nur aus der ursprünglichen Verfassungsurkunde, sondern weiterhin aus mehreren Verfassungsgesetzen, insbesondere einer Deklaration der Grundrechte und Freiheiten (Art. 3 der tschechischen Verfassung).316 Art. 10 dieser Deklaration gewährt das Recht auf Schutz vor unberechtigtem Eingriff in das Privat- und Familienleben. Art. 32 Abs. 1 der Deklaration postuliert, dass Elternschaft und Familie unter dem besonderen Schutz des Gesetzes stehen. Die ungarische Verfassung317 bekennt sich schon in ihrer Präambel zu Familie und Nation als grundlegendem Rahmen des Zusammenlebens. Neben der Achtung des Privat- und Familienlebens in Art. 6 Abs. 1 des Abschnitts „Freiheit und Verantwortung“ enthält Art. L der ungarischen Verfassung in dem Abschnitt „Grundlegendes“ den Schutz von Ehe und Familie. Ehe und Familie werden als Institutionen geschützt. Die Ehe wird als die von Mann und Frau aufgrund einer freiwilligen Entscheidung eingegangene Lebensgemeinschaft bezeichnet. Die Familie wird zwar im selben Absatz erwähnt und als die Grundlage des Fortbestands der Nation bezeichnet, jedoch nicht explizit auf die Ehe als ihre Grundlage gestützt. Aus der Bezeichnung der Familie als Grundlage für den Fortbestand der Nation ergibt sich, dass in erster Linie die „Kernfamilie“ bestehend aus Eltern und ihren Kindern gemeint ist. Art. L Abs. 3 ungarische Verfassung enthält einen Auftrag an den Gesetzgeber, den Familienschutz durch ein Schwerpunktgesetz zu regeln. In der Verfassung Zyperns findet sich, abgesehen von dem Recht auf Achtung von Privat-und Familienleben, in Art. 22 der zypriotischen Verfassung ein Recht auf Familiengründung sowie auf Eheschließung, nach den eherechtlichen Vorschriften des einfachen Rechts. Nach diesen ist die Ehe auf heterosexuelle Partnerschaften beschränkt.318 grds. auch STC 45/1989 v. 20.2.1989, F. 4, zitiert nach Polakiewicz, ZAÖR 1994, S. 340 (361). 316  Verfassung der Tschechischen Republik, Verfassungsgesetz Nr. 1/1993 Slg., wie auch die anderen Verfassungsgesetze abrufbar auf der Homepage des Tschechischen Verfassungsgerichts unter http://www.usoud.cz/en/legal-basis/ (zuletzt abgerufen am 29.1.2014). 317  Auf Deutsch abrufbar unter http://www.kormany.hu/download/7/81/40000/ Grundgesetz %20Ungarns %202011.pdf#!DocumentBrowse (zuletzt abgerufen am 29.1.2014). 318  Europäische Grundrechte Agentur (Hrsg.), Thematic Study Cyprus, Legal Study on Homophobia and Discrimination on Grounds of Sexual Orientation and Gender Identity, 2010, http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/1347-LGBT2010_thematic-study_CY.pdf (zuletzt abgerufen am 09.02.2014).



D. Schutz von Ehe und Familie im Völkerrecht und der EU71

3. Zusammenfassung Die Verfassungen der Mitgliedstaaten bieten bezüglich des Schutzes von Ehe und Familie kein einheitliches Bild. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten schützt in ihren Verfassungen Ehe und Familie. Das Verhältnis des Schutzes von Ehe und Familie zueinander und die Schutzdimensionen variieren. Einige Mitgliedstaaten schützen die Familie, ohne die Ehe gesondert zu erwähnen. Wenn die Ehe geschützt wird, dann stets nur im Zusammenhang mit dem Schutz der Familie. Unabhängig von der Familie wird die Ehe von keiner mitgliedstaatlichen Verfassung geschützt. Mit Deutschland, Italien, Kroatien, Polen, Tschechien und Ungarn ist in sechs Mitgliedstaaten die Ehe von verfassungswegen auf verschiedengeschlechtliche Verbindungen beschränkt. Aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten lässt sich ableiten, dass der Schutz von Ehe und Familie europäisches Gemeingut ist. Art und Ausmaß des Schutzes sowie das Verhältnis von Ehe und Familie zueinander gestalten sich in den mitgliedstaatlichen Verfassungen sehr unterschiedlich. Sofern die Ehe in den Verfassungen erwähnt wird, soll entweder der Vorrang der Zivilehe vor der kirchlichen Ehe sichergestellt werden, oder die Ehe wird als im Zusammenhang mit der Familie stehend geschützt. Die Verfassung Spaniens enthält Regelungen zum Schutz von Ehe und Familie, die dem jeweiligen Wortlaut der Art. 7, 9 und 33 Abs. 1 GRC ähnlich sind.

Zweiter Teil

Die Dogmatik des Schutzes von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta Eine Untersuchung der Dogmatik der ehe- und familienschützenden Normen der Grundrechtecharta im Besonderen bedarf einer Vergewisserung allgemeiner grundrechtsdogmatischer Kategorien. Da es, wie zu zeigen sein wird, für das Verständnis der Dogmatik des Schutzes von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta auch entscheidend auf die Gewährleistungsdimensionen der Grundrechte ankommt, müssen diese definiert und voneinander abgegrenzt werden (A.). Außerdem ist die Grundrechtecharta kein nationaler Verfassungstext, sondern wurde von einem multinationalen Konvent erarbeitet, der sich dabei an den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, der EMRK und weiteren internationalen Menschenrechtsdokumenten orientierte. Bis zum Jahr 2009 kam ihr keine Rechtsverbindlichkeit zu, diese erlangte die Grundrechtecharta erst mit den Verträgen von Lissabon. Als Teil des supranationalen Unionsrechts und im Spannungsfeld der Verfassungen der Mitgliedstaaten und der EMRK gelten für die Auslegung der Grundrechtecharta einige Besonderheiten, die sich auf das Verständnis des Ehe- und Familienschutzes auswirken. Die Stellung der Grundrechtecharta im Unionsrecht, ihr Verhältnis zu anderen internationalen Menschenrechtsverträgen, insbesondere der EMRK, gilt es vorab allgemein zu erörtern (B.).

A. Die Funktionen der Grundrechte in der Grundrechtecharta Die Familie wird in der Grundrechtecharta explizit durch Art. 7, 9 und 33 GRC, die Ehe durch Art. 9 GRC geschützt. Im Unterschied zu Art. 6 GG, der Ehe und Familie umfassend schützt, teilt die Grundrechtecharta den Schutz von Ehe und Familie auf drei verschiedene Vorschriften auf. Art. 7 und 9 GRC ähneln den Art. 8 und 12 EMRK, mit Art. 33 GRC, insbesondere dessen erstem Absatz, betritt die Grundrechtecharta Neuland. Die Vorschrift befindet sich in dem insgesamt innovativen Titel IV der Grundrechtecharta, der mit „Solidarität“ überschrieben ist und im Wesentlichen wirtschaftliche und soziale Verbürgungen enthält, die teilweise als Grundsätze im Sinne des Art. 52



A. Funktionen der Grundrechte in der Grundrechtecharta73

Abs. 5 GRC einzustufen sind.1 Um die Schranken und materiellen Grenzen der Beschränkbarkeit (Schranken-Schranken) der einzelnen Gewährleistungen der Grundrechtecharta zum Schutz von Ehe und Familie herausarbeiten zu können, müssen Abwehr- und Leistungsrechte grundsätzlich voneinander abgegrenzt werden. Wie sich zeigen wird, spielt die Abgrenzung von Abwehrund Leistungsrechten darüber hinaus für die Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen eine entscheidende Rolle. Die rechtlichen Wirkungen der Grundrechte werden in der deutschen Staatsrechtswissenschaft als die Grundrechtsfunktionen oder Grundrechtsdimensionen systematisiert.2 Welche Funktion oder Dimension einem Grundrecht erwächst, hängt von der Natur des Schutzgutes und der Art und Quelle möglicher Gefahren für dieses Rechtsgut ab. Grundsätzlich lassen sich Abwehrrechte von Teilhaberechten bzw. Leistungsrechten und Schutzrechten und diese wiederum von den Gleichheitsrechten unterscheiden.3 Hinzu treten die objektiven Gewährleistungen der Grundrechte, wie die Funktion einzelner Grundrechte als Einrichtungsgarantien.4 Die Unterscheidung verschiedener Funktionen lässt sich grundsätzlich auf alle Grundrechte anwenden und soll deshalb vorab ohne Bezug zu den einzelnen Gewährleistungen der Grundrechtecharta erörtert werden. Im weiteren Verlauf der Untersuchung kann sodann auf die hier gefundenen Erkenntnisse zurückgegriffen werden. Zunächst werden unter Rückgriff auf die deutsche Staatsrechtslehre die Grundrechtsdimensionen definiert und voneinander abgegrenzt (s. Ziff. I. bis III.). Sodann wird gezeigt, dass die hier gefundene Abgrenzung auf die Grundrechtecharta übertragbar ist (s. Ziff. IV.)

I. Die grundlegende Unterscheidung von Abwehrrechten und Leistungsrechten in der deutschen Grundrechtsdogmatik Eine Betrachtung der Quelle der Gefahren für grundrechtliche Schutzgüter im Hinblick auf die Rechtsfolgen, die zur Abwendung der Beeinträchtigung dieser Rechtsgüter erforderlich sind, erschließt zwei grundlegende Dimensionen der Grundrechtswirkung, die der vorliegenden Arbeit zu Grunde liegen: 1  Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta, ABl. C Nr.  303 v. 14.12.2007, S. 17 (33 f.). 2  Vgl. nur Dreier, Dimensionen der Grundrechte; Stern, Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 185 Rn. 31; Jarass, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 38; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 243 ff.; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, §§ 66, 67. 3  Jarass, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd.  II, § 38 Rn. 2. 4  Jarass, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd.  II, § 38 Rn.  11 ff.; Bleckmann, Staatsrecht II, S. 272 ff.

74 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Die Verpflichtung des an die Grundrechte gebundenen Staates zu einem Unterlassen oder zu einer Handlung. Dem korrespondieren die Funktionen der Grundrechte als Abwehrrechte und Leistungsrechte. Die Freiheitsrechte vermitteln nach der „klassischen“ liberalen Auffassung vor allem Abwehrrechte des Einzelnen gegen ungerechtfertigte Eingriffe des Staates in die grundrechtlich geschützte Freiheitssphäre.5 Der Staat kann mittels Abwehrrechten aus der Freiheitssphäre des Bürgers ausgeschlossen werden, geschützt wird die „Freiheit vom Staat“6, der „status negativus“.7 Das Abwehrrecht gebietet dem Staat ein Unterlassen ungerechtfertigter Eingriffe in den Schutzbereich des betreffenden Grundrechts. Erst in jüngerer Zeit8 hat sich grundrechtsdogmatisch in Deutschland die Erkenntnis durchgesetzt, dass nicht nur vom Staat selbst, sondern auch von privaten Dritten, die als solche nicht unmittelbar an die Grundrechte gebunden sind, oder aus anderen, nicht-personalen Quellen ebenso große Gefahren für die grundrechtlichen Schutzgüter ausgehen können, sodass das liberale Modell der Freiheit von dem Staat durch ein Modell des Grundrechtsschutzes durch den Staat ergänzt wurde. Als wegweisend für den Durchbruch der Pflichten des Staates zu einem Handeln, um grundrechtliche Schutzgüter vor der Beeinträchtigung durch Dritte zu schützen, gilt das erste Urteil des BVerfG zur Fristenlösung bei der Legalisierung der Abtreibung.9 Aus dem Recht auf Leben in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG leitete das BVerfG die Pflicht des Staates ab, sich nicht nur Eingriffen in das Leben der Menschen zu enthalten, sondern auch „sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, das heißt vor allem, es auch vor rechtswidrigen Eingriffen anderer zu bewahren.“10 Dem Staat kommt gegenüber den grundrechtlich geschützten Gütern mithin eine Schutzpflicht zu, die nicht durch ein Unterlassen von Eingriffen realisiert werden kann, sondern ein Tätigwerden des Staates in rechtlicher und / oder tatsächlicher Art erfordert.11 Das BVerfG hat Schutzpflichten in der Folge auch anderen Grundrechten entnommen.12 5  BVerfGE 7, 198 (204); Bleckmann, Staatsrecht II, S. 247; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191 Rn. 17 m. w. N. zur Kritik daran in Fn. 21. 6  Jarass, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 38 Rn. 16. 7  Auch status libertatis, Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S.  94 ff. 8  Isensee, Die Grundrechte als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 191 Rn. 17. 9  BVerfGE 39, 1 (41 ff.). 10  BVerfGE 39, 1 (42). 11  BVerfGE 88, 203 (254 f.). 12  Vgl. nur BVerfGE 106, 28 (36 f.) zum Fernmeldegeheimnis; BVerfGE 54, 148 (153); 79, 256 (268); 96, 56 (64) zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht.



A. Funktionen der Grundrechte in der Grundrechtecharta75

Die Bedeutsamkeit der Unterscheidung zwischen Schutzrechten und Abwehrrechten liegt darin, dass die Prüfungsstruktur von Abwehrrechten und Schutzrechten nicht identisch ist. Während der Eingriff in den Schutzbereich eines Abwehrrechts sich daran messen lassen muss, ob er dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in Gestalt des Übermaßverbotes entspricht, ob also der Staat nicht zu stark in den Schutzbereich des Grundrechts eingegriffen hat, ist bei der Erfüllung der Schutzpflicht zu fragen, ob der Staat ein ausreichendes Maß an Schutz gewährleistet. Der strukturelle Unterschied liegt darin begründet, dass die Verpflichtung bei einer Verletzung des Übermaßverbotes definitiv feststeht: Der Staat hat die das Grundrecht verletzende Handlung zu unterlassen. Bei einer Verletzung des Untermaßverbotes hingegen steht ein „zu wenig“ an Handlung und damit ein (partielles) Unterlassen in Frage. Der Staat hat zur Erfüllung seiner Schutzpflicht aber regelmäßig eine Vielzahl von Handlungsvarianten zur Auswahl. Es gibt im Gegensatz zu einer Verletzung des Abwehrrechts durch ein aktives Tun nicht eine einzige verfassungsmäßige Alternative zu der verfassungswidrigen Handlung, sondern eine Vielzahl verfassungsmäßiger Varianten zu dem verfassungswidrigen Unterlassen. Somit besteht ein struktureller Unterschied zwischen dem Abwehrrecht und dem Leistungsrecht in Form des mit einer Schutzpflicht korrespondierenden Schutzrechts. Bei den Schutzpflichten handelt es sich jedoch nicht um die einzige Kategorie, bei der statt eines Unterlassens eine Handlung des Staates gefordert ist und zu deren Erfüllung dem Staat deshalb regelmäßig verschiedene Optionen zur Verfügung stehen. Es muss sich bei den Grundrechten schließlich nicht zwingend um klassische Abwehrrechte handeln, aus denen sich auch Schutzpflichten ableiten lassen. Vielmehr kann eine Pflicht zum Tätigwerden selbst der primäre Inhalt einer Grundrechtsnorm sein. Das ist der Fall bei den Rechten auf Organisation und Verfahren, die von der Bereitstellung einer entsprechenden Infrastruktur abhängen.13 Desgleichen können Grundrechte materielle Zuwendungen an den Grundrechtsinhaber verbürgen, wie es bei den sog. „sozialen Grundrechten“ der Fall ist. Das GG enthält solche Rechte ausdrücklich kaum, ein Beispiel findet sich aber in Art. 6 Abs. 4 GG, dem Recht der Mutter auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft. Während Rechte, die auf ein Unterlassen gerichtet sind, hier Abwehrrechte genannt werden, werden diejenigen Rechte, die auf eine Handlung gerichtet sind, als Leistungsrechte im weiteren Sinne bezeichnet.14 Sie gliedern sich 13  Vgl. Jarass, AöR 120 (1995), S. 345 (354 ff.); näher Cremer, Freiheitsgrundrechte, S.  392 ff.; Denninger, Staatliche Hilfe zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 193. 14  Anknüpfend an Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395.

76 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

weiterhin auf in Schutzrechte, Rechte auf Organisation und Verfahren und Leistungsrechte im engeren Sinne oder soziale Grundrechte.15 Als eigenständige Grundrechtskategorie müssen die Gleichheitsrechte erachtet werden.16 Sie entziehen sich aufgrund ihrer relativen Struktur der Einordnung in das Schema Handlung und Unterlassung als Grundrechtswirkung. So kann eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung einen Unterlassensanspruch auslösen, sie kann aber auch eine Handlungspflicht dergestalt auslösen, dass dem Berechtigten die gleichheitswidrig vorenthaltene Vergünstigung ebenfalls zugesprochen werden muss.17 Derivative Teilhaberechte sind ebenfalls den Gleichheitsrechten zuzuordnen. Durch sie werden Leistungen gewährt, sei es in Form von Ansprüchen auf Güter bei den Leistungsrechten im engeren Sinne, sei es in Form der Partizipation an Verfahren oder staatlichen Einrichtungen. Da das entscheidende Argument für die Gewährung der Leistung ist, dass der Berechtigte gleichheitswidrig ausgeschlossen wurde, betreffen derivative Teilhaberechte stets die gleichheitsrechtliche Leistungsdimension.18 Da sich die Gleichheitsrechte in ihrer Struktur von den sonstigen Grundrechten stark unterscheiden und Gleichheitsrechte nicht Teil dieser Untersuchung sind, soll der Gleichbehandlungsaspekt auch hier ausgeklammert werden.

II. Die Unterscheidung von Abwehrrechten und Leistungsrechten anhand der Art der Verpflichtung Zu der Unterscheidung von Abwehrrecht und Leistungsrecht bedarf es eines Unterscheidungskriteriums. Dieses Kriterium ist die Verhaltensform, zu der das jeweilige Grundrecht verpflichtet. Abwehrrechte verpflichten zu einer Unterlassung, Leistungsrechte verpflichten zu einer Handlung. Wie sogleich gezeigt wird, muss die Frage danach, ob eine Handlung oder ein Unterlassen geschuldet ist, nicht formell, sondern materiell beantwortet werden. 15  Alexy,

Theorie der Grundrechte, S. 454. in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 38 Rn. 44; Manssen, Staatsrecht II, S. 9; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Vorbem. Art. 1, Rn. 91. 17  Jarass, AöR 120 (1995), S. 345 (349); Jarass, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 38 Rn. 43.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  391 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 228 f. 18  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 230; Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 192 Rn. 74; Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S.  17 f.; Stern, Staatsrecht Bd. III/1, § 67 II 1 (S. 700). 16  Jarass,



A. Funktionen der Grundrechte in der Grundrechtecharta77

Die Unterscheidung von Abwehrrecht und Leistungsrecht nach der Art der Verpflichtung, die das jeweilige Recht erzeugt, erfordert eine Definition von Handlung und Unterlassen. Unter einer Handlung wird vorliegend eine kausale Änderung der Wirklichkeit verstanden, unter einem Unterlassen die Nichtänderung der Wirklichkeit, obwohl eine solche Änderung möglich war, unabhängig davon, ob dem Verpflichteten sein Unterlassen bewusst war.19 Handeln und Unterlassen sind demnach stets voneinander abgrenzbar. Eine Handlung kann nicht gleichzeitig ein Unterlassen sein und anders herum. Wenn der Unterscheidung von Abwehrrechten und Leistungsrechten danach, ob ein Unterlassen oder ein Handeln geschuldet ist, entgegengehalten wird, dass Abwehrrechte sowohl zu einer Handlung als auch zu einem Unterlassen verpflichten können und Leistungsrechte ebenfalls im konkreten Fall nicht stets eine Handlung, sondern auch ein Unterlassen gebieten können,20 liegt diesem Einwand eine formelle Betrachtungsweise zugrunde. Das lässt sich an einem Beispiel demonstrieren. Das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verbietet ungerechtfertigte Eingriffe in die Berufswahl und Berufsausübung. Wenn der Gesetzgeber sich entschließt, die kommerzielle Sterbehilfe zu verbieten und unterstellt man, dass dieses Verbot ungerechtfertigt in die Berufsfreiheit eingreift, richtet sich Art. 12 Abs. 1 GG gegen eine Handlung des Staates, namentlich das gesetzliche Verbot. Art. 12 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, das Verbot zu unterlassen. Für viele Berufe sieht der Gesetzgeber ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt vor. Wer z. B. ein Bewachungsgewerbe betreiben möchte, bedarf dazu gem. § 34a Abs. 1 S. 1 GewO einer Erlaubnis. Sofern eine Genehmigung beantragt wird und keine Versagungsgründe vorliegen, muss die Behörde eine Handlung vornehmen, indem sie die Genehmigung erteilt, anderenfalls verletzt sie nicht nur das einfache Recht, sondern auch Art. 12 Abs. 1 GG. Das konkret geschuldete Verhalten besteht in einer Handlung. Ein anderes Beispiel ist der Folgenbeseitigungsanspruch. Art. 14 GG verbietet es beispielsweise dem Staat grundsätzlich, die Zufahrt zu einem privaten Grundstück zu blockieren und damit ein Unterlassen. Art. 14 GG gebietet aber auch, die Blockade wieder zu entfernen.21 Die Abwehrrechte könnten demnach auch leistungsrechtliche Ansprüche begründen, was die Unterscheidung anhand der geschuldeten Verhaltensform obsolet machen würde.22 19  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 211 f.; Cremer, Freiheitsgrundrechte, S. 139; Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, S. 91 ff. 20  Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 75 ff. 21  Vgl. VG Hannover, Urteil v. 17.11.2010, Az.: 7 A 4096/10. 22  Teilweise werden Folgenbeseitigungs- und Unterlassensansprüche als den Abwehrrechten immanente Hilfsrechte qualifiziert, vgl. Stern, Staatsrecht Bd. III/1, § 66 III 1 (S. 671).

78 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Der gleiche Einwand lässt sich für die umgekehrte Situation der Beanspruchung einer Leistung formulieren: Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG gebietet einerseits, dass ein solches Existenzminimum auch rechtlich und tatsächlich zur Verfügung gestellt wird, also eine Handlung. Andererseits verpflichtet es den Gesetzgeber, die in Erfüllung dieser Verpflichtung ergangenen Rechtsnormen, z. B. das SGB II, nicht wieder zu beseitigen. Damit verpflichtet es den Gesetzgeber zu einem Unterlassen.23 Den Beispielen liegt eine formelle Betrachtung von Abwehr- und Leistungsrecht zugrunde.24 So dient ein präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt nur der Prüfung, ob keine Gründe vorliegen, die die Versagung der Ausübung der grundrechtlichen Freiheit in dem konkreten Fall verbieten. Materiell geht es um die Frage, ob dem Antragsteller die Ausübung seines Gewerbes rechtmäßig verboten werden darf. Die Erteilung der Genehmigung restauriert nur die Freiheit des Antragstellers, in die der Staat zum Zwecke der Überwachung gefahrgeneigter Tätigkeiten durch die Statuierung einer Prüfung im Rahmen des Genehmigungsverfahrens rechtmäßig eingegriffen hat.25 Die konkret (formell) geschuldete Verhaltensform ist nur der Kontingenz der einfachgesetzlichen Regelungstechnik geschuldet. Es ist eine Frage der Zweckmäßigkeit, ob eine grundrechtlich verbürgte Tätigkeit grundsätzlich einfachrechtlich erlaubt werden und gegebenenfalls untersagt werden sollte, oder ob sie einem präventiven Verbot unterworfen wird mit der Konsequenz, dass der Einzelne sich zur rechtmäßigen Aufnahme der Tätigkeit um eine Genehmigung bemühen muss.26 Entsprechendes gilt auch für den Folgenbeseitigungsanspruch. Ob ein solcher besteht, hängt davon ab, ob die Folge rechtswidrig ist, mit anderen Worten: Ob der Staat grundrechtliche Unterlassenspflichten verletzt hat, indem er ungerechtfertigt durch eine Handlung in den Schutzbereich des Grundrechts eingegriffen hat. Eine materielle Betrachtungsweise blendet für die Beurteilung, ob es sich bei einem Grundrecht um ein Abwehrrecht oder ein Leistungsrecht handelt, die unterverfassungsrechtliche Rechtsordnung sowie etwaiges vorangegangenes staatliches Handeln aus. Materielle Abwehrrechte sind nach dieser Konzeption alle Rechte, die eine Sphäre natürlicher Freiheit im liberalen Sinne gewähren und damit den Grundrechtsadressaten ursprünglich zu einem Un23  Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 179, 436 hält es ebenfalls für möglich, hier eine Verpflichtung zu einer Handlung, dem In-Geltung-halten der Normen, anzunehmen, ohne zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. 24  Unterscheidung nach Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 213 ff., S. 222; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 § 66 I 2 (S. 621). 25  Borowksi, Grundrechte als Prinzipien, S. 213. 26  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 215.



A. Funktionen der Grundrechte in der Grundrechtecharta79

terlassen verpflichten. Alle anderen Grundrechte mit Ausnahme der Gleichheitsrechte werden hier als Leistungsrechte im weiteren Sinne verstanden.27 Der Vorteil der materiellen Unterscheidung liegt darin, dass sie nicht von den Zufälligkeiten und Wandlungen der einfachrechtlichen Normierung oder der Frage abhängt, ob eine Verletzung des Grundrechtes nur droht oder durch Handeln des Staates bereits eingetreten ist. Zudem sind die Argumente, die für die Beseitigung einer Beeinträchtigung sprechen die gleichen, die gegen die Beeinträchtigung selbst sprechen. Ebenso sind die Argumente, eine Leistung zu gewährleisten, ebenfalls relevant bei der Abschaffung dieser Leistung. Legalisierte der Gesetzgeber den Schwangerschaftsabbruch umfassend, wären die Argumente gegen die Abschaffung des § 218 StGB, unabhängig von ihrer Überzeugungskraft, die gleichen, die für seine Einführung sprachen.28 Zudem ist der Prüfungsmaßstab unterschiedlich, je nachdem ob die Verletzung eines materiellen Leistungs- oder Abwehrrechtes geprüft wird und zwar unabhängig davon, ob formell eine Leistungs- oder Abwehrkonstellation vorliegt. Ein Abwehrrecht im materiellen Sinne verlangt die Prüfung des Übermaßverbotes, ein Leistungsrecht im materiellen Sinne die Prüfung des Untermaßverbotes, das sich vom Übermaßverbot strukturell unterscheidet, auch wenn zuzugeben ist, dass die Prüfung des Untermaßverbotes dadurch erleichtert wird, dass sich in den Fällen, in denen eine Handlung oder ein Unterlassen im formellen Sinn gefordert ist, der geschuldete Gegenstand leichter bestimmen lässt. Deshalb wird im Folgenden zwischen formellen und materiellen Abwehr- und Leistungsrechten unterschieden. Da materielle Abwehrrechte stets formelle Leistungsrechte und umgekehrt materielle Leistungsrechte formelle Abwehrrechte sein können, ist für die Entscheidung, ob ein Grundrecht nur abwehr- oder auch leistungsrechtliche Gehalte aufweist, die materielle Betrachtung maßgeblich.

III. Die weitere Differenzierung der Leistungsrechte im weiteren Sinne Wie bereits dargelegt, werden die Leistungsrechte in der deutschen Rechtswissenschaft weiter differenziert zwischen Schutzpflichten, Pflichten zur Bereitstellung von Organisation und Verfahren und Leistungspflichten im 27  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 216 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  403 ff.; Jarass, AöR 120 (1995), S. 355; i. E. wohl auch Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharter, S. 71, der andererseits die Beeinträchtigung rechtlich geschützter Positionen an Alexy anknüpfend ebenfalls den negativen Gewährleistungen zurechnet, S. 72; ebenfalls auf die materielle Unterscheidung abstellend Pieroth/Schlink/Poscher/Kingreen, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 80 ff. 28  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 223.

80 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

engeren Sinne, bzw. Förderpflichten. Dem entspricht in etwa die internationale menschenrechtliche Terminologie mit den obligations to protect und den obligations to fulfill, die sich ihrerseits in obligations to facilitate, to promote und to provide gliedern.29 Die weitere Unterscheidung lässt sich deshalb grundsätzlich auch auf die Grundrechte des Unionsrechts übertragen. Eine genaue und definitive Abgrenzung der verschiedenen Gewährleistungsdimensionen bereitet jedoch Schwierigkeiten. Einerseits ließen sich Schutzpflicht und Leistungspflicht im engeren Sinne danach differenzieren, ob das Integritätsinteresse geschützt werden soll, dann handelte es sich um eine Schutzpflicht, oder ob der Rechtskreis erweitert werden soll, dann handelte es sich um eine soziale Leistungspflicht oder Förderpflicht.30 Andererseits ist nicht leicht zu bestimmen, ob eine Leistung nur dem Integritätsinteresse dienen soll. Zudem kann auch zum Schutz des Integritätsinteresses der Rechtskreis zu erweitern sein. Weiterhin ließe sich für die Differenzierung der Leistungsrechte auf die Quelle der Gefahr für das grundrechtliche Schutzgut abstellen. Damit lassen sich zwar materielle Abwehrrechte von materiellen Leistungsrechten unterscheiden, da die Quelle der Störung bei den materiellen Abwehrrechten stets die staatliche Sphäre ist. Dass Schutzpflichten im Allgemeinen den Schutz vor Gefahren durch nichtstaatliche Dritte umfassen, ist allgemein konsentiert.31 Insofern lässt sich von Schutzpflichten im engeren Sinne sprechen, wenn die Gefährdung des grundrechtlichen Schutzgutes von einem privaten Dritten zurechenbar ausgeht. Die Gefährdung grundrechtlicher Schutzgüter kann nichtstaatlichen Dritten jedoch nicht stets zweifelsfrei zugerechnet werden, wie es bei Gefahren durch Naturkatastrophen oder Seuchen der Fall ist.32 Möglicherweise lässt sich die Abschirmung vor solchen Gefahren ebenfalls als Schutz bezeichnen.33 Der Schutz vor Dritten wird zudem oftmals in Form der Bereitstellung von Organisation und Verfahren gewährt, z. B. durch das Zivilrecht oder das Immis­ sionsschutzrecht.34 29  Cremer,

in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 1 Rn. 65. Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 216. 31  Ebenso Rengeling/Sczcekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 6 Rn. 413. 32  Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 260. 33  So sah es der EGMR für den Schutz des Lebens vor Naturereignissen, EGMR, No. 15339/02, Budayeva and others/Russia, § 146 ff., Reports 2008, S. 267 (292 ff.); ebenso BVerfGE 39, 1 (42); vgl. auch BVerfGE 75, 40 (63 ff.) und 90, 107 (115 f.); im Schrifttum ist diese Frage umstritten, ebenso Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 103; Rengeling/Sczcekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 6 Rn. 413; a. A. Stern, Staatsrecht III/1, § 67 V II (S. 734); dazu näher Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 63 ff., 140 ff., 246 ff. 34  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 226. 30  Brosius-Gersdorf,



A. Funktionen der Grundrechte in der Grundrechtecharta81

Demnach ist eine eindeutige Abgrenzung innerhalb der Leistungspflichten nicht immer möglich. Das ist jedoch unschädlich, da sich der genaue Inhalt der Leistungspflicht ohnehin aus dem fraglichen Grundrecht ergibt und es nicht darauf ankommt, wie die Leistungspflicht genau klassifiziert wird.35 Allein der Schutzpflicht im engeren Sinne kommt eine gesteigerte praktische Bedeutung zu, da die Entwicklung von leistungsrechtlichen Gehalten aus abwehrrechtlich formulierten Grundrechtsnormen bei den Schutzpflichten im engeren Sinne ihren Ausgang nahm. Deshalb soll der Klarheit halber mit „Schutzpflicht“ vorliegend stets nur der Schutz vor Gefahren verstanden sein, die zurechenbar von privaten Dritten ausgehen, nicht jedoch der Schutz vor sonstigen Gefahren. Die Abwehr von Gefahren aus sonstigen Quellen unterfällt grundsätzlich dem Leistungsrecht im engeren Sinne. Jedenfalls wenn Leistungspflichten im engeren Sinne nicht eindeutig oder schwerpunktmäßig dem Integritätsinteresse des grundrechtlichen Schutzgutes zu dienen bestimmt sind, können sie als Förderpflichten bezeichnet werden. Die weitere Unterscheidung dient lediglich der Zweckmäßigkeit, eine besondere grundrechtsdogmatische Relevanz wird ihr hier nicht beigemessen.

IV. Die Übertragbarkeit der Einteilung der Grundrechtswirkungen nach ihrem Verpflichtungsinhalt auf das Europarecht Es verbietet sich aufgrund der Autonomie der unionalen Rechtsordnung und der Vielgestaltigkeit der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen grundsätzlich, dogmatische Figuren des nationalen rechtswissenschaftlichen Diskurses unbesehen auf das Europarecht zu übertragen. Es erscheint deshalb zunächst rechtfertigungsbedürftig, die Begriffe des Leistungs- und Abwehrrechts auch im Bereich des Europarechtes zu verwenden. Ein Argument für die Unterscheidung von Abwehr- und Leistungsrechten in der Grundrechtecharta liefert indes die Rechtsprechung des EGMR, die für die Auslegung der Grundrechtecharta von herausragender Bedeutung ist. Der EGMR unterscheidet ebenfalls zwischen Handlungs- und Unterlassenspflichten der Mitgliedstaaten der EMRK, den positiven Verpflichtungen (positive obligations), also Handlungspflichten, und den negativen Verpflichtungen (negative obligations), die zu einem Unterlassen verpflichten.36 Da gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC diejenigen Rechte der Grundrechtecharta, die Rechten der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, enthält die Grundrechtecharta zu35  Borowski,

Grundrechte als Prinzipien, S. 227. Urt. v. 13.6.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74, § 31, Series A 31 S. 14 f.; Urt. v. 26.3.1985, X and Y v. the Netherlands, Nr. 8978/80, § 23, Series A 91 S. 11. 36  EGMR,

82 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

mindest im Überschneidungsbereich mit der EMRK auch Leistungsrechte.37 Zudem deutet der Wortlaut der Grundrechtecharta in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC auf die Existenz von Leistungspflichten hin.38 Dort heißt es, die Union und die Mitgliedstaaten „achten (…) die Rechte, halten (…) sich an die Grundsätze und fördern (…) deren Anwendung“. Schließlich hat sich eine mit der konventionsrechtlichen Unterscheidung zwischen Handlungs- und Unterlassungspflichten vergleichbare Begriffsbildung für den internationalen Menschenrechtsschutz jenseits der EMRK durchgesetzt.39 Es wird zwischen obligations to respect, to protect und to fulfill unterschieden. Die obligation to respect legt den Grundrechtsadressaten eine Unterlassenspflicht auf, die obligation to protect entspricht in ihrer Wirkung der Schutzpflicht. Unter der obligation to fulfill lassen sich die sonstigen Leistungspflichten zusammenfassen.40 Die Unterscheidung von Abwehr- und Leistungsgehalten ist ebenfalls bedeutsam für die Abgrenzung der Rechte von den Grundsätzen der Grundrechtecharta i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRC, da letztere „keine direkten Ansprüche auf den Erlass positiver Maßnahmen durch die Organe der Union oder die Behörden den (sic!) Mitgliedstaaten“ begründen.41 Das rechtfertigt die Verwendung der Unterscheidung zwischen Abwehrrechten und Leistungsrechten auch für die Normen der Grundrechtecharta.42 37  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl., Art. 51 Rn. 39; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vorbem. Titel VII, Rn. 2a; zurückhaltend Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 337 ff.; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 221; Kühling, in: v. Bogdandy/ Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 674 ff.; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 73 ff. 38  Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 43; Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 51 Rn. 17; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 31; ebenfalls zustimmend Rengeling/Sczcekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 6 Rn. 409. 39  In einzelnen europäischen Staaten wird eine Unterscheidung zwischen Abwehr- und Leistungsrechten nicht (mehr) durchgängig vorgenommen, vgl. IliopoulosStrangas, in: Dies. (Hrsg.), Soziale Grundrechte in Europa, Griechenland, S. 723. 40  Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd.  2, §  1 Rn. 65; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vorbem. Titel IV, Rn. 3. 41  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (35). 42  Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd.  2, §  1 Rn. 65; grds. auch Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 4 f.; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vorbem. Titel IV, Rn. 3; vgl. auch Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 319 ff.; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 41 ff.; Kühling, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 674.



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK83

B. Das Verhältnis zwischen den Grundrechtsquellen der Europäischen Union und der EMRK Die zentrale Norm für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union ist Art. 6 EUV. Art. 6 Abs. 1 EUV bestimmt die rechtliche Qualität der Grundrechtecharta. Art. 6 Abs. 3 EUV nimmt daneben die EMRK und die ungeschriebenen, durch den EuGH entwickelten Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze in Bezug. Dadurch wird die Frage aufgeworfen, wie mit potentiellen Widersprüchen zwischen den drei Grundrechtsquellen umzugehen ist. Bevor der Schutz von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta näher untersucht werden kann, bedarf es deshalb einer Klärung des Verhältnisses zwischen der Grundrechtecharta, der EMRK und den Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Ob Konflikte zwischen der Grundrechtecharta und der EMRK oder den Grundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze überhaupt entstehen können, hängt zunächst wiederum von der rechtlichen Qualität und der Anwendbarkeit der Grundrechtecharta in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ab, sie soll deshalb zuerst untersucht werden (I.). Sodann werden die rechtliche Bedeutung der als allgemeine Rechtsgrundsätze ungeschriebenen Grundrechte und ihr Verhältnis zur Grundrechtecharta bestimmt (II.). Schließlich wird vor diesem Hintergrund das in Art. 52 Abs. 3 GRC explizit normierte Verhältnis zwischen der EMRK und der Grundrechtecharta entwickelt (III.).

I. Die Bedeutung der Grundrechtecharta als Rechtsquelle Die Erarbeitung der Grundrechtecharta wurde auf dem Gipfel von Köln im Jahre 1999 mandatiert.43 Mit der Ausarbeitung wurde ein Gremium bestehend aus Abgeordneten des Europaparlaments und der nationalen Parlamente und Regierungen sowie der Kommission beauftragt, das sich selbst „Konvent“ nannte.44 Die Grundrechtecharta wurde nach der Fertigstellung im Jahre 2000 vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission erstmals feierlich proklamiert,45 ohne rechtsverbindlich zu werden. Nachdem der Verfassungsvertrag, dessen Bestandteil die Grundrechtecharta war,46 gescheitert war, entschloss man sich bei der Ausarbeitung des Vertragswerks von Lissabon dazu, die Grundrechtecharta nicht direkt in die Verträge aufzu43  EuGRZ

1999, S. 364. Zusammensetzung Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 46 f. 45  ABl. C Nr. 364 v. 18.12.2000, S. 1. 46  Als Teil II, CONV 850/03. 44  Zur

84 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

nehmen sondern ihre rechtliche Qualität durch einen Verweis in den Verträgen zu bestimmen. Seit dem Inkrafttreten von EUV und AEUV im Jahre 2009 normiert Art. 6 EUV den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union. Gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EUV erkennt die Union die in der Grundrechtecharta niedergelegten Rechte, Grundsätze und Freiheiten an. Das rechtliche Schicksal der Grundrechtecharta bestimmt Art. 6 Abs. 1 a. E. EUV, der anordnet, dass „die Charta der Grundrechte und die Verträge rechtlich gleichrangig“ sind. Art. 6 Abs. 1 a. E. EUV formuliert eine Geltungsanordnung, die aus der unverbindlichen Grundrechtecharta einen Rechtsakt macht,47 der mit den Verträgen rechtlich gleichrangig ist. Die Grundrechtecharta ist durch Art. 6 Abs. 1 S. 1 a. E. EUV Teil des Primärrechts geworden und ebenso rechts­ verbind­lich,48 ohne selbst Teil der Verträge geworden zu sein. Den recht­ lichen Geltungsgrund der Grundrechtecharta bildet Art. 6 EUV. Die Erhebung der Grundrechtecharta in den Rang von Primärrecht wird durch einen Wermutstropfen getrübt: das Protokoll Nr. 30 zum Vertragswerk von Lissabon. Das Vereinigte Königreich und Polen49 haben sich darin eine Sonderregelung für die Anwendung der Grundrechtecharta in ihren Rechtsordnungen vorbehalten.50 Unbestritten handelt es sich bei dem Protokoll Nr. 30, entgegen dem Sprachgebrauch, nicht um eine generelle Ausnahmeklausel („Opt-out“), durch die die Anwendung der Grundrechtecharta in diesen Mitgliedstaaten gänzlich ausgeschlossen wird, sodass ihre Geltung in Polen und dem Vereinigten Königreich nicht in Frage steht.51 Anderenfalls hätte es statt der ausführlichen Erwägungsgründe und der zwei Artikel des Protokolls Nr. 30 lediglich eines einzigen Artikels bedurft, der die Unanwendbarkeit der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich unmissverständlich erklärt. Sähe man das „Opt-out“ in Art. 1, wäre Art. 2 des Protokolls Nr. 30 überflüssig. Auch die Erwägungsgründe des Protokolls Nr. 30 sprechen gegen die gänzliche Unanwendbarkeit der Grundrechtecharta, denn 47  Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 6 EUV Rn. 21. 48  Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 6 EUV Rn. 9 f.; vgl. auch EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 Rn. 49 f. – J. McB. gegen L. E. 49  Die Tschechische Republik wird sich der Regelung nun wohl nicht mehr anschließen, vgl. die Mitschrift des Pressestatements von Bundeskanzlerin Merkel und dem Ministerpräsidenten der Tschechischen Republik, Sobotka, am 13. März 2014, abrufbar unter http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferen zen/2014/03/2014-03-13-merkel-sobotka.html (zuletzt abgerufen am 28.5.2014). 50  Schon Abl. C Nr. 306 v. 17.12.2007, S. 156; nunmehr Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte auf Polen und das Vereinigte Königreich, ABl. C Nr. 83 v. 30.3.2010, S. 1 (313); EuGRZ 2008, S. 339 f. 51  EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 Rn. 119 – J. McB. gegen L. E.



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK85

dort heißt es, Polen und das Vereinigte Königreich wünschten bestimmte Aspekte der Anwendung der Charta zu „klären“.52 Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 wiederholt im Wesentlichen schlicht die Aussagen, die auch schon Art. 6 Abs. 1 uA 2 EUV und Art. 51 Abs. 2 GRC treffen, nämlich dass die GRC die Kompetenzen der Union nicht erweitert. Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 bezieht diese Aussage noch einmal ausdrücklich auf die Kompetenzen des EuGH und der nationalen Gerichte in Polen und Großbritannien, die nicht erweitert würden. Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 ist rein deklaratorisch, weil unbestritten ist, dass durch die Grundrechtecharta keine neuen Kompetenzen des EuGH geschaffen wurden. Im Hinblick auf die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte kodifiziert Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC die Rechtsprechung des EuGH zur Bindung an die Unionsgrundrechte.53 Art. 1 Abs. 1 des Protokolls Nr. 30 bestätigt dies lediglich noch (ein weiteres) mal.54 Art. 1 Abs. 2 des Protokolls Nr. 30 bekräftigt, dass durch den Titel IV der Charta keine einklagbaren Rechte geschaffen werden. Dieser Titel der Grundrechtecharta ist mit „Solidarität“ überschrieben und enthält „soziale“ Gewährleistungen, von denen einige als „Rechte“, andere als „Grundsätze“ im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC zu qualifizieren sind. Unabhängig davon, ob man die Rechte in Titel IV als kodifizierte allgemeine Rechtsgrundsätze gemäß der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedstaaten ansieht, kommt der Vorschrift angesichts der Kompetenz des EuGH, auf die Rechtsquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen, wohl keine praktische Bedeutung zu.55 Art. 33 Abs. 1 GRC fällt jedoch in den Anwendungsbereich des Protokolls Nr. 30, sodass sich hier für die Anwendbarkeit der Charta eine Sonderkonstellation für Großbritannien und Polen ergeben könnte. Wie aber noch zu zeigen sein wird, handelt es sich bei Art. 33 Abs. 1 GRC um einen Grundsatz, der gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nur eingeschränkt justiziabel ist.56 Dem Protokoll Nr. 30 kommt hier nicht mehr als eine Klarstellungsfunktion zu.57 Art. 52 GRC normiert die Nichteinklagbarkeit der Grundsätze nicht ausdrücklich, sie folgt aus der Formulierung „nur“ in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC. Der Beweggrund Polens und des Vereinigten Königreichs zur Aufnahme der 52  EuGH verb. Rs. C-411/10 und C-493/10, Slg. 2011, I-12991 Rn. 120; Craig, The Lisbon Treaty, S. 239. 53  Erläuterungen zur Charta ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (32) mit Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH, dazu näher unten auf S. 283 ff. 54  Craig, The Lisbon Treaty, S. 239; Lindner, EuR 2008, S. 786 (789); so auch GA Trstenjak, Schlussanträge in der Rs. C-411/10, Rn. 171. 55  So Mehde, EuGRZ 2008, S. 269 (272). 56  Dazu unten auf S. 276 ff. 57  Lindner, EuR 2008, S. 786 (789).

86 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Norm in das Protokoll Nr. 30 mag gewesen sein, dass der Wortlaut des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nicht eindeutig genug ist. Art. 2 des Protokolls Nr. 30 hingegen könnte die Anwendbarkeit von Art. 9 GRC in Polen und dem Vereinigten Königreich einschränken. Art. 9 GRC verweist für die Rechte auf Eheschließung und Familiengründung auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften, die Wirkung dieses Verweises wird noch zu klären sein.58 Art. 2 des Protokolls Nr. 30 bestimmt jedenfalls auch für Art. 9 GRC, dass dieser nur in dem Maße auf Polen und Großbritannien angewendet werden kann, in dem das Recht oder die Praxis dieser Staaten das Grundrecht anerkennt.59 Vorbehaltlich der Eröffnung des Anwendungsbereichs des Unionsrechts wäre zukünftig nicht auszuschließen, dass Art. 9 der Charta dahingehend auszulegen wäre, dass die Ehe nicht die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehepartner voraussetzt60 und Polen in europarechtlichen Kontexten gleichgeschlechtliche Ehen anerkennen müsste. Diese von weiteren Fragen, insbesondere einer entsprechenden Kompetenz der Union, abhängige Konstellation mag Polen inspiriert haben, durch das Protokoll Nr. 30 Vorsorge für zukünftige Entwicklungen zu treffen. Im Falle einer zukünftigen Kompetenz der Union zur Regelung des Eherechtes in den Mitgliedstaaten schlösse Art. 2 des Protokolls Nr. 30 eine Anwendung des Art. 9 GRC auf Polen und das Vereinigte Königreich aus, sofern deren nationales Recht gleichgeschlechtliche Ehen nicht anerkennt. Dies würde allerdings nichts daran ändern, dass jede von den beiden Mitgliedstaaten befürchtete Ausweitung des Grundrechtsschutzes sich vom EuGH gegebenenfalls auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze stützen ließe.61 Im Ergebnis ist nicht anzunehmen, dass der EuGH eine Zersplitterung des europäischen Grundrechtsschutzes hinzunehmen bereit ist, wenn sich dogmatisch überzeugende Wege finden lassen, eine derartige Entwicklung zu unterbinden.

II. Der Vorrang und die Autonomie der Grundrechtecharta gegenüber den Grundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze 1. Die Autonomie der Grundrechtecharta als Rechtsquelle Angesichts der drei in Bezug genommenen Menschenrechtsquellen in Art. 6 EUV – Grundrechtecharta, EMRK und allgemeine Rechtsgrundsätze – 58  Dazu 59  In

unten auf S. 146 ff. diesem Sinne auch Schmidt, C. P., Grund- und Menschenrechte in Europa,

S. 170. 60  Dazu unten auf S. 141 ff. 61  Kokott/Sobotta, EuGRZ 2010, S. 265 (271); Mehde, EuGRZ 2008, S. 269 (273).



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK87

stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander. Zwar enthält Art. 6 Abs. 2 EUV die Ermächtigung und den Auftrag an die Union, der EMRK beizutreten.62 Der Beitritt ist bislang noch nicht erfolgt,63 sodass die EMRK keine Rechtsquelle für den Grundrechtsschutz in der Union darstellt. Laut Art. 6 Abs. 3 EUV gehören „Die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind (…) als allgemeine Grundsätze …“ zum Unionsrecht. Die Vorschrift nimmt mit der Nennung der allgemeinen Rechtsgrundsätze Bezug auf die prätorische Grundrechtsprechung des EuGH, die sich vornehmlich auf die EMRK als Erkenntnisquelle bezieht. Die Rechte der EMRK dienen als Rechtserkenntnisquelle für die allgemeinen Grundsätze als Rechtsquelle des Unionsrechts. Der Geltungsgrund dieser Rechte liegt in ihrer Natur als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts.64 Der Gehalt der EMRK ist demgemäß im Wesentlichen bereits Teil des Unionsrechts in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze. Hinzu tritt als weitere Erkenntnisquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze die gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten. Daraus und aus der Formulierung des Art. 6 Abs. 1 EUV, wonach die Union die Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Grundrechtecharta „anerkennt“, könnte geschlossen werden, dass es sich bei der Grundrechtecharta um nicht mehr als die Zusammenfassung bestehender Rechte der EMRK einerseits und darüber hinausgehender Verfassungsüberlieferungen andererseits handelt und die Grundrechtecharta deshalb nicht über den bisher erreichten Grundrechtsschutz hinausgeht. So heißt es in Erwägungsgrund drei der Präambel der Charta, dass es das Anliegen des Konvents war, die Grundrechte in einer Charta sichtbar zu machen. Daher bekräftige sie die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der EMRK, aus den Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR ergeben. Die Formulierung erweckt den Anschein, als würde es sich bei der Grundrechtecharta letztlich nur um die Zusammenfassung des zum Zeitpunkt der Erarbeitung der Grundrechtecharta bestehenden gemeineuropäischen Grundrechtsschutzes handeln, um einen menschenrechtlichen „common core“. Die Leistung der Grundrechtecharta läge nur in einer Sichtbarmachung der Rechte, ohne dass inhaltlich neues Recht geschaffen worden wäre. 62  Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 6 EUV Rn. 37. 63  Der EuGH hat den jüngsten Entwurf eines Übereinkommens zum Beitritt der Europäischen Union zur EMRK für primärrechtswidrig erklärt und dadurch den Beitritt der Union zur EMRK in weitere Ferne gerückt, EuGH, Gutachten 2/13 vom 18.12.2014, nicht veröffentlicht. 64  Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, Europäisches Unionsrecht, Bd.  1, Art. 6 EUV Rn. 22; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 7.

88 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Diese Sichtweise mag zwar für die Zeit vor dem Inkrafttreten der Verträge von Lissabon überzeugend gewesen sein, da die Grundrechtecharta nicht rechtsverbindlich sondern nur Rechtserkenntnisquelle für die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts war. Etwas anderes gilt aber für den status quo seit Inkrafttreten der Verträge von Lissabon. Die Geltungsanordnung des Art. 6 Abs. 1 EUV hat Erwägungen, die im Wesentlichen den Charakter der Grundrechtecharta als Rechtserkenntnisquelle unterstreichen, überholt. Es handelt sich bei der Charta nicht um eine „Kodifikation“ im Sinne der Zusammenfassung bestehenden Rechts unter Aufhebung des vormals bestehenden, ohne dabei inhaltliche Änderungen vorzunehmen,65 denn der überkommene Bestand an Grundrechten besteht fort. Es handelt sich aber auch nicht nur um die „Sichtbarmachung“ bestehender Grundrechte, denn dann wäre es unnötig gewesen, die Charta in den Rang des Primärrechts zu erheben. Es hätte ausgereicht, die Grundrechtecharta neben der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten dem Kanon der Rechtserkenntnisquellen hinzuzufügen. Außerdem wird an der Diskussion zu etlichen Vorschriften der Grundrechtecharta deutlich, dass es einen Konsens bezüglich der Normen der Grundrechtecharta nicht gab, nicht einmal einen Konsens, nur Bestehendes zu verschriftlichen.66 Auch die Überlegungen des Verfassungskonvents deuten darauf hin, dass der heutige Art. 6 Abs. 3 EUV nicht begrenzende, sondern öffnende, gegebenenfalls zukünftig erweiternde Funktion hat.67 Der Konvent konnte noch nicht wissen, ob und wenn ja in welcher Form die Charta Rechtsverbindlichkeit erlangen würde. Der Konvent diskutierte, ob bei Verbindlichwerden der Charta ein Verweis auf die „externen Quellen“ der Grundrechte beibehalten werden sollte. Als externe Quellen werden die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und die EMRK genannt. Der Konvent spricht in diesem Zusammenhang offenbar von Rechtserkenntnisquellen, denn Rechtsquelle der Grundrechte waren zu dem Zeitpunkt ausschließlich die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts. Einige Mitglieder des Konvents lehnten einen weiteren Verweis ab, weil er Verwirrung schaffen könnte. Andere wiesen darauf hin, dass der Verweis bestehen bleiben könne, um den Schutz der Charta zu ergänzen und zu verdeutlichen, dass künftige Entwicklungen in das Unionsrecht einbezogen werden könnten. Daraus wird deutlich, dass auch diejenigen Mitglieder, die eine Beibehaltung des Verweises befürworteten, die 65  Mit diesem Begriffsverständnis ABl. C Nr. 102 v. 4.4.1996, S. 2, so auch Stimmen im Konvent, vgl. Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 135, 164 ff., 302. 66  Deutlich in der Diskussion über den heutigen Art. 9 GRC, dazu Bernsdorff/ Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle. S. 184 ff., unten S. 92 ff. 67  CONV 354/02 v. 22.10.2002, S. 9.



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK89

Möglichkeit eines höheren Schutzniveaus in der Zukunft ermöglichen wollten, nicht jedoch die Entfaltung einer chartarechtlichen Dogmatik unterbinden wollten. Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV „wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen (…) ergeben“ deutet ebenfalls darauf hin, dass sich zuvörderst auf die Charta zu beziehen ist. Die Verfassungsüberlieferungen waren zwar eine Inspirationsquelle der Charta, diese stellt aber durch die Ausarbeitung durch den Konvent und die verbindliche Festschreibung im Range des Primärrechts den zukünftigen Bezugspunkt der Dogmatik dar. Die Rechte haben durch ihre Kodifikation „einen Transformationsprozess durchlaufen“.68 Zum einen, weil sie durch einen eigens beauftragten Konvent ausgearbeitet wurden, zum anderen durch die Geltungsanordnung des Art. 6 Abs. 1 EUV. Die Charta wurde von einer Rechtserkenntnisquelle zu einer Rechtsquelle und hat sich dadurch rechtlich von ihren Inspirationsquellen emanzipiert. Art. 6 EUV deutet deshalb nicht darauf hin, dass die Charta selbst keinen eigenen Regelungsgehalt hätte, sondern billigt ihr einen solchen im Gegenteil erst zu, indem er ihr den Rang einer primärrechtlichen Rechtsquelle zuweist. Die Auslegung der GRC beschränkt sich aus diesen Gründen nicht auf den Vergleich der entsprechenden Grundrechtsnormen der Mitgliedstaaten. Die gemeinsame Verfassungsüberlieferung ist ein Aspekt bei der Auslegung der Grundrechtecharta, aber nicht der entscheidende. Die Grundrechtecharta hat Teil an der Autonomie des Unionsrechts und ist deshalb ebenso autonom auszulegen. 2. Das Verhältnis der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu den Grundrechten und Grundsätzen der Grundrechtecharta Mit der Grundrechtecharta steht im Recht der Europäischen Union erstmals ein geschriebener Grundrechtskatalog im Rang von Primärrecht zur Verfügung. Als Systematisierung und Fortentwicklung des prätorischen Grundrechtsschutzes durch den EuGH in Form eines Grundrechtskataloges würde sie ihrer Funktion beraubt, bezöge sich der EuGH vornehmlich auf die ungeschriebenen Grundrechte. Deshalb ist die Grundrechtecharta für die Beurteilung grundrechtlicher Fragen vorrangig heranzuziehen. Die ausdrückliche Nennung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsquelle muss dennoch ernst genommen werden, sodass ihnen die Rolle einer „Öffnungsklausel“ zukommen kann,69 deren Anwendung aber vor dem Hintergrund der 68  Ladenburger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 76. 69  In diesem Sinne Lenaerts, EuR 2012, S. 3 (17); Ludwig, EuR 2011, S. 715; weitergehend Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen

90 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

rule of law besonderer Rechtfertigung bedarf70 und zum gegenwärtigen Zeitpunkt angesichts des ganzheitlichen Ansatzes der Grundrechtecharta nicht erforderlich scheint. Dennoch sind die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als Rechtserkenntnisquelle nicht bedeutungslos geworden. In Art. 52 Abs. 4 GRC findet sich die ebenfalls zu Primärrecht erstarkte Anweisung, diejenigen Normen der Grundrechtecharta, die auf den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten fußen, „im Einklang“ mit diesen auszulegen. Fraglich ist, welcher Anwendungsbereich Art. 52 Abs. 4 GRC zukommt. Art. 52 Abs. 3 GRC, der die Einbeziehung der Gehalte der EMRK regelt, wird teilweise für lex specialis gegenüber Art. 52 Abs. 4 GRC gehalten. Art. 52 Abs. 4 GRC wäre demnach nur auf diejenigen Rechte der Charta anwendbar, die nicht ganz oder im Wesentlichen solchen der EMRK entsprechen.71 Im Falle von Art. 9 und 7 GRC, die womöglich im Wesentlichen Art. 12 und 8 der EMRK entsprechen, käme Art. 52 Abs. 4 GRC dieser Ansicht nach nicht zur Anwendung. Da sich die Grundrechte der Grundrechtecharta aber nicht stets einer einzigen Inspirationsquelle zuordnen lassen, ist der generelle Ausschluss der Anwendbarkeit des Art. 52 Abs. 4 GRC neben den anderen Absätzen des Art. 52 der Charta abzulehnen.72 Einer Ansicht zufolge räumt Art. 52 Abs. 4 GRC den Mitgliedstaaten Spielräume ein, sofern Rechte der Charta über die Gewährleistung ihrer Inspirationsquellen hinaus gehen und es an einem Konsens der Mitgliedstaaten fehlt oder Auslegungsfragen besonders kontrovers sind, z. B. weil die ethischmoralischen Auffassungen darüber in den Mitgliedstaaten erheblich divergieren.73 Die Auslegung „im Einklang mit“ den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen deutet aber im Gegenteil darauf hin, dass das Bestehen einer gemeinsamen Verfassungsüberlieferung Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 52 Abs. 4 GRC ist. Lässt sich bezüglich einer Frage keine gemeinUnion, 3. Aufl., Vorbemerkungen zu Titel VII, Rn. 15; a. A. Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV Rn. 17, dem allerdings darin zuzustimmen ist, dass der EuGH jedenfalls keine neuen Rechte schöpfen darf, die die Kompetenzen der Mitgliedstaaten beschränken. 70  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 EUV, Rn. 17. 71  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 44b; Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 73; a. A. noch Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl., Art. 52 Rn. 67, nunmehr offengelassen von Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 66. 72  Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 226; Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 394 f. 73  Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zu Europäi­ schen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 79.



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK91

same Verfassungsüberlieferung feststellen, kann die Charta auch nicht „im Einklang“ mit ihr ausgelegt werden. Gibt es sie, spricht vieles dafür, auch die Charta entsprechend auszulegen, um Divergenzen zu vermeiden. Erforderlich ist der ausdrückliche Hinweis darauf in Art. 52 Abs. 4 GRC jedoch nicht. Art. 52 Abs. 4 GRC verknüpft die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten nur noch einmal ausdrücklich mit den verschriftlichten Grundrechten bzw. Grundsätzen der Grundrechtecharta, sodass bei der Auslegung der Charta gleichsam eine Dialektik der Grundrechtsquellen entsteht. Es ist anzunehmen, dass die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen deshalb in Zukunft ausschließlich im Rahmen der Auslegung der Chartarechte diskutiert werden. Die Charta bedeckt schließlich den gesamten Raum des Grundrechtsschutzes. Entwicklungen in den Mitgliedstaaten in Richtung eines verstärkten Grundrechtsschutzes kann der EuGH, ähnlich dem EGMR, bei der Auslegung der Charta einbeziehen. Demnach treten die allgemeinen Rechtsgrundsätze als subsidiär hinter die Grundrechte und Grundsätze der Grundrechtecharta zurück. Angesichts der umfangreichen Regelungen von Ehe und Familie in den Art. 7, 9 und 33 Grundrechtecharta spielen die Grundrechte zu Ehe und Familie als allgemeine Rechtsgrundsätze für den Grundrechtsschutz in der Europäischen Union keine Rolle. Die gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten kann jedoch für die Auslegung der Grundrechte und Grundsätze der Grundrechtecharta von Bedeutung sein.

III. Die Bedeutung von Art. 52 Abs. 3 S. 1 und 2 GRC für die Dogmatik des Schutzes von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta Im Konvent gingen die Ansichten über den Inhalt der zukünftigen Grundrechtecharta auseinander.74 Grundsätzlich bestand aber Einigkeit darüber, dass mindestens die bereits bestehenden Rechte der Unionsrechtsordnung Eingang in die Charta finden müssten und eine Divergenz zwischen der Grundrechtecharta und der EMRK als wichtigster Rechtserkenntnisquelle der Grundrechte der Europäischen Gemeinschaften vermieden werden sollte. Viele Rechte der Grundrechtecharta sind deshalb nicht nur inhaltlich von der EMRK inspiriert, sondern auch ähnlich formuliert. Das gilt auch für zwei der Normen zum Schutz von Ehe und Familie, Art. 7 und 9 GRC. Beide Normen haben eine große textliche Ähnlichkeit mit Art. 8 und 12 EMRK. Dass sich der Konvent bei der Formulierung der beiden Grundrechte an den Gewährleistungen der EMRK orientiert hat, wird auch aus den Erläuterungen des 74  Jarass,

Charta der Grundrechte der EU, Einleitung Rn. 5.

92 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Präsidiums zur Grundrechtecharta deutlich, laut derer die in Art. 7 GRC gewährleisteten Rechte denjenigen in Art. 8 EMRK entsprechen und sich Art. 9 GRC auf Art. 12 EMRK stützt.75 Der Konvent hat es nicht dabei bewenden lassen, die Formulierung der Rechte der Charta an dem Wortlaut der Rechte der EMRK zu orientieren. In Titel VII der Grundrechtecharta, der allgemeine Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta enthält, regelt Art. 52 Abs. 3 GRC explizit das Verhältnis der Grundrechtecharta zur EMRK. Für den Fall, dass Rechte der Grundrechtecharta solchen der EMRK „entsprechen“, haben sie gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie die entsprechenden EMRK-Rechte. Angesichts der großen Ähnlichkeit zwischen Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK sowie Art. 9 GRC und Art. 12 EMRK könnte eine Entsprechung i. S. d. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC vorliegen, sodass Art. 7 und 9 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie Art. 8 und 12 EMRK. Die Frage des Einflusses der Art. 8 und 12 EMRK auf Art. 7 und 9 GRC hängt wesentlich davon ab, wie Art. 52 Abs. 3 GRC auszulegen ist. Die Schwierigkeit der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC besteht darin, dass mit „entsprechen“ und „Bedeutung und Tragweite“ keine aus der Grundrechtsdogmatik bekannten Begrifflichkeiten verwendet werden. Dadurch treten genetisch-teleologische Argumente in den Vordergrund.76 1. Die Diskussion im Konvent über die inhaltliche Reichweite des Grundrechtsschutzes durch die Grundrechtecharta Im Konvent wurde bereits früh die Auffassung vertreten, dass der Grundrechtsschutz durch die Charta keinesfalls unter das Schutzniveau der EMRK absinken dürfe.77 Aus dem vorbereitenden Dokument zu den Beratungen über die Querschnittsklauseln der Charta wird deutlich, dass dies das wichtigste Anliegen des Konvents war. Die EMRK stelle eine „Mindestnorm“ dar.78 Ob die EMRK dabei tatsächlich nur einen Mindeststandard vorgeben oder ob eine Deckungsgleichheit der Rechte der EMRK mit den entsprechenden Rechten der Charta bezweckt werden sollte, wird in den folgenden Do75  Abl.

C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (20). die Wichtigkeit der Erläuterungen betonend Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 31 ff. 77  In diesem Sinne CONVENT 27, Charte 4235/00, Begründung zu H.2 und H.4, sowie die Äußerung Altmaiers in den Beratungen. Dazu Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 238. 78  CHARTE 4111/00, S. 5. 76  Stattdessen



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK93

kumenten nicht klar, es wurden dazu seitens der Mitglieder des Konvents unterschiedliche Meinungen vertreten.79 Letztlich hängt die Beantwortung der Frage, ob ein weitergehender Schutz durch die Charta gewährleistet werden kann, von dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC ab. Man könnte diese letzte Formulierung nämlich sowohl als Erweiterung der vorigen Formulierung verstehen, sodass ein weitergehender Schutz nunmehr durch das gesamte Recht der Union inklusive der Charta gewährt werden kann, als auch als Einschränkung auf das (sonstige) Recht der Union, also das sonstige Primär- oder Sekundärrecht, sodass Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC lediglich deklaratorischen Charakter hätte.80 Das Meinungsbild im Konvent zum Verständnis dieser Vorschrift war jedenfalls nicht einheitlich. Der Abgeordnete Korthals Altes merkte dazu an, dass die Charta durchaus weitergehende Rechte gewähren könne als die EMRK, dass allerdings zu diskutieren sei, an welcher Stelle dies der Fall sein könne.81 Gerade weil die Charta Rechte enthalte, die weiter gingen als diejenigen der EMRK, sei die Formulierung des Art. 52 Abs. 3 wenig klar.82 Etwas deutlicher formulierte es Konventsmitglied Manzella,83 der davon ausging, dass die Charta ein dynamisches Element enthalte und deshalb auch die aus der EMRK bekannten Rechte verstärken dürfe. Hirsch Ballin und Dehaene hingegen gingen von einer Deckungsgleichheit der Rechte aus, eine unterschiedliche Auslegung solle vermieden werden.84 Vitorino war der Ansicht, dass wenn sich Chartarechte in der EMRK wiederfänden, diese einheitlich ausgelegt werden müssten. Aber gerade bei Art. 9 GRC bestehe, da dieser weiter gehe als die EMRK, eine Autonomie der Charta.85 Noch weitergehend sah Méndez de Vigo in Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC grundsätzlich eine evolutive Klausel.86 Hinsichtlich des Anwendungsbereiches des Art. 52 Abs. 3 GRC wurde teilweise verlangt, dass das Präsidium eine 79  Vgl. die Darstellung bei Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 303 ff. 80  So Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 165. 81  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 389. 82  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 397. 83  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 389. 84  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 391. 85  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 405. 86  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 406.

94 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Liste mit denjenigen Rechten der Charta erstellen solle, die denen der EMRK entsprechen.87 2. Die Bedeutung der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta für die Auslegung von Art. 52 Abs. 3 GRC Eine Liste der Rechte der Grundrechtecharta, die Rechten der EMRK entsprechen, ist nunmehr Teil der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta geworden. In den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta finden sich überdies Aussagen zum normativen Gehalt des Art. 52 Abs. 3 GRC. Das wirft zunächst die Frage auf, welche Relevanz den Erläuterungen des Präsidiums bei der Anwendung der Normen der Grundrechtecharta zukommt. Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta sind gemäß Art. 6 Abs. 1 uA 3 EUV bei der Auslegung der Grundrechtecharta gebührend zu berücksichtigen. Zunächst wird deshalb allgemein geklärt, welche rechtliche Qualität den Erläuterungen des Präsi­ diums zur Grundrechtecharta von den Mitgliedstaaten zugemessen wurde (s. lit. a]). Sodann werden die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 Abs. 3 GRC untersucht (s. lit. b]). a) Die rechtliche Qualität der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta gemäß Art. 6 Abs. 1 uA 3 EUV Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta88 sind gemäß Art. 6 Abs. 1 uA 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 GRC bei der Auslegung der Charta gebührend zu berücksichtigen. Das bedeutet nicht, dass die Erläuterungen bindend wären.89 Die Erläuterungen sind selbst nicht Teil des Primärrechts. Teilweise werden sie als Rechtserkenntnisquelle eingestuft.90 Laut der Einleitung zu den Erläuterungen haben sie jedoch „als solche keinen rechtlichen Status“. Sie seien vielmehr eine „nützliche Interpretationshilfe“ und dienten als Anleitung für die Auslegung der Grundrechtecharta. 87  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 11. 88  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17. 89  Ein derartiger Vorschlag Goldsmiths, die Erläuterungen als Teil II der Charta beizufügen, konnte sich im Konvent nicht durchsetzen, vgl. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 66 f. Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 65. 90  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 81.



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK95

Die Erläuterungen fließen dabei ähnlich einem authentischen Kommentar in die Auslegung der Grundrechtecharta ein. Sie sind eine wesentliche Quelle genetischer Argumentation bei der Auslegung der Grundrechtecharta. Das Bedürfnis zweier ausdrücklicher Verweise im Primärrecht auf die Erläuterungen mag auch dem Umstand geschuldet sein, dass genetische Argumente bei der Auslegung des Primärrechts durch den EuGH insgesamt eher eine untergeordnete Rolle spielen.91 Sie sollten durch den Verweis für die Auslegung der Grundrechtecharta aufgewertet werden. Vor allem Großbritannien bestand auf die Einfügung des primärrechtlichen Verweises92 wohl mit dem Ziel, das Risiko der Entwicklung einer dynamisch-evolutiven Grundrechtsdogmatik durch den EuGH zu unterbinden. Dieses Ziel dürfte durch die Vorschrift jedoch nicht erreicht worden sein. Auch wenn genetische Argumente bei der Auslegung der Grundrechtecharta heranzuziehen sind, normieren die Verweise in Art. 6 Abs. 1 uA 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 GRC kein Übergewicht der genetischen Auslegung. Die „gebührende“ Berücksichtigung bei der Auslegung mag auf den ersten Blick nach einer gesteigerten Einbeziehung aussehen, kann aber auch gegenteilig interpretiert werden.93 Die Norm kann dahingehend verstanden werden, dass die Überzeugungskraft der Erläuterungen im Laufe der Zeit aufgrund fortgeschrittener Integration und sich wandelnder rechtlicher und sozialer Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten abnimmt. Weiterhin kann „gebührend“ auch bedeuten, dass die Erläuterungen im Kontext ihrer Entstehung zu lesen sind: Es handelt sich bei ihnen gerade nicht um eine umfassende Dokumentation des Entstehungsprozesses der Grundrechtecharta oder eine konsensual oder mehrheitlich als zwingend oder richtig angesehene Interpretation der Grundrechte der Charta, sondern lediglich um das Verständnis des Konventspräsidiums von den Abläufen im Konvent und der Auslegung der Grundrechtecharta. Insbesondere kann nicht ohne weiteres angenommen werden, dass die Erläuterungen sämtlich das Verständnis aller oder einer Mehrheit der Mitgliedstaaten widerspiegelt. Es besteht deshalb für den Rechtsanwender nur eine Begründungspflicht, warum von dem in den Erläuterungen niedergelegten Verständnis abgewichen werden soll.94 Bei der Auslegung des Merkmals „gebührend“ zeigt sich einmal mehr die Problematik der Einbeziehung der Entstehungsgeschichte bei der Auslegung des Primärrechts:95 Der Verweis wurde auf Betreiben Großbritan91  Zur Bedeutung historischer Auslegung in der Rechtsprechung des EuGH Dederichs, Die Methodik des EuGH, insb. S. 118, 122. 92  Meyer, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel Rn. 45a. 93  Epping, JZ 2003, S. 821 (826). 94  Schmidt, C. P., Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 136; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 47b. 95  Dazu Müller/Christensen, Juristische Methodik, Band II, Europarecht, S. 342 ff.

96 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

niens und der Niederlande eingefügt. Zwar „wollten“ offenbar auch die anderen Vertragsparteien die Formulierung als Kompromiss aufnehmen, dass sie aber den konsensualen oder nur mehrheitlichen Willen hatten, dem vermeintlichen Anliegen der Niederlande und des Vereinigten Königreichs vollumfänglich entgegenzukommen, kann daraus nicht geschlossen und wohl auch nicht angenommen werden.96 b) Die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 Abs. 3 GRC In den Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 Abs. 3 GRC ist die Rede von der Schaffung „notwendiger(r) Kohärenz“ mit der EMRK.97 Deshalb werde die Regel aufgestellt, dass diejenigen Rechte der Grundrechtecharta, die solchen der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite besitzen sollen, wie sie ihnen in der EMRK zugemessen werden. Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta wiederholen insofern den Normtext des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC. Eine Ergänzung liegt jedoch darin, dass die Bedeutung und Tragweite der Rechte der Charta den korrespondierenden Rechten der EMRK „einschließlich der zugelassenen Einschränkungen“ gleichen soll. Die Bedeutung und Tragweite im Sinne des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC umfasst demgemäß nach der Auffassung des Präsidiums auch die Schranken und möglicherweise Schranken-Schranken der Rechte der Grundrechtecharta. Der Gesetzgeber müsse bei der Beschränkung der Rechte die Schranken der entsprechenden EMRK-Rechte einhalten, „die damit auch für die von diesem Absatz erfassten Rechte gelten“ ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts oder des EuGH berührt werde. Das Präsidium geht mit der Betonung der Eigenständigkeit des Unionsrechts, trotz der Formulierung, dass die Schranken der EMRK auch für die von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC erfassten Rechte „gelten“ offenbar davon aus, dass Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC eine Auslegungsregel enthalte, nicht jedoch, dass Teile der EMRK formell in die EMRK inkorporiert werden sollten. Die Formulierung weist jedoch nicht eindeutig darauf hin, ob ein Mindeststandard oder die Deckungsgleichheit von Grundrechtecharta und EMRK gemeint sein könnte. Das hängt vielmehr davon ab, in wieweit eine Harmonisierung der beiden Grundrechtsregime „notwendig“ ist. Eindeutig geht aus den Erläuterungen jedenfalls hervor, dass solche Rechte der Grundrechtecharta, deren Schutzbereiche über diejenigen der EMRK hinausgehen, bezüglich dieses „überschießenden“ Teils nicht in den Anwendungsbereich des Art. 52 96  A. A. Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 83. 97  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (33).



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK97

Abs. 3 S. 1 fallen sollen. Dass der Konvent jedenfalls ein Absinken des Schutzes der Grundrechtecharta unter das Schutzniveau der EMRK verhindern wollte, erklärt sich aus den vielfältigen möglichen Konfliktlagen und den daraus folgenden Problemen, sollte der Grundrechtsschutz der Union schwächer sein als derjenige der EMRK. Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta verdeutlichen demgemäß, dass das Schutzniveau der Grundrechtecharta nicht unterhalb dessen der EMRK liegen soll, eine eindeutige Aussage darüber, ob ein höherer Schutz möglich ist, wenn ein Recht der Grundrechtecharta einem Recht der EMRK entspricht, lässt sich den Erläuterungen hingegen nicht entnehmen. 3. Das Mandat des Europäischen Rates in Köln zur Erarbeitung der Grundrechtecharta Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der EU trafen auf dem Europäischen Rat in Köln den Beschluss, eine Charta der Grundrechte der Europäischen Union entwerfen zu lassen. Nach Auffassung der Staatsund Regierungschefs soll die Grundrechtecharta die „überragende Bedeutung der Grundrechte“ sichtbar machen. Weiterhin heißt es in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, dass die Grundrechtecharta die Freiheits- und Gleichheitsrechte umfassen soll, die in der EMRK gewährleistet werden.98 Mit einer Grundrechtecharta, die weniger enthielte als den europäischen Mindeststandard der EMRK, wäre der Auftrag der Staats- und Regierungschefs verfehlt. Dass die Grundrechtecharta einen über die Gewährleistungen der EMRK hinausreichenden Grundrechtsschutz gewährleisten kann, wird durch den Beschluss des Europäischen Rates in Köln weder verlangt noch ausgeschlossen. 4. Gefahr des Zurückbleibens des Schutzniveaus der Grundrechtecharta hinter dem Schutzniveau der allgemeinen Rechtsgrundsätze Die Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts sind trotz der verbindlichen Wirkung der Grundrechtecharta durch das Vertragswerk von Lissabon gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV als Grundrechtsquelle erhalten geblieben. Erkenntnisquelle dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze stellt nach der Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 EUV ausdrücklich auch die EMRK dar. Wäre der Schutz durch die EMRK in Gestalt ihrer Auslegung durch den EGMR nicht Mindestinhalt der Grundrechtecharta, bliebe diese hinter dem Schutzniveau der Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze 98  EuGRZ

1999, S. 364.

98 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

zurück. Das Ziel, die schon bestehenden Grundrechte in der Union durch die GRC sichtbar zu machen, wäre damit verfehlt. Eine Grundrechtskodifikation, die hinter dem bereits als ungeschriebene Grundsätze bestehenden aquis communautaire zurückbliebe, erschiene insgesamt sinnlos. Dies spricht allerdings nicht gegen einen höheren Schutz durch die Grundrechtecharta, sondern nur für einen mindestens gleichwertigen. 5. Konflikte mit der EMRK bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten Alle Mitgliedstaaten der Union sind Signatare der EMRK. Nach der Rechtsprechung des EGMR sind sie auch bei der Durchführung des Unionsrechts an die EMRK gebunden.99 Wäre Unionsrecht konventionswidrig, aber nicht chartawidrig, gerieten die Mitgliedstaaten in einen Konflikt, wenn das Unionsrecht ihnen keine Ermessensspielräume ließe, die es erlauben würden, das Unionsrecht konventionskonform durchzuführen. Das Unionsrecht muss aufgrund des Anwendungsvorrangs, den es auch gegenüber den nationalen Verfassungen beansprucht, dennoch durchgeführt werden. Gleichzeitig sind die Mitgliedstaaten auch der EMRK verpflichtet100 und müssten diese dann gegebenenfalls verletzen. Die Entscheidung des EGMR im Fall Bosphorus spricht auf den ersten Blick dafür, dass es zu einem derartigen Dilemma faktisch nicht kommen kann.101 Der EGMR hat in diesem Fall festgestellt, dass die Beachtung des Gemeinschaftsrechts ein berechtigtes Interesse der Mitgliedstaaten von erheblichem Gewicht ist. Er hält ein Handeln der Mitgliedstaaten in Ausführung des Unionsrechts daher so lange für gerechtfertigt im Sinne der EMRK, wie die Union einen der EMRK vergleichbaren Grundrechtsschutz sicherstellt. Vergleichbar sei dabei nicht im Sinne von identisch, sondern lediglich im Sinne von gleichwertig zu verstehen.102 Sofern das Europarecht einen solchen gleichwertigen Schutz biete, gelte eine Vermutung der Konventionsrechtskonformität mitgliedstaatlichen Handelns in Erfüllung ihrer europarechtlichen Verpflichtungen. Den durch das Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundrechtsschutz sah der EGMR dabei als dem der EMRK gleichwertig an, wobei er auch auf die – zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht rechtsverbindliche – Grundrechtecharta abstellte, die nach Auffassung des 99  EGMR,

Urt. v. 30.6.2005, NJW 2006, S. 197 (202). jedenfalls völkerrechtlich, in einigen Mitgliedstaaten hat die EMRK sogar Verfassungsrang. 101  EGMR, Urt. v. 30.6.2005, NJW 2006, S. 197. 102  EGMR, Urt. v. 30.6.2005, NJW 2006, S. 197 (202). 100  Dies



B. Verhältnis zwischen Grundrechtsquellen der EU und der EMRK99

EGMR die EMRK als Mindeststandard der Menschenrechte anerkenne.103 Die Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes in der EU wird aber vom EGMR laufend im Hinblick auf Veränderungen im Recht der Union überprüft.104 Die Vermutung eines gleichwertigen Schutzes ist zudem widerlegbar, nämlich wenn in einem bestimmten Fall anzunehmen ist, dass der Schutz der Rechte der EMRK durch das Unionsrecht offensichtlich unzureichend ist.105 In Fällen, in denen die Mitgliedstaaten Europarecht durchführen und ihnen dabei kein Entscheidungsspielraum verbleibt, nimmt der EGMR folglich seine Prüfungskompetenz zurück. Er beschränkt sich auf die Prüfung, ob ein gleichwertiger Schutz im Recht der Union gegeben ist und ob die dadurch etablierte Vermutung, dass Eingriffe in die Grundrechte gerechtfertigt sind, nicht ausnahmsweise dadurch widerlegt ist, dass der Schutz im Einzelfall offensichtlich unzureichend ist. Diese Zurückhaltung des EGMR hängt mithin von einer qualitativ gleichwertigen Grundrechtsjudikatur des EuGH ab. Der Bosphorus-Ansatz des EGMR ist damit zwar geeignet, das Konfliktpotential zwischen EMRK und Europarecht zu verringern, Voraussetzung dafür ist aber, dass die europäischen Grundrechte mindestens das Schutzniveau der EMRK erreichen.106 Die Strategie des EGMR erscheint vor diesem Hintergrund nicht als Argument gegen die Möglichkeit von Konflikten zwischen dem Europarecht und dem Recht der EMRK, sondern es ist gerade Voraussetzung für das Kooperationsverhältnis der Gerichte in Straßburg und Luxemburg, dass der Grundrechtsschutz in der Union mindestens auf dem Niveau der EMRK liegt. Die Bosphorus-Entscheidung des EGMR bedeutet daher keine abgeschwächte Bindung der Mitgliedstaaten an das Recht der EMRK, wenn sie Unionsrecht durchführen, sondern lediglich eine zurückgenommene Prüfungsdichte des EGMR. Um Konflikte mit der EMRK zu vermeiden, muss die Grundrechtecharta deshalb auch unter der Ägide der Bosphorus-Rechtsprechung des EGMR mindestens das Schutzniveau der EMRK erreichen. Ein weitergehender Schutz der Charta ist dadurch wiederum nicht ausgeschlossen. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Grundrechtecharta das Grundrechtsschutzniveau der EMRK jedenfalls nicht unterschreiten darf. Dafür, dass die Grundrechtecharta die Gewährleistungen der EMRK nicht auch verstärken darf, finden sich keine stichhaltigen Argumente.

103  EGMR,

Urt. v. 30.6.2005, NJW 2006, S. 197 (203). Urt. v. 30.6.2005, NJW 2006, S. 197 (202). 105  EGMR, Urt. v. 30.6.2005, NJW 2006, S. 197 (202). 106  Dazu Haratsch, ZaöRV 2006, S. 927 (943 f.). 104  EGMR,

100 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

C. Tragweite derjenigen Chartarechte, die solchen der EMRK entsprechen Mit dem Telos vor Augen, den Schutz der Grundrechtecharta nicht unter das Niveau des Schutzes der EMRK absinken zu lassen, sind Art. 52 Abs. 3 S. 1 und 2 GRC auszulegen. Zunächst müssen Rechte der EMRK und der Grundrechtecharta einander „entsprechen“, um den Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 GRC zu eröffnen (I.). Als Rechtsfolge ordnet die Norm die gleiche Bedeutung und Tragweite des Rechts der EMRK und des entsprechenden Rechts der Grundrechtecharta an (II.).

I. „Entsprechen“ der Rechte Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird.“

Es ist demzufolge ein Sich-entsprechen von Art. 7 und 9 GRC und Art. 8 und 12 EMRK erforderlich, um die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC für den Schutz von Ehe und Familie im europarechtlichen Grundrechtsregime auszulösen. Was genau unter einer Entsprechung der Rechte zu verstehen ist, wird unterschiedlich beantwortet. Nach allgemeiner Auffassung ist jedenfalls keine wörtliche Übereinstimmung der zu vergleichenden Artikel der Grundrechtecharta und der EMRK erforderlich.107 Nach einer Ansicht ist die Regelung des Art. 52 Abs. 3. S. 1 GRC zirkulär, da die Anordnung der gleichen Bedeutung und Tragweite dazu führe, dass sich die Grundrechte entsprächen, dies jedoch bereits die Tatbestandsvoraussetzung sei. Es müsse daher notwendigerweise auf die Liste in den Erläuterungen des Präsidiums abgestellt werden.108 Teilweise wird unter dem „Ent107  Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 158, Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: Cremer (Hrsg.) FS Steinberger, S. 1129 (1136), Lutzhöft, Eine objektiv-rechtliche Gewährleistung der Rundfunkfreiheit in der Europäischen Union?, S. 45. So auch Weiß, ZEuS 2005, S. 323 (330); Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, S. 93. 108  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 31; Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 203 ff.; Auf die Erläuterungen stellt auch Schmidt, C., Rechtsnatur und Verpflichtungsdichte der Europäischen Grundrechte, S. 103, ab; Strunz, Strukturen des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union in ihrer Entwicklung, S. 156.



C. Tragweite derjenigen Chartarechte, die solchen der EMRK entsprechen101

sprechen“ eine Übereinstimmung des Schutzbereiches verstanden.109 Drittens wird vertreten, dass sich die Regelungsbereiche, also die von der Norm zu regelnden Lebenssachverhalte, überschneiden müssen, um eine Entsprechung der Rechte bejahen zu können.110 Der Verweis auf die die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta hilft dogmatisch nicht weiter. Dass die Erläuterungen des Präsidiums gebührend zu berücksichtigen sind, ordnen Art. 6 Abs. 1 uA 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 GRC ausdrücklich an, doch sind sie Auslegungshilfe, kein Auslegungsmittel. Sie entbinden den Rechtsanwender nicht von der Aufgabe der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRC.111 Die Erläuterungen bieten deshalb nützliche Hinweise darauf, wie die Mitgliedstaaten als Normgeber das Verhältnis der Rechte des Grundrechtecharta zu denen der EMRK verstanden wissen wollen, sie sind aber nicht zwingend. Die Übereinstimmung der Schutzbereiche zu fordern, liefe dem erklärten Ziel des Konvents und dem Telos der Norm zuwider, die EMRK jedenfalls als einen Mindeststandard des Grundrechtsschutzes zu etablieren. Die Schutzbereichsauslegung auch sprachlich identischer Merkmale könnte angesichts der verschiedenen mit dieser Auslegungsaufgabe betrauten Gerichte und der unterschiedlichen Natur der EMRK und des Unionsrechts zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. In dem Bereich, in dem sich die Schutzbereiche nicht deckten, käme es angesichts der Anordnung in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC („soweit“) zu dem Ergebnis, dass die Rechtsfolge, gleiche Bedeutung und Tragweite in der Grundrechtecharta wie in der EMRK, nur für den Überschneidungsbereich anzuwenden wäre. Sähe man dies anders und ließe mithin eine punktuelle Schutzbereichsüberschneidung genügen und folgerte sodann aus der Rechtsfolge auch die gleiche „Bedeutung und Tragweite“ des Schutzbereiches, käme es zu dem wenig überzeugenden Ergebnis, dass der Schutzbereich der Rechte der GRC autonom auszulegen wäre, um ihn sodann bei Teilentsprechung mit einem Recht der EMRK dem dort ermittelten Schutzbereich wieder anzugleichen. Fasste man die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC zudem als Auslegungsdirektive, nicht als Transferklausel (in diesem Fall der Schutzbereiche) auf, wäre der EuGH gezwungen, seine selbst gefundene Auslegung unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR wieder zu korrigieren. Die Entsprechung der Rechte ist der Auslegung ihrer Schutzbereiche vorgelagert. Dass der Schutzbereich des Chartarechts mindestens so weit gehen muss wie derjenige des „entsprechenden“ EMRK-Rechts, ist nicht Tatbe109  Schneiders, 110  Gebauer,

Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 160. Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa?

S. 345. 111  Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 99.

102 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

standsvoraussetzung, sondern Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3  S. 1 GRC.112 Aus diesen Gründen ist das Merkmal der Entsprechung der Rechte nicht als Überschneidung der Schutzbereiche, sondern der Regelungsbereiche der Rechte aufzufassen. Unter dem Regelungsbereich wird hier „die regelnd erfasste (Lebens-)Sphäre, in der sich ein Grundrecht verhält“ verstanden.113 Regeln ein Recht der EMRK und ein Recht der Grundrechtecharta einen sich überschneidenden Lebensbereich, so entsprechen sie sich. Was sie in diesem Bereich regeln, welche „Bedeutung und Tragweite“ sie haben, mit anderen Worten wie Schutzbereich und die Rechtfertigungsmöglichkeiten von Eingriffen zu verstehen sind, ist die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 und 2 GRC, nämlich dass der Schutz des Rechts (jedenfalls) nicht hinter dem Schutzniveau der EMRK zurückbleiben darf. Die Feststellung eines gemeinsamen Regelungsbereiches geht aber ebenfalls vom Text der Normen aus, sodass die Verwendung gleicher oder ähnlicher Begriffe hinsichtlich der Schutzgüter der Normen einen entsprechenden Regelungsbereich anzeigt.114 Damit ist auch dem Einwand der Zirkularität der Norm begegnet, wenngleich die Auflistung in den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta heranzuziehen ist und von dieser auch nicht ohne Grund abgewichen werden darf. Es lässt sich resümieren, dass es für das Vorliegen einer Entsprechung von Chartarecht und EMRK-Recht auf eine Überschneidung der Regelungsbereiche ankommt. Da die Rechte bestimmte Lebensbereiche regeln sollen und demgemäß an Vorgefundenes anknüpfen, gleichsam auf die soziale Wirklichkeit verweisen, ist die Verwendung gleicher oder ähnlicher Begriffe der Indikator für einen kongruenten Regelungsbereich. Sofern ein bestimmter Lebenssachverhalt vom EGMR unter ein Recht der EMRK subsumiert wurde und sich in einem Recht der Grundrechtecharta ein sprachlicher Anknüpfungspunkt findet, ihn auch unter den Anwendungsbereich dieses Rechts zu subsumieren, entsprechen sich die Rechte im Sinne des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC. Die Konkretisierung des Schutzbereiches und der Schranken erfolgt sodann entsprechend der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC

II. Rechtsfolge: „gleiche Bedeutung und Tragweite“ Ist der Tatbestand des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC erfüllt, ordnet die Norm als Rechtsfolge die gleiche Bedeutung und Tragweite von Chartarecht und EMRK-Recht an. Vor dem Hintergrund des Zweckes von Art. 52 Abs. 3 S. 1 112  Uerpmann-Witzack, 113  Lerche,

DÖV 2005, S. 152 (155). in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992,

§ 121 Rn. 14. 114  Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 160, allerdings auf den Schutzbereich bezogen.



C. Tragweite derjenigen Chartarechte, die solchen der EMRK entsprechen103

GRC, Widersprüche zwischen der Grundrechtcharta und der EMRK zu vermeiden, muss die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC dahingehend verstanden werden, dass sowohl der Schutzbereich des Chartarechts nicht enger gefasst werden darf als derjenige des entsprechenden EMRK-Rechts, als auch die Einschränkungsmöglichkeiten der Grundrechtecharta nicht weiter ausgelegt werden dürfen als diejenigen des entsprechenden Rechtes in der EMRK. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bedient sich mit den Begriffen „Bedeutung“ und „Tragweite“ keiner feststehenden Topoi der Grundrechtsdogmatik. Überdies weisen die verschiedenen Sprachfassungen der Norm unterschiedliche Bedeutungsnuancen auf.115 Deshalb muss eine Auslegung auch hier anhand teleologischer und genetischer Argumente erfolgen. Teilweise werden unter der „Bedeutung“ der Schutzbereich und unter der „Tragweite“ die Beschränkungsmöglichkeiten verstanden.116 Andere erkennen alle Elemente des Grundrechtsschutzes in jedem der beiden Begriffe.117 Schließlich wird unter der Bedeutung das Schutzgut des Grundrechts verstanden, die Tragweite hingegen als Schutzbereich und die Beschränkungsmöglichkeiten.118 Ausgehend von der Ratio des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC, den gesamten Schutzumfang des EMRK-Rechts als auch von der Grundrechtecharta geschützt anzusehen, müssen sowohl der Schutzbereich als auch der Eingriffsbegriff und die zulässigen Beschränkungsmöglichkeiten unter die Begriffe „Bedeutung und Tragweite“ subsumierbar sein. Es überzeugt, den gesamten Schutz durch die EMRK bereits als in dem Begriff der „Tragweite“ enthalten zu sehen.119 Er enthält demnach Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung, die Schutzdimensionen (Abwehrrecht und Leistungsrecht) und die Grundrechtsverpflichteten. Der Begriff der „Bedeutung“ fügt dem nichts Weiteres hinzu. Versteht man darunter das geschützte Rechtsgut, klärt sich die Frage nach dem Inhalt des Begriffs der „Bedeutung“ weniger, als dass neue Fragen aufgeworfen werden. So besteht schon in Deutschland keine Einigkeit darüber, 115  Zur semantischen und systematischen Auslegung der Begriffe ausführlich Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 130 ff. 116  Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 124; Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (2); Schmitz, JZ 2001, S. 833 (838). 117  Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 145; die genaue Abgrenzung für belanglos haltend Borowsky, in: Meyer (Hrsg.) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 30a; Naumann, EuR 2008, S. 424 (428). 118  Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 309. 119  Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 143, nennt dies den Gewährleistungsumfang.

104 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

was unter einem Rechtsgut zu verstehen ist.120 Letztlich bezeichnet die Bedeutung deshalb nichts über die Tragweite Hinausgehendes.121 Dem Zweck, den Gewährleistungsgehalt der EMRK insgesamt auch in der Grundrechtecharta sicherzustellen, kann nur entsprochen werden, wenn die entsprechenden Rechte der EMRK in der Auslegung durch den EGMR berücksichtigt werden. Davon geht ausweislich der Erläuterungen zu Grundrechtecharta auch das Präsidium des Konvents aus.122 Darauf deutet ferner die Formulierung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC hin, wonach den Rechten der EMRK Bedeutung und Tragweite „verliehen“ werden. Da es sich bei der Norm um eine Auslegungsdirektive handelt,123 muss sie sich auch und gerade auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs für Menschenrechte beziehen.124 Ihr kommt Kraft der Anordnung des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bei der Auslegung des entsprechenden Rechts der Grundrechtecharta präjudizielle Wirkung zu, sofern der Schutzbereich eines Grundrechts für eröffnet erklärt oder dem Grundrecht ein leistungsrechtlicher Gehalt beigemessen wird. 1. Identität des Schutzes durch sich-entsprechende Rechte in der Grundrechtecharta und der EMRK? Die Frage nach der Reichweite der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wird ebenfalls unterschiedlich beantwortet. Einigkeit besteht darüber, dass jedenfalls der Mindeststandard der EMRK von der Grundrechtecharta im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC nicht unterschritten werden darf. Die Frage, ob ein darüberhinausgehender Schutz möglich ist, wird hingegen uneinheitlich beantwortet. Bereits im Konvent herrschte über diese Frage keine Einigkeit, die richtigerweise anhand der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC zu beantworten ist, der lautet: „Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“

Dass sich Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC auf Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bezieht, geht aus dem Wortlaut klar hervor, wenn von „diese(r) Bestimmung“ die Rede ist. Rechte der Grundrechtecharta, die weiter formuliert sind als solche Schulte, Rechtsgutsbegriff und Öffentliches Recht. Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 145. 122  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (32 f.). 123  Dazu sogleich. 124  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 37; mit Hinweis auf die Präambel Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 321; Schmidt, C. P., Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 129. 120  Dazu

121  Treffend



C. Tragweite derjenigen Chartarechte, die solchen der EMRK entsprechen105

der EMRK und diesen insoweit nicht mehr „entsprechen“, können ohne weiteres einen weitergehenden Schutz vermitteln.125 Ob ein weitergehender Schutz auch durch diejenigen Chartarechte möglich ist, die eine Entsprechung in der EMRK finden, hängt deshalb von der Auslegung des Merkmals „Recht der Union“ ab. Ist man der Auffassung, dass unter dem Recht der Union im Sinne des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC nur das „sonstige“ Recht der Union jenseits den Gewährleistungen der Grundrechtecharta, insbesondere das Sekundärrecht, zu verstehen ist, stellt die Norm deklaratorisch fest, dass weitergehende Rechte im sonstigen Primärrecht oder – ebenso selbstverständlich – ein höheres Schutzniveau im Sekundärrecht enthalten sein können.126 Über die Möglichkeit einer weitergehenden Auslegung derjenigen Chartarechte, die eine Entsprechung in der EMRK finden, ist damit noch keine Aussage getroffen. Für eine Deckungsgleichheit in dem von der EMRK geschützten Bereich könnte sprechen, dass ein über das Maß der EMRK hinausgehender Schutz der Grundrechtecharta in sogenannten mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zu Konflikten mit der EMRK führen könnte. Der verstärkte Schutz durch die Grundrechtecharta für einen Beteiligten könnte dann, so wird vorgebracht, gegen die Grundrechte desjenigen verstoßen, dessen Rechtsposition in der Abwägung konfligierender Grundrechte zurücktreten muss. Dies könnte passieren, wenn der EGMR in einem solchen Fall zu einem anderen Abwägungsergebnis gelangen würde.127 Das Argument verfängt indes nicht. Ein durch die vermeintlich abweichende chartarechtliche Auslegung verletztes EMRK-Recht muss ebenfalls durch die Grundrechtecharta geschützt sein, wenn es zu einem anderen Abwägungsergebnis seitens der Unionsgerichte bei dem Ausgleich konfligierender Grundrechte kommen soll. Seine Auslegung orientiert sich gemäß Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC wiederum an der EMRK und deren Auslegung durch den EGMR, denn der Mindeststandard der EMRK würde (auch) für das konkurrierende Grundrecht gelten, sodass eine Konfliktsituation zwischen Grundrechtecharta und EMRK von Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC gerade verhindert wird. In mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen ist ein höherer Schutz eines der betroffenen Rechte demgemäß ausgeschlossen. Das Telos des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC spricht dafür, die EMRK nur als Mindestgewährleistung anzusehen und auch eine weitergehende Auslegung der Grundrechtecharta 125  Naumann,

EuR 2008, S. 424 (430 f.). Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 165; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 30b; Schmitz, JZ 2001, S. 833 (839). 127  Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S.  162 f. 126  Barriga,

106 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

zuzulassen, sofern es dadurch nicht zu einem Konflikt mit der EMRK kommen kann. Insofern wäre eine „Kohärenz“ von Grundrechtecharta und EMRK, außer in „Dreiecksfällen“ nicht notwendig.128 Interpretiert man die Formulierung in Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC demzufolge dahingehend, dass das „Recht der Union“ auch die Grundrechtecharta selbst einschließt, handelt es sich bei Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC um eine „Öffnungsklausel“, die einen weitergehenden Schutz durch eine grundrechtsfreundlichere, autonom unionsrechtliche Auslegung durch den EuGH ermöglicht.129 Die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 GRC ist aus diesem Grund darauf beschränkt, den Schutz der Grundrechtecharta nicht unter das Niveau der EMRK absinken zu lassen. Ein weitergehender Schutz auch durch die Grundrechtecharta selbst wird hingegen nicht ausgeschlossen. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC enthält im Gegenteil eine Öffnungsklausel, die einen weitergehenden Gehalt derjenigen Rechte der Grundrechtecharta erlaubt, die Rechten der EMRK entsprechen. 2. Die dogmatische Einordnung der Rechtsfolge: „Inkorporationsklausel“ oder Auslegungsdirektive? Fraglich ist, wie die Norm des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC grundrechts­ dogmatisch einzuordnen ist. Bewirkt sie eine Inkorporation, nicht nur der Schutzgehalte der EMRK, sondern auch ihrer Dogmatik in die Grundrechtecharta, oder stellt sie eine Auslegungsregel dar? Ersterenfalls würde sich eine chartarechtliche Diskussion der Art. 7 und 9 GRC größtenteils erübrigen. Die Rechte entsprechen zumindest teilweise Art. 8 und 12 EMRK. Hinsichtlich der Begriffe und der Dogmatik der Art. 7 und 9 GRC könnte auf die einschlägige Literatur zur EMRK verwiesen werden. Tatsächlich wird in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC vom Schrifttum überwiegend eine „Transferklausel“ gesehen, die die Inhalte der entsprechenden EMRK-Rechte in die Grundrechtecharta inkorporiert. Es komme daher bei der Rechtfertigung von Eingriffen in die Chartarechte, die Rechten der EMRK entsprechen, nicht mehr auf die Schranken des Art. 52 Abs. 1 GRC an, sondern auf das entsprechende Schrankenregime der EMRK. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC sei lex specialis zu der allgemeinen Schrankenregelung in Art. 52 Abs. 1 GRC.130 128  A. A. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 39. 129  Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 181; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 323; den Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC als Öffnungsklausel interpretierend auch Schmidt, C. P., Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 121. 130  Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S.  157 f.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.) Charta der Grundrechte der Europäischen



C. Tragweite derjenigen Chartarechte, die solchen der EMRK entsprechen107

Einer anderen Ansicht zufolge ist Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC nicht als Transferklausel, sondern als Auslegungsdirektive zu qualifizieren.131 Die Frage nach der dogmatischen Einordnung der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC ist eng mit der Frage verknüpft, ob das Schutzniveau der EMRK lediglich als Mindeststandard durch die Grundrechtecharta sichergestellt werden stellen soll, oder ob eine umfassende Konvergenz mit der EMRK bewirkt werden soll. Wie soeben festgestellt, lassen sich gegen die Möglichkeit eines über das Niveau der EMRK hinausgehenden Grundrechtsschutzes durch die Grundrechtecharta keine überzeugenden Argumente anführen. Für eine dogmatische Autonomie der Grundrechtecharta sprechen auch die Formulierung in Art. 6 Abs. 1 uA 3 EUV und die Überschrift zu Titel VII der Grundrechtcharta. Die Vorschriften der Art. 51 bis 54 GRC regeln die „Auslegung und Anwendung“ der Grundrechtecharta. Eine Inkorporation von Teilen der EMRK ließe sich schwerlich unter „Auslegung“ und „Anwendung“ subsumieren. Man müsste dann davon ausgehen, dass die den Rechten der EMRK „entsprechenden“ Rechte der Grundrechtecharta keine Anwendung fänden, sondern ausschließlich Art. 52 Abs. 3 GRC. Weite Teile der Grundrechtecharta wären dann ohne eigenen normativen Gehalt und schlichtweg überflüssig. Art. 6 EUV erhebt die Grundrechtecharta demgegenüber zur Primärrechtsquelle. Es ist nicht anzunehmen, dass sie in weiten Teilen keinen normativen Gehalt aufweisen sollte. Deshalb handelt es sich bei Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC nicht um eine Transferklausel, sondern um eine Auslegungsregel, die im Rahmen der Auslegung der Schutzbereiche der Chartarechte und der Auslegung der allgemeinen Einschränkungsklausel des Art. 52 Abs. 1 GRC anzuwenden ist. Das hier gefundene Verständnis von Art. 52 Abs. 3 GRC wird durch die neuere Rechtsprechung bestätigt. Der EuGH hatte sich in mehreren VerfahUnion, Art. 52 Rn. 29 f.; Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 262; Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 215; Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, S. 94 f.; Strunz, Strukturen des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union in ihrer Entwicklung, S. 162; Uerpmann-Witzack, DÖV 2005, S. 152 (155 f.); Weiß, ZEuS 2005, S. 323 (330); Im Ergebnis ebenso Ziegenhorn, Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta, S. 166. 131  Brummund, Kohärenter Grundrechtsschutz im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, S. 135; Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 150 ff.; Gebauer, Parallele Grund- und Menschenrechtsschutzsysteme in Europa? S. 345 f.; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 60; Schmidt, C., Rechtsnatur und Verpflichtungsdichte der Europäischen Grundrechte, S.  103 f.; Schmidt, C. P., Grund- und Menschenrechte in Europa, S. 121 f.; Schneiders, Die Grundrechte der EU und die EMRK, S. 192, der aber Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC für lex specialis gegenüber Abs. 1 hält.

108 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

ren mit der Auslegung von Art. 7 und 8 GRC zu beschäftigen.132 Die Rechtssache J. McB. gegen L.E133. betraf die Auslegung von Art. 7 GRC. J. McB. und L. E. sind unverheiratete Eltern eines Kindes. Das irische Recht erkennt Vätern, die mit der Kindesmutter nicht verheiratet sind, das Sorgerecht nicht ipso iure zu, sondern es muss vom Vater bei Gericht beantragt werden. In dem Fall hatte Herr McB. keinen solchen Antrag gestellt und die Mutter das Kind in das Vereinigte Königreich verbracht. Faktisch bestand nunmehr keine Möglichkeit für den Vater, das Kind nach Irland zurückzuholen, da die Mutter als alleinige Inhaberin des Sorgerechts ihr Kind nicht „widerrechtlich“ i. S. d. einschlägigen Verordnung (EG) Nr. 2201 / 2003134 ins Ausland mitgenommen hatte. Im Kern der Entscheidung ging es um die Frage, ob es mit Art. 7 GRC vereinbar ist, dass dem unverheirateten Vater eines Kindes das Sorgerecht nicht ispo iure zusteht, sondern er es erst bei dem zuständigen nationalen Gericht beantragen muss. Der EGMR hatte sich zuvor bereits mit einem ähnlichen Fall befasst und war zu der Auffassung gelangt, dass es nicht gegen Art. 8 EMRK verstößt, wenn einem unverheirateten Elternteil das Sorgerecht nicht ohne weiteres zusteht.135 In der Folge wurde in der Entscheidung Zaunegger entschieden, dass nur wenn dem Vater nicht das Recht zusteht, das Sorgerecht gerichtlich zu beantragen, darin ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK in Verbindung mit Art. 8 EMRK liegt.136 Der EuGH gibt in seiner Entscheidung zunächst im Wesentlichen den Inhalt des Art. 52 Abs. 3 S. 1 und 2 GRC wieder und stellt fest, dass Art. 7 GRC Art. 8 EMRK entspricht. Der Gerichtshof stellt dabei auf den nahezu identischen Wortlaut der Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK ab. Die Erläuterungen werden nicht zitiert. Da ein Entsprechen vorliege, trete die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC ein, die es nicht ausschließe, dass das Unionsrecht einen weitergehenden Schutz gewähre.137 Der EuGH gibt nun die Ergebnisse des EGMR in dem Fall Zaunegger wieder138 und zieht daraus den Schluss, dass dem leiblichen Vater das Recht zustehen müsse, bei einem na132  EuGH, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, Slg. 2010, I-11063 – Volker und Markus Schecke und Eifert; Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 – J. McB. gegen L. E; C-291/12 – Schwarz. 133  EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 – J. McB. gegen L. E. 134  ABl. L Nr. 338 v. 23.12.2003, S. 1. 135  EGMR, Entsch. v. 2.9.2003, Guichard v. Frankreich, Nr. 56838/00, Rep. 2003X, S. 419 (432 ff.). 136  EGMR, Urt. v. 3.12.2009, Zaunegger v. Deutschland, Nr. 22028/04, § 63 f. 137  EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 Rn. 53 – J. McB. gegen L. E. 138  EuGH, Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 Rn. 54 – J. McB. gegen L. E.



C. Tragweite derjenigen Chartarechte, die solchen der EMRK entsprechen109

tionalen Gericht das Sorgerecht zu beantragen.139 Ginge der EuGH von der Konvergenz von Grundrechtecharta und EMRK im Bereich des Art. 7 GRC und von einer Inkorporation des Art. 8 EMRK in die Grundrechtecharta aus, hätte die Prüfung an dieser Stelle beendet werden müssen. Im Gegenteil prüft der Gerichtshof aber weiter, ob eine automatische Zuerkennung des Sorgerechts an den Vater zu fordern ist und verneint dies. Der EuGH argumentiert an dieser Stelle mit unionsrechtlichen Erwägungen: Die Mutter übe, wenn sie das Kind in ein anderes Land verbringe, ihr Freizügigkeitsrecht gemäß Art. 20 Abs. 2 lit. a) AEUV und Art. 21 Abs. 1 AEUV aus. Die Beschränkung des Rechtes aus Art. 7 GRC sei daher zum Schutze der Rechte und Freiheiten anderer im Sinne von Art. 52 Abs. 1 GRC gerechtfertigt. Der EuGH geht demnach nicht nur davon aus, dass die Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC einschlägig ist,140 sondern auch davon, dass es durchaus möglich ist, ein höheres Schutzniveau durch die Grundrechtecharta anzunehmen, wenn auch ein höherer Schutz in dem konkreten Fall letztlich verneint wurde. Die vorstehenden Erwägungen erhärten den Befund, dass Art.  52 Abs. 3 S. 1 GRC keine Transferklausel enthält, die den Inhalt der EMRK und ihre Dogmatik inkorporiert, sondern eine Auslegungsdirektive, nach der die Grundrechte der Charta nicht enger als die entsprechenden Rechte der EMRK ausgelegt werden dürfen. Dogmatisch sind die Schranken der Grundrechtecharta einschlägig. Es ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen, den Rechten der Grundrechtecharta, die Rechten der EMRK entsprechen, durch Auslegung ein höheres Schutzniveau zu entnehmen.

III. Entsprechung der Art. 9, 7 und 33 GRC mit Rechten der EMRK Nach den bisherigen Ausführungen ist zu prüfen, ob die Chartanormen zum Schutz von Ehe und Familie, Art. 7, 9 und 33 GRC Rechten der EMRK „entsprechen“. Art. 9 GRC hat einen mit Art. 12 EMRK fast identischen Wortlaut. Beide Vorschriften gewähren das Recht der Eheschließung und Familiengründung. Schon die Verwendung der gleichen Begriffe legt eine Entsprechung nahe. Nach den Erläuterungen des Präsidiums zur Charta „stützt“ sich Art. 9 GRC auf Art. 12 EMRK, er sei diesem „ähnlich“, könne aber eine größere Tragweite haben.141 Das heißt, dass Art. 9 GRC mindestens den Inhalt von Art. 12 EMRK aufweisen soll. Eine Überschneidung der Regelungsbereiche und damit eine Entsprechung im Sinne des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC liegt vor. 139  EuGH,

Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 Rn. 55 – J. McB. gegen L. E. neuerdings in den verb. Rs. C-293/12 und C-594/12 Rn. 38 f. – Digital Rights Ireland u. a., Slg. 2014. 141  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (21). 140  So

110 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Art. 9 GRC beschränkt seinen Anwendungsbereich in Abweichung von Art. 12 EMRK nicht ausdrücklich auf „Männer und Frauen“, sodass Art. 9 GRC eine größere Tragweite als Art. 12 EMRK haben könnte. Für Art. 7 GRC hat der EuGH bereits entschieden, dass dieser Art. 8 EMRK entspricht.142 Die Erläuterungen des Präsidiums zur Charta gehen ebenfalls davon aus.143 Die Normen sind im Übrigen nahezu wortgleich. Art. 33 hingegen findet keine Entsprechung in der EMRK. Art. 52 Abs. 3 GRC ist damit im Rahmen des Schutzes von Ehe und Familie auf Art. 9 und 7 GRC anwendbar.

IV. Zusammenfassung Die Grundrechtecharta steht seit dem Vertrag von Lissabon im Rang von Primärrecht. Sie hat das überkommene System des prätorischen Grundrechtsschutzes durch den EuGH de jure nicht abgelöst, sondern ergänzt. Die Bedeutung der Grundrechtecharta erschöpft sich nicht in einer Verschriftlichung bestehenden, ungeschriebenen Rechts, einer Versteinerung des Status quo, insbesondere der EMRK und der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, wenn auch sie in vielen Fällen darauf aufbaut. Durch die Verschriftlichung und den primärrechtlichen Rang muss die Charta vom EuGH autonom ausgelegt werden und ist daher entwicklungsoffen. Das gilt auch für diejenigen Rechte, die denen der EMRK nachgebildet sind. Das Verhältnis dieser Rechte zueinander wird durch Art. 52 Abs. 3 GRC geregelt. Die Norm bezweckt, den Grundrechtsschutz durch die Grundrechtecharta nicht unter das Schutzniveau der EMRK absinken zu lassen. Dabei wird die EMRK durch Art. 52 Abs. 3 GRC nicht „transferiert“ oder inkorporiert, sondern es handelt sich bei der Norm um eine Auslegungsregel. Deshalb verdrängt Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bei der Prüfung der Rechtfertigung von Eingriffen in Grundrechte auch nicht als lex specialis Art. 52 Abs. 1 GRC. Art. 52 Abs. 3 GRC ist keine speziellere Schranke als Art. 52 Abs. 1 GRC, sondern gar keine Schranke. Die Vorgaben der EMRK lassen sich bei der Auslegung der Grundrechtecharta berücksichtigen, deren Schrankenklausel ohnehin sehr weit gefasst ist. Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Auslegung der Grundrechte im Lichte der Rechtsprechung des EGMR zu erfolgen hat. Art. 52 Abs. 3. S 1 GRC vermittelt eine präjudizielle Bindung an die Entscheidungen des EGMR, aber nur „nach unten“: Die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Rechten der EMRK, die Feststellung von Verletzungen sowie Abwägungsergebnisse bei widerstreitenden Grund142  EuGH, verb. Rs. C-92/09 und C-93/09, Slg. 2010, I-11063 – Volker und Markus Schecke und Eifert; Rs. C-400/10, Slg. 2010, I-8965 – J. McB. gegen L. E.; Rs. C-291/12, Slg., – Schwarz. 143  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (20).



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC111

rechten durch den EGMR sind bei der Auslegung und Anwendung der Grundrechtecharta zu beachten. Ein Auslegungsergebnis, dass im Vergleich mit der Judikatur des EGMR restriktiver im Sinne eines geringeren Grundrechtsschutzes ausfällt, verstößt in einem gleichgelagerten Fall gegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC. Ein weitergehender Schutz durch die Grundrechtecharta ist, auch im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC, dagegen möglich. Das wird durch Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRC sichergestellt, der dem EuGH eine autonome Auslegung der gesamten Grundrechtecharta ermöglicht. Die Art. 7 und 9 GRC entsprechen den Art. 9 und 12 EMRK. Art. 9 GRC hat möglicherweise eine größere Tragweite als Art. 12 EMRK, sodass nur eine Teilentsprechung vorliegt.

D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen wird nun zunächst der Schutz von Ehe und Familie in Art. 9 GRC untersucht. Bereits im Konvent verengte sich die Diskussion von dem anfänglichen Wunsch nach einem umfassenden rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie auf eine an Art. 12 EMRK orientierte Gewährleistung, die lediglich die Familiengründungsfreiheit umfasst.144 Inhaltlich hingegen erweiterte sich die Diskussion auch auf die Gewährleistung der Eheschließungsfreiheit.145 Der vom Deutschen Bundestag in den Konvent entsandte Meyer unterbreitete einen entsprechenden Diskussionsvorschlag, dessen Formulierung derjenigen des Art. 6 GG entsprach. Es heißt dort in Art. 8 Nr. 1: „Ehe und Familie stehen unter besonderem Schutz“. Art. 8 Nr. 2 des Vorschlages von Meyer räumte anderen Lebensgemeinschaften („long-term relationships“) darüber hinaus ein Recht auf Nichtdiskriminierung ein.146 Dieser Vorschlag konnte sich nicht durchsetzen und der nachfolgende Entwurf des Präsidiums vom 8. März 2000 sah eine Formulierung vor, die derjenigen des heutigen Art. 9 GRC bereits im Wesentlichen entsprach.147 Die Debatte über das Recht zu Heiraten verlief kontrovers:148 Die Ansichten reichten von dem Vorschlag, die Erwähnung der Ehe gänzlich zu streichen,149 über ein liberales Ehever144  Marauhn, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 20 Rn. 11. 145  Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 6. 146  CHARTE 4102/00. 147  CHARTE 4149/00, S. 14. 148  Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 8 spricht von einer „sehr ideologischen Debatte“. 149  So Solé Tura, CHARTE 4218/00, S. 76, Trias Sagnier, CHARTE 4218/00 S. 77, Berès, CHARTE 4218/00, S. 78, Rodota, CHARTE 4218/00, S. 82 sowie im

112 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

ständnis, das auch homosexuelle Partnerschaften mit einbeziehen solle150 bis zu der traditionellsten Auffassung, sich näher an der Formulierung des Art. 12 EMRK zu orientieren.151 Wenn auch offenbar grundsätzlich von dem Ehebegriff der EMRK ausgegangen wurde, lässt sich bezüglich der Einbeziehung der gleichgeschlechtlichen Ehe keine eindeutige Tendenz erkennen. Die Verfechter einer Beschränkung auf Ehen zwischen Männern und Frauen befürworteten jedenfalls eine noch engere Anlehnung an die EMRK, zu der es dann aber nicht mehr kam. Das Ergebnis ist Art. 9 GRC, der das Recht eine Ehe einzugehen und das Recht, eine Familie zu gründen, gewährt.

I. Die Rechte des Art. 12 EMRK als Mindestgehalt des Art. 9 GRC Die bisherige Untersuchung hat ergeben, dass Art. 9 GRC wegen Art. 52 Abs. 3 GRC mindestens den Inhalt von Art. 12 EMRK aufweisen muss. Die konkrete Bestimmung des Schutzes von Ehe und Familie durch Art. 9 GRC muss deshalb vor dem Hintergrund des Art. 12 EMRK erfolgen, dessen Schutzniveau von der Grundrechtecharta nicht unterschritten werden darf. Deshalb sollen zunächst die Grundzüge des Rechts auf Eheschließung und Familiengründung gemäß Art. 12 EMRK skizziert werden. Als völkerrechtlicher Vertrag ist die EMRK unter Berücksichtigung allgemeiner Auslegungsregeln auszulegen. Von Bedeutung ist insbesondere Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK). Nach dessen Abs. 1 kommt es für die Auslegung von Begriffen auf deren gewöhnliche Bedeutung an. Da es sich aber nicht um einen Vertrag handelt, der gegenseitige Verpflichtungen der Vertragsstaaten zum Gegenstand hat, sondern zugunsten des Menschenrechtsschutzes objektive Verpflichtungen erzeugt, kommt es ebenso entscheidend auf den Sinn und Zweck der Vorschriften an.152 Daher verfolgt der Ergebnis Berthu, CHARTE 4218/00, S. 77; vgl. auch das Protokoll von Bernsdorff/ Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 185. In die Richtung argumentiert auch Lallemend, der statt des Begriffs der Ehe eine weniger traditionsbehaftete Formulierung vorschlug, nämlich das Recht „de fonder un couple“, CHARTE 4218/00, S. 84. 150  Die Redebeiträge von Azevedo und Voggenhuber, offen auch Haenel und Vitorino, CHARTE 4218/00, S. 84 ff., vgl. auch das Protokoll von Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 187. 151  So Friedrich und Goldsmith, CHARTE 4218/00, S. 79, 81, vgl. auch das Protokoll von Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 186. 152  Badenhop, Normtheoretische Grundlagen der Europäischen Menschenrechtskonvention, S.  67 ff.; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 55 f.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC113

EGMR bei der Auslegung der Konvention auch keinen statischen, sondern einen dynamischen Ansatz. Die Konvention hat nicht lediglich ein unveränderliches menschenrechtliches Mindestniveau etabliert, das nach Maßgabe des Verständnisses zur Zeit ihrer Formulierung interpretiert werden muss, sondern ist offen für gesellschaftliche Veränderungen.153 Auch die Präambel der EMRK spricht von einer Fortentwicklung der Grundrechte. Der EGMR bezeichnet die Konvention entsprechend als „living instrument“.154 Der EGMR berücksichtigt bei der Auslegung insbesondere die Entwicklung der Rechtslage in den Mitgliedstaaten. Dementsprechend hat sich die Rechtsprechung zu dem Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, im Laufe der Zeit erheblich gewandelt. Art. 12 EMRK enthält das Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen. Sie ist die einzige Vorschrift in der EMRK, die sowohl den Begriff der Ehe als auch den Begriff der Familie verwendet. Die Vorschrift ist an Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 angelehnt, aber enger als dieser.155 Art. 12 EMRK enthält zwei Rechte: Das Recht zu heiraten und das Recht, eine Familie zu gründen. Art. 8 EMRK hingegen schützt das (Privat- und) Familienleben. Art. 8 und Art. 12 EMRK sind eng miteinander verbunden und decken den Familienschutz gemeinsam unter unterschiedlichen Gesichtspunkten ab. Art. 12 EMRK umfasst nur die Gründung von Ehe und Familie. („… das Recht (…) eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen“). Die Sphäre des Ehe- und Familienlebens hingegen fällt, sobald Ehe und / oder Familie einmal gegründet sind, nicht in den Anwendungsbereich des Art. 12 EMRK, sondern in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK.156 Zunächst wird das Recht, eine Ehe einzugehen vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR untersucht (s. Ziff. 1), sodann wird das Recht, eine Familie zu gründen näher beleuchtet (s. Ziff. 2). 1. Das Recht, eine Ehe einzugehen Art. 12 EMRK gewährt zunächst das Recht, eine Ehe einzugehen. Die Rechte des Art. 12 EMRK stehen nicht unter einem klassischen Schranken153  Frowein, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Einführung Rn. 8. 154  EGMR, Urt. v. 25.4.1978, Tyrer v. the United Kingdom, Nr. 5856/72, § 31, Serie A 26. 155  Vgl. Frowein, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 12 Rn. 1; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art.  12 Rn. 1. 156  van Dijk, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 842; Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 549 f.

114 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

vorbehalt, der Eingriffe unter gewissen Umständen oder zur Erreichung bestimmter Ziele erlaubt. Sie stehen vielmehr unter dem Vorbehalt des nationalstaatlichen Rechts, das „die Ausübung dieser Rechte“ regelt. Die Mitgliedstaaten können nach der Rechtsprechung der Konventionsorgane nicht nur prozedurale, sondern auch materielle Regelungen treffen, die den Ehebegriff formen.157 Es erscheint fraglich, ob sich die Eheschließungsfreiheit aufgrund des Verweises auf die mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften anhand des Schemas Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung prüfen lässt.158 Der Gerichtshof betont aber, dass das Recht, eine Ehe einzugehen, durch die Mitgliedstaaten nicht ausgehöhlt werden dürfe und nimmt bei einer Beeinträchtigung der Eheschließungsfreiheit eine Rechtfertigungsprüfung vor.159 Dementsprechend folgt die Eheschließungsfreiheit jedenfalls einer vergleichbaren grundrechtlichen Struktur. Zunächst muss ein Anwendungsbereich definiert werden. Wird er durch die Grundrechtsadressaten verkürzt, erfolgt eine Rechtfertigungsprüfung. Deshalb wird auch vorliegend zunächst der Ehebegriff des Art. 12 EMRK dargestellt (s. lit. a]). Er bestimmt den Anwendungsbereich der Vorschrift. Im Anschluss wird untersucht, welche Gewährleistungsdimensionen der EGMR der Eheschließungsfreiheit beimisst (s. lit. b]). Schließlich kommt es darauf an, welche Maßstäbe zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit anzulegen sind und wie weit diese reichen, mit anderen Worten, unter welchen Schranken die Eheschließungsfreiheit steht und durch welche Schranken-Schranken sie wiederum begrenzt werden (s. lit. c]). a) Der Ehebegriff des Art. 12 EMRK Zunächst muss der Anwendungsbereich der Eheschließungsfreiheit bestimmt werden. Der Berechtigte muss eine „Ehe“ eingehen wollen. Damit ist die Frage nach dem konventionsrechtlichen Ehebegriff aufgeworfen. Der Konventionstext selbst liefert kaum Hinweise auf die wesentlichen Merkmale des Ehebegriffes. Der EGMR hat die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit folgendermaßen zusammengefasst: „… the Court will seek to ascertain the ordinary meaning to be given to the terms of this provision in their context and in the light of its object and purpose“.160 Inhaltlich stellte die 157  Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art.  12 Rn.  6; EGMR, Urt. v. 18.12.1987, F v Switzerland, Nr. 11329/85, § 32, Serie A 128, S. 16. 158  Ablehnend Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. I, Kap. 7, Rn. 16. 159  Dazu unten S. 120 ff. 160  EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, § 51, Serie A 112, S. 24.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC115

Kommission fest, dass der Wesensgehalt des Rechtes zu heiraten darin bestehe, eine rechtlich bindende Verbindung zwischen den Ehepartnern herzustellen.161 Aus den Aussagen des Gerichtshofs, welche substantiellen Einschränkungen als gerechtfertigt angesehen wurden, lässt sich auf den Ehebegriff des EGMR im Rahmen des Art. 12 EMRK schließen: So führt der EGMR im Fall O’Donoghue aus: „… limitations on the right to marry (…) may comprise formal rules concerning such matters as publicity and the solemnisation of marriage. They may also include substantive provisions (…) concerning capacity, consent, prohibited degrees of affinity or the prevention of bigamy“162 Aus der Möglichkeit formaler Hindernisse oder Kriterien lässt sich schließen, dass der EMRK die Zivilehe zugrunde liegt, die Eheschließung mithin in irgendeiner Form staatlich zur Kenntnis genommen werden und ihr ein Minimum rechtlicher Wirkung zuerkannt werden muss. Ebenfalls entschieden ist, dass das Recht auf Scheidung von Art. 12 EMRK sachlich nicht erfasst wird.163 Fraglich ist weiterhin, ob „Mehrehen“ grundsätzlich von Art. 12 EMRK geschützt sind oder ob es sich bei dem Verbot von Mehrehen um eine Beschränkung der Eheschließungsfreiheit handelt. Dabei ist zunächst begrifflich zwischen einer „Gruppenehe“ mit mehreren Beteiligten und dem Bestehen mehrerer, voneinander unabhängiger Ehen gleichzeitig oder nacheinander zu unterscheiden. Unter Bigamie lässt sich das Eingehen einer Ehe ohne vorherige Auflösung einer schon bestehenden Ehe verstehen. Der Anwendungsbereich des Art. 12 EMRK setzt voraus, dass zwei Personen miteinander eine Ehe eingehen möchten. Die Vielehe soll davon nicht erfasst sein.164 Mehrere parallele Ehen hingegen sind vom Anwendungsbereich erfasst. Wer einmal geheiratet hat, „verbraucht“ dadurch nicht sein Recht aus Art. 12 EMRK. Das Eheverbot einer schon bestehenden Ehe wird demgemäß von den Konventionsorganen als eine der möglichen „limitations on the right to marry“ und damit als eine rechtfertigungsbedürftige Be161  Kom., Bericht zu Hamer v. UK, Nr. B 7114/75, Hamer v. UK, Decisions and Reports 24, S. 5 (16), § 71. 162  EGMR, Urt. v. 14.12.2010, O’Donoghue and others v. the United Kingdom, Nr. 34848/07, § 83, Reports 2010 S. 397 (422). In diese Richtung weist auch EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, § 52, Series A 112, S. 24: Der EGMR hat dort entschieden, dass Art. 12 EMRK kein Recht auf Scheidung beinhalte. Dass Herr Johnston sich nicht scheiden lassen könne und aus diesem Grund nicht wieder heiraten kann, sei daher keine Verletzung des Rechts auf Eheschließung. 163  EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, § 52, Series A 112, S. 24. 164  Kom., Entsch. v. 16.10.1996, Sanders v. France, Nr. 31401/96, Decisions and Reports 87-B, S. 160 (162); vgl. auch EGMR, Urt. v. 5.1.2010, Frasik, Nr. 22933/02, § 88, Reports 2010, S. 1 (22).

116 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

schränkung des Anwendungsbereichs bezeichnet. Das Verbot der Bigamie (und a fortiori das Verbot von mehr als zwei Ehen gleichzeitig) wurde von den Konventionsorganen als gerechtfertigt angesehen.165 Ein zweites Mal heiraten zu wollen, ist demnach nach Auffassung der Konventionsorgane grundsätzlich vom Anwendungsbereich des Art. 12 EMRK erfasst, mehr als eine Person heiraten zu wollen hingegen nicht. Eine weitere begriffliche Beschränkung scheint der Wortlaut des Art. 12 EMRK selbst herzugeben, nämlich dass nur Personen verschiedenen Geschlechts, ein Mann und eine Frau im biologischen Sinne, eine Ehe eingehen können.166 Der Grund dafür kann darin gesehen werden, dass Art. 12 EMRK die Ehe primär als das Fundament der Familie schützt.167 So sahen es auch die Konventionsorgane ihn ihrer früheren Rechtsprechung. Der EGMR hat diesen Ansatz seit dem Urteil in der Sache Goodwin allmählich gelockert und schließlich aufgegeben. Frau Goodwin wurde im Vereinigten Königreich als Mann geboren und war mittlerweile eine postoperative Mann-zu-FrauTranssexuelle. Da das englische Recht sie dennoch teilweise als Mann behandelte und die Eheschließung gleichgeschlechtlichen Paaren nicht möglich war, konnte Frau Goodwin ihren männlichen Partner nicht heiraten und sah darin eine Verletzung des Art. 12 EMRK.168 Der EGMR stellte fest, dass das Konzept der Ehe in Art. 12 EMRK zwar noch immer sei, dass es sich dabei um eine Verbindung zwischen Mann und Frau handele, dass „Mann“ und „Frau“ jedoch nicht mehr nur nach rein biologischen Kriterien zu bestimmen seien.169 Die Zeugungsfähigkeit der Partner sei jedenfalls keine notwendige Bedingung für die Wahrnehmung des Rechts auf Eheschließung.170 Das bedeute jedoch nicht, dass das Geschlecht irrelevant geworden sei. Es sei nunmehr lediglich auch durch andere als biologische Faktoren zu bestimmen. Dafür sprechen die Anerkennung von Geschlechtsidentitätsstörungen seitens der Medizin und der Gesundheitsbehörden der Mitgliedstaaten, die Möglichkeit und Zurverfügungstellung von medizinischer Behandlung inklusive 165  EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, § 52, Series A 112, S. 24; ebenso Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 12 Rn. 2; Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 12 Rn. 10. 166  Kom., Bericht v. 1.3.1979 zu Van Oosterwijck v. Belgium, Nr. 7654/76, S. 21. 167  EGMR, Urt. v. 17.10.1986, Rees v. the United Kingdom, Nr. 9532/81, § 49, Series A 106, S. 19; EGMR, Urt. v. 27.9.1990, Cossey v. the United Kingdom, Nr. 10843/84, § 43, Series A 184, S. 17. 168  EGMR, Urt. v. 10.7.2002, Goodwin v. the United Kingdom, Nr. 28957/95, § 101, Reports 2002 S. 1 (35). 169  EGMR, Urt. v. 10.7.2002, Goodwin v. the United Kingdom, Nr. 28957/95, § 100, Reports 2002 S. 1 (34). 170  EGMR, Urt. v. 10.7.2002, Goodwin v. the United Kingdom, Nr. 28957/95, § 98, Reports 2002 S. 1 (34).



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC117

operativer Maßnahmen zur Geschlechtsangleichung durch die Mitgliedstaaten und schließlich die Annahme auch der sozialen Rolle des biologischen Geschlechts, an das die betreffende Person sich medizinisch habe angleichen lassen.171 Konsequenterweise spricht der EGMR seitdem nicht mehr von verschiedenen „sexes“ sondern von Personen „of different gender“, da sich „sex“ eher auf die biologischen Merkmale bezieht, wohingegen „gender“ üblicherweise die soziale Geschlechtszuschreibung beschreibt.172 An der Notwendigkeit einer unterschiedlichen Geschlechtszuschreibung für die Eingehung der Ehe schien der EGMR aber grundsätzlich festzuhalten. Allerdings erfolgt direkt im Anschluss an die Feststellung, dass es für die Eröffnung des Anwendungsbereichs zweier Personen verschiedenen Geschlechts bedürfe noch die Aussage, dass das Gericht zur Kenntnis nehme, dass in Art. 9 GRC der Bezug auf Männer und Frauen absichtlich aufgegeben worden sei. Der Hinweis auf die zu dem Zeitpunkt gerade erst proklamierte, noch nicht rechtsverbindliche Grundrechtecharta ließ bereits eine weitergehende Offenheit des Gerichtes für zukünftige Entwicklungen erkennen. Diese Linie bestätigte der Gerichtshof noch einmal in der Rechtssache Parry,173 ebenfalls ein Fall, der die Ehe mit einem Transsexuellen betrifft, jedoch unter anderen Vorzeichen: Die Beschwerdeführerin wurde als Mann geboren, heiratete eine Frau und hat Kinder. Mittlerweile lebt sie als Frau und hat sich auch dementsprechend medizinisch behandeln lassen. Um die volle Anerkennung ihres „neuen“ Geschlechts zu erhalten, wäre es erforderlich gewesen, die Ehe zwischen ihr und ihrer Frau zu annullieren, was sie als Verletzung unter anderem von Art. 12 EMRK rügte. Der Gerichtshof blieb hier auf der Linie, die er im Fall Goodwin eingeschlagen hatte: Es bedürfe für die Berufung auf Art. 12 EMRK der Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner, das Geschlecht sei aber nicht mehr nur biologisch zu bestimmen. Nachdem Frau Parry alle Kriterien erfüllte, um nun als Frau anerkannt zu werden, lag keine Verschiedengeschlechtlichkeit zwischen ihr und ihrer Frau (mehr) vor. Dass das britische Recht die Ehe in einem solchen Fall für ungültig erachte, sei mit dem Konzept der Ehe in Art. 12 EMRK vereinbar.174 Seit Goodwin ist damit im Ergebnis auch das Recht Transsexueller, eine Ehe mit einem Partner ihres Geburtsgeschlechts eingehen zu wollen, von Art. 12 EMRK geschützt. Welche Anforderungen daran zu stellen sind, ob 171  EGMR, Urt. v. 10.7.2002, Goodwin v. the United Kingdom, Nr. 28957/95, § 98, Reports 2002 S. 1 (34). 172  Stevenson (Hrsg.), Oxford English Dictionary, Eintrag „gender“. 173  EGMR, Entsch. v. 28.11.2006, Parry v. the United Kingdom, Nr. 42971/05, Reports 2006, S. 271. 174  EGMR, Entsch. v. 28.11.2006, Parry v. the United Kingdom, Nr. 42971/05, Reports 2006, S. 271.

118 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

die transsexuelle Person mittlerweile als dem „neuen“ Geschlecht zugehörig erachtet wird, bleibt unklar. Das Abstellen auf das biologische Geschlecht genügt dem EGMR jedenfalls nicht. Allein deshalb kommt es für das Recht, eine Ehe eingehen zu wollen, auch nicht auf die Zeugungsfähigkeit der Partner an, die im Falle transsexueller Ehen regelmäßig nicht gegeben ist. Die Verwehrung des Heiratsrechts für Transsexuelle, die geschlechtsangleichende Maßnahmen haben durchführen lassen, verstößt gegen Art. 12 EMRK. Dazwischen blieb nach dem Goodwin-Urteil eine Grauzone, die auszufüllen Sache der Mitgliedstaaten blieb. Wenn insbesondere nach dem Urteil in der Sache Goodwin nunmehr feststeht, dass die Zeugungsfähigkeit keine Bedingung für die Ausübung des Rechtes zu heiraten ist und es konsequenterweise nach der Auffassung des EGMR auch nicht der biologischen Geschlechtsverschiedenheit bedarf, drängt sich die Frage nach der Einbeziehung der Homosexuellenehe in den Anwendungsbereich der Eheschließungsfreiheit auf, die schließlich ebenfalls zwischen zwei Personen des gleichen biologischen Geschlechts bestehen würde, ebenso wie es in der Ehe mit einem transsexuellen Ehepartner regelmäßig der Fall ist, wobei die Partner hier auch das gleiche „soziale Geschlecht“ haben. Der EGMR hatte in dem Urteil Schalk und Kopf aus dem Jahre 2010 Gelegenheit, zu dieser Frage Stellung zu beziehen. Die Beschwerdeführer, zwei Männer, wandten sich gegen österreichisches Recht, dass es nur Männern und Frauen ermöglicht, eine Ehe einzugehen. Der EGMR sah in dem österreichischen Rechtsregime keine Verletzung von Art. 12 EMRK. Aus der Entscheidung in Goodwin lasse sich ein Recht gleichgeschlechtlicher Partner auf Eheschließung nicht herleiten, da es sich in den Fällen der Eheschließung Transsexueller nicht um die Begründung gleichgeschlechtlicher Ehe handelte, sondern um Fragen der Geschlechtszuschreibung. Das Gericht vergleicht aber Art. 12 EMRK mit Art. 9 GRC und kommt zu dem Ergebnis, dass Art. 12 EMRK vor diesem Hintergrund nicht „unter allen Umständen auf die Heirat zwischen zwei Partnern unterschiedlichen Geschlechts beschränkt sein müsse“.175 Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta verdeutlichten, dass Art. 9 GRC keine Pflicht zur Schaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe enthalte, dies aber auch nicht ausschließe. Vor diesem Hintergrund und der Entwicklung in den Konventionsstaaten sei davon auszugehen, dass Art. 12 EMRK auf den Fall der Partnerschaft zwischen Menschen gleichen Geschlechts anwendbar sei. Ob gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt würden, bleibe „wie die Dinge liegen“ einstweilen Sache der Mitgliedstaaten.176 Der 175  EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf v. Austria, Nr. 30141/04, § 61. Reports 2010 S. 409 (429). 176  EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf v. Austria, Nr. 30141/04, § 61. Reports 2010 S. 409 (429).



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC119

EGMR sieht die Beantwortung dieser Frage demnach als im Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“) der Mitgliedstaaten liegend an.177 Mit der Entscheidung, dass Art. 12 EMRK grundsätzlich auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften anwendbar ist, hält der EGMR an seinem früheren Ehebegriff nicht fest, sondern erweitert den Tatbestand auf die Verbindung von zwei Personen, egal welchen Geschlechts. Ob die beiden Partner der Ehe verschiedengeschlechtlich sein müssen, fällt letztlich in den Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten. Die Verschiedengeschlechtlichkeit ist seit Schalk und Kopf folglich kein notwendiger Bestandteil des Ehebegriffes mehr. Wenn auch das Ergebnis des EGMR im konkreten Fall für die Beschwerdeführer enttäuschend gewesen sein mag, ist die Entscheidung in dogmatischer Hinsicht bemerkenswert, da sich die Beschränkung der Ehe auf verschiedengeschlechtliche Verbindungen nunmehr grundsätzlich an den Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 12 EMRK messen lassen muss. b) Die Gewährleistungsdimensionen des Rechts auf Eingehung einer Ehe Des Weiteren ist fraglich, welche Gewährleistungsdimensionen dem Recht auf Eingehung einer Ehe gemäß Art. 12 EMRK zugemessen werden. Aus dem Verweis auf das mitgliedstaatliche Recht folgt, dass sich der Ehebegriff des Art. 12 EMRK auf die rechtlich eingehegte Ehe, die Zivilehe bezieht. Voraussetzung für die Ausübung der Eheschließungsfreiheit ist, dass ein entsprechendes Rechtsinstitut überhaupt zur Verfügung steht. Heiratswillige Partner haben einen Anspruch auf Eheschließung nach Maßgabe des Rechtsinstituts Ehe und somit auch auf die Bereitstellung der notwendigen rechtlichen Voraussetzungen.178 Ob Art. 12 EMRK darüber hinaus eine Institutsgarantie der Ehe nach deutschem Verständnis enthält, erscheint zweifelhaft und wird kaum vertreten.179 Der EGMR hat bisher nicht erkennen lassen, dass er Art. 12 EMRK eine Institutsgarantie entnimmt oder dass ihm objektive Gehalte zukommen. Davon zu unterscheiden ist, dass den Staaten zur Ermöglichung der Ausübung der Eheschließungsfreiheit die Pflicht obliegt, eherechtliche Regelungen vorzuhalten. Dabei handelt es sich um Handlungspflichten der Mitgliedstaaten, die nicht mit einer Institutsgarantie gleichzusetzen sind.180 Weitergehende positive Verpflichtungen enthält Art. 12 EMRK nicht.181 177  EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf v. Austria, Nr. 30141/04, § 62. Reports 2010 S. 409 (429). 178  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 122. 179  So ausdrücklich wohl nur Fischer, Rheinischer Kommentar zur EMRK, Art. 12 Rn. 2. 180  Zur Institutsgarantie ausführlicher oben, S. 46 ff. 181  Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 12 Rn. 1.

120 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

c) Schranken und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit Schließlich ist zu klären, welchen Schranken die Eheschließungsfreiheit des Art. 12 EMRK unterliegt und wie weit diese reichen. Art. 12 EMRK unterliegt keiner ausdrücklichen Schrankenklausel, sondern verweist auf die innerstaatlichen Gesetze, welche die Ausübung des Rechtes regeln. Der Verweis auf das nationalstaatliche Recht in Art. 12 EMRK bedeutet indes nicht, dass die Mitgliedstaaten freie Hand bei der Gestaltung der Ehezugangsvoraussetzungen hätten. Anderenfalls wäre Art. 12 EMRK nahezu bedeutungslos, es könnten allenfalls Verletzungen des einfachen Rechts gerügt werden.182 Dementsprechend hat der Gerichtshof klargestellt, dass Art. 12 EMRK durch den Verweis auf die mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften nicht ausgehöhlt werden dürfe. Die Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten sei nicht unbegrenzt, sondern überschritten, wenn der Wesensgehalt („the very essence of the right“) angetastet werde.183 Zudem findet, wenn auch unter Berücksichtigung des Spielraums der Mitgliedstaaten („margin of appreciation“), eine Willkür- und Verhältnismäßigkeitsprüfung statt.184 Wie hoch die Kontrolldichte ausfällt, variiert in der Rechtsprechung des EGMR. In der Sache Schalk und Kopf beschränkte sich der Gerichtshof auf die Feststellung, dass der Ausschluss gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zurzeit im Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten liege. So progressiv die Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den Anwendungsbereich der Eheschließungsfreiheit gewesen sein mag, scheute sich der EGMR noch davor, die dogmatischen Konsequenzen zu ziehen: Eigentlich hätte weiter geprüft werden müssen, ob die Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Partner den Wesensgehalt des Rechts berührt, willkürlich oder unverhältnismäßig ist. Dass die Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Ehen stets im Beurteilungsspielraum der Konventionsstaaten liegen soll, leuchtet nicht recht ein, vergleicht man die Lage mit dem Urteil in der Sache Goodwin: Nachdem der EGMR den Anwendungsbereich für Transsexuelle mit dem Argument geöffnet hatte, dass es für die Geschlechtszuschreibung nicht nur auf biologische Merkmale ankomme, kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass der Wesensgehalt des Rechts auf Eheschließung verletzt sei, wenn ein postoperativer Transsexueller keinen Partner seines oder ihres ursprünglichen biologischen Geschlechts heiraten könne. Der Gerichtshof hält es für konstruiert, anzuneh182  Jacobs/Ovey/White,

The European Convention on Human Rights, S. 353. Rspr., EGMR, Urt. v. 14.12.2010, O’Donoghue and others v. the United Kingdom, Nr. 34848/07 § 82, Reports 2010 S. 397 (421 f.) m. w. N. 184  Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 12 Rn. 8; EGMR, Urt. v. 5.1.2010, Frasik, Nr. 22933/02, § 88, Reports 2010, S. 1 (24); Urt. v. 14.12.2010, O’Donoghue and others v. the United Kingdom, Nr. 34848/07 § 83, Reports 2010 S. 397 (421 f.). 183  St.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC121

men, dass die Beschwerdeführerin immer noch eine (biologische) Frau heiraten könne und ihr das Recht auf Eheschließung deshalb nicht gänzlich entzogen sei. „The applicant (…) lives as a woman, is in a relationship with a man and would only wish to marry a man. She has no possibility of doing so.“185 Es wird argumentiert, dass wenn im Fall Goodwin der Wesensgehalt des Eherechts verletzt sei, weil Frau Goodwin jegliche Möglichkeit, einen Mann zu heiraten, rechtlich verwehrt sei, dies auch im Fall homosexueller Partnerschaften der Fall sein müsse. Denn auch hier sei es von Rechts wegen unmöglich, dass ein Mann einen anderen Mann und eine Frau eine andere Frau heirate. Die Entscheidung in Schalk und Kopf stehe daher – entgegen der Ansicht des Gerichtshofs – im Widerspruch zur Entscheidung in der Sache Goodwin.186 Die Argumentation geht zwar in die richtige Richtung, überzeugt aber im Hinblick auf ihre Betonung des Wesensgehaltes nicht gänzlich. Dass eine Person eine andere Person unter Umständen nicht heiraten darf, tastet noch nicht per se den Wesensgehalt des Art. 12 EMRK an. Anderenfalls wären sämtliche Eheverbote, die an Umstände anknüpfen, die unveränderlich sind, nicht zu rechtfertigen. (Als Beispiel sei das Eheverbot zwischen Verwandten genannt). So wollte der EGMR sich wohl nicht verstanden wissen. Dass im Falle Goodwin das Recht auf Eheschließung verletzt war, lag nach der Argumentation des EGMR vielmehr daran, dass Frau Goodwin als Frau lebte und sich, wenn das einmal anerkannt ist, entsprechend dem traditionellen Bild heterosexuell verhält, nämlich in einer Beziehung mit einem Mann ist und diesen Mann heiraten möchte. Die Verletzung liegt folglich darin, dass das „neue“ Geschlecht eines Transsexuellen nicht als solches im Sinne des Art. 12 EMRK anerkannt wird. Erkennt man es aber konventionsrechtlich an, hätten Transsexuelle nach der damaligen britischen Rechtslage keine Möglichkeit gehabt, zu heiraten. Darauf bezieht sich die Aussage des EGMR zu der gekünstelten Argumentation, Frau Goodwin könne immer noch eine Frau heiraten. Im Grunde ist die Frage eine des diskriminierungsfreien Zugangs zu dem Recht aus Art. 12 EMRK, da je nach „Quelle“ der Geschlechtszuschreibung differenziert wird („sex“ und „gender“). Die Unschlüssigkeit des Urteils in der Sache Schalk und Kopf erhellt sich vielmehr in einem Vergleich der Situation Transsexueller und Homosexueller: In beiden Fällen wollen Personen des gleichen biologischen Geschlechts heiraten. Der Unterschied zwischen den Vergleichspaaren besteht darin, dass ein postoperativer Transsexueller seinen Körper optisch dem des „neuen“ Geschlechts angeglichen hat. Dass er wie im Fall von Frau Goodwin auch „wie eine Frau lebt“ bezieht sich offenbar auf das soziale Geschlecht. Was genau der Gerichtshof damit meint oder welche Rechtfertigung dieser Hinweis bieten sollte, bleibt allerdings im Detail dunkel. Angesichts des 185  EGMR, Urt. v. 10.7.2002, Goodwin v. the United Kingdom, Nr. 28957/95, § 101, Reports 2002 S. 1 (34 f.). 186  So Wiemann, Sexuelle Orientierung im Völker- und Europarecht, S. 176.

122 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Sachverhalts geht der EGMR offenbar von Umständen aus wie der Verwendung eines weiblichen Namens, möglicherweise der Tatsache dass Frau Goodwin sich nach traditionell feminin wahrgenommener Art kleidet, schminkt oder lange Haare trägt. Es fragt sich nur, warum das einen Unterschied hinsichtlich des Eheschließungsrechts machen soll. Sachliche Gründe sind dafür nicht ersichtlich. Einen Rechtfertigungsversuch unternimmt Frenz, der meint, dass kein Wertungswiderspruch bestehe, „weil es sich hier jedenfalls nach ihrem subjektiven Empfinden und auch im Gefolge von Operationen um verschiedengeschlechtliche Personen handelt, sodass das Grunderfordernis einer Ehe als Verbindung von Mann und Frau gewahrt bleibt“.187 Kommt es demnach darauf an, dass der Körper operativ verändert wurde oder vielmehr darauf, dass ein Mann sich nach seinem „subjektiven Empfinden“ als Mann fühlt oder andersherum? Diese Unterscheidung erscheint ebenfalls gekünstelt. Einen sachlichen Grund jedenfalls vermag sie nicht darzustellen. In der Rechtsache Schalk und Kopf ist ein weiteres dogmatisches Problem bereits angelegt, zu dem der EGMR aber nicht Stellung zu beziehen brauchte, weil in der Zeit zwischen Einlegung der Individualbeschwerde und Entscheidung durch den EGMR in Österreich das Eingetragene Partnerschaft-Gesetz in Kraft trat. Das Problem ist, dass gemäß dem weiten Ehebegriff des EGMR zwei verschiedene „Ehen“ im Sinne der EMRK möglich sein können: Einmal die traditionelle Ehe und das neue Institut der eingetragenen Partnerschaft. Zumeist bleiben die eingetragenen Partnerschaften rechtlich hinter der Ehe zurück. Möglicherweise könnten Antragsteller dann den Zugang zur Ehe verlangen, weil sie sich mit dem alternativen Modell nicht zufrieden geben möchten. Es kommen zwei Möglichkeiten in Betracht, eine solche Situation, wie sie vom EGMR früher oder später zu entscheiden sein wird, dogmatisch aufzulösen. Anknüpfend an die Versagung der Eintragung der gleichgeschlechtlichen Ehe könnte auf das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK abgestellt werden.188 Die zweite Möglichkeit wäre, die mitgliedstaatlichen Regelungen wie üblich anhand des Ausübungsregelungsvorbehalts aus Art. 12 EMRK zu prüfen. Beide Ansätze kommen zum gleichen Ergebnis, da die Rechtfertigungsmaßstäbe sich der Sache nach nicht unterscheiden.189 Der Ausschluss von dem innerstaatlichen Institut der Ehe für gleichgeschlechtli187  Frenz,

Handbuch Europarecht IV, Rn. 1509. diesen Ansatz Wiemann, Sexuelle Orientierung im Völker- und Europarecht, S. 177. 189  Zum Rechtfertigungsmaßstab bei Ungleichbehandlungen im Sinne des Art. 13 EMRK vgl. nur Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 14 Rn.  9 ff. 188  Für



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC123

che Partnerschaften könnte damit gerechtfertigt werden, dass ein alternatives Institut zur Verfügung steht. Zweck der Ungleichbehandlung ist regelmäßig der Schutz des Leitbildes von Ehe und Familie als der Kleinfamilie bestehend aus Ehepartnern und ihren Kindern. Ein solches Leitbild zu verfolgen steht jedenfalls im Belieben der Mitgliedstaaten und wird auch von dem Wortlaut des Art. 12 EMRK nahegelegt. Typischerweise ist die Ehe in vielen Mitgliedstaaten die Vorstufe der Familiengründung. Man könnte dagegen einwenden, dass ein solcher Ausschluss gar nicht erforderlich ist, da er Männer und Frauen nicht von der Eingehung einer Ehe und ggf. der Gründung einer Familie abhält.190 Das hinge von der Ausgestaltung der Ehe ab, an die oftmals auch familienpolitische Leistungen geknüpft werden. Die Schlagkraft dieses Arguments hängt demnach vom Einzelfall ab. Unangemessen wäre der Ausschluss gleichgeschlechtlicher Partnerschaften angesichts des Beurteilungsspielraums der Konventionsstaaten dann nicht, wenn ihnen ein alternatives Institut zur Verfügung stünde, das der Natur der Ehe als Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft der Ehegatten untereinander gleichkäme und nur in Bezug auf die Beziehung von Eltern und Kindern Unterschiede machte. Diese Unterschiede müssten sich dann aber an Art. 8 i. V. m. Art. 14 EMRK messen lassen, da Art. 12 EMRK nur das Recht auf Eingehung der Ehe schützt, nicht die Ausgestaltung des Eheverhältnisses. Insgesamt ist das Recht auf Eheschließung in der Rechtsprechung der Konventionsorgane quantitativ von geringerer Bedeutung. Die Konventionsorgane haben eine Verletzung des Rechts auf Eingehung einer Ehe in einigen Fällen bejaht, z. B. bei einer Regelung britischen Rechts, nach der Strafgefangene nicht heiraten konnten191 und bei einer dreijährigen Wartefrist vor der Wiederheirat nach der dritten Scheidung nach schweizerischem Recht.192 Wenn Transsexuellen die Möglichkeit verwehrt wird, eine Person ihres ursprünglichen Geschlechts zu heiraten, liegt darin ebenfalls eine Verletzung von Art. 12 EMRK.193 Dogmatisch ist der Verweis auf die innerstaatlichen Gesetze als Schranke zu verstehen, die Garantie des Wesensgehalts des Rechts und das Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzen ihrerseits die Reichweite der Regelungsbefugnis der Mitgliedstaaten als Schranken-Schranken.

190  So auch die Argumentation des BVerfG zur Verfassungskonformität der eingetragenen Lebenspartnerschaft, BVerfGE 105, 313 (347). 191  Kom., Ber. zu Draper v. the United Kingdom, v. 10.7.1980, Nr. 8186/71; ebenso EGMR, Urt. v. 5.1.2010, Jaremowicz v. Poland, Nr. 24023/03, § 51, nicht veröffentlicht. 192  EGMR, Urt. v. 18.12.1987, F. v. Switzerland, Nr. 11329/85, § 36, Serie A 128, S.  17 f. 193  EGMR, Urt. v. 10.7.2002, Goodwin v. the United Kingdom, Nr. 28957/95, §§ 98 ff., Reports 2002 S. 1 (34).

124 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

2. Das Recht, eine Familie zu gründen Art. 12 gewährleistet nicht nur das Recht, eine Ehe einzugehen, sondern auch das Recht, eine Familie zu gründen. Ebenso wie das Recht auf Eingehung einer Ehe steht das Recht auf Familiengründung unter dem Vorbehalt des mitgliedstaatlichen Rechts. Es gelten jedoch die gleichen Erwägungen wie bei der Eheschließungsfreiheit, der Anwendungsbereich wird durch den Familienbegriff bestimmt (s. Ziff. a)). Von ihm hängt ab, welche Gewährleistungsdimensionen das Recht auf Gründung einer Familie entfaltet (s. Ziff. b)). Schließlich stellt sich auch bei der Familiengründungsfreiheit die Frage nach der Rechtfertigung von Beschränkungen (s. Ziff. c)). a) Der Familienbegriff des Art. 12 EMRK Die „Familie“ im Sinne des Art. 12 EMRK ist die Gemeinschaft von Eltern und Kindern. Das Recht, eine Familie zu gründen, bedeutet das Recht, Kinder zu haben.194 Art. 12 EMRK schützt aber nur die Gründung der Familie (wie auch nur die Eingehung der Ehe). Bestehende Familien (und Ehen) fallen unter den Schutz von Art. 8 EMRK.195 Weiterhin schützt Art. 12 EMRK nach verbreiteter Ansicht nur die Gründung einer ehelichen Familie.196 Das legt der Wortlaut des Art. 12 EMRK nahe, der von „das Recht“ und „dieses Recht“ spricht (englisch: „the right“ und „this right“ französisch: „le droit“ und „ce droit“). Andererseits haben sich die Verhältnisse seit Ausarbeitung der Konvention gravierend geändert. Während in den 50er Jahren die Ehe als einzig legitime Form des Zusammenlebens von Männern und Frauen angesehen wurde, kann dies im 21. Jahrhundert nicht mehr gesagt werden. Vor dem Hintergrund des erheblichen sozialen Wandels bietet sich eine dynamische Interpretation, die das Recht auf Familiengründung vom Recht der Ehe löst, an.197 Der EGMR hält bisher an seiner traditionellen Auffassung fest.198 Unter die Freiheit, eine Familie zu gründen, fällt mithin jedenfalls die Möglichkeit der Eheleute, Kinder auf biologischem Wege zu zeugen. Die Möglichkeit, Kinder durch künstliche Befruchtung zu bekommen, ist eben194  Grabenwarter,

European Convention on Human Rights, Art. 12 Rn. 5. Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 136. 196  Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 12 Rn. 13; Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 12 Rn.  7; a. A. Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 12 Rn. 4. 197  van Dijk, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the Convention on Human Rights, S. 856 f. 198  EGMR, Urt. v. 10.7.2002, Goodwin v. the United Kingdom, Nr. 28957/95, § 98, Reports 2002 S. 1 (34). 195  Palm-Risse,



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC125

falls von Art. 12 EMRK geschützt.199 Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Entscheidung eine Schwangerschaft durch die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin einzuleiten, nicht unter den Begriff der Familiengründung fallen sollte.200 Fraglich ist allerdings, ob auch die nur rechtliche Möglichkeit, eine Familie zu gründen, namentlich durch Adoption, von Art. 12 der Konvention geschützt ist. Dass in Art. 12 EMRK nur die eheliche Familie geschützt sein soll, spricht selbst nicht gegen die Annahme, dass eine solche eheliche Familie auch durch die Adoption von Kindern gegründet werden könnte.201 Dass unter den Begriff der Familie nicht nur die durch Abstammung vermittelte Verwandtschaft fällt, sondern die Familie auch rechtlich begründet werden kann, folgt nach der Auffassung der Kommission grundsätzlich schon daraus, dass eine bestehende Ehe bereits als Familie angesehen wird, in welche das Kind durch die Adoption „integriert“ wird.202 Die Möglichkeit der Adoption besteht darüber hinaus in allen Mitgliedstaaten der EMRK. Deshalb liegt die Annahme nahe, dass die Vertragsparteien ebenfalls von einem solchen Verständnis ausgingen. Die weitere Rechtsprechung der Konventionsorgane spricht allerdings gegen ein solches Verständnis. So führte die Kommission aus: „it is left to national law to determine whether, or subject to what conditions, the exercise of the right in such a way [d. h. durch Adoption, VR] should be permitted.“203 Das scheint widersprüchlich zu der grundsätzlichen Anerkennung der Möglichkeit, eine Familie auch durch Adoption zu gründen, in den vorangegangenen Sätzen der Kommissionsentscheidung. Die Kommission könnte hier so zu verstehen sein, dass sie eine Familiengründung durch Adoption als in den Anwendungsbereich des Art. 12 EMRK fallend ansieht. Die Ausgestaltung des Verfahrens, die Bedingungen etc., liegen demgegenüber im Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten („… subject to what conditions …“). Die Entscheidung darüber, ob („whether“) die Ausübung des Rechts auf Familiengründung im konkreten Fall, bezogen auf eine konkrete Familie und ein konkretes Kind, gestattet wird, hängt von vielen Faktoren des Einzelfalls ab. Wie diese Faktoren zu berücksichtigen und zu gewichten sind, ist von den Mitgliedstaaten zu entscheiden. Das Recht auf Adoption fiele demnach 199  van Dijk, in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the Convention on Human Rights, S. 855. 200  Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 12 Rn. 5. 201  A. A. Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 12 Rn. 13. 202  Kom., Entsch. v. 15.12.1977 zu X und Y v. the United Kingdom, Nr. 7229/75, Decisions and Reports 12 S. 32 (34). 203  Kom., Entsch. v. 15.12.1977 zu X und Y v. the United Kingdom, Nr. 7229/75, Decisions and Reports 12 S. 32 (34).

126 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

in den Anwendungsbereich des Art. 12 EMRK, Einschränkungen wären möglich, aber rechtfertigungsbedürftig. Die folgende Rechtsprechung bestätigt diesen Befund allerdings nicht. In Di Lazzaro204 nimmt die Kommission auf die soeben erläuterte Passage Bezug. Es heißt nunmehr weniger missverständlich, Art. 12 EMRK „does not guarantee a right to adopt or otherwise integrate into a family a child which is not the natural child of the couple concerned.“205 In Fretté206 wiederholt der Gerichtshof diesen Befund und misst den Fall an Art. 8 EMRK. Das ist insofern schlüssig, als dass es sich bei der Adoption um die rechtliche Begründung von Verwandtschaft handelt, die Verrechtlichung faktischer Verhältnisse. Daher könnte man der Auffassung sein, dass hier nicht die Abwehrdimension von Grundrechten betroffen ist, sondern den Staat eine Handlungspflicht trifft, nämlich zur Verfügungsstellung eines entsprechenden rechtlichen Verfahrens, das einer tatsächlichen Nähebeziehung Rechnung trägt.207 Ob das Recht auf Familiengründung durch Adoption vom Anwendungsbereich des Art. 12 EMRK geschützt ist, hängt mithin davon ab, ob aus der Vorschrift eine Handlungspflicht der Konventionsstaaten zur Bereitstellung eines Adoptionsverfahrens abzuleiten ist. b) Gewährleistungsdimensionen des Rechts auf Familiengründung Die Bedeutung der Familiengründungsfreiheit aus Art. 12 EMRK liegt zunächst in seiner Funktion als Abwehrrecht. Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich dazu verpflichtet, die Familiengründungsfreiheit nicht über Gebühr einzuschränken. Der EGMR hat klargestellt, dass die Mitgliedstaaten nicht dazu verpflichtet sind, den Bürgern die zu einer Familiengründung erforderlichen Geld- oder Sachmittel zur Verfügung zu stellen.208 In Bezug auf die Familie gilt im Gegensatz zum Begriff der Ehe, dass es sich bei der Familiengründung im Sinne des Art. 12 EMRK in der Regel um einen „natürlichen“ Vorgang handelt. Es ist jedenfalls rechtfertigungsbedürftig anzunehmen, dass der nicht denknotwendige Teil (die Familiengründung durch Adoption) darunter gefasst sein sollte. Die rechtliche Anerkennung tatsächlicher Nähebeziehungen ist vom Gewährleistungsumfang des Art. 12 EMRK grundsätzlich nicht umfasst, sondern an Art. 8 EMRK zu messen. 204  Kom., Entsch. v. 10.7.1997 zu Di Lazzaro v. Italy, Nr. 31924/96, Decisions and Reports 90- B S. 134 (139). 205  Kom., Entsch. v. 10.7.1997 zu Di Lazzaro v. Italy, Nr. 31924/96, Decisions and Reports 90- B S. 134 (139). 206  EGMR, Urt. v. 26.2.2002, Fretté v. France, Nr. 36515/970 § 32, Reports of Judgments and Decisions 2002-I, S. 345 (364). 207  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 138. 208  Kom., Entsch. v. 4.3.1986 zu Andersson v. Sweden, Nr. 11776/85, Decisions and Reports 46 S. 251 (253).



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC127

Teilweise wird dennoch vertreten, dass auch aus Art. 12 EMRK in Bezug auf die Familiengründungsfreiheit die Pflicht positiven Tuns des Staates erwachsen könne, nämlich in Fällen, in denen das Tätigwerden so geringfügig sei, dass es im Vergleich zu der Verweigerung des Rechts kaum ins Gewicht falle, wie es angeblich auch im Falle der Adoption der Fall sei.209 Dass die Konvention den Mitgliedstaaten grundsätzlich auch positive Pflichten auferlege, sei anerkannt. Das aufgeführte Fallrecht betrifft aber zumeist Art. 6 EMRK,210 der ein Recht auf ein faires Verfahren gewährt. Ein Verfahren ist per se durch aktives Handeln des Staates zu gewährleisten, er muss das Verfahren zur Verfügung stellen, ohne staatliche Aktivität gibt es kein Verfahren. Es ist demnach dem Wesen des Art. 6 EMRK geschuldet, dass zu einem fairen Verfahren auch gehört, dass es ein solches Verfahren überhaupt gibt, in der Regel in Form des Zugangs zu den Gerichten.211 Das Recht auf ein faires Verfahren ist seinem Wesen nach ein materielles Leistungsrecht. Lediglich der Fall Draper betrifft die Rechte aus Art. 8 und 12 EMRK. Herr Draper verbüßte eine lebenslange Haftstrafe in Großbritannien. Er beantragte bei der Strafvollzugsbehörde, die Haft zum Zwecke der Heirat verlassen zu dürfen. Sein Antrag wurde abgelehnt.212 Herr Draper rügte eine Verletzung von Art. 12 EMRK.213 Die Ausübung von Freiheitsrechten durch Strafgefangene stellt insofern eine Sonderkonstellation dar, als dass sie naturgemäß in den meisten Fällen einer Mitwirkung durch die Strafvollzugsbehörden bedarf. Das ist der Tatsache geschuldet, dass der Staat die Freiheitssphäre des Bürgers durch dessen Inhaftierung bereits maßgeblich beschnitten hat: Durch die Inhaftierung greift der Staat so weit in die Freiheit des Bürgers ein, dass dieser außerstande ist, viele seiner Freiheitsrechte wahrzunehmen, ohne dass die Behörden ihm dies gestatten. Da er sich dauerhaft in einer staatlich kontrollierten Umgebung befindet, bedarf es regelmäßig der Zurverfügungstellung von Mitteln durch die Behörden oder deren sonstiger Mitwirkung. Die Kommission hat dazu festgestellt, dass das Verbot gegenüber einem Gefangenen, seinem Anwalt einen Brief zu schreiben, de facto das Verbot bedeute, diesen zu konsultieren. Die Vorenthaltung von Stift und Papier komme der Vernichtung der Post und damit wiederum dem Verbot der Konsultation des Anwaltes gleich.214 Vor diesem Hintergrund ist die Kommission in der Sache Draper zu verstehen, wenn es heißt, dass die Gefängnisbehörde gewisse Arrangements zu treffen habe, damit ein Gefangener sein Recht, eine Ehe ein209  Palm-Risse,

Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 138. Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 138 Fn. 21. v. 1.6.1973 zu Golder v. the United Kingdom, Nr. 4451/70, S. 28 f. v. 10.7.1980 zu Draper v. the United Kingdom, Nr. 8186/71, S. 1. v. 10.7.1980 zu Draper v. the United Kingdom, Nr. 8186/71, S. 8. v. 1.6.1973 zu Golder v. the United Kingdom, Nr. 4451/70, S. 56.

210  Palm-Risse, 211  Kom.,

Ber. Ber. 213  Kom., Ber. 214  Kom., Ber. 212  Kom.,

128 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

zugehen, ausüben könne.215 Tue sie dies nicht, liege ein Eingriff vor.216 „Gefangenenfälle“ sind deshalb ein Sonderfall. Wenn der Staat seinen Eingriff in die Freiheitssphäre des Bürgers aufrechterhalten will, kann er dem Strafgefangenen die Ausübung seiner Freiheit in vielen Fällen nicht einfach „gestatten“, sondern muss das Strafvollzugsrecht entsprechend ausgestalten. Das Beispiel der Konsultation eines Anwalts verdeutlicht die Situation: Die Behörden könnten den Gefangenen auch freilassen und ihm so die Möglichkeit zurückgeben, sich selbst Stift und Papier zu besorgen. Da dies dem Zweck der Inhaftierung zuwiderliefe, muss der Staat seinen freiheitsverkürzenden Eingriff durch die Bereitstellung von Stift und Papier reduzieren. Ebenso ist es im Fall Draper: Herr Draper beantragt nicht, dass man ihm eine Trauungszeremonie in der Haftanstalt ausrichtet, sondern dass man ihm zum Zweck der Heirat Freigang gewährt. Auch wenn der Staat dazu tätig werden muss, handelt es sich der Sache nach um die Verringerung eines Eingriffs in seine Bewegungsfreiheit, der dadurch in Bezug auf das konkret in Rede stehende Recht erst verhältnismäßig wird. Die Situation von Strafgefangenen, die ihre Rechte wahrnehmen wollen, unterscheidet sich deshalb grundlegend von der Situation einer Person, die durch Adoption eine Familie gründen möchte. Die Adoption ist ein rechtlicher Vorgang, der ohne ein Tätigwerden des Staates nicht geschehen kann, anders als die Familiengründung durch biologische Fortpflanzung. Das unterscheidet das Recht zur Familiengründung von dem Recht auf Eingehung einer Ehe. Da die Ehe hier als rechtliche Verbindung verstanden wird, muss es denknotwendig Rechtsnormen geben, die sie erst statuieren. Die Familie bestehend aus Eltern und Kindern wird dagegen in aller Regel dadurch gegründet, dass die zukünftigen Eltern sich biologisch fortpflanzen. Ein Rechtsregime ist dazu nicht erforderlich. Deshalb enthält Art. 12 EMRK kein Recht auf Bereitstellung eines Adoptionsrechts. Ein solches könnte, als rechtliche Anerkennung faktischer Familienbande, höchstens aus Art. 8 EMRK folgen. Demnach liegt dem Art. 12 EMRK der Begriff der Familie als Verband von Eltern und (nur) ihren leiblichen Kindern zugrunde.217 Die Familiengründungsfreiheit ist ein materielles Abwehrrecht. 215  Kom., Ber. v. 10.7.1980 zu Draper v. the United Kingdom, Nr. 8186/71, S. 14 f.; v. 13.12.1979, Hamer v. the United Kingdom, Nr. 7114/75, S. 20 (Rn. 68), nicht veröffentlicht. 216  Frowein, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 12 Rn. 3. 217  Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art.  12 Rn.  13; Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S.  555; a. A. Fischer, Rheinischer Kommentar zur EMRK, Art. 12 Rn. 14; PalmRisse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 140; van Dijk, in: van



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC129

c) Schranken und Schranken-Schranken der Familiengründungsfreiheit Die Familiengründungsfreiheit steht ebenso wie die Eheschließungsfreiheit unter dem Vorbehalt der innerstaatlichen Gesetze, welche die Ausübung des Grundrechts regeln. Beschränkungen der Familiengründungsfreiheit dürfen, ebenso wie Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit, das Grundrecht nicht aushöhlen. Die vom EGMR für das Recht auf Eheschließung entwickelte Schranken-Schranke setzt der Gestaltungsmacht der Mitgliedstaaten bei der Einschränkung gleichermaßen Grenzen. Demnach darf der Wesensgehalt des Rechts auf Familiengründung („the very essence of the right“) nicht angetastet werden.218 Außerdem sind Eingriffe in die Familiengründungsfreiheit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen.219 Beschränkungen des Rechts auf Familiengründung erscheinen eher theoretischer Art. Denkbar sind eine Begrenzung der Kinderzahl oder Zwangssterilisationen von Ehepartnern. Angesichts der Schwere und möglichen Irreversibilität der Eingriffe dürften sie nicht oder nur schwer zu rechtfertigen sein,220 jedenfalls die Zwangssterilisation beraubte das Recht auf Familiengründung wohl seines Wesensgehalts und ist in Europa deshalb vollumfänglich verboten. d) Zusammenfassung Der EGMR legt dem Recht auf Eheschließung aus Art. 12 EMRK mittlerweile einen weiten Ehebegriff zugrunde. Er versteht unter einer Ehe die mit Rechtswirkung versehene, freiwillig eingegangene Gemeinschaft zweier Personen. Unter diesen Voraussetzungen ist der Anwendungsbereich der Norm eröffnet. Beschränkungen des Anwendungsbereichs der Eheschließungsfreiheit wie Eheverbote oder das Bigamieverbot sind grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig. Seit der Entscheidung des EGMR in der Sache Schalk und Kopf fallen auch gleichgeschlechtliche Verbindungen in den AnDijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 855. 218  Für die Eheschließungsfreiheit st. Rspr., vgl. EGMR, Urt. v. 14.12.2010, O’Donoghue and others v. the United Kingdom, Nr. 34848/07 § 82 m. w. N., Reports 2010 S. 397 (421 f.). 219  So wohl auch Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 12 Rn. 8; EGMR, Urt. v. 5.1.2010, Frasik, Nr. 22933/02, § 90, Reports 2010, S. 1 (25); EGMR, Urt. v. 14.12.2010, O’Donoghue and others v. the United Kingdom, Nr. 34848/07 § 83, Reports 2010 S. 397 (422). 220  Mückl, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI, § 141, Rn. 30.

130 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

wendungsbereich des Art. 12 EMRK. Bei der Ausgestaltung der Eheschließungsfreiheit billigt der EGMR den Mitgliedstaaten regelmäßig einen Beurteilungsspielraum zu. Ausgestaltungen des Eheverhältnisses selbst sind nicht an Art. 12 EMRK sondern gegebenenfalls an Art. 8 EMRK zu messen. Die Scheidung wird ebenfalls nicht von Art. 12 EMRK, sondern ggf. von Art. 8 EMRK geschützt. Die Handlungspflichten der Konventionsstaaten beschränken sich auf die Bereitstellung eines Rechtsinstituts, dass die Registrierung einer Partnerschaft im Allgemeinen und im Einzelfall ermöglicht. Eine Institutsgarantie oder sonstige objektiv-rechtliche Gehalte bezüglich der Ehe sind Art. 12 EMRK nicht zu entnehmen. Die Familiengründungsfreiheit aus Art. 12 EMRK umfasst nach der Rechtsprechung des EGMR nur die Gründung der ehelichen Familie. Die restriktive Rechtsprechung des EGMR ist angesichts des rechtlichen und gesellschaftlichen Wandels in den Konventionsstaaten nicht mehr überzeugend und sollte aufgegeben werden. Unter der Gründung einer Familie ist die gemeinsame Zeugung von Kindern zu verstehen. Dabei handelt es sich um einen biologischen Vorgang und mit dem Recht auf Familiengründung deshalb um eine natürliche Freiheit, die nicht erst rechtlich konstituiert werden muss. Das Recht auf die Adoption von Kindern ist von Art. 12 EMRK nicht umfasst. Da die Familiengründungsfreiheit nur eine „natürliche“ Freiheit gewährt, derer es keines Rechtsinstituts bedarf, enthält Art. 12 EMRK erst recht keine Institutsgarantie zugunsten der Familie. Die Familiengründungsfreiheit ist materiell ausschließlich ein Abwehrrecht.

II. Die Eheschließungsfreiheit des Art. 9 GRC Vor dem Hintergrund des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 12 EMRK wird im Folgenden die Eheschließungsfreiheit des Art. 9 GRC entfaltet. Wie sich zeigen wird, ist das Recht auf Eingehung einer Ehe dogmatisch anspruchsvoll. Zunächst wird die umstrittene Frage beantwortet, ob die Eheschließungsfreiheit, die als normgeprägtes Grundrecht auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, überhaupt eine eigenständige Bedeutung erlangen kann (s. Ziff. 1.). Sodann wird geklärt, ob Art. 9 GRC eine Institutsgarantie zugunsten der Ehe enthält, wie es teilweise vertreten wird (s. Ziff. 2.). Anschließend wird der Ehebegriff des Art. 9 GRC bestimmt (s. Ziff. 3.), bevor die Schranken und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit untersucht werden (s. Ziff. 4.). Ebenso wie Art. 12 EMRK – und anders als Art. 6 GG – gewährt Art. 9 GRC nur das Recht, eine Ehe einzugehen, stellt sie aber nicht ausdrücklich unter besonderen Schutz. Wie Art. 12 EMRK findet Art. 9 GRC nur auf den Gründungsakt der Ehe Anwendung. Die Ehe selbst oder das Eheleben der



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC131

Partner wird von Art. 9 GRC im Gegensatz zu Art. 6 GG nicht erfasst, sondern gegebenenfalls von Art. 7 und 33 GRC.221 1. Die Eheschließungsfreiheit des Art. 9 GRC als normgeprägtes Grundrecht Bei der Ehe in Art. 9 GRC handelt es sich um das familienrechtliche Institut der Ehe, die Zivilehe.222 Damit Heiratswillige von dem Recht auf Eingehung einer Zivilehe Gebrauch machen können, müssen sie über die zivilrechtliche Kompetenz zur Begründung eines ehelichen Rechtsverhältnisses verfügen. Diese Kompetenz muss durch die Mitgliedstaaten gesetzlich geschaffen werden. Deshalb bedarf der Begriff der Ehe als familienrechtliches Institut der einfachgesetzlichen Konstituierung. Sofern die Mitgliedstaaten kein Eheschließungsrecht bereitstellen, existiert auch keine Ehe im Sinne des Art. 9 GRC, die eingegangen werden könnte. Deshalb ist das Recht auf Eingehung einer Ehe aus Art. 9 GRC ein normgeprägtes Grundrecht. Die Normgeprägtheit der Eheschließungsfreiheit wirft Fragen auf. Angesichts der fehlenden Kompetenzen der Europäischen Union im Familienrecht und des ausdrücklichen Verweises auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in Art. 9 GRC könnte die Norm an das Eheschließungsrecht in den Mitgliedstaaten anknüpfen, ohne den Mitgliedstaaten diesbezüglich inhaltliche Vorgaben zu machen. Das Unionsrecht würde dann keinen eigenen Ehebegriff beinhalten, die Mitgliedstaaten hätten unionsrechtlich gesehen carte blanche zur Definition des Begriffs der Ehe.223 Dementsprechend wird vertreten, dass der Verweis auf das nationale Recht die Mitgliedstaaten zur Definition des Schutzbereichs des Ehegrundrechts ermächtige. Dies sei Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips, wonach die Zuständigkeitsverteilung zwi221  Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 9 GRC Rn. 1; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1490; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 9 EU-GRCharta Rn. 1; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 6; Wolff, EuR 2005, S. 721 (727). 222  Vgl. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 14; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten. § 16 Rn. 54; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 5. 223  In diese Richtung im Konvent Mombaur, CHARTE 4218/00, S. 78; vgl. auch das Protokoll von Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 186; deutlich Hayes, CHARTE 4218/00, S. 84, vgl. auch das Protokoll von Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 187; „… nahezu völlig gesetzgeberischer Beliebigkeit in den Mitgliedstaaten überantwortet.“ Tettinger/Geerlings, EuR 2005, S. 419 (425) und schon Tettinger, NJW 2001, S. 1010 (1012); Calliess, EuZW 2001, S. 261 (264 f.); Magiera, DÖV, 2000, S. 1017 (1026).

132 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

schen Mitgliedstaaten und Union durch die Grundrechtecharta nicht verschoben werde.224 Der Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften hat nach diesem Verständnis deklaratorischen Charakter: Dass die Kompetenzverteilung durch die Grundrechtecharta nicht verändert wird, hat mehrfach ausdrücklich Eingang in das Primärrecht gefunden, zum einen in Art. 51 Abs. 2 GRC selbst, zum anderen in Art. 6 EUV. Dass der Union keine Kompetenzen zur Schaffung einer „europäischen Ehe“ zustehen, ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass sich die Rechtsnormen zur Eingehung der Ehe dem jeweiligen nationalstaatlichen Recht entnehmen lassen. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung ihres Eherechts innerhalb des Anwendungsbereichs des Unionsrechts keiner Bindung unterliegen. Für die Existenz eines europarechtlichen Ehebegriffs spricht zunächst die Rechtsprechung des EuGH. Der Gerichtshof hat sich bereits vor dem Verbindlichwerden der Grundrechtecharta unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 12 EMRK zu dem europarechtlichen Begriff der Ehe geäußert.225 Die Bestimmung eines europarechtlichen Ehebegriffes durch den EuGH setzt seine implizite Anerkennung voraus. Dass die Grundrechtecharta hinter diesen Rechtszustand zurückfallen wollte, ist nicht anzunehmen. Weiterhin liefe die Vorschrift anderenfalls selbst theoretisch weitestgehend leer und wäre überflüssig. Es könnte im Rahmen des Art. 9 GRC nur die Verletzung des einmal konstituierten mitgliedstaatlichen Rechts gerügt werden. Dazu bedarf es keiner primärrechtlichen Regelung im Europarecht, dagegen könnte sich der Bürger über die Rechtsbehelfe nach dem mitgliedstaatlichen Recht zur Wehr setzen. Außerdem hinge der europarechtliche Grundrechtsschutz bezüglich der Eheschließungsfreiheit von der konkreten Ausgestaltung des Eheschließungsrechts in dem jeweiligen Mitgliedstaat ab. Eine derartige Fragmentierung des Grundrechtsschutzes widerspräche dem Gebot der Einheitlichkeit des Unionsrechts. Zudem spricht die Systematik der Normen der Grundrechtecharta, die Verweise auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften enthalten, gegen die Annahme, dass das Unionsrecht keinen eigenen Ehebegriff enthalte sondern das Recht vielmehr gänzlich zur Disposition der Mitgliedstaaten stehe. Art. 10 Abs. 2 GRC gewährleistet das Recht auf Wehrdienstverweigerung nach den einzelstaatlichen Gesetzen. Das Recht ist indes mit der Eheschließungsfreiheit nicht ohne weiteres vergleichbar: Während die Eheschließungs224  Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 135. 225  EuGH, Rs. C-249/96, Slg. 1998, I-621 Rn. 35 – Grant.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC133

freiheit im Wesentlichen ein materielles Leistungsrecht auf Begründung des ehelichen Familienstandes ist, handelt es sich bei dem Recht auf Wehrdienstverweigerung um ein klassisches Abwehrrecht. Durch Auslegung ist relativ leicht ermittelbar, was unter „Wehrdienst“ und dessen Verweigerung zu verstehen ist. Als Wehrdienst lässt sich mit Jarass jeder militärische Dienst verstehen, der in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Einsatz von Kriegswaffen steht.226 Art. 10 Abs. 2 GRC schützt die Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen. Art. 10 Abs. 2 GRC schützt damit die „natürliche Freiheit“, Wehrdienst nicht leisten zu müssen, in die der jeweilige Mitgliedstaat verkürzend eingreift, indem er den Einzelnen zur Ableistung des Wehrdienstes zwingt227 oder an die Verweigerung erhebliche Nachteile knüpft.228 Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta besagen, dass die Einführung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung den einzelstaatlichen Verfassungstraditionen und der Entwicklung der Gesetzgebung entspreche. Der Hinweis auf die mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften ist vor diesem Hintergrund nicht so zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten das Recht auf Wehrdienstverweigerung auch gänzlich abschaffen könnten,229 wenn auch ihnen bei der konkreten Gestaltung erhebliche Spielräume zuzubilligen sein können. Die Verkürzung des Schutzbereichs des Art. 10 Abs. 2 GRC kann ebenfalls nicht ohne jegliche Bindung der Mitgliedstaaten in deren freiem Ermessen liegen, ansonsten wäre das Recht auf Wehrdienstverweigerung bedeutungslos, sodass im Ergebnis jede Verkürzung des Rechts auf Wehrdienstverweigerung rechtfertigungsbedürftig ist, sofern der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta eröffnet ist. Ist der Eingriff nicht gerechtfertigt, beseitigt ein Unterlassen die Grundrechtsverletzung. Dass ein Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht bedeuten muss, dass das Recht gänzlich zur Disposition der Mitgliedstaaten steht, wird zudem an der unternehmerischen Freiheit aus Art. 16 GRC besonders deutlich: Die unternehmerische Freiheit ist eines der zentralen Wirtschaftsgrundrechte der Union und stützt sich auf die langjährige Rechtsprechung des EuGH, der sie als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt hat.230 Der 226  Jarass,

Charta der Grundrechte der EU, Art. 10 Rn. 13. diesem Sinne für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Art. 4 Abs. 3 GG auch Denninger, Staatliche Hilfen zur Grundrechtsausübung durch Verfahren, Organisation und Finanzierung, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, § 193 Rn. 37. 228  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 10 Rn. 17. 229  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 10 Rn. 23; a. A. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 10 Rn. 17; Knecht, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 GRC Rn. 8. 230  EuGH, Urt. v. 14.5.1974, Rs. 4/73, – Nold, Slg. 1974, 491 Rn. 14; Urt. v. 27.9.1979, Rs. 230/78, SpA Eridania und andere, Slg. 1979, S. 2749 Rn. 20, 31. 227  In

134 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

EuGH gesteht den Mitgliedstaaten im Rahmen des Art. 16 GRC keine unbegrenzte Ermächtigung zur Tatbestandsdefinition zu. Im Gegenteil definiert der Gerichtshof den Schutzbereich und unterwirft Eingriffe in die so geschützte Freiheitsausübung einer Rechtfertigungsprüfung gemäß Art. 52 Abs. 1 GRC.231 Das gleiche Verständnis liegt den Erläuterungen des Präsidiums zur unternehmerischen Freiheit in Art. 16 GRC zu Grunde. Das Recht werde „natürlich unter Einhaltung des Unionsrechts und der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ausgeübt“, könne aber unter den Voraussetzungen des Art. 51 Abs. 1 GRC beschränkt werden.232 Die unternehmerische Freiheit des Art. 16 GRC enthält damit trotz des Verweises auf das mitgliedstaatliche Recht bindende Vorgaben und folgt der üblichen abwehrrechtlichen Eingriffs- und Schrankendogmatik. Vergleichbares gilt für das Eigentumsrecht aus Art. 17 GRC. Der Eigentumsbegriff des Art. 17 GRC wird nach Ansicht des EuGH und der allgemeinen Meinung im Schrifttum ebenfalls autonom unionsrechtlich bestimmt, wenn auch die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als Erkenntnisquelle eine Rolle spielen können.233 Der Vergleich mit der Eigentumsfreiheit liegt inhaltlich besonders nahe, weil auch das Eigentum einen rechtsgeprägten Schutzbereich aufweist. Sähe man im Rahmen der Eheschließungsfreiheit nur den durch die Mitgliedstaaten konturierten Schutzbereich als von dem Grundrecht umfasst an, käme es zu einer Art Bestandsgarantie des einfachen Rechts.234 Dies mag für einige Grundrechte in der klassischen formellen Abwehrsituation, zum Beispiel bei Eingriffen in von dem Eigentumsgrundrecht aus Art. 17 GRC geschützte konkrete Eigentumspositionen plausibel erscheinen, blendet aber die leistungsrechtliche Seite aus. Schaffte der Gesetzgeber beispielsweise die Ehe für die Zukunft ab, gäbe es keinen gesetzlich konturierten Schutzbereich mehr, in den eingegriffen werden könnte. Heiratswillige Personen könnten sich auf ihre Eheschließungsfreiheit mangels Eingriffs in eine bestehende Rechtsposition nicht berufen. Gleiches gilt für die Änderung der Eigentumsordnung, die nur zukünftige Fälle betrifft.235 Anders als Eingriffe, die in der 231  EuGH,

Rs. C 283/11, Rn. 42 ff. – Sky Österreich. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (23). 233  EuGH, Rs. 44/79, Slg 1979, 3727 Rn. 14 – Hauer; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 17 Rn. 15; Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 17 GRC Rn. 4; wohl auch Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 17 Rn. 6. 234  Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 125 ff. 235  Diese Fälle sieht auch Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 369, als Fälle der Ausgestaltung an; ebenso Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 190. 232  ABl.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC135

Regel eine Unterlassenspflicht auslösen,236 erfordert die Ausgestaltung ein Tätigwerden des Gesetzgebers.237 Damit ist die Leistungsseite der Grundrechte betroffen. Verweise auf das mitgliedstaatliche Recht nur als Bestandsgarantien des einfachen Rechts anzusehen, ist aus diesen Gründen abzulehnen. Schließlich scheidet die Sichtweise, das Ehegrundrecht stehe gänzlich zur Disposition der Mitgliedstaaten, wegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC zwingend aus: Wie bereits dargelegt wurde, hat der EGMR zu Art. 12 EMRK, der ebenfalls auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, entschieden, dass die Mitgliedstaaten bei der Gestaltung des Eherechts nicht frei von jeglicher Bindung sind. Eine andere Sichtweise im Rahmen des Art. 9 GRC unterläuft das Schutzniveau der EMRK und verstößt deshalb jedenfalls gegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC. Demnach steht fest, dass die Mitgliedstaaten bei der Regelung der Ehe, die Anwendbarkeit des Unionsrechts vorausgesetzt, trotz der Normgeprägtheit der Ehe und des Verweises auf die einzelstaatlichen Gesetze jedenfalls nicht von jeglicher Bindung frei sind. Dadurch ist das Problem der Bestimmung des Schutzbereiches freilich nicht gelöst. Als normgeprägtes Grundrecht ist die Eheschließungsfreiheit einerseits auf die einfachrechtliche Ausgestaltung durch die Mitgliedstaaten angewiesen, andererseits sollen die Mitgliedstaaten als Adressaten der Grundrechte gemäß Art. 51 GRC durch das Grundrecht gebunden werden. Diese scheinbare „Perplexität“238 normgeprägter Grundrechte wird bei Art. 6 Abs. 1 GG durch die Gewinnung des Begriffes der Ehe aus der ebenfalls von Art. 6 Abs. 1 GG verbürgten, seiner objektiv-rechtlichen Dimension entspringenden, Institutsgarantie begegnet. 2. Art. 9 GRC als Institutsgarantie zugunsten der Ehe Bezogen auf Art. 9 GRC wird ebenfalls vertreten, dieser enthalte eine „Institutsgarantie“.239 Sollte dieser Auffassung zuzustimmen sein, könnte 236  Wenn auch im Einzelfall bei einer formellen Betrachtungsweise Handlungspflichten entstehen können, z. B. in Form der Folgenbeseitigung, Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 173; dazu auch schon oben, S. 77. 237  Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 105. 238  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 672. 239  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1523; Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts, S. 310; Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar Europäische Grundrechte-Charta, Art. 9 Rn. 27; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16 Rn. 54, Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 14.

136 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

sich die Definition der Ehe aus der Gestalt des Instituts gewinnen lassen. Die dogmatische Figur der Institutsgarantie wurde bereits erörtert.240 Ob die Lehre von den Institutsgarantien in der deutschen Grundrechtsdogmatik eine Berechtigung hat oder aufgegeben werden sollte, mag vorliegend dahinstehen. Für das Verständnis der Dogmatik der Eheschließungsfreiheit aus Art. 9 GRC ist allein von Belang, ob sich die Lehre von den Institutsgarantien auf die europarechtlichen Grundrechte im Allgemeinen und auf Art. 9 GRC im Besonderen übertragen lässt. Zwei Argumente sprechen auf den ersten Blick für das Vorliegen einer Institutsgarantie in Art. 9 GRC. Zum einen der Wortlaut („werden … gewährleistet“) und zum anderen die Tatsache, dass die Eheschließungsfreiheit als normgeprägtes Grundrecht Rechtsnormen voraussetzt, die die Ehe als Rechtsinstitut konstituieren. Art. 9 GRC „gewährleistet“ seine Rechte. Darin könnte ein Hinweis auf eine objektivrechtliche Dimension in Gestalt einer Institutsgarantie liegen. Die anderen Sprachfassungen sind ähnlich (englisch: „… shall be guaranteed …“, französisch: „… sont garantis …“ spanisch: „se garantizan …“). Die nähere Betrachtung des Wortlautes offenbart allerdings, dass nicht die Ehe selbst, sondern das Recht, eine Ehe einzugehen, garantiert wird. Der Wortlaut betont damit nur die gegenwärtige Zuständigkeitsverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten, wonach letztere dafür zuständig sind, die zur Eingehung der Ehe erforderlichen Normen vorzuhalten und damit das Recht auf Eheschließung zu gewährleisten. Der Wortlaut des Art. 9 GRC ist deshalb allenfalls ein schwaches Indiz für das Vorliegen einer Institutsgarantie, anders als es bei Art. 6 Abs. 1 GG der Fall ist, in dem die Ehe ausdrücklich unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt wird. Hinzu kommt, dass Art. 9 GRC nur die Eingehung der Ehe schützt, nicht das Rechtsverhältnis der Ehegatten in der Ehe. In dem Wortlaut des Art. 9 GRC eine Institutsgarantie, einen (außer durch Vertragsänderung) veränderungsfesten Normkern zu erblicken, überstrapazierte den normativen Gehalt von Art. 9 GRC. Die Vorschrift dient nicht der Absicherung eines traditionellen Eheinstituts, sondern der Freiheit der Bürger, eine Ehe eingehen zu können. Das Institut der Ehe im Sinne der Rechtsbeziehungen zwischen den Ehegatten ist von dem sachlichen Gehalt des Art. 9 GRC nicht erfasst, sodass der Norm inhaltlich deutlich überschießende objektive Gehalte zugemessen würden, erblickte man in ihr eine Institutsgarantie zugunsten der Ehe. Der Wortlaut spricht deshalb nicht für eine Institutsgarantie der Ehe in Art. 9 GRC. Zweitens wird vertreten, dass eine Institutsgarantie deshalb vorliegen müsse, weil das Recht, eine Ehe eingehen zu können, notwendig voraussetze, 240  s. oben,

S. 46 ff.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC137

dass es ein solches Rechtsinstitut überhaupt gebe.241 Aus dieser Argumentation folgt nicht, dass Art. 9 GRC eine Institutsgarantie im Sinne des deutschen Verfassungsrechts zu entnehmen ist. Hinsichtlich eines Minimalbestandes an Normen besteht zwar tatsächlich eine Handlungspflicht der Grundrechtsadressaten, davon kann aber nicht darauf geschlossen werden, dass auch eine Garantie in Gestalt einer objektiv-rechtlichen Gewährleistung besteht, erst recht nicht im Sinne eines veränderungsfesten Kerns des gesamten Instituts. Der unabdingbare Mindestbestand bezieht sich ausschließlich auf das Eheschließungsrecht und entspringt unmittelbar der leistungsrechtlichen Natur der Eheschließungsfreiheit in Art. 9 GRC. Gegen eine Übertragbarkeit der dogmatischen Figur der Institutsgarantie auf das Europarecht spricht ferner, dass es sich dabei um eine Figur der deutschen Staatsrechtslehre handelt, die dem spezifischen Kontext der Weimarer Reichsverfassung entspringt und nicht ohne Kritik geblieben ist. Es kann schwerlich behauptet werden, die Institutsgarantie sei ein allgemeingültiger Bestandteil der Grundrechtsdogmatik. Im Ausland ist sie weitgehend unbekannt.242 Einen Minimalbestand an Regelungen zum Eheschließungsrecht bereitzuhalten, folgt aus der leistungsrechtlichen Natur des Art. 9 GRC selbst. Gegebenenfalls kann auf die Wesensgehaltsgarantie in Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC zurückgegriffen werden. Für die Übernahme der Lehre von den Institutsgarantien in den Kanon der europäischen Grundrechtsdogmatik besteht deshalb weder im Allgemeinen noch für Art. 9 GRC im Besonderen ein Bedürfnis. Die Konstruktion einer Institutsgarantie stünde überdies nicht mit dem Gewährleistungsumfang des Art. 9 GRC im Einklang. Die Handlungspflichten zur Bereitstellung eines Eheschließungsrechts entspringen der leistungsrechtlichen Dimension des Art. 9 GRC. Die Norm hat bezüglich des Eherechtes keinen objektiv-rechtlichen Gehalt, der den Normadressaten eine Pflicht zur Bewahrung eines tradierten Normkerns aufgibt. Art. 9 GRC enthält demgemäß keine Institutsgarantie zugunsten der Ehe.

241  Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 9 GRC Rn. 10; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16 Rn. 54. 242  In Österreich wurde sie im Rahmen der Grundrechtsreform rezipiert, vgl. Holzinger, Grundrechtsreform in Österreich, S. 459 ff. das spanische Verfassungsgericht erkennt, womöglich beeinflusst von der Deutschen Verfassungsrechtswissenschaft, eine Institutsgarantie der Ehe an, STC 198/2012 v. 6.11.2012, nicht-offizielle Übersetzung abrufbar unter http://www.tribunalconstitucional.es/es/jurisprudencia/restrad/ Paginas/JCC1982012en.aspx (zuletzt abgerufen am 18.3.2015); Sommermann, Der Schutz der Grundrechte in Spanien nach der Verfassung von 1978, S. 175.

138 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

3. Der Ehebegriff des Art. 9 GRC Nachdem soeben geklärt wurde, dass der unionsrechtliche Ehebegriff nicht im Belieben der Mitgliedstaaten steht sondern Art. 9 GRC zu entnehmen ist, Art. 9 GRC jedoch keine Institutsgarantie der Ehe enthält, muss der Ehebegriff des Art. 9 GRC autonom unter Zuhilfenahme der anerkannten Auslegungsmethoden ermittelt werden. Neben Wortlaut, Systematik, Historie und Telos der Norm spielen die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta und das Recht der Mitgliedstaaten dabei eine ergänzende Rolle. a) Entstehungsgeschichte und Erläuterungen Die Entstehungsgeschichte ist zur Gewinnung des Ehebegriffes in Art. 9 GRC relativ unergiebig. Neben der Betonung der Heterogenität der Regelungen in den Mitgliedstaaten konzentrierte sich die Diskussion im Konvent vor allem darauf, ob auch andere registrierte Partnerschaften und gleichgeschlechtliche Verbindungen vom Ehebegriff erfasst werden sollten.243 Die heutige Textfassung des Art. 9 GRC ist dementsprechend eine Kompromissformulierung, die weder die Beschränkung auf „Männer und Frauen“, noch die offene Formulierung „jede Person“ aufweist. Darüber, ob auch sonstige registrierte Partnerschaften vom Begriff der Ehe in Art. 9 GRC erfasst sein sollten, konnte ebenfalls keine Einigung erzielt werden. Nach den Erläuterungen des Präsidiums stützt sich Art. 9 GRC auf Art. 12 EMRK, die Formulierung wurde aber „zeitgemäßer gestaltet“. Weiterhin sei es „weder untersagt noch vorgeschrieben“ die Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften zu öffnen.244 Die Erläuterungen gehen demnach davon aus, dass sich der Anwendungsbereich des Art. 9 GRC mindestens an demjenigen des Art. 12 EMRK orientiert. Art. 9 GRC „stütze“ sich auf Art. 12 EMRK, er sei diesem „ähnlich“. Weitergehende Erkenntnisse als aus der Entstehungsgeschichte lassen sich den Erläuterungen nicht entnehmen. b) Wortlaut Angesichts der kompromisshaften Formulierung des Art. 9 GRC wenig überraschend liefert der Wortlaut kaum Hinweise darauf, was unter einer Ehe zu verstehen sein könnte. Allein die explizite Beschränkung auf Männer und Frauen ist im Vergleich zur Formulierung des Art. 12 EMRK entfallen. Nach 243  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 156 f.; S. 184 ff.; S. 285; Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 85 f. 244  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (21).



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC139

den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta wurde der ausdrückliche Verweis auf Männer und Frauen in Art. 9 GRC bewusst aufgegeben. Eine Anwendung des Ehebegriffes auf gleichgeschlechtliche Verbindungen ist deshalb vom Wortlaut nicht mehr so eindeutig ausgeschlossen, wie es der Wortlaut des Art. 12 EMRK nahelegt. c) Systematik Die Binnensystematik des Art. 9 GRC enthüllt einen bedeutenden Wandel des Verhältnisses von Ehe und Familie im Vergleich zu der Vorschrift des Art. 12 EMRK. Werden Eheschließung und Familiengründung in der EMRK noch als einheitliches Recht gewährt, geht Art. 9 GRC von einer Trennung des Eheschließungs- vom Familiengründungsrecht aus, indem er Eheschließung und Familiengründung jeweils als eigene Rechte benennt. Darin liegt nicht weniger als die Abwendung von der normativen Familiengerichtetheit der Eheschließung. Daraus ergibt sich, dass Art. 9 GRC eher auf das Zusammenleben der Partner als die Begünstigung ihrer Reproduktion zielt. Das Argument, die Ehe müsse wegen ihrer Reproduktionsfunktion verschiedengeschlechtlichen Verbindungen vorbehalten bleiben, wird dadurch entkräftet. In einem besonders engen Verhältnis steht Art. 9 GRC zu Art. 7 GRC. Durch Art. 7 GRC wird ein umfassender Schutz des Familienlebens als Teil der höchstpersönlichen Lebenssphäre des Einzelnen gewährt. Die Gestaltung privater Belange und des persönlichen Lebensbereichs obliegt damit dem einzelnen Menschen kraft seiner ihm als Mensch zukommenden Autonomie. Art. 7 GRC setzt das Bestehen eines Familienlebens voraus, schützt grundsätzlich aber nicht dessen Gründung. d) Telos, Regelungen in den Mitgliedstaaten und Ehebegriff des Art. 9 GRC Wesentlich muss deshalb auf teleologische Erwägungen, die gemeinsamen Merkmale im Recht der Mitgliedstaaten und den Ehebegriff der EMRK zurückgegriffen werden. Der Übersichtlichkeit halber bietet sich eine Prüfung anhand der im Rahmen des (Art. 6 GG und) Art. 12 EMRK erwogenen Merkmale des Ehebegriffes an. aa) Begründung eines Rechtsverhältnisses durch freiwilligen Entschluss Daraus, dass Art. 9 GRC die Eingehung der Zivilehe schützt, ergibt sich das Erfordernis, dass die Eheschließung zu einem Rechtsverhältnis zwischen den Partnern führen muss. Das rechtlich unverbindliche Eheversprechen ist

140 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

nicht von Art. 9 GRC geschützt. Dementsprechend wäre z. B. das Verbot der religiösen Voraustrauung nicht an Art. 9 GRC zu messen, weil die religiöse Voraustrauung mangels Rechtsverbindlichkeit nicht vom Anwendungsbereich des Art. 9 GRC erfasst ist. Die Ehe muss auf einem freiwilligen Entschluss der Nupturienten beruhen. Das ergibt sich aus der Norm selbst, die nicht nur die positive, sondern auch die negative Eheschließungsfreiheit verbürgt.245 bb) Auf Herstellung einer Lebens- oder Rechtsgemeinschaft zwischen zwei Personen gerichtet In allen Mitgliedstaaten ist die Ehe auf die Herstellung einer Lebensgemeinschaft und zumeist eines gemeinsamen Wohnsitzes gerichtet.246 Es kann daher als Begriffsmerkmal der Ehe im Sinne des Art. 9 GRC angesehen werden, dass durch sie eine Lebensgemeinschaft begründet werden soll. Ein Rechtsinstitut, das nicht auf die Herstellung einer solchen ausgerichtet ist, kann nicht beansprucht werden, ebenso wenig die Eingehung der Ehe, wenn kein Wille zur Herstellung einer Lebensgemeinschaft besteht und das Ergebnis der Eheschließung deshalb eine Scheinehe wäre.247 Die Ehe kann in allen Mitgliedstaaten nur von zwei Personen geschlossen werden, „Gruppenehen“, also polygame Ehen, in der alle Partner miteinander verheiratet sind, gibt es nach dem Recht der Mitgliedstaaten nicht. Von einer 245  Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 15; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 9 EU-GRCharta Rn. 7; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 6; Augsberg, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 9 GRC Rn. 5; Mückl, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. II, § 141 Rn. 20. 246  Dazu die Nachweise bei Süß/Ring (Hrsg.), Eherecht in Europa, darin: Hustedt/ Schur/Sproten, Belgien, Rn. 49; Ring/Olsen-Ring, Dänemark, Rn. 42; Döbereiner, Frankreich, Rn. 47; Stamatiades/Tsantinis, Griechendland, Rn. 35; Odersky, England und Wales, Rn.  26 f.; Odersky, Schottland, Rn. 9, 13; Cubeddo Wiedemann/Wiedemann, Italien, Rn. 91; Mikulić/Schön, Kroatien, Rn. 26; Rimsa/Schulze, Lettland, Rn. 19; Zupkauskaitė/Goldammer, Litauen, Rn. 31; Watgen, Luxemburg, Rn. 23; Vlaardingerbrock, Niederlande, Rn. 19 ff.; Ferrari/Koch-Hipp, Österreich, Rn. 44 f.; Margonski, Polen, Rn. 50; Huzel, Portugal, Rn. 23; Oancea, Rumänien, Rn. 48; Johansson, Schweden, Rn. 75; Chudáčková, Slowakische Republik, Rn. 34; Rudolf, Slowenien, Rn. 32; Huzel, Spanien, Rn. 24; Říha/Rombach, Tschechische Republik, Rn. 24, zu Deutschland s. oben auf S. 43. 247  EuGH, Rs. C-249/96, Slg. 1998, I-621, Rn. 32 – Grant; verb. Rs. C-122/99 P und C-125/99 P, Slg. 2001, I-4319, Rn. 34 – D und Schweden ./. Rat; vgl. auch Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 5; Augsberg, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 9 GRC Rn. 5; Frenz, Handbuch Europarecht IV Rn. 1505.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC141

polygamen „Gruppenehe“ ist wiederum die Bigamie zu unterscheiden: Unter Bigamie wird herkömmlicherweise verstanden, dass eine Person zwei Ehen führt, wobei aber jede einzelne Ehe nur mit einem Partner besteht, die verschiedenen Ehepartner demnach also nicht miteinander verheiratet sind. Beabsichtigt eine bereits verheiratete Person, bspw. nachdem die erste Ehe gescheitert ist, aber ohne dass die Ehe auch rechtlich aufgelöst wurde, eine andere Person zu heiraten, sind die Ehemerkmale erfüllt. Die zweite Ehe unterscheidet sich selbst nicht von der ersten Ehe. Der einzige Unterschied liegt in dem bereits verheirateten Nupturienten. Das Bigamieverbot ist deshalb eine Beschränkung des Eheschließungsrechts und nicht Ausdruck des Ehebegriffes in Art. 9 GRC. cc) Mit einem frei gewählten Partner: Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehe? Die Freiwilligkeit der Eheschließung und die grundsätzliche Autonomie des Einzelnen zur Gestaltung seines persönlichen Lebensbereiches bedingen es, dass die Wahl, wer geheiratet werden soll, nur von den Partnern selbst zu treffen ist. Dem scheint zu widersprechen, dass die Ehe nach einer verbreiteten Ansicht auf die Verbindung verschiedengeschlechtlicher Personen beschränkt sein soll. Als Argument für die Beschränkung des Ehebegriffes des Art. 9 GRC auf verschiedengeschlechtliche Ehen wird die Verbindung mit dem Recht auf Familiengründung vorgebracht, das ebenfalls in Art. 9 GRC gewährt wird. Die Ehe sei geschützt, weil „in typisierender Vorausschau bereits die verlässliche Basis für die Erziehung gemeinsamer Kinder honoriert wird“248 Allerdings wird das Recht auf Familiengründung, wie bereits festgestellt, anders als in der EMRK, unabhängig von dem Recht auf Eheschließung gewährleistet („dieser … Rechte“).249 Die Verknüpfung von Ehe und Familie ist deshalb in Art. 9 GRC nur noch schwach, sie beschränkt sich darauf, dass beide Begriffe in einem Artikel unter einer gemeinsamen Überschrift genannt werden.250 Der Grund dafür dürfte weniger darin zu sehen sein, dass aus der Ehe in der Regel Kinder hervorgehen als darin, dass auch die Ehe als eine Form der Familie angesehen werden kann.251 Zudem kann eine Familie auch ohne Eingehung der Ehe und – im Wege der Adoption oder durch eine Samenspende – grundsätzlich auch durch gleichgeschlechtliche Ehepartner gegründet werden. An248  Tettinger/Geerlings,

EuR 2005, S. 419 (425). in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 9 Rn. 13. 250  Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar Europäische Grundrechte-Charta, Art. 9 Rn. 30. 251  Insbesondere im Rahmen des Art. 7 GRC, dazu unten S. 184 ff. 249  Hanslik,

142 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

gesichts der Ausgestaltungsbefugnisse der Mitgliedstaaten ist zudem gar nicht erwiesen, dass die Ehe des jeweiligen nationalen Rechts die zukünftige gemeinsame Erziehung von Kindern überhaupt honoriert, da Art. 9 GRC über die Ausgestaltung des Eheverhältnisses keine Aussage trifft. Dass die Freiheit der Eheschließung gerade wegen ihrer Funktion als Vorstufe der Familie, bestehend aus den Eheleuten und ihren Kindern, geschützt wird und Art. 9 GRC das Leitbild der ehelichen Kleinfamilie zugrunde liegt, kann mit der Systematik der Norm und ihrem Wortlaut nicht bewiesen werden.252 Teilweise wird vertreten, Art. 9 GRC schlösse die Einführung gleichgeschlechtlicher Ehen deshalb aus, weil er eine Institutsgarantie beinhalte, zu deren Kern die Verschiedengeschlechtlichkeit der Ehe gehöre.253 Abgesehen davon, dass schon die Erläuterungen des Präsidiums dagegen sprechen, dass die Verschiedengeschlechtlichkeit ein von dieser Institutsgarantie geschützter Bestandteil des Ehebegriffs sein könnte („Durch diesen Artikel wird es weder untersagt noch vorgeschrieben, Verbindungen von Menschen gleichen Geschlechts den Status der Ehe zu verleihen.“254) enthält Art. 9 GRC keine Institutsgarantie zugunsten der Ehe oder Familie, die einen Kern überkommener Elemente des Instituts der Ehe primärrechtlich absichert.255 Weiterhin wird die Rechtsprechung des EuGH gegen die Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Paare in den Anwendungsbereich des Art. 9 GRC angeführt. Der EuGH hat sich in einigen Urteilen zu dem Begriff der Ehe geäußert, allerdings vor Inkrafttreten der Grundrechtecharta. Zunächst in der Rechtssache Grant. Dort entschied der Gerichtshof, dass sich die Ehe „nach dem gegenwärtigen Stand des Rechts“ nur auf heterosexuelle Paare beziehe.256 Der EuGH verwies auf die Rechtsprechung des EGMR. Einige Jahre später hatte sich der EuGH ein weiteres Mal mit der Auslegung des Ehebegriffes zu beschäftigen. In der Sache D und Schweden / Rat257 ging es um die Frage, ob ein Beamter der EU, der in einer eingetragenen Partnerschaft nach schwedischem Recht lebt, Ehepartner bzw. verheirateter Beamter im Sinne des EU-Beamtenstatuts ist. Der Gerichtshof stellte fest, dass das Merkmal „Ehe“ nach der einstimmigen Definition der Mitgliedstaaten die Verschiedengeschlechtlichkeit der Partner voraussetze. Daraus folgerte der EuGH, auch Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1507. Handbuch Europarecht IV, Rn. 1523; Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts, S. 310; Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar Europäische Grundrechte-Charta, Art. 9 Rn. 27; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16 Rn. 54. 254  Abl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (21). 255  s. o. auf S.  135 ff. 256  EuGH, Rs. C-249/96, Slg. 1998, I-621 Rn. 35 – Grant. 257  EuGH, verb. Rs. C-122/99 P und C-125/99 P, Slg 2001, I-4319 – D und Schweden/Rat. 252  So

253  Frenz,



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC143

dass es nicht möglich sei, eine eheähnliche Verbindung in einem Mitgliedstaat mit der Ehe im Sinne des Statuts gleichzusetzen. Formen eingetragener Partnerschaften würden von den Mitgliedstaaten gerade als von der Ehe verschieden betrachtet. Auf Art. 9 GRC, der zum Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht rechtsverbindlich war, ging der EuGH jedoch mit keinem Wort ein. Anders Generalanwalt Mischo in seinen Schlussanträgen. Der Generalanwalt zitiert die Erläuterungen des Präsidiums. Er interpretiert sie dahingehend, dass es keine ausdrückliche Pflicht zu Erstreckung der Ehe auf gleichgeschlechtliche Partnerschaften gebe. Darin sieht er eine Bestätigung seiner Auffassung, dass es Unterschiede zwischen der Ehe und der Gemeinschaft zwischen Personen des gleichen Geschlechts gebe.258 Diese Schlussfolgerung ist überraschend, da die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta gerade offen formuliert sind. Es ist zwar zutreffend, dass die Erläuterungen davon ausgehen, dass eine Erstreckung auf gleichgeschlechtliche Ehen nicht unbedingt gefordert sei, sie wird aber auch nicht verboten, sondern grundsätzlich der Regelung der Mitgliedstaaten überlassen,259 die bei der Beschränkung der Ehe auf verschiedengeschlechtliche Partnerschaften eine Beschränkung der Eheschließungsfreiheit vornehmen. Die Ausführungen des Generalanwalts greifen deshalb zu kurz und überzeugen nicht. Auch die Aussagen des EuGH sind kritikwürdig. So übersieht der EuGH, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die Ehe in den Niederlanden bereits für gleichgeschlechtliche Verbindungen geöffnet war.260 Weiterhin ist zu bemerken, dass sich die rechtliche und tatsächliche Situation in den Mitgliedstaaten seit der Entscheidung erheblich gewandelt hat. Abgesehen davon, dass in etlichen Mitgliedstaaten mittlerweile die Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet wurde (namentlich in den Niederlanden, Belgien, Spanien, Schweden, Portugal, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, Finnland, Irland und im Vereinigten Königreich außer Nordirland), hat auch die Rechtsprechung des EGMR in den Urteilen Goodwin und Schalk und Kopf mit Hinweis auf diese veränderte Situation in Europa und den offeneren Wortlaut des Art. 9 GRC den Anwendungsbereich des Art. 12 EMRK für gleichgeschlechtliche Ehen geöffnet. Wenn dies selbst nach Art. 12 der EMRK möglich ist, dessen Wortlaut erheblich restriktiver und dessen historischer Kontext eindeutiger ist, muss gleiches a fortiori für Art. 9 GRC gelten.261 Zudem verstieße eine gegenteilige Auffassung gegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC, nach dem der Anwendungsbereich der Eheschließungsfreiheit in 258  Schlussanträge

von GA Mischo, Verb. Rs. C-122/99 P und C-125/99 P, Rn. 97. Families and the European Union, S. 143. 260  Wie Räther treffend bemerkt, Der Schutz gleich- und verschiedengeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in Europa, S. 87. 261  I. E. ebenso Hanslik, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 9 Rn. 13. 259  McGlynn,

144 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Art. 9 GRC nicht enger ausgelegt werden darf, als derjenige des Art. 12 EMRK. Die demgemäß überholte Rechtsprechung des EuGH kann daher nicht mehr als Indikator für eine Entscheidung unter der Ägide der Grundrechtecharta angesehen werden. dd) Unauflöslichkeit der Ehe In Deutschland wird verbreitet die „grundsätzliche Unauflöslichkeit“ zu den wesentlichen Strukturmerkmalen des Ehebegriffes gezählt.262 Damit soll offenbar nicht gemeint sein, dass auch jede Ehe tatsächlich unauflöslich sei. Einfachrechtlich ist in Deutschland das Gegenteil der Fall. Jede Ehe kann grundsätzlich aufgelöst werden.263 Das entspricht auch der Rechtslage in allen anderen Mitgliedstaaten.264 Präziser ist es deshalb, die Unbedingtheit und Unbefristetheit als Merkmale der Ehe anzusehen: Die Ehe ist prinzipiell auf unbegrenzte Zeit geschlossen. Sie kann weder befristet, noch unter den Vorbehalt einer auflösenden Bedingung gestellt werden.265 Die Auflösbarkeit eines Rechtsinstituts durch Scheidung oder durch Kündigung eines Ehegatten beraubt es nicht der Qualifikation als Ehe im Sinne des Art. 9 GRC. Andererseits ist daraus nicht zu folgern, dass Art. 9 GRC auch ein Recht auf Scheidung beinhalten muss. Die negative Eheschließungsfreiheit betrifft nur die Freiheit, eine Ehe nicht einzugehen, nicht auch, sich einer bestehenden Ehe wieder entledigen zu können. Das Recht auf Scheidung ist daher nicht an Art. 9 GRC, sondern an Art. 7 GRC zu messen.266 262  BVerfGE 53, 224 (245 f.); 31, 58 (69 f.); 55, 134 (142); Uhle, in: BeckOK GG, Art. 6 Rn. 8; weitergehend Brosius-Gersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 65, 80. 263  Weber, in: MüKO BGB, Vorbemerkung §§ 1564 ff. BGB, Rn. 1. 264  Vgl. Süß/Ring (Hrsg.), Eherecht in Europa, darin Hustedt/Schür, Belgien, Rn. 83; Ring/Olsen-Ring, Dänemark, Rn. 70; Döbereiner, Frankreich, Rn. 151 ff.; Stamatiadis, Griechenland, Rn. 45; Odersky, England und Wales, Rn. 40; Odersky, Schottland, Rn. 13; Cubeddu Wiedemann/Wiedemann, Italien, Rn. 157 ff.; Mikulić/ Schön, Kroatien, Rn. 39; Zupkauskaitė/Goldammer, Litauen, Rn. 43; Watgen, Luxemburg, Rn.  43 ff. Vlaardingerbroek, Niederlande, Rn. 65; Ferrari/Koch-Hipp, Österreich, Rn. 82, 92; Margonski, Polen, Rn. 69; Huzel, Portugal, Rn. 57 ff.; Oancea, Rumänien, Rn. 56; Johansson, Schweden, Rn. 116 ff.; Chudáčková, Slowakische Republik, Rn. 43; Rudolf, Slowenien, Rn. 39; Huzel, Spanien, Rn. 61 ff.; Říha/Rombach, Tschechische Republik, Rn. 41 f.; Deutschland vgl. § 1564 ff. BGB; auch in Irland ist seit dem Verfassungsreferendum von 1995 die Scheidung möglich, vgl. Art. 41 § 2 der irischen Verfassung, ebenso seit einigen Jahren auf Malta, vgl. Art. 66 A civil code. 265  Hanslik, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 9 Rn. 15; so auch die einfachrechtliche Lage in Deutschland, vgl. § 1311 S. 2 BGB. 266  H. M., Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 7 EU-GRCharta Rn. 7; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1512; Jarass, Charta der Grundrechte der EU,



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC145

ee) Besondere Form und Publizität der Ehe Schließlich ist Begriffsmerkmal der Ehe, dass sie unter besonderen Formvoraussetzungen geschlossen wird. Dazu ist in allen Mitgliedstaaten die Mitwirkung einer öffentlichen Stelle erforderlich, jedenfalls in der Form der Anerkennung der Ehe durch den Staat.267 Merkmal der Ehe ist deshalb auch, dass sie unter Mitwirkung einer staatlichen Stelle geschlossen wird. Die Mitwirkung des Staates kann sich darauf beschränken, die Ehe zur Kenntnis zu nehmen und einzutragen, sofern die Rechtswirkungen der Ehe an die Eintragung oder Kenntnisnahme geknüpft sind. Als Ergebnis steht der Ehebegriff des Art. 9 GRC fest: Die Ehe ist ein unbedingtes und unbefristetes, freiwillig begründetes Rechtsverhältnis zwiArt. 9 Rn. 6; Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 19; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 15; UerpmannWitzack, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2 § 10 Rn. 16; a. A. Wolff, EuR 2005, S. 721 (729 f.). 267  Dazu die Länderberichte in Süß/Ring (Hrsg.), Eherecht in Europa, darin Schür, Belgien, Rn. 9 (öffentlich vor dem Standesbeamten); Ring/Olsen-Ring, Dänemark, Rn. 9 (Standesbeamter oder geistlicher der dänischen Staatskirche oder einer anerkannten Glaubensgemeinschaft, wenn er die staatliche Erlaubnis zur Vornahme von Trauungen hat); Döbereiner, Frankreich, Rn. 30 (öffentlich vor dem Standesbeamten); Tsantinis, Griechenland, Rn. 7, 12 ff. (vor dem Bürgermeister oder jeweils zuständigen Geistlichen, aber nur mit vorheriger Eheerlaubnis); Odersky, England und Wales, Rn. 8 (Standesbeamter oder Geistlicher nach Ausstellung einer Ehefähigkeitsbescheinigung des Superintendent Registrar); Cubeddu Wiedemann/Wiedemann, Italien, Rn.  23 ff.; Mikulić/Schön, Kroatien, Rn. 1, 8 (Standesbeamter oder ermächtigte Geistliche); Zupkauskaitė/Goldammer, Litauen, Rn. 6 ff., 17 f. (Standesbeamter oder Geistlicher, wobei die kirchliche Ehe vom Standesbeamten bestätigt werden muss); Watgen, Luxemburg, Rn. 1, 8 (vor dem Standesbeamten); Vlaardingerbroek, Niederlande, Rn.  13 ff.; Ferrari/Koch-Hipp, Österreich, Rn. 1, 12 (obligatorisch Zivilehe vor dem Standesbeamten); Margonski, Polen, Rn. 7, 10 (Zivilehe vor dem Standesbeamten oder kirchliche Trauung und Ausfertigung einer Heiratsurkunde); Huzel, Portugal, Rn. 10 f., 19 (Vor dem Standesbeamten oder durch den Pfarrer, die katholische Ehe muss aber eingetragen werden); Oancea, Rumänien, Rn. 17 (vor dem Standesbeamten); Odersky, Schottland, Rn. 4 (Standesbeamter oder Geistlicher nach Vorlage einer Zulassungsbescheinigung); Johansson, Schweden, Rn. 71 f. (vor dem Standesbeamten oder einem ermächtigten Geistlichen); Chudácková, Slowakische Republik, Rn. 10 ff. (Vor dem Matrikelamt oder auch durch einen Geistlichen einer der registrierten Kirchen, die Ehe wird im Matrikelamt registriert); Rudolf, Slowenien, Rn. 10 (Leiter der Verwaltungseinheit); Huzel, Spanien, Rn. 18, 22 (vor einer Amtsperson oder religiös bei anschließender Eintragung); Říha/Rombach, Tschechische Republik, Rn. 9  ff. (Amtsperson oder dazu gesetzlich befugter Geistlicher); zu Deutschland vgl. § 1310 BGB. In Irland ist die Trauung ebenfalls vor dem Standesamt oder kirchlich möglich, die Ehe wird dann in das öffentliche Eheregister eingetragen, §§ 13 I e), 46 Civil Registration Act.

146 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

schen zwei Personen, das auf die Herstellung einer Lebensgemeinschaft gerichtet ist und staatlicherseits anerkannt wird. 4. Schranken und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit Vor dem Hintergrund des weiten Ehebegriffes in Art. 9 GRC werden im Folgenden die Schranken und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit näher untersucht. Dazu wird zunächst der Einwand widerlegt, das normgeprägte Grundrecht der Eheschließungsfreiheit sei nicht nur beschränkbar, sondern könne daneben aufgrund des Verweises auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften in Art. 9 GRC durch die Mitgliedstaaten „ausgestaltet“ werden (dazu unter lit. a]). Im Anschluss wird die Auffassung zurückgewiesen, die Eheschließungsfreiheit stehe unter doppelten Schranken (dazu unter lit. b]). Schließlich wird untersucht, ob die allgemeine Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC und die Schranken-Schranken der Verhältnismäßigkeit und die Wesensgehaltsgarantie auf die Eheschließungsfreiheit angewendet werden können (dazu unter lit. c]). a) „Ausgestaltung“ der Eheschließungsfreiheit gemäß Art. 9 GRC? Die Antwort auf die Frage, ob sich Regelungen der Eheschließungsfreiheit an Art. 9 GRC oder an Art. 52 Abs. 1 GRC messen lassen müssen, hängt davon ab, ob es sich bei entsprechenden Regelungen um „Einschränkungen“ im Sinne des Art. 52 Abs. 1 GRC handelt, oder ob Regelungen der Eheschließungsfreiheit als „Ausgestaltungen“ zu verstehen sind, wie in der deutschen Staatsrechtslehre für die Eheschließungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG vertreten wird. Die Ehe als grundrechtliches Schutzgut bedarf, wie bereits ausgeführt, grundrechtlicher Konstituierung.268 Der Gesetzgeber soll aber gleichzeitig an das Grundrecht gebunden sein, dessen Schutzgegenstand er erst einfachrechtlich zu schaffen hat.269 Um dieses vermeintliche Dilemma270 aufzulösen, werden normgeprägte Grundrechte in der deutschen Staatsrechtslehre verbreitet nicht anhand des 268  Lerche, in Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (1992), § 121 Rn. 39. 269  Nach Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. V (1992), § 121 Rn. 39 „konstituierende Ausgestaltung“; Gellermann, Grundrechte im einfachgesetzlichen Gewande, S. 90 f.; zu einem weitergehenden Verständnis des Ausgestaltungsbegriffes Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 17 ff. 270  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 497 f.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC147

üblichen Schemas „Schutzbereich-Eingriff-Rechtfertigung“ konstruiert,271 sondern es soll neben der Kategorie des Eingriffs noch diejenige der Ausgestaltung geben. Alle normgeprägten Grundrechte sind demnach durch den Gesetzgeber ausgestaltungsbedürftig.272 Von einer Ausgestaltungsbedürftigkeit des Ehegrundrechts geht auch das BVerfG für Art. 6 Abs. 1 GG aus.273 Unter dem Regime der EMRK erlaubt der Verweis auf das nationale Recht im Rahmen des Art. 12 EMRK den Konventionsstaaten nicht nur formelle Regelungen des Eheschlusses, sondern auch materielle Voraussetzungen und Ehehindernisse zu schaffen. Art. 9 GRC enthält einen etwas anders formulierten, aber sehr ähnlichen Verweis: Die Rechte des Art. 9 GRC „werden nach den einzelstaatlichen Gesetzen gewährleistet, welche die Ausübung dieser Rechte regeln.“ Die Formulierung des Art. 9 GRC könnte mithin eine besondere Ausgestaltungsbefugnis der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Eheschließungsfreiheit normieren, die Art. 52 Abs. 1 GRC als lex specialis verdrängt. Dazu müsste jedoch geklärt werden, was unter dem Begriff der Ausgestaltung zu verstehen ist und in welchem Verhältnis er zum Eingriff steht. Das ist unter den Anhängern der Ausgestaltungslehre in Deutschland umstritten. Schließlich muss geklärt werden, ob sich die Ausgestaltungsdogmatik auf die Grundrechtecharta übertragen lässt. aa) Die Ausgestaltungslehre in der deutschen Grundrechtsdogmatik Für die deutsche Grundrechtsdogmatik sind einige Autoren der Auffassung, es bedürfe der Ausgestaltung normgeprägter Grundrechte, weil ohne diese Ausgestaltung kein grundrechtliches Schutzgut vorhanden sei. Das Schutzgut müsse erst durch den ausgestaltenden Gesetzgeber geschaffen werden. Solange der Gesetzgeber dies nicht getan habe, fehle es an einer „Substanz“, in die eingegriffen werden könne.274 Demnach sei die Ausgestaltung vom Eingriff abzugrenzen, Ausgestaltung und Eingriff stehen dieser Auffassung nach in einem Exklusivitätsverhältnis.275 Demzufolge bedarf es 271  Bezogen auf die „Leistungsseite“ der Grundrechte (positive Gesetzgebungsaufträge) zu Recht Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 253. 272  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S.  148; Pieroth/Schlink/Poscher/ Kingreen, Grundrechte, Staatsrecht II, Rn. 231; Degenhardt, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, § 61 Rn. 19 ff. 273  BVerfGE 31, 58 (69 f.); 62, 323 (330); 81, 1 (7). 274  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 90 f.; Ipsen, JZ 1997, S. 473 (479). 275  Gellermann, Grundrechte in einfachgesetzlichem Gewande, S. 18  f., S. 371; Morgenthaler, Freiheit durch Gesetz, S. 245; wenn auch ein hoheitlicher Akt gleichzeitig Eingriff und Ausgestaltung sein kann, Bumke, der Grundrechtsvorbehalt, S.  105 ff.

148 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

eines Unterscheidungskriteriums zwischen Eingriff und Ausgestaltung. Gellermann ist der Auffassung, dass alles das als Ausgestaltung zu bezeichnen sei, was nicht unter den abwehrrechtlichen Gehalt des Grundrechts fällt, sondern seiner objektiven Dimension entspringt. Die Eheschließungsfreiheit des Art. 6 Abs. 1 GG z. B. entspringe der Institutsgarantie der Ehe, welche wiederum Ausfluss ihrer objektiv-rechtlichen Dimension sei. An dieser Abgrenzung ist bereits die Gegenüberstellung von Abwehrrecht und objektiven Grundrechtsgehalten kritikwürdig. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass sich die Grundrechtsdimensionen strikt und umfassend in Abwehrdimensionen und objektive Dimensionen scheiden lassen. Dieses Verständnis ist indes nicht unproblematisch: Man mag zwar subjektive und objektive Grundrechtswirkungen unterscheiden, es erscheint aber nicht zwingend, gerade die subjektiv-rechtliche Komponente der Eingriffsabwehr allen anderen Grundrechtswirkungen gegenüberzustellen. Zum einen verwirrt die Beschränkung der subjektiv-rechtlichen Seite der Grundrechte auf die Eingriffsabwehr: Dadurch wird suggeriert, dass alle anderen Grundrechtsdimensionen der objektiv-rechtlichen Funktion der Grundrechte entspringen. Das ist mit Blick auf die Eheschließungsfreiheit als genuin materiell leistungsrechtlich geprägtem Grundrecht nicht der Fall. Zum zweiten ist nicht hinreichend geklärt, in wieweit auch die objektiv-rechtlichen Dimensionen der Grundrechte zusätzlich subjektiv-rechtlicher Natur sind.276 Dass objektivrechtlichen Gehalten auch subjektive Rechte entspringen können, scheint dem Grunde nach mittlerweile festzustehen.277 Das Bundesverfassungsgericht hat einen unbedingten Anspruch auf Eheschließung zwar bejaht, allerdings „gegenüber den deutschen Behörden und Gerichten“. Nicht entschieden ist damit die – zugestanden praktisch nicht bedeutsame – Frage, ob dem Einzelnen auch ein Anspruch auf ein Tätigwerden des Gesetzgebers zwecks Schaffung eherechtlicher Normen zukommen könnte. Die Begriffspaare „subjektiver Grundrechtsgehalt“ und „Abwehrrecht“ sowie „objektiver Grundrechtsgehalt“ und „Leistungsrecht“ sind mithin jeweils nicht notwendig miteinander verbunden.278 Das wird am Beispiel des Art. 9 GRC deutlich: Die Eheschließungsfreiheit ist ein materielles Leistungsrecht. Die bisherige Untersuchung hat ergeben, dass die Eheschließungsfreiheit nicht einer Institutsgarantie der Ehe – und damit einer objektiven Dimension der Eheschließungsfreiheit – entspringt, da Art. 9 GRC eine solche Garantie nicht enthält. Es kann an dieser Stelle dahinstehen, ob die Eheschließungsfreiheit auch eine objektive Dimension aufweist, die zu der 276  Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3 Rn. 28; eine Übersicht m. w. N. bei Dreier, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Vorb. Rn. 95. 277  Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Vorb. Rn. 95. 278  In diesem Sinne auch Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 21.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC149

subjektiven hinzutritt. Die Abgrenzung Gellermanns ist für die Anwendung auf Art. 9 GRC untauglich. Cornils hingegen weist die These von der Exklusivität von Eingriff und Ausgestaltung zurück.279 Seiner Auffassung nach können Ausgestaltungen auch Eingriffe sein. Für die Eheschließungsfreiheit des Art. 6 Abs. 1 GG gelte das in besonderem Maße. Cornils analysiert die Rechtsprechung des BVerfG zum Eheverbot der Geschlechtsgemeinschaft. Das BVerfG habe dazu ausgeführt, dass gesetzliche Ehehindernisse, für die es keine „einleuchtenden Sachgründe“ gebe, nicht nur gegen die objektiv-rechtliche Dimension der Institutsgarantie verstoßen, sondern auch eine Verletzung des subjektiven Freiheitsrechts darstellen.280 Cornils zieht daraus den Schluss, dass Regelungen der Eheschließung „Eingriffe in das individuell berufungsfähige Abwehrrecht sein“ können.281 Es sei „bemerkenswert“ dass das BVerfG die Eheschließungsfreiheit als Abwehrrecht konstruiere, naheliegender wäre ein grundrechtliches Leistungsrecht auf Ermöglichung der Eingehung der Ehe anzunehmen, da es sich dabei um ein Rechtsinstitut handele. Dass das BVerfG jedoch „Ehehindernisse (…) in konventionell-abwehrrechtlicher Verarbeitung als Eingriffe in die Freiheit der Eheschließung“ begreife, deute darauf hin, dass „die Ehe im Verständnis des Gerichts offenbar mehr ist als nur die durch staatliche Institutsgesetzgebung zur Verfügung gestellte Kompetenz“.282 Zu strenge Zugangsvoraussetzungen zur Ehe seien deshalb ein unzulässiger Eingriff in das Abwehrrecht.283 Zu geringe Anforderungen könnten mangels eigener Beschwer „wohl nur selten“ Eingriffe begründen. Eine kategoriale Unterscheidung von Ausgestaltung und Eingriff scheide bei der Prüfung des Eherechts aus, da der objektiv-negativen Bindung des Gesetzgebers ein subjektives Abwehrrecht nur korrespondiere, wenn eine individuelle Betroffenheit vorliege.284 Das „Freiheitsrecht“ der Eheschließungsfreiheit sei demnach ein „inhaltlich durch die eigene Betroffenheit“ abgesteckter Ausschnitt der Bindung des Gesetzgebers.285 Liege ein „Eingriff“ in die Eheschließungsfreiheit vor, was durch den Gesetzgeber vor allem in Form von Ehehindernissen, z. B. der mangelnden Ehefähigkeit und der Aufrichtung von Ehehindernissen der Fall sein soll,286 so seien diese rechtfertigungsbedürftig. Der Gesetzgeber müsse jedem konstitutionell ehefähigen Menschen die Ehefähigkeit zuerkennen. Ein279  Cornils,

Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 667. Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 343 mit Bezugnahme auf BVerfGE 36, 146 (161, 163). 281  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 343. 282  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 343. 283  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 359. 284  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 359. 285  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 344. 286  Cornils, Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 392. 280  Cornils,

150 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

schränkungen unterliegen einer strengen Rechtfertigungspflicht. Die Grundrechtsberechtigung bestehe „unabhängig von gesetzlicher Zuweisung“, knüpfe „an natürliche und soziale Eigenschaften“ an.287 Diese sollen als „ideales Sollen“ vom Gesetzgeber beachtet werden. Subjektive Ehezugangshindernisse seien „Eingriff und Ausgestaltung“ zugleich.288 Hinsichtlich der Rechtfertigungsbedürftigkeit von Eingriffen in die Eheschließungsfreiheit ist der Auffassung Cornils zuzustimmen. Nicht überzeugend ist jedoch, warum ein Eingriff gleichzeitig eine Ausgestaltung sein sollte. Den Eingriff zugleich als Ausgestaltung zu qualifizieren wäre nur dann überzeugend, wäre dieser Qualifikation dogmatische Relevanz beizumessen, die jedoch nicht ersichtlich ist. Bereits die Auffassung, die Eheschließungsfreiheit sei nur oder hauptsächlich ein Abwehrrecht, ein negatorisches Recht, ist nicht überzeugend.289 Wie Cornils selbst feststellt, ist die „Gestaltung“ der Eheschließungsfreiheit, mithin die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur und der zivilrechtlichen Kompetenzen, ein leistungsrechtlicher Aspekt der Ehegarantie. Dieser folgt aber auch bei Art. 6 GG nicht (nur) aus dem Auftrag, die Strukturmerkmale der Ehe zu konkretisieren, sondern aus der Eheschließungsfreiheit. Diese ist nicht primär ein Abwehrrecht, sondern ein Leistungsrecht und zwar im formellen wie im materiellen Sinne. Materiell ist die Eheschließungsfreiheit stets auf die Bereitstellung der zivilrechtlichen Kompetenzen angelegt. Weil die Publizität der Ehe ebenfalls zu den wesentlichen Strukturmerkmalen gerechnet wird, ist auch formell eine Mitwirkung des Standesbeamten erforderlich. Betrachtet man isoliert den Gesetzgeber, so kann man formell zu einer Abwehrkonstellation gelangen, die dem Gesetzgeber aufgibt, Einschränkungen der grundsätzlich weiten Eheschließungsfreiheit, durch Eheverbote oder sonstige Voraussetzungen wie ein hohes Ehemündigkeitsalter, zu unterlassen. Das ändert aber nichts daran, dass es sich materiell um ein Leistungsrecht handelt, und die „Gestaltung“ des Eherechts an diesem zu messen ist, nicht an den objektiven Gehalten des Grundrechts. Als materielles Abwehrrecht könnte die Eheschließungsfreiheit höchstens dann relevant werden, wenn der Staat den Einzelnen durch eine Handlung an der Wahrnehmung der Eheschließungsfreiheit mittelbar hindert, z. B. durch Inhaftierung. Dabei würde es sich aber keinesfalls um eine Ausgestaltung der Eheschließungsfreiheit handeln. Die Figur der Ausgestaltung ist demnach im Rahmen der Eheschließungsfreiheit des Art. 6 GG überflüssig. Regelungen sind entweder vor dem 287  Cornils,

Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 393. Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 394. 289  So aber die h.  M., vgl. nur Mager, Einrichtungsgarantien, S. 200; BrosiusGersdorf, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 6 Rn. 62, 75; Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 6 Rn. 21. 288  Cornils,



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC151

Hintergrund des Ehebegriffes beeinträchtigend, dann sind sie rechtfertigungsbedürftig, oder sie sind es nicht, dann bedarf es auch keiner Rechtfertigungspflicht. Soweit die staatliche Mitwirkung zu den Strukturmerkmalen gezählt wird, kann sie selbst nicht eingreifend wirken. Beziehungen, die nicht die Ehemerkmale erfüllen, dürfen aus der Eheschließungsfreiheit nicht deshalb ausgegrenzt werden, weil der Gesetzgeber letztere ausgestaltet,290 sondern weil sie schlicht und ergreifend nicht in den Schutzbereich fallen. Eine genauere Betrachtung der Rechtsprechung des BVerfG spricht ebenfalls nicht gegen die hier vertretene Auffassung. Zwar spricht das BVerfG in der Entscheidung zum Eheverbot der Geschlechtsgemeinschaft tatsächlich davon, dass die Eheschließungsfreiheit gesetzliche Regelungen nicht nur zulasse, sondern geradezu voraussetze, und dass sich dies aus der „untrennbaren Verbindung des Grundrechts mit der Garantie des Instituts ‚Ehe‘ “ ergebe.291 Die Betonung muss hier auf dem Institutscharakter der Ehe liegen, insbesondere der Tatsache, dass die Ehe als Rechtsgemeinschaft verstanden wird. Die Regelung müsse „die wesentlichen, das Institut der Ehe bestimmenden Strukturprinzipien beachten, die sich aus der Anknüpfung des Art. 6 Abs. 1 GG an vorgefundene, überkommene Lebensformen in Verbindung mit dem Freiheitscharakter des verbürgten Grundrechts und anderen Verfassungsnormen ergeben“.292 Demgemäß können Regelungen der Eheschließungsfreiheit gegen die Institutsgarantie verstoßen, aber auch gegen die Eheschließungsfreiheit selbst. Ersteres mag als „verfassungswidrige Ausgestaltung“ bezeichnet werden, ist aber in Bezug auf das subjektive Recht der Eheschließungsfreiheit mangels Eingriff möglicherweise unbeachtlich. Das BVerfG wiederholt die Formulierung, die es schon zuvor gebraucht hat, insbesondere in der Spanier-Entscheidung, in der es seine Auffassung weiter verdeutlicht: „Die deutschen Verlobten haben demgemäß einen unbedingten Anspruch gegenüber den deutschen Behörden und Gerichten, das Zustandekommen der Ehe zu ermöglichen …“.293 Offenbar geht auch das BVerfG von der Eheschließungsfreiheit als einem echten Leistungsrecht aus. Das soeben Zitierte ist der unbeschränkte Anspruch, das ideale Sollen. Es ergibt sich aus dem Grundrecht auf Eheschließung selbst. Dass sich der Umfang dieses Sollens erst anhand der Strukturmerkmale der Ehe ermitteln lässt, muss nicht zu einer anderen Sichtweise führen.294 Anspruchsgrund ist das Grundrecht auf Eheschließungsfreiheit. 290  Cornils,

Die Ausgestaltung der Grundrechte, S. 346. 36, 146 (161). 292  BVerfGE 36, 146 (162). 293  BVerfGE 31, 58 (78) Hervorhebung nur hier. 294  Gröschner, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, 2. Aufl., Art. 6 Rn. 53 hingegen legt ein institutionelles Verständnis zugrunde. Die Eheschließungsfreiheit er291  BVerfGE

152 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Dieses kann wiederum verkürzt werden, die Verkürzung ist dann rechtfertigungsbedürftig. Dass das BVerfG das Grundrecht auf Eheschließung in dieser Form prüft, macht es nicht zu einem Abwehrrecht, sondern deutet nur darauf hin, dass das BVerfG das Leistungsrecht ebenfalls anhand des Eingriff-Rechtfertigungsschemas prüft.295 Strukturmerkmale der Ehe können sodann als Rechtfertigungsgründe herangezogen werden.296 Ob es zweckmäßig ist, hier den Eingriffsbegriff zu verwenden oder ob man Beschränkungen als Ausgestaltungen bezeichnen möchte, mag dahinstehen und erscheint allenfalls als eine Frage begrifflicher Stringenz, ohne dass damit inhaltliche Unterschiede einhergingen. Die dreischrittige Struktur der Prüfung bestehend aus Schutzbereich, Beschränkung und Rechtfertigung bleibt jedenfalls bestehen. Die hier vertretene Lösung wird dem Umstand gerecht, dass die Institutsgarantie des Art. 6 Abs. 1 GG objektiv-rechtlichen Charakter hat, aber auch das Eheschließungsrecht zu seiner Verwirklichung einen rechtlichen Normbestand voraussetzt. Ein Teil der in der Institutsgarantie enthaltenen Ehegehalte sind auch Teil des subjektiven Eherechts. „Diese Freiheit, mit dem selbst gewählten Partner die Ehe einzugehen, bildet einen elementaren Bestandteil der durch die Grundrechte gewährleisteten freien persönlichen Existenz des Menschen“, ist mit anderen Worten Ausdruck einer der Institutsgarantie vorgelagerten persönlichen Freiheit.297 Die Auffassung Cornils muss demnach bereits für Art. 6 Abs. 1 GG zurückgewiesen werden. bb) Keine Ausgestaltung der Eheschließungsfreiheit aus Art. 9 GRC Der für die Eheschließung erforderliche Normbestand muss vom Gesetzgeber wegen der Eheschließungsfreiheit bereitgestellt werden. Diese Verpflichtung aus einer Institutsgarantie abzuleiten, ist im Rahmen des Art. 9 GRC – mangels dortiger Institutsgarantie – nicht übertragbar. Anders als im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG gibt es bei der Eheschließungsfreiheit des Art. 9 GRC jedenfalls keine der Freiheit vorgelagerte, objektiv-rechtliche Institutsgarantie, sondern das Eheschließungsrecht ist Teil und Gehalt des subjektiv-rechtlichen materiellen Leistungsrechts. Demnach kommt der dogmatischen Figur der Ausgestaltung jedenfalls im Rahmen des Art. 9 GRC keine eigenständige Bedeutung zu. Das gilt umso mehr, als dass von den wachse aus der Institutsgarantie und habe deshalb „einen genuin anderen Charakter“ als allgemeine Freiheitsrechte, es bestehe ein „Dualismus zwischen Grundrecht und Institutsgarantie“ (a. a. O. Rn.  5 f.). 295  BVerfGE 31, 58 (81); BVerfGE 36, 146 (167). 296  Coester-Waltjen, in: v. Münch/Kunig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 6 Rn. 21. 297  BVerfGE 36, 146 (162 ff.); a. A. Ipsen, Ehe und Familie, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, § 154 Rn. 6.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC153

Verfechtern der Figur der Ausgestaltung zumeist eine Bindung durch Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkte angenommen wird, wenn auch dem ausgestaltenden Gesetzgeber mehr oder weniger weite Einschätzungsspielräume eingeräumt werden.298 Die für sich genommen bereits zurückzuweisende Ausgestaltungsdogmatik des Art. 6 Abs. 1 GG lässt sich nicht auf Art. 9 GRC übertragen. Im Ergebnis folgt aus Art. 9 GRC eine Pflicht zum Erlass von die Eingehung der Ehe ermöglichenden Rechtsvorschriften.299 Diese Pflicht ist auf die Eingehung einer Ehe im Sinne des oben definierten Ehebegriffs gerichtet. Kommt ein Mitgliedstaat dieser Pflicht nicht vollumfänglich nach, bedeutet dies eine Verkürzung des Anwendungsbereiches von Art. 9 GRC.300 Da sich der Eingriffsbegriff für die Prüfung von Abwehrrechten durchgesetzt hat, kann eine solche in Anknüpfung in Anlehnung an Jarass als Beschränkung bezeichnet werden.301 b) Art. 9 GRC und Art. 52 Abs. 1 GRC als „doppelte Schranken“ der Eheschließungsfreiheit? Mit dem Ergebnis, dass den Mitgliedstaaten keine Ausgestaltungsbefugnis zugunsten der Ehe zukommt, sondern dass in jeder Nichtermöglichung der Eheschließung im sachlichen Anwendungsbereich des Art. 9 GRC eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung liegt, ist noch nicht die Frage beantwortet, welchen Schranken die Eheschließungsfreiheit unterliegt und ob diese wiederum durch Schranken-Schranken eingehegt werden. Teilweise wird vertreten, dass Art. 9 GRC unter „doppelten Schranken“ stehe.302 Dieser Ansicht zufolge stehen diejenigen Gehalte des Art. 9 GRC, 298  Bumke, der Grundrechtsvorbehalt, S. 107, spricht von der Eignung zur Verwirklichung des Gebotenen, sowie davon, dass die Auswirkungen für die Betroffenen nicht unangemessen erscheinen dürften. Das Erforderlichkeitsgebot hält er hingegen nicht für anwendbar, S. 97. Er betont aber auch, dass Sinn der Figur der Ausgestaltung nicht sei, den Gesetzgeber von Bindungen zu befreien, sondern die verschiedenen Zugriffsweisen des Staates auf die Grundrechte zu beschreiben, S. 108. 299  Vgl. nur Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. II, § 1 Rn. 88. 300  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 391, 339, 314; vgl. auch Kloepfer, JZ 1984, S. 685 (688). 301  Jarass, AöR 120 (1995), S. 345 (362 ff.); ebenso Rengeling/Sczcekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 7 Rn. 488. 302  Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 1 (3); Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 17; Hanslik, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 9 Rn. 8; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16 Rn. 59; zwischen Ausgestaltung und Eingriff

154 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

die Art. 12 EMRK entsprechen, unter dem Regelungsvorbehalt des Art. 9 GRC und diejenigen Gehalte, die nicht denen des Art. 12 EMRK entsprechen, unter dem allgemeinen Schrankenvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRC.303 Eine Auffassung, die von „doppelten Schranken“ ausgeht, ist dem Einwand ausgesetzt, dass sie das Ziel der Autoren der Grundrechtecharta, mit Art. 52 Abs. 1 GRC einen allgemeinen Schrankenvorbehalt zu statuieren, konterkariert. Daneben ist die Konstruktion „doppelter Schranken“ dem Einwand der Impraktibilität ausgesetzt: Wo genau sollte auch der „Überschneidungsbereich“ von Art. 9 GRC und Art. 12 EMRK hinsichtlich der Ehe liegen, und wie sollte sich bestimmen lassen, wo der eigenständige Bereich des Art. 9 GRC beginnt? Zudem entwickelt sich die Rechtsprechung des EGMR aufgrund dessen Verständnis von der EMRK als „living instrument“ beständig weiter, sodass es theoretisch zu einem „Schrankenwechsel“ kommen könnte, würden Chartagewährleistungen, die über den bisherigen Stand der EMRK hinausgingen, durch den EGMR auch im Rahmen des Art. 12 EMRK gewährt. Schließlich verdrängt Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC nach hier vertretener Auffassung die allgemeine Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC nicht, sondern statuiert eine Auslegungsregel, wonach der Mindeststandard der EMRK, wie er sich aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt, nicht unterschritten werden darf. Deshalb ist die Konstruktion „doppelter Schranken“ für Art. 9 GRC abzulehnen.304 c) Schranke und Schranken-Schranken der Eheschließungsfreiheit gemäß Art. 52 Abs. 1 GRC Nachdem feststeht, dass Art. 9 GRC ein weiter Ehebegriff zugrunde liegt, der durch formelle oder materielle Regelungen der Eheschließungsfreiheit beschränkt werden kann, ist die Frage zu beantworten, ob die allgemeine Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Eheschließungsfreiheit strukturell anwendbar ist. Gemäß Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC muss „(j)ede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten … gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten.“ differenzierend Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches ­Unionsrecht, Art. 9 GRC Rn. 12 f. 303  Die Gegenauffassung zu der hier vertretenen Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRC sieht bei Rechten, die denen der EMRK entsprechen, ohnehin Art. 52 Abs. 3 GRC als lex specialis zu Abs. 1, was zum gleichen Ergebnis führt, vgl. nur Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Grundrechtecharta, Art. 9 Rn. 17. 304  Ebenso Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art.  52 EU-GRCharta Rn. 2.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC155

aa) Gesetzesvorbehalt Als erste Voraussetzung für Einschränkungen der Grundrechte statuiert Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC einen Gesetzesvorbehalt. Art. 52 Abs. 1 GRC erfordert, dass jede Einschränkung der Ausübung der Rechte der Charta „gesetzlich vorgesehen sein“ muss. Bei einem Recht wie der Eheschließungsfreiheit, das als normgeprägtes Grundrecht das Bestehen rechtlicher Regelungen voraussetzt, scheint ein Gesetzesvorbehalt nicht sinnvoll.305 Verkürzt der Normgeber den von dem Grundrecht geschützten Bereich der Eheschließungsfreiheit, indem er z. B. nur verschiedengeschlechtlichen Verbindungen die Eingehung einer Ehe ermöglicht oder Eheverbote aufstellt, hat er durch die konkrete rechtliche Ausformung des Eheschließungsrechtes den Gesetzesvorbehalt stets erfüllt. „Jede staatliche Leistung ist, indem sie bestimmt ist, zugleich begrenzt“.306 Etwas anderes könnte nur gelten, bestünde überhaupt kein Eheschließungsrecht: eine hypothetische Situation. Auch in diesem Fall wäre der Gesetzesvorbehalt nur relevant, verstünde man ihn als Vorbehalt eines formellen Gesetzes. Der Gesetzesvorbehalt würde dann jedoch zu einer Wesentlichkeitstheorie umgedeutet, die ein Tätigwerden des parlamentarischen Gesetzgebers fordert, da der Handlungsauftrag selbst bereits dem Leistungsrecht entspringt. Angesichts der geringen Anforderungen des unionalen Gesetzesvorbehaltes, der kein formelles Parlamentsgesetz der Mitgliedstaaten verlangt, ist ein solches Verständnis des Gesetzesvorbehaltes abzulehnen. Sofern hingegen die Verletzung des Grundrechtes durch Judikative oder Exekutive gerügt wird, besteht ohnehin ein grundrechtswidrig angewendetes Gesetz.307 Der Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRC ist auf ein originäres Leistungsrecht auf Bereitstellung von Kompetenzen deshalb nicht sinnvoll anwendbar, da seine Aussage bereits in dem Recht selbst enthalten ist.308 bb) Verhältnismäßigkeitsprinzip Die Unanwendbarkeit des Gesetzesvorbehalts führt noch nicht dazu, dass Art. 52 Abs. 1 GRC insgesamt auf die Eheschließungsfreiheit unanwendbar 305  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 52 Rn. 52; bezogen auf die EMRK Uerpmann-Witzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 27; für die EMRK Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 348 ff. 306  Lübbe-Wolff, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 211. 307  Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 351. 308  So wohl auch der EuGH in Bezug auf das Grundrecht auf ein faires Verfahren, Rs. C-394/07, Slg. 2009, I-2563, Rn. 29 – Gambazzi.

156 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

ist. Anderes kann nämlich für die in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC normierten „Schranken-Schranken“ gelten. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC lautet: „Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.“

Die Rechtfertigung von Einschränkungen von Grundrechten bedarf demnach der Verhältnismäßigkeit der Einschränkung. Ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta stützt sich die allgemeine Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC auf die Rechtsprechung des EuGH.309 Die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entspricht dabei im Wesentlichen dem Prüfungsaufbau im deutschen Verfassungsrecht, besteht mithin aus der Prüfung eines legitimen Ziels, der Prüfung, ob das Mittel zur Förderung dieses Ziels geeignet ist und der Prüfung ob es erforderlich und angemessen ist. Der EuGH spricht zwar nicht immer alle Punkte an und die Prüfung der Erforderlichkeit enthält oftmals Elemente der Angemessenheitsprüfung.310 Dem Grunde nach ist eine Abwägung aber Teil der Verhältnismäßigkeitsprüfung.311 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist vornehmlich auf die Rechtfertigung von Eingriffen in Abwehrrechte anerkannt. Möglicherweise lässt sich auch das sog. Untermaßverbot unter den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit subsumieren, sodass sich Einschränkungen des materiellen Leistungsrechts auf Eheschließung an diesem Maßstab aus Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC messen lassen müssen.312

309  ABl.

C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (32). die Grundrechte der Europäischen Union, S. 282  f.; Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, S. 61; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 36. 311  Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 112; Rengeling/Sczcekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 7 Rn. 442; Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, S. 282 f.; Trstenjak/Beysen, EuR 2012, S. 265 (280); Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäi­ schen Union, Art. 52 Rn. 22b; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 EU-GR-Charta, Rn.  70 f. 312  Gegen die Einführung des Untermaßverbotes in die Dogmatik des europäischen Grundrechtsschutzes Rengeling/Sczcekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 7 Rn. 523, die i. E. aber von einer „umfassenden Güter- und Interessenabwägung sowohl bei Abwehrrechten als auch bei Schutzpflichten“ ausgehen. 310  Winkler,



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC157

(1) Das Untermaßverbot als Gegenstück zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das Untermaßverbot313 wird gemeinhin als das Gegenstück zum Übermaßverbot bei der Prüfung der Rechtfertigung von staatlichem Unterlassen angesehen. Während das Übermaßverbot die Grenze zulässiger staatlicher Eingriffe durch aktives Tun bildet, richtet das Untermaßverbot eine Untergrenze staatlichen Handelns bei der Erfüllung von Handlungspflichten des Staates auf.314 Ursprünglich war das Anwendungsfeld des Untermaßverbotes auf die Erfüllung von Schutzpflichten des Staates gegenüber Grundrechtsverletzungen durch private Dritte zugeschnitten. Sowohl die Figur des Übermaßverbotes selbst als auch seine konkrete Gestalt sind in der deutschen Literatur allerdings umstritten. So wird von den Vertretern der „Kongruenzthese“ behauptet, das Untermaßverbot liefere keine eigenen Kriterien, da die von ihm gezogene Grenze mit der Grenze, die das Übermaßverbot für die Einschränkung der Grundrechte betroffener Dritter ziehe, identisch sei.315 Dem ist entgegenzuhalten, dass dies nur in „Dreieckskonstellationen“ so sein kann, also in Situationen, in denen die Grundrechte zweier Privatpersonen kollidieren. Dabei handelt es sich indes nur um einen Teilbereich der Leistungsrechte in Gestalt von Rechten aus staatlichen Schutzpflichten.316 Bei dem Recht auf Eheschließung als originärem Leistungsrecht ist leicht ersichtlich, dass Beschränkungen im Interesse von Gemeinwohlbelangen vorgenommen werden können. Weiterhin bewerten Über- und Untermaßverbot die Zielvorgaben aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln. Es ist keinesfalls zwingend, dass die Grenze der zulässigen Einschränkungen mit der Untergrenze der mindestens geforderten staatlichen Aktivität kongruent sein muss. Es kann vielmehr zwischen beiden ein Spielraum bestehen, der durch den Gesetzgeber auszufüllen ist.317 Die Kongruenzthese kann deshalb für den Bereich originärer Leistungsrechte nicht überzeugen und ist abzulehnen.

313  Canaris, 314  Merten,

AcP 184 (1984), S. 201 (228). in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, § 68

Rn. 81. 315  Hain, DVBl. 1993, S. 982 (983), ZG 1996, S. 80; Starck, JZ 1993, 817; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 85. 316  Dietlein, ZG 1995, S. 131 (135  f.); Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 192. 317  Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 94 f. mit einem anschaulichen Beispiel; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 192; Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 76 f.

158 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

(2) Die Elemente des Untermaßverbotes Wenn Übermaß- und Untermaßverbot nicht kongruent sind, ist die Frage aufgeworfen, welche Elemente das Untermaßverbot aufweist, ob sich insbesondere nicht die Prüfungspunkte des Übermaßverbotes – geeignetes Mittel, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne oder Angemessenheit – evtl. in modifizierter Form, „umgekehrt“, auf die Prüfung einer Beschränkung durch Unterlassen übertragen lassen. Vorweg sei angemerkt, dass der Mitgliedstaat bei der Beschränkung der Eheschließungsfreiheit einen legitimen Zweck verfolgen muss. Es gilt hier nichts anderes als bei Eingriffen in Abwehrrechte auch. Ist kein solcher legitimer Zweck ersichtlich, sind die Vorenthaltung der Ehe oder die Erschwerung der Ausübung der Eheschließungsfreiheit nicht gerechtfertigt. Die Verkürzung des Schutzbereichs der Eheschließungsfreiheit durch das Unterlassen seiner Erfüllung, oder das Unterlassen weniger beeinträchtigender formeller Voraussetzungen, so sie denn eine Beschränkung darstellen, müssen demnach ein legitimes Ziel im Sinne des Art. 52 Abs. 1 GRC verfolgen.318 An dieser Stelle sei noch einmal ausdrücklich klargestellt, dass der Gegentand der Prüfung des Untermaßverbotes das Unterlassen einer konkreten Handlung darstellt, nicht eine Handlung wie z. B. die Ablehnung, an der Eheschließung mitzuwirken, da nach der hier vertretenen Konzeption eine materielle Betrachtungsweise erfolgen muss. (a) Geeignetheit Weiterhin muss die Beschränkung im Rahmen des Übermaßverbotes geeignet sein, den legitimen Zweck zumindest zu fördern. Borowski unterscheidet in seiner Untersuchung des Untermaßverbotes die interne und die externe Geeignetheitsprüfung. Nach der internen Geeignetheitsprüfung sei das legitime Ziel in dem grundrechtlichen Leistungsrecht selbst zu erblicken.319 Da das Unterlassen einer Maßnahme das Leistungsrecht verkürzt und damit eine Beschränkung vorliegt, kann nur auf die Eignung des Vollzugs der Maßnahme abgestellt werden, die dann notwendig vorliegt, anderenfalls läge kein Eingriff vor.320 Es sei deshalb eine externe Geeignetheitsprüfung vorzunehmen, wonach die Beschränkung selbst geeignet sein muss, andere legitime Zwecke zu fördern.321 Für die Eheschließungsfreiheit sind diesem Sinne auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 199. Grundrechte als Prinzipien, S. 198; zu einer solchen Konzeption Clérico, Verhältnismäßigkeitsgebot und Untermaßverbot, S. 151 (163 ff.). 320  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 198. 321  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 199. 318  In

319  Borowski,



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC159

solche externen Zwecke ohne weiteres denkbar, z. B. die Bewahrung des Familienfriedens. Eine Geeignetheitsprüfung findet deshalb auch bei der Prüfung des Untermaßverbotes statt.322 (b) Erforderlichkeit Bei der Prüfung des Übermaßverbotes stellt sich sodann die Frage, ob die eingreifende Maßnahme zur Förderung des Zweckes auch erforderlich ist. Das ist nicht der Fall, wenn es mildere, das Grundrecht weniger einschränkende, aber gleich wirksame Alternativen zur Zweckverfolgung gibt. Fraglich ist, ob der Prüfungspunkt auf die Prüfung von Unterlassungen übertragbar ist. Borowski argumentiert, dass die Erforderlichkeitsprüfung ebenfalls eine externe sein müsse, denn die Frage, ob andere Maßnahmen als die unterlassene das Leistungsrecht ebenso gut fördern, kollidierende Interessen aber weniger beeinträchtigen, sei keine Frage des konkreten Leistungsrechts sondern der kollidierenden Rechtsgüter.323 Nach der externen Erforderlichkeitsprüfung käme es darauf an, ob ein alternatives Verhalten zu der Beschränkung das dem Leistungsgrundrecht zugrunde liegende Prinzip stärker fördere und kollidierende Rechtsgüter weniger oder gleich intensiv beeinträchtige.324 Die Alternative zu dem Unterlassen einer konkreten Maßnahme kann nur der Vollzug dieser Maßnahme sein.325 Da das Unterlassen der Maßnahme das grundrechtliche Prinzip verkürzen muss, damit eine Beschränkung vorliegt, ist das Kriterium der besseren Förderung durch alternatives Verhalten stets erfüllt.326 Nach der Geeignetheitsprüfung hat sich bereits ergeben, dass durch das Unterlassen der in Frage stehenden Maßnahme legitime Zwecke gefördert werden. Demzufolge werden diese durch den Vollzug der Handlung notwendig nicht oder weniger gefördert. Bei Vorliegen einer Beeinträchtigung durch Unterlassen und dessen Eignung liege die Erforder322  A. A. Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 208 f., der das Kriterium der Geeignetheit bei der Prüfung des Untermaßverbotes in Schutzpflichtfällen ablehnt, da in aller Regel jedenfalls die Eignung der besseren Entfaltung gegenläufiger Grundrechte vorliege, ggf. der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Die Argumente Störrings sind auf die Eheschließungsfreiheit aus Art. 9 GRC nicht übertragbar, weil es sich nicht um eine Schutzpflichtkonstellation handeln muss und zudem die Grundrechtecharta keine allgemeine Handlungsfreiheit gewährt. Zuzugeben ist, dass die Eignung meistens zu bejahen sein wird, gerade in Schutzpflichtfällen, sodass dem Prüfungspunkt nur eine untergeordnete Relevanz zukommt. Es ist jedoch nicht zwingend, auf den Prüfungspunkt gänzlich zu verzichten. 323  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 200. 324  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 200. 325  Borowski, Grundrechte als Prinzipen, S, 200 und S. 194 f. insb. Fn. 157. 326  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 200.

160 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

lichkeit stets vor, sodass das Kriterium im Rahmen des Untermaßverbotes notwendig leerlaufe. Einer anderen Auffassung bezogen auf das Untermaßverbot bei der Prüfung von völkerrechtlichen Schutzpflichten ist Stahl, die sich bei ihrer Analyse des Untermaßverbotes ebenfalls grundsätzlich auf die Konzeption Borowskis stützt.327 Ihrer Auffassung nach stellt die Erforderlichkeit auch im Rahmen des Untermaßverbotes einen Prüfungspunkt dar. An der Erforderlichkeit einer Maßnahme fehle es, „wenn das angestrebte Ziel durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden kann. Als mildere Mittel kommen alle solche in Betracht, die das angestrebte Ziel gleich verwirklichen können, aber weniger intensive Beeinträchtigungen von Individualrechten zur Folge haben. Milder kann z. B. auch eine staatliche Maßnahme sein, bei der die Pflichterfüllung durch den Einsatz finanzieller Mittel erfolgt.“

Um den Prüfungspunkt verstehen zu können, muss vorher geklärt werden, was unter dem angestrebten Ziel und was unter der Maßnahme zu verstehen ist. Das wird bei Stahl nicht ganz klar: Ist unter der Maßnahme eine Handlung oder ein Unterlassen zu verstehen? Handelt es sich um eine Handlung, muss die Schutzhandlung zugunsten des geprüften Schutzrechts gemeint sein. Sofern eine solche Maßnahme dem Schutz des beeinträchtigten Rechtsgutes zu dienen bestimmt ist, liegt darin der legitime Zweck. Eine Maßnahme kann aber auch anderen Zwecken dienlich sein. Dient sie nur anderen Zwecken, mögen diese zwar legitim sein, die Maßnahme im Hinblick auf die Erfüllung eines Schutzrechts zu untersuchen ist dann aber zweckfremd, da sie in keinem Zusammenhang mit der Schutzpflicht steht. Gegenläufige Zwecke sind frühestens im Rahmen der Erforderlichkeit, sonst im Rahmen der Abwägung relevant. Besteht die Maßnahme hingegen in einem Unterlassen, liegt der Zweck in der Verfolgung eines anderen Ziels als der Förderung des Schutzgutes, dessen Beeinträchtigung durch das Unterlassen des Grundrechtsadressaten gerade der Prüfungsgegenstand ist. Da Stahl in der Folge davon ausgeht, dass alle möglichen staatlichen Handlungen zu ermitteln sind, die die Schutzpflicht zu erfüllen geeignet sind und einen legitimen Zweck erfüllen, identifiziert sie letzteren offenbar mit der Förderung des Schutzes des beeinträchtigten Schutzgutes.328 Das ist aber mit ihrer vorherigen Aussage nicht konsistent. Sofern eine Maßnahme bereits ausgeführt wurde, sei diese zu beurteilen. Wenn eine Maßnahme bereits ausgeführt wurde und nur diese zu beurteilen ist, erübrigt sich aber die Bestimmung aller möglichen Handlungen. Für die Erforderlichkeitsprüfung ergebe sich laut Stahl, dass die Erforderlichkeit entfalle, wenn eine alternative Handlung zu der bereits vor327  Stahl, 328  Stahl,

Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 309 ff. Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 310.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC161

genommenen das Ziel, also den Schutz des beeinträchtigten Schutzrechtes, gleich gut erfüllen könne, aber weniger intensive Beeinträchtigungen von Individualrechten zur Folge habe.329 Das entspricht der internen Erforderlichkeitsprüfung nach Borowski. Ob gegenläufige Rechtsgüter weniger beeinträchtigt werden, ist keine Frage der Erforderlichkeit einer Schutzpflichterfüllung. Gleiches gilt gesteigert für den Fall, dass keine Maßnahme vollzogen wurde, mithin ein vollständiges Unterlassen geprüft wird. Das Untermaßverbot beantwortet nicht die Frage danach, wie stark gegenläufige Interessen eingeschränkt werden dürfen, sondern danach, wie weit der in Frage stehende Schutz verwirklicht werden muss. Bei der Prüfung einer bereits vollzogenen Maßnahme kann das Ergebnis herauskommen, dass diese unzureichend ist, das richtet sich jedoch nach der materiell gebotenen Handlung. Materiell kommt es immer auf ein gerügtes Unterlassen des Staates an. Ist eine Maßnahme unzureichend, folgt daraus die Pflicht, den Schutz zu verbessern, nicht die Pflicht, die (unzureichende) Maßnahme auch noch zu beseitigen.330 Der Konzeption Stahls ist deshalb nicht zu folgen, die Erforderlichkeitsprüfung entfällt bei der Prüfung des Untermaßverbotes.331 (c) Verhältnismäßigkeit i. e. S. Bei der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne im Rahmen des Untermaßverbotes ist nach der Konzeption von Borowski abzuwägen, welches Gewicht der unterlassenen Handlung im Verhältnis zu den gegenläufigen Rechtsgütern zukommt. Die Prüfung entspricht somit der Abwägung bei der Prüfung des Übermaßverbotes.332 Weil das Untermaßverbot eine Handlung gebietet, keine Unterlassung wie das Übermaßverbot, müssen alle in Betracht kommenden Förderungshandlungen auf ihre Verhältnismäßigkeit hin untersucht werden. Es kann dann zu dem Ergebnis kommen, dass mehr als nur eine Handlung geboten erscheint, dies jedoch nur dann, wenn nicht entweder kein oder nur ein Mittel von dem Ergebnis der Abwägung geboten ist.333 Im Falle der Eheschließungsfreiheit, die als originäres Leistungsrecht in den praktisch allein relevanten Fällen, dass die Eheschließung versagt wird, genau einen Anspruch gewährt, ist dieser Fall im Unterschied zu den Leistungsansprüchen aus grundrechtlichen Schutzpflichten selten. Wird der Anspruch versagt, kommt als Alternative nur seine Gewährung in Betracht. Die Beschränkung ist entweder gerechtfertigt, weil eine Abwägung ergibt, dass das Unterlassen 329  Stahl,

Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 311. i. E. dann auch Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 326. 331  Ebenso Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 211. 332  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 201. 333  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 202 f. 330  So

162 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

der Gewährung der Eheschließung nach Abwägung mit den dadurch verfolgten Zielen verhältnismäßig ist, dann ist das Grundrecht beschränkt, oder sie ist nicht gerechtfertigt, dann muss der Anspruch gewährt werden, seine Unterlassung verletzt das Grundrecht. Es bleibt in diesem Fall nur die Frage nach dem „Wie“ der Gewährung, die von Art. 9 GRC nicht beantwortet wird und von der konkreten Situation abhängt. Wird ein Eheverbot für grundrechtswidrig befunden, genügt seine Nichtanwendung durch die Behörden und Gerichte (Kassationslösung).334 Steht die Ehe bestimmten Personengruppen, praktisches Beispiel ist die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern, deren grundrechtliche Gebotenheit aufgrund der Eröffnung des Anwendungsbereich der Eheschließungsfreiheit grundsätzlich bereits bejaht wurde, gar nicht erst offen, muss es für diese Personengruppen geschaffen werden. Möglicherweise kann dies durch eine grundrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts geschehen, was Aufgabe der einzelstaatlichen Gerichte ist. Sollte eine derartige Auslegung nicht möglich sein, muss der nationale Gesetzgeber eine entsprechende Regelung schaffen. Welcher konkreten Regelungstechnik er sich dabei zu bedienen hat, wird von Art. 9 GRC nicht vorgegeben.335 Es zeigt sich, dass das Untermaßverbot dem Übermaßverbot strukturell ähnelt, mit diesem aber nicht identisch ist, weil keine Handlung, sondern ein Unterlassen geprüft wird. Zwar muss das Unterlassen einem legitimen Ziel dienen und dieses auch zu fördern geeignet sein, die Prüfung der Erforderlichkeit des Unterlassens ist hingegen unnötig. Das Unterlassen einer Maßnahme ist stets das mildeste, gleich geeignete Mittel, weil die Alternative zu dem Unterlassen einer Maßnahme nur (auch) deren Vollzug sein kann. Die Prüfung der Angemessenheit ist hingegen mit derjenigen bei der Prüfung des Übermaßverbotes strukturell vergleichbar. Es bedarf jeweils einer Abwägung konkurrierender Rechtsgüter und Interessen. Das Untermaßverbot ist insofern ebenfalls eine besondere Verhältnismäßigkeitsprüfung. Es lässt sich demnach unter den in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC genannten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit subsumieren. cc) Wesensgehaltsgarantie Art. 52 Abs. 1 GRC verlangt ferner die Achtung des Wesensgehalts der Grundrechte. Die Wesensgehaltsgarantie kann als die Garantie eines absolu334  Lübbe-Wolff,

Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 41. Situation ist insofern identisch mit der Rechtslage nach Art. 12 EMRK. Auch hier wird nur eine Verletzung des Art. 12 EMRK festgestellt. Der Mitgliedstaat hat zwar die Pflicht, die Verletzung zu beseitigen; wie er dies bewerkstelligt, wird von der EMRK und dem EGMR nicht vorgeschrieben. 335  Die



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC163

ten, von vornherein unbeschränkten Kernbereichs verstanden werden. Dieser Kernbereich muss näher bestimmt werden. Sieht man in der Wesensgehaltsgarantie eine Grenze für Beeinträchtigungen im konkreten Fall, geht sie in dem Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.336 Die Probleme der Bestimmung der Wesensgehaltsgarantie waren dem Konvent bekannt, wurden aber dort nicht entschieden.337 Der EuGH, dessen Rechtsprechung zu dieser Frage nicht einheitlich ist,338 scheint neuerdings eher einer absoluten Sichtweise zuzuneigen, nach der der Wesensgehalt eines Rechts verletzt ist, wenn der Eingriff das Recht gänzlich beseitigt. So heißt es in der Rs. Sky Österreich, dass die fragliche Richtlinie den Wesensgehalt der unternehmerischen Freiheit nicht antaste, „[d]enn durch diese Bestimmung wird der Inhaber exklusiver Fernsehübertragungsrechte an der Ausübung der unternehmerischen Tätigkeit als solcher nicht gehindert.“339 Diese Sichtweise hat der EuGH in dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung jüngst bestätigt.340 Ein derartiges Verständnis des Wesensgehalts lässt sich auf die Eheschließungsfreiheit übertragen, wonach dem Einzelnen nicht die Möglichkeit genommen werden darf, überhaupt zu heiraten. d) Zwischenergebnis Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit sind rechtfertigungsbedürftig. Der Gesetzesvorbehalt kommt dabei wegen seiner Ausrichtung auf Eingriffe in Abwehrrechte nicht zum Tragen, da er ohnehin stets erfüllt ist. Anderenfalls würde er in einen Vorbehalt des Gesetzes umgedeutet, was mit dem Verständnis des Gesetzesvorbehalts als Regelungsvorbehalt, sofern er sich an die Mitgliedstaaten richtet, nicht vereinbar ist. Einschränkungen, worunter Eingriffe in Abwehrrechte und Beschränkungen von Leistungsrechten subsumiert werden können, sind hingegen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen. Da es sich bei der Eheschließungsfreiheit primär um ein materielles, originäres Leistungsrecht handelt, findet die Verhältnismäßigkeitsprüfung in Gestalt des Untermaßverbotes statt. Da das Untermaßverbot nicht auf ein Unterlassen, sondern auf eine Handlung gerichtet ist, läuft das Kriterium der Erforderlichkeit leer und ist demnach nicht anzuwenden. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit gleicht strukturell derjenigen bei der Prüfung des Über336  Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 109. 337  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 235. 338  Vgl. die Nachweise bei Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, S.  263 ff. 339  EuGH, Rs. C-283/11, Rn. 49 – Sky Österreich. 340  EuGH, verb. Rs. C-293/12 und C-594/12, Rn. 39 – Digital Rights Ireland u. a.

164 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

maßverbotes. Es muss abgewogen werden, ob die konkrete Beschränkung durch Vorenthalten der Eheschließungsfreiheit durch die dadurch verfolgten entgegenstehenden Ziele das Gewicht der Beschränkung überwiegt. Das Untermaßverbot kann deshalb als Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit i. S. d. Art. 52 Abs. 1 GRC angesehen werden.341 Wendete man nun Art. 52 Abs. 1 GRC auf die Beschränkung von Leistungsrechten an, kämen nur der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Gestalt des Untermaßverbotes und die Wesensgehaltsgarantie zur Anwendung, das explizit genannte Kriterium der Erforderlichkeit wie auch der Gesetzesvorbehalt hingegen nicht. Das könnte gegen die Anwendung des Art. 52 Abs. 1 GRC auf die Beschränkung der Eheschließungsfreiheit sprechen, zudem das Untermaßverbot als Prüfungsmaßstab nirgends ausdrücklich Erwähnung findet und auch vom Konvent nicht thematisiert wurde. Andererseits ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beschränkung der Eheschließungsfreiheit geboten, weil auch der EGMR eine solche bei der Rechtfertigung von Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit aus Art. 12 EMRK durchführt. Dies spricht ebenfalls dafür, das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. 52 Abs. 1 GRC so auszulegen, dass auch das Untermaßverbot davon umfasst ist. Dass die anderen Voraussetzungen nicht geprüft werden, ist der Tatsache geschuldet, dass die Grundrechtecharta einen allgemeinen Beschränkungstatbestand für alle Grundrechte enthält. Angesichts der Vielgestaltigkeit der in der Grundrechtecharta verbürgten Grundrechte ist ein gewisser interpretatorischer Anpassungsbedarf bei einzelnen Grundrechten wie der Eheschließungsfreiheit zugunsten der Anwendung einer einheitlichen Schrankenregelung hinzunehmen. Zudem müsste das Untermaßverbot sonstigenfalls anderswo verortet werden. Das böte den Nachteil, den in der Grundrechtecharta verfolgten Ansatz eines einheitlichen Schrankenvorbehalts zu konterkarieren. Einzelne Sonderschranken für Grundrechte waren grundsätzlich nicht gewollt.342 Zudem kann der Verweis auf die einzelstaatlichen Gesetze auch als Hinweis auf den Charakter eines normgeprägten Grundrechts hinweisen, sowie auf die besondere Rolle der mitgliedstaatlichen Gestaltungsmacht in diesem Zusammenhang, normative Vorgaben enthält er demgemäß nicht, sodass es eher fernzuliegen scheint, ihm ein Untermaßverbot entnehmen zu wollen. Misst man hingegen alle Regelungen der Mitgliedstaaten im weiten Anwendungsbereich des Eheschließungsrechts an Art. 52 Abs. 1 GRC, werden diese dogmatischen Ungereimtheiten vermieden. Hinzu tritt, dass der EGMR dem Grunde nach ohnehin eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen des 341  Frenz,

Handbuch Europarecht IV, Rn. 605. in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 3. 342  Borowsky,



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC165

Art. 12 EMRK durchführt. Der Maßstab des Art. 52 Abs. 1 GRC entspricht somit demjenigen, den der EGMR anlegt. Das Verbot, den Wesensgehalt anzutasten, findet sich ebenfalls sowohl in der EMRK als auch in Art. 52 Abs. 1 GRC. Im Interesse einer einheitlichen Rechtfertigung von Beschränkungen der Rechte der Grundrechtecharta sollte deshalb auch für die Beurteilung von Verkürzungen des Schutzbereichs von Leistungsrechten Art. 52 Abs. 1 GRC herangezogen werden. Demgemäß ist jede Beschränkung des Eherechts durch die Mitgliedstaaten oder die Union an Art. 52 Abs. 1 GRC zu messen, sie muss ein anerkanntes Ziel im Sinne des Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC verfolgen, dazu geeignet und verhältnismäßig im engeren Sinne sein.343 e) Beurteilungsspielräume durch den Hinweis auf die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in Art. 9 GRC Verbreitet wird den Mitgliedstaaten bei der Gewährung der Eheschließungsfreiheit ein weiter Spielraum zugestanden. Als Argument wird einmal mehr der Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften genannt.344 Spielräume können sich aus der Unsicherheit über normative Vorgaben345 oder den Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten der Judikative ergeben. Letzteres ist im Rahmen der Unionsrechtsordnung besonders relevant, weil die nationalen Behörden und Gerichte die Umstände des Einzelfalles und die Verhältnisse vor Ort besser überblicken können als die supranationale Gerichtsbarkeit.346 Damit begründet auch der EGMR oftmals Spielräume der Mitgliedstaaten.347 Der EGMR nimmt Spielräume aber auch dann an, wenn eine Situation in den Mitgliedstaaten umstritten ist und unterschiedlich behandelt wird.348 Für die Zubilligung von derartigen normativen Beurteilungsspielräumen im Rahmen der Unionsgrundrechte sprechen allgemein die gleichen Erwägungen, die auch im Rahmen der EMRK vorgebracht werden. Zunächst haben die Mitgliedstaaten naturgemäß einen Spielraum bezüglich des „Wie“ der Gestaltung des Eheschließungsrechts. Es gibt etliche Möglich343  Hilf, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, § 164 Rn. 56. 344  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 11; Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 9 GRC Rn. 12; Hilf, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1 § 164 Rn. 56. 345  Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 126; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 191. 346  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 608. 347  EGMR, Urt. v. 7.12.1976, Handyside v. the United Kingdom, Nr. 5493/72, § 48, Series A 24, S. 22. 348  EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk and Kopf v. Austria, Nr. 30141/04, § 61, Reports 2010 S. 409 (429).

166 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

keiten, die Eheschließung und ihre Formalia zu regeln. Wie die Mitgliedstaaten dies tun, ist ihnen überlassen. Ein Erkenntnisspielraum kommt ihnen bei den allgemeinen Ehevoraussetzungen zu, wie der Ehefähigkeit. Einen Erkenntnisspielraum haben die Mitgliedstaaten ferner bei der Bestimmung legitimer Ziele von Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit. Ob z. B. Ehen unter Verwandten den Familienfrieden gefährden und ob ein Eheverbot geeignet ist, die Gefahren zu mindern, liegt im Beurteilungsspielraum der Mitgliedstaaten. Über die Ausübungsmodalitäten des Eheschließungsrechts hinaus, bezüglich dessen Spielräume der Mitgliedstaaten mit dem Wortlaut des Art. 9 GRC begründet werden können, und Erkenntnisspielräume bei den Ehevoraussetzungen und der Geeignetheit von Beschränkungen, die sich mit den Erkenntnisgrenzen der supranationale Gerichtsbarkeit rechtfertigen lassen, bestehen keine Spielräume bei der Anwendung der Eheschließungsfreiheit des Art. 9 GRC.

III. Das Recht, eine Familie zu gründen in Art. 9 GRC Art. 9 GRC gewährt nicht nur das Recht, eine Ehe einzugehen sondern auch das Recht, eine Familie zu gründen. Wie schon für die Eheschließungsso gilt auch für die Familiengründungsfreiheit des Art. 9 GRC, dass nur der Gründungsakt geschützt wird. Der Schutz der Familie selbst ist nicht an Art. 9 GRC, sondern an Art. 7 GRC sowie Art. 33 GRC zu messen.349 1. Das Verhältnis des Familiengründungsrechts zu dem Recht, eine Ehe einzugehen in Art. 9 GRC Die Formulierung des Art. 9 GRC weicht in Bezug auf das Familiengründungsrecht von der Formulierung des Art. 12 EMRK ab. Während in letzterem noch von „das Recht, (…) eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen“ gesprochen wird, heißt es nunmehr „Das Recht, eine Ehe einzugehen, und das Recht, eine Familie zu gründen“. Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta sprechen von einer zeitgemäßeren Gestaltung „dieses Rechts“. Es sollen auch Fälle erfasst werden, in denen nach den einzelstaatlichen Gesetzen andere Formen als die Heirat zur Gründung einer Familie anerkannt werden. Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta irritieren mehr, als dass sie erklären. Die Ausführungen des Präsidiums müssen wohl als auf das Verhältnis von Eheschließung und Familiengründung bezogen verstanden werden. Während Art. 12 EMRK nur Eheleuten die Familien349  In diesem Sinne Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 4; Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 9 GRC Rn. 1.



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC167

gründung gewährt, sind Eheschließung und Familiengründung in Art. 9 GRC stärker getrennt, indem sie jeweils eigens als Recht bezeichnet werden. Der Hinweis, dass Fälle erfasst werden sollen, die „nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften“ als Familiengründung anerkannt werden, ist der Rücksicht auf mitgliedstaatliche Befindlichkeiten geschuldet. Ebenso wie die Eheschließungsfreiheit kommt der Familiengründungsfreiheit ein Anwendungsbereich zu, dessen Beschränkung rechtfertigungsbedürftig ist. Ob die Gründung einer von Art. 9 GRC erfassten Familie durch die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten erlaubt wird, ist nicht eine Frage des Anwendungsbereichs, sondern der Rechtfertigung einer Beschränkung der Familiengründungsfreiheit. Ob Mitgliedstaaten die Familiengründung auch Unverheirateten erlauben, wirkt sich auf den Anwendungsbereich der Familiengründungsfreiheit nicht aus. In Art. 9 GRC lassen sich demnach zwei selbständige Rechte verorten: Das Recht, eine Ehe einzugehen und das davon unabhängige Recht, eine Familie zu gründen. Letzteres ist, anders als in Art. 12 EMRK, nicht mehr auf Ehepaare beschränkt.350 Grundsätzlich können sich deshalb auch Einzelpersonen auf das Recht der Familiengründung berufen.351 2. Der Schutzbereich der Familiengründungsfreiheit gemäß Art. 9 GRC Um den Anwendungsbereich der Familiengründungsfreiheit des Art. 9 GRC zu eröffnen, muss es sich demnach um die Gründung einer „Familie“ handeln. Unter der Gründung einer Familie ist jedenfalls die Entscheidung zu verstehen, Kinder zu haben. Gleichfalls wird von Art. 9 GRC die negative Familiengründungsfreiheit und damit die Entscheidung, keine Kinder zu haben, geschützt. Nicht nur das „Ob“ der Familiengründung ist erfasst, sondern auch der Zeitpunkt und die Entscheidung darüber, wie viele Kinder gewünscht werden.352 Geschützt ist damit jedenfalls die Zeugung von Kindern auf biologischem Wege. Auch die Verwendung reproduktionsmedizinischer Verfahren ist von dem Anwendungsbereich des Art. 9 GRC erfasst.353 Da 350  Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 9 GR-Charta, Rn. 7; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 9 EU-GRCharta, Rn. 6; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 20; Wolffgang, in: Lenz/ Borchardt, EU-Verträge Kommentar, Art. 9 GRCh Rn. 5; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 7. 351  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1414 ff. 352  Marauhn, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 20 Rn. 23; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 19; Wolff, EuR 2005, S. 721 (731). 353  Uerpmann-Witzack, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 10 Rn. 33.

168 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Art. 9 GRC nur das Recht gewährleistet, eine Familie zu gründen und der weitergehenden Schutz der einmal bestehenden Familie von Art. 7 GRC gewährleistet wird, ist der Familienbegriff des Art. 9 GRC auf Familien beschränkt, die auch „gegründet“ werden können. Das ist bei Verwandtschaftsverhältnissen, auf deren Existenz der Einzelne keinen Einfluss hat, nicht der Fall. Deshalb umfasst der Familienbegriff des Art. 9 GRC nicht die erweiterte Familie bestehend aus mehreren Generationen, z. B. Großeltern und Enkelkindern, Onkels, Tanten, Nichten und Neffen, Geschwistern etc. Das Verwandtschaftsverhältnis zu der erweiterten Familie besteht unabhängig von einer Gründung durch die Familienmitglieder.354 Problematisch ist, ob über die Zeugung von Kindern hinaus auch andere Formen der „Familiengründung“ von Art. 9 GRC erfasst sind, ob auch die „rechtliche“ Begründung einer Familie von der Familiengründungsfreiheit geschützt wird, als Hauptanwendungsfälle kommen das Recht auf Adoption sowie rechtlich nicht verfestigte nichteheliche Lebensgemeinschaften in Frage. Überträgt man die Argumentation im Rahmen der Familiengründungsfreiheit des Art. 12 EMRK auf Art. 9 GRC, gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Familiengründung durch Adoption nicht von Art. 9 GRC erfasst ist. Die Übertragbarkeit konventionsrechtlicher Erwägungen auf Art. 9 GRC ist an dieser Stelle jedoch einigen Einwänden ausgesetzt. In den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta heißt es, dass das Recht auf Familiengründung gemäß Art. 9 GRC im Vergleich zu Art. 12 EMRK „zeitgemäßer“ gestaltet wurde, um „andere Formen als die Heirat zur Gründung einer Familie“ zu erfassen.355 Die Formulierung lässt anklingen, dass bereits in der Eingehung einer Ehe eine Familiengründung liegen soll. Diese Lesart wäre mit dem Verständnis des EGMR von „Familienleben“ im Sinne des Art. 8 EMRK im Einklang, wonach die Ehe selbst ebenfalls eine Familie ist, auch wenn sie kinderlos bleibt. Das gilt auch für nichteheliche Lebensgemeinschaften, die sich nach der Rechtsprechung des EGMR auf den Schutz des Familienlebens aus Art. 8 EMRK berufen können. Nach der Konzeption eines faktischen Familienbegriffes, der nicht an das Vorhandensein von Kindern anknüpft, sondern an das Zusammenleben von Menschen, wäre es ebenfalls vom Anwendungsbereich der Familiengründungsfreiheit umfasst, dass Menschen mit einem Partner ihrer Wahl zusammenleben kön354  In diesem Sinne wohl auch Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 19; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 9 Rn. 7; Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 9 Rn. 23; a. A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 9 EU-GRCharta Rn. 6; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1494. 355  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (21).



D. Ehe und Familie in Art. 9 GRC169

nen. Die heutzutage übliche „Vorlaufphase“ der Eheeingehung sowie der Entscheidung für ein erstes Kind, das nichteheliche Zusammensein und zusammenleben, wäre demnach ebenfalls von Art. 9 GRC umfasst, da darin bereits eine Familiengründung zu sehen wäre. Dafür spricht auch der gelockerte Zusammenhang von Ehe und Familie in Art. 9 GRC. Der enge Familienbegriff des Art. 12 EMRK folgt insbesondere aus der Beschränkung des Rechts auf Ehepaare: für diese kommt eine Familiengründung nur durch das Bekommen von Kindern in Frage, weil der Bestand einer Ehe Anwendungsvoraussetzung für die Familiengründungsfreiheit ist. Für ein weites Verständnis der Familiengründungsfreiheit spricht ferner die Kohärenz des Familienschutzes in Art. 7 und 9 GRC: Das Familienleben wird durch Art. 7 GRC wegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC mindestens ebenso weitläufig geschützt wie in Art. 8 EMRK. Es erscheint widersprüchlich, die Gründung einer von Art. 7 GRC geschützten Familie nicht dem Schutz des Art. 9 zu unterstellen. Entsprechende Kritik wird bereits dem EGMR aufgrund seiner restriktiven Auslegung der Familiengründungsfreiheit des Art. 12 EMRK entgegengebracht.356 Nachdem die Formulierung des Art. 9 GRC offener formuliert wurde, ist kein Grund mehr ersichtlich, an einer uneinheitlichen Auslegung des Familienbegriffs in Art. 7 und 9 GRC festzuhalten. Demgemäß ist das Eingehen einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft vom Anwendungsbereich des Art. 9 GRC erfasst. Die Eingehung einer rechtlich verfassten Partnerschaft ist demgegenüber in Art. 9 Alt. 1 GRC als lex specialis geregelt. Das Argument eines möglichst lückenlosen und mit Art. 7 GRC kongruenten Familienschutzes spricht auch für die Einbeziehung der Adoption in den Anwendungsbereich des Art. 9 GRC. Dagegen ließe sich einwenden, dass das Adoptionsrecht als rechtliche Familiengründung anders als die „natürliche“ Familiengründung der Sache nach ein Leistungsrecht darstellt und den Grundrechtsadressaten Handlungspflichten auferlegen könnte. Dieses Argument erweist sich als wenig schlagkräftig. Art. 9 GRC enthält mit der Eheschließungsfreiheit bereits ein materielles Leistungsrecht. Zudem steht auch die Familiengründung unter dem Eingriffs- und Beschränkungsvorbehalt der Mitgliedstaaten gemäß Art. 52 Abs. 1 GRC. Ferner wird in den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta die Möglichkeit erwähnt, dass die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten andere Formen der Familiengründung anerkennen. Die Formulierung des Rechts und die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta deuten demnach auf die Möglichkeit einer Normprägung hin. Demnach ist auch das Adoptionsrecht vom Anwendungsbereich des Art. 9 GRC erfasst.357 356  Palm-Risse,

Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 134. in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2,

357  Uerpmann-Witzack,

Rn. 35.

170 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

3. Gewährleistungsdimensionen der Familiengründungsfreiheit Nach der Bestimmung des Begriffs der Familie stellt sich auch bei der Familiengründungsfreiheit die Frage nach den Gewährleistungsdimensionen. Art. 9 Alt. 2 GRC vermittelt zunächst ein Abwehrrecht. Eingriffe des Staates in die Entscheidung des Einzelnen, Kinder auf natürlichem Wege zu bekommen, verkürzen das Recht auf Familiengründung. Aufgrund des weiten Familienbegriffes des Art. 9 GRC liegt in der Verhinderung der Gründung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft ebenfalls ein Eingriff in die Familiengründungsfreiheit. Denkbar sind solche Eingriffe z. B. bei Menschen mit Behinderungen. Aus der Einbeziehung der Adoption in das Recht auf Familiengründung ergibt sich, dass aus dem Recht Handlungspflichten der Mitgliedstaaten folgen können und die Familiengründungsfreiheit mithin eine leistungsrechtliche Dimension aufweist. 4. Schranken der Familiengründungsfreiheit Für die Rechtfertigung von Beschränkungen der Familiengründungsfreiheit gelten die Ausführungen zur Eheschließungsfreiheit entsprechend. Aus dem Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften ergeben sich keine Schranken. Im Unterschied zur Eheschließungsfreiheit kommt der Familiengründungsfreiheit hauptsächlich abwehrrechtliche Bedeutung zu. Eingriffe in die Familiengründungsfreiheit sind rechtfertigungsbedürftig, sie müssen sich an der Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC messen lassen. Wird die Familiengründungsfreiheit in der Dimension des materiellen Leistungsrechts relevant, müssen sich Beschränkungen genau wie Beschränkungen der Eheschließungsfreiheit am Untermaßverbot des Art. 52 Abs. 1 GRC messen lassen.

E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC Die gegenüber Art. 9 GRC praktisch bedeutsamere, ebenfalls an die EMRK angelehnte Norm zum Familienschutz ist Art. 7 GRC. Art. 7 Abs. 1 GRC weist mehrere Schutzgüter auf. Neben dem Familien- werden auch das Privatleben, die Wohnung und die Kommunikation geschützt. Art. 7 GRC ist nahezu wortgleich mit Art. 8 Abs. 1 EMRK. Nur der Begriff der „Korrespondenz“ in Art. 8 Abs. 1 EMRK wurde in Art. 7 GRC durch den Begriff „Kommunikation“ ersetzt. Ausweislich der Erläuterungen zur GRC sollte dadurch der technischen Entwicklung Rechnung getragen werden.358 Art. 7 GRC entspricht deshalb Art. 8 Abs. 1 EMRK, sodass der Schutz des Familienle358  Abl.

C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (20).



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC171

bens in Art. 7 GRC wegen Art. 52 Abs. 3 GRC jedenfalls nicht restriktiver sein darf, als der Schutz des Familienlebens in Art. 8 Abs. 1 EMRK. Zur Bestimmung des Schutzbereiches des Art. 7 muss der Begriff der Familie definiert werden. Weil Art. 7 GRC Art. 8 Abs. 1 EMRK entspricht, hat er die gleiche Bedeutung und Tragweite. Die Achtung des Familienlebens gemäß Art. 7 GRC muss deshalb mindestens einen dem Schutz des Art. 8 EMRK entsprechenden Umfang aufweisen. Deshalb wird zunächst der Schutz des Familienlebens des Art. 8 Abs. 1 EMRK als Mindestinhalt des Art. 7 GRC skizziert.

I. Der Schutz von Ehe und Familie in Art. 8 Abs. 1 EMRK Neben Art. 12 EMRK wird die Familie von Art. 8 EMRK in Bezug genommen. Nach Art. 8 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Familienlebens. 1. Das Verhältnis der einzelnen Gewährleistungen des Art. 8 EMRK zueinander Art. 8 EMRK gebietet nicht nur die Achtung des Familienlebens, sondern auch die Achtung des Privatlebens, der Wohnung und der Korrespondenz. Umstritten ist, ob Art. 8 EMRK ein einheitliches Grundrecht ist, oder ob vier verschiedene, eigenständige Schutzbereiche gewährleistet werden. Gegen die Gewährleistung vier unabhängiger Schutzbereiche könnte sprechen, dass Art. 8 Abs. 2 EMRK einen einheitlichen Schrankenvorbehalt enthält, die vier Schutzgüter deshalb unter den gleichen Voraussetzungen eingeschränkt werden können und eine Differenzierung zwischen vier Schutzgütern auf der Ebene des Schutzbereiches deshalb entbehrlich ist.359 Zudem lässt sich argumentieren, dass Familie, Wohnung und Korrespondenz nur besondere Ausprägungen der Privatsphäre sind. Das Privatleben stellt den „Grundtatbestand“ dar, weil sie die anderen Teilbereiche enthält und ihrerseits einen tatbestandlich noch weitergehenden Schutz vermittelt.360 Dass die verschiedenen Schutzgüter des Art. 8 Abs. 1 EMRK unter dem gleichen Vorbehalt stehen, spricht für sich genommen nicht dagegen, dass der Gewährleistungsumfang je nach Schutzgut variiert. Die EMRK erkennt der Familie eine gesteigerte Schutzwürdigkeit zu. Die Berufung auf das Fa359  van Dijk in: van Dijk/van Hoof/van Rijn/Zwaak, Theory and Practice of the Convention on Human Rights, S. 242. 360  Vgl. Jacobs/Ovey/White, The European Convention on Human Rights, S. 335.

172 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

milienleben kann bei der Abwägung der gegenläufigen Interessen gegenüber einer Berufung nur auf das Privatleben von gesteigertem Gewicht sein.361 Wenn auch es inhaltliche Überschneidungen, insbesondere von Privat- und Familienleben geben kann, statuiert Art. 8 EMRK vier eigenständige Schutzbereiche.362 Vorliegend ist allein der Schutz des Familienlebens von Inte­resse. 2. Der Begriff der Familie in Art. 8 Abs. 1 EMRK Die in der Rechtsprechung des EGMR weitaus bedeutsamste Vorschrift zum Schutz von Ehe und Familie ist Art. 8 Abs. 1 EMRK. Der Begriff des Familienlebens ist nicht etwa durch das Familienrecht der Mitgliedstaaten determiniert, sondern ein autonom auszulegender Rechtsbegriff der Konvention.363 Der EGMR geht bei der Entscheidung der Frage, ob es sich bei dem Verhältnis zwischen Menschen um eine Familie handelt, von einem faktischen Familienbegriff aus. Darauf deutet der Wortlaut von Art. 8 Abs. 1 EMRK hin, der nicht die Achtung der Familie, sondern des Familienlebens („family life“, bzw. „vie familiale“) schützt. a) Eheleute Nach Auffassung der Konventionsorgane bilden Ehepartner eine Familie. Das gilt selbst dann, wenn sie keine Kinder haben. Auch wenn die Ehe in Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht ausdrücklich genannt ist, wird sie als Familienleben durch die Konvention geschützt und gewährt den Ehepartnern einen Anspruch auf Achtung ihres Ehelebens.364 Das mag aus deutscher Warte befremdlich anmuten, wird doch unter der Ägide des Grundgesetzes von einer rechtlichen Trennung der Begriffe Ehe und Familie ausgegangen. Auch die Systematik der EMRK spricht auf den ersten Blick nicht für eine solche Auslegung, nennt doch Art. 12 EMRK die 361  Palm-Risse,

Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 193. in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 1; Uerpmann-Witzack, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 3 Rn. 3; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 1; Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 193; Brötel, Der Anspruch auf Achtung des Familienlebens, S. 46; a. A. Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 1. 363  Bericht der Kommission zu Marckx v. 10.12.1977, Rn. 69; Harris/O’Boyle/ Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 361; Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 195. 364  EGMR, Urt. v. 28.5.1985, Abdulaziz, Cabales and Balkandali v. the United Kingdom, Nr. 9214/80, 9473/81, 9474/81, § 62, Series A 94 S. 32. 362  Frowein,



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC173

Ehe ausdrücklich neben der Familie. Dem EGMR genügt „the relationship that arises from a lawful and genuine marriage“ dennoch als Familienleben i. S. d. Art.  8 Abs.  1 EMRK b) Nichteheliche Lebensgemeinschaften Die Konventionsorgane haben den Familienbegriff in Bezug auf Paarbeziehungen im Laufe der Zeit nochmals erweitert. Nicht nur Ehen, sondern auch nichteheliche Lebensgemeinschaften nehmen am Schutz des Familienlebens gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK teil.365 Das gilt nach der neueren Rechtsprechung auch für gleichgeschlechtliche nichteheliche Lebens­ gemein­ schaften,366 die der EGMR zuvor dem Privatleben zugeordnet hatte.367 Voraussetzung ist jeweils, dass auch ein tatsächliches Familienleben besteht. Während dem EGMR für das Familienleben von Eheleuten „the relationship that arises from a lawful and genuine marriage“ genügt, muss ein Familienleben zwischen unverheirateten Partnern positiv festgestellt werden. Indizien dafür sind das Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt, die Dauer der Beziehung und die Verbindlichkeit der Beziehung, insbesondere durch die Entscheidung für gemeinsame Kinder.368 c) Gemeinschaft aus Eltern und ihren Kindern Klassisches Schutzobjekt des Art. 8 ist die „famille naturelle“ bestehend aus Eltern und ihren biologischen Kindern. Das ergibt sich schon systematisch aus dem Zusammenhang mit Art. 12 EMRK, der als Familie die eheliche Familie in Form des Ehepaares und ihrer natürlichen Kinder bezeichnet. Der Familienbegriff der bürgerlichen Familie bestehend aus den verheirateten Eltern und ihren leiblichen Kindern, wie er Art. 12 EMRK zugrunde liegt, ist vom Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK vollumfänglich erfasst. Der EGMR geht davon aus, dass – weil die Ehe bereits Familie ist – ein Kind, das in einer Ehe geboren wird, ipso jure Teil dieser Familieneinheit 365  St. Rspr, statt vieler EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, § 56, Series A 112, S. 25 f.; Urt. v. 26.5.1994, Keegan v. Ireland, Nr. 16969/90, § 44, Series A 290 S. 17 f.; Urt. v. 27.10.1994, Kroon and others v. the Netherlands, Nr. 18535/91, § 30, Series A 297-C, S. 45 f.; Urt. v. 13.12.2007, Emonet and others v. Switzerland, Nr. 39051/03, § 34. 366  EGMR, Urt. v. 24.6.2010, Schalk und Kopf v. Austria, Nr. 30141/04, § 94 f., Reports 2010 S. 409 (436). 367  EGMR, Entsch. v. 10.5.2000, Mata Estevez, Nr. 56501/00, Reports 2001-VI, S. 311 (314). 368  Kom., Entsch. v. 15.12.1977 zu X and Y v. the United Kingdom, Nr. 7229/75, Decisions and Reports 12 S. 32 (33).

174 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

ist.369 Damit bestehen Familienbande zwischen den Eltern und ihren Kindern. Das gleiche gilt auch dann, wenn die Eltern nicht verheiratet sind, solange ihre Partnerschaft selbst Familienleben im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK ist, wofür der EGMR den Entschluss, Kinder zu haben, selbst als ein Indiz ansieht. Der EGMR begründet die Einbeziehung nichtehelicher Familien mit der Verwendung des Ausdrucks „Jedermann“ in Art. 8 EMRK sowie dem Verbot der Diskriminierung aufgrund der Geburt aus Art. 14 EMRK.370 d) Gemeinschaft aus Kindern und ihren nicht zusammenlebenden Eltern Für das Familienleben von nicht zusammenlebenden Eltern mit ihren Kindern stellt sich die Lage etwas differenzierter dar. Wenn die Eltern zum Zeitpunkt der Geburt ein Familienleben hatten, wird das Familienband im Verhältnis der Eltern und der Kinder durch eine Scheidung oder Trennung grundsätzlich nicht beeinträchtigt.371 Die familiäre Verbindung zwischen Eltern und Kindern kann nur unter außergewöhnlichen Umständen abreißen.372 Bestand kein Familienleben zwischen den Eltern, so gilt für die Mutter, dass auch zwischen ihr und dem Kind mit der Geburt ein Familienleben besteht.373 Bestand zwischen den Eltern kein Familienleben, müssen jedoch weitere Kriterien vorliegen, um ein Familienleben zwischen Vater und Kind annehmen zu können. Im Fall L. gegen die Niederlande führte der EGMR aus, dass die alleinige biologische Vaterschaft, ohne weitere rechtliche oder tatsächliche Elemente, die auf ein persönliches Näheverhältnis hindeuten, nicht ausreiche, um den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK auszulösen.374 Der uneheliche Vater kann sich, wenn es keinen tatsächlichen oder rechtlichen Bezug zu dem Kind gibt, grundsätzlich nicht auf den Anspruch auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK berufen. Der EGMR hat es in Be369  EGMR, Urt. v. 21.6.1988, Berrehab v. the Netherlands, Nr. 10730/84, § 21, Series A 138, S 14. 370  EGMR, Urt. v. 13.6.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74, § 31, Series A 31 S.  14 f. 371  EGMR, Urt. v. 26.5.1994, Keegan v. Ireland, Nr. 16969/90, § 44, Series A 290 S. 17 f.; Urt. v. 11.7.2000, Ciliz v. the Netherlands, Nr. 29192/95, § 59, Reports 2000VIII, S. 265 (283); Urt. v. 3.12.2009, Zaunegger v. Germany, Nr. 22028/04, § 37. 372  EGMR, Urt. v. 19.2.1996, Gül v. Switzerland, § 32, Reports 1996-I S. 159 (173 f.); Urt. v. 24.4.1996, Boughanemi v. France, Nr. 22070/93, § 35, Reports 1996II, S. 593 (607 f.). 373  EGMR, Urt. v. 13.6.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74, § 31, Series A 31 S.  14 f.; Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 202. 374  EGMR, Urt. v. 1.6.2004, Lebbink v. the Netherlands, Nr. 45582/99, § 37, Reports 2004-IV S. 182 (193).



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC175

zug auf die Väter unehelicher Kinder für die Bejahung familiärer Bande ausreichen lassen, wenn der Vater ein Interesse an dem Kind zeigte.375 Eltern und ihre Kinder sind demgemäß stets vom Begriff der Familie i. S. d. Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst. Auch wenn nur ein Elternteil mit seinem Kind zusammenlebt und dieses allein erzieht, handelt es sich um eine Familie im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Bestand zwischen den Eltern kein Familienleben, muss der biologische Vater geltend machen, dass Familienbande zwischen ihm und dem Kind auch tatsächlich bestehen, wobei die Anforderungen relativ gering sind. e) Adoptiv- und Pflegekinder Aus dem eher lebensumständebezogenen Familienbegriff des EGMR folgt, dass auch Adoptivkinder und ihre rechtlichen Eltern den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK genießen.376 Vergleichbar mit der Situation von Eheleuten genügt die rechtliche Verbindung zwischen Adoptivkindern und ihren Eltern als Nachweis eines tatsächlichen Familienlebens. Wenn nach den Umständen des Einzelfalles ausreichend gefestigte Fami­ lienbande bestehen, können folglich auch Pflegeeltern und Pflegekinder „Familie“ im Sinne des Art. 8 EMRK sein.377 f) Andere verwandtschaftliche Beziehungen Ein Familienleben kann nach Auffassung der Konventionsorgane auch außerhalb der Paarbeziehung bzw. der Verbindung von Eltern und minderjährigen Kindern bestehen. Zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern besteht nach der Rechtsprechung ein Familienleben, wenn die Kinder selbst noch keine Familie gegründet haben und mit ihren Eltern zusammenleben.378 Zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern und innerhalb der erweiterten Familie zwischen nahen Verwandten wie Geschwistern,379 Großeltern Urt. v. 3.12.2009, Zaunegger v. Germany, Nr. 22028/04, § 37. Urt. v. 28.10.1998, Söderbäck v. Sweden, Nr. 24484/94, § 33. Reports 1998-VII, S. 3086 (3095 f.). 377  Breitenlechner/Kneihs/Segalla, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 7 Rn. 12; Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 20. 378  EGMR, Urt. v. 29.1.1997, Bouchelkia v. France, § 41, Reports 1997‑I, S. 47 (63); Urt. v. 26.9.1996, El Boujaïdi v. France, Nr. 25613/94, § 33, Reports 1997-VI, S. 1980 (1910 f.); Urt. v. 13.2.2001, Ezzouhdi v. France, Nr. 47160/99, § 26; Urt. v. 23.6.2008, Maslov v. Austria, Nr. 1638/03, § 62, Reports 2008, S. 301 (321). 379  EGMR, Urt. v. 24.4.1996, Boughanemi v. France, Nr. 22070/93, § 35, Reports 1996-II, S. 593 (607 f.). 375  EGMR, 376  EGMR,

176 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

und ihren Enkeln380 und sogar Onkel und Tanten und ihren Neffen und Nichten kann ebenfalls ein Familienverhältnis bestehen.381 Entscheidend ist auch hier das Vorliegen des faktischen Elements in Form einer Nähe- und Abhängigkeitsbeziehung. Insgesamt ist der Familienbegriff des Art. 8 EMRK im Gegensatz zu dem Familienbegriff des Art. 12 EMRK viel weiter. Über die eheliche Familie hinaus ist davon insgesamt die Gemeinschaft von Eltern und ihren minderjährigen Kindern umfasst. Die erweiterte Familie ist ebenfalls vom Familienbegriff des Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst. Familie kann darüber hinaus nicht nur biologisch, sondern auch rechtlich vermittelt sein, sei es in Form der Adoption oder auch der Ehe. Entscheidend ist bei fehlender rechtlicher Verbindung, dass ein faktisches Nähe- bzw. Abhängigkeitsverhältnis besteht. 3. Gewährleistungsdimensionen des Rechts auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK Der Hauptzweck des Schutzes des Familienlebens aus Art. 8 Abs. 1 EMRK besteht darin, ein ungestörtes Familienleben generell zu ermöglichen. Die Konventionsstaaten haben daher vornehmlich die Pflicht, Störungen dieses Familienlebens zu unterlassen. Das Recht auf Achtung des Familienlebens weist demnach eine abwehrrechtliche Dimension auf. Fraglich ist, ob angesichts des ausdrücklichen Rechts auf Familiengründung für verheiratete Paare in Art. 12 EMRK, unverheiratete Paare oder Einzelne aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens ein Recht auf Fortpflanzung ableiten können. Das Recht unverheirateter Paare auf Fortpflanzung wird zwar dem Schutz des Art. 8 EMRK unterstellt, gemeinhin aber als Teil der Privatsphäre betrachtet.382 Das ist zwar in der Hinsicht konsequent, als dass der Wille des Einzelnen sich fortzupflanzen, seiner Privatsphäre zugehört und der Schutz des Familienlebens erst dann beginnt, wenn eine Familie besteht.383 Erst der Einzelne und sein Kind haben ein Familienleben. Wenn aber Menschen in einer stabilen nichtehelichen Beziehung leben, existiert bereits ein Familienleben, sodass die Entscheidung dieser Familie, Kinder zu bekommen, vom Schutz des Art. 8 EMRK umfasst ist.384 380  EGMR, Urt. v. 13.6.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74, § 45, Series A 31 S. 21.

381  Kom. Ber. v. 27.6.1995 zu X, Y and Z v. the United Kingdom, Nr. 21830/93, § 52, nicht veröffentlicht. 382  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 134 f.; Fahrenhorst, EuGRZ 1988, S. 125 (126). 383  EGMR, Urt. v. 18.12.1986, Johnston and others v. Ireland, Nr. 9697/82, § 55, Series A 112, S. 25. 384  Im Ergebnis ebenfalls Wittinger, Familien und Frauen im regionalen Menschenrechtsschutz, S. 108.



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC177

Die Gewährleistungsdimensionen des Familienschutzes in Art. 8 Abs. 1 EMRK beschränken sich nicht auf die Abwehr von Eingriffen. Die Pflicht zur Ermöglichung eines ungestörten Familienlebens führt vielmehr auch zu Handlungspflichten der Staaten.385 Die den Staaten obliegenden Handlungspflichten lassen sich dabei größtenteils den herkömmlicherweise unterschiedenen Kategorien von Leistungsrechten zuordnen, obgleich der EGMR eine Differenzierung nicht für möglich hält und alle Handlungspflichten der Konventionsstaaten aus der EMRK generell als „positive obligations“ bezeichnet.386 Zur Begründung von Handlungspflichten der Mitgliedstaaten verweist das Gericht erstens auf den Wortlaut des Art. 8 EMRK, in dem von „Achtung“ (in der englischen und französischen Fassung „respect“) des Familienlebens die Rede ist. „Achtung“ könne dem Wortlaut nach auch eine Handlungspflicht erfordern, eine Begründung die gerade für die Fälle rechtlicher Anerkennung von Verwandtschaftsverhältnissen unmittelbar einleuchtet. Zweitens sei die Grenze zwischen Handlungs- und Unterlassenspflichten nicht trennscharf zu ziehen.387 Drittens argumentiert der Gerichtshof mit Effektivitätsgesichtspunkten. Die Rechte der EMRK seien nicht nur theoretisch und illusorisch, sondern müssen praktisch wirksam sein.388 Der EGMR bedient sich hier einer dynamisch-teleologischen Auslegung, um den Schutzzweck der EMRK weiterzuentwickeln. Insgesamt fällt die Begründung des Gerichtshofes stets sehr knapp aus. Dem Gedanken, eine Schutzpflichtendogmatik für die EMRK zu entwickeln, erteilte der EGMR jedenfalls eine Absage.389 Grundlegend trifft die Mitgliedstaaten die Pflicht, Familienbeziehungen überhaupt rechtlich zu regeln390 und ein familienrechtliches Regime zu schaffen, das die faktischen Familienverhältnisse auch rechtlich anerkennt.391 385  Statt vieler EGMR, Urt. v. 6.2.1981, Airey v. Ireland, Nr. 6289/73, § 32, Series A 32, S. 17; Urt. v. 13.6.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74, § 31, Series A 31 S.  14 f. 386  Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S.  186 f. 387  Dazu Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention S.  196 ff. 388  EGMR, Urt. v. 6.2.1981, Airey v. Ireland, Nr. 6289/73, § 24, Series A 32,; Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 57. 389  EGMR, Urt. v. 21.6.1988, Plattform „Ärzte für das Leben“ v. Austria, Nr. 10126/82, § 31, Series A 139 S. 12; zu Herleitungen aus der Wissenschaft vgl. Stahl, Schutzpflichten im Völkerrecht, S. 97 ff. m. w. N. 390  Frowein, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 23. 391  EGMR, Urt. v. 27.10.1994, Kroon v. the Netherlands, Nr. 18535/91, § 39, Series A 297-C S. 46 (58).

178 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Der Gerichtshof hat insbesondere entschieden, dass ein Kind von Geburt an rechtlich in seine Familie integriert werden muss. Das Erfordernis einer Anerkennung durch die Mutter sah er als Verstoß gegen Art. 8 EMRK an.392 Die Entscheidung steht in engem Zusammenhang mit Art. 14 der Konvention. Außerehelich geborenen oder adoptierten Kindern muss die gleiche Anerkennung zukommen, wie ehelich geborenen bzw. leiblichen Kindern.393 Hinsichtlich der rechtlichen Ausgestaltung des Familienrechts müssen die Mitgliedstaaten den Familienmitgliedern Verfahren zur Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse zur Verfügung stellen und diese in angemessener Zeit durchführen.394 Weiterhin bestehen Informationspflichten in Familienrechtssachen, wie der Zugang zu Akten, die Information über das Beweisverfahren etc.395 Im Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern sind daran naturgemäß mehrere (in der Regel drei) Parteien beteiligt, nämlich die Kinder und ihre jeweiligen Eltern. Zwischen letzteren kann es zu Konflikten bezüglich der Kinder kommen, sodass es sich um ein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis handelt, das durch die Bereitstellung geeigneter Regelungen durch die Mitgliedstaaten ausgeglichen werden muss. Die Achtung des Familienlebens umfasst deshalb auch die Regelung des „Binnenrechts“ der Familie. Darüber hinaus sind die Staaten verpflichtet sicherzustellen, dass sich die Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern normal entwickeln.396 Gerade wenn es um das Familienleben von Eltern mit ihren Kindern geht, kann es zu Konflikten zwischen den Eltern kommen und die familiäre Situation kann sich im Laufe er Zeit verändern, besonders wenn die Eltern sich trennen. Deshalb müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Interessen der Eltern, unter vorrangiger Berücksichtigung des Kindeswohls, ausgeglichen werden. Die Mitgliedstaaten haben grundsätzlich die Pflicht, familienrechtliche Entscheidungen auch wirksam zu machen, indem sie sie durchzusetzen versuchen.397 Zu den Pflichten der Konventionsstaaten gehört ferner der Schutz der Familie vor Übergriffen Dritter. So ging es in dem Verfahren X. und Y. gegen die Niederlande um die Vergewaltigung von Y, die aufgrund einer Lücke im niederländischen Recht nicht strafrechtlich verfolgt werden konnte. Aufgrund dessen erkannte das Gericht in dem Versagen des Staates, durch die Strafverfolgung einen effektiven Schutz der Y sicherzustellen, eine Verletzung des 392  EGMR,

S. 21.

Urt. v. 13.6.1979, Marckx v. Belgium, Nr. 6833/74, § 35, Series A 31

393  Grabenwarter,

European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 80 m. w. N. European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 83 m. w. N. 395  Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 90 m. w. N. 396  Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 68. 397  Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 84. 394  Grabenwarter,



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC179

Art. 8 EMRK.398 Es sei gelegentlich erforderlich, Maßnahmen zu treffen, die die Sphäre der Individuen untereinander betreffen.399 Für nicht ausreichend hielt der EGMR den Erlass symbolischer oder praktisch unwirksamer Rechtsnormen. Der Gerichtshof forderte stattdessen die reale Möglichkeit strafrechtlicher Verfolgung von (körperlichen) Übergriffen Dritter.400 Art. 8 EMRK statuiert demnach Schutzpflichten des Staates vor der Beeinträchtigung des Familienlebens durch Dritte. Die Ermöglichung einer normalen Entwicklung von Familienbeziehungen kann unter Umständen nicht nur die Pflicht beinhalten, einen ausländischen Elternteil oder Ehegatten nicht auszuweisen, sondern ihm den Zuzug in das Territorium des Konventionsstaates zu ermöglichen, in dem seine Kinder und / oder sein Ehegatte sich bereits rechtmäßig aufhalten. Die Konvention enthält kein ausdrückliches Recht von Ausländern, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats einzureisen, sich dort aufzuhalten oder dessen Staatsangehörigkeit zu erlangen. Ein Recht auf Einreise wird in Art. 3 Abs. 2 des 4. Zusatzprotokolls nur den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten gegen ihren Heimatstaat gewährt.401 Während im ersten Fall wenig problematisch ist, dass die Ausweisung ein Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens sein kann, ist das bei der Verweigerung der Familienzusammenführung weniger eindeutig; schließlich erfordert die Anwendung des Familienschutzes aus Art. 8 Abs. 1 EMRK das tatsächliche Vorhandensein eines Familienlebens.402 Hier gelten die allgemeinen Kriterien, die der EGMR zur Bestimmung eines tatsächlichen Familienlebens aufgestellt hat. Von besonderer Bedeutung ist, dass ein ehelich geborenes Kind ipso jure Teil des Familienlebens seiner Eltern ist. Das Band, das Eltern und ihre Kinder verbindet, könne grundsätzlich nicht zerreißen, außer unter außergewöhnlichen Bedingungen. Der Nachweis eines Familienlebens zwischen Eltern und ihren Kindern für die Eröffnung des Anwendungsbereiches des Art. 8 Abs. 1 EMRK zum Zwecke der Familienzusammenführung stellt deshalb in der Regel keine unüberwindbare Hürde dar.403 398  EGMR, Urt. v. 26.3.1985, X and Y v. the Netherlands, Nr. 8978/80, § 30, Series A 91 S. 14. 399  EGMR, Urt. v. 26.3.1985, X and Y v. the Netherlands, Nr. 8978/80, § 23, Series A 91 S. 11. 400  Vgl. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 15. 401  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 282 m. w. N. aus der Rechtsprechung der Kommission. 402  Nußberger, NVwZ 2013, S. 1305 (1309). 403  EGMR, Urt. v. 21.6.1988, Berrehab v. the Netherlands, Nr. 10730/84 § 21, Series A 138, S. 14; Urt. v. 19.2.1996, Gül v. Switzerland, § 32, Reports 1996-I S 158 (173 f.); Urt. v. 28.11.1996, Ahmut v. the Netherlands, Nr. 21702/93 § 60, Reports

180 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Anders kann es bei Ehepartnern ohne Kinder sein. Die Eheschließung mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates vermag dem Ehepartner nach Auffassung des EGMR kein Recht auf Einreise zu verschaffen.404 Es erscheint fraglich, ob die Ehe allein ausreichender Nachweis für ein bestehendes Familienleben von Eheleuten sein kann, die in unterschiedlichen Ländern leben. Jedenfalls muss zum Zeitpunkt der Eheschließung ein Indiz für das Vorhandensein eines tatsächlichen Zusammenlebens vorliegen.405 Sofern das Bestehen eines Familienlebens nachgewiesen werden kann, stellt sich die Frage nach dem Umfang der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten. Während aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen ein Familienmitglied vom EGMR am Maßstab der negative obligations geprüft werden,406 fragt der Gerichtshof in Fällen der Familienzusammenführung nach dem Bestehen von positive obligations der Mitgliedstaaten.407 Eine Eingriffsprüfung nimmt der EGMR in letzterem Falle jedoch nicht vor, sondern verneint bei Fehlen einer positiven Verpflichtung einen Eingriff („interference“) in das Recht auf Achtung des Familienlebens.408 Er betont dabei jedoch, dass es keine trennscharfe Abgrenzung zwischen positiven und negativen Verpflichtungen gebe, die anwendbaren Prinzipien jedoch vergleichbar seien.409 1996-VI, S. 2017 (2030); Urt. v. 21.12.2001, Sen v. the Netherlands, Nr. 31465/96 § 28; Urt. v. 20.6.2002, Al-Nashif v. Bulgaria, Nr. 50963/99 § 112. 404  Vgl. EGMR, Urt. v. 28.5.1985, Abdulaziz, Cabales and Balkandali v. the United Kingdom, Nr. 9214/80, 9473/81, 9474/81, § 63, Series A 94 S. 32 f.; krit. Frowein, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 40. 405  Ähnlich wohl EGMR, Urt. v. 20.6.2002, Al-Nashif v. Bulgaria, Nr. 50963/99 §  112 f. 406  ­ EGMR, Urt. v. 31.10.2002, Yildiz v. Austria, Nr. 37295/97, § 36; Urt. v. 2.8.2001, Boultif v. Switzerland, Nr. 54273/00, § 39, Reports 2001-IX, S. 119 (129); vgl. auch Sander, Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 114 m. w. N. aus der Rechtsprechung. 407  EGMR, Urt. v. 28.11.1996, Ahmut v. the Netherlands, Nr. 21702/93 § 63, Reports 1996-VI, S. 2017 (2031); Urt. v. 19.2.1996, Gül v. Switzerland, § 38, Reports 1996-I S.; Urt. v. 1.12.2005, Tuquabo-Tekle and others v. the Netherlands, Nr. 60665/00 § 42 ff., nicht veröffentlicht; Urt. v. 21.12.2001, Sen v. the Netherlands, Nr. 31465/96 § 32, nicht veröffentlicht; Urt. v. 28.5.1985, Abdulaziz, Cabales and Balkandali v. the United Kingdom, Nr. 9214/80, 9473/81, 9474/81, § 68, Series A 94 S. 34; zur Abgrenzung von positiven und negativen Verpflichtungen in aufenthaltsrechtlichen Fällen durch den Gerichtshof näher Sander, Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 119 ff. 408  Sander, Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 103; Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S.  288 f.; Walter, Familienzusammenführung in Europa, S. 75. 409  Vgl. dazu auch Walter, Familienzusammenführung in Europa, S. 74 ff.; kritisch zur Unterscheidung zwischen negativen und positiven Verpflichtungen in aufenthaltsrechtlichen Fällen Sander, Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäi-



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC181

4. Schranken und Schranken-Schranken des Rechts auf Achtung des Familienlebens Das Recht auf Achtung des Familienlebens ist nicht schrankenlos gewährleistet. Gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK müssen Eingriffe in das Familienleben gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sein. Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage statuiert einen Rechtssatzvorbehalt. Ein Parlamentsgesetz ist nicht erforderlich, es genügt ein Gesetz im materiellen Sinne, das auch ungeschrieben oder in Form von Richterrecht bestehen kann. Die gesetzliche Grundlage muss für den Bürger vorhersehbar sein.410 Die Regelung muss weiterhin eines der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele verfolgen. Schließlich muss die Regelung notwendig in einer demokratischen Gesellschaft sein. Der EGMR führt bei der Prüfung dieses Merkmals eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch, bei der die widerstreitenden Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft abgewogen werden.411 Für die Beantwortung der Frage, ob ein Mitgliedstaat seine positive obligations erfüllt, kommen nach Auffassung des EGMR die gleichen Maßstäbe zur Anwendung wie bei der Rechtfertigung von Eingriffen,412 wobei der EGMR nicht auf den Gesetzesvorbehalt oder die Ziele in Art. 8 Abs. 2 EMRK zurückgreift, da Art. 8 Abs. 2 EMRK bei positiven Verpflichtungen schen Menschenrechtskonvention, S. 136 f.; Walter, Familienzusammenführung in Europa, S. 75. 410  EGMR, Urt. v. 10.11.2005, Leyla Sahin v. Turkey, Nr. 44774/98, § 88, Reports 2005-XI, S. 173 (199); Urt. v. 4.12.2008, Dogru v. France, Nr. 27058/05 § 52; Entsch. v. 29.6.2006, Weber and Saravia v. Germany, Nr. 54934/00 § 84, Reports 2006-XI, S. 309 (333); näher zum Gesetzesvorbehalt Marauhn/Thorn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. I, Kap 16 Rn. 83 ff. 411  Vgl. EGMR, Urt. v. 25.3.1985, Barthold v. Germany, Nr. 8734/79, § 58, Series A 90, S. 26; Marauhn/Thorn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. I, Kap 16 Rn. 96; Frowein, in: Frowein/Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, Vorbem. Art. 8–11 Rn. 15 f.; Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 51; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art. 8 Rn. 113. 412  EGMR, Urt. v. 23.9.1994, Hokkanen v. Finland, Nr. 19823/92, § 55, Series A 299-A S. 20; Harris/O’Boyle/Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, S. 382; Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, Art.  8 Rn. 2; Grabenwarter, European Convention on Human Rights, Art. 8 Rn. 101; Marauhn/Thorn, in: Dörr/Grote/Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. I, Kap 16 Rn. 105.

182 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

mangels Eingriffs nicht anwendbar sei.413 Das heißt, dass die Staaten einen gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der betroffenen Personen finden müssen, wobei ihnen, wie auch bei Eingriffen in Art. 8 Abs. 1 EMRK, ein Beurteilungsspielraum zusteht, der bei der Erfüllung positiver Verpflichtungen ggf. besonders weit sein kann.414 Demnach ist bei der Prüfung jeweils eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, unabhängig davon, ob die Verletzung negativer oder positiver Verpflichtungen infrage steht. Im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen durch die Ausweisung von Familienmitgliedern bzw. der Prüfung, ob der Mitgliedstaat seinen positiven Verpflichtungen nachgekommen ist, geht der EGMR davon aus, dass jedenfalls kein absolutes Recht auf Zusammenleben bzw. Familienzusammenführung bestehe.415 Die Mitgliedstaaten haben keine Verpflichtung aus Art. 8 EMRK, für die Fälle der Familienzusammenführung die Entscheidung der Ehegatten für einen gemeinsamen Wohnort in dem Mitgliedstaat zu respektieren.416 Schließlich sei ein angemessener Ausgleich zwischen den widerstreitenden Interessen des Beschwerdeführers und der Allgemeinheit herbeizuführen, wobei den Mitgliedstaaten ein Spielraum zukomme.417 Letztlich hat also auch im Falle der Familienzusammenführung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen.418 Dabei sind das Ausmaß der Beeinträchtigung der Familienbande, deren Ausprägung im Mitgliedstaat und ob es zuvor Verletzungen des Ausländerrechts durch die Familienmitglieder gegeben hat oder sonstige Gründe vorliegen, die dafür sprechen, die Einreise zu verweigern oder ein Familienmitglied auszuweisen, zu berücksichtigen. Der EGMR führt als weiteren wichtigen Faktor an, ob der Aufenthaltsstatus des drittstaatsangehörigen Familien413  EGMR,

S. 17.

Urt. v. 9.10.1979, Airey v. Ireland, Nr. 6289/73, § 32, Series A 32,

414  EGMR, Urt. v. 26.5.1994, Keegan v. Ireland, Nr. 16969/90, § 49, Series A 290 S. 19; Urt. v. 4.12.2007, Dickson v. the United Kingdom, Nr. 44362/04 § 77 ff., Reports 2007-V, S. 99 (127 f.). 415  EGMR, Urt. v. 28.5.1985, Abdulaziz, Cabales and Balkandali v. the United Kingdom, Nr. 9214/80, 9473/81, 9474/81, § 67, Series A 94 S. 33 f.; Urt. v. 19.2.1996, Gül v. Switzerland, § 38, Reports 1996-I S. 159 (174 f.); Urt. v. 28.11.1996, Ahmut v. the Netherlands, Nr. 21702/93 § 67, Reports 1996-VI, S. 2017 (2033). 416  EGMR, Urt. v. 28.11.1996, Ahmut v. the Netherlands, Nr. 21702/93 § 67, Reports 1996-VI, S. 2017 (2033); Urt. v. 19.2.1996, Gül v. Switzerland, § 38, Reports 1996-I S. 159 (174 f.). 417  EGMR, Urt. v. 19.2.1996, Gül v. Switzerland, § 38, Reports 1996-I S.; EGMR, Urt. v. 28.11.1996, Ahmut v. the Netherlands, Nr. 21702/93 § 67, Reports 1996-VI, S.; Urt. v. 1.12.2005, Tuquabo-Tekle and others v. the Netherlands, Nr. 60665/00 § 43. 418  Sander, Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 104; Hofmann, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, Art. 8 EMRK Rn. 28.



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC183

mitglieds zum Zeitpunkt der Gründung der Familie unsicher war.419 Das Alter und der Grad der Abhängigkeit eventuell betroffener Kinder von ihren Verwandten sind ebenfalls einzubeziehen.420 5. Das Verhältnis des Schutzes von Ehe und Familie gemäß Art. 8 EMRK zu dem Schutz von Ehe und Familie gemäß Art. 12 EMRK Aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane wird deutlich, dass die Familienbegriffe in Art. 8 Abs. 1 und Art. 12 EMRK nicht deckungsgleich sind. Der Begriff der Familie umfasst in Art. 12 EMRK nur die eheliche Familie. Art. 8 Abs. 1 EMRK wird weiter ausgelegt. Er schützt auch die nichteheliche Familie. Art. 12 EMRK umfasst zudem nur die „Kleinfamilie“, bestehend aus Eltern und ihren Kindern. Nur die Gründung einer solchen Familie wird durch Art. 12 EMRK geschützt. Unter den Familienbegriff des Art. 8 Abs. 1 EMRK werden auch Familienbeziehungen jenseits der Kleinfamilie subsumiert, insbesondere Familienbeziehungen in der Seitenlinie oder über mehrere Generationen. Die Ehe findet in Art. 8 EMRK keine Erwähnung. Dennoch erkennt der EGMR allein die Ehe als Familie an, selbst wenn sie kinderlos ist und bleiben wird, weil die Absicht oder Fähigkeit, Kinder zu haben, kein konstitutives Merkmal der Familie ist. Zwischen Eheleuten besteht ein rechtlich verfasstes Näheverhältnis. Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden ebenfalls als Familie angesehen, sofern ein faktisches Näheverhältnis vorliegt. Ehe und Familie sind demnach in Art. 8 EMRK nicht getrennt. Die Ehe ist auch dann schon Familie, wenn (noch) keine Kinder vorhanden sind. Darüber hinaus tritt die Familie als Einheit von Eltern mit ihren Kindern in Erscheinung, unabhängig davon, ob die Familie ehelich oder nichtehelich ist. Ein alleinerziehender Elternteil mit einem oder mehreren Kindern ist ebenfalls eine Familie im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Ein Familiengründungsrecht verheirateter Paare könnte zwar der Sache nach auch aus Art. 8 Abs. 1 EMRK folgen, da die Ehe bereits Familie ist und die Entscheidung für Kinder dem ehelichen Familienleben zuzuordnen ist. Art. 12 EMRK ist in diesem Fall lex specialis zu Art. 8 Abs. 1 EMRK. Das 419  EGMR, Urt. v. 31.1.2006, Rodrigues da Silva and Hoogkamer v. the Netherlands, Nr. 50435/99, § 59, Reports 2006-I, S. 223 (234 f.); zu den abwägungsrelevanten Interessen in der Rechtsprechung des Gerichtshofs näher Sander, Der Schutz des Aufenthalts durch Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 125 ff. 420  EGMR, Entsch. v. 24.11.1998, Mitchell v. the United Kingdom, Nr. 40447/98, nicht veröffentlicht.

184 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Recht unverheirateter Paare, Kinder zu bekommen ist vom Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Familienlebens erfasst.

II. Der Familienbegriff des Art. 7 GRC Gemäß Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC muss der Familienbegriff des Art. 7 GRC jedenfalls so weit ausgelegt werden wie der Familienbegriff des Art. 8 EMRK. Von Art. 7 GRC umfasst ist deshalb zunächst das Verhältnis von Eltern und Kindern in dem Umfang, in dem auch Art. 8 EMRK die ElternKind-Beziehung als Familienleben schützt. Eltern und ihre Kinder sind demgemäß grundsätzlich eine Familie. Das gilt für eheliche wie nichteheliche Kinder. Es kommt weder darauf an, dass die Eltern zusammen leben oder allein erziehend sind noch darauf, ob die Kinder leiblich oder adoptiert sind. Im Rahmen des Art. 8 EMRK lässt der EGMR die biologische Vaterschaft allein nicht genügen, sondern erfordert zusätzliche Umstände, damit ein Vater und sein leibliches Kind ein Familienleben geltend machen können. Derartige Umstände liegen entweder in einer bestehenden Familieneinheit zwischen den Eltern oder darin, dass der leibliche Vater tatsächliche Beziehungen zu dem Kind unterhält oder wenigstens Interesse an ihm zeigt. Fraglich ist, ob Art. 7 GRC hier einen höheren Schutz gewährleistet und die biologische Vaterschaft unabhängig von einem faktischen Näheverhältnis zur Begründung des Familienlebens ausreichen lässt. Dagegen spricht, dass die Diskussionen im Konvent davon bestimmt waren, dass der Schutz des Familienlebens an Art. 8 EMRK anzulehnen und nicht umfassender zu schützen sei als dort.421 Wie bei Art. 8 EMRK fehlt es gegebenenfalls an dem erforderlichen faktischen Element des Familienlebens, das auch in Art. 7 GRC sprachlich Niederschlag gefunden hat. Es bedarf somit für die Eröffnung des Schutzbereiches des Art. 7 GRC eines faktischen Näheverhältnisses zwischen dem biologischen Vater und seinem Kind. Die Großfamilie unterfällt ebenfalls dem Schutz des Art. 7 GRC, sofern zwischen den Familienmitgliedern ein ausreichendes Näheverhältnis besteht. Dieses weite Familienverständnis ist wegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC zwingend: Nach der Auffassung des EGMR fallen weitere verwandtschaftliche Beziehungen unter den Begriff des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK, insbesondere die Beziehungen zwischen Geschwistern oder Großeltern und ihren Enkelkindern. Auf die Einbeziehung der Mehrgenerationenfamilie deutet schließlich der Wortlaut des Art. 7 GRC in der niederländischen Fassung mit ihrer Formulierung „familie- end gezinsleven“ hin.422 421  Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 7 Rn. 6. 422  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1230.



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC185

Zur Beantwortung der Frage, ob innerhalb der Großfamilie eine ausreichende Bindung der Familienmitglieder untereinander besteht, um ein Familienleben im Sinne des Art. 7 GRC bejahen zu können, dürften als entscheidende Kriterien eine gemeinsame Wohnung und finanzielle Abhängigkeiten heranzuziehen sein. Umstritten ist weiterhin, ob auch Beziehungen über die (rechtlichen oder genetischen) Verwandtschaftsbeziehungen hinaus vom Begriff der Familie umfasst sein sollen. Teilweise wird vertreten, dass Partnerschaften, seien es Ehen oder nichteheliche Lebensgemeinschaften, nicht vom Begriff des Familienlebens in Art. 7 GRC erfasst, sondern dem Privatleben zuzuordnen seien.423 Dem liegt die Vorstellung zu Grunde, dass ein Kind konstitutiv für das Vorliegen einer Familie ist,424 wie es auch der herrschenden Meinung zu Art. 6 Abs. 1 GG entspricht.425 Frenz begründet seine Auffassung zusätzlich mit dem systematischen Argument, dass Art. 9 GRC ebenso wie Art. 12 EMRK eindeutig zwischen Ehe und Familie trenne und die Familie deshalb mehr als eine Ehe sei.426 Die Behauptung, dass für ein Familienleben grundsätzlich Kinder erforderlich seien und die Ehe höchstens die „Vorstufe“ der Familie sei, lässt sich nicht belegen. Zunächst belegt der Wortlaut des Art. 7 GRC eine derart enge Sichtweise nicht. Die Verwendung des Begriffes Familie ist nicht in allen Sprachen einheitlich. Während der Duden die Familie als „aus einem Elternpaar oder einem Elternteil und mindestens einem Kind bestehende [Lebens] gemeinschaft“ oder „Gruppe aller miteinander [bluts]verwandten Personen; Sippe“ definiert, nennt das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache auch den „Personenkreis, der untereinander blutsverwandt oder verschwägert ist“.427 Das Oxford Dictionary definiert die Familie als „a group of people related by blood or marriage“.428 Das französische Wörterbuch Larousse kennt ebenfalls die weitere Familie als „Ensemble de personnes unies par le sang ou par des alliances“.429 Der Begriff der Familie wird demnach auch in einer erweiterten Bedeutungsvariante verwendet, bei der die Schwägerschaft ebenfalls als Familienband verstanden wird. 423  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1229; Augsberg, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 7 GRC Rn. 7; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 7 Eu-GRCharta, Rn. 8. 424  Ausdrücklich Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1229; ebenso Augsberg, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 7 GRC Rn. 7. 425  s. oben auf S. 43 f. 426  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 1229. 427  Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache (DWDS), Eintrag „Familie“ (http://www.dwds.de/?qu=familie, zuletzt abgerufen am 19.1.2016). 428  Stevenson (Hrsg.), Oxford Dictionary of English, Eintrag „family“. 429  Grand Larousse de la langue française, Bd. 3, Eintrag „famille“.

186 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Eine erweiterte, kinderlose Eheleute einschließende Verwendung des Familienbegriffes hat sich auch im Sekundärrecht niedergeschlagen. Eheleute werden sekundärrechtlich regelmäßig als Familienangehörige anerkannt.430 Das legt den Schluss nahe, dass der Normgeber sich des Familienbegriffes in ebendieser Bedeutung bedient hat. Das systematische Verhältnis von Art. 7 und Art. 9 GRC spricht ebenfalls nicht für den Ausschluss partnerschaftlicher Beziehungen aus dem Schutzbereich des Anspruchs auf Schutz des Familienlebens. Zwar ist es zutreffend, dass Ehe und Familie in Art. 9 GRC sprachlich im Vergleich zu Ehe und Familie in Art. 12 EMRK stärker voneinander getrennt wurden. Während der EGMR die Formulierung der Ehe- und Familiengründung in Art. 12 EMRK dahingehend auslegt, dass die Eheschließung als Vorstufe der Familiengründung anzusehen ist,431 gewährt Art. 9 GRC das Recht, eine Ehe einzugehen und das Recht, eine Familie zu gründen, mithin zwei rechtlich voneinander unabhängige Rechte. Mit der sprachlich eindeutigen Etablierung zweier selbstständiger Rechte in Art. 9 GRC verfolgte der Konvent jedoch den Zweck, die Familiengründung zu verselbständigen und damit im Gegensatz zu Art. 12 EMRK zu ermöglichen, dass auch nichteheliche Familiengründungen den Schutz des Rechtes auf Familiengründung genießen. Das Recht auf Eingehung der Ehe könnte demgemäß nunmehr lex specialis zu dem Recht auf Gründung einer Familie sein, indem es die Familiengründung durch Eheschließung explizit normiert und die Existenz der bürgerlichen Ehe garantiert. Ein solches Verständnis legen auch die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 9 GRC nahe, wonach die sprachliche Trennung von Eheschließungsrecht und Familiengründungsrecht es ermöglichen soll, „Fälle zu erfassen, in denen nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften andere Formen als die Heirat zur Gründung einer Familie anerkannt werden.“432 Das Präsidium ging offenbar davon aus, dass es sich bei der Heirat selbst bereits um eine Form der Familiengründung handele. Für die Einbeziehung ehelicher und nichtehelicher Lebensgemeinschaften sprechen schließlich teleologische Erwägungen: Der Auffassung, dass Kinder konstitutiv für eine Familie sind, liegt zu Grunde, dass die Familie wegen der Erziehungslasten der Eltern besonders schutzbedürftig und wegen der Reproduktionsfunktion der Familie und ihrer Bedeutung für die Kinder auch besonders schützenswert sei. Dagegen lässt sich für Art. 7 GRC ins Feld führen, 430  s. u.,

S.  283 ff. Urt. v. 14.12.2010, O’Donoghue and others v. the United Kingdom, Nr. 34848/07 § 87 ff., Reports 2010 S. 397 (423 f.). 432  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (21), Hervorhebung nur hier. 431  EGMR,



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC187

dass der Schutz des Familienlebens nicht dem Ausgleich besonderer Familienlasten oder der Honorierung besonderer Familienleistungen zu dienen bestimmt ist, sondern dem Schutz einer spezifischen Sphäre der Privatheit des Individuums. Das ergibt sich aus einer systematischen Zusammenschau der Schutzgüter des Art. 7 GRC, der neben dem Privatleben noch die Wohnung und die Kommunikation nennt, die sich ebenfalls der Privatsphäre des Berechtigten zuordnen lassen. Zudem kann die Familie auch als wirtschaftliche und soziale Lebensgemeinschaft verstanden werden, sodass auch die Ehe und die nichteheliche Lebensgemeinschaft hinzuzuzählen wären.433 Hinzu tritt, dass es anderenfalls widersprüchlich wäre, die Großfamilie oder andere verwandtschaftliche Beziehungen in den Schutz des Familienlebens mit einzubeziehen, nicht jedoch Ehen und nichteheliche Lebensgemeinschaften, bei denen ein ebenso ausgeprägtes Näheverhältnis zwischen den Partnern besteht. Das Verhältnis von Geschwistern oder Onkels und Tanten und deren Neffen ähnelt dem Verhältnis zwischen Eheleuten weit mehr als das Eltern-Kind-Verhältnis, zumindest solange die Kinder minderjährig sind. Allenfalls die Mehrgenerationenfamilie kann eine Ähnlichkeit zu der Gemeinschaft von Eltern und ihren minderjährigen Kindern aufweisen, wenn die ältere Generation selbst hilfsbedürftig ist und die jüngere Generation wegen der Pflege der Älteren erhebliche Lasten trägt. Die Verweisung partnerschaftlicher Beziehungen auf den Schutz des Privatlebens und eine entsprechende Auslegung des Familienbegriffes in Art. 9 GRC würde überdies dazu führen, dass die Aufnahme partnerschaftlicher Beziehungen mangels der Gewährleistung allgemeiner Handlungsfreiheit durch die Grundrechtecharta434 grundrechtlich nicht ausreichend geschützt sein könnte. Schließlich begegnet es angesichts Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC Bedenken, partnerschaftliche Beziehungen, gleich ob sie ehelich oder nichtehelich sind, nicht unter den Begriff des Familienlebens zu subsumieren. Deshalb sprechen die besseren Argumente dafür, unter einer Familie im Sinne des Art. 7 GRC auch eheliche und nichteheliche Lebensgemeinschaften ohne Kinder zu verstehen.435

433  Das entspräche der historisch ursprünglichen Auffassung von Familie, s. o. auf S.  20 ff. 434  Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 6 Rn. 11; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 6 Rn. 6; Knecht, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 6 Rn. 4; Schmitz, EuR 2004, S. 691 (708); a. A. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 6 3 EU-GRCharta Rn. 12. 435  Uerpmann-Witzack, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 10 Rn. 26; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 7 Rn. 19; Schorkopf, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 16 Rn. 18; bezogen auf die Ehe EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 41 ff. – Carpenter.

188 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

III. Dimensionen des Familienschutzes Die Entsprechung von Art. 7 GRC und Art. 8 EMRK bedingt, dass über die gleiche Bedeutung und Tragweite auch die Dimensionen des Grundrechtsschutzes des Art. 8 EMRK für Art. 7 GRC von Bedeutung sind. Art. 7 GRC enthält nicht nur ein Abwehrrecht, sondern kann auch Schutz- und Leistungspflichten begründen. Dabei ist zu beachten, dass die Gründung einer Familie nicht von Art. 7 GRC, sondern von Art. 9 GRC geschützt ist. Grundsätzlich enthält Art. 7 GRC deshalb kein Recht auf Ermöglichung eines faktischen Familienlebens durch die Grundrechtsverpflichteten. Ist ein Familienleben vorhanden, was bei einer Ehe, sofern sie keine Scheinehe ist, naheliegt, folgt aus Art. 7 GRC jedenfalls eine Schutzpflicht im engeren Sinne.436

IV. Schranken und Schranken-Schranken des Art. 7 GRC Das Recht aus Art. 7 GRC findet in Art. 52 Abs. 1 GRC seine Schranke. Weil Art. 52 Abs. 3 GRC nach der hier vertretenen Auffassung nur eine Auslegungsregel beinhaltet, müssen sich Eingriffe in das Recht aus Art. 7 GRC an Art. 52 Abs. 1 GRC messen lassen. Dabei sind die legitimen Zwecke des Art. 8 EMRK, wie sie vom EGMR ausgelegt werden, zu berücksichtigen. Weil Art. 7 GRC ebenso wie Art. 8 EMRK neben der abwehrrechtlichen auch eine leistungsrechtliche Dimension zukommt, kann der Schutzbereich des Art. 7 GRC in seiner leistungsrechtlichen Ausprägung durch Unterlassungen beschränkt werden. Beschränkungen der leistungsrechtlichen Dimension müssen sich an Art. 52 Abs. 1 GRC in Gestalt des Untermaßverbotes messen lassen. Insofern kann auf die Ausführungen zu Art. 9 GRC verwiesen werden.437 Bei der Abwägung ist die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen.

V. Zusammenfassung zum Schutz von Ehe und Familie in Art. 7 und 9 GRC Der Ehebegriff ist aufgrund der heterogenen Rechtslage in den Mitgliedstaaten weit und entsprechend wenig konturiert. Zusammenfassend ist unter einer Ehe, die den Anwendungsbereich des Art. 9 GRC eröffnet, ein unbedingtes und unbefristetes, freiwillig begründetes Rechtsverhältnis zwischen zwei Personen zu verstehen, das auf die Herstellung einer Lebensgemeinschaft gerichtet ist und staatlicherseits anerkannt wird. 436  Vgl. 437  s. o.

Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 7 Rn. 32. auf S.  154 ff.



E. Ehe und Familie in Art. 7 GRC189

Die Eheschließungsfreiheit unterscheidet sich von der Familiengründungsfreiheit und dem Recht auf Achtung des Familienlebens durch seine umfassende Normgeprägtheit. Das Recht auf Eheschließung setzt in aller Regel eine Handlung der Mitgliedstaaten voraus und ist deshalb primär ein materielles Leistungsrecht. Da die Ehe ein Rechtsinstitut ist, müssen die Mitgliedstaaten ein Eherecht vorhalten. Diese positive Handlungspflicht steht im Dienste der Freiheit: Eine Institutsgarantie, die eine bestimmte Form der Ehe absichert, enthält Art. 9 GRC nicht. Die Eheschließungsfreiheit kann in einem Dreischritt geprüft werden. Den Anwendungsbereich eröffnet der Ehebegriff des Art. 9 GRC, der nicht im definitorischen Belieben der Mitgliedstaaten steht, sondern autonom unionsrechtlich zu gewinnen ist. Eine Institutsgarantie im Sinn der deutschen Staatsrechtslehre enthält Art. 9 GRC nicht. Wird zwei Personen die Eingehung der Ehe versagt oder erschwert, liegt darin eine Beschränkung der Eheschließungsfreiheit. Die Eheschließungsfreiheit steht durch den Verweis auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht unter einem Ausgestaltungsvorbehalt oder einer besonderen Schranke. Vielmehr muss die Rechtmäßigkeit von Beschränkungen an Art. 52 Abs. 1 GRC gemessen werden. Dazu kommt primär das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Gestalt des Untermaßverbotes zur Anwendung. Den Mitgliedstaaten kommt dabei ein Beurteilungsspielraum zu. Das Recht, eine Familie zu gründen wird in Art. 9 GRC unabhängig von dem Recht, eine Ehe einzugehen gewährt. Die Eingehung einer Ehe ist selbst eine rechtlich vermittelte Familiengründung und damit lex specialis zur Familiengründungsfreiheit. Die Gründung einer Familie kann nicht nur durch die Zeugung von Kindern erfolgen, sei es durch zwei Partner, sei es durch eine Einzelperson im Wege der Reproduktionsmedizin. Auch das faktische Zusammenleben von zwei Menschen ist als Gründung einer Familie im Sinne der Norm anzusehen. Art. 7 GRC schützt ausdrücklich nur das Familienleben, die Ehe wird nicht ausdrücklich genannt. Ehen sind aber entsprechend dem Schutzzweckzweck des Art. 7 GRC und dem Verständnis des EGMR vom Familienleben gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK ebenfalls Familien, auch wenn keine Kinder vorhanden sind, ebenso wie nichteheliche Lebensgemeinschaften, sofern sie tatsächlich hinreichend gefestigt sind. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC bedingt es, dass der Anspruch auf Achtung des Familienlebens nicht nur eine abwehrrechtliche, sondern auch eine leistungsrechtliche Dimension aufweist. Die vom EGMR als positive obligations bezeichneten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten finden in Art. 7 GRC eine unionsrechtliche Entsprechung. Eingriffe in das Recht auf Achtung des Familienlebens können unter Beachtung der Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRC gerechtfertigt werden.

190 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Die Beschränkung eines Leistungsrechtes bedingt die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Unterlassens des Grundrechtsverpflichteten. Die Rechtfertigung dieses Unterlassens bemisst sich nach der allgemeinen Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC in Gestalt des Untermaßverbotes. Angesichts der weiten Auslegung des Art. 8 EMRK durch den EGMR decken sich seine Gewährleistungsinhalte mit denen des Art. 7 GRC. Insofern bereitet die Auslegung und Anwendung des Art. 7 GRC keine besonderen Schwierigkeiten. Die Strukturierung der Rechtfertigungsprüfung von Beschränkungen der leistungsrechtlichen Dimension durch Art. 52 Abs. 1 GRC ermöglicht es dem EuGH, die Dogmatik der konventionsrechtlichen positive obligations im Anwendungsbereich des Art. 7 GRC als leistungsrechtliche Gehalte stärker dogmatisch zu konturieren.

F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC Nachdem die dogmatischen Strukturen der Art. 7 und 9 GRC erhellt wurden, wird im Folgenden der Schutz der Familie in Art. 33 GRC untersucht. Die Gewährleistungen des Art. 33 GRC finden in der EMRK keine Entsprechung, sodass ihre Bedeutung und Tragweite nicht von der EMRK beeinflusst wird. Mit der Aufnahme des rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutzes der Familie in einer weiteren Norm verstärkt die Grundrechtecharta den grundrechtlichen Familienschutz im Vergleich zur EMRK. Zur Bestimmung des Familienbegriffes und der dogmatischen Struktur des Art. 33 GRC ist ein Rückgriff auf die EMRK mangels einer vergleichbaren Regelung nicht möglich, sodass es einer allein chartarechtlichen Entwicklung der Begriffe und der Dogmatik des Art. 33 GRC bedarf. Art. 33 GRC enthält mehrere selbständige Gewährleistungen zum Familienschutz. Während Art. 33 Abs. 1 GRC allgemein den wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Schutz der Familie normiert, verbürgt Art. 33 Abs. 2 GRC verschiedene Gewährleistungen im Zusammenhang mit der Mutterschaft und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Art. 33 Abs. 2 GRC ist damit lex specialis zu Art. 33 Abs. 1 GRC438 und soll deshalb zuerst untersucht werden.

I. Die Gewährleistung des Art. 33 Abs. 2 GRC Art. 33 Abs. 2 GRC enthält drei sachlich voneinander unterscheidbare Gewährleistungen: Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC gewährt Schutz vor Entlassung 438  Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 9; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 5.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC191

aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC räumt ein Recht auf Mutterschaftsurlaub ein. Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC schließlich statuiert einen Anspruch auf Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes. 1. Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft ­zusammenhängenden Grund (Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC) Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC schützt jeden Menschen vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund. Ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta lehnt sich der Kündigungsschutz während der Mutterschaft an die Richtlinie 92 / 85 / EWG (im Folgenden: Mutterschutzrichtlinie), genauer an deren Art. 10 an.439 Des Weiteren stützt sich die Gewährleistung auf Art. 8 ESC. a) Persönlicher Schutzbereich In persönlicher Hinsicht schützt Art. 33 Abs. 2 GRC ausdrücklich jeden Menschen. Zudem wird als Zweck der Gewährleistungen des Art. 33 Abs. 2 GRC in der Norm selbst die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf genannt. Diesem Zweck kommt wegen seiner expliziten Verankerung im Normtext bei der Auslegung ein besonderes Gewicht zu.440 Gemäß dem offenen Wortlaut, der ausdrücklichen Zielsetzung, Familien- und Berufsleben miteinander in Einklang zu bringen und dem grundlegenden Wert der Gleichheit von Frauen und Männern gemäß Art. 2 EUV ist eine weite Auslegung des persönlichen Schutzbereiches geboten. Das Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund steht deshalb nicht nur Müttern, sondern auch anderen Familienmitgliedern zu.441 In erster Linie kommt neben der Mutter der biologische Vater als Rechteinhaber in Frage.442 Wegen des weiten Begriffes des Familienlebens in der Grundrechtecharta und des Telos der Norm, Familien vor den spezifischen Nachteilen im Arbeitsleben zu schützen, die mit der Schwangerschaft zusammenhängen, sind in den 439  ABl.

L Nr. 348 v. 28.11.1992, S. 1. Handbuch Europarecht IV, Rn. 4004. 441  Petersen, Der Schutz sozialer Grundrechte S. 97; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Art. 33 Rn. 13; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 17; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 6; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 14; Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art.  33 Rn. 7; Wutz/Ziniel, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 33 Rn. 25. 442  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4015. 440  Frenz,

192 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Schutzbereich des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC auch diejenigen Personen einzubeziehen, die in einem ausreichenden Näheverhältnis zu der werdenden Mutter stehen, ohne selbst biologische Eltern zu sein. In Frage kommen hier Eheleute im Sinne der Grundrechtecharta, also auch in einer Lebenspartnerschaft oder sonstigen registrierten, auf gegenseitiger Verantwortung gegründeten Gemeinschaft lebende Personen, die nicht biologisch mit dem Kind verwandt sind. Ebenfalls einzubeziehen sind Familienmitglieder, die aus anderen Gründen in einer ausreichenden Nähebeziehung stehen, z. B. die Eltern der selbst noch minderjährigen Mutter. Der Union und den Mitgliedstaaten muss für solche Fälle ein Einschätzungsspielraum eingeräumt werden, um die Anwendung des Rechts auf solche Fälle zu beschränken, in denen eine Gefahr der Entlassung aus Gründen einer Mutterschaft in der Familie tatsächlich besteht. Von dem Schutzbereich des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC werden nur Arbeitnehmer erfasst, da nur sie gekündigt werden können.443 Unerheblich für die Eröffnung des persönlichen Schutzbereiches ist, ob es sich um Personen handelt, die in der Privatwirtschaft oder im öffentlichen Dienst tätig sind, sei es bei einem Mitgliedstaat oder bei der Union selbst.444 b) „Mutterschaft“ In sachlicher und zeitlicher Hinsicht muss für die Eröffnung des Schutzbereiches des Rechtes aus Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC eine „Mutterschaft“ vorliegen. Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta definieren die Mutterschaft als den Zeitraum von der Zeugung bis zum Stillen des Kindes.445 Eindeutig ist, dass sich der Begriff der Mutterschaft auf den biologischen Zustand der Schwangerschaft der Frau bezieht. Unklar ist allerdings das Ende dieses Zeitraums.446 Die Formulierung der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta, die Mutterschaft dauere „bis zum Stillen des Kindes“ ist unverständlich. Vermutlich ist damit „bis zum Abstillen“ gemeint.447 Die Tatsache, ob und wie lange eine Mutter ihr Kind stillt, ist 443  Jarass,

Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 16. Anwendbarkeit der Richtlinie 96/34/EG hat der EuGH mit Hinweis auf das allgemein geltende Diskriminierungsverbot, dem die Richtlinie wie auch Art. 33 Abs. 2 CRC ebenfalls dient, bereits entschieden, dass sie auch auf Beamte anwendbar ist, EuGH, Rs. C-149/10, Slg. 2010, I-8489, Rn. 27 ff. – Chatzi; zur Anwendbarkeit der Schutzbestimmungen der Grundrechtecharta zum Berufsleben auch auf EU-Bedienstete Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 31 Rn. 5; so auch EuGÖD, Rs. F-50/09, SlgÖD, Rn. 126 – Missir. 445  Abl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (27). 446  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art.  33 EU-GRCharta Rn. 8; Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 10. 447  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 8. 444  Zur



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC193

jedoch kein taugliches Abgrenzungskriterium, weil die Mutter es zum einen selbst in der Hand hat, wie lange sie ihr Kind stillt, zum anderen manche Mütter nicht stillen können oder wollen und die Regelung nicht stillende Mütter dann diskriminieren würde. Zur Bestimmung des Zeitraums der Mutterschaft wird deshalb ein Rückgriff auf Art. 8 und 10 der Mutterschutzrichtlinie448 vorgeschlagen, die einen Mutterschaftsurlaub von insgesamt 14 Wochen vorsehen und eine Kündigung bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubes verbieten.449 Da das Sekundärrecht als solches jedoch nicht zur Auslegung der Grundrechtecharta herangezogen werden kann,450 muss der Rückgriff auf Art. 8 und 10 der Mutterschutzrichtlinie als genetisches Argument verstanden werden. Der Kündigungsschutz wegen der Mutterschaft dauert demnach von der Zeugung bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubes. c) Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC schützt vor einer Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund. Unter einer Entlassung ist wie bei dem Grundrecht auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung aus Art. 30 GRC die einseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber zu verstehen.451 Ähnlich wie bei Art. 10 der Mutterschutzrichtlinie ist davon auszugehen, dass die Nichtverlängerung eines befristeten Arbeitsvertrages, der während der Mutterschaft endet, nicht als Entlassung im Sinne des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC zu verstehen und damit nicht vom Schutzbereich erfasst ist.452 Die Entlassung ist weiterhin nur aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund verboten. Prozessual spricht viel dafür, 448  Richtlinie

92/85/EWG, Abl. L Nr. 348 v. 28.11.1992, S. 1. in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 8; Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 10; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 16. 450  So auch Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 374. 451  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 30 Rn. 6; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 30 Rn. 14; für eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegen den Willen des Arbeitnehmers Krebber, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 30 EU-GRCharta Rn. 3; Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 30 GRC Rn. 7; Lang, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 30 Rn. 5. 452  Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 17 mit Verweis auf EuGH, Rs. C-438/99, Slg. 2001, I-6915, Rn. 47 – Jiménez Melgar. 449  Kingreen,

194 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

mit Jarass eine entsprechende Vermutung für den Zusammenhang zwischen Kündigung und Entlassung anzunehmen, wenn die Kündigung während der Mutterschaft erfolgt, um dem Recht nicht seine praktische Wirksamkeit zu nehmen.453 d) Die Gewährleistungsdimensionen, Schranken und Schranken-Schranken des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC Das Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund hat mehrere Gewährleistungsdimensionen. Es enthält zunächst das Verbot der Entlassung von Familienangehörigen aufgrund einer Mutterschaft. Das geschuldete Verhalten ist demnach sehr eindeutig umschrieben. Es liegt in dem Unterlassen der Kündigung durch den Arbeitgeber. Es handelt sich bei dem Recht auf Kündigungsschutz deshalb um ein materielles Abwehrrecht, sofern der Arbeitgeber die Union oder ein Mitgliedstaat ist. Einschränkungen des Rechts können in diesem Fall nur unter den Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRC gerechtfertigt werden. In der großen Mehrzahl der Fälle ist der Arbeitgeber jedoch ein privater Dritter. Privatpersonen sind gemäß der abschließenden Aufzählung der Grundrechtsadressaten in Art. 51 Abs. 1 GRC nicht unmittelbar an die Grundrechte der Grundrechtcharta gebunden. Das Recht des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC wird deshalb in den meisten Fällen über eine Schutzpflicht im engeren Sinne der Union und der Mitgliedstaaten gegenüber den Arbeitnehmern gewährleistet. Die Union und die Mitgliedstaaten müssen geeignete Vorkehrungen treffen, um den Schutz der Arbeitnehmer sicherzustellen. Sie sind bei der Erfüllung der Schutzpflicht an das Untermaßverbot des Art. 52 Abs. 1 GRC gebunden. Dieser Verpflichtung sind sie durch den Erlass der Mutterschutzrichtlinie und der Umsetzungsgesetze in den Mitgliedstaaten nachgekommen. 2. Die Gewährleistung bezahlten Mutterschaftsurlaubes und Elternurlaubes (Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC) a) Mutterschaftsurlaub (Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC) Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC erweitert den Schutz der Elternschaft über den Kündigungsschutz hinaus, indem er einen „Anspruch“ auf bezahlten Mutterschaftsurlaub gewährt. Da dieser Anspruch dem Wortlaut nach ebenfalls jedem Menschen gewährt wird, stellt sich die Frage, ob auch andere Personen als Mütter von dem Recht auf Mutterschaftsurlaub umfasst sind. Anders als bei dem Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft 453  Jarass,

Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 16.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC195

zusammenhängenden Grund und dem Anspruch auf Elternurlaub ist der vornehmliche Schutzzweck des Mutterschaftsurlaubes nicht die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Norm bezweckt den Schutz der Mutter vor Gefahren, die mit einer Erwerbstätigkeit während und unmittelbar nach der Schwangerschaft für die Gesundheit der Mutter oder des Kindes wegen der besonderen körperlichen Verfassung schwangerer Frauen während und kurz nach der Schwangerschaft verbunden sein können.454 Da der Mutterschaftsurlaub bezahlt sein muss, dient die Norm auch dem wirtschaftlichen Schutz der Mutter. Deshalb steht der Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub anders als das Recht auf Kündigungsschutz und die Gewährleistung von Elternurlaub aus Art. 33 Abs. 2 GRC nur werdenden Müttern zu. Dafür sprechen ferner die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtcharta, laut derer sich das Recht auf einen bezahlten Mutterschaftsurlaub an Art. 8 der Mutterschutzrichtlinie anlehne. Art. 8 der Mutterschutzrichtlinie gewährt Mutterschaftsurlaub ebenfalls nur Arbeitnehmerinnen. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC stützt sich weiterhin auf Art. 8 ESC, der „Frauen vor und nach der Niederkunft“ das Recht auf einen bezahlten Mutterschaftsurlaub gewährt.455 Der genetischen Auslegung der Norm zufolge ist der Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub deshalb auf die werdende, schwangere Mutter beschränkt. Dafür spricht schließlich ebenfalls die Systematik des Art. 33 Abs. 2 GRC. Die Wendung „nach der Geburt oder Adoption eines Kindes“ bezieht sich nicht auf den Mutterschaftsurlaub, der schon vor der Geburt beginnen muss, sondern nur auf den Elternurlaub. Im Falle der Adoption muss folglich kein Mutterschaftsurlaub gem. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC gewährt werden.456 Über die Dauer des Mutterschaftsurlaubes schweigt Art. 33 Abs. 2 GRC. Vielfach wird vertreten, dieser müsse wie in Art. 8 und 10 der Mutterschutzrichtlinie mindestens 14 Wochen betragen.457 Art. 33 Abs. 2 GRC lehnt sich 454  St. Rspr. des EuGH zur Mutterschutzrichtlinie, EuGH Rs. C-184/83, Slg. 1984, 3047, Rn. 25 – Hofmann ./. Barmer Ersatzkasse; C-32/93, Slg. 1994, I-3567, Rn. 20 – Webb ./. EMO Air Cargo; C-394/96, Slg. 1998, I-4185, Rn. 17 – Brown ./. Rentokil; C-203/03, Slg. 2005, I-935, Rn. 43 – Kommission ./. Österreich; C-104/09, Slg. 2010, I-8661 Rn. 27 – Roca Álvarez. 455  So wohl i. E. auch Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 10; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 10, Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 17; a. A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 6; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4015. 456  Vgl Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 6; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Rn. 16. 457  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art.  33 EU-GRCharta Rn. 8; Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 10; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 17.

196 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

zwar ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtcharta an die Mutterschutzrichtlinie an,458 das Präsidium hat in den Erläuterungen jedoch eine eigene Definition der Mutterschaft versucht, die sich nicht auf die Art. 8 und 10 der Mutterschutzrichtlinie bezieht. Zwar stützt sich die Norm auch auf Art. 8 ESC, der eine Arbeitsbefreiung von mindestens zwölf Wochen vorschreibt, anders als Art. 8 der revidierten Europäischen Sozialcharta, der weitergehend eine Arbeitsbefreiung von mindestens 14 Wochen vorsieht, auf den sich die Erläuterungen aber nicht beziehen. Zudem ist die revidierte Europäische Sozialcharta nicht von allen Mitgliedstaaten ratifiziert worden. Das könnte gegen eine Dauer des Mutterschaftsurlaubes von 14 Wochen sprechen. Es ist jedoch nicht anzunehmen, dass der Konvent mit der Regelung des Art. 33 Abs. Var. 2 GRC hinter den sekundärrechtlichen aquis zurückfallen wollte. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Mutterschaftsurlaub entsprechend der Regelung des Art. 8 Abs. 1 der Mutterschutzrichtlinie mindestens 14 Wochen betragen muss. Damit sind Mutterschaftsurlaub und Mutterschaft im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GRC zeitlich deckungsgleich. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC garantiert ausdrücklich einen bezahlten Mutterschaftsurlaub. Wer für die Bezahlung des Mutterschaftsurlaubes aufkommen muss, ist nicht normiert. Gemäß Art. 8 ESC ist der Mutterschaftsurlaub eine Arbeitsbefreiung, die entweder in Form eines bezahlten Urlaubs oder durch angemessene Leistungen der sozialen Sicherheit oder aus sonstigen öffentlichen Mitteln gewährt werden muss. Art. 11 Nr. 2 b) der Mutterschutzrichtlinie normiert ebenfalls, dass während des Mutterschaftsurlaubes entweder eine Fortzahlung des Arbeitsentgelts oder eine angemessene Sozialleistung gewährt werden müsse. In beiden Fällen wird der Schutzzweck gleichermaßen erreicht. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC zwingt deshalb nicht dazu, dass der Mutterschaftsurlaub durch Lohnfortzahlung gewährt werden muss, sondern erlaubt auch einen Ausgleich des Wegfalls des Arbeitsentgelts durch Leistungen der sozialen Sicherheit.459 Fraglich ist schließlich, ob von der Regelung nur Arbeitnehmer oder auch Selbständige erfasst sein sollen. Art. 8 ESC, Art. 27 der revidierten Europäischen Sozialcharta und Art. 8 der Mutterschutzrichtlinie, an die sich Art. 33 Abs. 2 GRC ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta anlehnt, gewähren das Recht auf Mutterschaftsurlaub nur Arbeitnehmern. Der Wortlaut des Art. 33 Abs. 2 GRC enthält indes keine Beschränkung auf Arbeitnehmer, sondern die offene Wendung „jeder Mensch“. 458  ABl.

C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (27). in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 10; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 8; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 17. 459  Knecht,



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC197

Im Konvent zur Ausarbeitung der Grundrechtecharta herrschte Streit über den Kreis der Berechtigten. Das Ergebnis war die Aufgabe der ursprünglich vorgeschlagenen, restriktiven Formulierung „jeder Arbeitnehmer“ zugunsten der heutigen Formulierung jeder Mensch. Für ein weites Verständnis des persönlichen Schutzbereichs spricht weiterhin die Formulierung des Normzwecks in der Vorschrift selbst, die das „Berufsleben“ nennen und nicht nur das Arbeitsleben als dessen Teilmenge. Für eine weite Lesart spricht schließlich, dass der Mutterschaftsurlaub auch durch Leistungen der sozialen Sicherheit bezahlt werden kann. Aus Sicht der mitgliedstaatlichen Haushalte spielt es eine nur untergeordnete Rolle, ob ein Arbeitsentgelt oder gegebenenfalls ein entgangener Gewinn ersetzt wird. Demgemäß sind nicht nur Arbeitnehmer, sondern auch Selbständige in den Schutzbereich des Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC einzubeziehen.460 b) Elternurlaub (Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC) Schließlich garantiert Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC einen Elternurlaub nach der Geburt oder Adoption eines Kindes. Wie sich bereits aus der Formulierung Elternurlaub und der Berechtigung von Männern und Frauen („Jeder Mensch“) in Art. 33 Abs. 2 GRC ergibt, steht der Elternurlaub Müttern und Vätern zu. Die Vorschrift lehnt sich gemäß den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta an die Richtlinie 96 / 34 / EG461 zur Rahmenvereinbarung über den Elternurlaub an, die mittlerweile durch die Richtlinie 2010 / 18 / EU ersetzt worden ist. Die Dauer des zu gewährenden Elternurlaubs ist in der neuen Richtlinie unverändert geblieben.462 Entsprechend dem § 2 Abs. 1 des Anhangs zur Richtlinie 2010 / 18 / EU muss Elternurlaub wenigstens für die Dauer von drei Monaten gewährt werden. Der Anspruch auf Elternurlaub dient der Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Eltern sollen sich die Zeit für die besonders zeitintensive Betreuung nach der Geburt oder Adoption eines Kindes nehmen können, ohne ihren Arbeitsplatz aufgeben zu müssen.463 Fraglich ist, ob der Elternurlaub, wie der Mutterschaftsurlaub, zu bezahlen ist. Dagegen spricht, dass Art. 33 Abs. 2 GRC ausdrücklich festlegt, dass der Mutterschaftsurlaub zu bezahlen ist, während 460  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4018; Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 5; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 16; Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 33 Rn. 10; grds. wohl auch Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 17. 461  ABl. L Nr. 145 v. 19.6.1996, S. 4. 462  ABl. L Nr. 68 v. 18.3.2010, S. 13. 463  Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 33 Rn. 13.

198 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

dies für den Elternurlaub nicht normiert wird.464 Auch die Richtlinie 96 / 34 / EG bzw. nunmehr die Richtlinie 2010 / 18 / EU regeln keine Pflicht zur Bezahlung des Elternurlaubs. Im Konvent wurde erwogen, ein Recht auf Bezahlung des Elternurlaubs einzuführen, das Recht auf Bezahlung schließlich aber auf den Mutterschaftsurlaub beschränkt.465 Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC überlässt es demnach der Union und den Mitgliedstaaten, ob sie bezahlten oder unbezahlten Elternurlaub gewähren. Selbstständige sind zwar begrifflich vom Schutzbereich der Norm erfasst, die Anwendung des Rechts auf Selbstständige wäre jedoch sinnlos: Die Union bzw. die Mitgliedstaaten können Selbständige nicht dazu verpflichten, sich selbst Elternurlaub zu gewähren.466 c) Gewährleistungsdimensionen, Schranken und Schranken-Schranken der Rechte auf Mutterschafts- und Elternurlaub Hinsichtlich der Bezahlung des Mutterschaftsurlaubs handelt es sich bei Art. 33 Abs. 2 GRC jedenfalls um ein materielles Leistungsrecht: Die Union bzw. die Mitgliedstaaten müssen entweder Arbeitgeber dazu verpflichten, ihren Arbeitnehmerinnen das Entgelt weiterzuzahlen oder aber ein System der sozialen Sicherheit vorsehen, das Gehaltsausfälle bzw. entgangenen Gewinn ausgleicht. Sofern ihre eigenen Arbeitnehmer in Frage stehen, gilt nichts anderes. Entweder müssen die Union oder die Mitgliedstaaten ihren Mitarbeitern das Gehalt weiterzahlen, oder ein System sozialer Sicherheit errichten bzw. ihre Mitarbeiter in ein allgemeines System sozialer Sicherheit einbeziehen, das den Verdienstausfall ausgleicht. Die Arbeitsfreistellung während der Mutterschaft und der Elternurlaub sind ebenfalls materielle Leistungsrechte. Der Union bzw. den Mitgliedstaaten kommt dabei ein Gestaltungsspielraum zu, welche Modalitäten sie für die Aufteilung von Elternurlaub auf die Elternteile vorsehen und wie sie den Elternurlaub genau regeln, wie sich bereits aus den verschiedenen in Bezug genommen Regelungsvarianten in der Richtlinie 2010 / 18 / EU ergibt. Es ließe sich argumentieren, dass es sich jedenfalls bei dem Elternurlaub der Mitarbeiter der Union und der Mitgliedstaaten um ein 464  Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 10; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 18; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 9; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4013. 465  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 327; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4013. 466  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 33 Rn. 15, a.  A. wohl Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 5; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4018; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 16.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC199

Abwehrrecht handelt, in dem die Arbeitnehmer sich gegen die Indienstnahme durch ihre Arbeitgeber zur Wehr setzen bzw. gegen mögliche Nachteile wie eine Kündigung vorgehen könnten. Eine solche Sichtweise erschiene allerdings konstruiert, schließlich müssen Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer zum Zwecke des Elternurlaubes von ihren Pflichten freistellen. Das Nicht-in-Anspruch-nehmen von Rechten ist kein Unterlassen, vielmehr ist der Verzicht auf die Wahrnehmung von Ansprüchen materiell eine Leistung. Es handelt sich demnach bei den Rechten auf Mutterschafts- bzw. Elternurlaub insgesamt ausschließlich um materielle Leistungsrechte. Ob Beschränkungen der Rechte auf Mutterschafts- bzw. Elternurlaub gerechtfertigt werden können, hängt davon ab, ob die Normen als Rechte im Sinne des Art. 52 Abs. 1 GRC oder als Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC zu qualifizieren sind.

II. Die Gewährleistung des Art. 33 Abs. 1 GRC Während Art. 33 Abs. 2 GRC mit der Elternschaft einen spezifischen Aspekt der Familie im Hinblick auf die Erwerbstätigkeit der Eltern betrifft, enthält Art. 33 Abs. 1 GRC eine allgemeine Schutzbestimmung zugunsten der Familie, indem er ihren rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz gewährleistet. Wie sich bereits gezeigt hat, verwendet die Grundrechtecharta den Begriff der Familie nicht einheitlich. Art. 9 GRC liegt ein eher enger Familienbegriff zugrunde, der auf Partnerschaften und die Gemeinschaft aus Eltern und ihren Kindern beschränkt ist, während der Familienbegriff des Art. 7 GRC aufgrund der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK weit zu verstehen ist. Zunächst ist deshalb zu klären, welcher Familienbegriff Art. 33 Abs. 1 GRC zugrunde liegt (dazu 1.), sodann sind die Gewährleistungsdimensionen des Art. 33 Abs. 1 GRC zu untersuchen (dazu 2.). 1. Schutzbereich: Der Familienbegriff des Art. 33 Abs. 1 GRC Art. 33 Abs. 1 GRC verpflichtet die Union und die Mitgliedstaaten zum Schutz der Familie, ohne zu konkretisieren, was unter einer Familie im Sinne der Vorschrift zu verstehen ist. Während die Bestimmung des Familienbegriffs in Art. 33 Abs. 1 GRC einer Klärung durch den EuGH harrt, ist er in der Literatur umstritten: Einige Stimmen wollen nur die „traditionelle“, an der ehelichen Lebensgemeinschaft orientierte Gemeinschaft von Eltern und Kindern unter den Begriff der Familie subsumieren,467 oder aber den Famili467  Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 33 Rn. 5; Marauhn, in; Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 40 Rn. 13; Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar,

200 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

enbegriff jedenfalls auf die Gemeinschaft von Eltern mit ihren Kindern beschränken.468 Andere gehen, insbesondere in Anlehnung an den Familienbegriff des Art. 8 EMRK, von einem weiten Familienbegriff aus.469 Die Konturen des persönlichen Schutzbereichs offenbaren sich nicht auf den ersten Blick. Der genaue Anwendungsbereich ist durch Auslegung zu ermitteln. Zunächst wird die Entstehungsgeschichte der Norm im Grundrechtekonvent betrachtet (s. lit. a]). Anschließend wird der Familienbegriff anhand verschiedener Personengruppen, ausgehend von der Kleinfamilie aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern bis hin zu verwandtschaftlichen Verhältnissen innerhalb der Großfamilie entwickelt (s. lit. b]) bis f]) und die Betrachtung des persönlichen Schutzbereiches mit einer Zusammenfassung zum Familienbegriff des Art. 33 Abs. 1 GRC geschlossen (s. lit. g]). a) Die Entstehungsgeschichte des Art. 33 Abs. 1 GRC Während des Entstehungsprozesses der Norm wurde die Bedeutung einer Vorschrift zur Familie in ihrer Funktion als Keimzelle der Gesellschaft mehrfach hervorgehoben.470 Angesichts neuer Formen familiären Zusammenlebens wurde teilweise vor einer möglicherweise zu restriktiven Definition der Familie gewarnt.471 Es entsprach zwar der Mehrheitsmeinung im Konvent, dass es einer Regelung zum Schutz der Familie in der Grundrechtecharta bedürfe,472 es lässt sich jedoch hinsichtlich des Familienbegriffs keine einheitliche Linie ausmachen.473 Breits der Entwurf der Grundrechtecharta vom 8.3.2000 enthielt in Art. 13 Abs. 3 eine familienschützende Norm, die lautete: „Protection of the family on a legal, economic and social level shall be Art. 33 GRC Rn. 3; Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Art. 33 Rn. 13. 468  Uerpmann-Wittzack, in: Grabenwarter (Hrsg.) Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 10 Rn. 30. 469  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 6; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 GR-Charta Rn. 3 und Art. 9 GR-Charta Rn. 6; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 13; Costello, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 33 Rn. 33.89. 470  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 184. 471  So die Konventsmitglieder Friedrich, Goldsmith, Haenel, und Vitorino, vgl. Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 186 f. 472  Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 7. 473  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 184 ff.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC201

ensured“.474 In der Erläuterung dazu heißt es, dass die Vorschrift auf die Union anzuwenden sei, wenn diese Maßnahmen ergreife, um dem Schutzbedürfnis der Familie Rechnung zu tragen. Diese Formulierung des späteren Art. 33 Abs. 1 GRC wurde kaum mehr verändert, sondern lediglich in den Abschnitt Solidarität verwiesen. Die Entstehungsgeschichte des Art. 33 Abs. 1 GRC liefert mithin keine eindeutigen Hinweise auf die Bedeutung des Familienbegriffes. Die allgemein gehaltene Formulierung des Art. 33 Abs. 1 GRC ist wohl maßgeblich auf die Differenzen zwischen den Mitgliedern des Konvents zurückzuführen. Gemäß der Erläuterung des Präsidiums zu dem Entwurf der Charta vom 31.7.2000475, deren Art. 31 Abs. 1 den heutigen Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 GRC enthält, stützt sich die Vorschrift auf Art. 16 ESC. Der Wortlaut der Erläuterung ist so in die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta übernommen worden.476 Der Familienbegriff des Art. 16 ESC ist deshalb bei der Auslegung des Art. 33 Abs. 1 GRC von hoher Bedeutung. b) Gemeinschaft aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern Den eindeutigsten Fall einer Familie stellt die Lebensgemeinschaft aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern dar. Teilweise wird vertreten, Art. 33 Abs. 1 GRC liege das traditionelle Familienbild zugrunde, sodass nur eheliche Familien vom Schutzbereich erfasst seien. Zur Begründung wird auf Art. 16 GRC verwiesen, auf den sich Art. 33 Abs. 1 GRC ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta stützt. Art. 16 ESC enthalte zwar keine Definition der Familie, der Wortlaut mache aber deutlich, dass der Norm ein engeres, an der Familie bestehend aus Ehepartnern und ihren Kindern orientiertes Familienbild zugrunde liege.477 Im Gegensatz dazu enthalte die revidierte Sozialcharta (rev. ESC) in dem Annex zur ihrem Art. 16 einen weitergehenden Familienbegriff („Es besteht Einverständnis darüber, daß der durch diese Bestimmung gewährte Schutz auch Einelternfamilien erfaßt.“), auf den die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta jedoch gerade nicht verweisen.478

474  CHARTE

4149/00 CONVENT 13. 4423/00 CONVENT 46. 476  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (27). 477  Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 33 Rn. 5. 478  Tettinger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 33 Rn. 2; Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 3. 475  CHARTE

202 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Gegen die Überzeugungskraft des Argumentes spricht, dass auch die Europäische Sozialcharta, zwar nicht bezogen auf Art. 16 ESC sondern auf das Recht der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien auf Schutz und Beistand aus Art. 19 ESC, im Annex zu Art. 17 Abs. 6 ESC eine Definition der Familie enthält, die demnach „zumindest seine [des Wanderarbeitnehmers, V. R.] Ehefrau und seine Kinder unter 21 Jahren, für die er unterhaltspflichtig ist, umfaßt.“479 Die Formulierung „zumindest“ deutet darauf hin, dass Art. 16 ESC einer weitergehenden Interpretation jedenfalls zugänglich ist. Deutet man die Definition zu Art. 19 Abs. 6 ESC lediglich als Mindestschutzanforderung, sodass das „zumindest“ anzeigt, dass die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht einen höheren Schutzstandard vorsehen können, spricht dies dennoch nicht für die Übertragung der restriktiven Definition des Familienbegriffs in Art. 19 Abs. 6 ESC auf den Familienbegriff des Art. 16 ESC. Zunächst definiert der Annex den Familienbegriff ausdrücklich nur für Art. 19 Abs. 6 ESC.480 Zwar deutet eine einheitliche Begriffsverwendung auf die einheitliche Regelung eines Lebensbereiches hin, es können aber Gründe vorliegen, die gegen eine Übertragung der Definition auf Art. 16 ESC sprechen.481 So betrifft Art. 19 Abs. 6 ESC nur bestimmte Familien in einer bestimmten Lebenssituation, nämlich die Familien von Wanderarbeitnehmern hinsichtlich des Familiennachzugs. Viele Mitgliedstaaten vertraten die Ansicht, man könne Wanderarbeitnehmer grundsätzlich auf ein Zusammenleben mit ihren Familien im Heimatstaat verweisen.482 Art. 19 Abs. 6 ESC begründet hier deshalb einen Mindeststandard hinsichtlich des Familienzuzuges von Wanderarbeitnehmern, der auf den relativ eng definierten Familienkreis beschränkt ist. Art. 16 ESC hingegen regelt den weit häufigeren Fall des Zusammenlebens von Familienmitgliedern in einem Staat ohne den spezifischen grenzüberschreitenden Bezug, der die Situation der Wanderarbeitnehmer kennzeichnet. Die Verwendung des Begriffs Familienleben eröffnet diesbezüglich die gleichen Auslegungsmöglichkeiten wie bei Art. 8 EMRK.483 Für einen weiteren Familienbegriff im Rahmen der Europäischen Sozialcharta sprechen auch die Äußerungen des Committees of Social Rights und die Materialien des Europarates. Das Committee betrachtet Familien nach dem nationalen Recht als Familien im Sinne des Art. 16 ESC; die Vertragstaaten wurden aufgefordert darzulegen, wie die Familie im nationalen Recht ver479  Walter, Familienzusammenführung in Europa. S. 98; gegen eine Übertragung der Definition zu Art. 19 Abs. 6 ESC auf Art. 16 ESC hingegen Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 217, i. E. ebenso wohl Fernandes Fortunato, EuR 2008, S. 27 (30). 480  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 217. 481  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 217. 482  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 217. 483  Palm-Risse, Der völkerrechtliche Schutz von Ehe und Familie, S. 218.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC203

standen werde, um sicherzustellen, dass der Begriff nicht unangemessen eng ausgelegt werde.484 Das Committee hat darüber hinaus festgestellt, dass die Familie im 20. Jahrhundert einem radikalen Wandel unterworfen war und dieser Wandel bei der Auslegung des Art. 16 ESC zu berücksichtigen sei.485 Ganz deutlich ist das Committee der Auffassung, dass es für Art. 16 ESC keinen Unterschied mache, ob Eltern miteinander verheiratet sind oder nicht.486 Der Verweis auf Art. 16 ESC in den Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 33 GRC spricht demgemäß nicht für, sondern gegen die Beschränkung des Familienbegriffes auf eheliche Familien. Dafür, dass die Grundrechtecharta bei dem Familienschutz nach Art. 33 Abs. 1 GRC nicht zwischen ehelichen und unehelichen Familien differenziert, spricht weiterhin, dass Art. 9 GRC ausdrücklich die Freiheit einräumt, eine Familie zu gründen auch ohne verheiratet zu sein. Zudem verbietet Art. 21 Abs. 1 GRC die Diskriminierung von Personen wegen ihrer Geburt. Demnach ist der Schutzbereich des Art. 33 Abs. 1 GRC auch für nichteheliche Familien eröffnet. Ebenfalls ohne Belang ist, ob es sich um eine „vollständige“ Familie bestehend aus zwei Elternteilen und einem oder mehreren Kindern handelt, oder um eine Alleinerziehendenfamilie.487 Art. 16 ESC trifft dazu zwar keine unmittelbare Aussage, anders als der Anhang zur revidierten Europäischen Sozialcharta, nach dem Einverständnis darüber bestehe, dass Art. 16 rev. ESC auch Einelternfamilien umfasse. Zwar sind nicht alle Mitgliedstaaten der Union auch Vertragsstaaten der revidierten Europäischen Sozialcharta, die Norm des Art. 16 rev. ESC ist aber im Vergleich zu Art. 16 ESC unverändert geblieben. Der Anhang stellt die Einbeziehung von Einelternfamilien klar, lässt aber keinen Schluss darauf zu, dass Art. 16 ESC nicht ebenfalls schon Einelternfamilien umfassen sollte. Der Anhang ist demnach rein deklaratorisch. Darauf deuten weiterhin die Conclusions des Committees of Social Rights hin, nach denen das Recht der Mütter und Kinder auf Schutz aus Art. 17 ESC, der einen Teilbereich des Familienschutzes abdeckt, Maßnahmen zugunsten von alleinstehenden Müttern voraussetze.488 Dafür spricht letztlich auch der Zweck des Art. 33 Abs. 1 GRC, besonders schutzbedürftigen sozialen Einheiten einen besonderen Schutz zukommen zu lassen. Des Schutzes, der Familien zukommt, weil sie mit den finanziellen und sonstigen 484  Council

of Europe (Hrsg.), Conclusions XIV-4, S. 149. of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 26. 486  Council of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 28. 487  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 6; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 14. 488  Council of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 27, vgl. auch den Abschnitt speziell zu single parents auf S. 32 f. 485  Council

204 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Lasten der Kindererziehung beschwert sind, sind Alleinerziehendenfamilien in besonders verstärktem Maße bedürftig. Schutzwürdigkeitserwägungen sprechen ebenfalls dafür, keinen biologischen Elternbegriff anzulegen, sondern Familien immer dort anzunehmen, wo Verantwortung für die Erziehung und Pflege minderjähriger Kinder übernommen wird, seien es leibliche Kinder, Adoptivkinder oder Pflegekinder.489 c) Eheleute ohne Kinder Fraglich erscheint, ob auch Eheleute ohne Kinder unter den Begriff der Familie in Art. 33 Abs. 1 GRC fallen. Dafür könnte sprechen, dass Art. 16 ESC als Schutzmaßnahmen zugunsten der Familie auch „Hilfen für junge Eheleute“ vorsieht. Der EGMR subsumiert die Ehe ebenfalls unter das Familienleben in Art. 8 EMRK. Zwischen Eheleuten besteht zudem ein Familienleben i. S. d. Art.  7 GRC. Art. 16 ESC ist seiner Konzeption nach ursprünglich dem traditionellen Familienbegriff verhaftet, der nicht nur davon ausgeht, dass Kinder in der Regel in der Ehe geboren werden, sondern auch davon, dass junge Leute in der Regel heiraten und Kinder bekommen. Das wird durch die Erläuterung zu Art. 19 Abs. 6 ESC bestätigt, die unter der Familie eines Wanderarbeitnehmers „zumindest seine Ehefrau“ versteht. Erst in den Erläuterungen zu Art. 19 Abs. 6 rev. ESC wurde die Formulierung geschlechtsneutral zu „der Ehegatte des Arbeitnehmers“ geändert. Die ESC ging damit ursprünglich noch von der klassischen Hausfrauenehe und einem dementsprechenden Familienbild aus. Die Grundrechtecharta nötigt zu einer anderen Einschätzung, nachdem die Eheschließung und die Familiengründung in Art. 9 GRC rechtlich voneinander entkoppelt wurden und die Eheschließung hiernach nicht mehr als Vorstufe der Familiengründung angesehen werden kann. Die Auslegung des Art. 8 EMRK durch den EGMR kann ebenfalls nicht unbesehen auf die Auslegung des Art. 33 Abs. 1 GRC übertragen werden. Der EGMR fasst unter das Familienleben zwar auch Eheleute ohne Kinder sowie nichteheliche gleich- und verschiedengeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC dienen jedoch einem anderen Zweck als Art. 33 Abs. 1 GRC: Sie definieren einen Lebensbereich, der dem staatlichen Einfluss grundsätzlich entzogen sein soll. Die Familie ist das engste Lebensumfeld, dessen Bedingungen die Familienmitglieder autonom gestalten können sollen. Familie wird in Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC vor allem als besonders wichtiger Bereich des Privatlebens geschützt. Dazu gehören zwar selbstver489  Ebenso

Rn. 3.

wohl Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 GR-Charta



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC205

ständlich Eltern und ihre Kinder, aber eben auch Lebensgemeinschaften ohne Kinder. Während der Achtungsanspruch des Art. 7 GRC aus der Garantie der Gewährung eines autonom zu gestaltenden Privatbereichs, dessen besondere Ausformung die Familie ist,490 fließt, schützt Art. 33 Abs. 1 GRC Familien wegen ihrer besonderen Verletzlichkeit, sei es weil Kinder besondere Kosten verursachen, weil Familien mit Kindern mehr Wohnraum benötigen, oder weil Kinder Zuwendung brauchen und die Zeit, die die Eltern dafür aufbringen und die ihnen an anderer Stelle z. B. im Beruf fehlt, zu finanziellen und rechtlichen Nachteilen im Erwerbsleben führen können. Während demnach der Schutz des Familienlebens aus Art. 7 GRC den Bereich familiärer Lebensgestaltung vor allem als Abwehrrecht vor staatlicher Ingerenz abschirmt und als Leistungsrecht im weiteren Sinne den Staat dazu verpflichtet, dem Einzelnen die Regelung seiner familiären Angelegenheiten zu ermöglichen, bzw. Mechanismen bereitzustellen, um Konflikte zwischen Familienmitgliedern, insbesondere Ehepartnern und Eltern, zu lösen, betrifft Art. 33 Abs. 1 GRC die „Familie“ als Gegenstand gesellschaftlichen Interesses und als auch wirtschaftlich schutzbedürftige gesellschaftliche Gruppe. Dabei bestehen zwar Überschneidungen, Art. 33 Abs. 1 GRC geht in seiner Leistungsdimension dennoch weit über die Gewährleistung des Art. 7 GRC hinaus. Gegen die Einbeziehung der Ehe in den Begriff der Familie im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GRC spricht weiterhin das systematische Verhältnis von Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 GRC. So schützt Art. 33 Abs. 2 GRC die Familie im Hinblick auf Schwangerschaft und Elternschaft. Das deutet darauf hin, dass Art. 33 GRC insgesamt die Familie nur im Hinblick auf das Vorhandensein von Kindern schützt. Im Übrigen ist die Ehe den besonderen Gefahren, die der Familie bestehend aus Eltern und Kindern drohen, nicht ausgesetzt. Eheleute streben zwar eine Lebensgemeinschaft an und übernehmen Verantwortung füreinander, in der Regel sind sie aber jeweils für sich, anders als Kinder, nicht auf Schutz und Hilfe angewiesen. Im Gegenteil erscheint die eheliche Lebensgemeinschaft im Vergleich zu Alleinstehendenhaushalten als stärker und deshalb weniger schutzbedürftig. Etwas anderes gilt nur dann, wenn einer der Ehepartner auf Hilfe, z. B. bei Arbeitslosigkeit, Krankheit oder sonstiger Pflegebedürftigkeit angewiesen ist. Dabei handelt es sich jedoch um eine Ausnahmesituation und nicht um den Regelfall. Weiterhin ist zu beachten, dass Art. 16 ESC als Inspirationsquelle des Art. 33 Abs. 1 GRC zwar auch die Ehe als Familie schützt, dies aber insbe490  Dazu Maus, Der grundrechtliche Schutz des Privaten im europäischen Recht, S.  55 f., 106 f.

206 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

sondere wegen seiner traditionsverhafteten Verknüpfung der Ehe mit der Familie bestehend aus Eltern und Kindern. So spricht Art. 16 ESC von dem Schutz junger Eheleute und das Committee of Social Rights bezeichnet Familien als „households with children, including single parents and young couples that will potentially have children“.491 Eine ähnliche Sichtweise liegt auch der EMRK noch zugrunde, die in ihrem Art. 12 die Gründung einer Familie nur Eheleuten garantiert. Die Grundrechtecharta hat diese Verbindung begrifflich gelöst, indem sie das Recht der Familiengründung in Art. 9 GRC auch unverheirateten Personen garantiert. Zudem treffen weder die EMRK noch die Grundrechtecharta Aussagen darüber, wie die Rechtsverhältnisse in der Ehe konkret ausgestaltet sein müssen. Rechtlich formalisierte Lebensgemeinschaften, die leicht auflösbar sind und mit nur wenigen Einstandspflichten der Ehegatten füreinander einhergehen, fallen ebenfalls unter den hier vertretenen Begriff der Ehe in Art. 9 GRC. Die rechtliche Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten für das Eheverhältnis wird von den Familienschutzvorschriften der EMRK und der Grundrechtcharta nicht beeinträchtigt. Angesichts der weitreichenden Handlungspflichten der Union und der Mitgliedstaaten aus Art. 33 Abs. 1 GRC,492 der schwachen Konturierung des Ehebegriffs, der geringen Schutzbedürftigkeit der Ehe, der begrifflichen Trennung von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta und der Ausrichtung insbesondere des Art. 33 Abs. 2 GRC auf Lebensgemeinschaften, in denen Kinder gepflegt und erzogen werden, ist die Ehe nicht als Familie im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GRC anzusehen.493

491  Council

of Europe, ECSR, Conclusions 2004, Volume 1, S. 78. unten, S. 209 ff. 493  Ebenso Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4045, vgl. auch Rn. 1229; unklar Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 2 f., nach dem die Familie einerseits „Lebensgemeinschaften mit Kindern sowie unter bestimmten Voraussetzungen auch andere verwandtschaftliche Beziehungen umfasst“, andererseits eine Tendenz des Konvents erkennbar sei, „den Familienschutz auch im Verhältnis zur Ehe zu profilieren“; a. A. Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Art. 33 Rn. 13; offen gelassen bei Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 6; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 14; Tettinger, in: Tettinger/Stern Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art.  33 Rn. 5; Marauhn, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 40 Rn. 13; auch nahe Verwandte mit einbeziehend Wutz/Ziniel, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 33 Rn. 19. 492  Dazu



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC207

d) Menschen ohne Kinder, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben Weitergehend könnten Menschen, die in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben, als Familie im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GRC anzusehen sein. Dafür spricht, dass auch nichteheliche Lebensgemeinschaften am Schutz des Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK und wegen Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRC auch im Sinne des Art. 7 GRC teilhaben. Gegen die Schlagkraft dieses Arguments spricht wie bereits bei der Frage nach der Einbeziehung der Ehe in den Familienbegriff die nicht identische Schutzrichtung der Art. 7 und 33 GRC. Auch im Rahmen des Art. 16 ESC werden nichteheliche Lebensgemeinschaften ohne Kinder nicht als Familien geschützt. Sind bereits kinderlose Ehen nicht durch Art. 33 Abs. 1 GRC geschützt, gilt a maiore ad minus das Gleiche für nichteheliche Lebensgemeinschaften. e) Eltern und ihre erwachsenen Kinder Während die Einbeziehung von Eltern mit minderjährigen Kindern in den Schutzbereich des Art. 33 Abs. 1 GRC nunmehr feststeht, ist zu bestimmen, ob auch Eltern mit ihren erwachsenen Kindern Familien i. S. d. Art. 33 Abs. 1 GRC sind. Im Rahmen der Art. 8 EMRK und Art. 7 GRC kommt die Annahme von Familienleben zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern ausnahmsweise in Frage. Für Art. 33 Abs. 1 GRC gilt, dass die Gemeinschaft aus Eltern und ihren Kindern grundsätzlich dann nicht mehr schützenswert ist, wenn die Kinder erwachsen sind und ggf. selbst eigene Familien gründen. Es kann dann zwar der Fall eintreten, dass Eltern im Alter wegen Gebrechlichkeit, Pflegebedürftigkeit oder Armut wieder auf ihre Kinder angewiesen sind. Der Schutzbedürftigkeit älterer und / oder behinderter Menschen wird jedoch bereits durch die Art. 25 und 26 GRC Rechnung getragen, die insoweit spezieller sind. Anders als es ausnahmsweise bei Art. 7 GRC der Fall sein kann, sind Eltern und ihre erwachsenen Kinder deshalb nicht vom Schutzbereich des Art. 33 Abs. 1 GRC erfasst. Als Indiz für das zeitliche Ende der Schutzbedürftigkeit von Familien kann das Volljährigkeitsalter herangezogen werden, letztlich handelt es sich dabei jedoch um eine tatsächliche Frage. Wenn Kinder noch in der Ausbildung und wirtschaftlich von ihren Eltern abhängig sind, kann trotz Volljährigkeit eine Familie i. S. d. Art. 33 Abs. 1 GRC vorliegen.

208 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

f) Sonstige Verwandtschafts- oder Nähebeziehungen Wenn bereits [un]eheliche Lebensgemeinschaften und Eltern mit ihren erwachsenen Kindern nicht mehr vom Familienbegriff erfasst werden, gilt dies erst recht für sonstige verwandtschaftliche Beziehungen. Den Beziehungen zwischen Geschwistern, Vettern und Basen, Onkels und Tanten, Neffen und Nichten, Großeltern und Enkelkindern (es sei denn die Enkelkinder sind minderjährig und werden von den Großeltern erzogen) sind keine besonderen Lasten eigen. Sie sind zwar möglicherweise im Rahmen des Art. 7 GRC, nicht jedoch im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GRC schutzbedürftig.494 g) Zusammenfassung zum Familienbegriff des Art. 33 Abs. 1 GRC Art. 33 Abs. 1 GRC liegt ein im Vergleich zu Art. 7 und 9 GRC enger Familienbegriff zu Grunde. Die Norm schützt nur das Verhältnis zwischen Eltern und den von ihnen abhängigen Kindern. Das mag mit Blick auf Art. 7 und 9 GRC und das Interesse an einem einheitlichen Familienbegriff in der Grundrechtecharta überraschen und enttäuschen, ist jedoch den verschiedenen Schutzrichtungen der Normen zum Grundrechtsschutz geschuldet. Bereits der Familienbegriff in Art. 7 und Art. 9 GRC ist wegen des jeweils unterschiedlichen Gewährleistungsgegenstandes der Rechte nicht deckungsgleich. Art. 7 und 9 GRC dienen zudem dem Schutz der persönlichen Lebenssphäre nach dem Vorbild des Familienschutzes in der EMRK. Art. 33 GRC schützt demgegenüber die Familie als soziale und wirtschaftliche Einheit in der Gesellschaft. Seine Vorbilder finden sich dementsprechend in der Europäischen Sozialcharta und dem Sekundärrecht. Art. 33 GRC ist kein Grundrecht liberaler Tradition, sondern eine Norm mit sozialer Dimension. 2. Rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Schutz der Familie gem. Art. 33 Abs. 1 GRC Nachdem der Familienbegriff und damit der sachliche Anwendungsbereich des Art. 33 Abs. 1 GRC definiert wurde, ist zu klären, welche Gewährleistungsdimension dem Schutzversprechen des Art. 33 Abs. 1 GRC innewohnt (s. Ziff. a) und welchen Inhalt der Schutz der Familie hat (s. Ziff. b).

494  A. A. Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 13 ff.; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 6; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 3.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC209

a) Die Gewährleistungsdimensionen des Art. 33 Abs. 1 GRC: Der „Schutz“ und die „Förderung“ der Familie Durch Art. 33 Abs. 1 GRC wird der Schutz der Familie in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht gewährleistet. Die Verwendung des Wortes Schutz (englisch und französisch jeweils „protection“) deutet darauf hin, dass Art. 33 Abs. 1 GRC jedenfalls eine Schutzpflichtendimension zu entnehmen ist. Die Union und die Mitgliedstaaten sind demnach verpflichtet, innerhalb ihrer Kompetenzen tätig zu werden, um Familien vor den rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Gefahren zu schützen, die ihnen von Seiten Dritter drohen. Art. 33 Abs. 1 GRC wird darüber hinaus teilweise aber auch eine Förderpflicht495 und eine Abwehrdimension496 zugeschrieben. Daher soll zunächst untersucht werden, ob sich hinter der Formulierung „Schutz“ in Art. 33 Abs. 1 GRC neben einer Schutzpflicht vor Beeinträchtigungen der Familie durch Dritte auch eine Förderpflicht zugunsten der Familie verbirgt (s. Ziff. [1]). Sodann wird der Frage nachgegangen, ob sich aus dem Schutzversprechen des Art. 33 Abs. 1 GRC darüber hinaus eine abwehrrechtliche Dimension ableiten lässt (s. Ziff. [2]). aa) Fördergebot zugunsten der Familie Zunächst könnte die ausdrückliche Verwendung des Wortes „Schutz“ dagegen sprechen, auch weitergehende Fördermaßnahmen als von Art. 33 Abs. 1 GRC geboten anzusehen. Gemein ist Schutz- und Förderpflichten jedoch, dass sie den Leistungsrechten im weiteren Sinne zuzurechnen sind und eine Abgrenzung mitunter Schwierigkeiten bereitet. So kann die Verpflichtung, ein Existenzminimum zur Verfügung zu stellen, sowohl die obligation to fulfil einlösen, als auch den Schutz vor den Gefahren materieller Armut und damit die Erfüllung einer obligation to protect bezwecken. Der Wortlaut des Art. 33 Abs. 1 GRC ist nicht auf den Schutz vor Gefahren, die durch private Dritte drohen, beschränkt. Möglicherweise ginge eine Förderpflicht noch über die Abschirmung von Gefahren durch die Gewährung materieller Leitungen hinaus. Der Familienförderung käme, sofern sie materielle Lasten der Familie und so besehen die daraus resultierenden Gefahren für die wirtschaftlichen Grundlagen der Familie übersteigt, mehr als eine Kompensa­ tionsfunktion zu. Sie hätte, weil die Mittel der Förderung offensichtlich erst 495  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GR-Charta Rn. 3; zurückhaltend Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 8. 496  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GR-Charta Rn. 3  f.; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 18.

210 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

beschafft werden müssten, eine Umverteilungsfunktion, die zunächst rechtfertigungsbedürftig ist, da sie in die Grundrechte anderer eingreift.497 Andererseits mag die Abgrenzung der Schutzdimension von der Förderdimension dadurch, dass durch die Förderdimension der Rechtskreis erweitert wird, bei der Schutzdimension lediglich das Integritätsinteresse geschützt wird, einen heuristischen Wert haben, ist jedoch zur Abgrenzung des konkreten Gewährleistungsgehalts einer Norm nicht zwingend.498 So lässt sich unter Schutz auch die Abwendung existenzbedrohender Lebenslagen verstehen, ganz gleich welche Gründe zu der prekären Lage erst geführt haben mögen. Mit „Schutz“ wäre dann eher „Beistand“ oder „Hilfe“ gemeint. Die Gewährung von Schutz in diesem Sinne muss nicht davon abhängen, dass eine konkrete Gefährdung den Bestand oder die Integrität der Familie beeinträchtigt. Die Schutzgewährung kann auch an die Verletzlichkeit der Familie anknüpfen, die daraus resultiert, dass in ihr hilfsbedürftige Personen leben, deren Betreuung finanzielle Mittel und Zeit in Anspruch nimmt. Der Schutz würde demgemäß wegen der Gefährdungslagen gewährt, die jeder Familie typischerweise drohen. Zudem kann auch der Schutz der Familie als gesellschaftlicher Einheit zur Verfolgung von Gemeinwohlzwecken gemeint sein, z. B. zur Bekämpfung des demografischen Wandels.499 So erkennt das BVerfG in Art. 6 GG, der ebenfalls den „Schutz“ der Familie gewährleistet, nicht nur eine Schutzpflicht gegenüber der Familie im Sinne eines Rechts auf Abschirmung durch äußere Gefahren, sondern auch eine Förderpflicht der Familie. Gleiches könnte für Art. 33 Abs. 1 GRC gelten. Die Frage nach der genauen Gewährleistungsdimension erschließt sich deshalb erst aus der Betrachtung der Sachbereiche, in denen Schutz gewährt werden soll sowie durch einen Blick auf Art. 16 ESC, der diesbezüglich nahezu wortgleich ist und auf den sich Art. 33 Abs. 1 GRC ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta stützt. Art. 16 ESC normiert ebenfalls den Schutz der Familie und gibt den Mitgliedstaaten auf, ihn zu fördern („promote“). Art. 16 ESC beschränkt sich nicht auf diese allgemeine Aussage, sondern zählt weitergehend Beispiele für die Förderung des Schutzes der Familie auf, namentlich „social and familiy benefits, fiscal arrangements, provisions of familiy housing benefits for the newly married, and other appropriate means“. Die beispielhaft aufgezählten Maßnahmen lassen sich allesamt eher der Förder- als der Schutzdimension eines Rechts zuordnen, insbesondere die Sozial- und Familienleistungen sowie Steuervergünstigungen. Das Committee betrachtet die Bereitstellung familiengerechten Wohnraums insbesondere unter dem Aspekt der finanziellen Begünstigung Cremer, in: Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 1 Rn. 98. oben, S. 81. 499  Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 618. 497  Dazu

498  s. bereits



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC211

bzw. der Verfügbarkeit geeigneten Wohnraums.500 Beratungsangebote für Familien sind ausweislich der Conclusions ebenfalls von Art. 16 ESC erfasst.501 Finanzielle Unterstützungsleistungen wie Familienzuschüsse und das Kindergeld lassen sich gleichermaßen unter den durch Art. 16 ESC gewährten Schutz subsumieren.502 Art. 16 ESC enthält demnach eindeutig nicht nur ein klassisches „Schutzrecht“, sondern ein Leistungsrecht im Sinne eines Rechts auf Familienförderung.503 Daraus, dass sich Art. 33 Abs. 1 GRC ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta auf Art. 16 ESC stützt, sowie aus die Tatsache, dass die Formulierungen sich gleichen, folgt, dass auch Art. 33 Abs. 1 GRC nicht auf Maßnahmen zum Schutz vor Gefahren durch Dritte beschränkt ist. Zudem impliziert die Ausdehnung des Schutzes auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich, dass die Norm auch Fördermaßnahmen erfasst.504 Gegen die Existenz von Förderpflichten spricht auch nicht, dass Art. 33 Abs. 1 GRC den Schutz der Familie lediglich „gewährleistet“ und nicht, wie Art. 16 ESC, die Normadressaten verpflichtet, den Schutz zu fördern („promote“). Die Formulierung bringt vielmehr die fehlende Kompetenz der Union auf dem Gebiet der Familienpolitik zum Ausdruck und verdeutlicht damit, dass die Durchführung des Familienschutzes vorwiegend in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten liegt.505 Zudem verpflichtet Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC die Union und die Mitgliedstaaten zur Förderung der Anwendung der Grundsätze, sodass sich kein Unterschied zur Formulierung des Art. 16 ESC ergibt, sofern Art. 33 Abs. 1 GRC als Grundsatz einzustufen sein sollte. Schließlich ist selbst die Abgrenzung der Gewährleistungsdimensionen der Grundrechte abstrakt nicht stets eindeutig. Demnach weist Art. 33 Abs. 1 GRC nicht nur eine Schutzdimension, sondern auch die Dimension einer Förderpflicht zugunsten der Familie auf.506

500  Council

of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 43. of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 59 f. 502  Council of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 63 f. 503  Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S.  618; Fortunato, EuR 2008, 27 (37 f.). 504  Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 632. 505  Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S. 633. 506  Eingehend Brosius-Gersdorf, Demografischer Wandel und Familienförderung, S.  631 ff. m. w. N.; Marauhn in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 40 Rn. 20; wohl auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 3; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4046. 501  Council

212 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

bb) „Schutz“ i. S. d. Art. 33 Abs. 1 GRC durch Abwehr hoheitlicher Eingriffe? Schließlich bleibt hinsichtlich der Gewährleistungsdimensionen des Art. 33 Abs. 1 GRC die Frage zu beantworten, ob die Norm ein Abwehrrecht enthält, wie es teilweise vertreten wird.507 Dabei ist zunächst klarzustellen, dass der leistungsrechtliche Schutz der Familie auch in einer formellen Abwehrkonstellation zum Tragen kommen kann. Insofern kann Art. 33 Abs. 1 GRC, wie jedes materielle Leistungsrecht, auch als Abwehrrecht im formellen Sinne fungieren, wenn gesetzlich vorgesehene Leistungen versagt oder reduziert werden. Fraglich ist aber, ob Art. 33 Abs. 1 GRC auch als Abwehrrecht im materiellen Sinne zu verstehen sein kann. Dafür könnte sprechen, dass bei der Gewährleistung von Schutz in Art. 33 Abs. 1 GRC sprachlich nicht zwischen den Quellen der Gefährdungen für das Schutzgut differenziert wird. Wenn bereits Schutz vor Beeinträchtigungen gewährt wird, die ihren Ursprung nicht in der Sphäre der Mitgliedstaaten oder der Union haben, wodurch die Schutzdimension hier definiert wurde,508 könnte die Schutzgewährleistung a fortiori für Beeinträchtigungen gelten, die vom Staat oder den Mitgliedstaaten ausgehen. Jede Beeinträchtigung durch eine Handlung der Adressaten des Art. 33 Abs. 1 GRC könnte demgemäß durch Art. 33 Abs. 1 GRC abgewehrt werden. Gegen ein solches Verständnis spricht jedoch entschieden die Systematik des Familienschutzes in der Grundrechtecharta: Die private Sphäre der Familie wird bereits durch Art. 7 GRC umfassend gegen Eingriffe durch den Staat oder die Mitgliedstaaten geschützt. Art. 7 GRC ist damit lex specialis gegenüber Art. 33 Abs. 1 GRC hinsichtlich der abwehrrechtlichen Dimension.509 Letzterer enthält deshalb nicht ein (weiteres) materielles Abwehrrecht, sondern ergänzt die primär abwehrrechtliche Dimension des Art. 7 GRC durch leistungsrechtliche Gewährleistungen im Geiste des Art. 16 ESC. Positive Pflichten in Bezug auf Familienleistungen im Sinne von Familienförderung enthält Art. 7 GRC ebenso wenig wie Art. 8 EMRK. Überschneidungen zwischen Art. 7 GRC und Art. 33 Abs. 1 GRC kann es nur im Bereich der Schutzpflichtendimension geben, die auch Art. 7 GRC zukommt. In diesem Fall ist Art. 7 GRC ebenfalls lex specialis im Hinblick auf die Gewährleistung des Schutzes der familiären Privatsphäre. Anderenfalls würde Art. 33 507  Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 18; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EUGRCharta Rn. 4. 508  s. o., S.  81. 509  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 373; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4043; Jarass, EU- Grundrechte, § 31 Rn. 3.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC213

Abs. 1 GRC in ein allgemeines Abwehrrecht der Familie umgedeutet, da staatliche Aktivitäten sich überaus häufig auf die wirtschaftliche Situation der Familie auswirken können. Jede allgemeine Steuererhöhung wäre ein Eingriff in das so konstruierte Abwehrrecht aus dem wirtschaftlichen Schutz der Familie gemäß Art. 33 Abs. 1 GRC. Deshalb ist aus Art. 33 Abs. 1 GRC kein materielles Abwehrrecht abzuleiten. Die Norm weist materiell ausschließlich leistungsrechtliche Gehalte auf. b) Der Inhalt der Gewährleistung Art. 33 Abs. 1 GRC gewährt den Schutz der Familie in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht, ohne dabei – anders als Art. 16 ESC – zu spezifizieren, welche Schutzmaßnahmen davon umfasst sein könnten. Hier kann der nahezu gleichlautende Art. 16 ESC einmal mehr als Rechtserkenntnisquelle herangezogen werden. Für die Frage, welcher Inhalt dem Schutzversprechen des Art. 33 Abs. 1 GRC zukommt, sind der rechtliche (dazu unter aa]), wirtschaftliche (dazu unter bb]) und soziale Schutz (dazu unter cc]) voneinander abzugrenzen. aa) Der rechtliche Schutz Mit dem rechtlichen Schutz der Familie wird in Art. 33 Abs. 1 Var. 1 GRC vor allem die Schutzpflichtendimension angesprochen. Das European Committee of Social Rights fasst unter den rechtlichen Schutz insbesondere Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Ausgestaltung des Familienrechts, sowie zur Bereitstellung familienrechtlicher Konfliktlösungsmechanismen und nimmt dabei ausdrücklich Bezug auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK.510 Die damit angesprochenen Verpflichtungen der Union und der Mitgliedstaaten sind bereits in Art. 7 GRC enthalten, der den rechtlichen Schutz diesbezüglich größtenteils abdeckt. Zudem enthält Art. 33 Abs. 2 GRC mit der Gewährleistung von Kündigungsschutz aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund sowie dem Anspruch auf El­ tern­urlaub spezielle Gewährleistungen, die ebenfalls dem rechtlichen Schutz der Familie dienen und Art. 33 Abs. 1 GRC als lex specialis vorgehen.511 Dem rechtlichen Schutz in Art. 33 Abs. 1 GRC kommt inhaltlich bezüglich der Verpflichtungen der Adressaten keine eigenständige Bedeutung zu, er kann aber als legitimes Ziel zur Rechtfertigung der Eingriffe in die Rechte Dritter ergänzend herangezogen werden. 510  Council 511  Jarass,

of Europe (Hrsg.), Digest of the Case Law, S. 116 f. Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 13.

214 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

bb) Der wirtschaftliche Schutz Das Postulat wirtschaftlichen Schutzes der Familie in Art. 33 Abs. 1 GRC bildet das Kernstück der unionsrechtlichen Förderpflicht der Familie. Mit dem wirtschaftlichen Schutz sind die materiellen Grundlagen der Familie angesprochen, die insbesondere durch Familienleistungen und steuerliche Erleichterungen gewährt werden können.512 Familienleistungen können Geld- aber auch Sachleistungen umfassen. Da Art. 33 Abs. 1 GRC nicht nur eine Schutz- sondern auch eine Förderpflicht statuiert, beschränkt sich der wirtschaftliche Schutz nicht auf den Ausgleich von Familienlasten, sondern umfasst grundsätzlich auch die Förderung durch die Gewährung von Fami­ lienleistungen. Aus diesem Grunde fallen auch diejenigen Familienleistungen unter Art. 33 Abs. 1 GRC, die nicht von der Bedürftigkeit der Familie abhängen, sondern allen Familien zugutekommen.513 Fraglich ist, ob auch solche Familienleistungen von Art. 33 Abs. 1 GRC erfasst werden, die gleichzeitig als Leistungen der sozialen Sicherheit einzustufen sind. Das European Committee on Social Rights hat die Frage für den Anwendungsbereich des Art. 16 ESC im Hinblick auf das Recht auf soziale Sicherheit aus Art. 12 ESC bejaht.514 Die Grundrechtecharta enthält mit Art. 34 Abs. 1 GRC ebenfalls eine Gewährleistung, die Zugang zu den Leistungen der sozialen Sicherheit gewährleistet. Familienleistungen können ebenfalls unter den Begriff der sozialen Sicherheit subsumiert werden, wenn sie an den Eintritt bestimmter Risiken anknüpfen und unabhängig von der individuellen Bedürftigkeit gewährt werden.515 Als mögliche Versicherungsfälle werden von Art. 34 Abs. 1 GRC beispielhaft Mutterschaft, Krankheit, Arbeitsunfall, Pflegebedürftigkeit, Alter sowie der Verlust des Arbeitsplatzes genannt. Der Gewährleistungsdimension nach sichert Art. 34 Abs. 1 GRC den „Zugang“ 512  Für Art. 16 ESC vgl. Council of Europe, ECSR, Conclusions XIII-2, S. 62; Council of Europe (Hrsg.), Digest of the Case Law, S. 117. 513  Vgl. Council of Europe (Hrsg.), Digest of the Case Law, S. 117. 514  Council of Europe (Hrsg.), Conclusions XI-1 S. 143. 515  Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4094; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 29 Rn. 1034; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 34 Rn. 6; Nußberger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 34 Rn. 83; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 EU-GRCharta Rn. 3; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 34 Rn. 15; Bungenberg, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 17 Rn. 3; st. Rspr. des EuGH zur Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, Rs. 249/83, Slg. 1985, 973 Rn. 12 ff. – Hoeckx ./. Openbaar Centrum voor Maatschappelijk Welzijn Kalmthout; Rs. 122/84, Slg. 1985, 1027 Rn. 19 ff. – Scrivner ./. Centre public d’aide sociale de Chastre; Rs. C-78/91, Slg. 1992, I-4839 Rn. 15 – Hughes ./. Chief Adjudication Officer; Rs. C-160/96, Slg. 1998, I-843 Rn. 20 – Molenaar ./. Allgemeine Ortskrankenkasse Baden-Württemberg; Rs. C-85/99, Slg. 2001, I-2261 Rn. 28 – Offermanns.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC215

zu den Systemen der sozialen Sicherheit. Es handelt sich deshalb bei Art. 34 Abs. 1 GRC um eine Norm mit derivativem Teilhabecharakter,516 die selbst keine Pflicht der Union oder der Mitgliedstaaten zur Bereitstellung gewisser Leistungen und damit erst recht keinen Anspruch des Einzelnen auf bestimmte Leistungen gewährt.517 Etwas anderes gilt für Art. 33 Abs. 1 GRC, aus dem sich zwar möglicherweise wegen seiner Grundsatzqualität ebenfalls keine einklagbaren Ansprüche ableiten lassen,518 der aber Pflichten zu Gewährung von Familienleistungen statuiert. Diese müssen überdies nicht zwingend in Form von Leistungen der sozialen Sicherheit gewährt werden. Die verschiedenen Gewährleistungsdimensionen von Art. 34 Abs. 1 GRC und Art. 33 Abs. 1 GRC sprechen dafür, die Pflicht zum wirtschaftlichen Schutz der Familie aus Art. 33 Abs. 1 GRC auch auf Leistungen der sozialen Sicherheit zu erstrecken und Art. 34 Abs. 1 GRC nicht als abschließende Spezialregelung zu betrachten. Als Maßnahme wirtschaftlichen Schutzes kann daher die ganze Bandbreite der Familienförderung angesehen werden, wie Kindergeld, Einkommensersatzleistungen wie das Elterngeld, besondere Vergünstigungen für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, einkommensschwache Familien oder Alleinerziehendenfamilien. Wohnbeihilfen und steuerliche Vergünstigungen werden, wie auch im Rahmen des Art. 16 ESC, ebenfalls von Art. 33 Abs. 1 GRC erfasst.519 Allein der Anspruch auf einen bezahlten Mutterschaftsurlaub wird von Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC als lex specialis gewährt. cc) Der soziale Schutz Schließlich gewährt Art. 33 Abs. 1 GRC den sozialen Schutz der Familie. Das European Committee of Social Rights definiert sozialen Schutz als „a combination of measures enabling the family to live together in society“.520 Besonderes Augenmerk legt das Committee auf die Bereitstellung von familiengerechtem Wohnraum.521 Der Schwerpunkt hat sich im Laufe der Zeit von der Verfügbarkeit von Wohnraum von angemessener Größe und Qualität 516  Wie hier wohl Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäische Grundrechtecharta, S. 160 f., 375, 271; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 34 Rn. 2; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 34 EU-GRCharta Rn. 6. 517  Für Ansprüche auf ein menschenrechtliches Minimum Lembke, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 34 GRC Rn. 7. 518  Dazu unten, S. 276 ff. 519  Council of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 68 ff. 520  Council of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 42. 521  Council of Europe (Hrsg.), Conclusions XIII-2, S. 42 f.

216 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

auf die wirtschaftlichen Aspekte des Wohnens, insbesondere finanzielle Unterstützung, verschoben.522 Damit ist nicht mehr der soziale, sondern der wirtschaftliche Schutz der Familie betroffen. Die Möglichkeit von Elternurlaub wird vom Committee ebenfalls unter dem Aspekt des sozialen Schutzes der Familie untersucht.523 Die Gewährleistung von Elternurlaub wird im Rahmen des Familienschutzes in der Grundrechtecharta von Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC als speziellerer Norm geregelt. Die Möglichkeit der Familienzusammenführung hingegen wird vom Schutzbereich des Art. 7 GRC erfasst.524 Die Bereitstellung von sozialen Diensten, insbesondere Kinderbetreuungseinrichtungen, kann ebenso dem wirtschaftlichen Schutz der Familie dienen.525 In Abgrenzung zum wirtschaftlichen Schutz der Familie fallen Einrichtungen, die Dienstleistungen zugunsten der Familie erbringen, z. B. Beratungsstellen, Kinderbetreuungseinrichtungen etc. hinsichtlich ihrer Verfügbarkeit unter die Variante des sozialen Schutzes in Art. 33 Abs. 1 GRC. Hinsichtlich ihrer Kostenfreiheit oder Subventionierung durch den Staat dienen sie der wirtschaftlichen Förderung der Familie, als Beispiel seien kostenfreie oder subventionierte Krippen- oder Kindergartenplätze genannt. Eine Maßnahme zur Familienförderung kann deshalb zugleich dem wirtschaftlichen und dem sozialen Schutz der Familie dienen. Welche Variante des Art. 33 Abs. 1 GRC einschlägig ist, hängt davon ab, ob sie unter dem Blickwinkel der finanziellen Förderung der Familie oder der Verfügbarkeit sozialer Dienstleistungen für Familien betrachtet wird. Zusammenfassend dient die Variante des sozialen Schutzes als Auffangtatbestand für alle diejenigen Familienförderungsmaßnahmen, die weder der Regelung der Rechtsbeziehungen der Familienmitglieder untereinander oder ihrem Schutz vor Gefahren durch Dritte dienen (erfasst von Art. 7 GRC) und die auch nicht primär der Erhaltung oder Verbesserung der wirtschaftlichen Grundlagen der Familie dienen und damit dem wirtschaftlichen Schutz zuzurechnen sind.

III. Die rechtliche Einordnung des Art. 33 GRC: Gewährleistung von Rechten oder Grundsätzen? Nachdem die Auslegung des Art. 33 Abs. 1 GRC ergeben hat, dass die Grundrechtecharta weitreichende Schutz- und Förderpflichten zugunsten der Familie statuiert, stellt sich die Frage nach der rechtlichen Wirkungsweise 522  Council

of of 524  Council of 525  Council of 523  Council

Europe Europe Europe Europe

(Hrsg.), (Hrsg.), (Hrsg.), (Hrsg.),

Conclusions Conclusions Conclusions Conclusions

XIII-2, XIII-2, XIII-2, XIII-2,

S. 43. S. 85 f. S. 62. S. 62.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC217

dieser Schutz- und Förderpflichten. Vielfach wird Art. 33 GRC ganz oder teilweise als Grundsatz eingestuft, dem eine geringere Schutzwirkung als den Grundrechten attestiert wird. Damit ist die kontrovers diskutierte Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen in der Grundrechtecharta angesprochen. Laut der Präambel der Grundrechtecharta werden die „Rechte, Freiheiten und Grundsätze“ der Grundrechtecharta anerkannt. Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC „achten“ die Union und die Mitgliedstaaten die Rechte, „halten … sich an die Grundsätze und fördern … deren Anwendung“. Art. 52 GRC greift diese Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen nochmals auf, wenn in Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC die Einschränkbarkeit von Rechten normiert, in Art. 52 Abs. 5 GRC hingegen die Wirkung der Grundsätze näher beschrieben wird. Rechte und Freiheiten sind demnach unter Einhaltung des Gesetzesvorbehalts und Wahrung der Wesensgehaltsgarantie und des Verhältnismäßigkeitsprinzips einschränkbar. Grundsätze können gem. Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC „umgesetzt“ werden. Vor Gericht können sie gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nur bei der Auslegung der Umsetzungsakte und der Kontrolle ihrer Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Um die Wirkung des Familienschutzes in Art. 33 GRC näher bestimmten zu können, muss Art. 33 GRC als Grundrecht oder Grundsatz im Sinne der Grundrechtecharta eingeordnet werden. Dazu muss zunächst die Wirkungsweise der Grundsätze bestimmt werden. Daraus ergibt sich der Unterschied zwischen Grundsatz und Grundrecht, der zugleich das Abgrenzungskriterium für Rechte und Grundsätze ist. Zunächst muss klargestellt werden, welche rechtliche Wirkung den Rechten und Freiheiten der Grundrechtecharta allgemein zukommt (s. Ziff. 1.). Sodann wird die dogmatische Struktur der Grundsätze im Allgemeinen erforscht (s. Ziff. 2.). Auf dieser Grundlage werden im Anschluss die Kriterien zur Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen herausgearbeitet (s. Ziff. 3). Schließlich werden die Gewährleistungen des Art. 33 GRC als Rechte oder Grundsätze eingeordnet (s. Ziff. 4.). 1. Die Wirkung der Rechte und Freiheiten der Grundrechtecharta Die Grundrechtecharta verwendet nicht nur den Ausdruck der Rechte und Grundsätze, sondern auch den der Freiheiten. So heißt es in der Präambel, die Union erkenne die nachstehend aufgeführten Rechte und Freiheiten an. Titel II der Grundrechtecharta ist mit „Freiheiten“ überschrieben. Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC normiert die Voraussetzungen für Eingriffe in Rechte und Freiheiten. Es besteht Einigkeit darüber, dass sich Rechte und Freiheiten normtheoretisch nicht voneinander unterscheiden. Der Verwendung des Begriffspaares „Rechte und Freiheiten“ ist der französischen Rechtstradition

218 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

geschuldet und findet sich auch in der EMRK, z. B. in der Überschrift zu Abschnitt I der EMRK, wieder.526 Die Grundrechtecharta verwendet ebenfalls den Begriff der Rechte als Oberbegriff für Normen, die nicht Grundsätze sind. So z. B. Art. 52 GRC, der in der Überschrift und in Art. 52 Abs. 1 GRC von Rechten und Freiheiten spricht und in Art. 52 Abs. 3 GRC nur Rechte erwähnt, obwohl auch die Freiheiten gemeint sind. Das gilt z. B. für Art. 10 EMRK und Art. 11 GRC, die sich laut den Erläuterungen zur Grundrechtecharta entsprechen.527 Die Begriffe Recht und Freiheit im Sinne der Grundrechtecharta sind synonym. Im weiteren Verlauf wird hier deshalb nicht zwischen Rechten und Freiheiten unterschieden. Wenn im Folgenden von Rechten gesprochen wird, sind davon Rechte und Freiheiten gleichermaßen umfasst. Wenn in der Grundrechtecharta Rechte oder Freiheiten gewährt werden, handelt es sich dabei um Grundrechte im klassischen Sinne: Sie haben subjektiv-rechtliche Qualität und sind unmittelbar anwendbar. Ihnen kommen die bereits oben erläuterten Dimensionen zu.528 Sie können Abwehr- und / oder Leistungsrechte sein. 2. Die Wirkung der Grundsätze in der Grundrechtecharta Neben Rechten enthält die Grundrechtecharta als eigenständige Normkategorie529 Grundsätze. Die Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen hat ihren Ursprung bereits in den Diskussionen des Konvents bei der Erarbeitung der Grundrechtecharta. Ausgangspunkt der Unterscheidung zwischen Rechten und Grundsätzen war die Frage, ob soziale Grundrechte überhaupt in die Grundrechtecharta aufgenommen werden sollten. Der Konvent war in dieser Frage zunächst tief gespalten.530 Seitens einiger Mitglieder des Konventes regte sich starker Widerstand gegen die Aufnahme sozialer Grund526  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 19; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Einl. Rn. 47, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 1; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 26 Fn. 41; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 25. 527  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007 S. 17 (21). 528  s. o. auf S.  72 ff. 529  Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 9; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 45; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 338 f.; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 68. 530  Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vorb. Titel IV, Rn. 3; Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 208 ff, insb. Rodotà auf S. 257.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC219

rechte.531 Zum einen wurde befürchtet, dass es dadurch zu einer Ausweitung der Kompetenzen der Union kommen könnte.532 Zum anderen befürchteten die Gegner sozialer Gewährleistungen unüberschaubare finanzielle Belastungen der Mitgliedstaaten.533 Von anderen wurde argumentiert, dass es sich bei sozialen Grundrechten lediglich um politische Zielbestimmungen handele, die nicht in die Grundrechtecharta aufzunehmen seien.534 Wieder andere Mitglieder des Konvents hielten die Aufnahme sozialer Grundrechte dagegen für unverzichtbar.535 Während der Angst vor Kompetenzausweitungen durch eine klarstellende Klausel begegnet wurde, nach der die Grundrechtecharta keine Verschiebung der Kompetenzen bewirke (heute Art. 51 Abs. 2 GRC), schlug das Präsidium des Konvents basierend auf der insbesondere von dem französischen Konventsmitglied Braibant eingeführten536 Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen als Kompromiss zu den sozialen Gewährleistungen eine Regelung vor, wonach die Rechte zu achten und die Grundsätze im Sozialbereich zur Anwendung zu bringen seien.537 Der Vorschlag stieß überwiegend auf Kritik und wurde letztlich nicht übernommen.538 In der „Urfassung“ der 531  Vgl. die Einschätzung von Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 209. 532  Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 154. 533  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 37; Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union Européenne, S. 44. 534  Vgl. die Wiedergabe der Diskussion bei Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 209; Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union Européenne, S. 44. 535  Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 208 ff. 536  Insb. CHARTE 4322/00, dazu de Schutter, Les droits fondamentaux dans le projet européen, S. 111; näher zur Rolle Braibants EU Network of Independent Experts on Fundamental Rights (Hrsg.), Commentary of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, S. 406, http://ec.europa.eu/justice/fundamental-rights/ files/networkcommentaryfinal_en.pdf (zuletzt abgerufen am 19.1.2016); de Schutter, Les droits fondamentaux dans le projet européen, S. 110; Burgorgue-Larsen, in: Burgorgue-Larsen/Levade/Picod, Traité établissant une Constitution pour l’Europe, Ar. II-112 Rn. 44; Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union Européenne, S. 46 und die Äußerungen Braibants im Konvent, vgl. Bernsdorff/Borowksy, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 254. 537  Zunächst CHARTE 4316/00 CONVENT 34, Art. 31, in Reaktion auf die Kritik an der Vorschrift in abgeänderter Form in Art. 46 Abs. 2 des Entwurfs der Charta in CHARTE SN/3340/00. 538  Zum Diskussionsverlauf Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 253 ff.; Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 154 f.

220 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Grundrechtecharta, wie sie vom Grundrechtekonvent erarbeitet wurde, blieb es deshalb bei der Erwähnung der Grundsätze in Art. 51 Abs. 1 GRC. Der heutige Art. 52 Abs. 5 GRC wurde erst durch den Verfassungskonvent eingefügt.539 Die bereits im Grundrechtekonvent getroffene Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen sollte im Hinblick auf die zukünftige Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta bekräftigt werden.540 Die Ergänzung hat in der Folge Eingang in das Vertragswerk von Lissabon gefunden und ist nunmehr als Art. 52 Abs. 5 GRC Teil der Grundrechtecharta. Dreh- und Angelpunkt der Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen ist demnach die Norm des Art. 52 Abs. 5 GRC, der die Wirkung der Grundsätze näher bestimmt. Art. 52 Abs. 5 GRC lautet: „Die Bestimmungen dieser Charta, in denen Grundsätze festgelegt sind, können durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden. Sie können vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden.“

Statt die Bedeutung der Grundsätze zu klären, wie es vom Verfassungskonvent beabsichtigt war, hat die Norm weitere Unklarheit gestiftet. Die Wirkung der Grundsätze ist weiterhin nicht abschließend geklärt. Teilweise wird darauf abgestellt, dass die Grundsätze im Gegensatz zu den Rechten keine subjektiven Rechte vermitteln, sei es weil sie niemanden berechtigen sondern nur begünstigen,541 sei es weil sie nur eingeschränkt justiziabel seien542 oder beides.543 Andere betonen ihre eingeschränkte unmittelbare Anwendbarkeit.544 Ebendiese Unklarheiten sollen im Folgenden beseitigt werden. Dazu wird zunächst der Einwand zurückgewiesen, die Grundsätze seien nicht rechtsverbindlich (s. lit. a]). Im Anschluss wird das Verhältnis der 539  Schlussbericht

der Gruppe II über die Charta, CONV 354/02, S. 17. der Gruppe II über die Charta, CONV 354/02, S. 8. 541  Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 22, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 69; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 54, der jedoch ein subjektives Recht auf Verschaffung bei Unterschreitung des Untermaßverbots nicht ausschließt, Rn. 46. 542  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.); Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 45c; Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 1 Rn. 111; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 57. 543  Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (565); Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 99 ff., 203 ff.; Becker, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 9; Strunz, Strukturen des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union in ihrer Entwicklung, S. 107. 544  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  265 ff.; Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 52 Rn. 52.189 f. 540  Schlussbericht



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC221

Grundsätze zu der dogmatischen Figur der unmittelbaren Anwendbarkeit geklärt. Es muss die These widerlegt werden, dass sich der Regelungsgehalt des Art. 52 Abs. 5 GRC auf eine Beschreibung der unmittelbaren Anwendbarkeit der Grundsätze beschränkt. Anderenfalls ginge eine Beschreibung der Grundsätze in der Figur der unmittelbaren Wirkung auf und wäre eine Theorie der Abgrenzung von Rechten und Grundsätzen entbehrlich (s. lit. b]). Sodann wird der eigenständige dogmatische Gehalt des Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC im Verhältnis zu der dogmatischen Figur der unmittelbaren Wirkung erarbeitet (s. lit. c]). Schließlich wird die Dogmatik des relativen Rückschrittsverbots der Grundsätze entfaltet (s. lit. d]). a) Rechtsverbindlichkeit der Grundsätze Zunächst ist zu klären, ob die Grundsätze überhaupt rechtlich verbindlich sind, oder lediglich unverbindlichen, programmatischen Charakter und damit ausschließlich eine Appellfunktion haben und politische Zielvorgaben aufstellen.545 Darauf scheint der Wortlaut hinzudeuten, nach dem die Grundsätze umgesetzt werden „können“ und sie bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten herangezogen werden „können“. Wie sich noch zeigen wird, bedeutet das nicht, dass die Umsetzung der Grundsätze im Belieben der Union oder der Mitgliedstaaten steht, sondern nur, dass die Grundsätze der Umsetzung bedürfen. Die zunächst vorgesehene Formulierung „shall be implemented“ wurde auf Drängen der britischen Regierungsvertreterin Baroness Asthal zu „may be implemented“ abgeschwächt. Baroness Asthal befürchtete, dass der ursprüngliche Formulierungsvorschlag Anlass geben könnte, den Mitgliedstaaten eigenständige Umsetzungspflichten aufzuerlegen und somit den Anwendungsbereich des Unionsrechts zu erweitern.546 Die Formulierung des Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC spricht demgemäß nicht zwingend gegen eine Verbindlichkeit der Grundsätze, bei genauerer Betrachtung nicht einmal gegen eine grundsätzliche Umsetzungspflicht der Union und der Mitgliedstaaten, sofern sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden.547 Die Verbindlichkeit der Grundsätze ergibt sich zudem aus dem Text der Grundrechtecharta selbst. Art. 51 Abs. 1 GRC ordnet ausdrücklich an, 545  Sehr restriktiv Goldsmith, CMLR 2001, S. 1201 (1213); unentschlossen Cruz Villalón, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschafts-Kommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, A XIII Rn. 46. 546  Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 94; Sagmeister, die Grundsatznormen in der europäischen Grundrechtecharta, S. 162 f. 547  A. A. insoweit Cruz Villalón, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschafts-Kommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, A XIII Rn. 46; Baquero Cruz, MJ 15 (2008), S. 65 (69); Goldsmith, CMLR 2001, S. 1201 (1213).

222 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

dass sich die Union und die Mitgliedstaaten, sofern sie im Anwendungsbereich der Union tätig werden, an die Grundsätze halten (in der englischen Fassung „observe the principles“, in der französischen Fassung „observent les principes“) und ihre Anwendung fördern. Die Wendung „halten an“ weist auf keine geringere Verbindlichkeit hin als das Wort „achten“(„respect“ und „respectent“ in der englischen bzw. französischen Fassung), welches für die Bindung an die Rechte der Charta gebraucht wurde.548 Zudem könnten die Grundsätze, wären sie nicht rechtlich verbindlich, nicht bei der Auslegung der Umsetzungsakte oder gar der Entscheidung ihrer Rechtmäßigkeit herangezogen werden, wie Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC ausdrücklich bestimmt.549 Zwar heißt es auch in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC, dass Grundsätze in diesen Fällen vor Gericht herangezogen werden „können“ (nicht, dass sie herangezogen werden „müssen“). Die Betonung liegt hier allerdings auf „nur“, womit der Satz die Wirkungsweise der Grundsätze beschränken will. Wenn die Grundsätze jedoch als Maßstab bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten herangezogen werden können, ist ausgeschlossen, dass sie rechtlich unverbindlich sind.550 Die Entstehungsgeschichte bestätigt den Befund. Der Europäische Rat von Köln am 3. und 4. Juni 1999 hatte die Ausarbeitung einer Grundrechtecharta beschlossen. In dem Beschluss heißt es: „Bei der Ausarbeitung der Charta sind ferner wirtschaftliche und soziale Rechte zu berücksichtigen, wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind (Artikel 136 EGV), soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen.“551 Unter den Mitgliedern des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta hatte sich dich Auffassung durchgesetzt, dass die Aufnahme sozialer Bestimmungen dann gerade ausgeschlossen sein solle, wenn es sich bei ihnen nur um „bloße Ziele“ im Sinne unverbindlicher Normen handele.552 Die Bemerkungen im Schlussbericht der Arbeitsgruppe II des Verfassungskonvents knüpfen an dieses Verständnis an und betonten noch einmal, dass die Grundsätze 548  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 163. 549  Cremer, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 62 Rn. 15. 550  A. A. bezüglich der Wortlautauslegung, im Ergebnis aber ebenso Schmidt, J., die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 91 und S. 97. 551  Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 150/1/99 REV 1 CAB, Anhang IV S. 43. 552  So die Wiedergabe von Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Handreichungen und Sitzungsprotokolle, S. 208; ebenso Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Vorb. Titel IV Rn. 5.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC223

umgesetzt werden müssen.553 Demnach sind die Grundsätze in der Grundrechtecharta ebenso wie die Rechte verbindlich.554 b) Die unmittelbare Anwendbarkeit von Grundsätzen Mit dem Ergebnis, dass die Grundsätze jedenfalls verbindlich sind, ist noch nicht geklärt, welche Wirkung die Grundsätze gemäß Art. 52 Abs. 5 GRC entfalten. Im jüngeren Schrifttum555 wird auf den Zusammenhang der Wirkung der Grundsätze mit der Figur der unmittelbaren Wirkung hingewiesen, wenn es in den Erläuterungen heißt, dass Grundsätze von „subjektiven Rechten“ abzugrenzen seien oder die Grundsätze keine Ansprüche auf den Erlass konkreter Maßnahmen gewährten.556 Möglicherweise bedeutet die in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC angeordnete Rechtsfolge, dass die Grundsätze nicht unmittelbar wirken. Art. 52 Abs. 5 GRC könnte mit anderen Worten die fehlende unmittelbare Wirkung der Grundsätze feststellen. Sofern eine Grundrechtsnorm der Grundrechtecharta die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung nicht erfüllt, könnte sie deshalb als ein Grundsatz einzustufen sein, die Regelung des Art. 52 Abs. 5 GRC wäre in diesem Fall rein deklaratorisch. Der Test zur Bestimmung, ob eine Norm Recht oder Grundsatz ist, wäre mit dem Test, ob die Norm unmittelbare Wirkung zu entfalten im Stande ist, identisch. Sollte diese Auffassung zutreffen, bedürfte es keiner eigenen Theorie der Abgrenzung von Rechten und Grundsätzen. Sofern die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 5 GRC hingegen von der Folge einer fehlenden unmittelbaren Wirkung verschieden ist, bedürfte es anderer Merkmale als derjenigen, die die unmittelbare Wirkung einer Norm auslösen, um Rechte von Grundsätzen abzugrenzen.

553  Schlussbericht

der Gruppe II über die Charta, CONV 354/02, S. 8. in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 45a ff.; Cremer, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 62 Rn. 16; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 EUGRCharta Rn. 14; Jarass, EU-Grundrechte, § 3 Rn. 6; Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 52 Rn. 52.181; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 164; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 99. 555  Insb. Sagmeister, die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  267 ff.; Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 52 Rn. 52.190. 556  Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 5 GRC. 554  Borowsky,

224 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

aa) Die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit ­primärrechtlicher Normen des Unionsrechts Um entscheiden zu können, ob die in Art. 52 Abs. 5 GRC angeordnete Rechtsfolge nur deklaratorisch die eingeschränkte unmittelbare Wirkung der Grundsätze beschreibt, sollen die Voraussetzungen und Wirkungen der Figur der unmittelbaren Wirkung im Folgenden dargestellt werden. Dazu werden zunächst die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung definiert (s. lit. aa]). Anschließend wird die Folge der unmittelbaren Wirksamkeit einer Norm erörtert (s. lit. bb]). (1) Die Supranationalität des Unionsrechts als Grundlage für die unmittelbare Wirkung Wenn von der Möglichkeit einer unmittelbaren Wirkung gesprochen wird, ist dafür Voraussetzung, dass das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten Geltung entfaltet.557 Gemäß der im Völkerrecht und den meisten Staaten vorherrschenden Theorie des Dualismus sind das Völkerrecht und das nationale Recht zwei voneinander unabhängige Rechtsordnungen.558 Zur Geltung559 völkerrechtlicher Normen im nationalen Recht bedarf es deshalb zunächst eines Inkorporationsaktes des jeweiligen nationalen Rechts.560 Die Frage nach der Stellung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten stellte sich in der richtungsweisenden Entscheidung Van Gend & Loos.561 Ein niederländisches Verwaltungsgericht hatte dem EuGH die Frage vorgelegt, ob Art. 12 EWG, der es den Mitgliedstaaten untersagte, untereinander neue Zölle einzuführen oder die bestehenden zu erhöhen, „interne Wirkung“ habe. Generalanwalt Römer geht in seinen Schlussanträgen von einer klassisch-völkerrechtlichen Sichtweise aus, wenn er betont, dass der damalige Art. 66 der niederländischen Verfassung562 die Verbindlichkeit internationaler Vereinbarungen anordne, es sich bei der internen Wirkung des Gemein557  Iwasawa,

Va. J. Int’l L 26 (1986), S. 627 (632 und 640 m. w. N.). Monismus und der gegensätzlichen Ansicht des Dualismus klassisch Kelsen, Principles of International Law einerseits, und Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, andererseits. 559  Unter Geltung wird hier die Existenz einer Norm in der nationalen Rechtsordnung verstanden, ebenso Mayer/Wendel, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.) Enzyklopädie Europarecht, Bd. 1 Rn. 176 Fn. 329; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 185 ff. 560  Öhlinger/Potacs, EU-Recht und staatliches Recht, S. 51. 561  N.V. Algemene Transport- en Expeditie Onderneming Van Gend & Loos ./. Niederländische Finanzverwaltung, Rs. 26/62, Slg. 1963 I, S. 3. 562  Jetzt Art. 93 der niederländischen Verfassung. 558  Zum



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC225

schaftsrechts in den Niederlanden mithin um eine Frage des nationalen Verfassungsrechts handele. Der EuGH hat ein anderes Grundverständnis von der Natur des Gemeinschaftsrechts. Wie der EuGH in Van Gend & Loos und Costa / E.N.E.L entschieden hat, bildet das Gemeinschaftsrecht eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts (…) deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“. Das Gemeinschaftsrecht sei „aus einer autonomen Rechtsquelle fließendes Recht“. Zur innerstaatlichen Geltung des Unionsrechts bedarf es demnach keines staatlichen Umsetzungsaktes, es ist vielmehr kraft seiner Rechtsnatur (und nicht kraft Anordnung in den Verfassungen der Mitgliedstaaten) unmittelbar Bestandteil der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten.563 Das gilt für das Primär- aber auch das Sekundärrecht inklusive der Richtlinien, wie Art. 288 AEUV ausdrücklich anordnet. Die Normen der Grundrechtecharta, ganz gleich ob es sich um Rechte oder Grundsätze handelt, gelten demnach als Teil des Primärrechts in den Mitgliedstaaten unmittelbar.564 (2) Abgrenzung von unmittelbarer Wirkung und unmittelbarer Geltung Mit der Anerkennung der unmittelbaren Geltung, also der Geltung des gesamten Unionsrechts in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, ist noch nichts über dessen konkrete Wirkung im nationalen Recht gesagt. Diese konkrete Wirkung im nationalen Recht wird mit unmittelbarer Anwendbarkeit („direct applicability“), unmittelbarer Wirkung oder Direktwirkung („direct effect“) umschrieben. Die Terminologie ist uneinheitlich. Hier wird im Folgenden der Ausdruck der unmittelbaren Wirkung oder Anwendbarkeit verwendet, worunter zu verstehen sein soll, dass die unionsrechtliche Norm zur Entscheidung eines konkreten Falles angewendet werden kann, ohne dass es konkretisierender oder vermittelnder Rechtsakte bedarf.565 Der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts steht wegen seiner (unmittelbaren) Geltung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten formell nichts entgegen. Ob eine Norm unmittelbar wirken kann, hängt vielmehr von ihrer 563  Das ist allerdings der Standpunkt des EuGH, den die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht unbedingt teilen, vgl. für Deutschland nur BVerfGE 73, 339 (375) (Solange II); zur Verfassungsrechtslage der Mitgliedstaaten Mayer/Wendel, in: Hatje/ Müller-Graff (Hrsg.) Enzyklopädie Europarecht, Bd. 1, § 4 Rn. 179 ff. 564  Jarass, EU-Grundrechte, § 3 Rn. 6; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 196 f. 565  Ebenso Öhlinger/Potacs, EU-Recht und staatliches Recht, S. 55; de Witte, in: Craig/de Búrca, The Evolution of EU Law, S. 323; Bobek, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 145.

226 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

inhaltlichen Qualität ab, von der normativen Dichte der Regelung und ihrer Konkretisierbarkeit im Einzelfall. Die Fähigkeit einer Norm, unmittelbare Wirkung zu entfalten, ist deshalb ein materielles Merkmal.566 Dass die Normen des Primärrechts unmittelbare Wirkung zu entfalten fähig sein können, ist keine überraschende Erkenntnis, wurde doch schon zuvor vertreten, dass völkerrechtliche Verträge „self-executing“ sein können, wenn sie in innerstaatliches Recht transformiert wurden.567 (3) Die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung Wenn die unmittelbare Wirkung einer Norm ein materielles Kriterium ist, stellt sich die Frage, welche inhaltlichen Anforderungen an eine Norm zu stellen sind, um sie als unmittelbar wirksam qualifizieren zu können.568 Selbstverständlich existieren ganz unterschiedliche Arten von Normen im europäischen Recht, von sehr abstrakten, insbesondere im Primärrecht, bis hin zu sehr konkreten Regelungen im Sekundär- und Tertiärrecht. Deshalb ist erforderlich, dass das Vorliegen der Kriterien der unmittelbaren Wirkung für den Einzelfall geprüft wird,569 wenn auch es selbstverständlich sowohl möglich ist, dass eine Norm niemals direkte Wirkung entfalten kann, als auch, dass eine Norm für alle Fälle, die in ihren Regelungsbereich fallen, direkte Wirkung entfaltet. Die dogmatische Figur der unmittelbaren Wirkung hat ihre Wurzeln in der Lehre von den bereits erwähnten „self-executing“ Normen des Völkerrechts, wie sie von der amerikanischen Lehre und Rechtsprechung entwickelt wurde.570 Art. 6 Abs. 2 der amerikanischen Verfassung ordnet die Geltung der von den Vereinigten Staaten geschlossenen völkerrechtlichen Verträge als 566  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 193. 567  Wobei die Frage der Folge von Normkollisionen der dualistischen Theorie zufolge durch das nationale Verfassungsrecht zu beantworten wäre, so auch noch GA Roemer, Schlussanträge zu Van Gend & Loos, Slg. 1963, 35 (47 f.). 568  Die Lehre von der unmittelbaren Wirkung wird vornehmlich im Zusammenhang mit nicht oder nicht richtig umgesetzten Richtlinien diskutiert. Wenn auch die Problematik im Zusammenhang mit Richtlinien vielschichtiger ist, z. B. die Begründung für die unmittelbare Wirkung von Richtlinien eine andere ist als für die unmittelbare Wirkung von Primärrecht und sich besondere Probleme wie das der „horizontalen unmittelbaren Wirkung“ stellen, ist die hier interessierende Problematik der inhaltlichen Qualität einer Norm bei Richtlinienbestimmungen und primärrechtlichen Normen identisch. Deshalb kann im Folgenden auf Literatur und Rechtsprechung zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien zurückgegriffen werden. 569  Prechal, Directives in EC Law, S. 241. 570  Zur Rezeption der Lehre von den self-executing Verträgen in Europa vgl. Iwasawa, Va. J. Int’l L 26 (1986), S. 627 ff.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC227

„the supreme law of the land“ an. In dem leading case Foster v. Neilson aus dem Jahre 1829 zog der Präsident des Supreme Court Marshall daraus den Schluss, dass eine Norm aus einem völkerrechtlichen Vertrag „to be regarded in Courts of justice as equivalent to an act of the legislature, whenever it operates of itself without the aid of any legislative provision“ und somit selfexecuting sei.571 Anders verhalte es sich, wenn die fragliche Klausel des Vertrages „addresses itself to the political, not the judicial department; and the legislature must execute the contract before it can become a rule for the court.“572 In der Literatur herrschte Streit darüber, nach welchen Kriterien die unmittelbare Wirkung einer völkervertraglichen Norm zu bestimmen ist. Im Wesentlichen lassen sich subjektive und objektive Kriterien unterscheiden,573 die sich allerdings nicht stets klar voneinander trennen lassen, da sich der Wille der Vertragsparteien oftmals nur anhand objektiver Kriterien erschließt.574 Als subjektives Kriterium ist insbesondere der Wille der Vertragsparteien hervorzuheben. Als objektive Kriterien kommen die Bestimmtheit der Regelung, die Art und Weise der Verpflichtung (z. B. „Handeln“ oder „Unterlassen“), der Regelungsgegenstand, der Adressat der Norm oder die Erzeugung von subjektiven Rechten in Frage.575 Im Europarecht wurde die Diskussion um die unmittelbare Wirkung oder den „self-executing“ Charakter von Normen des Völkerrechts aufgenommen.576 Auch der leading case zur unmittelbaren Wirkung im Europarecht lässt die völkerrechtlichen Wurzeln der Lehre von der unmittelbaren Wirkung deutlich zutage treten. Die niederländische Regierung hält in ihrer Stellungnahme den Willen der vertragschließenden Parteien für ausschlaggebend.577 Generalanwalt Römer hingegen stellt für die Charakterisierung einer Norm als unmittelbar wirksam darauf ab, wer von der Norm adressiert wird.578 Der EuGH wählt einen allgemeineren Ansatz und schließt unter anderem aus der Möglichkeit der Vorabentscheidung, dass das Gemeinschaftsrecht auch den Einzelnen als Rechtssubjekt generell anerkenne. Als notwendige Kriterien für die unmittelbare Anwendbarkeit haben sich bis heute die Bestimmtheit und Unbedingtheit der 571  US

nal.

572  US

Supreme Court, 27 U.S. (2 Pet.) 253 (254), Hervorhebung nicht im Origi-

Supreme Court, 27 U.S. (2 Pet.) 253 (254). Juristische Blätter 1961, S. 8 f. 574  Bleckmann, Europarecht, S. 336. 575  Vgl. Iwasawa, Va. J. Int’l L 26 (1986), S. 627 (671 ff.). 576  Vgl. Bleckmann, Europarecht, S. 336 ff. 577  Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (17) – Van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen; Bleckmann, Begriff und Kriterien der innerstaatlichen Anwendbarkeit völkerrechtlicher Verträge, S.  157 ff. 578  Schlussanträge GA Römer zu Van Gend & Loos, Slg. 1963, 35 (42 ff.). 573  Winkler,

228 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

unionsrechtlichen Norm etabliert, wobei beide Merkmale konkretisierungsbedürftig sind.579 (a) „Hinreichend bestimmt“ Auf Art. 12 EWG wendet der EuGH in der Entscheidung Van Gend & Loos objektive Kriterien an580: Die Norm enthalte „ein klares und uneingeschränktes Verbot, eine Verpflichtung, nicht zu einem Tun, sondern zu einem Unterlassen“. Dass die Norm die Mitgliedstaaten als Verpflichtete adressiere, schließe hingegen nicht aus, dass dieser Verpflichtung Rechte Einzelner gegenüberstehen könnten. Als erste Voraussetzung lässt sich dem entnehmen, dass die Norm „hinreichend bestimmt“ sein muss.581 Präziser kann man formulieren „hinreichend bestimmt, um von einem Gericht in dem konkreten Fall angewendet zu werden“. Ob eine Norm hinreichend bestimmt ist, hängt von ihrem Wortlaut, dem Regelungszusammenhang und der Natur der Norm ab: So regeln Normen des Primärrechts (insbesondere Grundrechte) oftmals sehr allgemeine und abstrakte Materien. Die hinreichende Bestimmtheit wird jedenfalls nicht schon dadurch ausgeschlossen, dass die Norm interpretationsbedürftig ist, z. B. unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, da die Anwendbarkeit durch die Gerichte dadurch grundsätzlich nicht ausgeschlossen wird, sondern es im Gegenteil die vornehmliche Aufgabe der Gerichte ist, Normen auszulegen und ihren Inhalt durch Interpretation zu konkretisieren. Der EuGH betrachtet nicht nur die Bestimmtheit des Anspruchsgegenstands, sondern auch etwaiger Anspruchsgegner und Anspruchsinhaber als Bestandteil der unmittelbaren Wirkung.582 (b) „Inhaltlich unbedingt“ Die fragliche unionsrechtliche Norm muss nicht nur eine hinreichende inhaltliche Bestimmtheit aufweisen, sondern auch unbedingt sein.583 Das ist 579  Bobek,

in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 145. in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 144. 581  Allg. M., vgl. nur Herdegen, Europarecht, S. 150, Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der Europäischen Union, S. 97; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, S. 163. 582  Bezogen auf Richtlinien Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 55; EuGH verb. Rs. C-6/90 und 9/90, Slg. 1991, I-5357 Rn. 12 ff. – Francovich und Bonifaci. 583  So bereits Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 S. 25 – Van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen. 580  Bobek,



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC229

nach der Rechtsprechung des EuGH der Fall, „wenn sie eine Verpflichtung begründet, die weder an eine Bedingung geknüpft ist noch zu ihrer Erfüllung und Wirksamkeit einer Maßnahme der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf“.584 Demnach lassen sich verschiedene Arten der Bedingtheit einer Norm unterscheiden: Zunächst kann eine Verpflichtung zeitlich bedingt sein.585 Das ist der Fall, wenn ihre Anwendbarkeit einer aufschiebenden Bedingung unterliegt, wie es in der Sache Van Gend & Loos der Fall war. Desgleichen kann eine Bedingung auch in der Erfüllung einer anderen tatsächlichen Gegebenheit liegen, wie es in der Rechtssache Kaefer und Procacci der Fall war: In diesem Fall ging es um ein an die Überseegebiete Frankreichs, Großbritanniens und der Niederlande gerichtetes Diskriminierungsverbot, welches mit einer Gegenseitigkeitsklausel verbunden war.586 Sofern die Mitgliedstaaten die Nichtdiskriminierung von Staatsangehörigen der Überseegebiete nicht gewährleisten konnten, waren auch die Überseegebiete nicht zu der Anwendung des Diskriminierungsverbotes gegenüber den Staatsangehörigen dieser Mitgliedstaaten verpflichtet.587 Offensichtlich ist in diesem Fall dann von der Unbedingtheit der Norm auszugehen, wenn die Bedingung – die Gegenseitigkeit – eingetreten ist.588 In der Regel ist die Frage des Eintritts einer Bedingung justiziabel.589 Des Weiteren kann eine Bestimmung auch unter einer inhaltlichen Bedingung stehen, deren Eintritt im Belieben der Mitgliedstaaten steht. So hat der EuGH in Kaefer und Procacci festgestellt, dass „[e]ine Bestimmung (…) unbedingt [ist], wenn sie den Mitgliedstaaten kein Ermessen lässt“.590 Eröffnet die Vorschrift den Mitgliedstaaten Handlungsoptionen, von denen sie Gebrauch machen können oder nicht, mangelt es an der Unbedingtheit.591 Die Erforderlichkeit des Er584  EuGH Rs. C-236/92, Slg. 1994, I-483 Rn. 9 – Comitato di coordinamento per la difesa della Cava u. a. ./. Regione Lombardia u. a., vgl. auch Rs. C-28/67, Slg. 1968, 211 S. 230 f. – Molkerei Zentrale Westfalen-Lippe ./. Hauptzollamt Paderborn. 585  Prechal, Directives in EC Law, S. 245. 586  EuGH, verb. Rs. 100/89 und 101/89, Slg. 1990, I-4647 – Kaefer und Procacci ./. Französischer Staat. 587  Art. 176 86/283/EWG, ABl. L Nr. 175 v. 1.7.1986, S. 1. 588  EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 S. 25 – Van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen; verb. Rs. 100/89 und 101/89, Slg. 1990, I-4647 Rn. 27 – Kaefer und Procacci ./. Französischer Staat, vgl. auch die Schlussanträge von GA Mischo in dieser Sache, Rn. 45 f. 589  Vgl. EuGH, verb. Rs. 100/89 und 101/89, Slg. 1990, I-4647 Rn. 27 – Kaefer und Procacci ./. Französischer Staat. 590  EuGH, verb. Rs. 100/89 und 101/89, Slg. 1990, I-4647 Rn. 26 – Kaefer und Procacci ./. Französischer Staat. 591  EuGH, Rs. C-28/67, Slg. 1968, 211 S. 234 f. – Molkerei Zentrale WestfalenLippe ./. Hauptzollamt Paderborn; Wahlmöglichkeiten bezüglich des Anspruchsgegners in einer Richtlinie: verb. Rs. C-6/90 und 9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich und Bonifaci.

230 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

lasses von Durchführungsmaßnahmen durch die Mitgliedstaaten kann ebenfalls die unmittelbare Wirksamkeit ausschließen, z. B. wenn wie in der Rechtssache Francovich die Errichtung einer Garantieeinrichtung als Anspruchsgegner für die Erfüllung von Ansprüchen von Arbeitnehmern, deren Arbeitgeber insolvent geworden sind, Voraussetzung für die Geltendmachung der Ansprüche ist.592 Nur in diesen letzten beiden Fallgruppen kann von einer inhaltlichen Bedingtheit die Rede sein. Teilweise wird auch von einem Ermessen der Mitgliedstaaten gesprochen. Hat ein Mitgliedstaat von seinen Handlungsoptionen Gebrauch gemacht, ist die Bedingung wiederum eingetreten und die Norm kann unmittelbar angewendet werden. (4) Positive Handlungspflichten als Ausschlusskriterium der Unbedingtheit oder hinreichenden Bestimmtheit? Aus der Formulierung des EuGH in Van Gand & Loos scheint hervorzugehen, dass nur Verpflichtungen zu einem Unterlassen hinreichend bestimmt sind, Verpflichtungen zum Handeln hingegen nicht. Der EuGH hatte in dem Fall Lütticke Gelegenheit, dazu Stellung zu beziehen: In dem Verfahren ging es um die Frage, ob Art. 95 EWG unmittelbare Wirkung entfaltet. Art. 95 Abs. 1 EWG verbot den Mitgliedstaaten die Erhebung höherer Abgaben auf Produkte aus anderen Mitgliedstaaten als auf einheimische Produkte. Art. 95 Abs. 3 EWG normierte die Pflicht der Mitgliedstaaten, bis zum Ablauf einer Frist alle Art. 95 Abs. 1 EWG entgegenstehenden Vorschriften aufzuheben oder anzupassen. Die deutsche Regierung folgerte in ihrer Stellungnahme aus der Rechtsprechung des EuGH, dass das Vorliegen einer Unterlassungspflicht neben der Unbedingtheit und Bestimmtheit der Norm Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung sei, Art. 95 EWG die Mitgliedstaaten jedoch zu einem Handeln verpflichte und deshalb nicht unmittelbar wirksam sei. Die belgische Regierung bestritt die unmittelbare Wirkung des Art. 95 EWG in ihrer Erklärung unter anderem im Wesentlichen mit dem gleichen Argument, nämlich dass der Vollzug der Regelung voraussetze, dass die Mitgliedstaaten entsprechende Maßnahmen ergriffen. Die Argumente Deutschlands und Belgien können sowohl auf das Merkmal der Bedingtheit hinweisen oder aber auf die mangelnde Bestimmtheit der Vorschrift, die durch Maßnahmen der Mitgliedstaaten erst noch konkretisiert werden muss. Der EuGH bejahte die unmittelbare Wirkung von Art. 95 EWG. Er führte dazu aus, dass die eigentliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten aus Art. 95 Abs. 1 EWG ein Diskriminierungsverbot darstelle, das abgesehen von der aufschiebenden Klausel in Art. 95 Abs. 3 EWG an keine Bedingung geknüpft sei. Sie bedürfe zu ihrer Wirksamkeit keiner weiteren Maßnahmen der Mit592  Verb.

Rs. C-6/90 und 9/90 Slg. 1991, I-5357 – Francovich und Bonifaci.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC231

gliedstaaten und sei daher vollständig und rechtlich vollkommen.593 Art. 95 Abs. 3 EWG stehe somit lediglich der Anwendung des Diskriminierungsverbots aus Art. 95 Abs. 1 EWG auf entgegenstehende Normen vor Ablauf der Frist entgegen.594 Eine explizite Begründung dafür, warum Art. 95 Abs. 1 EWG trotz der offensichtlich bestehenden Handlungspflichten der Mitgliedstaaten, auf die Art. 95 Abs. 3 EWG hinweist, unmittelbar wirken können soll, blieb der Gerichtshof schuldig. Der Grund, warum der EuGH hier zwanglos zu einer unmittelbaren Wirkung gelangen konnte, ergibt sich einmal mehr aus der Unterscheidung zwischen materiellen und formellen Handlungs- bzw. Unterlassenspflichten: Wie sich den Aussagen des EuGH entnehmen lässt, handelt es sich bei der Vorschrift des Art. 95 Abs. 1 EWG um ein Diskriminierungsverbot. Den Mitgliedstaaten ist verboten, Waren aus fremden Mitgliedstaaten stärker zu belasten als einheimische Waren. Materiell handelt es sich dabei um eine Unterlassenspflicht: Eine stärkere gleichheitswidrige Belastung ist zu unterlassen. Mit dem Ablauf der Frist in Art. 95 Abs. 3 EWG handelt es sich bei gleichheitswidrigen Belastungen deshalb um Verletzungen des Diskriminierungsverbotes aus Art. 95 Abs. 1 EWG. Die Pflicht zur Beseitigung der Verletzung des Diskriminierungsverbotes ist deshalb nur eine formelle Handlungspflicht, um die materielle Unterlassenspflicht zu erfüllen, ähnlich einem Folgenbeseitigungsanspruch bei einer Grundrechtsverletzung. Diese ist in der Tat bestimmt, weil es um das Unterlassen einer ganz bestimmten Handlung, der gleichheitswidrigen Belastung ausländischer Waren, geht. Generalanwalt Gand legt in seinen Schlussanträgen zwar zutreffend dar, dass die Mitgliedstaaten den Gleichheitsverstoß theoretisch statt durch die Entlastung eingeführter Waren auch durch die Belastung einheimischer Waren in gleicher Höhe beseitigen könnten.595 Das führt aber nicht zu einer anderen Bewertung der Situation, weil das Ziel, eine steuerliche Ungleichbehandlung von einheimischen und eingeführten Waren zu verhindern, jedenfalls bestimmt ist.596 Für die unmittelbare Wirkung kommt es darauf an, ob die Norm hinreichend bestimmt ist, um in dem konkreten Fall durch das Gericht zur Entscheidung des Falles angewandt zu werden. Weil die stärkere Belastung einheimischer Waren offensichtlich außerhalb der Kompetenz der Judikative liegt, sondern durch die nationale Legislative beschlossen werden müsste, kommt nur die 593  Diese Formulierung verwendet der EuGH hin und wieder anstatt der Formulierung „hinreichend bestimmt“ und „unbedingt“, ohne dass damit eine andere inhaltliche Aussage einherginge, vgl. für den vergleichbaren Test bei Richtlinien Prechal, Directives in EC Law, S. 243 m. w. N.; vgl. auch Rs. C-2/69, Slg. 1969, 211 Rn. 22 f. – Sociaal Fonds voor de Diamantarbeiders ./. Brachfeld u. a. 594  EuGH, Rs. 57/65, Slg. 1966, 259 S. 266 Lütticke ./. Hauptzollamt Saarlouis. 595  Schlussanträge GA Gand, Rs. 57/65, Slg. 1966, 269 S. 277. 596  Schlussanträge GA Gand, Rs. 57/65, Slg. 1966, 269 S. 277.

232 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Begünstigung eingeführter Waren in Frage. Da es sich bei der Rechtsverletzung um eine Verletzung durch eine Rechtsnorm handelt, ist eine Begünstigung eingeführter Waren durch Nichtanwendung der entgegenstehenden nationalen Norm möglich. Demnach ist auch keine Handlung des Mitgliedstaates erforderlich, um den Fall entscheiden zu können, sodass die Norm auch unbedingt ist. Mit anderen Worten lässt sich aus der Entscheidung in der Sache Lütticke folgern, dass Handlungspflichten die Bestimmtheit einer Norm dann nicht ausschließen, wenn es sich lediglich um eine formelle Handlungspflicht handelt, die aus einer materiellen Unterlassenspflicht folgt.597 Der gleiche Fall träte also ein, wenn eine Entscheidung der mitgliedstaatlichen Exekutive vorläge. Diese müsste dann aufgehoben werden. Ebenso liegt der Fall, wenn die Versagung einer Genehmigung streitgegenständlich ist. Das Gericht müsste diese dann, je nach Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems in den Mitgliedstaaten, erteilen oder, wie in Deutschland, die Behörde zur Erteilung der Genehmigung verpflichten (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO). Ob eine Norm Handlungs- oder Unterlassungspflichten erfordert, ist demnach ohne Belang für die Frage, ob die Norm unmittelbar zu wirken fähig ist oder nicht. (5) Gewährung subjektiver Rechte als Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit? Bereits in der Diskussion um die „self-executing treaties“ kam die Frage auf, ob die Gewährung subjektiver Rechte eine notwendige Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit ist. Einen Hinweis darauf liefert das Gutachten des IGH im sog. „Danzig-Fall“. Dort hieß es, dass der Zweck eines völkerrechtlichen Vertrages sein kann, bestimmte Regeln zu schaffen, die individuelle Rechte und Pflichten der Einzelnen begründen, welche auch durchsetzbar sind.598 Um zu entscheiden, ob die Gewährung subjektiver Rechte die Voraussetzung der unmittelbaren Wirkung einer unionsrechtlichen Norm ist, muss zunächst geklärt werden, was unter einem subjektiven Recht zu verstehen ist und welche Bedeutung ihm zukommt. Das deutsche Rechtsschutzsystem basiert, im Gegensatz zu den Rechtsschutzsystemen anderer Mitgliedstaaten,599 auf der Verletztenklage und damit 597  Gleichsinnig Bobek, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 146 f.; i. E. ebenso, aber mit anderer Begründung (Vorrang des Unionsrechts statt unmittelbarer Wirkung) Lenaerts/Courthaut, ELR 31 (2006), S. 287; vgl. auch EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631 Rn. 29 ff. – Reyners ./. Belgischer Staat. 598  IGH, Jurisdiction of the Courts of Danzig, Collection of Advisory Opinions, Series B No. 15, S. 17 f. 599  Dazu näher Skouris, Verletztenklage und Interessentenklage.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC233

auf der Voraussetzung der Verletzung von Rechtspositionen, die dem Einzelnen zukommen. Dieser Ansatz ist in Art. 19 Abs. 4 GG vorgezeichnet. Rechtsschutz wird nur demjenigen garantiert, der „durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt“ wird. Die Subjektivität eines Rechts liegt nicht nur darin, dem Einzelnen zu ermöglichen, eine gerichtliche Kontrolle zu initiieren, sondern auch und gerade darin, dass sie das Recht dem Individuum zuordnet, es zu seinem Recht macht. Demnach kommt der subjektivrechtlichen Eigenschaft einer Norm primär eine materielle Zuordnungswirkung zu.600 Ein subjektiv-öffentliches Recht ist die dem Einzelnen kraft öffentlichen Rechts verliehene Rechtsmacht, vom Staat zur Verfolgung eigener Interessen ein bestimmtes Verhalten verlangen zu können, unabhängig davon, ob es sich dabei um ein Handeln oder Unterlassen handelt.601 Die Frage, ob eine Norm ein subjektives Recht begründet, richtet sich in Deutschland nach der Schutznormtheorie. Nach der, maßgeblich von O. Bühler geprägten, älteren Schutznormtheorie ist für die Qualifizierung einer Rechtsnorm als subjektiv vornehmlich maßgeblich, ob dies dem Willen des Gesetzgebers, wie er sich aus den Gesetzgebungsmaterialien ergibt, entspricht.602 Nach der neueren Auffassung liegt ein subjektives Recht vor, wenn „der infrage stehende Rechtssatz nicht (nur) den Interessen der Allgemeinheit, sondern – zumindest auch – den Individualinteressen (des Klägers) derart zu dienen bestimmt ist, dass die Träger der Individualinteressen die Einhaltung des Rechtssatzes beanspruchen können“.603 Nicht ausreichend sei ein reiner Rechtsreflex, mithin rein tatsächliche Wirkungen von Normen, die ausschließlich dem öffentlichen Interesse dienen.604 Die Bestimmung des individualschützenden Charakters soll sich aus einem „Kanon von Methoden und Regeln“ erschließen, zu dem neben der historischen Auslegung nach der älteren Schutznormtheorie insbesondere systematische Argumente und die stärkere Einbeziehung der Wertungen der Grundrechte und des Europarechts treten sollen.605 Erforderlich für die Annahme eines subjektiv-öffentlichen Rechts ist hiernach, dass der Einzelne in den Kreis der geschützten Personen fällt und dass das geltend gemachte Interesse des Einzelnen durch die fragli600  Wahl, in: Schoch/Schneider/Bier, Verwaltungsgerichtsordnung, Vorb. §  42 Abs. 2 Rn. 46, 48. 601  Vgl. Wolff, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, §  113 Rn. 35; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 164. 602  O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, S. 45. 603  Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, § 42 Rn. 388 m. w. N. 604  Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, § 42 Rn. 388. 605  Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 128; zur älteren und neueren Schutznormlehre Bauer, AöR 113 (1988), S. 582, (587 ff.).

234 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

che Norm vor den streitgegenständlichen Handlungen oder Unterlassungen geschützt werden soll.606 Aus Art. 19 Abs. 4 GG folgt die Berechtigung des Einzelnen, die Verletzung seiner subjektiven Rechte gerichtlich beseitigen oder jedenfalls feststellen zu lassen, die §§ 42 Abs. 2 S. 1 VwGO, § 40 Abs. 2 FGO, § 54 Abs. 1 S. 2 SGG räumen die entsprechenden prozessualen Befugnisse ein. Die Verletzung der durch die Schutznormtheorie gefundenen Rechte des Einzelnen ist aber „nicht nur Anstoß, sondern Schutzziel des gerichtlichen Prüfungsauf­ trags.“607 Das subjektive Recht eröffnet deshalb nicht nur in der Regel den Rechtsschutz, sondern begrenzt ihn seinem Umfang nach auch auf seine Verletzung.608 Verfassungsrechtlich folgt die prozessuale Seite der subjektivrechtlichen Qualität einer Norm deshalb auch nicht aus dem jeweils einschlägigen Grundrecht selbst, sondern aus dem das subjektive Recht schon voraussetzenden Art. 19 Abs. 4 GG, der anderenfalls überflüssig wäre.609 Die prozessuale Durchsetzbarkeit der Rechte ist demnach eine selbständige Kategorie, die neben ihre Subjektivität tritt. Einigkeit besteht hinsichtlich der Begründung subjektiver Rechte als Voraussetzung der unmittelbaren Wirkung insoweit dahingehend, dass die Kriterien der Schutznormtheorie sich nicht unbesehen auf das Europarecht übertragen lassen und der EuGH bei der Bejahung der unmittelbaren Wirkung großzügiger ist, als die Maßstäbe der Schutznormtheorie es zulassen. Ganz grundsätzlich stellt sich aber die Frage, ob ein subjektives Element überhaupt zur Bejahung der unmittelbaren Wirkung einer unionsrechtlichen Norm erforderlich ist, wie es von einigen Autoren aus dem deutschsprachigen Raum vertreten wird.610 Die Entscheidung in der Sache Van Gend & Loos scheint diesen Ansatz zu bestätigen, wenn der EuGH formuliert, dass sich die unmittelbare Wirkung darin äußere, dass „individuelle Rechte“ begründet werden, „welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben“.611 Ebenso wurde aus der Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien bisweilen ge606  Wolff,

in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, § 113 Rn. 38. in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 116. 608  s. nur BVerfGE 116, 1 (11); Schmidt-Aßmann in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 5 Rn. 116. 609  BVerfGE 113, 273 (310); BVerfG NVwZ-RR 2011, 1 m. w. N.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 143. 610  Nachweise bei Ruffert, CMLRev 1997, 307, 312 (Fn. 21); Calliess, NVwZ 1996, 339 (340 f.); Pernice, NVwZ 1990, S. 414 (424), Winter, DVBl 1991, S. 657 (659). 611  EuGH Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 S. 27 – Van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen. 607  Schmidt-Aßmann,



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC235

folgert, dass die Existenz eines subjektiven Rechts Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung einer Norm sei.612 In dem Urteil in der Sache Becker heißt es: „Demnach können sich die einzelnen (…) auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen; einzelne können sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit diese Rechte festlegen, die dem Staat gegenüber geltend gemacht werden können.“613 Abgesehen von der – dem Wortlaut der Entscheidung nach näher liegenden – Möglichkeit, dass ein subjektives Recht nicht notwendige, aber hinreichende Bedingung der unmittelbaren Wirkung sein könnte,614 hat der EuGH dieses Element in der Folgezeit nicht mehr explizit aufgenommen.615 Die Entscheidung in der Sache Enichem Base schien wiederum anzudeuten, dass eine Vorschrift, die die Mitgliedstaaten zwar zu einem Handeln verpflichtet (in diesem Fall zur Unterrichtung der Kommission über Maßnahmen zur Abfallvermeidung), bei der aber keine Person oder Personengruppe begünstigt zu werden scheint, nicht unmittelbar anwendbar ist, weil sie keine Rechte Einzelner erzeugt.616 Der EuGH begründet seine entsprechende Entscheidung damit, dass aus dem Verstoß gegen eine Notifizierungspflicht keine Rechtswidrigkeit der mitgliedstaatlichen Maßnahme folge. Die Vorschriften der fraglichen Richtlinie enthielten keine Maßstäbe für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit solcher Maßnahmen, sondern sollten lediglich dem Zweck dienen, die Kommission in die Lage zu versetzen zu prüfen, ob gemeinschaftsrechtliche Harmonisierungsmaßnahmen erforderlich seien und ob die Vorschriften in Einklang mit sonstigem Unionsrecht stehen.617 Damit unterscheidet sich die Lage in einem entscheidenden Punkt von der Situation, die dem späteren Urteil in der Sache CIA Security zugrunde lag.618 Dort ging es zwar ebenfalls um den Verstoß gegen eine Notifizierungspflicht, die einschlägige Richtlinie sah jedoch vor, dass die Kommission die ihr notifizierten Normen den Mitgliedstaaten zur Stellungnahme übermittelt und dass der Mitgliedstaat das Inkraftsetzen der Normen gegebenenfalls (nämlich wenn 612  Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, S. 81; Pernice, NVwZ 1990, S. 414 (424). 613  EuGH Rs. C-8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 25 – Becker. 614  So auch Ruffert, CMLRev 1997, S. 307 (314). 615  Ruffert, CMLRev, S. 307 (314 m. w. N.). 616  EuGH Rs. C-380/87, Slg. 1989, 2491 Rn. 23 – Enichem Base u. a. ./. Commune di Cinisello Balsamo; vgl. auch Rs. C-209/98, Slg. 2000, I-3743 Rn. 102 – Sydhavens Sten & Grus. 617  EuGH Rs. C-380/87, Slg. 1989, 2491 Rn. 21 f. – Enichem Base u. a. ./. Commune di Cinisello Balsamo. 618  EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201 – CIA Security International ./. Signalson und Securitel.

236 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

die Kommission oder ein anderer Mitgliedstaat Kritik an den geplanten Normen geltend macht) einen gewissen Zeitraum hinauszuschieben hat.619 Diese Notifizierungspflicht bezeichnete der EuGH als hinreichend bestimmt und unbedingt, sodass sie „von einzelnen vor den nationalen Gerichten herangezogen werden“ kann.620 Mit anderen Worten: Die Vorschriften über die Notifizierungspflicht sind unmittelbar wirksam, soweit aus der Notifizierungspflicht eine Pflicht zu einem Unterlassen folgt. Sodann schreitet der EuGH zu der Untersuchung der Rechtsfolgen des Verstoßes gegen die Notifizierungspflicht. Die Frage sei nämlich, ob die fehlende Notifizierung, die einen Verfahrensfehler beim Erlass der mitgliedstaatlichen Vorschrift darstelle, zu deren Unanwendbarkeit führe. Der Zweck der Notifizierungspflicht liege in dem vorbeugenden Schutz des freien Warenverkehrs. Dieser Zweck werde umso wirksamer erfüllt, wenn die Notifizierungspflicht dahingehend ausgelegt werde, dass es sich dabei um eine wesentliche Verfahrensvorschrift handele, deren Nichtbeachtung zur Unanwendbarkeit der fraglichen Vorschrift führe.621 Das Recht Einzelner, sich auf die fragliche unionsrechtliche Notifizierungsvorschrift zu berufen, hing deshalb noch davon ab, ob auch die gewünschte Rechtsfolge aus der Vorschrift abgeleitet werden konnte und stand demnach mit der Frage, ob Einzelne begünstigt werden sollten, nur insofern in Zusammenhang, als die Nichtanwendbarkeit nationaler Rechtsvorschriften die Rechtsfolge der fraglichen Vorschriften darstellte. Ein „subjektives Element“ war hingegen weder Voraussetzung der unmittelbaren Wirkung noch deren zwingende Folge. Etwas weniger eindeutig scheint die Entscheidung in der Sache Lemmens. Herr Lemmens war einem Strafverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr ausgesetzt, in dem als Beweismittel das Ergebnis eines Alkotestes verwendet werden sollte. Das verwendete Testgerät hatte nationalen technischen Normen zu entsprechen, die unter Verstoß gegen europarechtliche Vorschriften nicht der Kommission mitgeteilt worden waren. Es stelle sich nunmehr die Frage, ob die fragliche technische Vorschrift wegen Verstoßes gegen die Notifizierungsvorschriften unangewendet bleiben musste, was zur Folge gehabt hätte, dass das Ergebnis des Alkoholtestes nicht hätte verwertet werden können. Nach Maßgabe des Urteils in CIA Security hätte der EuGH hier zu dem Ergebnis kommen können, dass die technischen Vorschriften bezüglich der Alkoholtestgeräte tatsächlich unangewendet bleiben müssen, weil sie gegen Notifizierungspflichten verstießen, die eine präventive Kontrolle mit Kont619  EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201 Rn. 34 – CIA Security International ./. Signalson und Securitel. 620  EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201 Rn. 44 – CIA Security International ./. Signalson und Securitel. 621  EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201 Rn. 45 ff. – CIA Security International ./. Signalson und Securitel.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC237

roll- und Einwirkungsbefugnissen der Kommission und der Mitgliedstaaten vorsah. Der EuGH hat anders entschieden und Herrn Lemmens die Möglichkeit zur Berufung auf die fragliche Richtlinie versagt, unter anderem mit dem Argument, dass die unterlassene Mitteilung von technischen Vorschriften zwar einen Verfahrensverstoß darstellt und dass diese Vorschriften „nicht anwendbar sind, soweit sie die Verwendung oder den Vertrieb eines mit diesen Vorschriften nicht konformen Produkts behindern; aber diese Unterlassung hat nicht zur Folge, daß jede Verwendung eines Produkts rechtswidrig ist, das mit den nicht mitgeteilten Vorschriften konform ist.“622 Teilweise wurde daraus gefolgert, dass das Recht, sich auf eine Norm des Europarechts zu berufen, voraussetze, dass die Norm die Interessen des Einzelnen an der Unanwendbarkeit zu schützen bezweckt.623 Das Urteil in der Sache Lemmens lässt sich vielfältig interpretieren.624 Zum einen kann der EuGH dahingehend verstanden werden, dass der Bezug zum Unionsrecht in diesem Fall zu entfernt war, wenn es heißt: „In einem Strafverfahren wie im Ausgangsverfahren sind auf den Angeklagten zum einen die Vorschriften anzuwenden, die Trunkenheit am Steuer verbieten und unter Strafe stellen, zum anderen diejenigen, die einen Fahrer verpflichten, in ein Gerät zur Bestimmung des Alkoholgehalts zu blasen, wobei das Ergebnis dieser Untersuchung im Strafverfahren Beweis liefert. Diese Vorschriften sind andere als diejenigen, die dem Bürger nicht entgegengehalten werden können, weil sie der Kommission nicht gemäß der Richtlinie mitgeteilt wurden.“625 Der EuGH wollte möglicherweise nur die Reichweite der Nichtanwendungspflicht im Falle einer Normkollision abstecken.626 Darüber hinaus wäre auch anderenfalls der Entscheidung nicht zwingend zu entnehmen, dass es hier an der unmittelbaren Wirkung fehlte, sondern dass die unmittelbare Wirkung gerade nicht die von Herrn Lemmens intendierte Rechtsfolge zeitigte. Schließlich hatte der Fall nicht zum Gegenstand, dass sich ein Hersteller, Verkäufer oder Verwender von Alkoholmessgeräten, die nicht mit der fraglichen nationalen Vorschrift konform sind, gegen die fragliche nationale Vorschrift wendet. Zu weitgehend dürfte jedenfalls die Interpretation sein, dass der EuGH die Verleihung von Rechten als Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung betrachtet. Die Verleihung von Rechten kann vielmehr allenfalls eine der unmittelbaren Wirkung nachgelagerte Frage sein. Dafür spricht auch die Ent622  EuGH

Rs. C-226/97, Slg. 1998, I-3711 Rn. 35 – Lemmens. GA Fenelly, Rs. C-226/97, Slg. 1998, I-3711 S. 3720 ff. – Lemmens; Van Gerven, CMLRev 2000, S. 501 (508); Hilson/Downes, ELR 24 (1999), S. 121 (132). 624  Prechal, Directives in EC Law, S. 238; Streinz Jus 1999, S. 599 (600). 625  EuGH, Rs. C-226/97, Slg. 1998, I-3711 Rn. 34 – Lemmens. 626  Prechal, Directives in EC Law, S. 238 Fn. 157; zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts in Fällen indirekter Kollisionen Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1 (5). 623  Schlussanträge

238 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

scheidung des EuGH in der Sache Großkrotzenburg.627 Dabei handelte es sich um ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik, der vorgeworfen wurde, entgegen der UVP-Richtlinie628 das Kraftwerk Groß­ krotzenburg genehmigt zu haben, ohne eine vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung vorgenommen zu haben. Die Bundesrepublik hatte vorgetragen, dass unbedingte und hinreichend bestimmte Richtlinienvorschriften nur von Individuen vor den Gerichten geltend gemacht werden könnten, die Verpflichtungen daraus jedoch nicht Grundlage eines Vertragsverletzungsverfahrens sein könnten und die Klage deshalb unzulässig sei.629 Der Gerichtshof stellte fest, dass die Frage, ob die Richtlinie die von der Kommission behauptete Verpflichtung, eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen, nichts mit der Frage nach der Möglichkeit Einzelner, sich gegenüber dem Staat auf hinreichend genaue und unbedingte Vorschriften zu berufen, zu tun habe.630 Die Vorschrift zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung wurde vom EuGH als hinreichend genau und unbedingt eingestuft, sodass den Behörden631 der Bundesrepublik eine eindeutige Verpflichtung auferlegt wurde. Die Vorschrift der UVP-Richtlinie wirkt demnach unmittelbar. Aus der bisweilen wenig eindeutigen Rechtsprechung des EuGH ergibt sich nach dem hiesigen Verständnis, dass die subjektiv-rechtliche Qualität (allenfalls) Folge, nicht Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit ist.632 (6) Zusammenfassung Die unmittelbare Wirksamkeit einer Norm des Unionsrechts ist demnach ihre Eigenschaft, auf einen konkreten Sachverhalt angewendet werden zu können und zwar von Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten. Dafür muss sie eine eindeutige Berechtigung des Einzelnen oder eine Handlungsoder Unterlassenspflicht der Mitgliedstaaten begründen. Als Voraussetzung für die unmittelbare Wirkung muss eine Norm zwei Eigenschaften aufweisen: Sie muss hinreichend bestimmt und inhaltlich unbedingt in Bezug auf den konkreten Fall sein. Ein subjektives Element in Gestalt der Verleihung 627  EuGH,

Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 – Kommission ./. Deutschland. v. 27.6.1985, Abl. L Nr. 175 v. 5.7.1985, S. 40. 629  Schlussanträge GA Elmer, Rs. C-431/91, Slg. 1995, I-2189 – Kommision ./. Deutschland. 630  EuGH, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 Rn. 26 – Kommission ./. Deutschland. 631  Die Verpflichtung auch von Behörden hatte der EuGH bereits in der Rs. C-103/88, Slg. 1989, 1839 – Fratelli Costanzo ./. Commune di Milano entschieden. 632  Vgl. EuGH Verb. Rs. C-87/90 bis 89/90, Slg. 1991, I-3757 – Verholen u. a. ./. Sociale Verzekeringsbank Amsterdam; Schlussanträge GA Elmer, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 S. 2199 – Kommission ./. Deutschland. 628  85/337/EWG,



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC239

subjektiver Rechte oder der Begünstigung Einzelner ist keine Voraussetzung der unmittelbaren Wirkung, sondern allenfalls deren Folge. Diese Kriterien lassen sich auch auf die Grundsätze gem. Art. 52 Abs. 5 GRC anwenden: Um den konkreten Fall entscheiden zu können, muss der Grundsatz in Bezug darauf hinreichend bestimmt und unbedingt sein. Das hängt nicht nur von den konkreten inhaltlichen Fragen des Falles ab, sondern auch von der begehrten Rechtsfolge: Um eine konkrete Handlung einklagen zu können, bedarf es wegen der vielen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten zur Erfüllung der Ziele einer Norm besonders bestimmter Regelungen, anderenfalls ist die Norm entweder nicht inhaltlich bestimmt, oder aber inhaltlich bedingt, da dem Verpflichteten mehrere Erfüllungsvarianten offenstehen können, unter denen er eine Auswahl treffen kann. bb) Folge der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts Fraglich ist weiterhin, wie sich die Qualität einer Norm, unmittelbar wirksam zu sein, im nationalen Recht konkret äußert. (1) Einräumung subjektiver Rechte? In Van Gend & Loos formulierte der EuGH, dass sich die unmittelbare Wirkung darin äußere, dass „individuelle Rechte“ begründet werden, „welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben“.633 Besonders im deutschen Schrifttum wurde daraus gefolgert, dass die unmittelbare Wirkung sich darin äußere, dass dem Einzelnen ein subjektiv-öffentliches Recht eingeräumt werde.634 Während seit langem anerkannt ist, dass das Primärrecht sowie Verordnungen und Beschlüsse Einzelnen auch unmittelbar Pflichten auferlegen können,635 geht es bei der Frage nach der Einräumung subjektiver Rechte durch das unmittelbar wirksame Unionsrecht darum, ob der Einzelne die Einhaltung des unmittelbar wirksamen Rechts gerichtlich erzwingen kann, ob also der in Frage stehende Rechtssatz in diesem Sinne subjektiviert ist. Bei der Frage, ob unmittelbar anwendbare Normen des Europarechts dem Einzelnen subjektive Rechte einräumen, ist zunächst zu unterscheiden auf welcher Ebene diese Rechte eingeräumt werden: Ob es sich um „europa633  EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 – Van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen. 634  Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, S. 47; Jarass, NJW 1990, S. 2420 (2422 ff.); a. A. Classen, VerwArch 88 (1997), S. 645 (659). 635  EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455 – Defrenne ./. SABENA.

240 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

rechtliche“ subjektive Rechte handelt, oder ob der europarechtlichen Norm in diesen Fällen ein subjektives Recht nach dem deutschen öffentlichen Recht zu entnehmen ist. Während die erste Frage darauf zielt, ob das Europarecht eine dogmatische Figur subjektiver Rechte kennt, zielt die zweite Frage aus europarechtlicher Sicht nur darauf ab, wie die Rechtspositionen des Europarechts im nationalen Recht geschützt werden: Der Vollzug des Europarechts durch die Mitgliedstaaten folgt dem Prinzip der nationalen Verfahrensautonomie.636 Diese ist nach der Rechtsprechung des EuGH durch das Äquivalenzgebot, wonach die anzuwendenden nationalen Verfahrensvorschriften Sachverhalte mit unionsrechtlichem Bezug nicht ungünstiger behandeln dürfen als nationale Sachverhalte und durch das Effizienzgebot, wonach die nationalen Verfahrensvorschriften die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen, eingeschränkt.637 Eine Theorie subjektiver Berechtigung im Europarecht wäre nur dann entbehrlich, wenn das Unionsrecht einen allgemeinen Vollziehungsanspruch des Einzelnen kennte, mithin die Einhaltung jedweden Unionsrechts grundsätzlich von jedermann eingeklagt werden könnte. Obwohl der Einklagbarkeit des Unionsrechts durch den Einzelnen auch eine dezentrale Kontrollfunktion hinsichtlich des Vollzugs des Unionsrechts zukommt und der Einzelne in diesem Sinne zur Durchsetzung des Unionsrechts im Interesse des effet utile „mobilisiert“ wird,638 besteht ein solcher allgemeiner Normvollziehungsanspruch nicht.639 Dass auch das Europarecht Kriterien braucht, um Rechtspositionen einzelnen Individuen zuzuordnen, findet bereits in Art. 47 Abs. 1 GRC seinen Niederschlag, der nur denjenigen einen Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf einräumt, „deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind“.640 Im Bereich der Haftung ist ebenfalls Voraussetzung, dass die verletzte Norm Einzelnen Rechte

636  Vgl. EuGH, Rs. C-88/99, Slg. 2000, I-10465 Rn. 20 m. w. N. – Roquette Frères; Rs. C-201/02, Slg. 2004 I-723, Rn. 65 – Delena Wells. 637  EuGH, Rs. C-231/96, Slg. 1998, I-4951 Rn. 19 – Edilizia Industriale Siderurgica ./. Ministero delle Finanze; Rs. C-188/95, Slg. 1997, I-6783 Rn. 39 – Fantask u. a. ./. Industriministeriet. 638  Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts; Masing, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, § 7 Rn. 91 ff.; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 515 f. 639  Allg. M., BVerwGE 128, 358 (367); Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, S. 41 f.; Ruffert, DVBl 1998, S. 69 (73); SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 Rn. 152. 640  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 47 Rn. 7; Blanke, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 47 EU-GRCharta Rn. 6.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC241

verleiht.641 Relevant ist diese Zuordnung indes allein für die gerichtliche Durchsetzbarkeit des Unionsrechts, für die Frage, ob sich der Einzelne vor Gericht auf die fragliche Unionsrechtsnorm berufen kann.642 Es handelt sich deshalb um eine prozessuale Frage.643 Ob das nationalstaatliche Recht die Einklagbarkeit europäischen Rechts vor den nationalen Gerichten zulässt, richtet sich gemäß dem Grundsatz der nationalen Verfahrensautonomie grundsätzlich nach dem Recht der Mitgliedstaaten und ist deshalb eine Fragestellung, die sich primär nach dem nationalen Recht unter Beachtung des Äquivalenz- und des Effektivitätsgebots richtet.644 Nach welchen Kriterien der EuGH Rechtspositionen Einzelnen zuordnet, sodass sie ihnen „Rechte“ verleihen (und vor den Gerichten eingefordert werden können), ist nicht abschließend geklärt.645 Einigkeit besteht dahingehend, dass das Europarecht jedenfalls nicht der deutschen Schutznormtheorie folgt, sondern bei der Einräumung klagefähiger Rechtspositionen großzügiger ist, als es bei einer Beurteilung nach der deutschen Konzeption der Fall wäre.646 Die Entstehung eines subjektiven Rechts kann z. B. wegen der Architektur des Unionsrechts ausgeschlossen sein, wenn es sich bei der fraglichen Norm um eine Richtlinienbestimmung handelt und anderenfalls einem anderen Privaten Pflichten auferlegt würden.647 Dass die Rechte der Grundrechtecharta prinzipiell einklagbar sind und in diesem Sinne subjektive Rechte verleihen, ist selbstverständlich.648 Deshalb kann die weitere Frage, ob aus der unmittelbaren Wirkung einer Norm stets ein subjektives Recht des Einzelnen folgt, hier dahinstehen.

641  Für die Haftung der Union gem. Art. 340 Abs. 2 AEUV Ruffert, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 340 Rn. 18 m. w. N. 642  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 71, 75 ff.; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 250. 643  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 252. 644  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 246. 645  Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 37 Rn. 17. 646  Eindrücklich die divergierenden Auffassungen deutscher Gerichte und des EuGH zum Umweltrecht, VGH München, NVwZ 1991, 490 (491); BVerwGE 100, 238 (243); VGH Mannheim, DÖV 1994, 527 (527 f.) einerseits und EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 Rn. 61 – Wells andererseits. 647  Vgl. nur C-152/84 – Marshall I, Rn. 48; C-91/92 – Faccini Dori, Rn. 20; C-456/98, Rn. 15 – Centrosteel. 648  Allg. M., vgl. nur Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Einl. Rn. 51 f. m. w. N.

242 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

(2) „Substitution effect“ und „exclusionary effect“ Hinsichtlich der Art und Weise der unmittelbaren Wirkung wird gelegentlich zwischen zwei Wirkdimensionen unterschieden. Zum einen könnten unmittelbar wirksame Normen als ein „Schwert“ verwendet werden, sie hätten dann einen „substitution effect“, bzw. es handele sich im Sinne des französischen Verwaltungsrechts bei ihrer Geltendmachung um eine „invocablité de substitution“. Zum anderen könnten unmittelbar wirksame Normen als ein „Schild“ gegen konfligierende nationale Rechtsnormen verwendet werden. Weil dem Unionsrecht entgegenstehende Norm unangewendet bleiben müssen, hat die unmittelbare Wirkung in diesen Fällen einen „exclusionary effect“, im französischen Sprachgebrauch eine Anwendung im Sinne einer „invocabilité d’exclusion“.649 Während der „substitution effect“ bedeutet, dass die europarechtliche Rechtsnorm eine (nicht vorhandene) nationale Rechtsnorm ersetzt,650 wird unter dem „exclusionary effect“ verstanden, dass eine Normkollision zwischen der europarechtlichen Norm und einer nationalen Norm besteht und letztere deshalb unangewendet bleiben muss.651 Die europarechtliche Norm fungiert dabei nicht als Anspruchsgrundlage, sondern als Maßstabsnorm zur Kontrolle der Europarechtskonformität nationalen Rechts.652 Eine derartige Wirkung scheint Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC den Grundsätzen zuzumessen. Teilweise wird diese Wirkung als eigene, von der unmittelbaren Wirkung unterschiedliche Kategorie angesehen.653 Sollte diese Auffassung zutreffen, ließe sich die Wirkung der Grundsätze gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC an649  Zur Unterscheidung der beiden Wirkungsweisen vgl. Timmermanns, CMLRev 1979, S. 533 (534); Bobek, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 147; Craig/de Búrca, EU Law, S. 219 f.; de Witte, in: Craig/de Búrca, The Evolution of EU Law, S. 331; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 191; Hilson/Downes, ELR 1999, S. 121 (125); alternativ ist auch von positiver und negativer Wirkung die Rede, oder von der Wirkung als Anspruchsgrundlagen und Abwehrrechte, vgl. dazu auch Schlussanträge GA Kokott, Rs. C-127/02, Rn. 140; Slg. 2004 I-7409 (7442). 650  Prechal, Directives in EC Law, S. 234. 651  Bobek, in: Barnard/Peers, European Union Law, S. 147; Craig/de Búrca, EU Law, S. 219; Prechal, Directives in EC Law, S. 234. 652  Prechal, Directives in EC Law, S. 234 f. 653  Figueroa Regueiro, Invocability of Substitution and Invocability of Exclusion: Bringing Legal realism to the Current Developments of the Case-Law of „Horizontal“ Direct Effect of Directive, Jean Monnet Working Paper 7/92, S. 28; Winter, Direktwirkung von EG Richtlinien, DVBl. 1991, S. 657 (657, 659 f.); vgl. auch die Schlussanträge von GA Léger, Rs. C-287/98, Rn. 57, Slg. 2000 I, S. 6920 – Linster.; Bach, JZ 1990, S. 1108 (1111 f.); Langenfeld, DÖV 1992, S. 955 (962 ff.); a.  A. Prechal, Directives in EC Law, S. 237 m. w. N.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/ AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 72; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 191 ff.; Jarass/Beljin, EuR 2004, S. 714 (717 f.).



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC243

hand des exclusionary effect analysieren und es bedürfte keines weiteren Rückgriffes auf die Figur der unmittelbaren Wirkung. Dieser Auffassung liegt die Rechtsprechung des EuGH zugrunde, wonach unionsrechtliche Vorschriften auch dann als Maßstab für die Prüfung nationalen Rechts dienen können, wenn sie den Mitgliedstaaten ein Ermessen einräumen, und zwar im Hinblick auf die Überschreitung der Grenzen dieses Ermessens.654 Daraus wird gefolgert, dass es neben der unmittelbaren Wirkung, die in diesen Fällen an der mangelnden Bestimmtheit der Norm wegen des Ermessens der Mitgliedstaaten scheitere, noch eine weitere Kategorie der Maßstabswirkung gebe.655 Während zuzugestehen ist, dass es sich bei dem „substitution effect“ und dem „exclusionary effect“ um zwei verschiedene Dimensionen der Anwendbarkeit von Unionsrecht handelt, lassen sich beide Wirkungsweisen des Unionsrechts doch mit der Figur der unmittelbaren Wirkung erklären. Zunächst ist festzustellen, dass die Nichtanwendung nationaler Regelungen eine klassische Folge der unmittelbaren Wirkung ist.656 Wenn das Unionsrecht eine Unterlassenspflicht statuiert, gegen die ein Mitgliedstaat durch Rechtsetzung verstoßen hat, ist die selbstverständliche Folge, dass wegen des Vorrangs des Unionsrechts das nationale Recht unangewendet bleiben muss. Aus der Sicht der unmittelbaren Wirkung ist lediglich von Belang, dass die betreffliche Unterlassenspflicht aus der unionsrechtlichen Norm hervorgeht, diese also hinreichend bestimmt und unbedingt sein muss. Die Anforderungen an die Bestimmtheit einer Norm können für den „exclusionary effect“ geringer sein als für den „substitution effect“, weil eindeutig sein kann, dass eine Menge an Maßnahmen gegen die Vorschrift verstößt, ohne dass der Norm zu entnehmen sein muss, welche Handlung der Mitgliedstaat aus einer Menge rechtmäßiger Handlungen wählen muss.657 Dass den Mitgliedstaaten bisweilen ein Ermessen eingeräumt ist, schließt die unmittelbare Anwendbarkeit deshalb nicht zwingend aus. Für die Fälle, in denen den Mitgliedstaaten ein Ermessen eingeräumt wird, ist in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt, dass die Gerichte kontrollieren müssen, ob die Mitgliedstaaten dieses Ermessen nicht überschritten haben. Sofern eine Norm den Mitgliedstaaten ein Ermessen einräumt, muss demnach die hinreichende Bestimmtheit der Norm im Hinblick darauf geprüft werden, ob sich eine Grenze dieses Ermessens feststellen lässt. Es ist 654  Vgl. EuGH Rs. C-435/97, Slg. 1999, I-5613 Rn. 69 f. – WWF u. a.; C-287/98, Slg. 2000, I-6917, Rn. 32 – Linster; C-72/95, Slg. 1996, I-5403, Rn. 56 – Kraijeveld u. a. 655  So Bach, JZ 1990, S. 1108 (1111 ff.); Langenfeld, DÖV 1992, S. 955 (962 ff.). 656  s. bereits EuGH Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 S. 27 – Van Gend & Loos ./. Administratie der Belastingen. 657  Jarass/Beljin, EuR 2004, S. 714 (724 f.).

244 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

nicht von vornherein ausgeschlossen, dass den Mitgliedstaaten innerhalb des Ermessens mehrere Handlungsoptionen verbleiben, sich für einige Handlungsoptionen aber definitiv entscheiden lässt, dass sie außerhalb des Ermessens liegen. Weiterhin kann durch die Gerichte unter Umständen eine Negativkontrolle im Hinblick auf Ermessensfehler durchgeführt werden. Die Bestimmtheit einer Norm ist stets mit Blick auf die konkrete Rechtsfolge zu untersuchen. Wenn eine Norm bestimmt genug ist, um für einen konkreten Fall die Anwendung einer nationalstaatlichen Norm auszuschließen, ist sie in diesem Sinne unmittelbar wirksam, denn die unmittelbare Wirksamkeit bedeutet, dass die Norm überhaupt zur Lösung des Rechtsstreits herangezogen werden kann. Ohne unmittelbare Wirkung in diesem Sinne kann es deshalb gar nicht zu einer Kollision zwischen Unionsrecht und nationalem Recht kommen und die Frage nach der Maßstabswirkung oder dem „exclusionary effect“ der Norm stellt sich nicht.658 Zudem kann die konkrete Dimension der unmittelbaren Wirkung von der nationalstaatlichen Regelungstechnik abhängen.659 Als Beispiel ist zu nennen, dass nationale Normen etwas gestatten oder Vergünstigungen gewähren, für gewisse Fälle oder Personengruppen aber Ausnahmen bestehen. Wenn diese Ausnahmen unionsrechtswidrig sind, lässt sich der Unionsrechtswidrigkeit durch Nichtanwendung der Ausnahmen abhelfen. In diesem Fall liegt nämlich genau eine bestimmte Verpflichtung vor. Das kann anders sein, wenn die Handlungspflicht nicht durch nationales Recht umgesetzt ist. Dann kann der Fall eintreten, dass dem Mitgliedstaat mehre Möglichkeiten offenstehen, wie er seiner Pflicht nachkommen möchte. In diesem Fall kann das Gericht die unionsrechtliche Norm möglicherweise nicht unmittelbar anwenden, da die Norm nicht unbedingt ist.660 Der „exclusionary effect“ geht demnach in der Figur der unmittelbaren Wirkung auf und ist lediglich eine ihrer Wirkdimensionen.661 Die Wirkung der Grundsätze gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC kann demnach diejenige der unmittelbaren Wirkung sein.

658  Dem steht nicht entgegen, dass die verschiedenen Dimensionen der unmittelbaren Wirkung begrifflich unterschieden werden, da sie insbesondere im Hinblick auf die unmittelbare Wirkung von Richtlinien die Beurteilung erleichtern können, ob die unmittelbare Wirkung zu einer Verpflichtung Privater führen und damit unzulässig sein könnte, vgl. dazu Jarass/Beljin, EuR 2004, S. 714 (724 ff.). 659  de Witte, in: Craig/de Búrca, The Evolution of EU Law, S. 331. 660  Prechal, CMLRev 2000, S. 1047 (1062). 661  Prechal, Directives in EC-Law, S. 237; de Witte, in: Craig/de Búrca, The Evolution of EU Law, S. 331; Craig/de Búrca, EU Law, S. 219 f.; Jarass/Beljin, EuR 2004, S. 714 (717 f.); Schlussanträge GA Kokott, Rs. C-127/02, Rn. 140 f., Slg. 2004, I-7409; in diesem Sinne auch v. Danwitz, JZ 2007, S. 697 (703).



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC245

(3) Unionsrechtskonforme Auslegung Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC trifft eine weitere Aussage über die Wirkungsweise der Grundsätze. Sie können bei der Auslegung der Umsetzungsakte herangezogen werden. Damit beschreibt Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC ebenfalls eine allgemeine Wirkung des Unionsrechts und ist dementsprechend insofern rein deklaratorisch. Dass das abgeleitete Unionsrecht primärrechtskonform ausgelegt werden muss, folgt als allgemeine Auslegungsregel aus der gestuften Struktur des Unionsrechts und dem Grundsatz der Einheit der Unionsrechtsordnung.662 Das Unionsrecht verlangt überdies allgemein, dass auch das nationale Recht unionsrechtskonform ausgelegt werden muss,663 wenn der Anwendungsbereich des Unionsrechts betroffen ist,664 mehrere Auslegungsmöglichkeiten bestehen und eine oder mehrere von ihnen unionsrechtswidrig sind. Während anerkannt ist, dass das nationale Recht auch dann richtlinienkonform auszulegen ist, wenn die fragliche Richtlinienbestimmung keine unmittelbare Wirksamkeit entfaltet, halten einige Autoren die Pflicht zur primärrechtskonformen Auslegung für auf unmittelbar wirksame Normen des Primärrechts beschränkt.665 Ein Anhaltspunkt für diese Auffassung bietet die Rechtsprechung des EuGH, die vornehmlich die Konformauslegung mit unmittelbar wirksamem Primärrecht betrifft.666 Eine Beschränkung der Konformauslegung auf unmittelbar wirksames Primärrecht ist jedoch nicht zwingend. Eine genauere Untersuchung der Frage ergibt vielmehr, dass auch im konkreten Fall nach der hier vertretenen Auffassung nicht unmittelbar anwendbares Primärrecht Maßstab einer unionsrechtkonformen Auslegung sein kann und die Gerichte demnach verpflichtet sind, das nationale Recht dementsprechend unionsrechtskonform auszulegen.667 Ein Argument dafür findet 662  EuGH, C-283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 20 – CILFIT ./. Ministero della Sanità.; Leible/Domröse, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre, § 8 Rn. 7, 20  ff. (Grundsatz der Einheit der Unionsrechtsordnung); Martens, Methodenlehre des Unionsrechts, S. 442. 663  Erstmals EuGH, C-157/86, Slg. 1988, 673 – Murphy ./. An Bord Telecom Eireann; EuGH, verb. Rs. C-270/97 und 271/97, Slg. 2000, I-929 – Sievers; EuGH C-264/96, Slg. 1998, I-4695 – Imperial Chemical Industries ./. Colmer. 664  Leible//Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 8 Rn.  42 f. 665  Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, S. 81; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, S. 450; Bd. II, S. 144. 666  Z. B. EuGH, C-157/86, Slg. 1988, 673 – Murphy; EuGH, verb. Rs. C-270/97 und 271/97, Slg. 2000, I-929 – Sievers; EuGH C-264/96, Slg. 1998, I-4695 – Imperial Chemical Industries ./. Colmer. 667  In diesem Sinne auch Jarass/Beljin, JZ 2003, S. 768 (774); Bobek, in: Barnard/ Peers (Hrsg.), European Union Law, S. 154; Hartley, The Foundations of European

246 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

sich bereits in der Rechtsprechung des EuGH selbst, der mehrfach entschieden hat, dass auch Empfehlungen, die mangels rechtlicher Verbindlichkeit auch nicht unmittelbar anwendbar sein können, dennoch unter Umständen zur Auslegung des nationalen Rechts herangezogen werden müssen.668 Zudem scheint die Begrenzung der Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung auf unmittelbar wirksames Primärrecht durch die Vertreter dieser Auffassung darauf zu beruhen, dass der normative Ansatz der unionsrechtskonformen Auslegung im Anwendungsvorrang des Unionsrechts gesehen wird.669 Verstößt eine Norm gegen Unionsrecht, muss sie unangewendet bleiben. Die unionsrechtliche Norm hätte in diesem Fall nach der auch hier vertretenen Konzeption der unmittelbaren Anwendbarkeit unmittelbare Wirkung, da sie dazu führt, dass ein nationales Gericht einen unionsrechtswidrigen Rechtssatz unangewendet lässt. Allerdings impliziert diese Auffassung, dass nationales Recht (oder auch abgeleitetes Unionsrecht) nur dann mit dem Unionsrecht in Konflikt geraten kann, wenn letzteres unmittelbar wirkt.670 Das ist indes nicht der Fall. Es ist zwar möglich, dass ein nicht unmittelbar wirksamer unionaler Rechtssatz zu unbestimmt ist, um inhaltlich zu einem Konflikt mit dem nationalen Recht führen zu können, zwingend ist diese Konstellation im Falle fehlender unmittelbarer Wirkung jedoch nicht. Die fehlende unmittelbare Wirkung kann ihren Grund auch in der inhaltlichen Bedingtheit der Norm haben. So kann es z. B. dem nationalen Gesetzgeber überlassen sein, auf welche Art er einen Anspruch gewährt oder wer der Anspruchsgegner ist. Zwar komplettiert das umsetzende Recht dann den europäischen Rechtssatz („norme imparfaite“), diese Umsetzung kann dennoch inhaltlich hinter den Anforderungen der Norm zurückbleiben. Ersichtlich hilft der Anwendungsvorrang in derartigen Fällen nicht weiter, da die unionsrechtliche Norm mangels unmittelbarer Wirkung nicht vorrangig angewendet werden kann, sondern lediglich eine unionsrechtskonforme Auslegung des Umsetzungsrechtsaktes den „Konflikt“ löst. Deshalb vermittelt in diesem Fall nicht der Vorrang des Unionsrechts die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung,

Union Law, S. 235; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 202. 668  EuGH, C-322/88, Slg. 1989, 4407 Rn. 18 – Grimaldi ./. Fonds des maladies professionnelles; EuGH, verb. Rs. C-317/08 bis 320/08, Slg. 2010, I-2213 Rn. 40 – Alassini u. a.; EuGH, C-207/01, Slg. 2003, I-8875 Rn. 41 ff. – Altair Chimica; kritisch dazu Krieger, Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des deutschen Rechts, S. 197. 669  Leible/Domröse, in: Riesenhuber, Europäische Methodenlehre: § 8 Rn. 48 ff. 670  In diesem Sinne wohl Leible/Domröse, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, § 8 Rn. 48 ff.; Gänswein, Der Grundsatz unionsrechtskonformer Auslegung nationalen Rechts, S. 89 f.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC247

sondern die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten.671 Was für die richtlinienkonforme Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts gilt, ist deshalb auf die primärrechtskonforme Auslegung zu übertragen. Auch der EuGH leitet deshalb richtigerweise672 die Pflicht der Mitgliedstaaten zur primärrechtskonformen Auslegung aus der Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV ab.673 Demnach ist das nationale Recht auch konform im Hinblick auf nicht unmittelbar wirksame Normen des Unionsrechts auszulegen, wobei die fragliche Norm des Primärrechts selbstverständlich immerhin so bestimmt sein muss, dass sich ihr überhaupt zwingende Vorgaben entnehmen lassen. Art. 52 Abs. 5 GRC trifft deshalb keine Aussage über die unmittelbare Wirkung der Grundsätze, wenn er die Möglichkeit der grundsatzkonformen Auslegung betont. (4) Besonderheiten bei der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien Einen praktisch besonders wirksamen Anwendungsfall der unmittelbaren Wirkung stellt die unmittelbare Wirkung nicht oder nicht richtig umgesetzter Richtlinien dar. Wegen der Umsetzungsbedürftigkeit der Richtlinie (Art. 288 Abs. 2 a. E. AEUV) und der Bindung nur der Mitgliedstaaten (Art. 288 Abs. 2 AEUV) besteht strukturell eine Ähnlichkeit mit den Grundsätzen, die ebenfalls umsetzungsbedürftig sind (Art. 52 Abs. 5 GRC) und (jedenfalls unmittelbar) nur die Mitgliedstaaten binden (Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC). Auch wegen erheblicher Umsetzungsdefizite seitens der Mitgliedstaaten ist es seit Langem ständige Rechtsprechung des EuGH, dass Richtlinienbestimmungen unmittelbar wirksam sein können, wenn die Umsetzungsfrist abgelaufen ist und die fragliche Richtlinienbestimmung hinreichend genau und inhaltlich unbedingt ist.674 Zur Begründung führt der EuGH mehrere Argumente ins Feld: Zunächst folge aus der Tatsache, dass Verordnungen gem. Art. 288 Abs. 1 AEUV unmittelbar gelten und ihnen schon aufgrund ihrer Rechtsnatur unmittelbare Wirkungen zukomme können nicht, dass der Richtlinie nicht ebenfalls ähnliche Rechtswirkungen zukommen könnten.675 Zudem folge aus der verbindlichen Wirkung der Richtlinien gem. Art. 288 671  I. E. zwar gleichsinnig Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1 (2 ff.), die aber von einem Vorrang im weiteren Sinne ausgehen; vgl. auch Beljin, EuR 2002, S. 351 (355, 358 f.). 672  v. Bogdandy/Schill, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 4 EUV Rn. 99. 673  Vgl. EuGH, Rs. C-165/91, Slg. 1994, I-4661 Rn. 32 – van Munster ./. Rijksdienst voor Pensioenen; Rs. C-262/97, Slg. 2000, I-7321 Rn. 38 ff. – Engelbrecht. 674  Vgl. nur EuGH, Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 – van Duyn ./. Home Office; Rs. C-8/81, Slg 1982, 53 – Becker. 675  EuGH, Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 Rn. 12 – Van Duyn ./. Home Office.

248 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Abs. 2 AEUV, dass betroffene Personen sich auf die den Staaten in der Richtlinie auferlegten Verpflichtungen berufen könnten.676 Der effet utile der Richtlinie gebiete, dass sie auch vor den Gerichten geltend gemacht werden könne.677 Die Möglichkeit des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV setze überdies voraus, dass Einzelne sich vor den nationalen Gerichten auf Richtlinien berufen könnten.678 Der EuGH weist ebenfalls darauf hin, dass säumige Mitgliedstaaten nicht dadurch Früchte aus ihrer Rechtsverletzung ziehen dürften, dass sie sich Einzelnen gegenüber auf ihre Säumigkeit berufen könnten.679 Das Schrifttum fügt dem hinzu, dass die unmittelbare Wirkung von Richtlinien „ein Instrument dezentraler Kontrolle“680 der Mitgliedstaaten sei und insofern die Mitgliedstaaten für ihre Säumigkeit bei der Umsetzung von Richtlinien sanktioniere.681 Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ist nach der Rechtsprechung des EuGH in einem wichtigen Punkt begrenzt: So könnten Richtlinienbestimmungen Private nicht unmittelbar verpflichten, was daraus folge, dass die Richtlinie – im Gegensatz zur Verordnung – nur für die Mitgliedstaaten verbindlich sei, nicht jedoch für deren Bürger.682 In diesen Fällen verlangt der EuGH jedoch eine richtlinienkon676  EuGH,

Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 Rn. 12 – Van Duyn ./. Home Office. Rs. C-41/74, Slg. 1974, 1337 Rn. 12 – Van Duyn ./. Home Office; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 288 Rn. 141. 678  Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 288 Rn. 141. 679  Erstmals EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629 Rn. 22 – Ratti; vgl. ferner Rs. C-8/81, Slg. 1982, 53 Rn. 24 – Becker; Rs. C-70/83, Slg. 1984, 1075 Rn. 3 – Kloppenburg ./. Finanzamt Leer; Rs. C-152/84, Slg. 1986, 723 Rn. 47 – Marshall ./. Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority; Rs. C-71/85, Slg. 1986, 3855 Rn. 14 – Niederlande ./. Federatie Nederlandse Vakbeweging; Rs. C-286/85, Slg. 1987, 1453 Rn. 12 – McDermott und Cotter ./. Minister for Social Welfare und Attorney-General; Rs. C-80/86, Slg. 1987, 3969 Rn. 8 – Kolpinghuis Nijmegen; Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313 Rn. 16 – Foster u. a. ./. British Gas; Rs. C-221/88, Slg. 1990, I-495 Rn. 22 – CECA ./. Busseni; Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 Rn. 23 f. – Paola Faccini Dori ./. Recreb. Zur Kritik an der Eigenständigkeit dieses Begründungsansatzes Prechal, Directives in EC-Law, S. 226; kritisch auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 288 AEUV Rn. 141. 680  Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 50. 681  Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, S. 43. 682  Vgl. nur EuGH Rs. C-152/84, Slg. 1986, 723 Rn. 48 – Marshall ./. Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority; Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 Rn. 20 – Paola Faccini Dori ./. Recreb; Rs. C-80/86, Slg. 1987, 3969 Rn. 9 f. – Kolpinghuis Nijmegen; Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-5705 Rn. 37 – Arcaro; verb. Rs. 372/85 bis 374/85, Slg. 1987, 2141 Rn. 24 – Traen; Rs. C-14/86, Slg. 1987, 2545 Rn. 19 – Pretore di Salò ./. X; Rs. C-221/88, Slg. 1990, I-495 Rn. 23 – CECA/Busseni; Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 Rn. 6 – Marleasing ./. Comercial Internacional de Alimentación; Rs. C-168/95, Slg. 1996, I-4705 Rn. 36 ff. – Arcaro; Rs. C-97/96, 677  EuGH,



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC249

forme Auslegung des gesamten nationalen Rechts, auch wenn es vor Erlass der Richtlinie oder nicht explizit zu deren Umsetzung erlassen wurde, soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie, um die von ihr verfolgten Ziele zu erreichen.683 Ihre normative Grundlage findet das Gebot richtlinienkonformer Auslegung nach Auffassung des EuGH und ihm folgend des größten Teils des Schrifttums in der Umsetzungspflicht aus Art. 288 Abs. 3 AEUV, Art. 4 Abs. 3 EUV.684 Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung schließt die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nach deutschem Verständnis ein.685 Nicht ausgeschlossen ist, dass durch die richtlinienkonforme Auslegung Private faktisch einen Nachteil erleiden.686 Die gleichen Einschränkungen werden auch bei der grundsatzkonformen Auslegung zu gelten haben, damit nicht entgegen Art. 52 Abs. 5 GRC unmittelbar einklagbare Ansprüche aus den Grundsätzen abgeleitet werden. c) Normativer Gehalt des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC: Die Anordnung eingeschränkter Justiziabilität der Grundsätze Die vorangegangenen Ausführungen zur unmittelbaren Wirkung scheinen die These zu stützen, dass Art. 52 Abs. 5 GRC lediglich deklaratorisch die begrenzte unmittelbare Wirkung der Grundsätze beschreibt. Die Umsetzung der Grundsätze kann vor den nationalen Gerichten nicht eingeklagt werden, Slg. 1997, I-6843 Rn. 24 – Verband deutscher Daihatsu-Händler ./. Daihatsu Deutschland; Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 Rn. 56 – Delena Wells. Die Abgrenzung, insbesondere zu faktisch belastenden Wirkungen von Richtlinien ist im Einzelnen str., vgl. dazu Herrmann, Richtlinienumsetzung durch die Rechtsprechung, S. 61 ff., Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 288 AEUV Rn.  157 ff. 683  EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 Rn. 8 – Marleasing ./. Comercial Internacional de Alimentación; Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26 – Faccini Dori ./. Recreb; EuGH, Rs. C-14/83, Slg. 1984, 1891 Rn. 26 (von Colson und Kamann Land Nordrhein-Westfalen; Rs. C-79/83, Slg. 1984, 1921 Rn. 26 – Harz ./. Deutsche Tradax; Rs. C-80/86, Slg. 1987, 3969 Rn. 12 – Kolpinghuis Nijmegen; Rs. C-31/87, Slg. 1988, 4635 Rn. 39 – Beentjes ./. Niederländischer Staat. 684  EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 Rn. 15 – von Colson und Kamann ./. Land Nordrhein-Westfalen; Rs. C-79/83, Slg. 1984, 1921 Rn. 15 – Harz ./. Deutsche Tradax; Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 Rn. 53 – Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary; Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 Rn. 26 – Faccini Dori ./. Recreb; Rs. 80/86, Slg. 1987, 3969 Rn. 12 – Kolpinghuis Nijmegen; Rs. 31/87, Slg. 1988, 4635 Rn. 39 – Beentjes; Rs. 125/88, Slg. 1989, 3533 Rn. 6 – Nijman; Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8 – Marleasing ./. Comercial Internacional de Alimentación; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 78. 685  BGHZ 179, 27, (34 f.); EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 Rn. 110 – Adeneler u. a., dazu Auer, NJW 2007, S. 1106 (1108). 686  EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 Rn. 57 – Delena Wells.

250 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

weil die Grundsätze nicht hinreichend bestimmt oder nicht inhaltlich unbedingt sind. Umsetzungsakte sind jedoch grundsatzkonform auszulegen. Nur bei der Rechtmäßigkeitskontrolle von Umsetzungsakten können die Grundsätze unmittelbar wirken und unter Umständen eine Maßstabswirkung entfalten. Erschöpfte sich der Regelungsgehalt des Art. 52 Abs. 5 GRC darin, wäre eine Theorie der Abgrenzung von Grundsätzen und Grundrechten entbehrlich.687 Normen der Grundrechtecharta, die inhaltlich nicht hinreichend bestimmt oder unbedingt sind, können nicht unmittelbar wirken. Das folgt bereits daraus, dass sich dem Normprogramm die Rechtsfolgen der unmittelbaren Wirkung nicht entnehmen lassen. Diese Sichtweise reduziert die Wirkung der Grundsätze vor Gericht auf die Anwendungsfälle der unmittelbaren Wirkung und impliziert, dass bereits aufgrund der Normstruktur der Grundsätze ihre Wirkung vor Gericht auf die in Art. 52 Abs. 5 GRC beschriebenen Dimensionen beschränkt ist. Damit wird übersehen, dass die unmittelbare Wirkung von Normen die Anwendung von Normen des Europarechts vor den nationalen Gerichten zugunsten der Entscheidung eines konkreten Falles betrifft. Die mögliche Wirkung der Grundsätze ist indes nicht auf diese Konstellationen beschränkt.688 Erstens muss es sich bei dem Gericht im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC nicht um ein mitgliedstaatliches Gericht handeln. Ebenso gut kann ein Verfahren vor den europäischen Gerichten in Frage stehen. Zweitens ist es nicht zwingend, dass das Ziel eines gerichtlichen Verfahrens die Verurteilung zu einer bestimmten Maßnahme ist. Das Ziel kann auch die Feststellung einer Rechtsverletzung sein. Die Grundsätze statuieren, wie bereits geprüft, eine Umsetzungspflicht der Union und der Mitgliedstaaten. Ihre Verletzung lässt sich vor Gericht unproblematisch feststellen, wenn die Union oder die Mitgliedstaaten nicht tätig geworden sind. Ebenso ist die Feststellung denkbar, dass die Union oder die Mitgliedstaaten nicht hinreichend tätig geworden sind, sofern sich einem Grundsatz ein Mindestniveau der Umsetzung oder jedenfalls ein evidentes Unterschreiten der Umsetzungspflicht durch die Union oder die Mitgliedstaaten entnehmen lässt. Drittens werden durch das Abstellen auf die prozessuale Durchsetzbarkeit der Feststellung von Grundsatzverletzungen zwei Ebenen vermengt: Die Rechtsnatur der Grundsätze und ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit. Entweder gibt Art. 52 Abs. 5 GRC nur die allgemeinen Einschränkungen der Justiziabilität von gewissen Rechtsnormtypen wieder, oder er bekräftigt die 687  So vorsichtig Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 52 Rn. 52.189. 688  A. A. Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 136, 147 f., 267 ff.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC251

eingeschränkte gerichtliche Durchsetzbarkeit des Normtyps der Grundsätze aufgrund der Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems der Union oder der Mitgliedstaaten. Im ersten Fall hätte Art. 52 Abs. 5 GRC keine Regelungswirkung. Dass Normen nur soweit justiziabel sind, wie sie ihrem Inhalt nach bestimmt sind, beschreibt die inhaltliche Grenze der Justiziabilität. In diesem Sinne wären alle Grundrechte ebenfalls Grundsätze, sofern ihre Leistungsdimension betroffen ist, sich aber keine konkrete Handlung, kein Anspruch auf genau ein bestimmtes Tätigwerden, aus ihnen ableiten lässt. Die Möglichkeit auszuschließen, eine Verletzung der Grundsätze durch völlige oder teilweise Untätigkeit festzustellen, wäre nur dann deklaratorisch, wenn die Umsetzungspflicht nicht aus den Grundsätzen ableitbar wäre. Das ist aber, wie geprüft, nicht der Fall: Die Union und die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Grundsätze innerhalb ihrer Kompetenzen umzusetzen. Der in Art. 52 Abs. 5 GRC normierte Ausschluss der gerichtlichen Feststellung der Verletzung von Grundsätzen durch fehlende oder mangelnde Umsetzung ist demnach nicht deklaratorisch, sondern konstitutiv, da er nicht in der Struktur der Grundsätze selbst liegt, sondern allenfalls damit gerechtfertigt werden kann. Auch die Feststellung, dass Rechtsnormen sich nur innerhalb des bestehenden Rechtsschutzsystems durchsetzen lassen, ist selbstverständlich und rein deklaratorisch. Das Rechtsschutzsystem kann sich jedoch ändern oder es können neue Mitgliedstaaten mit anders aufgebauten Rechtssystemen hinzukommen. Die Tatsache, dass es in der Union oder den Mitgliedstaaten keine Normerlassklagen gibt, kann demnach allenfalls eine Beschreibung der Rechtslage zur Zeit der Schaffung des Art. 52 Abs. 5 GRC sein, kein Argument dafür, dass Art. 52 Abs. 5 GRC deklaratorisch die begrenzte unmittelbare Wirkung der Grundsätze beschreibt. Es ist nicht anzunehmen, dass das Primärrecht in Gestalt des Art. 52 Abs. 5 GRC nicht mehr als eine Beschreibung der prozessualen Rechtslage in der Union und den Mitgliedstaaten enthält. Tatsächlich könnte die Untätigkeitsklage gem. Art. 265 AEUV ein taugliches Verfahren zur Verpflichtung der Union zum Erlass von Umsetzungsakten sein, das von Art. 52 Abs. 5 GRC ausgeschlossen wird. Natürliche und juristische Personen scheitern aber bereits daran, dass Art. 264 AEUV verlangt, dass die Union es unterlassen hat, einen Akt „an sie zu richten“. In Frage kommen demnach ausschließlich Rechtsakte, die einen Adressaten aufweisen. Normerlassklagen scheiden jedenfalls aus.689 Hinsichtlich der Mitgliedstaaten oder der Organe der Union scheitert eine Untätigkeitsklage daran, dass keine abstrakte „Untätigkeit“ im Hinblick auf einen Grundsatz 689  Dervisopoulos, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 8 Rn. 26.

252 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

gerügt werden kann, sondern das Unterlassen eines bestimmten Rechtsaktes gefordert werden muss. Gerade ein weites Ermessen der Union stünde einer Handlungspflicht ggf. entgegen, sofern sich das Ermessen nicht ausnahmsweise auf eine einzige Handlungsmöglichkeit reduzieren ließe.690 Die Untätigkeitsklage scheidet demnach als mögliches Verfahren zur Rüge der Verletzung von Grundsätzen durch Unterlassen aus. In Frage kommt jedoch ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 258 f. AEUV. Im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens kann sehr wohl auch ein Unterlassen der Mitgliedstaaten gerügt werden, auch ohne dass die Art und Weise des Tätigwerdens genau feststehen müsste.691 Das zeigt sich bereits daran, dass der überwiegende Teil von Vertragsverletzungsverfahren die fehlende oder mangelhafte Umsetzung von Richtlinien betrifft.692 Als weiteres Beispiel ist das grundlegende Urteil Kommission / Frankreich zu nennen.693 Seit dieser Entscheidung entnimmt der EuGH den Grundfreiheiten, die den Grundrechten in vielerlei Hinsicht ähneln,694 Handlungspflichten, genauer Schutzpflichten, deren auch teilweises Unterlassen Grund für eine Verurteilung im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens sein kann.695 Wenn auch nicht wahrscheinlich, so doch theoretisch möglich wäre eine Feststellung ungenügender Umsetzung von Grundsätzen im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV, da das Vorabentscheidungsverfahren außer der Relevanz für den Rechtsstreit, die der EuGH aber der Einschätzung des vorlegenden Gerichts überlässt,696 kein auf das Interesse der Parteien zielendes Zulässigkeitskriterium kennt. Die Möglichkeit eines derartigen Vorabentscheidungsverfahrens hängt damit vom nationalen Prozessrecht ab. Die Einführung einer Popularklage in einem Mitgliedstaat 690  EuG, Rs. T-32/93, Slg. 1994, II-1015 Rn. 36  ff. – Ladbroke Racing; Dervisopoulos, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 8 Rn. 49. 691  EuGH, Rs. C-31/69, Slg. 1970, 25 Rn. 9 – Kommission ./. Italien. 692  So Dervisopoulos, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, § 8 Rn. 45 m. w. N.; Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 258 AEUV Rn. 67; vgl. insbesondere auch EuGH, Rs. C-365/97, Slg. 1970, 25 Rn. 68 – Kommission ./. Italien. 693  EuGH, C-265/95, Slg. 1997, I-6959 – Kommission ./. Frankreich. 694  Kühling, NJW 1999, S. 403; vgl. dazu insbesondere Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 222 ff. 695  EuGH, C-265/95, Slg. 1997, I-6959 – Kommission ./. Italien; Kühling, NJW 1999, S. 403: ebenso Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 203. 696  S. nur EuGH, Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099 Rn. 38 – PreussenElektra; Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 Rn. 59 – Bosman.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC253

könnte demnach ebenfalls zur Überprüfung der Umsetzung der Grundsätze durch den EuGH führen.697 Schließlich trifft Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC eine Regelung bezüglich der Ableitung möglicher Ansprüche aus den Grundsätzen: Ob ein Grundsatz bestimmt genug ist, um einen Anspruch zu begründen, ist eine Auslegungsfrage, die letztlich in den Händen des EuGH liegt. Einem befürchteten „judicial acitvism“ durch die Ableitung von Ansprüchen auch aus relativ unbestimmten Grundsätzen wird durch Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC ein Riegel vorgeschoben.698 Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich, dass Art. 52 Abs. 5 GRC einen eigenständigen Regelungsgehalt aufweist. Art. 52 Abs. 5 GRC beschränkt die unmittelbare Wirkung der Grundsätze auf die Fälle, in denen Gerichte die Rechtmäßigkeit eines Umsetzungsaktes kontrollieren. Die unmittelbare Wirkung eines Grundsatzes ist die materielle Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Rechtmäßigkeitskontrolle gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC. Im Rahmen eines Vertragsverletzungs- oder Vorabentscheidungsverfahrens kann das Ziel des Verfahrens sein, eine Verletzung von Umsetzungspflichten festzustellen oder die Frage zu beantworten, ob Umsetzungspflichten bestehen oder diese verletzt wurden. Die Grundsätze sind normstrukturell in der Lage, bei der Beantwortung dieser Fragen unmittelbar wirksam zu sein. Art. 52 Abs. 5 GRC schließt eine Anwendung der Grundsätze in diesen Fällen jedoch konstitutiv aus. d) Die Rechtmäßigkeitskontrolle von Umsetzungsakten gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC: „Soziales Rückschrittsverbot“? Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC erlaubt ausdrücklich die Heranziehung der Grundsätze bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten. Im Folgenden wird die Reichweite der Rechtmäßigkeitskontrolle von Umsetzungsakten gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC untersucht. Dazu ist zunächst zu klären, was unter einem Umsetzungsakt im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC zu verstehen ist (dazu lit. aa]). Sodann wird nachgewiesen, dass in der Norm des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC ein Rückschrittsverbot zu sehen ist (dazu lit. bb]). Schließlich werden die Maßstäbe für die Prüfung dieses Rückschrittsverbotes erarbeitet (dazu lit. cc] und dd]).

697  Schmidt,

J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 202. Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta,

698  Sagmeister,

S.  267 ff.

254 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

aa) Der Gegenstand der Rechtmäßigkeitskontrolle am Maßstab der Grundsätze: Der Begriff des Umsetzungsaktes Die Grundsätze können Maßstab der Rechtmäßigkeitskontrolle sein, insofern sind sie unmittelbar wirksam und erzeugen subjektive Rechte im europarechtlichen Sinne.699 Die Wirkmächtigkeit der Grundsätze als Maßstab des Handelns der Union und der Mitgliedstaaten hängt entscheidend davon ab, welche Handlungen der Union und der Mitgliedstaaten Gegenstand der Rechtmäßigkeitskontrolle am Maßstab der Grundsätze sein können. Im Rahmen des Art. 52 Abs. 5 GRC muss dazu die Frage beantwortet werden, welche Akte die Grundsätze umsetzen und sich deshalb an den Grundsätzen messen lassen müssen. Da die Grundsätze, wie noch zu zeigen sein wird,700 stets eine positive Handlungspflicht der Union oder der Mitgliedstaaten zum Gegenstand haben, könnte unter der „Umsetzung“ eines Grundsatzes die Erfüllung dieses Leistungsversprechens zu sehen sein. Die Union oder die Mitgliedstaaten konkretisieren in diesem Falle die selbst mangels hinreichender inhaltlicher Bestimmtheit und Unbedingtheit nicht einklagbaren Grundsätze und gewähren echte Schutzrechte oder Leistungsansprüche. Ob eine Handlung der Union oder der Mitgliedstaaten ein Umsetzungsakt im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC ist, muss durch Auslegung ermittelt werden. Als genetisches Argument ließen sich der Wille des Handelnden, z. B. in Gestalt der Gesetzgebungsmaterialien, heranziehen, sowie die Frage, ob der Akt tatsächlich den Schutzbereich eines Grundsatzes betrifft. So lässt sich z. B. die Mutterschutzrichtlinie als Umsetzung des Art. 33 Abs. 2 Alt. 2 GRC verstehen, da sie das Leistungsversprechen des Grundsatzes einlöst, indem sie es konkretisiert und zu echten Ansprüchen ausgestaltet. So verstanden, wäre die Aussage des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC, dass die Rechtmäßigkeit der Umsetzungsakte vor Gericht am Maßstab der Grundsätze zu beurteilen ist, begrenzt. Die Rechtswidrigkeit eines Umsetzungsaktes käme nur durch ein „zu wenig“ an Leistungsgewährung in Betracht. Das würde bedeuten, dass die Gerichte mit der Feststellung einer defizitären Umsetzung implizit über den konkreten Umfang der Leistungsgewährung (entgegen der Intention des Normgebers) zu entscheiden hätten. Weiterhin würde eine Nichtanwendung oder Nichtigerklärung des defizitären Umsetzungsaktes die Verwirklichung des Grundsatzes nicht fördern. Seine Umsetzung würde im Gegenteil noch stärker beeinträchtigt, weil die gerichtliche Kont699  Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd.  2, § 1 Rn. 112. 700  s. u., S.  271 ff.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC255

rolle gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC auf die Kassation des Umsetzungsaktes beschränkt ist. Angesichts der Gestaltungsmöglichkeiten, die den Adressaten der Grundrechtecharta bei der weiteren Förderung der Grundsätze zukommen, könnte eine bestimmte Handlung mangels Unbedingtheit und Bestimmtheit der Grundsätze ohnehin gerichtlich nicht gefordert werden. Der Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC wäre in diesem Fall auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten am Maßstab der Rechte beschränkt, auf die sich Dritte berufen, die von dem Umsetzungsakt belastet werden. Abgesehen davon, dass der Maßstab der Rechtmäßigkeitskontrolle in diesen Fällen nicht der Grundsatz, sondern das beeinträchtigte Recht eines Dritten ist, deckt sich die Auslegung des Begriffes des Umsetzungsaktes dann auch nicht mit der weitergehenden Auslegung der Umsetzung im Rahmen des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC.701 Die Rechtmäßigkeitskontrolle von Umsetzungsakten kommt deshalb immer dann zum Tragen, wenn die Union oder die Mitgliedstaaten bereits gewährte Leistungen zur Erfüllung der Grundsätze wieder zurücknehmen. Es erscheint zwar auf den ersten Blick wenig überzeugend, eine Norm, die bspw. den bereits bestehenden Anspruch auf Elternurlaub wieder beschränkt, als „Umsetzungsakt“ zu bezeichnen, weil die Umsetzung eines Grundsatzes eher dessen Förderung zu implizieren scheint, insbesondere wenn man Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC betrachtet, der die Union und die Mitgliedstaaten zur Förderung der Anwendung der Grundsätze verpflichtet.702 Dabei ist aber zu beachten, dass nur die deutsche Sprachfassung in Art. 52 Abs. 5 GRC von „umsetzen“ spricht. In der englischen Sprachfassung werden die Grundsätze „implemented by legislative and executive acts“. Laut der französischen Sprachfassung können die Grundsätze „être mises en œuvre par des actes législatifs et exécutifs“. Die italienische Sprachfassung verwendet das Verb „attuare“. Die anderen Sprachfassungen lassen sich als Aus- oder Durchführung verstehen, während das Wort „umsetzen“ eher auf die Verwirklichung des Normprogramms hindeutet.703 So wird die „Durchführung des Rechts der Union“ in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC in der englischen und französischen Sprachfassung ebenfalls mit „implementing“ bzw. „mettent en œuvre“ und in der italienischen Sprachfassung mit „attuazione“ beschrieben. Für eine weite Auslegung des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC spricht ferner, dass die Union und die Mitgliedstaaten es anderenfalls selbst in der Hand hätten, mangels Bezugnahme auf die Grundsätze die Kontrolle am Maßstab der Grundsätze zu 701  Frenz,

Handbuch Europarecht, Bd. IV, Rn. 457. J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 163. 703  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 52 Rn. 77; keinen Unterschied der verschiedenen Sprachfassungen zu erkennen vermag Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 283, insb. Fn 845. 702  Schmidt,

256 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

verhindern.704 Zudem wäre die rechtliche Relevanz der Grundsätze anderenfalls ganz erheblich eingeschränkt. Die Grundsätze wären dann de facto nichts weiter als bloße Zielbestimmungen.705 Der Begriff der „Umsetzung“ in Art. 52 Abs. 5 GRC ist deshalb nicht nur auf diejenigen Akte anzuwenden, die die Verpflichtungen aus den Grundsätzen durch die Schaffung oder Erweiterung von Rechten und Ansprüchen erfüllen, sondern auch auf Akte, die die Ansprüche oder Rechte, durch die die Verpflichtungen der Grundsätze erfüllt werden, modifizieren bzw. beschränken. Unwesentlich ist, ob dies beabsichtigt ist oder nicht.706 bb) Der Prüfungsmaßstab der Rechtmäßigkeitskontrolle i. S. d. Art. 52 Abs. 5  S. 2 GRC Wenn die Grundsätze gegen Akte der Exekutive und besonders der Legislative der EU und der Mitgliedstaaten in Stellung gebracht werden können, stellt sich die Frage nach Art und Umfang der Wirkungsweise dieser Rechtmäßigkeitskontrolle. Wenn Grundsätze materiell zur Gewährung von Leistungen verpflichten, stellt sich die Rechtmäßigkeitskontrolle derjenigen Handlungen, die die in Umsetzung der Grundsätze gewährten Leistungen ganz oder teilweise zurücknehmen, als eine Art Rückschrittsverbot hinter den einmal erreichten Stand dar. Die Funktion eines solchen sozialen Rückschrittsverbots wird den Grundsätzen teilweise zugesprochen.707 Gegen die Auffassung, dass die Grundsätze keinen Schutz vor der Absenkung des bereits erreichten Umsetzungsniveaus haben, spricht vor allem der Wortlaut der Grundrechtecharta, 704  Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 91. 705  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  283 f.; i. E. ebenso Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 457. 706  I. E. ebenso Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 45c; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 459; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 77; Ladenburger, in: Tettinger/ Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 92; Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 52 Rn. 52.182 f.; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 286; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 163. 707  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art.  33 Rn.  45c m. w. N.; Braibant, La charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, S. 46, 84 f.; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 178 ff.; a. A. Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EUGrundrechtecharta, S. 196; Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 100; wohl auch Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 52.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC257

der in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC ausdrücklich festschreibt, dass die Umsetzungsakte auf ihre Grundsatzkonformität hin überprüft werden können. Da es einen Konflikt mit den Grundsätzen bei deren Umsetzung überhaupt nur geben kann, wenn der bereits erreichte Umsetzungsstand beschnitten wird, muss es eine Art Rückschrittsverbot als materielles Kriterium geben, wenn der Anordnung eingeschränkter Justiziabilität durch die Rechtmäßigkeitskontrolle gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC eine Bedeutung zukommen soll. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, welchen Umfang das Rückschrittsverbot genau hat und wie es von den Gerichten überprüft werden kann. Zunächst lässt sich zwischen einem absoluten und einem relativen Rückschrittsverbot unterscheiden.708 Während das absolute Rückschrittsverbot jedwede Beschneidung des einmal erreichten Umsetzungsstands der Grundsätze verbietet, sind nach dem relativen Rückschrittsverbot Beschränkungen des Leistungsniveaus grundsätzlich möglich, aber rechtfertigungsbedürftig, analog zur Situation bei den Grundrechten.709 Dass die Grundsätze ein absolutes Rückschrittsverbot konstituieren, ist abzulehnen.710 Dagegen spricht zunächst die zu große Inflexibilität eines absoluten Rückschrittsverbotes. Veränderte soziale oder ökonomische Rahmenbedingungen können eine Rücknahme sozialer Vergünstigungen erforderlich machen.711 Ebenso muss es möglich sein, soziale Gewährleistungen, die sich als Überprivilegierung einer Gruppe herausstellen, wieder rückgängig zu machen.712 Weiterhin erscheint es unter demokratischen Gesichtspunkten problematisch, eine zu weitgehende Selbstbindung der Legislative im Hinblick auf die Budgethoheit der Parlamente anzunehmen,713 schließlich gehen mit Ausgaben des Staates für soziale Zwecke immer auch Eingriffe in die Grundrechte derjenigen einher, die zur Finanzierung dieser Ausgaben herangezogen werden. 708  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  176 ff.; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 195. 709  Die Grundsätze folgten diesfalls ebenfalls einer Außentheorie, vgl. dazu Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 29 ff. 710  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 77; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 178; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 196; bezogen auf Deutschland Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz, S. 74. 711  Sagmeister, Die Grundsatznomen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 178; Schmidt, J., die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 196. 712  Sagmeister, Die Grundsatznomen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 178; dazu bezogen auf die Bundesrepublik auch Schlenker, Soziales Rückschrittsverbot und Grundgesetz, S. 32 ff. 713  Sagmeister, Die Grundsatznomen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 178.

258 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Wenn in diesem Sinne nur ein relatives Rückschrittsverbot in Frage steht, stellt sich die Frage nach dem Gehalt dieses relativen Verbotes bzw. des ihm innewohnenden Prüfungsmaßstabes. Schließlich besagt die Relativität des Rückschrittsverbotes, dass es Einschnitte nicht vollständig verbietet, sondern diese vielmehr unter Umständen gerechtfertigt sein können. Die Unsicherheit des konkreten Beharrungspotentials der Grundsätze als Rückschrittsverbote liegt in dem Auseinanderfallen von formeller und materieller Seite des Grundsatzschutzes. Es handelt sich in den Fällen, in denen die Grundsätze als Rückschrittsverbot aktualisiert werden sollen, jeweils um eine formelle Abwehrsituation: Durch reines Unterlassen der Abschaffung bereits konstituierter Gewährleistungen wird dem Rückschrittsverbot Rechnung getragen. Materiell steht jedoch die Frage im Raum, ob das zuvor gewährte Leistungsniveau rechtlich geboten und deshalb weiter gewährt werden muss.714 cc) Abwehrrechtlicher Schutz vor der Absenkung bereits gewährter Vergünstigungen? Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit festgestellt wurde, handelt es sich bei dem abwehrrechtlichen Schutz von Rechtspositionen, die in Erfüllung eines materiellen Leistungsrechts gewährt wurden, um eine nur formell abwehrrechtliche Konstellation: Werden Gewährleistungen, die einen Grundsatz verwirklichen, wieder gestrichen, kann dieser Beschneidung des Grundsatzes durch Kassation der Rechtsvorschrift, die das Umsetzungsniveau senkt, abgeholfen werden. Die Nichtanwendung oder Nichtigerklärung des die Leistung abschaffenden Gesetzes führt dazu, dass der status quo ante wieder hergestellt und die zuvor bereitgestellten Leistungen auch weiterhin einfachgesetzlich beansprucht werden können. Materiell stellt sich bei der Wirksamkeit des die Rechtsposition beseitigenden Gesetzes die Frage, ob der Normgeber zur Gewährleistung der ursprünglichen Vergünstigung durch den Grundsatz verpflichtet ist und er ihre Beseitigung zu unterlassen hat. Demgemäß muss grundsätzlich geprüft werden, ob der Grundsatzverpflichtete zu der ursprünglichen Handlung, die einen Grundsatz verwirklicht und nunmehr materiell unterlassen werden soll, verpflichtet ist. Trotz der formellen Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Handlung (des Umsetzungsaktes, der die Verwirklichung eines Grundsatzes beschränkt) muss materiell die Grundsatzkonformität eines legislativen oder administrativen Unterlassens (des abzu714  Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 196; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 174, bezeichnet das Rückschrittsverbot als „zwischen der abwehrrechtlichen und leistungsrechtlichen Dimension einer Norm“ liegend.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC259

schaffenden Umsetzungsaktes) geprüft werden. Folge dieser formell abwehrrechtlichen, materiell jedoch leistungsrechtlichen Prüfung kann wegen der Begrenzung der Justiziabilität der Grundsätze auf formelle Abwehrkonstellationen nur die Wiederherstellung des status quo ante sein, nicht die Verpflichtung zu einer darüberhinausgehenden Handlung oder die Feststellung, dass die ursprüngliche Umsetzung des Grundsatzes unzureichend ist. Die Wirkung der Grundsätze beschränkt sich bei der Rechtmäßigkeitskontrolle gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC deshalb auf eine gerichtliche Missbilligung der Absenkung des bisher erreichten Leistungsniveaus durch Nichtigerklärung oder Nichtanwendung des Umsetzungsaktes, der das bisherige Leistungsniveau absenkt. Diese spezifische, durch Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC limitierte Wirkung der Grundsätze in Form eines relativen Rückschrittsverbotes wird im Folgenden als Reprobationswirkung bezeichnet. dd) Die Konkretisierung formeller Unterlassenspflichten durch das Untermaßverbot Nach der hier vertretenen Ansicht richtet sich die Rechtmäßigkeit eines materiellen Unterlassens bei der Prüfung materieller Leistungsrechte nach dem Untermaßverbot.715 Im Folgenden wird nachgewiesen, dass das Untermaßverbot bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten, durch die das bisherige Umsetzungsniveau eines Grundsatzes reduziert werden soll, ebenfalls Anwendung findet. Dazu muss zunächst ein Prüfungsgegenstand vorliegen, der einen Umsetzungsakt, durch den ein Grundsatz verwirklicht wird, ganz oder teilweise beseitigt (dazu Ziff. [1]). Sodann sind die Elemente des Untermaßverbotes im Hinblick auf die Reprobationswirkung der Grundsätze zu entwickeln (dazu Ziff. [2] bis [4]). Weiterhin wird der Frage nachgegangen, ob auch bei der Anwendung des Untermaßverbotes im Rahmen der Reprobationswirkung Spielräume der Grundsatzverpflichteten bestehen (siehe Ziff. [5]). Schließlich werden in der Literatur vorgebrachte Argumente gegen die Anwendung des Untermaßverbotes bei der Rechtmäßigkeitskontrolle von Umsetzungsakten gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC widerlegt (siehe Ziff. [6]). (1) Die Aktivierung des Untermaßverbotes: Die Beeinträchtigung von Umsetzungsakten Damit das Untermaßverbot überhaupt zur Anwendung gelangen kann, muss es sich bei dem die Leistung gewährenden Rechtsakt, der abgeschafft 715  Ebenso Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 52; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 684 ff.; Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, S. 54; s. bereits oben, S. 157 ff.

260 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

werden soll, um einen Umsetzungsakt zugunsten eines Grundsatzes i. S. d. Art. 52 Abs. 5 GRC handeln. Nur dann ist der Anwendungsbereich eines Grundsatzes eröffnet. Die abzuschaffende Leistung muss durch den Grundsatz prima facie geboten sein. Das wirft die Frage auf, ob sich die Grundsätze als Optimierungsgebote mit einem ideal weiten Schutzbereich auffassen lassen, deren auch partielle Nichtverwirklichung rechtfertigungsbedürftig ist.716 Dass die Grundsätze Maximierungsgebote darstellen, die mit anderen Zielen in Konflikt geraten können, deutet ihre Bezeichnung als „principles“ in der englischen bzw. „principes“ in der französischen und „principios“ in der spanischen Sprachfassung in Art. 51 Abs. 1 S. 2 und Art. 52 Abs. 5 S. 1 GRC an. Zudem „fördern“ die Union und die Mitgliedstaaten laut Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC deren Anwendung. Konflikte zwischen den Grundsätzen und anderen Zielen können demnach entstehen und sind sodann durch Abwägung aufzulösen. So besehen sind die Grundsätze mit originären Leistungsrechten strukturell identisch.717 Weiterhin muss eine gesetzliche oder administrative Maßnahme vorliegen, die das ursprünglich gewährte Leistungsniveau absenkt. In diesem Fall liegt eine Beschränkung des Grundsatzes vor, analog zur Beschränkung von materiellen Leistungsrechten. Die das Leistungsniveau absenkende Maßnahme ist der Prüfungsgegenstand bei der Rechtmäßigkeitskontrolle des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC. (2) Der legitime Zweck des Unterlassens der bisher gewährten Leistung Da die zuvor in Umsetzung eines Grundsatzes gewährte Leistung durch den Grundsatz geboten ist, müssen Union oder Mitgliedstaaten einen legitimen Zweck i. S. d. Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRC zur Abschaffung des bisher Gewährten und damit der Teilunterlassung einer von dem Grundsatz geforderten Handlung anführen können. Solche Ziele sind vielfältig denkbar. Besonders naheliegend scheint eine angespannte wirtschaftliche Situation der Mitgliedstaaten als Grund für die Kürzung oder Streichung kostenintensiver Sozialleistungen. Der legitime Zweck kann aber auch eine organisatorische Veränderung des Sozialsystems sein. Möglicherweise wurde das ursprünglich mit 716  Zur Einordnung von Grundrechtsnormen als Prinzipien Alexy, Theorie der Grundrechte, 1985, S. 75 f.; zu den strukturell ähnlichen Staatszielbestimmungen Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, S. 411 ff.; für die Einordnung der Grundsätze als Optimierungsgebote Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 699; wohl auch Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 52. 717  Bezogen auf die leistungsrechtliche Dimension wohl ebenso Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 353 f.; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 154 ff.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC261

der Leistung verfolgte Ziel aber auch verfehlt und eine Leistung soll deshalb gestrichen oder neu organisiert werden. (3) Geeignetheit und Erforderlichkeit der Reduzierung des Leistungsniveaus Die Abschaffung des zuvor Gewährten muss zur Förderung des Ziels weiterhin auch geeignet sein. Bei finanziellen Erwägungen muss also ein Einspareffekt hinreichend plausibel erscheinen. Da bei der Prüfung der Reprobationswirkung des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC materiell das Unterlassen der bisher gewährten Leistung geprüft wird, ist die Anwendung des Erforderlichkeitskriteriums in diesem Fall ausgeschlossen.718 (4) Angemessenheit Schließlich ist die Angemessenheit des (Teil-)Unterlassens bei der Prüfung des Untermaßverbotes zu prüfen. Dabei ist eine Abwägung zwischen dem Gewicht der Unterlassung der Förderung des Grundsatzes für dessen Verwirklichung und den dieses Unterlassen rechtfertigenden Gründen vorzunehmen.719 Da es bei der Reprobationswirkung des Rückschrittsverbotes im Rahmen des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC um die Rücknahme bereits durch Umsetzungsakte konstituierter Vergünstigungen geht, besteht das Unterlassen der Förderung in dem Umfang der Rücknahme der Vergünstigungen. Sofern die Umsetzung eines Grundsatzes nicht gänzlich beseitigt werden soll, handelt es sich um ein teilweises Unterlassen. Bei der Prüfung des Untermaßverbotes im Rahmen eines materiellen Leistungsrechtes müsste nunmehr eingegrenzt werden, welche Förderungshandlungen zur Erfüllung der Leistungspflicht in Betracht kommen. Eine willkürliche Auswahl nur eines Förderungsmittels führte anderenfalls zu ebenso willkürlichen Ergebnissen, weil durch die Festlegung auf ein Mittel sowohl die Förderungsintensität des Förderungsmittels (bzw. die darin liegende Beeinträchtigungsintensität für das Leistungsrecht durch nur teilweise Erfüllung des Leistungsrechts) als auch die Zweckerreichungsintensität des Unterlassens der Förderungshandlung bereits feststeht. Bei „richtiger“ Auswahl des Förderungsmittels wäre dies dann entweder angemessen, weil sein Unterlassen die Förderung des Leistungsrechts erheblich beeinträchtigt und andererseits der Gewinn für die durch die Unterlassung geschonten Rechtsgüter anderer oder sonstiger relevanter Belange gering wäre. Genau so könnte es auch andersherum sein, wählt man eine Förde718  s. bereits

oben auf S. 159 f. Grundrechte als Prinzipien, S. 201.

719  Borowski,

262 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

rungshandlung, die das Schutzgut des Leistungsrechts nur marginal fördert, aber z. B. exorbitante Kosten verursacht.720 Im Fall des Rückschrittsverbotes gem. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC liegt der Fall jedoch anders. Es gibt nur zwei mögliche Ergebnisse der Prüfung der Reprobationswirkung: Entweder ist der Rückschritt durch den Umsetzungsakt, der die Leistungen, die zuvor gewährt wurden, rechtmäßig. Dann kommt die Reprobationswirkung nicht zum Tragen, der Umsetzungsakt ist rechtmäßig und damit gültig bzw. anwendbar. Anderenfalls ist der Umsetzungsakt rechtswidrig. In diesem Fall ist er entweder nichtig, wenn es sich um Unionsrecht handelt, da er gegen den Grundsatz verstößt, oder er muss unangewendet bleiben, weil er gegen einen Grundsatz verstößt und dieser Anwendungsvorrang genießt. Dann bleibt es beim status quo ante, die bisher gewährten Leistungen werden auch weiter gewährt. Ein „mehr“ an Leistungsgewährung kann es durch die Reprobationswirkung der Grundsätze nicht geben. Deshalb müssen auch nur die bisherige Umsetzung und die Umsetzung bei Gültigkeit des beschränkenden Aktes betrachtet werden. Letztere besteht dann entweder in einem „Weniger“ an Gewährleistung oder, bei gänzlicher Rücknahme der Umsetzung eines Grundsatzes, in einem schlichten Unterlassen im materiellen Sinne. Mit den beiden Rechtszuständen bei Wirksamkeit bzw. Anwendbarkeit und Unwirksamkeit bzw. Unanwendbarkeit des Prüfungsgegenstandes (also dem Umsetzungsakt, der den bisher erreichten Verwirklichungsgrad des zu prüfenden Grundsatzes verringert) orientiert sich die Prüfung der Angemessenheit im Rahmen der Reprobationswirkung auf zwei Fixpunkte. Da nur zwei Zustände im Hinblick auf ihre Förderungsintensität und ihre Beeinträchtigung gegenläufiger Interessen betrachtet werden müssen, stellt sich im Wesentlichen die Frage nach der Proportionalität der Leistungsabsenkung im Vergleich mit der Kostenersparnis bzw. die Frage nach dem Gewicht der Leistungsabsenkung im Vergleich zu dem Gewicht der dadurch erzielten Schonung gegenläufiger Interessen. Eine Bestimmung potentiell geeigneter Förderungshandlungen und ihr Vergleich finden nicht statt. Damit ist das Untermaßverbot für die Anwendungsfälle der Grundsätze bereits erheblich konkretisiert: Statt eine zunächst unbestimmte Vielzahl möglicher Förderungshandlungen betrachten zu müssen, bedarf es bei der Anwendung des Untermaßverbots im Rahmen der Reprobationswirkung der Grundsätze nur eines Vergleichs zweier Fördermaßnahmen: zum Einen derjenigen, die durch den Umsetzungsakt abgeschafft bzw. eingeschränkt werden soll und zum Anderen der Situation, die durch den Rückschritt entstanden ist, also entweder das Fehlen jedweder Fördermaßnahmen oder ein „Weniger“ an Förderung als bisher. 720  Gleichsinnig

Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 197 f.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC263

Strukturell gleicht die Prüfung des Rückschrittsverbotes damit der Prüfung der Eigentumsfreiheit aus Art. 14 Abs. 1 GG, wenn bereits konstituierte Rechtspositionen inhalts- und Schrankenbestimmungen unterworfen werden. (5) Spielräume der Union und der Mitgliedstaaten Möglicherweise könnten der Union und den Mitgliedstaaten auch bei der Prüfung des Untermaßverbotes im Rahmen der Reprobationswirkung der Grundsätze Spielräume zukommen und die gerichtliche Kontrolldichte dadurch eingeschränkt sein. Sofern ein Rückschrittsverbot überhaupt angenommen wird, werden den Grundsatzverpflichteten stets erhebliche Spielräume zugebilligt.721 Zunächst sind den Adressaten der Grundsätze Erkenntnisspielräume zuzubilligen.722 Das Ausmaß des bereits bestehenden Schutzes, seine bisherigen Defizite und die Beeinträchtigung gegenläufiger Interessen zu ermitteln, ist in erster Linie Sache der zur Umsetzung der Grundsätze berufenen Stellen der Union und der Mitgliedstaaten. Ist die Union zur Umsetzung von Grundsätzen tätig geworden, tritt hinzu, dass differenziert die Lage in den Mitgliedstaaten betrachtet werden muss. Gleiches gilt für die tatsächlichen Auswirkungen des durch den zu prüfenden Umsetzungsakt bewirkten sozialen Rückschrittes sowie seiner vorteilhaften Auswirkungen auf die damit verfolgten, den Grundsatz beschränkenden Zwecke. Sofern haushaltsrechtliche Erwägungen eine Rolle spielen, muss den Grundsatzverpflichteten ein Prognosespielraum bezüglich der Entwicklung der Wirtschaft und der öffentlichen Haushalte zukommen. Den umsetzenden Stellen der Union und den Mitgliedstaaten kommen darüber hinaus auch normative Spielräume zu:723 Die Grundsätze zeichnen 721  Wollenschläger, in: Hatje/Müller-Graff (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. I, § 8 Rn. 49; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 52; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 683, 685; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 180; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 52 Rn. 76, 78, 81; für das Untermaßverbot allgemein vgl. Mayer, Untermaß, Übermaß und Wesensgehaltsgarantie, S. 84 ff.; Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 55 ff.; zu Spielräumen insb. im Rahmen von Schutzpflichten generell Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422 ff. 722  Bezogen auf die Rechtslage in Deutschland Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 218 f. 723  Rengeling/Sczcekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 6 Rn. 426; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 191 f.; bezogen auf die Rechtslage in Deutschland, Störring, Das Untermaßverbot in der Diskussion, S. 219 f.; so insgesamt auch Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 45, 47.

264 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

sich gerade dadurch aus, dass sie der Umsetzung bedürfen und ohne Umsetzung rechtlich nicht effektiv sind. Durch die Begrenzung der Justiziabilität in Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC kann das Maß der Umsetzung nicht über das bereits Erreichte hinausreichen. Zudem kommt den Adressaten der Grundsätze auch hinsichtlich des „Wie“ der Umsetzung ein weiter Spielraum zu, weil die Umsetzung der Grundsätze auf vielfältige Art und Weise umgesetzt werden können. Es liegt daher im Wertungsspielraum besonders der Mitgliedstaaten, wie sie ihr System der sozialen Sicherheit ausstatten und ebenso innerhalb des Spielraums der Union, den Systementscheidungen der Mitgliedstaaten umfangreich Rechnung zu tragen. Für die Annahme, dass bei der Umsetzung der Grundsätze und damit auch bei der Prüfung ihrer Einschränkung im Rahmen des Rückschrittsverbotes Spielräume bestehen, spricht darüber hinaus, dass der EuGH Spielräume auch bei der Erfüllung von Schutzpflichten aus den Grundfreiheiten einräumt,724 sowie dass auch der EGMR den Mitgliedstaaten bei der Erfüllung von positiven Verpflichtungen einen „margin of appreciation“ zugesteht.725 Die Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 5 GRC lassen ebenfalls darauf schließen, dass bei der Kontrolle der Umsetzungsakte Spielräume bestehen sollen. Die Erläuterungen verweisen zur Verdeutlichung der Funktionsweise der Grundsätze auf das Urteil des EuG in der Sache Pfizer.726 Der Fall betrifft zwar die umgekehrte Situation, weil der Rat durch eine Verordnung die Zulassung eines Antibiotikums für die Tiermast mit dem Hinweis auf den Vorsorgegrundsatz im Umweltschutz entzogen hatte. Ob die Gefahren der Verwendung des Arzneimittels in der Tiermast tatsächlich bestanden, war jedoch nicht nachgewiesen. Das EuG hielt den Eingriff in die Grundrechte von Pfizer dennoch für gerechtfertigt, weil der Union hier ein „weites Ermessen“ zukomme.727 Die Annahme gerade von Spielräumen stellt überdies sicher, dass die demokratisch legitimierten Rechtsetzungsorgane der Union und der Mitgliedstaaten in ihrer Entscheidungsfreiheit nicht über Gebühr eingeschränkt werden und die Grundrechtecharta letztlich die gesamte Sozialpolitik innerhalb der Kompetenzen der Union determiniert.728 Der genaue Umfang der Spielräume hängt dabei von dem in Frage stehenden Grundsatz und seinen Umsetzungsakten ab. Weiterhin wird der Umfang der 724  Zu den Spielräumen bei der Erfüllung von Schutzpflichten für die Grundfreiheiten vgl. EuGH C-265/95, Rn. 33 ff. – Kommission/Frankreich. 725  Vgl. nur EGMR, Urt. v. 21.6.1988, Plattform „Ärzte für das Leben“ v. Aus­tria, Nr. 10126/82, § 34, Series A 139 S. 12; zur Übertragbarkeit der Argumente für Spielräume im Bereich der EMRK und des GG auf das Unionsrecht Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 268 f. 726  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (35); EuG. Rs. T-13/99, Slg. 2002, II3305 – Pfizer Animal Health ./. Rat. 727  EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3305 Rn. 167, 170 – Pfizer Animal Health ./. Rat. 728  Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 188 f.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC265

Spielräume entscheidend durch die Komplexität der Sache und die Konkretisierbarkeit des im Einzelfall zu prüfenden Grundsatzes determiniert. Im Ergebnis wird man davon ausgehen müssen, dass sich die Überprüfung in den meisten Fällen auf eine Evidenzkontrolle beschränkt. (6) Unanwendbarkeit des Untermaßverbotes im Rahmen der Reprobationswirkung der Grundsätze gem. Art. 52 Abs. 5 GRC? Teilweise wird vertreten, dass das Untermaßverbot auf die Grundsätze gerade nicht anzuwenden sei. Dafür werden verschiedene Argumente vorgebracht: Gegen die Anwendung des Untermaßverbotes wird allgemein eingewandt, dass es sich dabei um eine überflüssige dogmatische Figur handele, die über die Inhalte des Übermaßverbotes hinaus keinen eigenen Gehalt aufweise. Diese Auffassung wurde bereits oben zurückgewiesen.729 J. Schmidt vertritt, dass bei der Rechtmäßigkeitskontrolle der Umsetzungsakte das Übermaßverbot, nicht jedoch das Untermaßverbot gerichtlich überprüfbar sei.730 Als Argument dafür führt J. Schmidt Art. 37 GRC an, die Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus. Es ließen sich daraus keine umweltschützenden positiven Maßnahmen ableiten, sehr wohl aber ein abwehrrechtlicher Anspruch, sollte die Union selbst die Umwelt schädigen, z. B. durch die Subvention einer umweltverschmutzenden Anlage.731 Dabei ist zunächst fraglich, ob dem Art. 37 GRC eine abwehrrechtliche Dimension überhaupt zu entnehmen ist. Angesichts der rein objektiven Formulierung der Norm, die keinen Begünstigtenkreis erkennen lässt, wäre die Konsequenz, dass jedermann umweltschädigende Maßnahmen der Union grundsätzlich angreifen könnte. Dass eine so weit gehende Regelung gewollt war, scheint eher fraglich. Das gilt umso mehr, als Art. 37 GRC keinen eigenen Gehalt gegenüber den Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 11 und 191 AEUV aufweist, an die die Norm sich laut den Erläuterungen der Präsidiums zur Grundrechtecharta anlehnt.732 Sollte der EuGH aus den – detaillierteren – Art. 3 Abs. 3 EUV, Art. 11, 191 AEUV Abwehrrechte entwickeln, wäre Art. 37 GRC nach hier vertretener Auffassung vielmehr bereits wegen Art. 52 Abs. 2 GRC kein Grundsatz, sondern ein Recht. Weiterhin führt J. Schmidt die in den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta als Beispiele für die Funktionsweise angesprochenen Ur729  s. o.,

S.  157. J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 203 ff. 731  Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 204. 732  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (27); Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.); EUV/AEUV, Art. 37 Eu-GRCharta Rn. 4; wohl ähnlich Käller, in: Schwarze, EUKommentar, Art. 37 Rn. 1 f. 730  Schmidt,

266 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

teile Pfizer und Van den Bergh ins Feld, die seiner Auffassung nach jeweils die Frage betrafen, ob der Grundsatz der Marktstabilisierung bzw. der umweltrechtliche Vorsorgegrundsatz „zu weit“ umgesetzt worden seien und demnach nur danach fragten, ob das Übermaßverbot verletzt sei.733 Die Betrachtung insbesondere des Urteils des EuG in der Sache Pfizer zeigt jedoch, dass es dabei nicht um eine Untersuchung des „Übermaßverbotes“ bei der Verwirklichung des Umweltschutzes ging. Das EuG prüfte vielmehr, ob der Rat, der die angegriffene Maßnahme erlassen hatte, eine Richtlinie, die in dem Fall die Rechtsgrundlage für die angegriffene Verordnung darstellte, unter Berücksichtigung des Vorsorgegrundsatzes richtig ausgelegt hatte.734 Es handelte sich mithin nicht um die Kontrolle eines Aktes (der Verordnung) am Maßstab des Vorsorgegrundsatzes, sondern am Maßstab der Richtlinie, welche wiederum unter Berücksichtigung des Vorsorgegrundsatzes, dem sie diente, auszulegen war. In Frage stand mithin auf Art. 52 Abs. 5 GRC übertragen eine grundsatzkonforme Auslegung. Die vom EuG vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung in Form des Übermaßverbotes stellt so gesehen keine Begrenzung der Umsetzung des Vorsorgeprinzips durch die Ergreifung von Schutzmaßnahmen dar, sondern die Grenze des Eingriffs, den die Schutzmaßnahme in die (Grund-)Rechte des davon Betroffenen, in dem Fall Pfizers Recht auf unternehmerische Freiheit, bedeutet.735 Das Übermaßverbot ist auf den Fall der Erfüllung von Handlungspflichten nämlich nicht anwendbar. Es diente hier der Beantwortung der Frage, inwieweit der Vorsorgegrundsatz den Eingriff in die Rechte anderer unter Verhältnismäßigkeitsaspekten zu rechtfertigen vermag. Dabei ist das Übermaßverbot gerade nicht zur Kontrolle des Umsetzungsaktes am Maßstab des Grundsatzes heranzuziehen, sondern das Gewicht des Grundsatzes im Rahmen der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs, den der Umsetzungsakt in die Grundrechte anderer darstellt. Die Rechtsprechung des EuG in der Sache Pfizer spricht demzufolge nicht gegen die Anwendung des Untermaßverbotes bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten am Maßstab der Grundsätze. Ebensowenig lässt sich das Urteil des EuGH in der Sache Van den Bergh gegen die Anwendbarkeit des Untermaßverbotes anführen. Darin wird schon nicht hinreichend deutlich, worauf der EuGH die Prüfung des Verhältnismäßigkeitsprinzips überhaupt bezieht, weil er es abstrakt prüft, nachdem eine Verletzung des Grundsatzes der Marktstabilisierung bereits abgelehnt wurde.736 733  Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 205; EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3305 – Pfizer Animal Health ./. Rat. 734  EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3305 Rn. 125 – Pfizer Animal Health ./. Rat. 735  Vgl. EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3305 Rn. 411 ff., 441 – Pfizer Animal Health ./. Rat. 736  EuGH, Rs. C-265/85, Slg. 1987, I-1155, Rn. 90 ff., 30 ff.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC267

Gegen die Anwendung des Übermaßverbotes im Rahmen des Rückschrittsverbotes lassen sich auch nicht die Argumente anführen, die zur Einführung der Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen überhaupt erst geführt haben, nämlich die Gefahr eines übermäßigen „judicial activism“ und eine daraus resultierende Belastung der Haushalte der Mitgliedstaaten.737 Im Rahmen des Rückschrittsverbotes kreieren die Gerichte keine neuen Ansprüche. Bei der formellen Abwehrsituation des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC geht es ausschließlich um die Bewahrung des status quo. Die Gerichte würden die Grundsatzverpflichteten nicht zu neuen Handlungen zwingen, sondern lediglich den Rückschritt hinter den einmal erreichten Standard verhindern. Sofern das Ziel der Verringerung von Leistungen in einer potenziellen Ersparnis liegt, ist die Situation vergleichbar mit derjenigen, in der eine potenzielle Mehreinnahme nicht realisiert wird, weil sie zu stark in Grundrechte, z. B. das Eigentumsrecht, eingreift. Zusätzliche finanzielle Belastungen, die es vorher nicht gegeben hat, sind demnach nicht möglich. Zudem kann die Reduktion von Kosten durchaus ein legitimer Zweck sein, der eine Leistungsabsenkung letztlich rechtfertigt. Das Untermaßverbot trägt in diesem Sinne sogar Gewähr dafür, dass gegenläufige Belange bei der Prüfung der beschränkenden Umsetzung der Grundsätze gebührend zum Tragen kommen. Da das bereits erreichte Niveau die einzige grundsatzkonforme Umsetzung ist, der mit Hilfe des Reprobationseffektes Wirkung verschafft werden kann, es also niemals zu einer durch die Judikative veranlassten Leistungserweiterung darüber hinaus kommen kann, erscheint es verfehlt, von einem „judicial activism“ in dem Sinne zu sprechen, dass die Gerichte Entscheidungen treffen, die eigentlich der Legislative oder Exekutive zukommen und die Aktivität der Gerichte deshalb aus Gründen der Gewaltenteilung bzw. des institutionellen Gleichgewichts oder aus Gründen fehlender demokratischer Legitimation problematisch wäre.738 Sofern die Entstehungsgeschichte ergibt, dass sich ein Grundsatz auf ein Recht aus einem anderen völkerrechtlichen Menschenrechtsinstrument stützt, ist letzteres als Rechtserkenntnisquelle heranzuziehen, sodass selbst definitive Minimalgewährleistungen für die Grundsätze nicht auszuschließen sind. Sofern einschränkende Maßnahmen das Mindestniveau unterschreiten oder aber der bisherige Umsetzungsstand das Mindestniveau nicht erreicht, wären einschränkende Umsetzungsakte möglicherweise schon deshalb grundsatzwidrig.

737  Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 26; Sagmeister, die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 37. 738  I. E. ebenso Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  352 f.

268 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

3. Die Kriterien für die Qualifizierung einer Norm als Recht oder Grundsatz Nachdem die Wirkungsweise der Grundsätze gemäß Art. 52 Abs. 5 GRC untersucht wurde, wird nunmehr geklärt, nach welchen Kriterien zu unterscheiden ist, ob es sich bei einer Norm der Grundrechtecharta um ein Recht oder einen Grundsatz handelt. Dazu wird zunächst der Meinungsstand im Schrifttum dargestellt (s. lit. a]). Sodann werden die in der Literatur vertretenen Auffassungen einer kritischen Würdigung unterzogen und ein eigener Abgrenzungsvorschlag unterbreitet (s. lit. b]). Schließlich werden die Gewährleistungen des Art. 33 GRC anhand der gefundenen Erkenntnisse als Rechte oder Grundsätze eingeordnet (s. lit. c]). a) Auffassungen im Schrifttum Im Schrifttum besteht Streit über die Abgrenzungskriterien zwischen Rechten und Grundsätzen. Zunächst steht fest, dass die Verwendung des Wortes „Recht“ kein taugliches Abgrenzungskriterium darstellt. So wird in Art. 25 GRC das „Recht“ älterer Menschen in Bezug genommen, es handelt sich dabei jedoch nach einhelliger Auffassung um einen Grundsatz.739 Auch die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta charakterisieren Art. 25 GRC als Grundsatz.740 Weiterhin ist zweifelsfrei, dass diejenigen Normen, die bereits in den Verträgen oder der EMRK enthalten und dort als Rechte anerkannt sind, kraft Art. 52 Abs. 2 und 3 GRC ebenfalls als Rechte auszulegen sind.741 Im Übrigen wird vertreten, dass auf eine abstrakte Unterscheidung zu verzichten sei und jeweils im konkreten Anwendungsfall bestimmt werden solle, ob es sich um ein Recht oder einen Grundsatz handele.742 Dabei wird betont, dass die Unterscheidung zwischen Rechten und Grundsätzen eng mit der 739  Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 25 Rn. 14; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 25 Rn. 3; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 25 EU-GRCharta Rn. 10. 740  Abl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (35). 741  Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 1; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäische Union, Art. 52 Rn. 13; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 EU-GRCharta Rn. 2. 742  Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 52 Rn. 52.190; Hilson, Rights and Principles in EU Law: A Distinction Without Foundation? 15 MJ (2008), S. 193 (215); andeutungsweise ebenfalls Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 100.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC269

unmittelbaren Wirkung der Norm verknüpft sei, die ebenfalls in jedem Einzelfall zu beurteilen sei.743 Für Kingreen ist der Kreis der durch die Norm Verpflichteten das entscheidende Abgrenzungskriterium. Grundsätze seien diejenigen Normen, die abweichend von Art. 51 Abs. 1 GRC nur die Union verpflichteten.744 Das ergebe sich zunächst daraus, dass die durch die Grundsätze verbürgten Gewährleistungen jeweils an „individuelle Rechte“ oder „gemeinwohlbezogene Aufgabenbestimmungen“ anknüpften, die bereits im Sekundärrecht oder im Recht der Mitgliedstaaten verankert seien.745 Deshalb seien die Mitgliedstaaten nicht an die Grundsätze gebunden, anderenfalls wäre ihr eigener Grundrechtsschutz im Anwendungsbereich der Grundsätze nicht anwendbar746 und die bereits einfachrechtlich gewährten Rechtspositionen würden im nationalen Recht kraft der Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundsätze zu europarechtlichen Grundrechtspositionen erstarken.747 Gegen eine Abgrenzung von Rechten und Grundsätzen nach dem Kreis der Verpflichteten spreche auch nicht Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC, der die Mitgliedstaaten verpflichte, sich an die Grundsätze zu halten und ihre Anwendung zu fördern. Diese Verpflichtung gelte, wie die Verwendung des Wortes „dementsprechend“ deutlich mache, nur im Rahmen der Bindung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC, der für die Grundsätze, die als leges speciales nur die Union binden, gerade nicht gelte.748 Laut Borowsky seien die Grundsätze im Unterschied zu den Rechten mehr auf „gesetzgeberische und administrative Förderung, Entfaltung und Anwendung ausgelegt“.749 Zur Unterscheidung sei schwerpunktmäßig auf die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta abzustellen.750 Diejenigen Normen, die in den Erläuterungen als Grundsätze bezeichnet würden, ließen sich nur mit hohem Begründungsaufwand als Rechte klassifizieren.751 Einzelne Normen könnten aber auch eine Doppelnatur aufweisen, also zu743  Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 5 Rn. 52.189. 744  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 EU-GRCharta Rn. 16. 745  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 EU-GRCharta Rn. 1. 746  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 52 EU-GRCharta Rn. 1. 747  Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 22 Rn. 7. 748  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 EU-GRCharta Rn. 3. 749  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Rn. 45d. 750  Im Ergebnis ähnlich Schlussanträge GA Cruz Villalón, Rs. C-176/12, Rn. 502. 751  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Rn. 45d.

270 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

gleich Recht und Grundsatz sein. Im Zweifel seien insbesondere diejenigen Normen, die eine besondere Nähe zur Menschenwürde aufweisen oder andere Grundrechte konkretisierten, als Rechte auszulegen, um dem Anliegen der Grundrechtecharta, einen möglichst effektiven Schutz des Einzelnen zu gewährleisten, Rechnung zu tragen.752 Die Beschränkung auf objektiv-rechtliche Gehalte, oder die darüber hinausgehende Gewährleistung subjektiv-rechtlicher Gehalte, wird im Schrifttum gemeinhin als entscheidender Unterschied zwischen Rechten und Grundsätzen angesehen.753 Ob eine Norm im Einzelnen rein objektive oder auch subjektiv-rechtliche Wirkungen entfalte, müsse im Wege der Auslegung ermittelt werden. Ein einziges entscheidendes Kriterium zur Abgrenzung gebe es nicht, sondern es bedürfe einer Kombination verschiedener Abgrenzungskriterien, um eine Norm als Recht oder Grundsatz einordnen zu können.754 Ein Indiz sei der Wortlaut, der eher subjektiv oder objektiv formuliert sowie eher bestimmt oder eher unbestimmt sein könne.755 Letzteres weise auf einen Grundsatz hin. Weiterhin seien systematische Argumente, die Entstehungsgeschichte der Norm und die Existenz von Berechtigten und Verpflichteten als Kriterien heranzuziehen.756 Nach Sagmeister sei ausschlaggebend, ob eine Norm der Grundrechtecharta ihren Schwerpunkt im Leistungsbereich habe, es sei denn, sie sei so hinreichend bestimmt, dass sich daraus konkrete Maßnahmen ableiten lassen können.757 Der Grund sei darin zu sehen, dass die Mitgliedstaaten die Unterscheidung zwischen Rechten und Grundsätzen vor allem deshalb aufnahmen, 752  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 45d. 753  Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 385; Grabenwarter, EuGRZ 2004, S. 563 (566); Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn, 22 ff., Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 72; Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen GrundrechteCharta, Art. 52 Rn. 81; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, § 7 Rn. 481; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 90 f.; Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, S. 185, Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 139. 754  Peers/Prechal, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 52 Rn. 52.176. 755  Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 96; Hilson/ Downes, 15 MJ (2008), S. 193 (199 f.); Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 441 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, § 7 Rn. 26; Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art.  52 Rn.  98; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 139; 221. 756  Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 100 ff. 757  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 353.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC271

weil sie anderenfalls durch die Einfügung einklagbarer sozialer Grundrechte in das Primärrecht einen schleichenden Kompetenzzuwachs der Union sowie erhebliche finanzielle Belastungen der Haushalte der Mitgliedstaaten befürchteten.758 Der normstrukturelle Unterschied zwischen den herkömmlichen Rechten und den neuen Grundsätzen sei letztlich darin zu sehen, dass die Leistungsfunktion überwiege.759 b) Stellungnahme und eigene Lösung Für die Ansicht, dass eine abstrakte Zuordnung einzelner Chartanormen zur Kategorie der Rechte oder Grundsätze nicht notwendig ist, spricht auf den ersten Blick, dass sich die Nichteinklagbarkeit konkreter Leistungen aus den Grundsätzen materiell aus ihrer mangelnden Bestimmtheit ergibt. Die Grundsätze lassen sich in diesen Fällen als nicht unmittelbar wirksam beschreiben. Wie bereits festgestellt wurde, enthält Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC jedoch eine Aussage bezüglich der Justiziabilität der Grundsätze, die über die Beschreibung der Justiziabilität europarechtlicher Normen durch die dogmatische Figur der unmittelbaren Wirkung hinausreicht: Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC schließt es auch aus, dass auf einen Grundsatz eine Normerlassklage oder eine Klage mit dem Ziel der Feststellung der unzureichenden oder unterlassenen Umsetzung der Grundsätze gestützt wird, z. B. durch eine Untätigkeitsklage oder ein Vertragsverletzungsverfahren gem. Art. 265 und 258 AEUV. Weiterhin würde der Wortlaut des Art. 52 Abs. 5 GRC, der eine Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen anordnet, anderenfalls weitgehend außer Acht gelassen.760 Auf eine abstrakte Einordnung der Normen der Grundrechtecharta als Recht oder Grundsatz kann deshalb nicht verzichtet werden. Abzulehnen ist weiterhin der Ansatz von Kingreen. Die Unterscheidung nur nach den Verpflichtungsadressaten ist zwar ein eindeutiges, leicht handhabbares Kriterium, dagegen lassen sich jedoch gewichtige Gründe ins Feld führen: Einen Begründungsaufwand lösen insofern die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta aus, nach denen in Art. 23 und 33 GRC Grundsätze enthalten sein sollen, was nach Kingreens Auffassung gerade nicht der Fall wäre, da sich die Normen nicht explizit nur an die Union richten.761 Auch die 758  Sagmeister, S. 350. 759  Sagmeister, S. 351. 760  Schmidt, J., 761  Sagmeister, S.  344 f.

Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 214. Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta,

272 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Auffassung Kingreens, dass die Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GRC mit diesem Verständnis in Einklang zu bringen sei, kann nicht überzeugen. Nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC bindet „[d]iese Charta“ die Union und die Mitgliedstaaten, sofern sie Unionsrecht durchführen. Dass die Grundsätze als lex specialis zu Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC zu verstehen sein können, scheint nicht überzeugend, denn Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC wäre dann insoweit überflüssig, als er auch den Mitgliedstaaten aufgibt, sich an die Grundsätze zu halten und sie zu fördern.762 Der Hinweis auf die jeweiligen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten muss nicht in dem Sinne verstanden werden, dass es sich dabei um diejenigen Politikbereiche handelt, in denen das Unionsrecht gänzlich irrelevant ist. Es erscheint fragwürdig, dass Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC darauf verweisen sollte, dass die Mitgliedstaaten die in ihrem Recht geregelten Grundsätze innerhalb ihrer genuinen Zuständigkeiten einzuhalten und zu fördern hätten. Vielmehr kann damit nur gemeint sein, dass die Mitgliedstaaten die Grundsätze im Anwendungsbereich des Unionsrechts, aber im Rahmen ihrer Wahrnehmungs- und Konkretisierungskompetenzen zu erfüllen haben,763 wenn auch zuzugestehen ist, dass sich die Bindung der Mitgliedstaaten in der Regel bereits aus dem die Grundsätze konkretisierenden Sekundärrecht ergeben dürfte. Diejenigen Ansichten, die auf den objektiven oder subjektiven Gehalt der Norm abzustellen versuchen, sind letztlich nicht überzeugend, da sie Natur und Wirkung der Grundsätze vermengen.764 Während sich die deutsche Schutznormtheorie nicht auf das europäische Recht übertragen lässt,765 wird indes kaum bestritten, dass auch die Grundsätze insofern subjektiv sind, als sie die Interessen Einzelner (mit)schützen. Während sich das Fehlen eines abgrenzbaren Kreises von Begünstigten beim Umweltschutz nach Art. 36 GRC noch bejahen ließe, sind die von den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta und der allgemeinen Ansicht als Grundsätze zu qualifizierenden Art. 25 und 26 GRC eindeutig dem Schutz älterer Menschen bzw. Menschen mit Behinderung dienlich. Die Vertreter der Auffassung, dass es auf die Objektivität der Normen ankomme, meinen in Wirklichkeit nicht den von der Norm bezweckten Individualschutz, sondern die Rechtsfolge der 762  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 345. 763  Gleichsinnig Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 345. 764  I. E. ebenfalls ablehnend mit dem Hinweis darauf, dass dem Unionsrecht die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Gewährleistungen eher fremd ist Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 349. 765  Überzeugend Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  229 ff.; Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn.  67 f. m. w. N.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC273

Einordnung einer Norm als Grundsatz. So stellt Ladenburger zwar auf den „individualschützenden Gehalt“ ab, nennt als Kriterien dann aber auch die Herkunft der Norm (ob sie ein subjektiv-rechtlich verstandenes Vorbild in einer anderen Rechtsordnung hat) sowie die Ausfüllungsbedürftigkeit der Norm.766 Der individualschützende Charakter ist somit bei Ladenburger selbst bestenfalls eines unter mehreren Kriterien, um die Einordnung als Recht oder Grundsatz vornehmen zu können. Am überzeugendsten erscheint die Auffassung von Sagmeister, der darauf abstellt, ob der Schwerpunkt einer Norm im leistungs- oder abwehrrechtlichen Bereich liegt.767 Diese Auffassung bedarf jedoch einer Konkretisierung: Es kommt nicht darauf an, ob eine Norm ihren Schwerpunkt in der leistungsrechtlichen Dimension hat, sondern darauf, ob eine Norm überhaupt abwehrrechtliche Gehalte aufweist. Die Schwerpunkttheorie Sagmeisters differenziert nämlich nicht zwischen formellen und materiellen Abwehrrechten.768 Dass auch die Grundsätze formelle Abwehrrechte sein können, ergibt sich bereits aus Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC. Wenn bisher gewährte Leistungen rückgängig gemacht werden sollen, können die Grundsätze dies durch ihre Reprobationswirkung verhindern, indem der Rücknahmeakt als grundsatzwidrig missbilligt wird. Enthält eine Norm jedoch materielle Abwehrgehalte, handelt es sich nach der hier vertretenen Auffassung bei ihr um ein Recht. Dass auch Rechte eine Leistungsdimension aufweisen können, steht dem nicht entgegen, im Gegenteil würde eine andere Auffassung die Unterscheidung von Rechten und Grundsätzen letztlich kollabieren. Die fehlende unmittelbare Wirkung im Leistungsbereich mangels hinreichender Bestimmtheit und inhaltlicher Unbedingtheit kann auch bei jedem Grundrecht im Leistungsbereich vorliegen. Jedes Recht wäre dann hinsichtlich seiner Leistungsdimension ein Grundsatz. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC schließt jedoch auch die Feststellung einer Grundsatzverletzung wegen fehlender Umsetzung aus, anders als es bei der unzureichenden oder fehlenden Verwirklichung von z. B. Schutzpflichten aus Rechten der Fall ist. Grundsätze sind deshalb anders als Grundrechte solche Normen, die ausschließlich eine Leistungsdimension aufweisen.769 Auf die Gleichheitsrechte, die der Natur der Sache nach eine andere Struktur aufweisen, ist die Unterscheidung von Rechten 766  Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 98. 767  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  350 ff. 768  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 352. 769  In ähnlicher Richtung Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Vorbem. Kap. IV, Rn. 37, demzufolge Art. 52 Abs. 5 GRC auf Abwehrrechte nicht anwendbar ist.

274 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

und Grundsätzen ebenfalls nicht anwendbar. Es gilt aber auch hinsichtlich des Kriteriums, ob eine Norm nur leistungsrechtliche Inhalte gewährt, eine Ausnahme: Wenn sich bereits aus den speziellen Art. 52 Abs. 2, 3 oder 4 GRC ergibt, dass eine Norm als Recht zu verstehen ist, spielt das Kriterium der alleinigen Leistungsdimension keine Rolle, es handelt sich dann um ein materielles Leistungsrecht, das grundsätzlich einklagbar ist. Da viele Normen der Grundrechtecharta auf der EMRK, den Verträgen, der Rechtsprechung des EuGH zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder einer gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten beruhen, kommt ein Grundsatzcharakter damit für nicht allzu viele Normen der Grundrechtecharta in Betracht. Die hier vorgeschlagene Abgrenzung bietet nicht nur den Vorteil einfacher Handhabbarkeit, sondern wird auch dem Telos der Aufnahme einer Normkategorie Grundsätze in die Grundrechtecharta gerecht: Insbesondere einige Mitglieder des Konvents befürchteten immense Belastungen der mitgliedstaatlichen Haushalte, die ihrer Auffassung nach durch die Einführung materieller Leistungsrechte – vor allem wenn sie auf die Bereitstellung von Geld oder Sachmitteln zielen – entstehen könnten. Zudem fürchtete man einen „judicial activism“ der Gerichte, die die oftmals sehr unbestimmten Leistungsrechte möglicherweise eigenständig mit Inhalt ausfüllen hätten können, welcher von den Berechtigten direkt einklagbar gewesen wäre. Andererseits ist die Existenz einer Leistungsdimension der Grundrechte seit längerer Zeit anerkannt, vor allem im Anwendungsbereich der EMRK, da Grundrechtsschutz anderenfalls nicht hinreichend effektiv gewährleistet werden kann. Wird ein Abwehrrecht normiert, lassen sich daraus gegebenenfalls, je nach normativem Gehalt der Vorschrift, auch positive Handlungspflichten ableiten, insbesondere Schutzpflichten. Enthält eine Norm der Grundrechtecharta ausschließlich Leistungspflichten, die sich nicht an der EMRK oder den Verträgen orientieren und dort bereits als Rechte anerkannt werden, mangelt es – und in dieser Hinsicht setzt Art. 52 Abs. 5 GRC der interpretatorischen Ausfüllung durch die Judikative eine Grenze – an der justiziellen Ableitbarkeit konkreter Handlungspflichten aus der fraglichen Norm. Der tieferliegende Grund für die Einordnung als Grundsatz ist also auch nach hier vertretener Ansicht die große Skepsis des Konvents und der Mitgliedstaaten gegenüber materiellen Leistungsrechten, der mit dem Kriterium des Fehlens einer Abwehrdimension für die Grundsätze der Grundrechtecharta dogmatisch operationalisierbar gemacht wird. Zudem wird eine derartige Lesart dem Wortlaut des Art. 52 Abs. 5 GRC gerecht, der von einer Umsetzung der Grundsätze spricht. Während es plausibel erscheint, leistungsverkürzende Umgestaltungen der Grundsätze noch als Umsetzung zu bezeichnen, erscheint dies für einen Eingriff in eine vermeintlich abwehrrechtliche Position wenig überzeugend, handelte



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC275

es sich dabei gerade um eine Einschränkung im Sinne des Art. 52 Abs. 1 GRC.770 Der hier vertretenen Auffassung könnte schließlich entgegengehalten werden, dass sie zu Ergebnissen gelangt, die sich nicht mit der herrschenden Auffassung zur Qualifizierung der Normen der Grundrechtecharta, die sich ebenfalls häufig auf Bestimmtheitsargumente stützt, und insbesondere nicht mit den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta decken, die bei der Auslegung der Grundrechtecharta gebührend zu berücksichtigen sind. Problematisch erscheint dabei die Einordnung des Art. 3 Abs. 2 lit. a) GRC. Dieser könnte als Grundsatz einzustufen sein.771 Abgesehen davon, dass Art. 3 Abs. 2 lit. a ) GRC auch eine abwehrrechtliche Dimension zukommt (das an die Union und die Mitgliedstaaten gerichtete Verbot, medizinische Eingriffe vorzunehmen, ohne dass der Betroffene eingewilligt hat), enthält Art. 3 Abs. 2 GRC keine eigenständigen Gewährleistungen, sondern konkretisiert die Schutzpflichten und das Abwehrrecht bezüglich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 3 Abs. 1 GRC.772 Fraglich ist weiterhin die Einordnung des Art. 25 GRC. Während die Norm fast einhellig als Grundsatz eingeordnet wird,773 wird ihr dennoch teilweise eine abwehrrechtliche Dimension attestiert.774 Nach hiesiger Auffassung müsste es sich bei der Norm dann um ein Recht handeln. Die Entstehungsgeschichte zeigt indes sehr deutlich, dass auch Art. 25 GRC nur ein formelles Abwehrrecht enthält: Laut den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta lehnt sich Art. 25 GRC an Art. 23 rev. ESC und an Art. 24 und 770  A. A. Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 163, demnach jede Umsetzung auch eine Einschränkung sein kann und umgekehrt. 771  Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 226; Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, S. 374; für die Einordnung zugleich als Grundrechte und Grundsätze Borowsky, in: Meyer (Hrsg.); Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 3 Rn. 40. 772  Wie hier Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 3 Rn. 2; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 3 EU-GRCharta Rn. 12 f.; im Ergebnis ebenso, Art. 3 Abs. 2 GRC aber als eigenständiges Grundrecht einordnend Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 356. 773  Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta, Abl. C Nr.  303 v. 14.12.2007 S. 17 (35); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 25 EUGRCharta Rn. 1; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 3493; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 25 Rn. 3; Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 25 Rn. 14; Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta. S. 367 f.; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 212; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 112. 774  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 25 Rn. 2; Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 199.

276 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

25 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer an.775 Durch Art. 23 rev. ESC verpflichten sich die Vertragsparteien, „geeignete Maßnahmen zu ergreifen“ um sicherzustellen, dass ältere Menschen über ausreichende finanzielle Mittel, eine gute Gesundheitsversorgung und altersangemessene Wohnungen verfügen. Art. 24 und 25 der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer garantiert Menschen, die in den Ruhestand gehen, eine angemessene Höhe ihrer Rente bzw. – wenn sie keine Rentenansprüche erworben haben – angemessene Unterstützungsleistungen. Dadurch wird deutlich, dass Art. 25 GRC auf ein würdiges Leben und die Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben durch ausreichende Geld- und Sachmittel abstellt. Art. 25 GRC hat eine leistungsrechtliche Dimension. Die Norm dient deshalb auch nicht der Gleichheit im Sinne eines Diskriminierungsverbotes, das bereits in Art. 21 GRC verbürgt wird, sondern der Gleichheit im weiteren Sinne, in Form einer „materiellen Gleichheit“, die es älteren Menschen ermöglicht, weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Art. 25 GRC kann nur gegen den Abbau von Sozialleistungen im Rahmen des Rückschrittsverbots gem. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC ins Feld geführt werden. Deshalb ist Art. 25 GRC richtigerweise als Grundsatz zu qualifizieren. Die hier vorgeschlagene Abgrenzung von Rechten und Grundsätzen lässt sich damit auch auf die anderen Normen der Grundrechtecharta anwenden und gelangt zu sachgerechten Ergebnissen, die sich zudem mit den Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta decken. 4. Die Einordnung der Gewährleistungen des Art. 33 GRC als Recht oder Grundsatz Nach der hier vertretenen Lösung zur Abgrenzung von Rechten und Grundsätzen in der Grundrechtecharta sind die Gewährleistungen des Art. 33 GRC als Rechte oder Grundsätze einzuordnen. In der Literatur ist die Einordnung der Gewährleistungen des Art. 33 GRC umstritten. a) Art. 33 Abs. 1 GRC Nach Art. 33 Abs. 1 GRC wird der soziale, wirtschaftliche und rechtliche Schutz der Familie gewährleistet. Die Schutzbedürftigkeit der Familie wird damit begründet, dass sie besonderen Gefahren ausgesetzt ist. Diese entstammen, wie auch bei der Schutzpflichtendimension der Grundrechte, nicht der staatlichen Sphäre (dann sind die Abwehrrechte der Art. 7 und 9 GRC ein775  Abl.

C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (25).



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC277

schlägig), sondern gehen von Privaten oder von sonstigen Quellen aus. Die Modalität „Schutz“ verlangt deshalb stets eine Handlung der Normadressaten. Das Schutzrecht ist ein klassisches Leistungsrecht im weiteren Sinne. Da Art. 33 Abs. 1 GRC ausschließlich eine Leistungsdimension enthält, ist er nach hier vertretener Auffassung als Grundsatz einzuordnen.776 Teilweise wird Art. 33 Abs. 1 GRC der hier vertretenen Auffassung widersprechend als Grundrecht eingeordnet. Kingreen argumentiert zu diesem Zweck zunächst mit dem Abgrenzungskriterium der Verpflichtungsadressaten. Dieses wurde bereits zurückgewiesen.777 Darüber hinaus argumentiert Kingreen, dass eine Parallele zu Art. 6 Abs. 1 GG gezogen werden könne, der trotz ähnlicher Formulierung („Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung“) vom BVerfG und der allgemeinen Meinung in der Lehre als Grundrecht eingestuft werde.778 Dafür mag sprechen, dass auch Art. 6 Abs. 1 GG das Wort „Schutz“ verwendet und das Grundrecht offenbar einer Konkretisierung durch das BVerfG zugänglich ist. Andererseits folgt der „Schutz“ im Sinne einer Schutzpflicht und einem korrespondierenden Recht im Sinne der Grundrechtecharta bereits umfänglich aus Art. 7 und 9 GRC. Einen eigenständigen Gehalt kann Art. 33 Abs. 1 GRC nur dadurch gewinnen, dass man ihm auch ein Fördergebot entnimmt, den „Schutz“ mithin in einem umfassenderen Sinne auslegt. Das Fördergebot zugunsten der Familie wird in der deutschen Rechtsordnung ebenfalls an dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 GG festgemacht, der einen „besonderen“ Schutz gewährt.779 Einen „besonderen“ Schutz schreibt Art. 33 Abs. 1 GRC demgegenüber nicht vor. Die Tatsache, dass wesentliche Elemente der Leistungsdimension des Familienschutzes in eine eigene Vorschrift außerhalb der Art. 7 und 9 GRC „ausgegliedert“ wurden, spricht eher gegen eine Konstruktion des Art. 33 Abs. 1 GRC als Recht. Art. 7 GRC wäre anderenfalls größtenteils überflüssig. Methodischen Bedenken begegnet es überdies, die Auslegung einer Norm des deutschen Verfassungsrechts unbesehen auf eine ähnlich lautende, doch in anderem systematischen Zusammenhang stehende 776  I. E. wie hier Art. 33 Abs. 1 GRC grundsätzlich als Grundsatz qualifizierend Postberg, Das Zusammenwirken von EMRK, Grundgesetz und EU-Grundrechtscharta anhand des Art. 52 III und des Art. 52 der Charta, S. 131 f.: Art. 33 I GRC sei ein Grundsatz, aber auch ein Abwehrrecht hinsichtlich des Bestandes der Familie in den Kernbereichen; Wolffgang, in: Lenz/Borchardt, EU-Verträge Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 1: Grundsatz; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 33 GRC Rn. 3: Abs. 1 ist Grundsatz, Abs. 2 ist Grundrecht; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4042: Abs. 1 Grundsatz; ebenso Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 111; Wutz/Ziniel, in: Holoubek/Lienbacher, GRC-Kommentar, Art. 33 Rn. 23. 777  s. o., S.  271 f. 778  Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art.  33 EU-GRCharta Rn. 2; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 118. 779  Uhle, in: BeckOK-GG, Art. 6 Rn. 33.

278 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Norm der Grundrechtecharta zu übertragen. Zum einen existiert die Kategorie der Grundsätze als solche im Grundgesetz nicht, Art. 6 Abs. 1 GG ist vielmehr bereits aufgrund der ausdrücklichen Anordnung des Art. 1 Abs. 3 GG als Grundrecht zu verstehen, zum anderen müsste, um Gehalte des nationalen Verfassungsrechts in das Grundrechtsregime der Grundrechtecharta transponieren zu können, eine gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten bestehen, die für den Schutz von Ehe und Familie in diesem Maße nicht nachweisbar ist.780 Rudolf ist der Auffassung, Art. 33 Abs. 1 GRC enthalte auch „eine abwehrrechtliche Dimension beim wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie“.781 Es bleibt aber unklar, worin diese bestehen soll. Es kommt nur ein formeller Abwehrgehalt in Frage. Dieser ist aber auch bei den Grundsätzen gem. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC in Gestalt der Reprobationswirkung stets gegeben. Ein materieller Abwehrgehalt ist hingegen nicht ersichtlich, dieser ist im Gegenteil in Art. 7 bzw. 9 GRC enthalten. Die bisherige Rechtsprechung des EGMR, die wegen Art. 52 Abs. 3 GRC bei der Auslegung der Art. 7 und 9 GRC zu beachten ist, hat den weitergehenden wirtschaftlichen Schutz der Familie im Sinne des Rechts auf Bereitstellung materieller Grundlagen ausdrücklich nicht als von Art. 8 EMRK geschützt angesehen. Die Argumente zur Einordnung des Art. 33 Abs. 1 GRC als Recht vermögen demnach die hier vertretene Auffassung nicht zu widerlegen. Art. 33 Abs. 1 GRC ist als Grundsatz einzuordnen. b) Art. 33 Abs. 2 GRC Ebenfalls nicht einheitlich ist die Einordnung des Art. 33 Abs. 2 GRC. Von der Mehrheit des Schrifttums wird die Norm als Grundrecht eingeordnet.782 Als Begründung werden im Einklang mit den im Schrifttum vertretenen Abgrenzungskriterien vor allem der Wortlaut angeführt, nach dem Art. 33 GRC ein „Recht“ und einen „Anspruch“ (in der englischen Sprachfassung jeweils „the right“, in der französischen Sprachfassung jeweils „le droit“) gewährt.783 780  s. oben,

S. 71. in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 18; ebenso Welte, Der Familienschutz im Spektrum des Ausländerrechts, S. 129. 782  s. nur Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 11; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta Rn. 5; Petersen, Der Schutz sozialer Grundrechte in der Europäischen Union, S. 99; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 119; Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 33 GRC Rn. 3. 783  Knecht, in: Schwarze, EU-Kommentar, Art. 33 GRC Rn. 8; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 33 EU-GRCharta, Rn. 5; Jarass, Charta der Grund781  Rudolf,



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC279

Nur vereinzelt findet sich eine Zuordnung auch des Art. 33 Abs. 2 GRC zu den Grundsätzen.784 Die Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta sehen in Art. 33 GRC ein Recht und einen Grundsatz, ohne zu bestimmen, ob es sich bei Art. 33 Abs. 2 GRC um das Recht oder den Grundsatz handelt.785 Eine differenzierende Auffassung vertritt Sagmeister, der dafür plädiert, in Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC, dem Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund, ein Grundrecht zu verorten und Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC, die Ansprüche auf Mutterschaftsurlaub und auf Elternurlaub, als Grundsätze zu qualifizieren.786 Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC sei praktisch kongruent zum Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts aus Art. 21 Abs. 1 GRC. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC enthielten dagegen Leistungsrechte, die nicht ausreichend konkretisiert seien, um sie als echte Grundrechte zu qualifizieren.787 Eine Differenzierung zwischen den Varianten des Art. 33 Abs. 2 GRC verdient Zustimmung: Der Schutz vor Entlassung im Falle der Mutterschaft enthält Elemente eines speziellen Diskriminierungsverbotes, sofern man unter der Mutterschaft die Schwangerschaft versteht788 und ist schon deshalb seiner Wirkungsweise nach kein Grundsatz. Anderenfalls gewährt die Norm den Bediensteten der Union und der Mitgliedstaaten jedenfalls ein Abwehrrecht gegen Entlassungen während der Mutterschaft. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC enthalten hingegen Leistungsrechte und damit Grundsätze.789 Bedienstete der Union und der Mitgliedstaaten haben einen Anspruch auf Freistellung von der Arbeit bzw. auf Ausgleich finanzielrechte der EU, Art. 33 Rn. 3; Schmidt, J., Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrechtecharta, S. 233; Schmittmann, Rechte und Grundsätze in der Grundrechtecharta, S. 119. 784  So wohl Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2010, Art. 33 Rn. 13, 18; differenzierend Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 373 f., der in dem Anspruch auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung ein Recht, in den beiden anderen Varianten Grundsätze erblickt. 785  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (35). 786  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 374. 787  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 374. 788  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 33 Rn. 16; Marauhn, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 40 Rn. 23; Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 17. Nach hier vertretener Auffassung können auch andere Familienmitglieder in den Genuss des Rechts aus Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC kommen. 789  So auch Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S. 374.

280 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

ler Nachteile während des Mutterschaftsurlaubs. Gegen eine solche Einordnung könnte sprechen, dass es sich bei den Gewährleistungen des Art. 33 Abs. 2 GRC um ein einheitliches Grundrecht handelt.790 Dazu müssten Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC das Abwehrrecht des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC hinsichtlich diesbezüglicher Leistungspflichten konkretisieren. Einerseits ist aber der Schutz vor Entlassung während der Mutterschaft (auch) Ausprägung des Diskriminierungsverbots von Müttern bzw. von anderen nahestehenden Familienmitgliedern, andererseits gehen Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC weit über das Schutzgut des Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC hinaus. Der Schutz vor Entlassung während der Mutterschaft trägt der besonderen Situation von Müttern und ihren Angehörigen Rechnung, der Anspruch auf Mutterschaftsurlaub, vor allem aber der Anspruch auf Elternurlaub, dient weiter darüber hinausgehend der Förderung der Vereinbarung von Familie und Beruf. Im Ergebnis ist der Unterschied der Einordnung des Art. 33 Abs. 2 GRC als Recht oder Grundsatz faktisch bedeutungslos, da den Verpflichtungen aus Art. 33 Abs. 2 GRC mit den Richtlinien 92 / 85 / EWG zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes von schwangeren Arbeitnehmerinnen, Wöchnerinnen und stillenden Arbeitnehmerinnen am Arbeitsplatz791 und 96 / 34 / EG zur Rahmenvereinbarung über Elternurlaub792 bereits Rechnung getragen ist. Eine Absenkung des Schutzstandards in diesen Richtlinien müsste sich am Rückschrittsverbot des Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC messen lassen, das angesichts der relativ detaillierten Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 GRC streng gehandhabt werden müsste. Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass nur der Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund ein Recht verbürgt, die übrigen Gewährleistungen des Art. 33 GRC hingegen, trotz der sprachlichen Fassung als Ansprüche, Grundsätze sind.

IV. Zusammenfassung zum Schutz von Ehe und Familie in Art. 33 GRC Die Gewährleistungen des Art. 33 Abs. 2 GRC sind im Verhältnis zu Art. 33 Abs. 1 GRC lex specialis. Die Definition der Mutterschaft in Art. 33 Abs. 2 GRC reicht von der Zeugung bis zum Ende des Mutterschaftsurlaubes. Das Recht auf Schutz vor Entlassung aus einem mit der Mutterschaft zusammenhängenden Grund kommt nicht nur Müttern, sondern auch anderen Familienangehörigen zu. Es hat abwehr- und leistungsrechtliche Gehalte. Der 790  Rudolf, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 33 Rn. 13 betrachtet Art. 33 GRC insgesamt als einheitliches Grundrecht. 791  ABl. L Nr. 348 v. 28.11.1992, S. 1. 792  ABl. L Nr. 145 v. 19.6.1996, S. 4.



F. Ehe und Familie in Art. 33 GRC281

Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub steht Arbeitnehmern und selbständigen Müttern zu. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC trifft keine Aussage darüber, ob der Mutterschaftsurlaub durch Lohnfortzahlung oder durch Leistungen der sozialen Sicherheit bezahlt wird. Der Anspruch auf bezahlten Mutterschaftsurlaub hat materiell ausschließlich eine Leistungsdimension. Der Anspruch auf Elternurlaub des Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC steht Müttern und Vätern zu. Es bleibt den Mitgliedstaaten und der Union überlassen, ob für den Elternurlaub eine Bezahlung gewährt wird, von Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC gefordert ist sie nicht. Das Recht auf Elternurlaub weist ebenfalls ausschließlich leistungsrechtliche Gehalte auf. Art. 33 Abs. 1 GRC ist die Grundnorm des leistungsrechtlichen Familienschutzes in der Grundrechtecharta. Unter einer Familie im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GRC sind Eltern und ihre Kinder zu verstehen, so lange die Kinder noch von den Eltern abhängig sind und keine eigene Familie gegründet haben. Anders als bei Art. 7 GRC sind Ehen, nichteheliche Lebensgemeinschaften oder die Großfamilie nicht vom Schutzbereich des Art. 33 Abs. 1 GRC erfasst. Der von Art. 33 Abs. 1 GRC gewährte „Schutz“ ist in einem weiten Sinne zu verstehen, die Norm konstituiert deshalb auch ein Fördergebot zugunsten der Familie. Handlungspflichten zum Schutz vor Gefahren durch Dritte werden hingegen umfänglich von Art. 7 GRC erfasst. Das Kernstück der Förderpflicht ist der wirtschaftliche Schutz der Familie. Wirtschaftlicher und sozialer Schutz der Familie können sich überschneiden. Welche Variante des Art. 33 Abs. 1 GRC einschlägig ist, beurteilt sich danach, ob die wirtschaftliche Förderung durch eine Maßnahme einschlägig ist, z. B. die Kostenfreiheit oder Subventionierung einer Maßnahme, oder ob die Verfügbarkeit sozialer Dienstleistungen in Frage steht. Die Regelung des Art. 52 Abs. 5 GRC fügt sich größtenteils in die Dogmatik der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts ein. Der nach Auffassung des Konvents deklaratorische Art. 52 Abs. 5 GRC beschreibt die unmittelbare Wirkung der Grundsätze, die nach Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC auf den „exclusionary effect“ beschränkt ist. Grundsätze sind umsetzungsbedürftig und teilweise inhaltlich bedingt. Deshalb kann sich aus ihnen auch kein unmittelbarer Anspruch auf eine konkrete Leistung ergeben. In diesem Sinne vermitteln sie keine subjektiven Rechte nach deutschem Verständnis. Die Regelung des Art. 52 Abs. 5 GRC geht jedoch über eine Aussage über die unmittelbare Wirkung der Grundsätze hinaus. Demnach ist Art. 52 Abs. 5 GRC keine rein deklaratorische Norm. Die Justiziabilität von Grundsätzen wird hinsichtlich der Feststellung einer Verletzung der Grundsätze durch das Unterlassen von Umsetzungsakten oder der Feststellung einer ungenügenden

282 2. Teil: Dogmatik des Schutzes von Ehe u. Familie in der Grundrechtecharta

Umsetzung durch Art. 52 Abs. 5 GRC ausgeschlossen.793 Die mangelnde Justiziabilität der Grundsätze ist dabei die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 5 GRC. Ihr Grund liegt in der Einordnung einer Norm als Grundsatz. Deshalb kann die eingeschränkte Justiziabilität auch nicht das Unterscheidungskriterium zwischen Rechten und Grundsätzen sein. Rechte sind grundsätzlich auch in ihrer leistungsrechtlichen Dimension fähig, unmittelbar wirksam zu sein und vermitteln subjektive Rechte, während die Grundsätze nur bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Umsetzungsakte unmittelbar wirken. Umsetzungsakte im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC sind Maßnahmen, die einen Grundsatz fördern oder das bereits erreichte Niveau der Förderung beschneiden. Umsetzungsakte können nicht mit dem Argument am Maßstab der Grundsätze gemessen werden, dass sie den Grundsatz nicht stark genug fördern, weil die Nichtigerklärung oder Nichtanwendung keine weitergehende Förderung des Grundsatzes bewirken kann. Bei der Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Umsetzungsakten, die das bereits erreichte Leistungsniveau absenken, bewirken die Grundsätze ein relatives Rückschrittsverbot. Dabei kommt ein modifiziertes Untermaßverbot zur Anwendung, dessen Folge nur sein kann, dass der status quo ante wiederhergestellt wird. Hinsichtlich der grundsatzkonformen Auslegung gelten die gleichen Einschränkungen wie bei der unionsrechtskonformen Auslegung nationalen Rechts am Maßstab von Richtlinien: Da Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC die gerichtliche Erzwingung eines Umsetzungsaktes ausschließt und die Grundsätze nur die Union und die Mitgliedstaaten binden, darf die grundsatzkonforme Auslegung nicht so weit gehen, dass neue Ansprüche kreiert oder Dritte verpflichtet werden.794 Rechte und Grundsätze unterscheiden sich durch die ihnen inhärenten Funktionen. Grundsätze weisen keinen materiell abwehrrechtlichen Gehalt auf. Normen in der Grundrechtecharta, die materiell ausschließlich eine Leistungsdimension aufweisen und nicht bereits wegen Art. 52 Abs. 2 bis 4 GRC als Rechte zu qualifizieren sind, sind Grundsätze im Sinne des Art. 52 Abs. 5 GRC. Demnach ist Art. 33 Abs. 1 GRC ein Grundsatz. Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC ist ein Recht, Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC sind ebenfalls Grundsätze.

793  Cremer, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd.  II, § 1 Rn. 111. 794  Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta, S.  294 f.

Dritter Teil

Einfluss des Ehe- und Familienschutzes der Grundrechtecharta auf das bestehende Sekundärrecht der Europäischen Union Schließlich bleibt zu untersuchen, ob der Schutz von Ehe und Familie durch die Grundrechtecharta bereits zum derzeitigen Stand der europäischen Integration praktische Relevanz hat. Voraussetzung dafür ist, dass der Anwendungsbereich der Grundrechtcharta nach Art. 51 Abs. 1 GRC eröffnet ist. (s. lit. A.). Sofern dies der Fall ist, stellt sich die weitere Frage, ob es trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Zuständigkeit der Union für Ehe und Familie schon heute Anwendungsfelder für die Gewährleistungen zu Ehe und Familie gibt (s. lit. B.).

A. Anwendungsbereich der Grundrechtecharta Voraussetzung der Anwendbarkeit der Art. 7, 9 und 33 GRC ist die Eröffnung des Anwendungsbereiches der Grundrechtecharta. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC nennt als Verpflichtungsadressaten „die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union“. Die Organe der Union werden in Art. 13 Abs. 1 EUV aufgezählt. Von der Formulierung der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union werden ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta alle sonstigen primär- oder sekundärrechtlich kreierten Einrichtungen erfasst.1 Demnach sind alle Untergliederungen der Union, die Hoheitsgewalt ausüben, an die Unionsgrundrechte gebunden.2 Die Reichweite der Bindung ist umfassend, sie gilt für alle Aktivitäten der Union. Grundrechtsfreie Bereiche bestehen nicht.3 1  Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta, ABl. C Nr. 303 v. 14.12. 2007, S. 17 (32). 2  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 5; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 EU-GRCharta Rn. 5; zu zukünftigen Kategorisierungsproblemen Ward, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 51 Rn. 51.33. 3  Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 14; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 EU-GRCharta Rn. 5; wobei die Justiziabilität in wenigen Bereichen eingeschränkt sein kann, vgl. Art. 24 Abs. 1 uA 2 S. 6 EUV, Art. 275

284

3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

Die Mitgliedstaaten sind hingegen gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC „ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union“ an die Unionsgrundrechte gebunden. Der genaue Umfang der Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte war bereits vor der Erarbeitung der Grundrechtecharta für die Rechtsgrundsatz-Grundrechte umstritten.4 Die Regelung in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC hat diesen Streit für den Anwendungsbereich der Grundrechtecharta nicht lösen können, sondern eher weiter verschärft.5 Der EuGH hält die Mitgliedstaaten immer dann für an die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze gebunden, wenn sie „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ tätig werden.6 Darunter ist zum einen die Konstellationen zu verstehen, in denen die Mitgliedstaaten das Unionsrecht durch die Umsetzung unionsrechtlicher ­Vorgaben durchführen, sog. „agency situation“.7 Davon ist jedenfalls die administrative Durchführung von Verordnungen, umgesetzten oder nicht ­umgesetzten und unmittelbar anwendbaren Richtlinien erfasst,8 ebenso die normative Umsetzung von Richtlinien selbst.9 Bei der Prüfung der UnionsAEUV; vgl. auch Ward, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 51 Rn. 51.34 ff. 4  Vgl. nur Jones, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Europäischen Gemeinschaft; Rickert, Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht. 5  Vgl. die zahlreichen Monographien zu der Thematik, Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte; Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta am Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten; Heuer, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC: Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte; Mall, die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte; Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte; Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte. 6  EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 Rn. 42 – ERT/DEP. 7  Seit EuGH, Rs. C-5/88, Slg. 1989, 2609 – Wachauf ./. Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft; Der Ausdruck geht auf Weiler, Fundamental Rights and Fundamental Boundaries: On Standards and Values in the Protection of Human Rights, S. 67 ff. zurück. 8  Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 51 ff.; Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 17; Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 10 ff.; Ward, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 51 Rn. 51.38; Kühling, Grundrechte, in: Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S.  657 (680 f.). 9  Str., ebenso Kühling, Grundrechte, in: Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht, S. 657 (680 f.); Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S.  54 ff.; Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemein-



A. Anwendungsbereich der Grundrechtecharta285

grundrechte in Fällen des Unterlassens ist erforderlich, dass die Mitgliedstaaten in dem fraglichen Sachgebiet bereits eine unionsrechtliche Handlungspflicht aus einer anderen Norm als einem Grundrecht, in der Regel einer sekundärrechtlichen Norm, trifft. Es ist hingegen für die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Grundrechte nicht ausreichend, dass eine Kompetenz der Union auf dem Gebiet besteht, von dieser aber noch kein Gebrauch gemacht wurde.10 Seit der Entscheidung in der Sache ERT geht der EuGH davon aus, dass die Mitgliedstaaten darüber hinaus auch dann an die Unionsgrundrechte gebunden sind, wenn sie die Grundfreiheiten einschränken.11 Bei der Rechtfertigung der Einschränkung der Grundfreiheit müssen die Grundrechte beachtet werden.12 Diese Rechtsprechungslinie des EuGH ist in der Europarechtswissenschaft nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen.13 Die Formulierung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC gibt Anlass, die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten in der „ERT-Konstellation“ zu bezweifeln. Dem Wortlaut der Norm nach sind die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts an die Normen der Grundrechtecharta gebunden. Die Einschränkung von Grundfreiheiten ist möglicherweise nicht als Durchführung im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC zu verstehen. In der Formulierung der Norm könnte der Versuch der Mitgliedstaaten erblickt werden, den EuGH zu einer restriktiveren Rechtsprechung in Fragen der Grundrechtsprechung zu bewegen.14 Bei isolierter Betrachtung erscheint der Wortlaut jedoch zu keiner restriktiveren Auslegung zu zwingen. Nicht nur der normative oder administrative Vollzug des Unionsrechts, sondern auch die Einschränkung von Grundfreiheiten lässt sich als „Durchführung“ des Unionsrechts bezeichnen, da die Mitgliedstaaten geschriebene oder ungeschriebene Ausnahmetatbestände und Beschränkungsmöglichkeiten anwenschaftsgrundrechte, S. 17; Nusser, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S.  10 ff.; Ward, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 51 Rn. 51.38. 10  Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 61; Winkler, Die Grundrechte der Europäischen Union, S. 127 f. 11  EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 – ERT. 12  EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 Rn. 43 – ERT. 13  Vgl. die Nachweise bei Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, S. 58 Fn. 207; Schaller, Die EU-Mitgliedstaaten als Verpflichtungsadressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 50 Fn. 81; Schorkopf, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 3 Rn. 27. 14  Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 36; zur Entstehungsgeschichte auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 2 ff.

286

3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

den.15 Die anderen Sprachfassungen der Norm unterstützen diesen Befund.16 Zudem wird der Ausdruck „Durchführung“ auch sonst im Unionsrecht nicht eindeutig restriktiv verwendet.17 Die Entstehungsgeschichte liefert ebenfalls keinen eindeutigen Befund. Der Wortlaut des heutigen Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC war Gegenstand zahlreicher Änderungsanträge im Konvent, einmal mit restriktiver, ein andernmal mit erweiternder Stoßrichtung.18 Warum das Präsidium des Konvents letztlich an der heutigen Sprachfassung festhielt, lässt sich nicht mit Sicherheit rekonstruieren.19 Eindeutig ist jedoch, dass die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 51 GRC ausdrücklich auf das Urteil des EuGH in der Sache ERT verweisen.20 Spätestens den Teilnehmern der Regierungskonferenz dürfte die wissenschaftliche Diskussion um den Wortlaut des Art, 51 Abs. 1 S. 1 GRC nicht entgangen sein, ohne dass die Mitgliedstaaten sich zu einer Änderung des Wortlauts der Norm oder der Erläuterungen veranlasst sahen.21 Der EuGH hat die Frage freilich bereits zugunsten einer weiten Interpretation entschieden. In der vielbeachteten Entscheidung Åkerberg Fransson22 genügte dem EuGH ein wenig konkreter Bezug zum Unionsrecht als „Durchführung“ im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC. Das Verfahren betraf einen Fischer, der durch falsche Angaben Steuern hinterzogen hatte. Die schwedi15  Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 43 f.; a. A. Cremer, NVwZ 2003, S. 1452 (1455). 16  Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S.  44 f.; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 67; Ward, in: Peers/Hervey/Kenner/Ward, The EU Charter of Fundamental Rights, Art. 51 Rn. 51.49. 17  Ohler, NVwZ 2013, S. 1433 (1434); Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 67. 18  Vgl. die Darstellung bei Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 48 ff.; i. E. ebenso Heuer, Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC: Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 161 f. 19  Zu den verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte, S. 53 f. 20  ABl. C Nr. 303 v. 14.12.2007, S. 17 (32). Die Erläuterungen nennen als „Bestätigung“ dieser Rechtsprechung jedoch auch das Urteil des EuGH in der Rs. Karlsson, C-292/97, Slg. 2000, I-2737 Rn. 37, das gerade nicht die ERT-Konstellation betraf, vgl. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, S. 57. 21  Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 51 Rn. 9a, der aus der Beibehaltung des von ihm eher restriktiv verstandenen Wortlauts den Schluss zieht, dass die Mitgliedstaaten ein eher enges Verständnis gewollt hätten. 22  EuGH, Rs. C-617/10, Slg., Rn. 17 ff. – Åkerberg Fransson, bestätigt in EuGH, Rs. C-258/13, Rn. 18 ff. – Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio; C-390/12, Slg., Rn. 31 ff. – Pfleger.



A. Anwendungsbereich der Grundrechtecharta287

sche Steuerverwaltung hatte ihm deshalb bereits Steuerzuschläge auferlegt. Nun wurde er wegen derselben Tat wegen Steuerhinterziehung angeklagt. Das Strafgericht legte dem EuGH die Frage vor, ob die Durchführung eines Strafverfahrens gegen das Doppelbestrafungsverbot aus Art. 50 GRC verstoße, wenn wegen derselben Tat bereits in einem Verwaltungsverfahren eine wirtschaftliche Sanktion, in diesem Fall ein Steuerzuschlag, verhängt wurde. Zunächst zitiert der EuGH in seiner Begründung den Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC, um gleich darauf apodiktisch festzustellen, dass dadurch die Rechtsprechung des EuGH zur Frage der Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte bestätigt werde.23 Aus der bisherigen Rechtsprechung ergebe sich „im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden.“24 Demnach geht der EuGH davon aus, dass die Mitgliedstaaten in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen dieses im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC durchführen. Es seien „keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte.“25 Zur Begründung seiner Auffassung bezieht sich der EuGH ausdrücklich auf die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC.26 Der EuGH stellt in Bezug auf den konkreten Fall in Åkerberg Fransson fest, dass sowohl die Steuerzuschläge als auch das Strafverfahren „teilweise im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung von Mitteilungspflichten auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer stehen.“27 Das ergebe sich zum einen daraus, dass die Mitgliedstaaten gemäß der Richtlinie 2006 / 112 / EG28 sowie dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV verpflichtet seien, die notwendigen Rechtsvorschriften zu erlassen, um den vollständigen Einzug der Mehrwertsteuer zu gewährleisten und Betrug zu bekämpfen. Zum anderen müssten die Mitgliedstaaten zur Bekämpfung rechtswidriger Maßnahmen, die sich gegen die Union richten, gem. Art. 325 AEUV wirksame und abschreckende Maßnahmen ergreifen. Da die Eigenmittel der Union auch diejenigen Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung des einheitlichen Satzes auf die unionsrechtlich bestimmte ein23  EuGH,

Rs. C-617/10, Slg., Rn. 18 – Åkerberg Fransson. Rs. C-617/10, Slg., Rn. 19 – Åkerberg Fransson. 25  EuGH, Rs. C-617/10, Slg., Rn. 21 – Åkerberg Fransson. 26  EuGH, Rs. C-617/10, Slg., Rn. 20 – Åkerberg Fransson. 27  EuGH, Rs. C-617/10, Slg., Rn. 24 – Åkerberg Fransson. 28  Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L Nr. 347 v. 11.12.2006, S. 1. 24  EuGH,

288

3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

heitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der vollständigen Erhebung der Mehrwertsteuer und der Höhe der Mittel der Union.29 Deshalb seien steuerliche Sanktionen und Steuerstrafverfahren im Bereich des Mehrwertsteuerrechts als Durchführung der einheitlichen Vorschriften bezüglich der Mehrwertsteuer in Art. 2, 250 und 273 RiL 2006 / 112 / EG anzusehen.30 Dem stehe auch nicht entgegen, dass die schwedischen Vorschriften über Steuerzuschläge sowie die Steuerstrafvorschriften nicht zur Umsetzung der RiL 2006 / 112 / EG erlassen worden seien.31 Der EuGH fügt allerdings hinzu, dass er die Anwendung nationaler grundrechtlicher Standards nicht für ausgeschlossen hält, sofern dadurch weder das Grundrechtsschutzniveau des Unionsrechts noch dessen einheitliche Wirksamkeit gefährdet werden.32 Der EuGH nimmt in der Rs. Åkerberg Fransson mithin eine Auslegung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC vor, die noch über die bisher anerkannten Fallgestaltungen – die „agency situation“ und die Beschränkung von Grundfreiheiten – hinausgeht. Der EuGH hat die Formel aus Åkerberg Fransson, dass die Anwendbarkeit der Grundrechtecharta so weit reiche wie der Anwendungsbereich des Unionsrechts, noch einmal ausdrücklich bestätigt.33 In einem Fall wurde der Anwendungsbereich des Unionsrechts vom EuGH verneint,34 das andere Mal bejaht,35 wobei das in diesem letzten Verfahren auch nach der ERT-Rechtsprechung der Fall gewesen wäre. Wie genau der Zusammenhang zwischen der mitgliedstaatlichen Aktivität und den Regelungen des Unionsrechts beschaffen sein muss, bleibt damit weiterhin offen und harrt der Klärung durch den Gerichtshof. Feststehen dürfte aber, dass der EuGH den restriktiven Lesarten des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC eine Absage erteilt hat36 und seine bisherige Rechtsprechungslinie weiterverfolgen wird.

29  EuGH,

Rs. C-617/10, Slg., Rn. 25 f. – Åkerberg Fransson. Rs. C-617/10, Slg., Rn. 27 – Åkerberg Fransson. 31  EuGH, Rs. C-617/10, Slg., Rn. 28 – Åkerberg Fransson. 32  EuGH, Rs. C-617/10, Slg., Rn. 29 – Åkerberg Fransson. 33  EuGH, Rs. C-258/13, Slg., Rn. 18 ff. – Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio; EuGH, Rs. C-390/12, Slg., Rn. 32 ff. – Pfleger; EuGH, Rs. C-418/11, Slg., Rn. 72 – Texdata Software. 34  EuGH, Rs. C-258/13, Slg., Rn.  24 – Sociedade Agrícola e Imobiliária da Quinta de S. Paio. 35  EuGH, Rs. C-390/12, Slg., Rn. 29 – Pfleger. 36  Ehlers, in: Ehlers. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 68; Hwang, EuR 2014, S. 400 (403); Weiß, EuZW 2013, S. 287 (289); Schorkpf, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 3 Rn. 26; Winter, NZA 2013, S. 473 (473); Rabe, NJW 2013, S. 1407 (1408). 30  EuGH,



B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie289

B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie Die Europäische Union ist Staatenverbund,37 nicht Bundesstaat. Ihr fehlt die Definitionshoheit über ihre eigenen Aufgaben und Zuständigkeiten. Diese werden ihr durch die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ übertragen. Das findet primärrechtlich seinen Ausdruck im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 EUV, nach dem die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr übertragen haben. Alle anderen Zuständigkeiten verbleiben in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Die Tätigkeit der Union oder der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Unionsrechts, die zu einer Anwendung der Art. 7, 9 und 33 GRC führen können, setzt deshalb voraus, dass der Union eine Kompetenz zur Regelung von Ehe und Familie zukommt. Dass die Grundrechte der Grundrechtecharta keinerlei erweiternde Auswirkungen auf die Kompetenzen der Europäischen Union haben, wird in Art. 6 Abs. 1 uA 2 EUV, Art. 51 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GRC ausdrücklich klargestellt. Weil die Entscheidung über Fragen des Familienrechts „in besonderem Maße gewachsene Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in spezifischen historischen Traditionen und Erfahrungen verwurzelt sind“38 berührt und die Mitgliedstaaten deshalb besonders sensibel auf Einflüsse von außerhalb der eigenen staatlichen Sphäre reagieren, ist es nicht überraschend, dass sie der Union weder eine allgemeine Kompetenz für das Familienrecht, noch besondere Zuständigkeiten für die Familienpolitik eingeräumt haben.39

I. Grundrechtskonformität der Eigenverwaltung der Europäischen Union am Beispiel des europäischen öffentlichen Dienstes Dennoch können die Art. 7, 9 und 33 GRC für die Regelung des öffentlichen Dienstes der Europäischen Union relevant sein. Die Union ist bei allen 37  BVerfGE

89, 155. 123, 267 (363). 39  Britz, JZ 2013, S. 105 (106); Uerpmann-Wittzack, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 10 Rn. 15; Frenz, Handbuch Europarecht IV, Rn. 4032; Marauhn, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, § 40 Rn. 1; Isensee, DVBl. 2009, S. 801 (803); Lembke, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 33 GRC Rn. 4; Mückl, in: Merten/ Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, § 141 Rn. 8; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 9 EU-GRCharta Rn. 3; Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 9 Rn. 12. 38  BVerfGE

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

ihren Tätigkeiten umfänglich an die Unionsgrundrechte gebunden. Das gilt auch für die Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten. Dementsprechend muss die Union die Beschäftigungsverhältnisse ihrer Mitarbeiter grundrechtskonform ausgestalten. Die Bediensteten der Union sind Grundrechtsträger und können sich demgemäß auf die Gewährleistungen der Grundrechtecharta berufen,40 sodass den Grundrechten der Grundrechtecharta für den europäischen öffentlichen Dienst eine praktische Bedeutung erwachsen kann. Die Regelungen des europäischen öffentlichen Dienstes sind vor allem in dem Beamtenstatut und den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Union geregelt. Das erste einheitliche Beamtenstatut der Europäischen Gemeinschaften41 erging als Verordnung aufgrund des Art. 24 Fusionsvertrages.42 Das Recht der Beamten und sonstigen Bediensteten der Europäischen Gemeinschaften wurde, gestützt auf Art. 283 EG, im Zuge der Erweiterung im Jahre 2004 umfassend modernisiert.43 Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon bildet Art. 336 AEUV die Rechtsgrundlage für die Regelung der Rechtsverhältnisse der Bediensteten der Europäischen Union. Das Dienstrecht wurde jüngst zum Anfang des Jahres 2014 noch einmal reformiert.44 Das Beamtenstatut enthält etliche Regelungen mit Relevanz für die Ehe und das Familienleben. So haben die Bediensteten der Europäischen Union Anspruch auf Mutterschaftsurlaub (Art. 58 Beamtenstatut, Art. 16 Abs. 1 S. 1 Beschäftigungsbedingungen, dazu Ziff. 1.) und Elternurlaub (Art. 42a Beamtenstatut, Art. 16 Abs. 1 S. 1 Beschäftigungsbedingungen, dazu Ziff. 2.). Bei der Geburt eines Kindes erhalten Beamte gem. Art. 74 Beamtenstatut eine Zulage. Für jedes unterhaltsberechtigte Kind wird darüber hinaus eine Kinderzulage gem. Art. 2 Anhang VII des Beamtenstatuts gezahlt. Unterhaltsberechtigte Kinder haben zudem wie der Beamte einen Anspruch auf Beihilfe in Krankheitsfällen gem. Art. 72 Abs. 1 Beamtenstatut. Weiterhin erwerben Kinder auch Versorgungsansprüche im Rahmen der Hinterbliebenenversorgung gem. Art. 79 ff. Beamtenstatut (s. Ziff. 3.). Zudem gewährt das Dienst40  EuGÖD, Rs. F-1/05 – Landgren, SlgÖD 2006, II-A-1-1277 Rn. 70; Gundel, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 2, § 2 Rn. 9. 41  Verordnung des Rates Nr. 259/68 vom 29.2.1968, ABl. L Nr. 56 v. 4.3.1968, S. 1. 42  BGBl. 1965, II, S. 1454. 43  Verordnung (EG, Euratom) Nr.  723/2004 des Rates v. 22.3.2004, ABl. L Nr. 124 v. 27.4.2004, S. 1. 44  Verordnung (EU/Euratom) Nr. 1023/2013, ABl. L Nr. 287 v. 29.10.2013, S. 15; zur Entwicklung D. Rogalla, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 2009, Art. 283 EGV Rn. 1 ff.; Reithmann, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 283 Rn. 4 ff.



B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie291

recht Leistungen, die im Zusammenhang mit der Ehe oder Partnerschaft des Bediensteten stehen (s. Ziff. 4.). Die Untersuchung des europäischen Dienstrechtes schließt mit einer Zusammenfassung (s. Ziff. 5.) 1. Mutterschaftsurlaub Art. 58 Beamtenstatut, Art. 16 Abs. 1 S. 1 Beschäftigungsbedingungen gewähren Müttern, die Beamte oder Bedienstete der Union sind, einen bezahlten Mutterschaftsurlaub von 20 Wochen Dauer. Dass der Mutterschaftsurlaub nicht auch werdenden Vätern gewährt wird, ist der Schutzrichtung des Mutterschaftsurlaubs geschuldet, der besonderen Verfassung schwangerer Frauen gerecht zu werden. Werdende Väter haben aber gemäß Art. 6 Anhang V zum Beamtenstatut einen Anspruch auf zehn Tage Sonderurlaub bei der Geburt eines Kindes. Werdende Väter werden bereits nicht von dem Anspruch auf Mutterschaftsurlaub gemäß Art. 33 Abs. 2 GRC erfasst, sodass die Regelungen des Beamtenstatuts und der Beschäftigungsbedingungen zum Mutterschaftsurlaub grundsatzkonform sind. Anderenfalls wäre Mutterschaftsurlaub für Väter wegen Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC nicht einklagbar. Bei der Adoption eines Kindes, bei der der sachliche Anwendungsbereich von Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC ebenfalls nicht eröffnet ist, kommt den Adoptiveltern gem. Art. 6 Anhang V zum Beamtenstatut dennoch ein Sonderurlaub von insgesamt 20 Wochen zu, den sich die Eltern unter Umständen auch teilen können. Vertragsbedienstete genießen zudem während der Schwangerschaft Kündigungsschutz gem. Art. 47 lit. b) ii) Beschäftigungsbedingungen. Die EU kommt damit ihrer grundrechtlichen Verpflichtung aus Art. 33 Abs. 2 Var. 2 GRC vollumfänglich nach. 2. Elternurlaub Jeder Beamte und Vertragsbedienstete hat gem. Art. 42a Beamtenstatut, Art. 16 Abs. 1 S. 1 Beschäftigungsbedingungen Anspruch auf höchstens sechs Monate Elternurlaub bei der Geburt oder Adoption eines Kindes. Eltern bekommen in dieser Zeit kein Grundgehalt, sondern eine pauschale monatliche Vergütung. Die Union ist dadurch ihrer Umsetzungspflicht aus Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC nachgekommen. Eine Verkürzung der Dauer des Elternurlaubs müsste sich an Art. 33 Abs. 2 Var. 3 i. V. m. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC messen lassen, nicht jedoch eine Kürzung oder Streichung der pauschalen Vergütung, weil Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC eine Vergütung während des Elternurlaubes nicht gebietet. Fraglich ist, ob eine Kürzung der pauschalen Vergütung dem Schutz des Art. 33 Abs. 1 GRC unterfiele. Dagegen könnte eingewandt werden, dass Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC lex specialis gegenüber Art. 33 Abs. 1 GRC ist. Das ist zwar grundsätzlich zutreffend, allerdings nur,

292

3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

soweit Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC die Pflichten aus Art. 33 Abs. 1 GRC konkretisiert. Art. 33 Abs. 2 Var. 3 GRC fordert (nur) einen unbezahlten Elternurlaub, schließt einen bezahlten Elternurlaub jedoch nicht aus. Eine Kürzung der pauschalen Vergütung während des Elternurlaubs wäre deshalb der Rechtmäßigkeitskontrolle gemäß Art. 33 Abs. 1 i. V. m. 52 Abs. 5 S. 2 GRC unterworfen. 3. Leistungen der sozialen Sicherheit für Kinder Die Beamten und sonstigen Beschäftigten der Europäischen Union erhalten verschiedene Familienleistungen, die an das Vorhandensein von Kindern anknüpfen. Gem. Art. 72 Beamtenstatut, Art. 28 Abs. 1 Beschäftigungsbedingungen nehmen die unterhaltsberechtigten Kinder der Beamten und Beschäftigten an dem Krankenversorgungssystem der Europäischen Union teil. Darüber hinaus werden eine einmalige Geburtszulage (Art. 74 Beamtenstatut, ggf. i. V. m. Art. 29 Beschäftigungsbedingungen) sowie eine laufende Kinderzulage für jedes Kind (Art. 2 Anhang VII des Beamtenstatuts ggf. i. V. m. Art. 21 Beschäftigungsbedingungen) und bei dem Besuch einer kostenpflichtigen Schule oder Hochschule eine Erziehungszulage (Art. 3 Anhang VII des Beamtenstatuts ggf. i.  V.  m. Art. 21 Beschäftigungsbedingungen) gezahlt. Überdies erhält ein verwitweter, geschiedener, getrennt lebender oder lediger Bediensteter, sofern er eines oder mehrere unterhaltsberechtigte Kinder hat, eine Haushaltszulage gem. Art. 1 Anhang VII zum Beamtenstatut, ggf. i. V. m. Art. 21 Beschäftigungsbedingungen. Schließlich kommen die Kinder von Beschäftigten der Europäischen Union in den Genuss der Hinterbliebenenversorgung gem. Art. 80 ff. Beamtenstatut ggf. i.  V. m. Art. 37 Beschäftigungsbedingungen. Die insgesamt großzügigen Familienleistungen für die Bediensteten der EU dienen der Umsetzung der Grundsätze aus Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC. Sie stehen vollumfänglich unter dem Schutz der Rückschrittsverbote aus Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 Var. 2 und 3 i. V. m. Art. 52 Abs. 5 GRC. 4. „Partnerschaftsförderung“ Nicht nur unterhaltsberechtigte Kinder von EU-Bediensteten kommen in den Genuss von zusätzlichen Leistungen der Europäischen Union, sondern auch Partner von EU-Bediensteten. Aufgrund der uneinheitlichen Regelungen von Ehe und eingetragenen Partnerschaften zeichnet auch das Dienstrecht der Europäischen Union für diesen Bereich ein differenziertes Bild. Als Leistungen werden die Teilnahme am Krankenversicherungssystem gem. Art. 72 Beamtenstatut, ggf. i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Beschäftigungsbedin-



B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie293

gungen, die Hinterbliebenenversorgung gem. Art. 79, 81 ff. Beamtenstatut bzw. Art. 36 Beschäftigungsbedingungen i. V. m. Anhang VIII Kapitel 4 zum Beamtenstatut sowie die Haushaltszulage gem. Art. 1 Anhang VII zum Beamtenstatut, ggf. i. V. m. Art. 21 Beschäftigungsbedingungen, gewährt. Das Beamtenstatut und die Beschäftigungsbedingungen gewähren die Eheleistungen grundsätzlich „Ehepartnern“. Dabei stellt sich die Frage, ob der Begriff des Ehepartners oder des verheirateten Beamten, – Begriffe, die auf den Personenstand des Beamten abstellen – sich aus dem jeweiligen nationalen Recht ergeben, oder ob sie autonom unionsrechtlich auszulegen sind. Diese Frage hat der EuGH für den Begriff des Ehegatten im Unionsrecht bereits entschieden. In der Sache Reed45 begehrte die Klägerin des Ausgangsrechtsstreits eine Aufenthaltsgenehmigung für die Niederlande gem. Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1612 / 68.46 Art. 10 der Verordnung gewährte Ehegatten von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates ein Aufenthaltsrecht, Frau Reed und ihr Lebensgefährte, beide Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, lebten jedoch nur in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammen in den Niederlanden. Dem EuGH wurde daraufhin da Frage vorgelegt, ob der Begriff des Ehegatten dahingehend auszulegen sei, dass er eine Person, die in einer festen Lebensgemeinschaft lebe, umfasse. Der EuGH hatte bereits zuvor entschieden, dass Begriffe in unionsrechtlichen Normen grundsätzlich einer autonom-einheitlichen europarechtlichen Auslegung bedürfen, sofern sie nicht ausdrücklich auf die mitgliedstaatliche Rechtslage verweisen oder sich aus dem Unionsrecht keinerlei Anhaltspunkte zur Ermittlung eines unionsrechtlichen Gehalts ergeben. Der EuGH leitete dies aus dem Erfordernis der Einheitlichkeit der Anwendung des Unionsrechts und dem Gleichheitssatz ab.47 Der EuGH hat seine Rechtsprechung in der Sache Reed für den Begriff des Ehegatten in der Verordnung (EWG) Nr. 1612 / 68 bestätigt, indem er nicht auf den Familienstand nach dem nationalen Recht abgestellt, sondern eine gemeinschaftsrechtliche Auslegung des Begriffes Ehegatte vorgenommen hat. Der Gerichtshof hat betont, dass eine Verordnung in allen ihren Teilen verbindlich ist und unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat beanspruche (heute Art. 288 Abs. 1 AEUV). Die Einheitlichkeit des Unionsrechts fordere deshalb eine unionale Auslegung, die sich nicht nur an der Rechtslage eines einzigen Mitgliedstaates orientieren dürfe.48 Etwas anderes gelte nur dann, wenn das Unionsrecht ausdrücklich auf 45  EuGH,

Rs. C-59/85, Slg. 1986, 1283 – Niederlande ./. Reed. L Nr. 257 v. 19.10.1968, S. 2. 47  EuGH, Rs. 327/82, Slg. 1984, 107 Rn. 11 – Ekro. 48  EuGH, Rs. C-59/85, Slg. 1986 1283 Rn. 13 – Niederlande ./. Reed; ebenso bereits der Generalanwalt und die anderen Verfahrensbeteiligten, vgl. Schlussanträge GA Lenz, Rs. C-59/85, Slg. 1986, S. 1284 (1293). 46  ABl.

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

die mitgliedstaatliche Rechtslage verweise,49 oder sich aus dem Unionsrecht keine Anhaltspunkte für die Ermittlung eines autonom-unionsrechtlichen Gehalts ergeben.50 Im konkreten Fall hat der EuGH die Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften im Ergebnis verneint, ohne sich substantiell zu einem europäischen Ehebegriff zu äußern. Jedenfalls sei keine Entwicklung erkennbar, die auf eine Gleichstellung von nichtverheirateten Partnern mit Ehegatten hindeute.51 Der EuGH hatte im Jahre 2005 in der Sache D / Rat erneut Gelegenheit, sich zu dem Ehebegriff des europäischen Dienstrechts zu äußern und zwar im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Ehen.52 D lebte in einer eingetragenen, gleichgeschlechtlichen Partnerschaft nach schwedischem Recht, die in wesentlichen Punkten die gleichen Rechtsfolgen hatte wie eine schwedische Ehe. Der EuGH hatte zu prüfen, ob sich D unter das Merkmal „der verheiratete Beamte“ des damaligen Art. 1 Abs. 2 lit. a) Anhang VII des Beamtenstatuts subsumieren ließ. Der Gerichtshof bestätigte seine Rechtsprechung zur autonomen unionsrechtlichen Auslegung des Begriffes des „verheirateten Beamten“ und damit des Begriffs der Ehe, kam jedoch zu dem Ergebnis, dass Personen, die in einer eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, nach dem Stand des Gemeinschaftsrechts nicht unter den Begriff des „verheirateten Beamten“ fallen.53 Angesichts der Rechtsverbindlichkeit der Grundrechtecharta und der Erkenntnis, dass gleichgeschlechtliche Ehen vom Schutzbereich der Eheschließungsfreiheit erfasst sind, kann heute nicht mehr davon ausgegangen werden, dass das Unionsrecht über keinen grundrechtlichen Ehebegriff verfügt. Während ein formelles Element Teil des unionsrechtlichen Ehebegriffes ist und der Fall Reed deshalb nach dem derzeitigen Stand des acquis heute nicht anders zu entscheiden wäre, stellte sich die Lage im Fall D / Rat heute anders dar. Die Sekundärrechtslage hat sich in der Zwischenzeit allerdings ebenfalls geändert. Im Zuge der Modernisierung des Dienstrechts im Jahre 2004 haben der Rat und das Parlament Vergünstigungen, die an die Ehe anknüpfen, auf bestimmte nichteheliche Partnerschaften ausgedehnt. Gem. Art. 1 lit. d) Abs. 1 Beamtenstatut, worauf für die sonstigen Beschäftigten durch Art. 10 Abs. 1 Beschäftigungsbedingungen verwiesen wird, werden nichteheliche Partnerschaften der Ehe gleichgestellt, wenn sie die Voraussetzungen nach Art. 1 Abs. 2 lit. c) Anhang VII des Beamtenstatuts erfüllen. Demnach müs49  Reithmann, in: von der Groeben/Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 336 AEUV Rn. 9. 50  EuG, Rs. T-43/90, Slg. 1991, II-2621 Rn. 36 – Días Carcía ./. Parlament. 51  EuGH, Rs. C-59/85, Slg. 1986, 1283 Rn. 15 – Niederlande ./. Reed. 52  EuGH, Rs. C-122/99, Slg. 2001, I-4319 – D und Schweden ./. Rat. 53  EuGH, Rs. C-122/99, Slg. 2001, I-4319 Rn. 33 ff. – D und Schweden ./. Rat; zur Kritik an der Begründung des EuGH bereits oben auf S. 143 f.



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sen der Beamte und sein Partner eine Urkunde eines Mitgliedstaates oder einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates vorlegen, die die nichteheliche Lebensgemeinschaft bescheinigt (Art. 1 Abs. 2 lit. c) i) Anhang VII des Beamtenstatuts). Zudem dürfen die Partner nicht in einer Ehe oder anderen nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben und nicht in gerader Linie oder Seitenlinie bis zum zweiten Grad miteinander verwandt sein. (Art. 1 Abs. 2 lit. c) ii), iii) Anhang VII des Beamtenstatuts). Schließlich erfolgt eine Gleichstellung mit Ehepaaren nur dann, wenn das Paar nicht eine gesetzliche Ehe in einem Mitgliedstaat schließen kann (Art. 1 Abs. 2 lit. c) iv) Anhang VII des Beamtenstatuts). Zur Begründung heißt es im achten Erwägungsgrund des Beamtenstatuts: „Beamte, die eine von einem Mitgliedstaat als feste Partnerschaft anerkannte nichteheliche Lebensgemeinschaft eingegangen sind und keine gesetzliche Ehe schließen können, sollten dieselben Vergünstigungen erhalten wie Ehepaare“.54 Die Neuregelung des Art. 1 Anhang VII des Beamtenstatuts muss als wenig gelungen bezeichnet werden. Weil die Grundrechtecharta im Jahre 2004 noch nicht rechtsverbindlich war, der Rat und das Parlament aber in Kenntnis der Rechtsprechung des EuGH in der Sache D / Rat gehandelt haben dürften, müssen sie davon ausgegangen sein, dass Art. 1 Abs. 2 lit. a) Anhang VII des Beamtenstatuts noch immer ein unionsrechtlicher Ehebegriff zu Grunde liegt, nämlich ein restriktiver, der gleichgeschlechtliche Partnerschaften ausschließt. Anders als der dem Art. 1 Abs. 2 lit. c) iv) Anhang VII des Beamtenstatuts zugrunde liegende Ehebegriff. Dort heißt es, dass die Gleichstellung der eingetragenen Partnerschaft mit der Ehe dann nicht stattfindet, wenn das Paar in einem Mitgliedstaat eine gesetzliche Ehe schließen kann, wobei ausdrücklich auf die Möglichkeit der Eheschließung nach dem Recht des Mitgliedstaates verwiesen wird, mithin der Ehebegriff des mitgliedstaatlichen Rechts gemeint ist. Die Möglichkeit, auch als Partner einer eingetragenen nichtehelichen Partnerschaft die Haushaltszulage zu erhalten, stellt sich damit als subsidiär zu der Möglichkeit dar, die Haushaltszulage als Ehepartner zu erhalten: Wenn möglich, müssen Partner heiraten, um in den Genuss der Zulage zu kommen. Dann muss aber, um den mit der Vorschrift verfolgten Zweck zu erfüllen, jede Ehe nach dem Recht eines Mitgliedstaates dazu führen, dass der Beamte, der diese Ehe eingegangen ist, „verheirateter Beamter“ im Sinne des Art. 1 Abs. 2 lit a) Anhang VII des Beamtenstatuts ist. Demnach müssen alle nach mitgliedstaatlichem Recht gültigen Ehen die Voraussetzung des Art. 1 Abs. 2 lit. a) Anhang VII des Beamtenstatuts erfüllen. Diese systematischen 54  VO

(EG, Euratom), Nr. 723/2004, ABl. L Nr. 124 v. 27.4.2004, S. 2.

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

Erwägungen legen nahe, dass der Begriff „verheirateter Beamter“ nach der Neuregelung der Haushaltszulage nicht mehr autonom unionsrechtlich auszulegen ist, sondern auf das Recht des jeweiligen Mitgliedstaates verweist. Dagegen könnte argumentiert werden, dass ein solches Verständnis nicht zwingend ist. Ebenso gut könnte das Merkmal „verheiratet“ weniger restriktiv ausgelegt werden, als dies vom EuGH in der Sache D / Rat getan wurde. Das ist nach Inkrafttreten der Grundrechtecharta, wie bereits festgestellt, auch der Fall. Das Ergebnis wäre aber akzidentiell. Es ist nicht zwingend, dass jede Ehe nach mitgliedstaatlichen Regeln auch den unionsrechtlichen Ehebegriff erfüllt. Jedenfalls hätte Art. 1 Abs. 2 lit. c) Anhang VII des Beamtenstatuts dann keinen Anwendungsbereich mehr, da der chartarechtliche Ehebegriff sehr weit ist. Das gilt umso mehr, betrachtet man die Auffassung des EuGÖD in der Sache Roodhuijzen / Kommission.55 In dem Verfahren klagte ein Beamter gegen die Entscheidung, seine Partnerschaft nicht anzuerkennen und seiner Partnerin demgemäß die Teilnahme an dem gemeinsamen Krankenfürsorgesystem zu verweigern. Der Kläger und seine Partnerin hatten in den Niederlanden eine Vereinbarung des Zusammenlebens geschlossen („samenlevingsovereenkomst“). Dabei handelt es sich um eine notarielle Vereinbarung, bei deren inhaltlicher Gestaltung den Vertragsschließenden keine besonderen Vorgaben gemacht werden, außer dass die Vorschriften über die öffentliche Ordnung und die guten Sitten beachtet werden müssen.56 Art. 72 Abs. 1 Beamtenstatut stellt nichteheliche Partner Ehegatten gleich und lässt sie so in den Genuss der Teilnahme an dem Krankenfürsorgesystem kommen, wenn die ersten drei Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 2 lit. c) Anhang VII des Beamtenstatuts erfüllt sind. Die Partner müssen also eine von einem Mitgliedstaat anerkannte Urkunde vorlegen, welche die nichteheliche Gemeinschaft bescheinigt, dürfen nicht bereits verheiratet sein und nicht in einem engen Verwandtschaftsverhältnis stehen. Streitig war allein die erste Voraussetzung, also ob die Vereinbarung des Zusammenlebens nach niederländischem Recht eine derartige Urkunde darstellt. Das EuGÖG ist der Auffassung, dass eine Urkunde im Sinne des Art. 1 Abs. 2 lit. c) Anhang VII des Beamtenstatuts drei Merkmale aufweisen müsse. Zum ersten müsse es sich um eine Verbindung zwischen nur zwei Personen handeln, um ein Paar.57 Zum zweiten müsse die Beziehung eine gewisse Formgebundenheit und Publizität aufweisen, die durch eine Urkunde, die Rechte und Pflichten enthält, nachgewiesen werde.58 Drittens sei 55  EuGÖD,

Rs. F-122/06, SlgÖD. 2007, II-A-1-2167. die Wiedergabe des niederländischen Rechts durch das EuGÖD, Rs. F-122/06, SlgÖD 2007, II-A-1-2167 Rn. 5 und 35. 57  EuGÖD, Rs. F-122/06, SlgÖD 2007, II-A-1-2167 Rn. 38. 58  EuGÖD, Rs. F-122/06, SlgÖD 2007, II-A-1-2167 Rn. 39. 56  So



B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie297

„der Begriff ‚nichteheliche Lebensgemeinschaft‘ so zu verstehen, dass die Partner eine durch eine gewisse Stabilität gekennzeichnete Lebensgemeinschaft bilden und im Rahmen dieser Gemeinschaft durch gegenseitige Rechte und Pflichten hinsichtlich ihres Zusammenlebens gebunden sind.“59 Damit ist die Qualität der Vereinbarung angesprochen, die durch das EuGÖD geprüft wird. Nach der Überprüfung der konkreten Vereinbarung kommt das EuGÖD zu dem Ergebnis, „dass die sich aus der vom Kläger und seiner Lebensgefährtin geschlossenen Vereinbarung des Zusammenlebens ergebenden Folgen, auch wenn sie nicht so weitgehend wie die einer Ehe oder auch einer ‚eingetragenen Partnerschaft‘ sind, in vielen Punkten mit diesen vergleichbar sein können, wenn die Partner, wie im vorliegenden Fall, dies vertraglich regeln.“60 Es zeigt sich, dass das EuGÖD nur auf die Ehe bzw. die eingetragene Partnerschaft nach niederländischem Recht eingeht. Eine Prüfung, ob die Vereinbarung zwischen dem Kläger und seiner Partnerin dem unionsrechtlichen Ehebegriff unterfällt und dadurch eine Anwendung des Art. 1 Abs. 2 lit. c) Anhang VII des Beamtenstatuts unnötig macht, findet nicht statt. Demnach ist festzuhalten, dass der Begriff „verheirateter Beamter“ auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Ist ein Beamter nach mitgliedstaatlichem Recht verheiratet, ist er es auch im Sinne des Beamtenstatuts. Die Anforderungen, die das EuGÖD an die eingetragene, nichteheliche Lebensgemeinschaft stellt, sind diejenigen des chartarechtlichen Ehebegriffes. Es handelt sich dabei mit anderen Worten nach dem mitgliedstaatlichen Recht nur um eine nichteheliche Lebensgemeinschaft, im Sinne des Unionsrechts aber im Ergebnis um nichts anderes als eine Ehe. Als aus grundrechtlicher Sicht besonders problematisch mutet der Ausschlussgrund der Verwandtschaft oder Schwägerschaft in Art. 1 Abs. 2 lit. c) Anhang VII des Beamtenstatuts an. Der Ausschlusstatbestand geht sehr weit und erfasst auch verwandtschaftliche Verhältnisse, die der Eingehung einer Ehe oder eingetragenen Partnerschaft in den Mitgliedstaaten nicht entgegenstehen. So besteht das Eheverbot bei Schwägerschaft in Deutschland weder für Ehen noch für Lebenspartnerschaften,61 genauso wenig das Verbot der Ehe zwischen Onkeln und Tanten und Neffen und Nichten.62 Weil die Partner einer nach mitgliedstaatlichen Vorschriften geschlossenen Ehe auch dann in den Genuss der Haushaltszulage kommen können, wenn sie verwandt oder verschwägert im Sinne des Art. 1 Abs. 2 lit c) iii) Anhang VII zum Beamten59  EuGÖD,

Rs. F-122/06, SlgÖD 2007, II-A-1-2167 Rn. 39. Rs. F-122/06, SlgÖD 2007, II-A-1-2167 Rn. 46. 61  Wellenhofer, in: MüKo BGB, § 1307 BGB Rn. 8; Wacke, in: MüKo BGB, § 1 LPartG Rn. 11. 62  Wellenhofer, in: MüKo BGB, § 1307 BGB Rn. 7. 60  EuGÖD,

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

statut sind, eingetragene Partner jedoch nicht, liegt darin eine Ungleichbehandlung. Diese ist nicht gerechtfertigt, wenn sich die Vergleichspaare in einer Situation befinden, die im Hinblick auf die zu prüfende Vergünstigung oder Benachteiligung vergleichbar ist.63 Es ist nicht ersichtlich, inwiefern sich die Situation von Eheleuten und eingetragenen nichtehelichen Partnern, die das Verwandtschaftsverbot des Art. 1 Abs. 2 lit. c) iii) Anhang VII zum Beamtenstatut verwirklichen, unterscheiden soll. Art. 1 Abs. 2 lit. c) iii) Anhang VII zum Beamtenstatut verletzt deshalb das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 GRC und ist damit primärrechtswidrig und nichtig.64 5. Zusammenfassung zum Schutz von Ehe und Familie im Dienstrecht der Europäischen Union Die Europäische Union gewährt ihren Bediensteten großzügige Familienleistungen und erfüllt damit die Förderpflichten aus Art. 33 Abs. 1 GRC. Eine Eheförderung im wörtlichen Sinne gibt es insofern nicht, als dass die Vergünstigungen für Partner von EU-Bediensteten nicht von dem Bestehen einer Ehe nach mitgliedstaatlichem Recht abhängen. Sie werden vielmehr auch denjenigen Beamten gewährt, die in anderen rechtlich verfestigten Partnerschaften nach den mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften leben. Die zentrale Vorschrift des Art. 1 Anhang VII des Beamtenstatuts ist leider wenig gelungen. Sie differenziert zwischen Ehegatten nach dem Recht der Mitgliedstaaten und rechtlich anerkannten nichtehelichen Lebenspartnern nach dem Recht des jeweiligen Mitgliedstaates. Bei letzteren besteht die Möglichkeit einer ungerechtfertigten Diskriminierung durch Art. 1 Abs. 2 lit. c) iii) Anhang VII des Beamtenstatuts, die Regelung ist deshalb nichtig. Insgesamt wäre es ratsam, die Regelungen über die Vergünstigungen, die an die Partnerschaft der EU-Bediensteten anknüpfen, dadurch zu vereinfachen, dass sie nur noch Ehegatten gewährt wird, der Begriff aber entsprechend dem Ehebegriff des Art. 9 GRC ausgelegt wird. Der Kreis der Begünstigten würde sich dadurch nicht ändern, weil die eingetragene nichteheliche Lebensgemeinschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaates im Sinne des Art. 1 Abs. 2 lit. c) 63  EuGH, Rs. C-267/06, Slg. 2008, I-1757 Rn. 73 – Maruko; C-147/08, Slg. 2011, I-3591 Rn. 41 ff. – Römer. 64  Sofern auch die Wahl eines Partners, zu dem ein Verwandtschaftsverhältnis besteht, unter das Merkmal der sexuellen Ausrichtung zu subsumieren ist, liegt ein Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot wegen dieses Merkmals vor, anderenfalls gegen das allgemeine Diskriminierungsverbot. Eine weite Auslegung des Merkmals der sexuellen Ausrichtung vertritt Hölscheidt, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 21 Rn. 41; restriktiver sind Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 21 Rn. 19; Grabenwarter, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Art. 19 AEUV Rn. 43.



B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie299

Anhang VII des Beamtenstatuts vom Ehebegriff des Art. 9 GRC erfasst wird. Die Rechtslage ist insoweit eindeutig, die Differenzierung zwischen den verschiedenen Rechtsinstituten der Mitgliedstaaten ist im Dienstrecht der Europäischen Union überflüssig und unnötig kompliziert. Grundrechtlich geboten ist eine solche Änderung indes nicht, da Art. 9 GRC nur das Recht, eine Ehe einzugehen, im Anwendungsbereich des Rechts der Union gewährt. Die Eheförderung ist zwar Unionsrecht, betrifft aber nicht die Eheschließungsfreiheit. Problematisch ist allein der Fall, dass ein Beamter mit seinem Partner oder seiner Partnerin in seinem Heimatland tatsächlich keine Ehe im unionsrechtlichen Sinne eingehen kann. In diesem Fall ist er auf die Eingehung einer Ehe im chartarechtlichen Sinne in einem anderen Mitgliedstaat verwiesen.

II. Ehe- und Familienschutz im Freizügigkeitsrecht Ein weiterer Bereich, in dem der grundrechtliche Schutz von Ehe und Familie eine Rolle spielen könnte, ist das europäische Aufenthalts-, Einwanderungs- und Asylrecht. Zunächst wird das Freizügigkeitsrecht von Familien, die Unionsbürger sind, betrachtet (s. Ziff. 1.). Sodann wird das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen von Unionsbürgern, die selbst Drittstaatsangehörige sind, auf seine Grundrechtsrelevanz untersucht (s. Ziff. 2.). 1. Anwendbarkeit des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die selbst Unionsbürger sind Art. 21 AEUV gewährt allen Unionsbürgern Freizügigkeit.65 Unter Freizügigkeit ist das Recht zu verstehen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten zu dürfen.66 Das Recht wird durch die Freizügigkeitsrichtlinie sekundärrechtlich konkretisiert.67 Die Freizügigkeitsrichtlinie gewährt jedem Unionsbürger das Recht, sich drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufhalten zu dürfen, ohne dass es der Erfüllung weiterer Voraussetzungen bedarf (Art. 6 der Freizügigkeitsrichtlinie). Bei ei65  Art. 45 Abs. 1 GRC enthält ebenfalls ein Freizügigkeitsrecht, es unterliegt gem. Art. 52 Abs. 2 GRC aber den gleichen Bedingungen und Grenzen wie das Recht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV. 66  EuGH, Rs. C-499/06, Slg. 2008, I-3993 Rn. 27 – Nerkowska; Rossi, in: Kluth/ Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Art. 21 AEUV Rn. 9; Haag, in: von der Groeben/ Schwarze/Hatje, Europäisches Unionsrecht, Art. 21 AEUV Rn. 16, näher zum mate­ riellen Umfang des Freizügigkeitsrechts Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, S. 122 ff. 67  RiL 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 29.4.2004, ABl. L Nr. 158 v. 30.4.2004, S. 77.

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

nem Aufenthalt von mehr als drei Monaten muss der Aufenthaltswillige grundsätzlich einer abhängigen oder selbständigen Erwerbstätigkeit nachgehen oder über ausreichend eigene Mittel verfügen sowie krankenversichert sein (Art. 7 der Freizügigkeitsrichtlinie). Nach fünf Jahren ununterbrochenen, rechtmäßigen Aufenthalts in einem Mitgliedstaat erwirbt ein Unionsbürger gem. Art. 16 der Freizügigkeitsrichtlinie das Recht, sich auf Dauer dort aufzuhalten. Die Freizügigkeitsrichtlinie gewährt diese Rechte auch den Familienangehörigen des Unionsbürgers, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch machen will, sofern diese ihn begleiten oder ihm nachziehen. Die Staatsangehörigkeit der Familienangehörigen ist dabei ausweislich des 5. Erwägungsgrundes der Richtlinie ohne Belang. Das wirft die Frage auf, ob sich Familienangehörige bei der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts auf die familienschützenden Vorschriften der Grundrechtecharta berufen können. Als unproblematisch erweist sich dabei die Situation derjenigen Familienangehörigen, die selbst Unionsbürger sind. Sie genießen das Freizügigkeitsrecht des Art. 21 AEUV und können sich auf das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 7 GRC berufen. 2. Abgeleitetes Freizügigkeitsrecht von drittstaatsangehörigen Familienmitgliedern aus der Freizügigkeitsrichtlinie Drittstaatsangehörige können sich nicht auf das Freizügigkeitsrecht aus Art. 21 AEUV berufen, weil dieses nur Unionsbürgern zusteht. Unionsbürger ist nur, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt, Art. 20 Abs. 1 S. 2 AEUV.68 Das gilt auch dann, wenn der Drittstaatsangehörige zugleich Familienangehöriger eines Unionsbürgers im Sinne der Freizügigkeitsrichtlinie ist.69 Die Rechte der Familienangehörigen aus der Freizügigkeitsrichtlinie sind „abgeleitete Rechte“, die aus dem Freizügigkeitsrecht des Unionsbürgers folgen.70 Der Zweck des abgeleiteten Freizügigkeitsrechts von Familienangehörigen liegt nicht abstrakt in der Förderung des Familienlebens, sondern primär in der praktischen Verwirklichung des Freizügigkeits68  Rossi, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Art. 21 AEUV Rn. 7; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 13; Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, S. 106. 69  Rossi, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Art. 21 AEUV Rn. 7; Kluth, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 21 AEUV Rn. 13; Stewen, Die Entwicklung des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und seiner sozialen Begleitrechte, S. 107. 70  EuGH, Rs. C-40/11 Rn. 66  f. – Iida; Shuibhne, The Coherence of EU Free Movement Law, S. 67 f.



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rechts des Unionsbürgers.71 Familienangehörige von Unionsbürgern, die selbst Staatsangehörige eines Drittstaates sind, können sich demgemäß auch nur dann auf Art. 7 GRC berufen, wenn durch die mitgliedstaatlichen oder unionsrechtlichen Rechtsvorschriften die Verwirklichung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV gefördert werden soll.72 Bei der Auslegung des Umfangs des Rechts auf Freizügigkeit des Unionsbürgers ist das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens zu beachten.73 Wird einem Familienangehörigen das Recht auf Einreise verweigert oder wird er ausgewiesen, liegt darin eine Beschränkung des Rechts auf Achtung des Familienlebens des Unionsbürgers.74 Nach Auffassung des EuGH ist bei der Verweigerung der Einreise die leistungsrechtliche Seite und bei der Ausweisung des Familienangehörigen die abwehrrechtliche Seite des Rechts auf Achtung des Familienlebens betroffen.75 Beschränkungen dieses Rechts sind rechtfertigungsbedürftig, aber nach Auffassung des EuGH grundsätzlich auch rechtfertigungsfähig. Das Recht auf Achtung des Familienlebens begründe „kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates“.76 Fraglich ist jedoch, ob sich die Freizügigkeit von Drittstaatsangehörigen daraus ergeben kann, dass ein Unionsbürger mit einem Drittstaatsagenhörigen eine nichteheliche Lebensgemeinschaft eingehen und somit eine Familie im Sinne des Art. 9 GRC gründen möchte. In der Verweigerung der Einreise oder der drohenden Ausweisung eines Drittstaatsangehörigen könnte in diesem Fall eine Beschränkung des Rechts auf Familiengründung gemäß Art. 52 Abs. 1 GRC zu sehen sein. Es erscheint jedoch fraglich, ob sich Unionsbürger in diesem Fall auf das Recht auf Familiengründung berufen können. Das Recht auf Freizügigkeit gemäß Art. 21 AEUV wird ausschließlich Unionsbürgern gewährt. Die Freizügigkeit von Familienangehörigen, die selbst Drittstaatler sind, dient der Ausübung dieses Rechts. Es erscheint fraglich, inwiefern die Gründung einer Familie diesem Recht dienlich sein könnte. Die Situation der Familiengründung ist mit der Situation einer bestehenden Familie nicht vergleichbar. Bestehende Familienbande können den Unionsbürger tatsächlich daran hindern, sein Freizügigkeitsrecht auszuüben. Anderenfalls wäre es grundsätzlich von Art. 9 GRC geschützt, dass ein Unionsbürger einem Drittstaatsangehörigen ein Recht zum Aufenthalt verschaffen könnte. Der Zusammenhang zu dem Freizügigkeitsrecht ist in diesen Fällen 71  EuGH, Rs. C-127/08, Slg. 2008, I-6241 Rn. 56, 62 f. – Metock u. a.; a. A. Höfler, Die Unionsbürgerfreiheit, S. 41. 72  In diesem Sinne EuGH, Rs. C-40/11 Rn. 79 – Iida. 73  EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279 Rn. 46 – Carpenter. 74  EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279 Rn. 41 f. – Carpenter; Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 53 – Parlament ./. Rat. 75  EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 52 – Parlament ./. Rat. 76  EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 59 – Parlament ./. Rat.

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

kaum erkennbar. Selbst wenn der Anwendungsbereich des Art. 9 GRC eröffnet wäre, müssten Beschränkungen des Rechts auf Familiengründung in diesen Fällen großzügig erlaubt werden, insbesondere weil der nichtehelichen Lebensgemeinschaft keine besondere Bindungswirkung zukommt und die Prüfung von Scheinlebensgemeinschaften dadurch erschwert würde. Schließlich können nichteheliche Lebenspartner auf die Eingehung einer Ehe zur Ermöglichung des Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen verwiesen werden. Ein Recht auf Aufenthalt Drittstaatsangehöriger, mit denen ein Unionsbürger eine nichteheliche Lebensgemeinschaft eingehen möchte, kommt jenseits der Regelungen der Freizügigkeitsrichtlinie nicht in Betracht. a) Die Freizügigkeit drittstaatsangehöriger „Ehegatten“ und „Lebenspartner“ von Unionsbürgern Sekundärrechtlich gewährt die Freizügigkeitsrichtlinie drittstaatsangehörigen „Familienangehörigen“ von Unionsbürgern grundsätzlich ein Recht auf Einreise in und Aufenthalt in dem Mitgliedstaat, in dem sich der Unionsbürger aufhält. Der Begriff des Familienangehörigen ist in Art. 2 Nr. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie definiert. Darunter fallen zunächst der „Ehegatte“ des Unionsbürgers (Art. 2 Nr. 2 lit. a] der Freizügigkeitsrichtlinie) und der eingetragene Lebenspartner, sofern die Rechtsvorschriften des Aufnahmestaates eingetragene Partnerschaften der Ehe gleichstellen und die Partner diese Voraussetzungen erfüllen (Art. 2 Nr. 2 lit. b] der Freizügigkeitsrichtlinie). Während die Vorschrift für eingetragene Partner recht eindeutig ist, da sie ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, stellt sich einmal mehr die Frage, wie der Begriff des „Ehegatten“ in Art. 2 Nr. 2 lit. a) der Freizügigkeitsrichtlinie auszulegen ist, da es an einem Verweis auf das mitgliedstaatliche Recht diesbezüglich fehlt. Es sind drei Möglichkeiten, die Norm auszulegen, denkbar: Erstens könnte in Art. 2 Nr. 2 lit. a) der Freizügigkeitsrichtlinie ein unionsrechtlicher Ehebegriff angesprochen sein, der sich an dem Ehebegriff der Grundrechtecharta orientiert. Zweitens könnte der Ehebegriff der Richtlinie einen eigenständigen Gehalt haben. Drittens könnte hier der Ehegatte nach den nationalen Rechtsvorschriften des Staates in Bezug genommen werden, in dem die Ehe geschlossen wurde. Die erste Möglichkeit scheidet nach der hier vertretenen Auffassung aus systematischen Gründen aus. Eingetragene Partnerschaften, wie sie Art. 2 Nr. 2 lit. b) der Freizügigkeitsrichtlinie beschreibt, fallen sämtlich unter den hier vertretenen Ehebegriff des Art. 9 GRC. Die Variante der eingetragenen Partnerschaften hätte dann keinen eigenen Anwendungsbereich mehr. Die zweite Auslegungsmöglichkeit bereitet die Schwierigkeit, dass sich der Inhalt des Begriffes dann auf irgendeine Art und Weise erschließen lassen müsste. Der Wortlaut der Norm ist diesbezüglich unergiebig. Die Systematik des



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Art. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie ergäbe für diesen Fall, dass jedenfalls alle eingetragenen Partnerschaften nach nationalem Recht keine Ehen wären. Ein offensichtliches Problem stellt dann aber die Verortung gleichgeschlechtlicher Ehen dar. Der Vorschlag des Parlaments, im Text klarzustellen, dass auch gleichgeschlechtliche Ehegatten erfasst sein sollen, wurde von der Kommission nicht aufgenommen, da denjenigen Mitgliedstaaten, die keine gleichgeschlechtlichen Ehen anerkennen, diese Anerkennung für den Bereich der Freizügigkeit nicht aufgezwungen werden sollte, ohne dass der Union Kompetenzen zur Regelung des Familienstandes zukommen.77 Es erscheint angesichts der Entwicklung in den Mitgliedstaaten und den Regelungen der Grundrechtcharta in den Art. 7, 9 und 21 GRC als wenig überzeugend, gleichgeschlechtliche Ehen aus dem Begriff „herauszudefinieren“. Zumal unbeantwortet bliebe, wie mit gleichgeschlechtlichen Ehepartnern zu verfahren wäre, die von ihrem Freizügigkeitsrecht in einem Mitgliedstaat Gebrauch machen wollen, der ebenfalls gleichgeschlechtliche Ehen anerkennt. Im Sinne der Freizügigkeitsrichtlinie müssten sie dann paradoxerweise als eingetragene Partner gelten. Möglicherweise gestaltet sich deshalb die dritte Variante als gangbar, in dem Begriff des „Ehegatten“ einen Verweis auf das nationale Recht zu sehen. Zunächst könnte es sich um einen Verweis auf das Recht des Mitgliedstaates handeln, in dem die Ehe geschlossen wurde. Das hätte zur Folge, dass die Freizügigkeitsrichtlinie für ihre Zwecke tatsächlich ein „Prinzip gegenseitiger Anerkennung“ statuierte,78 wodurch wiederum die Intention des Normgebers unterlaufen würde, die Mitgliedstaaten, die gleichgeschlechtliche Ehen nicht anerkennen wollen, im Freizügigkeitsrecht nicht dazu zu zwingen. Die Annahme eines Verweises auf das Recht des Staates, in dem die Ehe geschlossen wurde, ist deshalb ebenfalls abzulehnen.79 Es muss sich um einen Verweis auf das Recht des Aufnahmestaates handeln, d. h. wenn dessen Recht die Partnerschaft als Ehe anerkennt, handelt es sich um Ehegatten. Erkennt er es nicht als Ehe an, aber als eine eingetragene Partnerschaft nationalen Rechts, kommt Art. 2 Nr. 2 lit. b) der Freizügigkeitsrichtlinie zur Anwendung. Im Ergebnis gleichen sich damit die Voraussetzungen für Ehegatten und eingetragene Partner mit der Folge, dass auch andere Ehenichtigkeitsgründe, z. B. strengere Eheverbote unter Verwandten oder ein unterschiedliches Ehefähigkeitsalter, zu einer Versagung der Anerkennung als Ehegatte und, sofern der Aufnahmestaat für diesen Fall keine eingetragene Partnerschaft vorsieht, nur noch die Anwendung des Art. 3 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie übrig bleibt. 77  Vgl. die Darstellung bei Guild/Peers/Tomkin, The EU Citizenship Directive, S. 32, 35. 78  Richter, ZEuS 2014, S. 301 (315). 79  A. A. Richter, ZEuS 2014, S. 301 (316 f.).

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

Offenkundig ist restriktives mitgliedstaatliches Recht in diesen Fällen geeignet, das Freizügigkeitsrecht von Unionsbürgern einzuschränken. Die Mitgliedstaaten führen in diesen Fällen das Unionsrecht, genauer die Freizügigkeitsrichtlinie, im Sinne des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC durch. Restriktive familienrechtliche Regelungen des Familiennachzugs sind demgemäß rechtfertigungsbedürftig und dürfen das Recht auf Achtung des Familienlebens nicht verletzen.80 Während Restriktionen vor allem in Bezug auf Zwangsehen legitime Ziele darstellen, erscheint eine Beschränkung auf verschiedengeschlechtliche Ehen grundsätzlich problematisch. Zudem ist das Diskriminierungsverbot aus Art. 21 Abs. 1 GRC zu beachten. Eine Rechtfertigung scheint im Hinblick auf die vergleichbare Situation von gleich- und verschiedengeschlechtlichen Ehen kaum denkbar, weil die Berechtigung aus der Freizügigkeitsrichtlinie nicht an die Erziehung oder Unterhaltung von Kindern anknüpft. Im Ergebnis kann das Recht auf Achtung des Familienlebens hier eine eigenständige Bedeutung erlangen. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH dem Grundrechtsschutz an dieser Stelle in Zukunft zu Wirksamkeit verhelfen wird, auch gegen den Widerstand einiger Mitgliedstaaten. Zunächst kann die Freizügigkeitsrichtlinie grundrechtskonform so ausgelegt werden, dass für die Auslegung des Begriffes des Ehepartners auf das Recht abzustellen ist, in dem die Ehe geschlossen wurde, auch wenn die Mitgliedstaaten dadurch zur Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen gezwungen werden. Letztlich sollte die Unterscheidung zwischen Ehegatten und Lebenspartnern in Art. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie aufgegeben werden. Dazu genügt die Streichung der Variante des eingetragenen Partners. b) Das Freizügigkeitsrecht sonstiger Familienangehöriger von Unionsbürgern, die selbst keine Unionsbürger sind Darüber hinaus sind auch Verwandte des Unionsbürgers in gerader Linie unter Umständen Familienangehörige im Sinne der Richtlinie. Das betrifft die Verwandten in absteigender Linie, also die Kinder und Enkelkinder, sowie die Verwandten in aufsteigender Linie, d. h. vor allem Eltern und Großeltern. Art. 2 Nr. 2 lit. c) der Freizügigkeitsrichtlinie spricht von den Verwandten „des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners“. Das könnte zu der Annahme verleiten, es müsse sich um die gemeinsamen Verwandten des Unionsbürgers und des Ehegatten oder Lebenspartners handeln. Bei Kindern mag ein solches Verständnis sinnvoll erscheinen, nicht jedoch bei Verwandten in aufsteigender Linie, insbesondere den Eltern, weil der Unionsbürger und sein Partner dann Geschwister wären, die Mitgliedstaaten derartige Ehen bzw. Lebenspartnerschaften aber nicht zulassen. Fami80  Im

Ergebnis ebenso Guild/Peers/Tomkin, The EU Citizenship Directive, S. 36.



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lienangehörige sind demgemäß auch die Verwandten in ab- oder aufsteigender Linie des Ehegatten oder Lebenspartners.81 Sofern es sich nicht um Kinder bzw. Enkelkinder unter 21 Jahren handelt, muss den Familienangehörigen von dem Unionsbürger oder seinem Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewährt werden. Darunter ist nicht zu verstehen, dass eine Unterhaltspflicht nach dem nationalen Recht bestehen muss. Die Erfüllung des Merkmals der Unterhaltsgewährung ergebe sich vielmehr „aus einer tatsächlichen Situation (…), die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Familienangehörige vom Aufenthaltsberechtigten materiell unterstützt wird …“.82 Die Richtlinie trägt hier dem weiten Familienbegriff des Art. 7 GRC Rechnung. Andere Familienangehörige, denen der Aufenthaltsberechtigte Unterhalt gewährt, oder sein Partner, wenn die Kriterien des Art. 2 Nr. 2 b) der Freizügigkeitsrichtlinie nicht erfüllt sind, sind auf Art. 3 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie verwiesen, aus dem kein Anspruch der erweiterten Familienangehörigen auf Einreise und Aufenthalt, sondern nur auf eine begründete Entscheidung besteht, bei der den Mitgliedstaaten ein Ermessen zukommt.83 Insgesamt sind die Regelungen der Freizügigkeitsrichtlinie in Bezug auf Familienangehörige recht großzügig und im Einklang mit Art. 7 GRC, allein die Regelung für Ehepartner ist einmal mehr unbefriedigend und grundrechtlich problematisch. Es erscheint zweifelhaft, ob sich die Mitgliedstaaten mit der Regelung einen Gefallen getan haben, da ihr nationales Familienrecht im Rahmen des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV und Art. 45 GRC nun doch unter grundrechtlicher Beobachtung steht. Unklare Begriffe laden die Gerichte dazu ein, durch sie weit und grundrechtsfreundlich interpretiert zu werden.

III. Ehe und Familienschutz in der Familienzusammenführungsrichtlinie Regelungen zum Nachzug von Familienangehörigen enthält ferner die Familienzusammenführungsrichtlinie (FamzsfRiL). Sie gilt nicht für Unionsbürger (Art. 3 Abs. 3 FamzsfRiL), sondern nur für Drittstaatsangehörige, die im Besitz eines Aufenthaltstitels eines Mitgliedstaats mit der begründeten 81  Guild/Peers/Tomkin, The EU Citizenship Directive, S. 44; der EuGH vertrat für den nicht ganz eindeutigen Art. 10 der Verordnung Nr. 1612/68 ebenfalls eine weite Auslegung, die die Verwandten des Ehegatten mit einschließt, vgl. Rs. C-413/99, Slg. 2002, I-7091 Rn. 57 – Baumbast. 82  EuGH, Rs. C-200/02, Slg. 2004, I-9925 Rn. 43 – Zhu und Chen; C-316/85, Slg. 1987 2811 Rn. 20–22 – CPAS de Courcelles ./. Lebon. 83  Vgl. EuGH, Rs. C-83/11, Slg. – Rahman u. a.; näher zu den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus Art. 3 Abs. 2 der Freizügigkeitsrichtlinie vgl. Guild/Peers/ Tomkin, The EU Citizenship Directive, S. 73 ff.

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Aussicht auf dauerhaften Aufenthalt sind (Art. 3 Abs. 1 FamzsfRiL). Art. 4 FamzsfRiL gewährt gewissen Familienangehörigen vorbehaltlich einiger Einschränkungsmöglichkeiten aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder bei Scheinehen das Recht auf Einreise und Aufenthalt. Das Recht wird zunächst dem Ehegatten des Zusammenführenden gewährt (Art. 4 Abs. 1 lit. a] FamzsfRiL). Weiterhin den leiblichen oder adoptierten minderjährigen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten (Art. 4 Abs. 1 lit. b] FamzsfRiL) sowie den leiblichen oder adoptierten minderjährigen Kindern des Zusammenführenden, sofern er das Sorgerecht besitzt (Art. 4 Abs. 1 lit. c] FamzsfRiL). Nichteheliche und eingetragene nichteheliche Lebenspartner finden in der Familienzusammenführungsrichtlinie ebenfalls Erwähnung. Gemäß Art. 4 Abs. 3 FamzsfRiL können die Mitgliedstaaten auch ihnen die Einreise und den Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet gestatten und eingetragene Lebenspartner den Ehepartnern gleichstellen. Der EuGH hat im Rahmen einer Nichtigkeitsklage des Parlaments gegen den Rat über die Vereinbarkeit der Art. 4 Abs. 1 letzter uA und Art. 8 FamzsfRiL mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens entschieden und diese bejaht.84 Der Gerichtshof macht sich dabei die Unterscheidung von negativen und positiven Verpflichtungen in Fällen mit aufenthaltsrechtlicher Relevanz, wie sie der EGMR trifft,85 zu eigen, indem er das Verbot der Ausweisung von Familienangehörigen als negative Verpflichtung und die Verpflichtung zur Gestattung der Einreise von Familienangehörigen als positive Verpflichtung qualifiziert.86 Sodann stellt der Gerichtshof fest, dass „es einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens (…) darstellen kann, wenn einer Person die Einreise in ein Land, in dem ihre nahen Verwandten leben, oder der Aufenthalt dort verweigert wird …“87 Als Belege aus seiner Rechtsprechung zitiert der EuGH einen „Ausweisungs-“88 und einen „Einreisefall“.89 Indem der EuGH auch für die Fälle der Familienzusammenführung (und damit nach seiner Konzeption eine Konstellation positiver Verpflichtungen) einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff bejaht, verdeutlicht der Gerichtshof die Rechtfertigungsbedürftigkeit der Verweigerung der Einreise. Der EuGH rezipiert in der Folge weiter die Rechtsprechung des EGMR, namentlich die Urteile Gül, Ahmut und Sen und wendet die dort vom EGMR herausgearbeiteten Abwägungskriterien auf Art. 4 Abs. 1 der Familienzusammenführungsrichtlinie an.90 Die Norm gehe über die Anforderungen des Art. 8 EMRK 84  EuGH,

Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 – Parlament ./. Rat. S.  182 f. 86  EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 52 – Parlament ./. Rat. 87  EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 53 – Parlament ./. Rat. 88  EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279 – Carpenter. 89  EuGH, Rs. C-109/01, Slg. 2003, I-9607 – Akrich. 90  EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 54 ff. – Parlament ./. Rat. 85  s. o.



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hinaus, indem sie „den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf[erlege], denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen, da [sie] den Mitgliedstaaten in den in der Richtlinie festgelegten Fällen vorschreibt, den Nachzug bestimmter Mitglieder der Familie des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei ihren Ermessenspielraum ausüben könnten.“91 Auch Art. 4 Abs. 1 letzter uA FamzsfRiL stehe im Einklang mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, da er den Mitgliedstaaten keine weitergehenden Spielräume belasse, als sie auch nach der Rechtsprechung des EGMR bestehen.92 Zunächst verdeutlicht das Urteil des EuGH die Relevanz der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK in Fällen der Familienzusammenführung. Dogmatisch folgt der EuGH ebenfalls dem Ansatz des EGMR, mit der Ausnahme, dass er auch die Verweigerung der Einreise als Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens qualifiziert, in der Folge jedoch die gleichen Abwägungskriterien anwendet wie der EGMR. Geht man davon aus, dass das Recht auf Achtung des Familienlebens die Möglichkeit beinhaltet, mit seinen Familienangehörigen zusammenzuleben, stellt die Verweigerung der Einreise materiell eine Verkürzung des Schutzbereiches durch eine Handlung dar. Nach der hier vertretenen Konzeption kommt das Recht auf Achtung des Familienlebens in diesem Fall als Abwehrrecht gegen die Verhinderung der Einreise in das Staatsgebiet des Mitgliedstaates zum Tragen. Auch die Erteilung eines Aufenthaltstitels stellt sich nur formell als Leistungsgewährung dar, weil das Ausländerrecht der Mitgliedstaaten den Staatsangehörigen von Drittstaaten den Aufenthalt in ihrem Hoheitsgebiet grundsätzlich nicht gestattet, es sei denn, sie verfügen über einen Aufenthaltstitel, der grundsätzlich von dem Mitgliedstaat zu erteilen ist. Auch wenn daraus letztlich keine anderen Ergebnisse folgen dürften, erscheint es dogmatisch vorzugswürdig, sowohl die Ausweisungs- als auch die Einreisefälle und damit den Anwendungsbereich der Familienzusammenführungsrichtlinie einheitlich unter dem Aspekt der negativen Verpflichtungen und damit als materiell abwehrrechtliche Konstellation zu betrachten. Insofern ist dem EuGH zuzustimmen, wenn er in beiden Fällen einen Eingriff bejaht. Die Rechtsprechung des EuGH verdeutlicht aber auch, dass die Einschränkung des Rechts auf Familienzusammenführung durch eine Änderung der Familienzusammenführungsricht­ linie durchaus mit Art. 7 GRC vereinbar wäre.

91  EuGH, Rs. 540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 60 – Parlament ./. Rat; kritisch Spieß, Einige Anmerkungen zur europäischen Harmonisierung des Migrationsrechts aus menschenrechtlicher Sicht, in: Hofmann/Löhr (Hrsg.), Europäisches Flüchtlingsund Einwanderungsrecht, S. 233 (238). 92  EuGH, Rs. 540/03, Slg. 2006, I-5769 Rn. 62 – Parlament ./. Rat.

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

IV. Der Einfluss des Ehe- und Familienschutzes auf das „Dublin-Regime“ im Flüchtlingsrecht Ein weiteres Feld, auf dem die Gewährleistungen zum Schutze von Ehe und Familie relevant sein könnten, ist das sogenannte „Dublin-Regime“ in Asylsachen. Dieses Verfahren regelt, welcher Staat für die Prüfung eines Asylantrages zuständig ist. Rechtsgrundlage dafür ist die sog. Dublin-IIIVerordnung.93 Das Grundprinzip ist dabei gem. Art. 3 Abs. 1 Dublin-IIIVerordnung, dass nur ein Mitgliedstaat den Asylantrag eines Flüchtlings prüft. Gemäß dem 14. Erwägungsgrund „sollte die Achtung des Familienlebens eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein, wenn sie diese Verordnung anwenden.“ Das Ziel sei eine Asylpolitik, die im „Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ stehe. Laut dem 15. Erwägungsgrund könne mit „der gemeinsamen Bearbeitung der von den Mitgliedern einer Familie gestellten Anträge auf internationalen Schutz durch ein und denselben Mitgliedstaat“ sichergestellt werden, „dass die Mitglieder einer Familie nicht voneinander getrennt werden.“ Art. 2 lit. g) Dublin-III-Verordnung enthält eine Definition des Familienangehörigen. Der Begriff umfasst insbesondere den Ehegatten und den nicht verheirateten nichtehelichen Partner, sofern dieser nach dem Recht des betreffenden Mitgliedstaates ausländerrechtlich vergleichbar behandelt wird, minderjährige nicht verheiratete Kinder und Personen, die für einen minderjährigen Begünstigten internationalen Schutzes nach dem Recht des Mitgliedsstaates, in dem sich dieser aufhält, verantwortlich sind. Voraussetzung für die Familienangehörigeneigenschaft ist, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Darüber hinaus definiert Art. 2 lit. h) Dublin-IIIVerordnung als sonstige Verwandte Onkels und Tanten sowie die Großeltern eines Antragstellers. Ein Sonderregime besteht schließlich für unbegleitet in die Union einreisende Minderjährige. Das Erfordernis, dass die Familie bereits im Herkunftsland bestanden haben muss, wird teilweise für grundrechtlich bedenklich gehalten.94 Als Nachweis wird die Rechtsprechung des EGMR angeführt, insbesondere in der Sache Hode and Abdi.95 Der Fall betraf einen Drittstaatsangehörigen, der sich erfolgreich um die Gewährung 93  Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Neufassung) vom 26.6.2013, ABl. L Nr. 180 v. 29.6.2013, S. 31. 94  Maiani/Hruschka, ZAR 2014, S. 69 (74). 95  EGMR, Urt. v. 6.11.2012, Hode and Abdi v. the United Kingdom, Nr. 22341/09, nicht veröffentlicht.



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von Asyl im Vereinigten Königreich bemüht hatte. Später hatte er im Ausland eine Drittstaatsangehörige geheiratet. Die Behörden des Vereinigten Königreichs hatten den Familiennachzug mit dem Argument, dass dieser nur für Eheleute gewährt werde, die bereits vor ihrer Flucht in das Vereinigte Königreich verheiratet waren, abgelehnt. Der EGMR sah eine Verletzung der Rechte der Konvention, allerdings nicht von Art. 8 EMRK allein, sondern nur i. V. m. dem Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK, da anderen Personen in vergleichbarer Situation der Familiennachzug durch das Vereinigte Königreich gestattet werde. Zudem sah der EGMR keine Rechtfertigung dafür, Flüchtlinge, die bereits vor ihrer Flucht geheiratet hatten, anders zu behandeln als Flüchtlinge, die erst später geheiratet hatten.96 Die Prüfung einer Verletzung des Rechts auf Achtung des Familienlebens hielt der EGMR nicht mehr für notwendig.97 Ob sich der EuGH diese Argumentation auch für den Fall der Bestimmung der Zuständigkeiten nach der Dublin-III-Verordnung zu eigen machen wird, bleibt abzuwarten. Ein weiterer menschenrechtlicher Stolperstein könnte sich für Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung ergeben. Die Vorschrift normiert, dass wenn ein Antragsteller wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft, Behinderung, Krankheit oder aufgrund hohen Alters auf Unterstützung angewiesen ist, der Mitgliedstaat in der Regel die Person und ggf. ihr Kind mit ihren Eltern, Kindern oder Geschwistern zusammenführen muss oder nicht trennen darf, wenn diese den Antragsteller unterstützen. Der EuGH hat zur Auslegung der Vorgängervorschrift des Art. 15 Abs. 1 und 2 der Dublin-II-Verordnung98 in der Rechtssache K Stellung bezogen.99 K war illegal nach Polen eingereist und hatte dort einen Asylantrag gestellt. Sodann begab sie sich illegal nach Österreich und stellte einen zweiten Asylantrag. In Österreich hielten sich der Sohn der K mit seiner Frau und den minderjährigen Kindern auf. Die Schwiegertochter der K litt unter starken gesundheitlichen Einschränkungen und war auf die Hilfe der K angewiesen. Der EuGH hat entschieden, dass sich die Anwendbarkeit von Art. 15 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung auch auf das Verhältnis der Schwiegermutter zu ihrer Schwiegertochter sowie zu den minderjährigen Enkeln erstrecke, obwohl in Art. 15 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung von „Familienmitglie96  EGMR, Urt. v. 6.11.2012, Hode and Abdi v. the United Kingdom, Nr. 22341/09, § 55, nicht veröffentlicht. 97  EGMR, Urt. v. 6.11.2012, Hode and Abdi v. the United Kingdom, Nr. 22341/09, § 59, nicht veröffentlicht. 98  Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L Nr. 50 vom 25.2.2003, S. 1. 99  EuGH, Rs. C-245/11, Slg. – K.

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dern“ die Rede war und Schwieger- und Großeltern nicht unter die Legaldefinition in Art. 2 lit. i) der Dublin-II-Verordnung fielen.100 Die Anordnung in Art. 15 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung, die Familie „im Regelfall“ zusammenzuführen bzw. nicht zu trennen sei überdies so zu verstehen, dass die Mitgliedstaaten davon nur bei Vorliegen einer Ausnahmesituation absehen könnten.101 Zur Begründung nahm der EuGH auf die humanitäre Zielsetzung der Verordnung bei der Familienzusammenführung laut dem 7. Erwägungsgrund der Verordnung Bezug, sowie auf den eher offenen Wortlaut des Art. 15 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung und den systematischen Zusammenhang der Norm.102 Auf Art. 7 GRC ist der EuGH, anders als die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen, nicht eingegangen.103 Der nunmehr gültige Art. 16 Dublin-III-Verordnung ist textlich restriktiver gefasst, indem er die begünstigten Familienangehörigen ausdrücklich aufzählt. Da Schwieger- und Großeltern nicht genannt sind, wäre K nach heutiger Rechtslage nicht in den Genuss ihrer Anwendung gekommen, sondern auf die Ermessensvorschrift des Art. 17 Dublin-III-Verordnung verwiesen. Der EuGH wäre in einem zukünftigen, mit dem Sachverhalt in der Rs. K vergleichbaren Fall, wohl gezwungen, Art. 16 und 17 Dublin-III-Verordnung am Maßstab des Art. 7 GRC zu messen und das Ermessen der Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Art. 17 Dublin-III-Verordnung, möglicherweise im Sinne der Entscheidung in der Rs. K, einzuschränken.104

V. Der Schutz von Ehe und Familie im Koordinationsrecht in Familiensachen Schließlich könnte Art. 9 GRC Relevanz bei der Auslegung von Maßnahmen zum Familienrecht mit grenzüberschreitendem Bezug im Rahmen der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen gem. Art. 81 Abs. 1, 3 AEUV entfalten. Auf Grundlage der Vorgängernorm ist die Verordnung (EG) Nr. 2201 / 2003, unter anderem über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen (EheVO), ergangen,105 auch bekannt als „Brüssel-IIa-Verordnung“. Sie regelt, welches mitgliedstaatliche Gericht in Fällen mit grenzüberschreitendem Bezug für die Ehescheidung, die Trennung der Ehegatten, die Scheidung und die Ungültigerklärung einer Ehe zuständig ist (Art. 1 Abs. 1 lit. a], Art. 3 VO (EG) Nr. 2201 / 2003). 100  EuGH,

Rs. C-245/11, Slg. Rn. 38 ff. – K. Rs. C-245/11, Slg. Rn. 46 – K. 102  EuGH, Rs. C-245/11, Slg. Rn. 35 ff. – K. 103  Schlussanträge GA Trstenjak, Rs. C-245/11, Slg. insb. Rn. 74 ff. – K. 104  So Maiani/Hruschka, ZAR 2014, S. 69 (73). 105  ABl. L Nr. 338 vom 23.12.2003, S. 1. 101  EuGH,



B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie311

In ihrem Anwendungsbereich geht die EheVO den nationalen Zuständigkeitsregeln vor.106 Welches nationale Recht materiell anzuwenden ist, regelt die EheVO hingegen nicht. Dies richtet sich nach der VO (EU) Nr. 1259 / 2010 des Rates zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich des auf die Ehescheidung und Trennung ohne Auflösung des Ehebandes anzuwendenden Rechts („Rom-III-Verordnung“).107 Für die Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs der „Brüssel-IIa-Verordnung“ muss entschieden werden, ob es sich bei dem Verhältnis der Parteien um eine „Ehe“ im Sinne dieser Verordnung handelt, ihr muss mithin ein Ehebegriff zugrunde liegen, der autonom unionsrechtlich zu bestimmen ist.108 Als problematisch erweist sich einmal mehr, ob auch gleichgeschlechtliche Ehen und registrierte Partnerschaften von diesem Ehebegriff erfasst sind. Dies wird von der herrschenden Ansicht in der Literatur verneint.109 Der Grund für diese restriktive Interpretation sei insbesondere, dass hinsichtlich der gleichgeschlechtlichen Ehe kein Konsens unter den Mitgliedstaaten herrsche und anderenfalls eine Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen auch in solchen Mitgliedstaaten, die diese ablehnen, gleichsam „durch die Hintertür“ erzwungen würde.110 Das internationale Verfahrensrecht dürfe keinen Anerkennungszwang bezüglich der materiellen Ehebegriffe anderer Mitgliedstaaten ausüben. Demgemäß könnten auch Tendenzen zur Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in den materiellen Ehebegriff des Unionsrechts nicht zu einer Änderung der Auslegung führen.111 Die Gegenmeinung beruft sich vor allem auf den Ehebegriff der Verordnung (EU) Nr. 1259 / 2010 („Rom-III-Verordnung“). 106  Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, A Rn. 37; Rauscher, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Einl Brüssel IIa-VO, Rn.  13 ff. 107  ABl. L Nr. 343 vom 29.12.2010, S. 10. Die Verordnung gilt jedoch nur für die teilnehmenden Mitgliedstaaten i. S. d. Art. 1 der Verordnung. 108  Pabst, Entscheidungszuständigkeit und Beachtung ausländischer Rechtshängigkeit in Ehesachen mit Europabezug, Rn. 222 ff.; Rauscher, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Art. 1 Brüssel IIa-VO Rn. 5; Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, A Rn. 26; Geimer, in: Geimer/ Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 1 VO (EG) Nr. 2201/2003, Art. 1 Rn. 20. 109  Vgl. nur Rauscher, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Art. 1 Brüssel IIa-VO, Rn. 5 ff.; Geimer, in: Geimer/Schütze, Europäisches Zivilverfahrensrecht, Art. 1 VO (EG) Nr. 2201/2003, Art. 1 Rn. 20; Helms, FamRZ 2002, S. 1593 (1594); Spellenberg, in: Staudinger, Internationales Verfahrensrecht Ehe, Art. 1 Brüssel IIa-VO Rn. 4; a. A. Boele-Woelki, ZfRV 2001, S. 121 (127); Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, A Rn. 27; Garber, Zum Begriff der Ehe, i. S. d. Art. 1 Abs. 1 lit. a EuEheKindVO, S. 156 m. w. N. 110  Richter, ZEuS 2014, S. 301 (312 f.). 111  Rauscher, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Art. 1 Brüssel IIa-VO Rn. 5 ff.

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3. Teil: Einfluss der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht der EU

Hier soll der Verordnungsgeber von der Einbeziehung gleichgeschlechtlicher Ehen ausgegangen sein.112 Zudem spreche der 26. Erwägungsgrund der Verordnung (EU) Nr. 1259 / 2010 für eine solche Sichtweise, wenn das Gericht eines Mitgliedstaates nicht dazu verpflichtet sein soll, eine Ehescheidung auszusprechen, wenn „im Recht dieses teilnehmenden Mitgliedstaats eine solche Ehe nicht vorgesehen ist“. Da alle Mitgliedstaaten die Scheidung vorsehen, könne damit nur die gleichgeschlechtliche Ehe gemeint sein.113 Schließlich ziele Art. 13 Alt. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1259 / 2010, nach dem die Gerichte nicht verpflichtet sein sollen, eine Ehescheidung auszusprechen, wenn die betreffende Ehe „für die Zwecke des Scheidungsverfahrens nicht als gültig angesehen wird“, gerade auf gleichgeschlechtliche Ehen ab.114 Dem wird entgegengehalten, dass sich Art. 13 Alt. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1259 / 2010 schlicht auch auf hinkende Ehen beziehen könnte, die nach dem nationalen Recht nicht gültig sind.115 Dieser Einwand kann nicht überzeugen. Zunächst erscheint fraglich, warum die Möglichkeit, hinkende Ehen unter Art. 13 der Verordnung (EU) Nr. 1259 / 2010 zu subsumieren, gegen die Anwendbarkeit dieser Ausnahmevorschrift auf gleichgeschlechtliche Ehen sprechen sollte. Weiterhin überzeugt nicht, warum in der Folge angesichts der Möglichkeit, die Ehescheidung für den Fall, dass das nationale Recht gleichgeschlechtliche Ehen nicht als gültige Ehe anerkennt, abzulehnen (Art. 13 Alt. 2 der Verordnung (EU) Nr. 1259 / 2010), die Anwendung der Rom-III-Verordnung auch für diejenigen Mitgliedstaaten ausgeschlossen sein soll, die eine gleichgeschlechtliche Ehe anerkennen. Eine Ausnahme gleichgeschlechtlicher Ehen aus dem Anwendungsbereich der Rom-III-Verordnung erscheint vor dem Hintergrund der Ausnahmemöglichkeit in Art. 13 Alt. 2 der Rom-III-Verordnung nicht erforderlich. Angesichts des materiellen Ehebegriffes des Art. 9 GRC und dem ausdrücklichen Verweis auf Art. 21 GRC in dem 25. Erwägungsgrund liegt eine die gleichgeschlechtliche Ehe einbeziehende Auslegung im Gegenteil nahe. Durch Art. 9 GRC geboten ist sie jedoch nicht, da Art. 9 GRC nur die Eingehung der Ehe schützt, die von den Verordnungen (EG) Nr. 2201 / 2003 und (EU) Nr. 1259 / 2010 sachlich nicht erfasst wird. Praktisch käme es jedoch zu einer in sich stimmigen Dogmatik des Kollisionsrechts, bezöge man die gleichgeschlechtliche Ehe in den Anwendungsbereich der Verordnung 112  Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, A Rn. 234; Ring/Olsen-Ring, in: Süß/Ring (Hrsg.), Eherecht in Europa, § 1 Rn. 103. 113  Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, A Rn. 234. 114  Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, A Rn. 234; Garber, Zum Begriff der Ehe i. S. d. Art. 1 Abs. 1 lit. a EuEheKindVO S. 158 f. 115  Rauscher, in: Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht, Art. 1 Brüssel IIa-VO Rn. 5.



B. Kompetenzen der Union zur Regelung von Ehe und Familie313

(EU) Nr. 1259 / 2010 ein.116 Deshalb erfasst der Ehebegriff der Rom-IIIVerordnung auch gleichgeschlechtliche Ehen. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH den Streit im Sinne eines einheitlichen Verständnisses des Ehebegriffes im Sekundärrecht der Union lösen wird.

116  Zu den Problemen nach deutscher Rechtslage Richter, Zeus 2014, S. 301 (313 f.); Hausmann, Internationales und Europäisches Ehescheidungsrecht, A Rn. 235.

Schlussbetrachtung In den Regelungen zum Schutz von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta kommen die Geschichtsbezogenheit des Verständnisses von Ehe und Familie und die daraus resultierenden konfligierenden Ansichten der Mitgliedstaaten zum Ausdruck. Das Ergebnis des Kompromisses im Konvent ist ein Konglomerat von Normen, deren Auslegung einige Schwierigkeiten bereitet. Hinzu treten der Einfluss des Rechts der EMRK und die Uneinigkeit, die unter den Mitgliedstaaten bezüglich der Gewährleistung sozialer Rechte herrscht. Die geringsten Schwierigkeiten bereitet die Auslegung des Art. 7 GRC, der vollumfänglich Art. 8 EMRK entspricht. Dementsprechend kann auf die Grundsätze in der Rechtsprechung des EGMR zurückgegriffen werden. Dem Schutz des Familienlebens kommt auch praktisch die größte Bedeutung zu, insbesondere für die Auslegung der Freizügigkeits- und der Familienzusammenführungsrichtlinie. Entgegen der Auffassung einiger Mitgliedstaaten von der Ehe weist Art. 9 GRC einen weiten Ehebegriff auf. Den Ehebegriff auf verschiedengeschlechtliche Partnerschaften zu beschränken, kann nicht überzeugen. Durch die sprachliche Entkoppelung von Ehe und Familie in Art. 9 GRC kann der Norm gegenüber der restriktiven Gewährleistung des Art. 12 EMRK eine eigene Bedeutung zukommen. Die Eheschließungsfreiheit ist im Wesentlichen ein Leistungsrecht. Seine Prüfung ist dennoch anhand des herkömmlichen Schemas aus Eröffnung des Schutzbereiches, der Einschränkung und der Rechtfertigung der Einschränkung am Maßstab des Art. 52 Abs. 1 GRC möglich. Die Normierung eines einheitlichen Schrankenvorbehaltes in Art. 52 Abs. 1 GRC nötigt dem Norminterpreten dabei einige Flexibilität ab, weil die Schranke offensichtlich primär auf die Rechtfertigung von Eingriffen in materielle Abwehrrechte zugeschnitten ist. Praktisch kann der Ehebegriff des Art. 9 GRC wegen des begrenzten Anwendungsbereiches der Norm zum heutigen Stand der europäischen Integration nicht mehr als Signalwirkung für die Auslegung des Sekundärrechts und seine mögliche Änderung in der Zukunft zeitigen. Insofern sind die Ängste und Sorgen konservativer Mitgliedstaaten vor einer Aufweichung ihres traditionellen Ehebegriffes unbegründet. Im Rahmen des Art. 7 GRC geht der Ehebegriff im Familienbegriff auf. Von besondere Bedeutung ist er dort jedoch nicht, weil mittlerweile auch nichteheliche Lebensgemeinschaften ein Familienleben im Sinne des Art. 7 GRC begründen können. Diese Erkenntnis ist wegen der entsprechenden Rechtsprechung des EGMR für Art. 8 EMRK und ihrer Einbeziehung in die Auslegung der Grundrechtecharta über Art. 52 Abs. 3 GRC zwingend.

Schlussbetrachtung315

Grundrechtsdogmatisches Neuland beschreitet die Grundrechtecharta mit der Normierung des Art. 33 GRC. Während Art. 33 Abs. 2 GRC für einen Grundrechtstext ungewöhnlich präzise Vorgaben zum Schutz der Elternschaft normiert, die praktisch keine wesentlichen Auslegungsprobleme aufwerfen, ist die Dogmatik des Art. 33 Abs. 1 GRC bisher im Wesentlichen ungeklärt geblieben. Die Norm kann sich bedingt auf Vorbilder im internationalen Menschenrechtsschutz stützen, ihr kommt im Rahmen des Unionsrechts jedoch eine andere Bedeutung zu, als einer allgemeinen völkerrechtlichen Familienschutznorm wie Art. 16 ESC. Obwohl eine einheitliche Auslegung des Begriffes der Familie in der Grundrechtecharta wünschenswert gewesen wäre, liegt Art. 33 Abs. 1 GRC ein anderer, engerer Familienbegriff zu Grunde. Mit dem Schutz von Gemeinschaften aus Eltern und ihren Kindern wird die Europäische Union ihrer sozialen Verantwortung und vor dem Hintergrund der Alterung der europäischen Bevölkerung auch ihrer demografischen Verantwortung nach. Die Aufnahme einer allgemeinen familienschützenden Norm in die Grundrechtecharta kann deshalb nur begrüßt werden. Über der potentiellen praktischen Wirksamkeit des Art. 33 Abs. 1 GRC schwebt jedoch der Schatten der Dogmatik der Grundsätze in der Grundrechtecharta. Der Verfassungskonvent hat die Wirkung der Grundsätze in der Grundrechtecharta durch eine Einschränkung ihrer Justiziabilität begrenzt. Unter Entwicklung einer Dogmatik der Abgrenzung von Rechten und Grundsätzen in der Grundrechtecharta konnte bewiesen werden, dass es sich bei Art. 33 Abs. 1 GRC tatsächlich um einen Grundsatz handelt. Eine genauere Analyse des Art. 52 Abs. 5 GRC hat jedoch ergeben, dass Art. 33 Abs. 1 GRC auch als Grundsatz von erheblicher Bedeutung sein kann, weil die Grundsätze von den Gerichten i. V. m. Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC als relatives Rückschrittsverbot dem Abbau von familienfördernden Vergünstigungen entgegenhalten werden können. Die Dogmatik des Rückschrittsverbotes fügt sich in die Natur der Grundsätze als materielle Leistungsrechte ein. Entsprechend des Willens der Mitgliedstaaten begründen die Grundsätze jedoch niemals neue Ansprüche. Gerichte können aus ihnen nicht mehr als die Missbilligung einer Absenkung des bisherigen Leistungsniveaus entnehmen. Neben ihrer Funktion als Auslegungsmaßstäbe für das Sekundärrecht zeitigen die Grundsätze damit einen Reprobationseffekt, weil sie die gewährten Leistungen einer formell abwehrrechtlichen Kontrolle am Maßstab eines modifizierten Untermaßverbotes unterziehen. Grundsätzlich verdient die Unterscheidung formeller und materieller Abwehr- und Leistungsrechte eine größere Beachtung in der europäischen Grundrechtsdogmatik. Eine genaue Abgrenzung dient ihrer logischen Geschlossenheit und der Vorhersehbarkeit zukünftiger Entscheidungen, an der es nicht zuletzt wegen des geringen Alters der Grundrechtecharta derzeit noch mangelt.

316 Schlussbetrachtung

Nach dem derzeitigen Stand der Integration spielen die ehe- und familienschützenden Normen der Grundrechtecharta eine untergeordnete Rolle. Das kann sich jedoch in der Zukunft ändern. Angesichts der kontroversen Ansichten der Mitgliedstaaten über Ehe und Familie und der dringenden Probleme durch den demografischen Wandel in Europa sollten sich die Mitgliedstaaten und die Union in Zukunft gewahr sein, welchen grundrechtlichen Bindungen sie durch Art. 7, 9 und 33 GRC unterliegen. Nicht nur im Interesse klarer Regelungen mit einer konsistenten Begriffsverwendung, sondern auch, um später ein böses Erwachen durch die Rechtsprechung des EuGH zu verhindern.

Thesen I. Rechtlicher und gesellschaftlicher Wandel von Ehe und Familie in Europa und ihr Schutz in den Verfassungen der Mitgliedstaaten 1. Ehe und Familie unterliegen einem historischen Wandel. Die Ehe stand bis in die Moderne nur einem Teil der Bevölkerung offen. Ihre hauptsächliche Funktion lag lange Zeit in der Legitimierung von Kindern und der Regelung der Herrschaft über die Frau. Seit dem 20. Jahrhundert hat sich mit der Gleichberechtigung von Frauen und nichtehelichen Kindern sowie jüngst der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partnerschaften in einigen europäischen Staaten das Verhältnis von Ehe und Familie gelockert. Die bürgerliche Kleinfamilie ist ein Produkt der Neuzeit und geht auf den Einfluss der Kirche und die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnung im Zuge der Industrialisierung zurück. Mit der Industrialisierung hat die Familie ihre Funktion als Produktions- und Wirtschaftseinheit zu großen Teilen eingebüßt. Die Ehe hat ihre Funktion der Legitimierung von Kindern verloren. 2. Die Mehrheit der mitgliedstaatlichen Verfassungen enthalten Vorschriften zum Schutz von Ehe und Familie, die sich im Einzelnen unterscheiden. Der Schutz von Ehe und Familie kann als gemeinsame Verfassungstradition der Mitgliedstaaten bezeichnet werden. Sein Inhalt variiert jedoch in den Mitgliedstaaten erheblich. 3. Die Ehe wird entweder im Zusammenhang mit der Familie geschützt oder aber es wird nur ausdrücklich die Zivilehe garantiert. Die Ehe wird als Institution unabhängig von der Familie in keiner der Verfassungen der Mitgliedstaaten geschützt. 4. Sechs Mitgliedstaaten beschränken den Ehebegriff verfassungsmäßig auf verschiedengeschlechtliche Ehen.

II. Die Unterscheidung von Abwehrrechten und Leistungsrechten in der Grundrechtecharta 1. Die Grundlegende Unterscheidung von Abwehrrechten und Leitungsrechten erfolgt danach, ob der Grundrechtsadressat zu einem Unterlassen oder

318 Thesen

zu einer Leistung verpflichtet wird. Wird er zu einem Unterlassen verpflichtet, ist die Abwehrdimension der Grundrechte einschlägig. Wird der Grundrechtsadressat zu einer Handlung verpflichtet, ist die Leistungsdimension einschlägig. 2. Ob die Abwehr- oder Leistungsfunktion betroffen ist unterliegt einer materiellen Betrachtung, weil eine formelle Betrachtung zu willkürlichen Ergebnissen führt. Der Grund dafür liegt in der Kontingenz der Ausgestaltung der einfachgesetzlichen Rechtslage. 3. Die Gleichheitsfunktion ist gegenüber der Abwehr- und Leistungsfunktion eigenständig. 4. Ein Grundrecht ist Abwehr- und Leistungsrecht zugleich, wenn es eine Abwehr- und eine Leistungsfunktion aufweist. 5. Materielle Abwehrrechte sind alle Rechte, die eine Sphäre natürlicher Freiheit gewähren und dadurch die Grundrechtsadressaten zu einem Unterlassen verpflichten. Alle anderen Grundrechte mit Ausnahme der Gleichheitsrechte sind Leistungsrechte im weiteren Sinne. 6. Die Leistungsrechte im weiteren Sinne lassen sich differenzieren in Schutzrechte, Rechte auf Organisation und Verfahren und Leistungsrechte im engeren Sinne oder soziale Grundrechte. 7. Als Schutzrechte sind diejenigen Leistungsrechte, die Schutz vor Gefahren gewähren, die zurechenbar von privaten Dritten ausgehen. 8. Die Differenzierung der Leistungsrechte im weiteren Sinne außer der Schutzrechte in Rechte auf Organisation und Verfahren und Leistungsrechte im engeren Sinne oder soziale Grundrechte ist nicht zwingend und nicht stets eindeutig möglich. 9. Die Unterscheidung von Grundrechten danach, ob sie den Grundrechtsadressaten zu einer Handlung oder zu einem Unterlassen verpflichten, lässt sich auf das Regime der Grundrechtecharta übertragen.

III. Die Grundrechtecharta im System des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union gemäß Art. 6 EUV 1. Die Grundrechtecharta gilt als Primärrecht in allen Mitgliedstaaten. Das Protokoll Nr. 30 zum Vertrag von Lissabon ist keine generelle Ausnahmeklausel der Geltung oder Anwendbarkeit der Grundrechtecharta auf Großbritannien und Polen (sog. „Opt-out“). 2. Art. 2 des Protokolls Nr. 30 schließt die Anwendung von Art. 9 GRC auf Großbritannien und Polen aus, soweit der Ehebegriff in Art. 9 GRC weiter ausgelegt wird, als der Ehebegriff in Großbritannien und Polen reicht.

Thesen319

3. Art. 52 Abs. 3 GRC bezweckt die Einbeziehung der Gehalte der EMRK in die Grundrechtecharta als deren Mindestinhalt. Überschneiden sich die Regelungsbereiche von Rechten der EMRK und der Grundrechtecharta, ist den Rechten der Grundrechtecharta mindestens das gleiche Schutzniveau zu entnehmen. Bei der Ermittlung des Schutzniveaus der EMRK ist ihre Interpretation durch den EGMR zugrunde zu legen. 4. Art. 52 Abs. 3 GRC schließt es nicht aus, dass die Rechte der Grundrechtecharta, die den Rechten der EMRK entsprechen, ein höheres Schutzniveau gewährleisten. 5. Rechte der Grundrechtecharta, die Rechten der EMRK entsprechen, können unter den Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRC eingeschränkt werden. 6. Art. 7 GRC entspricht Art. 8 Abs. 1 EMRK. Art. 9 GRC entspricht Art. 12 EMRK. Art. 9 GRC hat jedoch möglicherweise eine größere Tragweite als Art. 12 EMRK. Art. 33 GRC findet in der EMRK keine Entsprechung.

IV. Ehe und Familie in der EMRK 1. Art. 12 EMRK schützt nur die Einehe, nicht die Gruppenehe. Das Bestehen einer Ehe schließt den Anwendungsbereich bezüglich einer zweiten Heirat nicht aus. 2. Die gleichgeschlechtliche Ehe ist vom Anwendungsbereich der Eheschließungsfreiheit aus Art. 12 EMRK erfasst. 3. Unter Familie im Sinne des Art. 12 EMRK sind verheiratete Eltern und ihre leiblichen Kinder zu verstehen. Die Familiengründungsfreiheit aus Art. 12 EMRK ist ein materielles Abwehrrecht, kein materielles Leistungsrecht. Deshalb folgt aus Art. 12 EMRK kein Recht auf Adoption. 4. Eingriffe in die Familiengründungsfreiheit unterliegen den SchrankenSchranken der Wesensgehaltsgarantie und des Verhältnismäßigkeitsprinzips. 5. Art. 8 EMRK enthält vier eigenständige Schutzbereiche. Der Familie kommt gegenüber dem Privatleben eine gesteigerte Schutzwürdigkeit zu. Deshalb ist das Familienleben nicht bloßer Teil des Privatlebens. 6. Art. 8 Abs. 1 EMRK liegt ein weiter Familienbegriff zugrunde. Dem Familienbegriff des Art. 8 Abs. 1 EMRK unterfallen kinderlose Eheleute, nichteheliche heterosexuelle und homosexuelle Lebensgemeinschaften ohne Kinder, Eltern und ihre Kinder, nichteheliche Familien und Alleinerziehendenfamilien. Eltern und ihre Adoptiv- oder Pflegekinder sind Familien i. S. d. Art. 8 EMRK. Verwandtschaftliche Beziehungen innerhalb der Großfamilie fallen unter den Familienbegriff des Art. 8 EMRK.

320 Thesen

7. Für die Eröffnung des Schutzbereiches des Rechts auf Achtung des Familienlebens müssen faktische Familienbande bestehen. Je weitläufiger die verwandtschaftliche Beziehung ist, desto höher sind die Anforderungen an ein faktisches Abhängigkeitsverhältnis. 8. Der EGMR leitet aus dem Recht auf Achtung des Familienlebens „negative obligations“ und „positive obligations“ ab. Die positiven Verpflichtungen lassen sich größtenteils den herkömmlicherweise unterschiedenen Kategorien der Leistungsrechte im weiteren Sinne zuordnen, gleichwohl hält der EGMR eine Differenzierung der positiven Verpflichtungen nicht für möglich. Art. 8 EMRK ist damit ein Abwehrrecht und ein Leistungsrecht. 9. Während Art. 12 EMRK zwischen Ehe und Familie unterscheidet, unterfällt die Ehe selbst dem Familienbegriff des Art. 8 EMRK. Art. 12 EMRK liegt ein enger, Art. 8 EMRK liegt ein weiter Familienbegriff zu Grunde.

V. Ehe und Familie in der Grundrechtecharta 1. Die Eheschließungsfreiheit in Art. 9 GRC ist ein normgeprägtes Grundrecht mit primär leistungsrechtlichem Gehalt. 2. Art. 9 GRC liegt ein eigenständiger Ehebegriff zugrunde. 3. Art. 9 GRC enthält keine Institutsgarantie zugunsten der Ehe nach deutschem Verständnis. 4. Die Ehe i. S. d. Art. 9 GRC ist ein unbedingtes und unbefristetes, freiwillig begründetes Rechtsverhältnis zwischen zwei Personen, das auf die Herstellung einer Lebensgemeinschaft gerichtet ist, einer gewissen Form bedarf und staatlicherseits anerkannt wird. 5. Art. 9 GRC gewährt kein Recht auf Scheidung. Ein Recht auf Scheidung folgt allenfalls aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens. 6. Art. 9 GRC enthält keinen Ausgestaltungsvorbehalt der Mitgliedstaaten. 7. Dem Charakter des Art. 9 GRC als Leistungsrecht ist es geschuldet, dass Art. 52 Abs. 1 GRC modifiziert anzuwenden ist. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRC findet bei der Beschränkung leistungsrechtlicher Gehalte keine Anwendung. Wesentlicher Rechtfertigungsmaßstab für die Beschränkung der Eheschließungsfreiheit ist das Untermaßverbot. 8. Das Untermaßverbot ist nicht kongruent mit dem Übermaßverbot. Das Unterlassen muss einem legitimen Zweck dienen und zu dessen Förderung geeignet sein, um dem Untermaßverbot zu entsprechen. Eine Erforderlichkeitsprüfung findet im Rahmen des Untermaßverbotes nicht statt. Im Rahmen des Untermaßverbotes ist eine Abwägung zwischen der unterlassenen Handlung und den gegenläufigen Rechtsgütern vorzunehmen.

Thesen321

9. Der Familiengründungsfreiheit des Art. 9 GRC liegt ein weiteres Familienverständnis als Art. 12 EMRK zugrunde. Das Recht zur Familiengründung aus Art. 9 GRC schützt auch die Gründung einer nichtehelichen Familie. 10. Der Familienbegriff des Art. 9 GRC ist auf gründungsfähige Familien beschränkt. Familiäre Beziehungen, auf deren Bestehen der Einzelne keinen Einfluss hat, sind nicht vom Familienbegriff des Art. 9 GRC erfasst. Unter die Gründung einer Familie im Sinne des Art. 9 GRC fällt die Entscheidung für Kinder, seien es leibliche oder Adoptivkinder. Eine nichteheliche Partnerschaft zu begründen, wird ebenfalls von Art. 9 GRC geschützt. 11. Der Familienbegriff des Art. 7 GRC ist ebenso weit wie der Familienbegriff des Art. 8 EMRK zu verstehen. Kinderlose Ehen unterfallen dem Familienbegriff des Art. 7 GRC. Nichteheliche Lebensgemeinschaften sind ebenfalls Familien im Sinne des Art. 7 GRC.

VI. Der Schutz von Ehe und Familie in Art. 33 GRC 1. Der Familienbegriff des Art. 33 Abs. 1 GRC beschränkt sich auf das Verhältnis zwischen Eltern und ihren minderjährigen Kindern. Ob die Eltern verheiratet sind, ist für die Anwendbarkeit des Art. 33 Abs. 1 GRC unerheblich. Es kommt für die Eröffnung des Schutzbereiches des Art. 33 Abs. 1 GRC ebenfalls nicht darauf an, ob die Kinder leiblich sind oder ob es sich um Adoptiv- oder Pflegekinder handelt. 2. Unter „Schutz“ im Sinne des Art. 33 Abs. 1 GRC ist ein umfassender Schutz zu verstehen, der auch ein Fördergebot zugunsten der Familie umfasst. Art. 33 Abs. 1 GRC ist materiell ausschließlich ein Leistungsrecht. Hinsichtlich des abwehrrechtlichen Schutzes von Ehe und Familie sind Art. 7 und 9 GRC lex specialis zu Art. 33 Abs. 1 GRC. 3. Die von Art. 52 Abs. 5 GRC beschriebene Wirkung der Grundsätze deckt sich weitgehend mit der Wirkung, die den Grundsätzen entsprechend der Figur der unmittelbaren Wirkung zukommt. Die Grundsätze sind rechtlich verbindlich. Art. 52 Abs. 5 GRC ordnet die eingeschränkte Justiziabilität der Grundsätze an. Die Erfüllung der Leistungsdimension der Grundsätze kann nicht gerichtlich erzwungen werden. 4. Die Grundsätze wirken in dem Fall der Absenkung des bereits erreichten Umsetzungsniveaus als relatives Rückschrittsverbot und zeitigen eine Reprobationswirkung gemäß Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC. 5. Das aus Art. 52 Abs. 5 S. 2 GRC in Verbindung mit dem jeweiligen Grundsatz folgende relative Rückschrittsverbot gewährt formell abwehr-

322 Thesen

rechtlichen Schutz vor dem Abbau von Leistungen, die der Umsetzung von Grundsätzen dienen. 6. Das Kriterium der Abgrenzung von Rechten und Grundsätzen ist die abwehrrechtliche Funktion. Normen mit materiell abwehrrechtlichen Gehalten sind Grundrechte, Normen mit materiell ausschließlich leistungsrechtlichen Gehalten sind Grundsätze. Eine Ausnahme hiervon gilt, wenn eine Norm einem Recht aus der EMRK, aus den Verträgen oder der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedstaaten entspricht. Selbst wenn sie keine abwehrrechtlichen Gehalte aufweist, ist diese Norm dann ein Recht. Art. 52 Abs. 5 GRC ist lex generalis gegenüber Art. 52 Abs. 2 bis 4 GRC. 7. Der rechtliche, wirtschaftliche und soziale Schutz gemäß Art. 33 Abs. 1 GRC beinhaltet einen Grundsatz. 8. Art. 33 Abs. 2 Var. 1 GRC beinhaltet ein Grundrecht. 9. Art. 33 Abs. 2 Var. 2 und 3 GRC sind Grundsätze.

VII. Einfluss des Ehe- und Familienschutzes der Grundrechtecharta auf das Sekundärrecht 1. Der Anwendungsbereich des Schutzes von Ehe und Familie in der Grundrechtecharta ist gemäß Art. 51 Abs. 1 GRC vom Anwendungsbereich des Unionsrechts abhängig. Das Unionsrecht gewährt der Europäischen Union keine Kompetenzen zur Regelung des Familienrechts in den Mitgliedstaaten. Dennoch kommt den Art. 7, 9 und 33 GRC ein Anwendungsbereich zu. 2. Die Europäische Union fördert mit den Familienleistungen, die sie ihren Bediensteten gemäß dem Beamtenstatut und den Beschäftigungsbedingungen gewährt, den wirtschaftlichen, rechtlichen und sozialen Schutz der Familie gemäß Art. 33 Abs. 1 GRC. 3. Bei der Auslegung des Freizügigkeitsrechts ist das Recht auf Achtung des Familienlebens zu beachten. Abweichend von der Auffassung des EuGH sind sowohl aufenthaltsbeendende Maßnahmen als auch die Verweigerung der Einreise Eingriffe in das Abwehrrecht des Art. 7 GRC. 4. Bei der Anwendung des Art. 17 der Dublin-III-Verordnung ist das Ermessen der Mitgliedstaaten wegen Art. 7 GRC entsprechend der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK eingeschränkt. 5. Die Verwendung des Ehebegriffes im Sekundärrecht ist unklar. In der Regel werden registrierte Partnerschaften gesondert genannt. Unklar bleibt oftmals, ob auch gleichgeschlechtliche Ehen erfasst sein sollen. In

Thesen323

Art. 2 Nr. 2 lit a) der Freizügigkeitsrichtlinie verweist der Begriff des Ehegatten auf das Recht des Aufnahmestaates. 6. Das Recht auf Achtung des Familienlebens weist die größte praktische Relevanz auf. Es ist insbesondere bei der Familienzusammenführung und der Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik zu beachten.

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Personen- und Sachwortverzeichnis Abwehrrecht – Eheschließungsfreiheit  119 – Eheschutz  130 ff., 172, 204 ff. – Elternurlaub  197 – Familiengründungsfreiheit  124 ff. – Familienschutz  176 ff., 212 f. – Kündigungsschutz  194 – Mutterschaftsurlaub  194 ff. Achtung des Familienlebens  171 ff. Adoptivkinder  124 ff., 175, 201 ff. Agency situation  284 f. Åkerberg Fransson  286 ff. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte  39 Anwendungsvorrang  98 f. 246 ff. Ausgestaltung  131 ff., 146 ff. Beamtenrecht  289 ff. Becker  235 Beschränkung – Eheschließungsfreiheit  146 ff. – Eheschutz  120 ff., 154 ff. – Elternurlaub  197 f. – Familiengründungsfreiheit  129, 170 – Familienschutz  181 f., 188 – Kündigungsschutz  194 – Mutterschaftsurlaub  194 f. Beurteilungsspielraum  118 ff., 165 f., 182, 189 Bigamieverbot  115 f., 141 Bosphorus  98 f. CIA Security  235 f. Costa / E.N.E.L.  225 f. D / Rat  140, 294 Danzig-Fall  132

Di Lazzaro  126 Direct effect  223 ff. Diskriminierungsverbot  229 ff., 276 Doppelte Schranken  153 f. Draper  123 ff. Dublin-III-Verordnung  308 ff. Effet utile  240, 248 Ehe – EMRK  172, 113 ff. – Grundgesetz  43 ff. – Grundrechtecharta  130 ff., 172, 204 Eheliche Familie  125, 173 ff. Ehename  45 Eheschließung  139, 145, 179 ff., 299 Eheschließungsfreiheit – EMRK  112 ff. – Grundrechtecharta  130 ff. Eingriff – Eheschließungsfreiheit  146 ff. – Elternurlaub  197 – Familiengründungsfreiheit  170 – Familienschutz  253 ff. – Kündigungsschutz  194 – Mutterschaftsurlaub  194 ff. Einrichtungsgarantie  s. Institutsgarantie Elternurlaub  197 f. EMRK – Auslegungsdirektive  106 ff. – Inkorporationsklausel  106 ff. – Living instrument  113 Enichem Base  235 Entsprechung von Grundrechtecharta und EMRK  100 ff. Erläuterungen des Präsidiums zur Grundrechtecharta  94 ff.

342

Personen- und Sachwortverzeichnis

ERT  285 EU-Beamtenstatut  290 ff. Europäische Sozialcharta  41, 87, 196, 196 ff. Exclusionary effect  242 f. Familie – Adoption  125 ff. – EMRK  124 ff., 172 ff. – Grundgesetz  43 – Grundrechtecharta  166 ff., 184 ff., 199 ff., 299 ff. Familienförderung  209 Familiengründung – EMRK  124 ff. – Grundrechtecharta  166 ff. Familiengründungsfreiheit  s. Familiengründung Familienleben  171 ff. Familienrecht  172, 177 ff., Familienschutz  209 Familienzusammenführungsrichtlinie  305 ff. Fördergebot  209 ff. Francovich  305 Freizügigkeitsrichtlinie  299 ff. Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten  87 ff. Gender  117 Germanisches Recht  26 ff. Gesetzesvorbehalt  155 Gewährleistungsdimensionen – Eheschließungsfreiheit  131 ff. – Elternurlaub  198 – Familiengründungsfreiheit  170 – Familienschutz  209 ff. – Kündigungsschutz  194 – Mutterschaftsurlaub  198 Gleiche Bedeutung und Tragweite  102 ff. Gleichgeschlechtliche Ehe, EMRK  116 ff.

Goodwin  116 f. Grant  142 Großfamilie  184 f. Großkrotzenburg  238 Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze  83, 85 ff., 284 Grundrechtecharta  141 ff. – Anwendbarkeit  223 ff., 283 ff. – Geltung  84 – Rechtliche Qualität  84 Grundrechtsfunktionen  72 ff. Grundrechtsquellen  83 ff. Grundsätze – Abgrenzung zu Rechten  268 ff. – Justiziabilität  253 ff. – Rechtsverbindlichkeit  221 f. – Unmittelbare Anwendbarkeit  223 ff. Hinreichend bestimmt  228 Hode and Abdi  308 f. Inhaltlich unbedingt  228 Institutsgarantie – EMRK  119 – Grundgesetz  48 ff. – Grundrechtecharta  135 ff. – Weimarer Reichsverfassung  46 f. Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte  39 ff. Inzestverbot  22, 37 Justiziabilität der Grundsätze  249 ff. Kaefer und Procacci  229 Kleinfamilie  37, 40, 43, 64, 123, 142, 183, 200 Kommission / Frankreich  264 Kongruenzthese  157 f. Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta  72, 83 Koordinationsrecht in Familiensachen  310 ff. Künstliche Befruchtung  44, 124 f.



Personen- und Sachwortverzeichnis343

Leistungsrecht – Eheschließungsfreiheit  132 ff. – Elternurlaub  278 ff. – Familiengründungsfreiheit  127 f. – Familienschutz  276 f. – Kündigungsschutz  278 ff. – Mutterschaftsurlaub  278 ff. Lemmens  236 f. Lütticke    230 Margin of appreciation  119 f., 264 Mittelalter  25 ff. Mutterschaft  192 f. Mutterschaftsurlaub  194 ff. Mutterschutz  191 ff. Mutterschutzrichtlinie  191 ff. Negative obligations  81, 180 Negative Verpflichtungen 81, 180 Neuzeit  31 ff. Nichteheliche Familie  43, 183, 186, 203 Nichteheliche Lebensgemeinschaft  168, 173 Norme imparfaite  246 Opt-out  84 ff. Parry  177 Paulskirchenverfassung  42 Pfizer  264 ff. Pflegekinder  175 Polygame Ehe  140 ff. Positive obligations  177 ff. Positive Verpflichtungen  177 ff. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung  17, 289 Privatleben  170 ff., 185 ff., 204 Protokoll Nr. 30 zum Vertragswerk von Lissabon  84 ff. Publizität der Eheschließung  145 f. Recht auf Wehrdienstverweigerung  132 f.

Rechtfertigung – Eheschließungsfreiheit  154 ff. – Elternurlaub  197 – Familiengründungsfreiheit  170 – Familienschutz  258 ff. – Kündigungsschutz  194 – Mutterschaftsurlaub  198 Rechtserkenntnisquellen der Grund­ rechte  87 ff., 94, 213, 267 Reed  293 f. Reproduktionsfunktion  40, 139, 186 Rom-III-Verordnung  311 f. Römisches Recht  20 ff. Roodhuijzen / Kommission  296 Rückschrittsverbot  61, 65, 69, 253 ff. Schalk und Kopf  118 ff., 143 Schutzbereich – Eheschließungsfreiheit  114 ff., 138 ff. – Elternurlaub  197 – Familiengründungsfreiheit  124 f., 167 ff. – Familienschutz  199 ff. – Kündigungsschutz  197 f. – Mutterschaftsurlaub  164 ff. Schutzpflicht  45 f., 61 f., 74 f., 79 ff. – Achtung des Familienlebens  176 ff. – Eheschließungsfreiheit  157 ff. – Familienschutz  209 – Kündigungsschutz  194 Schutzrecht  211 Schwägerschaft  185, 297 Self-executing Norm  226 ff. Spielräume  90, 98, 133, 165 ff., 263 ff. Substitution effect  242 ff. Teilhaberecht  73 ff. Transsexuelle  116 ff. Übermaßverbot siehe Verhältnismäßigkeitsprinzip

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Personen- und Sachwortverzeichnis

Unauflöslichkeit der Ehe  144 ff. Unbedingtheit der Ehe  144 Unbefristetheit der Ehe  144 Ungeschriebene Grundrechte  83 ff. Unionsrechtskonforme Auslegung  245 ff. Unmittelbare Wirkung  233 ff. Untermaßverbot  75 ff. – Eheschließungsfreiheit  156 ff. – Grundsätze  259 ff.

Van den Bergh  266 f. Van Gend & Loos  224 ff. Verhältnismäßigkeitsprinzip – Eheschließungsfreiheit  120, 155 ff. – Familiengründungsfreiheit  129, 170 – Familienschutz  181 ff. Zaunegger  108 Zivilehe  115 ff., 131, 139 Zwangssterilisation  129