Subjektform Autor: Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung [1. Aufl.] 9783839425732

Under what conditions does an author become recognized as a writer in the literary scene? In this volume, authorship sta

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Subjektform Autor: Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung [1. Aufl.]
 9783839425732

Table of contents :
Inhalt
Subjektform ›Autor‹? Einleitende Überlegungen
SUBJEKTFORM ›AUTOR‹
Geld oder Leben: Diverses zur Subjektform ›Autorin‹ um 1800
Schreiben als Strategie des ›Obenbleibens‹. Pücklers Inszenierung als Adliger und Künstler in den Briefen eines Verstorbenen
»Zuerst bin ich immer Leser.« Überlegungen zur Subjektform ›Autor‹ im gegenwärtigen Literaturbetrieb
Ichwerdung als dichterischer Selbstentwurf. Thomas Bernhards ›literarische‹ Inszenierung
»Vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Geschichten das, was man einen künstlerischen Einfall nennt. Hoffentlich.« Jurek Becker zwischen Autorschaft und Zeitzeugenschaft
Schreiben – Filmen – Sprechen. Inszenierung und Kommunikation in Alexander Kluges Autorschaft
Der Autor und sein Unternehmen. Subjektivierungspraktiken Ernst-Wilhelm Händlers
Poeta doctus docens: Poetikvorlesungen als Inszenierung von Bildung
Autorschaft als Legitimation. Der Kurator als Autor und die Inszenierung von Autorschaft in The Exhibitionist
PRAKTIKEN VON AUTORSCHAFT
Wohnen, Briefeschreiben, Dichten – Inszenierungspraktiken Rainer Maria Rilkes
Das fotografische Porträt Thomas Manns
Abgrenzung, Re-Kombination, Neu-Positionierung – Strategien der Autorinszenierung in der Gegenwartsliteratur
»Brecht hätte gerne eine Mitarbeiterin wie dich gehabt«. Traditionsverhalten bei Emine Sevgi Özdamar Zur Inszenierung von transkultureller Autorschaft und auktorialem
»Ich kann ja gar kein Buch schreiben«. Schriftstellerische Inszenierungen in deutschen Late-Night-Shows
Der Autor auf Facebook. Inszenierung im Sozialen Netzwerk
FORMEN DER GRENZÜBERSCHREITUNG
Das bin doch ich – nicht. Autorfiguren in der Gegenwartsliteratur (Bret Easton Ellis, Thomas Glavinic, Wolf Haas, Walter Moers und Felicitas Hoppe)
Der Patient namens ›Schriftsteller‹. Borderline als Autorschaft und Krankheit bei Joachim Lottmann
»Tu Schlechtes und rede darüber« – Das Drogengeständnis als Selbstinszenierungspraktik bei Benjamin von Stuckrad-Barre
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Sabine Kyora (Hg.) Subjektform Autor

Praktiken der Subjektivierung | Band 3

Editorial Poststrukturalismus und Praxistheorien haben die cartesianische Universalie eines sich selbst reflektierenden Subjekts aufgelöst. Das Subjekt gilt nicht länger als autonomes Zentrum der Initiative, sondern wird in seiner jeweiligen sozialen Identität als Diskurseffekt oder Produkt sozialer Praktiken analysiert. Dieser Zugang hat sich als außerordentlich produktiv für kritische Kultur- und Gesellschaftsanalysen erwiesen. Der analytische Wert der Kategorie der Subjektivierung besteht darin, verwandte Konzepte der Individuierung, Disziplinierung oder der Habitualisierung zu ergänzen, indem sie andere Momente der Selbst-Bildung in den Blick rückt. So verstehen sich die Analysen des DFG-Graduiertenkollegs »Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive« als Beiträge zur Entwicklung eines revidierten Subjektverständnisses. Sie tragen zentralen Dimensionen der Subjektivität wie Handlungsfähigkeit und Reflexionsvermögen Rechnung, ohne hinter die Einsicht in die Geschichtlichkeit und die Gesellschaftlichkeit des Subjekts zurückzufallen. Auf diese Weise soll ein vertieftes Verständnis des Wechselspiels von doing subject und doing culture in verschiedenen Zeit-Räumen entstehen. Die Reihe wird herausgegeben von Prof. Dr. Thomas Alkemeyer, Institut für Sportwissenschaft der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie und Sportsoziologie Prof. Dr. Thomas Etzemüller, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Neuere und Neueste Geschichte Prof. Dr. Dagmar Freist, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Frühen Neuzeit Prof. Dr. Gunilla Budde, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche und Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts Prof. Dr. Rudolf Holbach, Institut für Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte des Mittelalters Prof. Dr. Johann Kreuzer, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Geschichte der Philosophie

Prof. Dr. Sabine Kyora, Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Deutsche Literatur der Neuzeit Prof. Dr. Gesa Lindemann, Institut für Sozialwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Soziologie Prof. Dr. Ulrike Link-Wieczorek, Institut für Evangelische Theologie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Systematische Theologie und Religionspädagogik Prof. Dr. Norbert Ricken, Fachbereich Erziehungs- und Bildungswissenschaften der Universität Bremen, Fachrichtung Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Theorie und Geschichte von Erziehung und Bildung Prof. Dr. Reinhard Schulz, Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Philosophie Prof. Dr. Silke Wenk, Kulturwissenschaftliches Institut der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Fachrichtung Kunstwissenschaft

Sabine Kyora (Hg.)

Subjektform Autor Autorschaftsinszenierungen als Praktiken der Subjektivierung

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2573-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Subjektform ›Autor‹? Einleitende Überlegungen

Sabine Kyora I 11

S UBJEKTFORM ›AUTOR‹ Geld oder Leben: Diverses zur Subjektform ›Autorin‹ um 1800

Manuela Günter I 23 Schreiben als Strategie des ›Obenbleibens‹. Pücklers Inszenierung als Adliger und Künstler in den Briefen eines Verstorbenen

Urte Stobbe I 39 »Zuerst bin ich immer Leser.« Überlegungen zur Subjektform ›Autor‹ im gegenwärtigen Literaturbetrieb

Sabine Kyora I 55 Ichwerdung als dichterischer Selbstentwurf. Thomas Bernhards ›literarische‹ Inszenierung

Clemens Götze I 69 »Vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Geschichten das, was man einen künstlerischen Einfall nennt. Hoffentlich.« Jurek Becker zwischen Autorschaft und Zeitzeugenschaft

Miriam Runge I 83 Schreiben – Filmen – Sprechen. Inszenierung und Kommunikation in Alexander Kluges Autorschaft

Matthias Uecker I 103

Der Autor und sein Unternehmen. Subjektivierungspraktiken Ernst-Wilhelm Händlers

David-Christopher Assmann I 121 Poeta doctus docens: Poetikvorlesungen als Inszenierung von Bildung

Gundela Hachmann I 137 Autorschaft als Legitimation. Der Kurator als Autor und die Inszenierung von Autorschaft in The Exhibitionist

Felix Vogel I 157

P RAKTIKEN VON AUTORSCHAFT Wohnen, Briefeschreiben, Dichten – Inszenierungspraktiken Rainer Maria Rilkes

Jörg Schuster I 179 Das fotografische Porträt Thomas Manns

Ulrich Kinzel I 197 Abgrenzung, Re-Kombination, Neu-Positionierung – Strategien der Autorinszenierung in der Gegenwartsliteratur

Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser I 217 »Brecht hätte gerne eine Mitarbeiterin wie dich gehabt«. Zur Inszenierung von transkultureller Autorschaft und auktorialem Traditionsverhalten bei Emine Sevgi Özdamar

Alexander M. Fischer I 247 »Ich kann ja gar kein Buch schreiben«. Schriftstellerische Inszenierungen in deutschen Late-Night-Shows

Ella M. Karnatz I 267 Der Autor auf Facebook. Inszenierung im Sozialen Netzwerk

Elisabeth Sporer I 281

FORMEN DER GRENZÜBERSCHREITUNG Das bin doch ich – nicht. Autorfiguren in der Gegenwartsliteratur (Bret Easton Ellis, Thomas Glavinic, Wolf Haas, Walter Moers und Felicitas Hoppe)

Stefan Neuhaus I 307 Der Patient namens ›Schriftsteller‹. Borderline als Autorschaft und Krankheit bei Joachim Lottmann

Innokentij Kreknin I 327 »Tu Schlechtes und rede darüber« – Das Drogengeständnis als Selbstinszenierungspraktik bei Benjamin von Stuckrad-Barre

Gerrit Vorjans I 343 Autorinnen und Autoren I 353

Subjektform ›Autor‹? Einleitende Überlegungen S ABINE K YORA

Gottfried Benn hat einmal die Erwartung an Autoren in einem Satz zusammengefasst. So schildert er, wie die »Dame des Hauses« ihn bei einem geselligen Abendessen wie folgt anspricht: »Nun, Herr Doktor, ich höre, Sie besteigen auch den Pegasus«.1 Einmal abgesehen davon, dass dieser Satz von einer frappanten Unkenntnis des Benn’schen Werkes zeugt, lässt er auf ein bestimmtes, deutlich bürgerlich getöntes Verständnis von der Rolle und dem Tun eines Autors schließen. Benn liest diesen Satz als »Widerhall« auf sein öffentliches Auftreten, d.h. seine Existenz als Autor und die gesellschaftliche Vorstellung von Autorschaft beziehen sich in irgendeiner Form aufeinander. Benn hält diese beiden Seiten eher für nicht vermittelbar, seine Existenz als Autor und die Vorstellung der »Dame des Hauses« von Autorschaft verfehlen sich auf eine für ihn kuriose Weise. Den Zusammenhang, der damit angesprochen ist, versucht der vorliegende Band als Subjektform ›Autor‹ zu fassen. Dieser Begriff bezieht sich sowohl auf das Konzept des Autors, das er selbst entwirft, wie auf die in der Öffentlichkeit verbreiteten Autorschaftsbilder und auf die Vermittlung der beiden Elemente. Seit der ›Rückkehr des Autors‹2 werden in den letzten Jahren Autorschaftskonzepte und Autorinszenierungen wieder vermehrt diskutiert. Gerade Selbst-

1

Gottfried Benn, Selbst der moderne Lyriker…, in: ders., Szenen und Schriften in der Fassung der Erstdrucke, hg. v. Bruno Hillebrand, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, S. 171f., hier S. 171.

2

Zur Debatte um Autor und Autorschaftskonzepte: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/ Matias Martinez/Simone Winko (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines

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inszenierungen von Autorinnen und Autoren in den (neuen) Medien haben dabei Aufmerksamkeit gefunden: Der Fokus liegt sowohl auf einzelnen Autorinnen und Autoren als auch auf spezifischen Formaten wie etwa der traditionellen Dichterlesung oder der Homepage im Internet.3 Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser entwerfen in ihrem Band, ausgehend von Bourdieus Theorie, zudem eine Heuristik von Praktiken der Inszenierung, in der sie habituelle und lokale Dimensionen der Autorinszenierung unterscheiden.4 Autorschaftskonzepte und Autorinszenierungen haben aber Aspekte, die bisher nicht genauer betrachtet wurden. Einerseits ist es interessant, genau die Verknüpfung von beiden Elementen zu analysieren, die zusammen die Subjektform ›Autor‹ konstituieren. Andererseits machen schon Jürgensen und Kaiser auf die Verknüpfungen von literaturgeschichtlich bereits vorhandenen Autorinszenierungen aufmerksam, die gerade die gegenwärtigen Inszenierungspraktiken kennzeichnen. Sie gehen sogar soweit zu behaupten, dass in der Gegenwart keine neuen Formen der Autorinszenierung mehr auftauchen, sondern die Autorinnen und Autoren sich aus dem Reservoir des literarischen Feldes bedienen und bereits vorhandene Inszenierungspraktiken nur neu kombinieren. Diese Kombinatorik gilt es genauer in den Blick zu nehmen, ohne dass dabei ausgeschlossen werden soll, dass sich ebenfalls neue Praktiken der Subjektform ›Autor‹ in der Gegenwartsliteratur finden lassen.

I. G RUNDLEGENDES Laut dem Kultursoziologen Andreas Reckwitz entsteht eine Subjektform durch spezifische soziale Praktiken, die durch kulturelle Codes strukturiert sind. Diese Praktiken sind nach Schatzki »a temporally unfolding und spatially dispersed

umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999; Heinrich Detering (Hg), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002. 3

Aktuell zu Autorinszenierungen: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007; Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008; Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011.

4

Vgl. C. Jürgensen/G. Kaiser: »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: dies. (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken (2011), S. 9-30.

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nexus of doings and sayings«.5 Der Zusammenhang von Bewegungen und Worten ist wiedererkennbar und wiederholbar, so dass er als Grundlage der Bildung und Anerkennung von Subjektformen dienen kann. Subjektformen werden für alle Gebiete sozialen Handelns angenommen: Der Autor wäre wie der Unternehmer oder der Angestellte eine dieser Subjektformen, die in seinem Fall im literarischen Feld gebildet und anerkannt werden. Reckwitz baut auf Schatzkis Definition von Praktiken auf, bezieht aber Elemente von Bourdieus Theorie mit ein. Besonders Bourdieus Begriff des Habitus zeigt Parallelen zum Begriff der Subjektform. Die Akzentuierung der Praktiken macht es aber möglich, die Prozesshaftigkeit der Bildung und Positionierung von Subjektformen genauer in den Blick zu nehmen. Praktiken sind »sozial geregelte, kulturell typisierte und organisierte Bündel menschlicher Aktivitäten«,6 d.h. sie werden im Vollzug aktualisiert. In der Aktualisierung sind sie unabhängig von dem, der sie ausführt, und durch codierte Bewegungen, sprachliche Muster sowie den Gebrauch spezifischer Artefakte bestimmt. Die Praktik stellt gewissermaßen das Spielfeld, die Spielregeln und das Spielgerät für den Akteur bereit. Dadurch wird jeder Teilnehmer einer Praktik »durch seine situierte Beziehung zu anderen Teilnehmern, seine gegenwärtige Positionalität und seine im Vollzug geschaffene Bedeutung resp. Identität gekennzeichnet.«7 Übertragen auf Praktiken von Autorschaft könnte man das literarische Feld als den Kontext verstehen, der diese Praktiken mitbestimmt; Autoren setzen sich innerhalb dieses Feldes durch Praktiken in Beziehungen zu anderen Teilnehmern etwa Verlegern oder Kritikern, nehmen im Vollzug der Praktiken eine Position innerhalb des Feldes ein und bringen in ihren Praktiken Bedeutung und Identität (die ihnen einerseits von Mitspielern zugeschrieben wird, andererseits aber auch ihr Selbstverständnis umfasst) hervor. Praktiken von Autorschaft wären dann einerseits feldspezifisch codiert und erwartbar, können aber andererseits im Vollzug auch variiert werden. Dabei liegt der Schwerpunkt der Analyse auf dem Moment des Vollzugs, auf seiner Dynamik und auf der möglichen Variation von bereits vorhandenen Codierungen.

5

Theodore R. Schatzki, Social Practises. A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 89.

6

Thomas Alkemeyer, »Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik«, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013, S. 33-68, hier S. 44.

7

Ebd., S. 45.

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Darüber hinaus bietet Reckwitz Ebenen an, auf denen diese Praktiken stattfinden, und damit ein Analyseinstrument auch für die Praktiken der Subjektform ›Autor‹. Er unterscheidet die körperliche Performance, das praktische prozessorientierte Wissen, das sich auch in körperlichen Aktionen zeigt, und den Umgang mit Artefakten. Er hält aber auch das Deutungswissen, Form und Stil des Zeichengebrauchs sowie die Formung der Sinne und Affekte für relevant. 8 Der gesamte »nexus of doings and sayings«9 ermöglicht es, die öffentliche Person eines Autors mitsamt seiner Werkformen in die Analyse zu integrieren. Dazu gehören selbstverständlich auch poetologische Texte, die nicht nur das Werk, sondern auch die eigene Positionierung reflektieren können – nach Reckwitz gehören diese zum Deutungswissen. Praktiken der Subjektform ›Autor‹ lassen sich darüber hinaus typisieren und Autorinnen und Autoren entsprechend einordnen. Die Subjektform ›Autor‹ zeigt aber ebenfalls Praktiken – besonders im Bereich der Reflexivität –, die über das Konzept von Reckwitz hinausgehen. Auch die Bedeutung von literaturgeschichtlichen Komponenten ist mit Reckwitz nicht erfassbar, hier müsste also eine literaturwissenschaftliche Perspektivierung einsetzen.

II. H ISTORISCHE UND

GEGENWÄRTIGE

E NTWICKLUNGEN

Fragt man nach der Subjektform ›Autor‹, so gilt es den historischen Kontext zu berücksichtigen. Vollzug, Dynamik und Möglichkeiten zur Variation der Praktiken von Autorschaft verändern sich mit dem literarischen Feld, gleichzeitig bildet sich in der diachronen Entwicklung ein Reservoir von vergangenen Praktiken, die durchaus wieder aktualisiert werden können. Die Beiträge des Bandes beschreiben die Subjektform ›Autor‹ und die Praktiken von Autorschaft seit 1800 und zeigen auch, ab wann die Autonomie des literarischen Feldes sich entwickelt und damit eine Subjektform ›Autor‹ anzunehmen ist. Der zweite Schwerpunkt des Bandes ist der gegenwärtige Literaturbetrieb und die Gegenwartsliteratur. Hier ist eine Vielfalt von neuen Praktiken zu beobachten, die durch die Entwicklung der Neuen Medien (Internet, soziale Plattformen, Twitter), aber auch durch die Weiterentwicklung z.B. von Fernsehformaten wie

8

Vgl. A. Reckwitz, Subjekt, S. 136f.; vgl. auch Sabine Kyora, »›Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur‹. Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft«, in: Alkemeyer/Budde/Freist (2013), Selbst-Bildungen, S. 251-274.

9

T.R. Schatzki, Social Practises, S. 89.

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der Late-Night-Show zustande kommt. Zudem lassen sich in den Autorschaftsinszenierungen neue Tendenzen erkennen, etwa bei der Übernahme der Subjektform ›Unternehmer‹ oder bei der Inszenierung von Autorschaft als Label oder Marke. Neben den gegenwärtigen, konkreten Praktiken von Autorschaft ist eine generelle Entwicklung interessant. So macht Reckwitz für die Subjektformen der Gegenwart eine Tendenz zur Hybridisierung aus: »Die kulturellen Codes, in denen sich das Subjekt in seinen Dispositionen modelliert, stellen sich bereits innerhalb der spezialisierten Praxis-/Diskurskomplexe und in aufaddierter Form in der ganzen Subjektkultur nicht als homogene Gebilde, sondern als hybride, synkretistische Arrangements mehrerer Codes dar: Die Subjektkultur bringt das Subjekt in eine Form, jedoch in die Form eines hybriden Arrangements unterschiedlicher 10

miteinander kombinierter, einander überlagernder Codes.«

Das Subjekt wird nicht nur durch die Hybridbildungen unterschiedlicher Codes innerhalb der Gegenwart geformt, sondern auch durch Codes, die zu eigentlich vergangenen Subjektformen gehören. Diese Hybridisierung ist auch bezogen auf die Subjektform ›Autor‹ zu konstatieren. Hybridbildungen von eigentlich gegensätzlichen oder historisch vergangenen Elementen der Subjektform sind – das wird auch in den folgenden Aufsätzen erkennbar – ein auffallender Teil der Subjektbildung und kennzeichnen häufig die spezifische Positionierung eines einzelnen Autors. Hybridisierungen lassen sich auf unterschiedlichen Ebenen ansiedeln: So ist die Hybridisierung unterschiedlicher Subjektformen etwa zwischen den Subjektformen ›Autor‹ und ›Unternehmer‹ möglich. Bezogen auf die Subjektform ›Autor‹ kann eine Hybridisierung unterschiedlicher Autorschaftsformen z.B. vom autonomen Autor und dem Autor als Marke vorliegen. Diese Ebene entspricht am ehesten den von Jürgensen und Kaiser bereits beschriebenen Inszenierungspraktiken. Sichtbar werden kann ebenfalls die Verschmelzung von im literarischen Text inszenierter Subjektform und der außerhalb des Textes aktualisierten Subjektform ›Autor‹: So schildert ein Autor in autofiktionalen Texten beispielsweise Praktiken, die unter seinem eigenen Namen gebündelt sind, die aber als fiktive in einem Spannungsverhältnis zu den tatsächlichen Praktiken dieses

10 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Göttingen: Velbrück 2006, S. 81f, (Hervorhebung im Original).

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Autors stehen.11 Dabei kann durch die Analyse dieser Praktiken ein neues Verständnis der alten Kunst/Werk und Leben/Autor-Dichotomie entworfen werden. Während Hybridbildungen ihre unterschiedlichen Bestandteile eher addieren und amalgamieren, finden sich in historischen und gegenwärtigen Autorinszenierungen auch Hierarchisierungen unterschiedlicher Elemente der Subjektform ›Autor‹, die gelegentlich sogar Subjektformen außerhalb des literarischen Feldes mit einbeziehen. So kann es sein, dass etwa bei Alexander Kluge allein der Name des Autors die unterschiedlichen Praktiken von Autorschaft homogenisiert.12 Dieser wäre also hierarisch höherwertig als die einzelnen Praktiken und ein Modell für einen ›starken‹ Autor. Hierarchien sind ebenfalls bei der Konkurrenz von zwei Subjektformen oder Autorschaftskonzepten zu beobachten: Ein Beispiel ist hier die Konkurrenz zwischen den Subjektformen ›Autor‹ und ›Adliger‹ bei Pückler-Muskau, die zur Unterordnung der Subjektform ›Autor‹ unter die des ›Adligen‹ führt.13

III. P ERSPEKTIVEN Die folgenden Beiträge sind entstanden aus Vorträgen, die anlässlich der internationalen Tagung Subjektform ›Autor‹ – Inszenierungen von Autorinnen und Autoren als Praktiken der Subjektivierung im September 2012 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg gehalten wurden. Die Tagung stand im Zusammenhang mit dem Oldenburger Graduiertenkolleg Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, das seit 2010 von der DFG gefördert wird. Die Beiträge des Bandes gruppieren sich um die Frage nach der Subjektform ›Autor‹, sie untersuchen spezifische Praktiken der Subjektform ›Autor‹ und analysieren Formen der Grenzüberschreitung zwischen im Text inszenierten Subjektformen und den Praktiken der Subjektform ›Autor‹. Die Subjektform ›Autor‹ muss sowohl im historischen Kontext wie auch in Konkurrenz mit anderen Subjektformen betrachtet werden. So befasst sich der Beitrag von Manuela Günter zur Subjektform ›Autorin‹ um 1800 mit der Frage der Legitimation von Autorschaft, die bei männlichen Autoren durch das Schreiben einer Autobiografie mit konstituiert werden kann. Im Gegensatz zu dieser Funktion beschreibt Günter die erste bekannte Autobiografie einer Schriftstel-

11 S. die Beiträge von Stefan Neuhaus und Innokentij Kreknin in diesem Band. 12 S. den Beitrag von Matthias Uecker in diesem Band. 13 S. den Beitrag von Urte Stobbe in diesem Band.

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lerin, von Johanna Isabella Eleonora von Wallenrodt (1740-1819), als ökonomisch legitimiert. Damit erfüllt Wallenrodt die Gattungsmerkmale der DichterAutobiographie insofern nicht, als sie keine Autonomie ihrer Literatur konstruiert. Günter liest dies als Hinweis auf die Problematik der Subjektform ›Autorin‹, die schon zu Beginn der Autonomisierung der Literatur als Besonderheit gekennzeichnet wird und so die Legitimationsstrategien der männlichen Kollegen nur unterlaufen oder parodieren kann. Urte Stobbes Aufsatz akzentuiert das Verhältnis zwischen der Subjektform ›Autor‹ und ›Adliger‹ anhand der Briefe eines Verstorbenen (1830/31) von Hermann Fürst von Pückler-Muskau. Wie in Günters Aufsatz kreuzen sich auch hier zwei unterschiedliche Subjektformen, wobei Stobbe argumentiert, dass die Profilierung des Autors Pückler im Wesentlichen der Subjektform ›Adliger‹ dient. Ausgelöst durch den Verlust seines Status im Zuge der Eingliederung seiner Ländereien in das Staatsgebiet Preußens transferiert Pückler die adlige Pose der sozialen Überlegenheit in seine Schriften. Dabei wird eine Hierarchisierung der unterschiedlichen Subjektcodes deutlich, der soziale Status dominiert die Subjektform ›Autor‹. Der Beitrag von Sabine Kyora eröffnet die Reihe der Aufsätze zur Gegenwartsliteratur. Kyora skizziert die Bedingungen und Eigenarten der Subjektform ›Autor‹ und überprüft diese anhand der poetologischen Überlegungen von Sibylle Lewitscharoff, Thomas Meinecke und Ingo Schulze. Die Praktiken der Subjektform ›Autor‹ werden dabei als Routinen erkennbar, die Reflexion der Autorinnen und Autoren bindet diese Routinen als bewusst ausgeführte zudem direkt an die Textproduktion. Clemens Götze beschreibt in seinem Aufsatz die Interviews und Leserbriefe von Thomas Bernhard als Teil der spezifischen Subjektform ›Autor‹, die Bernhard in der Öffentlichkeit zu installieren versuchte. Diese Subjektform nimmt einerseits das literaturgeschichtliche Modell des poeta doctus auf, Bernhard schafft andererseits aber die Figur des ›Altersnarren‹ als Teil seiner Autorschaftsinszenierung. Damit zeigt Bernhards Kombination unterschiedlicher Autorschaftskonzepte deutlich die Hybridität der Subjektform ›Autor‹. Auch Miriam Runge stellt in ihrem Aufsatz Jurek Beckers Autorschaftskonzeption als exemplarische Interaktion zwischen zwei Subjektformen dar: der Subjektform ›Autor‹ und der Subjektform ›Zeitzeuge‹. Vor allem in den 90er Jahren hat Becker sich, ausgehend von seiner bereits erreichten Durchsetzung als autonomer Autor, als Zeitzeuge des Holocausts inszeniert. Gerade in dieser Kombination liegt die Spezifik seiner Positionierung im literarischen Feld dieser Zeit. Runges Beitrag liefert so ein weiteres Beispiel für die Hybridisierung der Subjektform ›Autor‹, die durch die Selbstreflexion der Autoren mit vorangetrieben wird.

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Matthias Uecker skizziert dagegen die ›Marke‹ Kluge als Grundlage von Kluges vielfältiger künstlerischer Produktion. Gerade der Anspruch Kluges, autonome und innovative Ausdrucksformen zu finden, führt nach Uecker zu einer starken Autorschaftskonzeption, bei der der Name des Produzenten die unterschiedlichen Formen zusammenhält. Über den Bezug zum autonomen Autorschaftskonzept hinaus erkennt Uecker vor allem in Kluges Medienproduktion auch Elemente des ›unternehmerischen Selbst‹ nach Ulrich Bröckling. Der Beitrag von David-Christopher Assmann untersucht das ›Autorenlabel‹ von Ernst Wilhelm Händler, der sich wie Kluge auch als Unternehmer und ›starker‹, autonomer Autor inszeniert. Die Subjekform Autor, die Händler darstellt und reflektiert, ist einerseits durch den Habitus des Unternehmers, andererseits durch die Modernisierung des Konzepts des poeta doctus gekennzeichnet. Paradoxerweise begründet Händler gerade durch seine ökonomische Unabhängigkeit als Unternehmer seine Autonomie als Autor. Gundela Hachmann beschäftigt sich mit dem Genre der Poetikvorlesungen und deren präferiertem Autorschaftskonzept des poeta doctus. Bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren für Poetikvorlesungen werden Kriterien des akademischen Feldes auf das literarische übertragen, d.h. in der Regel werden Autorinnen und Autoren mit hohen Bildungsabschlüssen ausgewählt. Entsprechend verweisen die Autorinnen und Autoren auch in den Vorlesungen auf ihre Qualifikationen: Während sich Hochhuth als belesener Autodidakt inszeniert, legt Robert Menasse durch das Vorführen von Selbstreflektion und Selbstfiktionalisierung den Konstruktionscharakter der gebildeten Autor-Person offen. So zeigt sich einerseits die Offenheit der Subjektform ›Autor‹, der kein institutionalisierter Bildungsgang zugrunde liegt, andererseits die Reflexion dieser Subjektform in den Poetikvorlesungen. Der Aufsatz von Felix Vogel wendet sich dagegen der Übernahme der Subjektform ›Autor‹ im Feld der bildenden Kunst zu. Er zeigt die Aneignung einer autonomen Autorschaftskonzeption bei den Kuratorinnen und Kuratoren von Ausstellungen, die so ihre Arbeitsweise legitimieren. Dabei übernehmen die Kuratorinnen und Kuratoren sowohl ältere Autorschaftsmodelle wie das GenieKonzept als auch das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Avantgarden entwickelte Konzept des Autors als Arrangeur und des ›Auteurs‹ der Nouvelle Vague. Die Praktiken von Autorschaftsinszenierungen werden vor allem für Autorinnen und Autoren des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts analysiert. Der Aufsatz von Jörg Schuster zeigt die Praktiken des Wohnens und Briefeschreibens als Teil von Rilkes Inszenierung seiner Autorschaft. Rilke kombiniert in diesen Praktiken Elemente des ›adligen‹ Wohnens mit der ›bürgerlichen‹ Leistung des Texteverfassens, denn das Wohnen im ›Schlösschen‹ ist die zwingende

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Grundlage für seine dichterische Produktion. In seinen Briefen konstruiert er so einen eigenen Raum als Teil seines Autorschaftskonzeptes. Deutlich wird an diesem Beispiel die Hybridität von Praktiken, die der Herstellung der Subjektform ›Autor‹ dienen: So verwendet Rilke adelskulturelle, bürgerliche und literarische Praktiken, um sich als Autor zu inszenieren. Ulrich Kinzel beschäftigt sich in seinem Beitrag mit einem anderen Medium, nämlich mit fotografischen Porträts Thomas Manns und findet dort ähnlich hybride Praktiken wie Schuster bei Rilke. In den Porträts verbinden sich Inszenierungen von Bürgerlichkeit mit der Inszenierung als Autor, eine Konstellation, die wiederum Parallelen zum Werk Manns aufweist. Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser akzentuieren in ihrem Beitrag die unterschiedlichen lokalen und habituellen Dimensionen von Inszenierungspraktiken in der Gegenwartsliteratur. Ihre These ist dabei, dass diese Praktiken bei Gegenwartsautoren aus Re-Kombinationen von literaturgeschichtlich bereits bekannten Inszenierungsformen bestehen. So stellen sie bei Martin Mosebach eine Kombination von Dandy-Pose und ostentativ vorgeführter Bürgerlichkeit fest, wobei sich Letzteres bei Mosebach auch poetologisch als Berufung auf den bürgerlichen Realismus wiederfindet. Anhand von Stuckrad-Barres Neupositionierung mit Blackbox zeigen Jürgensen und Kaiser auch, dass diese ReKombinationen nicht stabil sein müssen. Denn einzelne Elemente innerhalb der Inszenierungspraktiken eines Schriftstellers können sich verändern, ohne dass allerdings sein ›Label‹, bei Stuckrad-Barre seine popkulturelle Positionierung, davon berührt sein muss. Alexander M. Fischer beschreibt dagegen die Positionierung von Emine Sevgi Özdamar als transkulturelle, ›fremde‹ Autorin im deutschsprachigen literarischen Feld. Dabei inszeniert sich Özdamar als Brecht-Schülerin und als ›orientalische‹ Erzählerin. An einzelnen Inszenierungspraktiken wie dem Rauchen oder der Covergestaltung ihrer Bücher wird diese hybride Positionierung deutlich. Der Beitrag von Ella M. Karnatz konzentriert sich auf eine bestimmte Inszenierungspraktik, nämlich den Auftritt von Autorinnen und Autoren in LateNight-Shows, und das Autorschaftskonzept, das diese Praktik produziert bzw. zum Ausdruck kommen lässt. Sie beobachtet anhand des Auftritts von Sibylle Berg bei Harald Schmidt vor allem die Darstellung der Autorin als Marke (wobei das Buch, über das gesprochen werden soll, nebensächlich ist). Gleichzeitig ist die Distanzierung von diesem Konzept erkennbar, welche möglicherweise auf eine Vorstellung von autonomer Autorschaft rekurriert. Dabei stellt sich die Frage nach der Hierarchisierung dieser beiden Modelle: Ist eines davon das beherrschende? Wie Karnatz widmet sich auch Elisabeth Sporer einer Insze-

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nierungspraktik von Autorinnen und Autoren, nämlich ihrer Gestaltung der Facebook-Seiten und dem Umgang mit dem sozialen Netzwerk. Sie stellt die sehr unterschiedlichen Verwendungsweisen von Autorinnen und Autoren vor und bietet eine Typologie der Internetauftritte und der Postings. Formen der Grenzüberschreitung zwischen realem und fiktivem Autor geht der Aufsatz von Stefan Neuhaus nach. Neuhaus analysiert Autorfiguren, d.h. Autorinnen und Autoren, die in ihren eigenen Romanen als sie selbst erscheinen, ohne dass es sich um autobiographische Entwürfe handelte. Neuhaus liest diese Autofiktionen als Zeichen für die Hybridität postmoderner SubjektEntwürfe. So zeigen die Romane vor allem den Konstruktionscharakter von Subjektivität. Wie Stefan Neuhaus befasst sich Innokentij Kreknin mit der Verschmelzung von Autor und Figur im Fall von Joachim Lottmann, die durch die Inszenierung des Autors und der Poetik als ›Borderline‹ zustande kommt. Bei dem Phänomen des ›Borderline‹ sind die Destabilisierung von Autor und Text durch die Krankheit paradox verbunden mit einer starken Autorschaftsvorstellung, weil der Name des Autors beides zusammenhält. So entsteht auch eine Variante der Subjektform ›Autor‹, die Kreknin als ›Patient Schriftsteller‹ bezeichnet. Gerrit Vorjans knüpft in seinem Beitrag sowohl an die Überlegungen von Jürgensen und Kaiser wie an Neuhaus an. Anhand von Stuckrad-Barres Inszenierung seiner Drogensucht zeigt er die Grenzüberschreitung vom Autor zur Figur in seinen Romanen, weist aber auch auf Stuckrad-Barres popkulturelle Positionierung hin. Dessen Inszenierungspraktiken sieht Vorjans als Übertragung der ›Rock-Subjektivierung‹, die bestimmte Codierungen bereitstellt, in das literarische Feld. Die Herausgeberin dankt Miriam Runge und Gerrit Vorjans für die Unterstützung bei der Planung und Durchführung der Tagung, Felix Barkley und Ina Cappelmann ein herzlicher Dank für die Sorgfalt bei den redaktionellen Arbeiten. Ein besonderer Dank gilt Ella M. Karnatz, die nicht nur bei der Organisation der Tagung mitgewirkt, sondern auch den Band organisatorisch betreut hat. Schließlich sei auch den Kolleginnen und Kollegen und den Kollegiatinnen und Kollegiaten des Graduiertenkollegs für die anregenden Diskussionen gedankt, ohne die dieser Band nicht denkbar wäre.

Subjektform ›Autor‹

Geld oder Leben Diverses zur Subjektform ›Autorin‹ um 1800 M ANUELA G ÜNTER

I. S UBJEKTFORMEN :

MÄNNLICH / WEIBLICH

In seiner vielbeachteten Studie Das hybride Subjekt erinnert Andreas Reckwitz in der Einleitung an die Polysemie des ›subjectum‹ als »unterworfener Unterwerfer und unterwerfendes Unterworfenes«, das nur insofern zur ›Autonomie‹ gelangt, als es sich bestimmten Regeln unterwirft.1 Im Anschluss an aktuelle Kulturtheorien ›liest‹ Reckwitz diese Doppelstruktur als durchaus kontingentes und in jedem Fall hybrides Produkt symbolischer Ordnungen, das sich in Abhängigkeit von den Dispositiven Ökonomie und Sexualität in sozialen Praktiken bilde und stabilisiere, aber auch immer wieder verschiebe. Eine besondere Rolle bei diesen Verschiebungen »zwischen autonomer Vereinzelung und sozialer Integration«2 spielten ästhetische Bewegungen, die die Hegemonie des jeweiligen Subjektmodells in Frage stellten, indem sie die Trennung zwischen Kunst und Leben aufzuheben suchten und das Subjekt damit zum (offenen) ästhetischen Projekt erklärten, das sich den beiden Narrativen des Subjekts – der autonomen Selbstregierung wie auch der repressiven Affektkontrolle – entzieht. Im Anschluss an das ästhetische Projekt eines »moralisch-bürgerlichen Subjekts« des ausgehenden 18. Jahrhunderts, das sich in Distinktion zum aristokratischen modelliert, möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit diese Konstruktion auch weibliche Subjektbildung in Bezug auf literarische Autorschaft um 1800

1

Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006, S. 9.

2

Ebd., S. 10.

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einschließt. Denn grundsätzlich muss jede Subjekttheorie sich daran messen lassen, inwieweit sie die spezifische Faktur weiblicher Subjektivität integrieren kann. Reckwitz selbst reflektiert das Problem der Geschlechterdifferenz als »Risiko eines bürgerlichen Doppel-Lebens zwischen Moralisierung und Ökonomisierung«, »zwischen latenter Sexualisierung und manifester Sexualitätskontrolle« sowie »zwischen Öffentlichem und Privatem«,3 das um 1800 für die Geschlechter zwei distinkt naturalisierte und zugleich supplementäre Subjektmodelle hervorbringt, die sich literarisch im Bildungsroman einerseits, im Prüfungsroman andererseits erproben. Die Frage ist jedoch, welche Spielräume Männern und Frauen jeweils zur Verfügung stehen, auf diese Subjektmodelle zu reagieren bzw. sie auszugestalten. Konkret geht es im Folgenden darum, was es für die Subjektform ›Autorin‹ heißt, wenn Frauen ihre Subjektivität allein im Feld der Häuslichkeit und Mütterlichkeit, als Hüterin der Moral und Spezialistin in Herzensangelegenheiten entfalten können. Denn offenbar sind die verschiedenen sozialen und ökonomischen Bereiche, die Frauen und Männern in diesem »Doppel-Leben« zugeschrieben werden, grundsätzlich hierarchisch strukturiert, so dass es für männliche und weibliche Autorschaft um 1800 höchst unterschiedliche Optionen gibt: Während literarisches Schreiben für Frauen einen ständigen Kampf gegen dessen Bedingungen Ökonomie und Öffentlichkeit bedeutet, erlauben gerade diese Bedingungen den Autoren die Universalisierung des männlichen Subjekts. Dabei spielt die Autobiographie als Genre »zwischen Dichtung und Wahrheit«, die im 18. Jahrhundert das hegemoniale Repräsentationsmuster autorschaftlicher Subjektbildung bereitstellt, eine maßgebliche Rolle, insofern dem »Individuum jetzt zugemutet [wird], sich durch Bezug auf seine Individualität zu identifizieren, und das kann nur heißen: durch Bezug auf das, was es von allen anderen unterscheidet. Selbstbeobachtungen und Selbstbeschreibungen können sich jetzt nicht mehr, oder allenfalls äußerlich, an soziale Positionen, Zugehörigkeiten, Inklusionen halten. Dem Individuum wird zugemutet, in Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung auf seine Individualität zu rekurrieren.«4 Dieses Programm der individuellen »Selberlebensbeschreibung« zur Begründung und Stabilisierung männlicher Autorschaft wird von Johanna Isabella Eleonora von Wallenrodt (1740-1819) gleichsam enteignet: für eine weibliche Lebensgeschichte, die den Prozess einer gegenderten ›Verbürgerlichung‹ des Subjekts vom Standpunkt einer (verarmten) Adligen aus reflektiert, ebenso, wie für eine

3

Ebd., S. 272.

4

Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 215.

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grundlegende Kritik des auf Moral und Innerlichkeit verpflichteten Tugendprogramms des (weiblichen) Prüfungsromans. Das Resultat ist kein sich im Schreiben seiner selbst versicherndes, mit diskursiver Autorität und Werkherrschaft ausgestattetes Autorsubjekt, sondern die Erkenntnis, dass weibliche Autorschaft um 1800 ›nur‹ als parodistische Doublette funktioniert, die trotz Marginalisierung im zeitgenössischen literarischen Feld und vollständigem Vergessen im kulturellen Gedächtnis die männliche Selbstrepräsentation für einen historischen Augenblick ebenso ironisch konterkariert wie die zeitgenössischen Register weiblicher ›Natur‹.5

II. P ARODIE

DES

P RÜFUNGSROMANS

Nancy Millers Frage nach den Inszenierungen des historischen, politischen und figurativen Körpers der Autorin verbindet sich im Fall einer »gewissen Frau von Wallenrodt«, die mit ihren Romanen und Gedichten von der Literaturkritik umstandslos als weiblicher Prototyp einer illegitimen und ästhetisch minderwertigen Berufsschriftstellerei denunziert wurde,6 mit der Dichotomisierung des literarischen Feldes um 1800. So unterscheidet Christoph Martin Wieland, der es durch seinen professionellen Umgang mit dem literarischen Markt zu Spitzenhonoraren brachte, schon 1756 und also noch ganz am Anfang seiner literarischen Karriere, genau, wer moralisch überhaupt zur Literatur berechtigt ist, und wer nicht: »Ja die meisten treibt der Hunger, oder eine schändliche Gewinnsucht; und weil sie nichts nützliches gelernt haben, so sind sie Schriftsteller. So weit wird der Mißbrauch, und die unbefügte Anmassung des Rechts zu schreiben getrieben; welches ein Vorrecht derjenigen

5

Nancy K. Miller, »Wechseln wir das Thema/Subjekt. Die Autorschaft, das Schreiben und der Leser« [1988], in: Fotis Jannidis et al. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 251-274, hier S. 272.

6

Nachdem 1793 Wallenrodts erster Gedichtband in der Reihe von Beckers Taschenbuch zum geselligen Vergnügen erschienen ist, publizierte sie in rascher Folge die Romane Wie sich das fügt, 1793, Geschichte Theophrastus Gradmanns, 1794, sowie Heinrich Robers Begebenheiten, ebenfalls 1794. In den nächsten Jahren wechseln sich in schneller Folge Geistergeschichten, Verbrecher- und Ritterromane ab.

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seyn sollte, welche die Natur dazu ausgerüstet hat, die moralische Welt zu erleuchten, und die Orakel der Wahrheit zu seyn!«7

Die Distinktion hat dabei eine soziale und eine moralische Komponente: Die großen Geister sind von der Natur zur Wahrheit und damit zur literarischen Autorschaft geboren, während alle anderen sich davon fernhalten sollten. Diese Gedankenfigur proliferiert im literarischen Diskurs der zweiten Jahrhunderthälfte und kulminiert in der Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, die ein Zentrum der Institution Literatur um 1800 bildet.8 Diesem Paradigma folgend wurden deshalb mit dem Beginn der modernen Literaturgeschichtsschreibung Anfang des 19. Jahrhunderts alle diejenigen, denen ein solcher ›Missbrauch‹ vorgeworfen wurde, aus der Literaturgeschichtsschreibung getilgt. Während sich die spärlichen Hinweise auf Wallenrodt in den Lexika und Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts auf biobibliographische Einträge beschränken, wird sie durch das Verdikt amoralischer Trivialität, das Christine Touaillon in ihrer wirkmächtigen Studie über den deutschen Frauenroman des 18. Jahrhunderts festschrieb, zur persona non grata der Literaturgeschichte. Der Vorwurf einer Anpassung an niederste Leserinstinkte wie Voyeurismus und Sensationslust, eines mangelnden ästhetischen Ehrgeizes sowie der ökonomischen Spekulation tilgt sie selbst aus der Nische ›Empfindsamkeit‹, die für Autorinnen des 18. Jahrhunderts reserviert ist. Denn ihre Texte zeigten »den Widerschein ihres unsteten Lebens und nähern sich immer mehr dem Verbrecherroman […].«9 Diese Konstruktion einer Verworfenen und zu Verwerfenden, die das Vergessen dieser Autorin besiegelte, schloss auch Das Leben der Frau von Wallenrodt in Briefen an einen Freund aus dem Jahr 1797 mit ein,10 das in der Allgemeinen Deutschen Biographie als »unendlich breit ausgesponnene [...], aber rücksichtslos offenherzige […] Lebensbeschreibung« denunziert wird, die durch »öde

7

Christoph Martin Wieland, Sammlung prosaischer Schriften, erster Theil, Karlsruhe: Schmieder 1788, S. 78.

8

Vgl. Christa Bürger/Peter Bürger/Jochen Schulte-Sasse (Hg.), Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982.

9

Vgl. Christine Touaillon, Der Deutsche Frauenroman des 18. Jahrhunderts, Wien/ Leipzig: Braumüller 1919, S. 317.

10 Johanna Isabella Eleonora von Wallenrodt, Das Leben der Frau von Wallenrodt in Briefen an einen Freund. Ein Beitrag zur Seelenkunde und Welterkenntniß, 2. Bde., hg. von Anita Runge, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1992 (im folgenden Text zitiert mit Bandzahl und Seitenzahl).

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Langweiligkeit einerseits, widerliche Ausmalung raffinirter Sinnlichkeit andrerseits« charakterisiert sei.11 In der Tat schildert Wallenrodt in ihrem zweibändigen Leben der Frau von Wallenrodt ihren eigenen Werdegang in digressiven Episoden von Intrigen und Betrügereien, Reise- und Kriegsgefahren, Verführungen und Duellen, Wochenbetten und gesellschaftlichen Lustbarkeiten, Krankheiten und Todesarten. Dies alles präsentiert sie in Gestalt eines Unterhaltungsromans, in dem verschiedene Register der (populären) zeitgenössischen Genres gezogen werden – Elemente des Prüfungs- wie auch des Schelmenromans wechseln sich mit komödiantischen und tragikomischen Szenen ab. Darin eingelassen sind detaillierte Schilderungen der Pflichten als Ehefrau eines Offiziers »auf den Fuß der Soldatenweiber« (I, 323), als Hausfrau ohne haushälterische Erziehung, als Wöchnerin so vieler Kinder, dass nur die überlebenden gezählt werden,12 schließlich als Witwe, die den Unterhalt für die Familie verdienen muss. Probleme mit Dienstboten, die Organisation von Mahlzeiten und Kleidung, die Ausstattung von Wohnungen sowie vor allem die Kosten für dieses Leben werden im Text immer wieder verzweifelt vorgerechnet, wobei den LeserInnen keine Peinlichkeit erspart bleibt: »Unsere Kinder vermehrten sich, und bei jedem derselben gab es doch neue Kosten, viele davon starben wieder, aber ich hatte so lange ich verheirathet war, doch immer kleine Kinder, welche Wartung brauchten […].« (I, 375) Der Titel situiert den Text in der Tradition der Prüfungsromane Gellerts und La Roches.13 Auch das fiktive Herausgebervorwort sowie die Brieffiktion lassen

11 Allgemeine Deutsche Biographie; zur neueren Forschung vgl. Ortrun Niethammer, Autobiographien von Frauen im 18. Jahrhundert, Tübingen/Basel: Francke 2000, bes. S. 222-234; Elke Ramm, »Schreiben aus ›Brodnoth‹. Johanna Isabella Eleonore von Wallenrodt (1740-1819)«, in: Karin Tebben (Hg.), Beruf Schriftstellerin. Schreibende Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998, S. 87102; Anita Runge, Literarische Praxis von Frauen um 1800. Briefroman, Autobiographie, Märchen, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1997, S. 118-147. 12 Trotz der ausführlichen Autobiographie ist die Zahl der Geburten Wallenrodts daraus nicht zu ermitteln. 13 Das Leben der Schwedischen Gräfin von G. erschien ebenfalls in zwei Teilen 1747/48, La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim wurde 1771 vom oben zitierten Wieland herausgegeben, wobei er in seinem berüchtigten Vorwort die weibliche Autorschaft insofern entschuldigt, als er die alleinige Verantwortung für die Veröffentlichung übernimmt und den Text als reines Naturprodukt preist, das keinerlei Kunstanspruch erhebt. Vgl. Sophie von La Roche, Geschichte der Fräulein von

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eine solche Herkunft vermuten. Doch Prüfung heißt für Wallenrodt offenbar nicht Anfechtung ihrer Tugend, sondern Bewältigung des weiblichen Alltags. Damit kommt der voyeuristische Blick, der die Rezeption des empfindsamen Briefromans steuert, hier gerade nicht auf seine Kosten, denn die ›Unschuld‹ ist schon zu Beginn der Erzählung ›gefallen‹, von ihr ist nur ökonomische Naivität übrig. Der fiktive Brieffreund dient ausschließlich der Kapiteleinteilung und wird im zweiten Band nach und nach ganz vergessen, das kommunikative Potential des Briefes nutzt Wallenrodt nicht wie zur dialogischen Entfaltung von Innerlichkeit, die auf die empfindsame Subjektform ›Autorin‹ zurückstrahlt, vielmehr wird die Behauptung des fiktiven Herausgebers von einer ursprünglich intimen Adressierung durch die Verfasserin der Briefe schon mit dem ersten Satz konterkariert: »Sobald es beschlossen war, daß diese an Sie, theuerster Freund, gerichteten Briefe in die Hände des Publicums kommen sollten, mußte ich weitläufiger sein, als ich den ersten Zweck nach wollte. Vieles, was ich also erzählte, wird Sie wenig interessiret haben, wird Ihnen überflüßig oder gar langweilig vorgekommen sein.« (I, 3)

Dem fiktionalen Briefroman steht die unzweifelhafte Identität von schreibendem und beschriebenem Ich gegenüber, die in Verbindung mit dem Porträt und den Siglen ein autobiographisches Projekt insinuieren. Diese Ambivalenz, die man auch als spezifische Modernität dieses Textes begreifen könnte, wurde in der Rezeption als mangelnde formale Stringenz wahrgenommen. Tatsächlich jedoch erscheint sie als überaus passendes Narrativ für die weibliche Lebensgeschichte, die nur erzählt werden kann, wenn sie unterhält und die wiederum in eine Apologie des Schreibens von Unterhaltungsromanen mündet. Der erste und der zweite Band sind durch den Tod des Ehemannes im Jahr 1772 von einander getrennt: Der erste Teil schildert Kindheit und Jugend der aus altem sächsischem Adel stammenden Johanna von Koppy. Trotz des frühen Todes des Vaters, der eine 32-jährige Witwe und 9 unmündige Kinder mit einem geringen Erbe hinterlässt, wird diese Zeit als glückliche beschrieben, die von Bildungserlebnissen ebenso geprägt ist wie vom Bewusstsein des eigenen Standes und der Teilhabe an gesellschaftlichen Vergnügungen. 1762 heiratet sie gegen den Willen der Mutter den preußischen Rittmeister Georg Ernst von Wallenrodt: »Der Uebergang von einem doch ziemlich geräuschvollen Leben und einer geräumigen schönen Wohnung […] in das unförmige und eingeschränkte«

Sternheim, hg. von C.M. Wieland, erster Theil, Karlsruhe: Schmieder 1783, S. VXVI.

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der Garnison (I, 208) verbindet sich mit der demütigenden Unterordnung unter die weiblichen Pflichten und einen polternden, wenig fürsorglichen Ehemann, dessen charakterliche Schwächen aber stets beim Namen genannt werden. Der zweite Teil erzählt das Leben der Witwe, die, ohne nennenswerte Geldmittel in die Wirtschafts- und Finanzautonomie entlassen, nur den Mangel verwalten kann. Das Glück und die vollkommene Zufriedenheit angesichts der neu gewonnenen Freiheit durch den Tod des Mannes (vgl. I, 599) währen deshalb nicht lange. Da alle Versuche einer materiellen Absicherung – von der Versorgungsehe bis zur Gründung einer Manufaktur – scheitern, gestaltet sich das weitere Leben als sozialer Abstieg, der im vollständigen Ruin des guten Rufes kulminiert. Die Verschuldung erscheint als endloser Progress: »Es ging immer weiter, kein Mensch, als der, so es erfahren hat, begreift, was ein auf nichts gegründetes Creditwesen kostspielig ist; man lebt schlecht und elend, und setzt zu, als ob man die splendidesten Ausgaben machte.« (II, 56f.) Am Ende bleibt nur die Schriftstellerei, von der sie sich nach eigener Aussage im Vorwort »nothdürftig« (I, 14) ernähren kann, ohne doch an eine Ordnung ihrer zerrütteten Finanzen denken zu dürfen.

III. W ALLENRODTS L EBENSGESCHICHTE IM AUTOBIOGRAPHISCHEN D ISKURS UM 1800 Während das Gattungszitat des Prüfungsromans sich sehr schnell als Parodie entlarvt, betreibt Wallenrodt die Integration in die Tradition der säkularisierten Lebensbeschreibung, in der literarische mit psychologischen und anthropologischen Absichten verbunden werden, mit deutlich mehr Ernsthaftigkeit, verspricht sie doch mit diesem Lebensroman einen eigenständigen »Beitrag zur Seelenkunde und Weltkenntniß« zu leisten, und situiert ihren Text damit ganz offensiv innerhalb der Sphäre autobiographischer Subjektbildung um 1800. So heißt es in der Vorrede des fiktiven Herausgebers: »Wenn Personen von mehr als gewöhnlicher Bildung des Geistes und Herzens, deren Leben ein steter Wechsel angenehmer und widriger Schicksale war, die Begebenheiten ihres Lebens erzählen, und mit einer edlen Offenheit bekennen, was, und wie viel, ihr Charakter, ihr Temperament, ihre Sinnes- und Handlungsart, zu den traurigen Wendungen ihrer Schicksale beigetragen habe, und so sich selbst und andern eine praktische Rechenschaft von sich ablegen; so stiften sie dadurch ein Vermächtniß für jeden, dessen Studium das menschliche Herz ist.« (I, IIIf.)

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Gleich mehrfach wird hier auf die zeitgenössische Autobiographie angespielt: auf Moritz’ Projekt einer »Erfahrungsseelenkunde« mit der Forderung nach psychologischer Selbsterforschung; auf Herders Lob von Lebensbeschreibungen als Mittel zur Beförderung der Weltkenntnis; auf Wielands Vorstellung eines pädagogisch-erzieherischen Nutzens der Autobiographie und schließlich auf Rousseaus Versprechen einer selbstentblößenden Herzensschrift. Aber auch dieser Übercodierung als Autobiographie wird der Text auf höchst bemerkenswerte Weise nicht gerecht. Die psychologische Selbsterforschung führt nämlich in eine glückliche, unbeschwerte Kindheit und Jugend, die von Bildung ebenso wie von Schönheit geprägt ist, wie auch in eine perfekt ausgefüllte Ehefrauen- und Mutterrolle, die keinerlei Dissens mit der zeitgenössischen Geschlechterordnung erkennen lässt. Die Schwächen und Fehler, die sich offenbaren, eignen sich nicht zur Erklärung des späteren Scheiterns. Vielmehr erscheinen die psychologischen und pädagogischen Schlüsse wie eine Parodie auf humanwissenschaftliche Erklärungsmuster, so, wenn als »Weichlichkeit und Leidenschaft« bezeichnet wird, »sich immer an dem Wohlergehen anderer zu weiden, und nirgends eine traurige Miene sehen zu wollen« (I, 141), weshalb den Kindern frühzeitig Großzügigkeit und Mitleid abgewöhnt werden müssten. Dem entspricht ein ausgeprägter Mangel an Schuldbewusstsein: Die IchErzählerin nimmt die erzählten Katastrophen nicht auf ihr Gewissen, weder den Betrug am König (um Zuschüsse für eine Manufaktur zur Flachsveredelung zu erhalten, schickt Wallenrodt diesem gefälschte Seidenproben) noch den gesellschaftlichen Niedergang des Sohnes oder das uneheliche Kind der Tochter. Deshalb lassen sich aus diesen Katastrophen auch keine Lehren zur Besserung des weiblichen Subjekts ziehen, wie Sophie Sternheim alias Madame Leidens sie vorbildhaft an sich selbst exekutiert. Denn Wallenrodts ›Bekenntnisse‹ offenbaren keine charakterlichen Fehler, sondern ausschließlich solche, die sich mangelnder materieller Versorgung und/oder falscher Berechnung verdanken. Wallenrodts Autobiographie, die in der Tat die erste ist, die von einer Frau unter ihrem Namen zu ihren Lebzeiten publiziert wurde, rechtfertigt und erklärt keine Schuld, sondern Schulden. Statt innerer Konflikte schildert sie äußere Widrigkeiten bei dem Versuch, mit einer auch für damalige Verhältnisse minimalen Versorgung eine respektable Lebensführung aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus schildert sie ohne jede Sentimentalität den ›Beruf‹ der Frau: als unablässige Folge von Schwangerschaften, Wochenbetten, Kindstoden und Frauensterben, den sie persönlich mit Bravour meistert, insofern sie ihn überlebt. Es geht mithin in diesem ungewöhnlichen Textprojekt um die Selbstbestätigung des an keiner Stelle je ernsthaft infrage gestellten Selbstbildes einer »durch Geburt und Herz gleich edeln Frau« (I, IV). Eine innere Entwicklung findet nicht statt.

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Gerade in dieser ostentativen Ersetzung psychologischer, pädagogischer und anthropologischer Deutungsmuster durch ein ökonomisches, die sie in Gestalt eines unterhaltenden Romans vorträgt, besteht aber Wallenrodts eigenständiger Beitrag zur Geschichte des Genres im 18. Jahrhundert. Diese Geschichte der Autobiographie, das zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Forschung, wird geprägt von Namen wie Jung-Stilling, Bräker, Moritz oder Rousseau; sie gipfelt Anfang des 19. Jahrhunderts in Goethes Dichtung und Wahrheit als dem Paradigma für die Subjektform ›Autor‹. Obgleich es eine lange Tradition weiblicher Selbstverschriftlichung in Haushaltsbüchern, Familienchroniken und pietistischen Lebensläufen gibt, mündet diese nicht in die säkularisierte weibliche Autobiographie ein.13 Vielmehr ist auf Publikation bedachtes Schreiben um 1800 für Frauen in mehrfacher Hinsicht prekär: Mangelnde Bildung und die Beschränkung auf die Häuslichkeit14 erschweren den Zugang zu den nötigsten Mitteln ebenso wie sie die Entwicklung einer interessanten Individualität durch Erfahrung verhindern. Die gesellschaftliche Ordnung schreibt ihre juristische und ökonomische Unmündigkeit fest, alle Lebensentscheidungen über Vermögen, Kinder, Wohnort treffen Väter und Ehemänner, so dass Erfolge oder Misserfolge in der Öffentlichkeit automatisch auf die Männer zurückfallen. Deshalb wird der zur ›Natur‹ verdammte weibliche Geschlechtscharakter auf öffentliche Unsichtbarkeit verpflichtet: Eine tugendhafte Frau stellt sich nicht öffentlich aus, will sie ihrer weiblichen Natur nicht verlustig gehen. Tut sie es dennoch, so gerät sie unter den Verdacht der Prostitution, und dieses ungeschriebene Gesetz entfaltet am Ende des 18. Jahrhunderts seine Wirkung auch im Adel, der doch traditionell seine Frauen auf öffentliche Repräsentation verpflichtete. Apodiktisch formulierte den Zusammenhang Samuel Baur 1790: »Ein

13 Elke Ramm hat zwar für den Zeitraum zwischen 1750 und 1850 ein umfangreiches Konvolut weiblicher Selbstzeugnisse recherchiert, die meisten dieser Briefe und Tagebücher weisen aber nicht die festen Umrisse einer Autobiographie auf und die allerwenigsten wurden zu Lebzeiten der Verfasserin veröffentlicht. So handelt es sich beim Leben von Johanna Eleonora Petersen aus dem Jahr 1718 um ein pietistisches Bekenntnis, Friderika Baldingers Versuch über meine Verstandeserziehung wurde erst postum von Sophie La Roche veröffentlicht, und auch das Leben der A.L. Karschin aus dem Jahr 1762 wurde erst 1831 publiziert. Vgl. dazu Elke Ramm, »Warum existieren keine ›klassischen‹ Autobiographien von Frauen?«, in: Michaela Holdenried (Hg.), Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen, Berlin: Erich Schmidt 1995, S. 130-141. 14 Vgl. nur Schillers Das Lied von der Glocke wie auch seine Invektive gegen Die berühmte Frau.

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Frauenzimmer, das Bücher schreibt, legt seine Weiblichkeit ab.«15 Pseudonymes und anonymes Schreiben stellt deshalb für Autorinnen um 1800 die Regel dar – von ca. 400 selbstständigen Titeln zwischen 1771 und 1810 erschienen mehr als zwei Drittel anonym.16 Während Anonymität für die Subjektform ›Autor‹ ein Experimentierfeld darstellte, auf dem das männliche Subjekt sich erproben, mit Genres experimentieren und das Publikum prüfen konnte, bedeutete Anonymität für die Autorin schützende Hülle, deren Enthüllung ihren guten Ruf gefährdete und mit Sicherheit, das zeigt das Beispiel der 1799 anonym erschienenen Agnes von Lilien, nicht zur Ehre der Überlieferung gereichte.17 Dass die Frauenautobiographie um 1800 nicht existiert, liegt aber, so lässt sich im Anschluss an die Forschung resümieren, auch in der Struktur der modernen Autobiographie selbst begründet. Philippe Lejeune hat gezeigt, dass »das tiefe Thema der Autobiographie der Eigenname [ist].« Dieser verbürgt den autobiographischen Pakt zwischen LeserInnen und Autor. Anonymität und literarische Autobiographie schließen sich also aus, denn der »Wunsch nach Ruhm und Ewigkeit beruht vollständig auf dem zum Autorennamen gewordenen Eigennamen.«18 Die Ausnahme Wallenrodt ist in der Tat wohl nur möglich, weil sie als

15 Samuel Baur, Charakteristik der Erziehungsschriftsteller Deutschlands. Ein Handbuch für Erzieher, Leipzig: Fleischer 1790, S. XIV. 16 Vgl. die Bibliographie von Helga Gallas und Anita Runge, die für die Zeit um 1800 ca. 400 Veröffentlichungen von Romanen und Erzählungen ausweist, von denen mehr als zwei Drittel anonym, kryptonym oder pseudonym erschienen sind. Beim Rest handelt es sich oft um didaktische oder Erbauungsliteratur, in der Autorinnen als Spezialistinnen in Herzensangelegenheiten sogar gefördert wurden. Natürlich erschienen auch Texte von Autoren zunächst anonym – Gellerts Schwedische Gräfin (1747) ebenso wie Schillers Verbrecher aus Infamie (1786). Aber dieses Versteckspiel verdankte sich vor allem dem schlechten Ruf des jeweils gewählten Genres – Roman und Verbrechenserzählung –, die nachträglich erst noch mit dem eigenen guten Namen verbunden werden mussten. Vgl. Helga Gallas/Anita Runge, Romane und Erzählungen deutscher Schriftstellerinnen um 1800. Eine Bibliographie mit Standortnachweisen, Stuttgart u.a.: Metzler 1993. 17 Publikum wie Kritik waren zunächst begeistert und schrieben den Roman Goethe zu; als die Verfasserschaft Karoline von Wolzogens aufgedeckt war, traf den Roman schnell das Verdikt des weiblichen Dilettantismus; heute ist er praktisch vergessen. Vgl. dazu Christa Bürger, Leben Schreiben. Die Klassik, die Romantik und der Ort der Frauen, Stuttgart: Metzler 1990, S. 21. 18 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Horning, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 36; zur Namenlosigkeit

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adlige Witwe zumindest über den angeheirateten Namen verfügen kann und weil sie die Festlegung auf Natur bzw. Tugend verweigert. Deshalb vertraut sie erst gar nicht auf die nachhaltige Verbindung von Name und Werk, sondern nutzt den Augenblick der Veröffentlichung, um die Aufmerksamkeit auf das Skandalon ihres Lebens zu lenken: eine Insolvenz in Permanenz. Insofern soll der Text vor allem ein »Vermächtnis« sein – für alle sie umstellenden und bedrängenden Gläubiger, denen sie ihre Schulden nicht zurückzahlen wird: »Ich habe nemlich Pflichten gegen Menschen zu leisten die jeder Ehrlichdenkende so gern leistet, und sehe hierzu nur schwache Aussicht.« (I, 14) Wallenrodts Selbstporträt gilt mithin nicht der Präsentation einer interessanten Individualität, die die unabdingbare Voraussetzung für die Subjektform ›Autor‹, und auch nicht der Inszenierung einer tugendhaften und bescheidenen weiblichen ›Natur‹, die die Voraussetzung für die Subjektform ›Autorin‹ darstellt, sondern dem guten, d.h. kreditwürdigen Namen. Mit ihrem autobiographischen Projekt verletzt Wallenrodt sämtliche Regeln, denen weibliches Schreiben um 1800 unterliegt. Ihre Beteuerungen, dass sie sich erfolgreich den bürgerlichen weiblichen Tugenden – Sparsamkeit, Bescheidenheit, Fürsorglichkeit – unterworfen hat, ›kauft‹ man ihr nicht ab, gerade weil sie die Berechnung dabei mitliefert. »Ich finde selbst, daß ich hier ein beträchtliches Verzeichniß meiner Verdienste mache, doch übersehen Sie mir diese Ruhmsucht, es war meine glänzende Epoche, von der ich spreche, späterhin habe ich leider! nur zu viel Schnitzer zu gestehen.« (I, 382) Die Erzählerin kalkuliert ihre Effekte nicht nur nachträglich vor dem Publikum, sondern bereits vor dem Ehemann, der ihre demonstrative Häuslichkeit denn auch nicht mit »natürlichem Trieb« verwechselt, sondern als »Klugheit« durchschaut (I, 361). Während sie durch ihre Stilisierung als aufopferungsvolle Ehefrau und Mutter ihre Zustimmung zur Ordnung der Geschlechter zu signalisieren vermeint, stellt sie gerade dadurch deren Voraussetzung eines natürlichen weiblichen Geschlechtscharakters parodistisch in Frage, bildet doch nicht eine Herzensschrift, sondern die Semantik des Geldes den Garanten für Authentizität. »Daß man diese Briefe nicht für Roman halten wird, ist ausgemacht, denn in welchen Roman kommen wol so kleinliche Scenen vor? Die Helden und Heldinnen sind alle reich und angesehn oder werden es noch; ein Beweis, daß die Güter der Erde als nothwendig zur Achtung und zum Beifall der Menschen angesehen werden.« (II, 207)

der Autorinnen des 18. Jahrhunderts vgl. auch Barbara Hahn, Unter falschem Namen. Von der schwierigen Autorschaft der Frauen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.

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Diese argumentative Volte – die Rede vom Geld soll beweisen, dass es sich nicht um ›Roman‹, also um Fiktion handelt, zugleich beweist der Roman/die Fiktion, wie es auf der Welt wirklich zugeht – korrespondiert mit dem Paradoxon, dass die Ich-Erzählerin ihre »Seele« ausgerechnet in die Hände eines Publikums legt, das um 1800 als zerstreuungssüchtig und frivol denunziert wird. Wallenrodts schreibender Kampf um den »Beifall edler Menschen« richtet sich auf den Beifall der Mitwelt; vor allem aber richtet er sich gegen all das, »was mir angedichtet […] worden ist« (I, 5). Doch angesichts der Fülle an Übertretungen führt dieser Kampf unmöglich in einen erfolgreichen Pakt gegen die üble Nachrede, vielmehr fixiert Wallenrodt durch die schillernde Präsentation ihrer Lebensgeschichte als Unterhaltungsroman den Vorwurf moralischer Verworfenheit, verdient sie doch nicht nur schreibend ihr Geld, sondern nutzt dafür schamlos noch das eigene Scheitern wie das ihrer Familie. So potenziert die Selbstrechtfertigung nur die Diskreditierung, statt sie zu korrigieren. Besonders interessant erscheint die offensive Positionierung gegen die Empfindsamkeit: Während Kolleginnen wie Friederike Helene Unger19 oder Karoline von Wobeser durch ihre konstruktiven Beiträge zu einem ›natürlichen‹ weiblichen Geschlechtscharakter den eigenen Handlungsspielraum und die Duldung der männlichen Kollegen mit der Propaganda eines subalternen Frauenbildes erkaufen, hängt Wallenrodt an große Dichtungen »unsagbar läppische Schlüsse«20 und schreibt männliche Antibildungsromane als Kontrafakturen des weiblichen Prüfungsromans. In ihrem Spott auf das empfindsame Schreibprogramm benennt sie ihren Verbrecherroman Goldfritzel oder des Muttersöhnchens Fritz Nickel Schnitzers Leben und Thaten, der 1797 erschien, in der zweiten Auflage kurzerhand um in Fritz, oder der Mann wie er nicht seyn soll und hintertreibt

19 Vgl. Friederike Helene Unger, Julchen Grünthal (1784), 2. Bde., Nachdruck der 3. Aufl. Berlin 1798, hg. von Susanne Zantop, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1991; Unger erzielte damit nicht nur einen ungeahnten Publikumserfolg, sie erhielt auch eine Lobeshymne in den sonst der Belletristik eher abgeneigten Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen. 20 Vgl. C. Touaillon, Der Deutsche Frauenroman, S. 318. Touaillon bezieht sich dabei auf Wallenrodts 1801 erschienenen »dramatisierten Roman« mit dem Titel: Karl Moor und seine Genossen nach der Abschiedsscene beim alten Turm. Während dieser Titel eine Fortsetzung von Schillers Räubern suggeriert, stellt der Untertitel den Text als »Seitenstück zum Rinaldo Rinaldini« des Christian August Vulpius vor. Diese skandalöse Verknüpfung von Hehrem und Gemeinem ist es u.a., was Wallenrodts Texte auch unter kulturwissenschaftlichem Aspekt so interessant macht.

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ganz offen Wobesers weibliches Tugendprogramm.21 So bleibt am Ende nur eine negative Bilanz: Das Leben der Frau von Wallenrodt ist weder ein Prüfungsroman noch eine Autobiographie. Seine Faktur durchkreuzt die geschlechterdifferenten bürgerlichen Subjektformen – Wallenrodt beabsichtigt mit ihrem Lebensroman zur ›öffentlichen‹ Frau zu werden, um damit ihrer ›privaten‹ Katastrophe zu entgehen, während Tugend nur einen »Wink für Unbegüterte« (II, 14) darstellt. Wie Glückl von Hamelns 100 Jahre zuvor verfasste Memoiren 22 schreibt sich auch Wallenrodts autobiographischer Roman vom Tod der Männer her: vom Tod des Vaters, dessen »Liebe zu gesellschaftlichen Freuden und eine allzu große Freizügigkeit« (I, 18) die Familie nur notdürftig versorgt; von dem des Ehemannes, der weit über seine Verhältnisse lebt (vgl. I, 359ff.) und seine Frau mit fünf unmündigen Kindern fast mittellos zurücklässt. Dieses männliche Versagen geht allen Verfehlungen dieser »von Geburt und Herz gleich edeln Frau« voraus, es mündet in Wallenrodts literarischer Entfaltung eines ökonomischen Projekts, das sein Irritationspotential aus der ungehörigen und anrüchigen Thematisierung des Geldes bezieht. Die Provokation ihres Textes besteht nicht darin, das Geld von der Position der Dichtung aus zu beobachten, sondern die Dichtung vom Standpunkt des Geldes: »Wielands, Göthens und andrer großen Männer Werke sind eben auch nicht eines jeden Waare […]. Wenn es also auf mich ankäme, so hätten die Subalternen unter den Schriftstellern volle Erlaubniß, in ihren Arbeiten fortzufahren, wie sehr auch die hohen Chefs darüber spötteln mögen. Nicht selten avancirt auch einer von diesen Mindern und schwingt sich in den ersten Rang. Gelingt es ihm dann nur bei einigen Werken, dann hat er das Vorurtheil auf seiner Seite; nun […] kann [er] mit Bequemlichkeit so manches schreiben, welches recht untersucht das Aufsehen nicht verdient, das es dennoch macht. Er

21 Wilhelmine Karoline von Wobeser, Elisa oder das Weib wie es sein sollte, Nachdruck der 4. verb. Auflage, Leipzig 1799; Christian August Fischer, Über den Umgang der Weiber mit Männern. Ein nothwendiger Anhang zu der bekannten Schrift: Elisa oder das Weib wie es sein sollte, Nachdruck der Ausg. Leipzig 1800, hg. von Lydia Schieth, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1990. – Wallenrodts Protagonist ist das unglückliche Produkt übertriebener Mutterliebe und eine wahre Schande für sein Geschlecht, weil er Frauen stets nur als Mittel zum Zweck der Lust betrachtet. Am Ende gerät er aber an die Falsche, deren Überlegenheit er anerkennen muss und deren Launen und Exzessen er sich deshalb uneingeschränkt unterwirft. So schließt der Roman mit dem Triumph weiblicher Untugend. 22 Vgl. Die Memoiren der Glückel von Hameln, Weinheim: Beltz, Athenäum 1994.

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kann Kinderpossen, Erzählungen, die gar nicht zur Sache gehören, mit einstreuen; der Verleger bezahlt es dennoch sehr hoch; die Rezensenten haben [...] Respect dafür und das große gebildete Publikum fragt mit Ungeduld nach dem zweiten, dritten, vierten Theil. (II, 607-609)

Tabulos stellt Wallenrodt die ökonomischen Mechanismen der Subjektform ›Autor‹ aus: Wenn ein Name zum Autornamen wird, dann kann er sich buchstäblich vieles leisten. Ein guter Name bedeutet Geltung, die in Geld verwandelt werden kann, gleichgültig, was er signiert. Programmatisch setzt sie deshalb am Ende ihres autobiographischen Romans dem anerkannten Schreiben für Ruhm eine Apologie des diskriminierten Schreibens für ›Brod‹ entgegen und verteidigt dies (nicht ohne Schadenfreude) gegen die »Herren Rezensenten«, die mit ihren »Scribeleien« dagegen »alle Hände voll zu thun haben, und sie so wenig vertilgen können wie die Heuschrecken«, denn ehe ein solches Buch vor deren »Richterstuhl« komme, »ist’s in hundert Händen; indessen ein Werk vom größten Werth kaum Käufer hat.« (II, 607) Der Schriftstellerberuf bedeutet für Wallenrodt, im Unterschied zu den meisten ihrer schreibenden Kolleginnen, nichts, auf das man sich etwas einbilden oder in dem man sich gar selbst ›verwirklichen‹ könnte. »Beneidung« findet deshalb bei Wallenrodt auch gegen die großen Männer nicht statt, »weil ich das, was sie sind, nicht sein kann.« (II, 609) Ganz offensichtlich bleibt für die Subjektform ›Autorin‹ um 1800 nur eine höchst prekäre Gratwanderung zwischen Unsichtbarkeit und Exhibitionismus, zwischen Tugendhaftigkeit und Prostitution sowie zwischen Dilettantismus und Trivialität, 23 so dass eine Modellierung weiblicher Autorschaft eigentlich nur in zwei Richtungen erfolgen kann: in Richtung einer Wiederholung der Unterwerfung oder aber in der parodistischen Durchquerung dieser Unterwerfung und der provokativen Legitimierung eines alternativen Schreibprogramms, in dem die Autorin selbst aber nur als parodistisches Double erscheint. Das Skandalon von Wallenrodts ›Lebensroman‹ besteht, so lässt sich resümieren, in der eigenmächtigen Rekonstruktion des literarischen Diskurses als Geschlechterverhältnis, wobei deutlich wird, dass die bürgerliche ›Subjektfriktion‹ zwischen Ökonomie und Moral, Rationalität und Emotionalität, Öffentlichkeit und Privatheit zutiefst hierarchisch organisiert ist. Es gibt in der Tat

23 Zu diesen Klippen vgl. u.a. Albrecht Koschorke, »Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie. Zur Geschichte der deutschen Klassik vor ihrer Entstehung«, in: Renate von Heydebrand (Hg.), Kanon – Macht – Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart/Weimar: Metzler: 1998, S. 581-599, hier S. 587.

DIVERSES ZUR S UBJEKTFORM ›A UTORIN ‹

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keinen Weg von der ›weiblichen‹ Seite auf die ›männliche‹ – dagegen universalisiert sich die Subjektform ›Autor‹ spätestens in der Romantik, indem sie ihre defizitäre Identität durch die Inkorporation des weiblichen ›Supplements‹ korrigiert.

Schreiben als Strategie des ›Obenbleibens‹ Pücklers Inszenierung als Adliger und Künstler in den Briefen eines Verstorbenen U RTE S TOBBE »Jeder Autor, und sey er noch so groß, wünscht, daß sein Werk gelobt werde. Und in der Bibel, den Memoiren Gottes, steht ausdrücklich: daß er die Menschen erschaffen zu seinem Ruhm und Preis.«1 HEINRICH HEINE / HARZREISE

Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871) darf als einer der schillerndsten und zugleich umstrittensten Literaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelten. Er debütiert 1830/31 mit dem zweibändigen Werk Briefe eines Verstorbenen, das ihn mit einem Schlag berühmt und zugleich zur Zielscheibe beißender Kritik ob seiner adligen Herkunft macht.2 In kurzer zeitlicher Folge erscheinen danach Tutti Frutti und die Andeutungen über Landschaftsgärtnerei (beide 1834), mehrbändige Reiseberichte über seine Reisen bis nach Afrika und in den Orient sowie posthum umfangreiche Briefkorrespondenzen.3 Pückler ist

1

Heinrich Heine, Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise (1824), in: ders., Sämtliche Werke, Historisch-kritische Ausgabe der Werke [Düsseldorfer Ausgabe], Bd. 6, bearb. v. Jost Hermand, Hamburg: Hoffmann & Campe 1973, S. 81-138, hier S. 106.

2

Zur zeitgenössischen Debatte hinsichtlich Pücklers Werk vgl. Tilman Fischer, »Literatur und Aristokratie. Zur Debatte um Fürst Hermann von Pückler-Muskau«, in: Jahrbuch der Charles-Sealsfield-Gesellschaft 14 (2002), S. 181-224.

3

Zu nennen sind: Jugendwanderungen (1835), Vorletzter Weltgang von Semilasso (1835), Semilasso in Afrika (1836), Der Vorläufer (1838), Südöstlicher Bildersaal

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dabei nicht nur Vielschreiber, sondern auch Gartengestalter, Salonlöwe, Dandy, Abenteurer und vor allem: Charmeur und Frauenheld. 4 Legendär ist sein Auftritt in Berlin in einer von vier Hirschen gezogenen Kutsche; exotisch ist sein Kleidungsstil sowie die Tatsache, dass er aus dem heutigen Äthiopien eine freigekaufte Sklavin und Fürstentochter namens Machbuba mit auf sein Anwesen bringt.5 Kurz: Wenn es jemand versteht, Aufmerksamkeit in der damaligen Öffentlichkeit zu erregen, dann ist es Pückler. Diese teils schriftlich überlieferten, teils bildlich festgehaltenen Anekdoten und Verhaltensweisen eines exzentrischen Adligen prägen bis heute das Pücklerbild. Sie sind prädestiniert dazu, den Erfolg von Pücklers Werken zu ver-

(1840/41), Aus Mehemed Ali’s Reich (1844) und Die Rückkehr (1846-48). Ein Teil der Briefe wurde von Ludmilla Assing-Grimelli ediert: Hermann Fürst von PücklerMuskau, Briefwechsel und Tagebücher, hg. von Ludmilla Assing-Grimelli, 9 Bde., Hamburg: Hoffmann & Campe/Berlin: Wedekind & Schwieger 1873-1876. 4

Die wohl bekannteste Anekdote bezieht sich auf das Motiv seiner Englandreise: Um den Weiterbau seines Parks in Muskau finanzieren zu können, hat Pückler mit seiner Frau vereinbart, dass sie sich zuvor pro forma scheiden lassen, damit er sich eine reiche Witwe in England suchen kann. Das Projekt scheitert – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich die Kunde, dass ein verarmter Graf auf Mitgiftsuche sei, vor seiner Ankunft wie ein Lauffeuer in den entsprechenden Kreisen verbreitet hat. Vgl. dazu z.B. Heinz Ohff, Der grüne Fürst. Das abenteuerliche Leben des Hermann Pückler-Muskau, 10. Aufl., München: Piper 2009 sowie Peter James Bowman, The Fortune Hunter. German Prince in Regency England, Oxford: Signal Books 2010. Dieses Bild von Pückler als Frauenheld wird zunehmend angezweifelt: So scheint es Pückler auf der Englandreise eher zu meiden, eine Braut in England zu finden; vgl. Stefan Neuhaus, »Das fehlerhafte Vorbild. Zur Darstellung Großbritanniens in Hermann Fürst von PücklerMuskaus Bestseller ›Briefe eines Verstorbenen‹«, in: Neophilologus 83.1 (1999), S. 267-281. Auch habe sich Pückler zeit seines Lebens eher mit Briefkorrespondenzen statt direktem Kontakt begnügt; vgl. Andrea Klein, »Jede Kommunikation ist wie Kunst«. Die Sprache des Gartens, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 125-167. Insgesamt sei das Bild von Pückler als Frauenheld ein Mythos, der von Ludmilla Assing in ihrer Pückler-Biographie im Jahr 1873 begründet und in allen folgenden biographischen Studien fortgeschrieben wurde; vgl. Nicole Brey/Michael Brey, »Ein desperates Mittel – die englische Brautschau«, in: Englandsouvenirs. Fürst Pücklers Reise 1826-1829, hg. von der Stiftung »Fürst-Pückler-Park Bad Muskau«, Zittau: Graphische Werkstätten 2005, S. 7-16, hier S. 11.

5

Diese Anekdoten finden sich in allen biographischen Studien zu Pückler. Eine Aufstellung der Biographien siehe T. Fischer, Literatur und Aristokratie, S. 188, Anm. 27.

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stärken und können als außertextuelle Strategien gewertet werden, mit denen sich Pückler gegenüber konkurrierenden Schriftstellern zu positionieren und die einmal eingenommene Position zu wahren versteht.6 Und doch sind sie es auch, die den Blick auf die ästhetischen Verfahren seines Oeuvres verstellen bzw. lange Zeit nicht in den Fokus gelangen ließen.7 Dementsprechend soll dieses spätere Pücklerbild beiseitegelassen und bei der Frage angesetzt werden, wie ein Standesherr überhaupt erstmals öffentlich als Schriftsteller in Erscheinung tritt. Zwar werden die Briefe eines Verstorbenen anonym veröffentlicht, doch stellt sich die Frage, ob und inwiefern sich Pückler darin nicht dennoch gezielt als Adliger zu erkennen gibt und welches Bild er von sich selbst als Schriftsteller bzw. Künstler zeichnet. 8 Relevant ist diese Frage deshalb, weil nach Andreas Reckwitz spätestens seit dem 18. Jahrhundert das (bürgerliche) Subjekt durch eine Gemengelage von Codes unterschiedlicher Herkunft als hybrides zu denken ist. Ein »Palimpsest von kulturellen Versatzstücken der Subjektivität«9 müsste sich analog dazu, so die Hypothese, auch bei schreibenden Adligen ausmachen lassen. Subjektsoziologisch gewendet interessiert also die Frage nach den spezifischen Amalgamierungsprozessen adliger und künstlerischer Habitusformen bzw. den Praktiken der Selbstbildung als schreibender Adliger – gerade in dem Werk, mit dem Pückler, metaphorisch gesprochen, erstmals das literarische Feld betritt.

6

Vgl. Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999. Welchen hohen Stellenwert das Ringen um Aufmerksamkeit für die Autoren hatte, zeigen auch Germaine Goetzinger, »Die Situation der Autorinnen und Autoren«, in: Gerd Sautermeister/Ulrich Schmid (Hg.), Zwischen Revolution und Restauration 1815-1848, München/Wien: Hanser 1998, S. 3859; Ulrich Schmid, »Buchmarkt und Literaturvermittlung«, in: Gerd Sautermeister/Ulrich Schmid (Hg.), Zwischen Revolution und Restauration 1815-1848, München/Wien: Hanser 1998, S. 60-93.

7

Vgl. Sebastian Böhmer, Fingierte Authentizität. Literarische Welt- und Selbstdarstellung im Werk des Fürsten Pückler-Muskau am Beispiel seines »Südöstlichen Bildersaals«, Hildesheim u.a.: Olms 2007, S. 12, S. 22 u. S. 279.

8

Vgl. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – heuristische Typologie und Genese«, in: dies. (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011, S. 9-30.

9

Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2010, S. 15.

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I. S CHREIBEN

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S TRATEGIE

DES

›O BENBLEIBENS ‹

Innerhalb der Adelsforschung hat sich mittlerweile die Annahme durchgesetzt, nicht mehr von einem Niedergang des Adels im 19. Jahrhundert zu sprechen, sondern die Resilienzfähigkeit des Adels zu betonen, da es ihm gelungen ist, seinen Führungsanspruch jahrhundertelang immer wieder neu unter Beweis zu stellen bzw. für sich zu fordern.10 Gerade Adlige seien sehr erfolgreich darin, Offensiv- und Defensivstrategien zu entwickeln, um auf drohende oder stattgefundene politische Statusverluste gezielt zu reagieren und diese gegebenenfalls auf anderen Feldern erfolgreich zu kompensieren.11 Eine gerade für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts relativ häufig zu beobachtende Form der Statusverlustkompensation stellt das Verfassen und Publizieren literarischer Texte dar. Die Frage ist, ob sich ein adliger Verfasser dabei vornehmlich nicht-adlig konnotierter Codes bedient oder ob er gerade umgekehrt die eigene herausgehobene soziale Stellung in Anschlag bringt, um sich günstig auf dem Feld zu positionieren. Doch zunächst ist die Frage zu klären, wieso Pücklers Betreten des literarischen Felds überhaupt als Strategie des ›Obenbleibens‹ gedeutet werden kann. Als der 25-jährige Pückler im Januar 1811 die Standesherrschaft in Muskau erbt, dauert es nicht lange, bis im Zuge des Wiener Kongresses die Landkarte Europas neu geordnet wird. Das Ergebnis der Verhandlungen hat weitreichende Folgen: Seine Standesherrschaft gehört zu den 1815 vom Königreich Sachsen an Preußen zwangsweise abgetretenen Gebieten. Damit wird seine bisherige Sonderstellung in den folgenden Jahren bis 1821 weitgehend annulliert. Zwar bleibt ihm ein beachtlicher Privatbesitz, doch werden große Teile der angrenzenden, bisher unter seinem Einfluss stehenden Gebiete neu vermessen und als Eigentum

10 Vgl. Rudolf Braun, »Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert«, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 1990, S. 87-95; Eckart Conze, »Der Adel ist tot – es lebe der Adel! Adelsgeschichte in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Entwicklungen und Perspektiven«, in: Manfred Rasch (Hg.), Adel als Unternehmer im bürgerlichen Zeitalter, Münster: Selbstverlag der Vereinigten Westfälischen Adelsarchive e.V. 2006, S. 49-63. 11 Typisch war, eine Offiziers- oder eine obere Verwaltungsbeamtenlaufbahn zum Beispiel im Bereich der Diplomatie einzuschlagen oder sich auf das Feld der Ökonomie zu verlagern und Wirtschaftsunternehmer zu werden. Für weibliche Adlige sah das Spektrum noch einmal anders aus. Vgl. R. Braun, Konzeptionelle Bemerkungen; Monika Wienfort, Der Adel in der Moderne, Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht 2006.

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vergeben.12 Die Erbuntertänigkeit und der Gesindedienstzwang, bisherige Grundlage des wirtschaftlichen Funktionierens der Standesherrschaft, entfallen ohne adäquaten Ersatz. Fortan ist die Bevölkerung der preußischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit unterstellt und das Gebiet als Teil der schlesischen Provinz ins Preußische Reich eingegliedert. Am härtesten dürfte Pückler dabei getroffen haben, dass er nun einen Herrn über sich zu dulden hat: den preußischen König. Pückler kommentiert diese Veränderungen rückblickend: »Als der Liebe Gott mich preußisch werden ließ, wandte er sein Antlitz von mir.«13 Vor diesem Hintergrund erhellt sich, warum Pückler im Titel seines Erstlingswerkes die enigmatische Bezeichnung ›Verstorbener‹ wählt: Er spielt damit auf die politische Situation an, in der er sich befindet. Politisch ist er machtlos geworden, tot im übertragenen Sinn.14 Pückler verlagert den Schwerpunkt seines Wirkens nicht ohne Grund unmittelbar nach dem Wiener Kongress auf die Bauund Gartenkunst und damit auf ein für den Adel ganz typisches Feld der Politik mit anderen Mitteln.15 Der Ankauf von Ländereien und die umfangreichen Umgestaltungsmaßnahmen in Muskau sorgen dafür, dass die beträchtliche Mitgift seiner Gemahlin Lucie geb. von Hardenberg schon bald verbraucht ist. Die von seinem Großvater und Vater ererbte Schuldenlast wird immer drückender. In dieser Situation begibt sich Pückler vom 12. Juli 1826 bis zum 16. März 1829 auf Reisen nach Holland, England, Wales, Irland und Frankreich, von denen die Briefe eines Verstorbenen in Form eines fragmentarische[n] Tagebuch[s] – so der Untertitel – zeugen. Dass die Briefe schon bald nach seiner Rückkehr veröffentlicht werden, geht auf das Wirken Lucie von Hardenbergs und des Ehepaars Rahel und Karl August Varnhagen von Enses zurück.16 Bei einem Besuch der Varnhagens soll Lucie ihnen, wie es zu der Zeit gängige

12 Vgl. Graf Hermann von Arnim/Willi A. Boelcke, Muskau. Standesherrschaft zwischen Spree und Neiße, Berlin u.a.: Ullstein 1978, S. 155. 13 Zitiert nach ebd. 14 Ohff sieht indes einen Zusammenhang zwischen dem Titel und der nicht erfolgten Ernennung zum Gesandten bzw. Botschafter des preußischen Staats. Vgl. Heinz Ohff, Vorwort des Herausgebers, in: Hermann Fürst von Pückler-Muskau. Briefe eines Verstorbenen, hg. von Heinz Ohff, Berlin: Propyläen 2006, S. XIIIf. 15 Die Rede von einer ›Politik mit anderen Mitteln‹ ist angelehnt an Johannes Süßmann, »Was ist und wozu benötigen Adlige ästhetische Kompetenz? Versuch über die Architekturveduten Salomon Kleiners zu Schloss Pommersfelden«, in: Germanischromanische Monatsschrift 52/1 (2002), S. 49-68. 16 Vgl. H. Ohff, Vorwort des Herausgebers, S. XIII. Beteiligt war an der redaktionellen Überarbeitung auch Leopold Schefer. Vgl. H. Ohff, Der grüne Fürst, S. 167.

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Praxis ist, aus Pücklers Briefen vorgelesen haben, woraufhin die Idee entstanden sei, die Briefe zu veröffentlichen. Die Varnhagens sind einflussreiche Kenner des literarischen Feldes, stehen sie doch in Berlin nicht zuletzt auch über Rahels Salon mit zahlreichen Autoren und einflussreichen Persönlichkeiten in Kontakt. Es muss ihnen als ein erfolgversprechendes Projekt erschienen sein, der lesenden Öffentlichkeit die Briefe eines Verstorbenen zu präsentieren. Neben diesem sozialen Kapital in Form von Kontakten zu einflussreichen Kennern der Literaturszene verfügt Pückler als gebürtiger Standesherr, Graf und seit 1822 Fürst zudem über besondere Startvorteile bzw. Prädispositionen, mittels derer er sich per se von seinen nicht-adligen Konkurrenten unterscheidet. Er mag zwar politisch entmachtet worden sein, aber nach wie vor besitzt er Fähigkeiten und im Rahmen seiner adligen Sozialisation erworbene Eigenschaften, die ihn – zumindest potenziell – ganz selbstverständlich davon ausgehen lassen, analog zu seiner herausgehobenen Stellung als Adliger auch auf anderen Feldern Avantgardepositionen einzunehmen. Zu diesen besonderen Prädispositionen zählt, dass er sich trotz hoher Schuldenlast gemäß der Tradition der adligen Grand Tour knapp drei Jahre lang auf Reisen begibt, wohingegen sich die Reisen nicht-adliger Zeitgenossen vergleichsweise kurz ausnehmen. In dem, was er während der Reise unternimmt und wie er es beschreibt, nimmt er zudem die größtmögliche Freiheit für sich in Anspruch. Gerade diese »in jeder Hinsicht unabhängige Haltung bzw. ein selbstbewusstes, freies Auftreten«,17 wie es seit Jahrhunderten neben anderen Insignien als ganz typische Anzeichen von Adligkeit gelten kann, zeigt sich in Pücklers Werk mustergültig. Er signalisiert damit der gesamten lesenden Öffentlichkeit gegenüber, dass er nach wie vor ein ›Großer‹ ist. In diesem Sinn lässt sich seine Entscheidung, das Werk zu veröffentlichen, als eine Strategie des ›Obenbleibens‹ deuten. Worin zeigt sich das nun im Einzelnen?

II. S ICH ALS ADLIGER ZU ERKENNEN GEBEN : LÄSSIGE K ENNERSCHAFT EINES GALANTEN U NTERHALTERS Auch wenn zu konstatieren ist, dass Pückler das Spiel mit Erzählerfiguren und Identitäten in seinen späteren Werken verstärkt, 18 zeigt sich dieser Zug ins Selbstinszenatorische auch schon in seinem Erstlingswerk. Pückler hat das litera-

17 Peter Scholz/Johannes Süßmann, »Einführung«, in: dies. (Hg.), Adelsbilder von der Antike bis zur Gegenwart, München: Oldenbourg 2013, S. 7-28, hier S. 14. 18 Vgl. S. Böhmer, Fingierte Authentizität, S. 95.

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rische Feld nicht unter seinem Klarnamen betreten und daran auch bei seinen politisch motivierten Schriften wie Tutti Frutti sowie in seinem weiteren Reiseɶvre festgehalten. Dennoch vermittelt sich dem Leser von Anfang an, dass es sich in den Briefen eines Verstorbenen um einen hochgestellten Adligen handeln muss, der von seinen Reiseerlebnissen berichtet. Festmachen lässt sich das vor allem an dem, worüber er berichtet und damit einem entscheidenden Alleinstellungsmerkmal gegenüber Reiseberichten nicht-privilegierter Reisender. Denn berichtet wird von vielfältigen und häufig mehrtägigen Einladungen auf Landgüter (vgl. z.B. 244, 586),19 nicht ohne den Hinweis, dass die Briten normalerweise »ihre Gärten und Besitztümer strenger als wir unsere Wohnstuben verschließen« (26) und nicht ohne zuvor einfließen zu lassen, wie sehr doch der Adelstitel Türen öffnet (vgl. 14). Ausführlich lässt sich der Briefschreiber »Lou« über das Verhalten des englischen Adels aus sowie auch über die Tatsache, dass immer mehr reiche Bankiers in den Adelsstand gehoben werden, während der »arme alte Adel« an Bedeutung verliere (22f.). Den Tagesablauf auf dem Landgut beschreibt er über mehrere Seiten (vgl. z.B. 589-591), ebenso die Gepflogenheit der ›Upper-Classes‹, während der ›Season‹ die Nacht zum Tag zu machen und von Bällen grundsätzlich erst bei Tagesanbruch heimzukehren (vgl. 621). Der Briefschreiber lebt ansonsten in den Tag hinein – gern liest er bis zum Mittagessen im Morgenrock diverse Tageszeitungen (vgl. 497f.) und berichtet davon, dass er häufig mit großem Bahnhof empfangen wird (vgl. 243). Sein Hausstand, den er mitführt, füllt fast ein ganzes Zimmer (vgl. 411), denn auf Komfort wolle er, wenn schon auf Reisen, nicht verzichten (vgl. 682). Bei Parkbesichtigungen lässt er seine Kutsche auf der Landstraße hinter sich herfahren, um in den Genuss der Anlage als Spazierender zu gelangen (vgl. 323). Ansonsten tauft er unterwegs eine kleine irische Insel auf den Namen seiner Frau und sendet ihr im nächsten Brief ein Blatt von einem der dort wachsenden Erdbeerbäume (Arbutus) mit (vgl. 169f.). Anhand dieser nur kleinen Auswahl an Beispielen dürfte für den Leser sofort erkennbar gewesen sein, dass hier kein Bürgerlicher, sondern ein bedeutender und keinesfalls verarmter Vertreter des Adels von seinen Reiseerlebnissen berichtet. Geradezu klischeehaft bedient der Verfasser das Bild eines Adligen, der scheinbar ohne genaues Ziel und Zweck einzig seinen teils extravaganten Vergnügungen nachgeht. Das alles wirkt in der Art und Weise, wie er es schildert, ganz selbstverständlich und folgerichtig. Flankiert werden diese Anekdoten von einem offenherzigen Zweifeln an sich selbst und einem Kokettieren mit den

19 Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf die Ausgabe von 2006 (vgl. Anm. 14).

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eigenen charakterlichen Schwächen (vgl. z.B. 284). Berichtet wird auch von Stimmungsschwankungen, die ihn sprichwörtlich mal himmelhoch jauchzend im Mondschein stundenlang an der Uferlinie nach Brighton zurück reiten (vgl. 597), mal in tiefe Agonie (vgl. 514) und bei Migräne in tagelange Schreibpausen verfallen lassen. Goethe wird in seiner Rezension gerade diese Einblicke in das Gefühlsleben des Verfassers lobend hervorheben.20 Provoziert haben mag an den Briefen eines Verstorbenen besonders, dass Pückler keine Gelegenheit auslässt, seine umfassende Bildung in den Bereichen Kunst und Literatur einfließen zu lassen – und damit den Vertretern des Bildungsbürgertums ihr vermeintliches Alleinstellungsmerkmal streitig macht. 21 Eingestreut sind in den Reisebericht zahlreiche literarische Anspielungen: Beispielsweise Don Quijote (vgl. 184), Schillers Wallenstein (vgl. ebd.), Goethes Faust und Wilhelm Meister (vgl. 197), Lord Byron (vgl. 262), Feenmärchen aus Frankreich (vgl. 168), das Werk Walter Scotts (vgl. 13, 45, 108, 137 etc.) – auf all das verweist er in lässiger Kennerschaft. Diese zeigt sich auch darin, dass er freimütig bekennt, Goethes Werther noch nicht gelesen zu haben, dies aber in einer englischen Fassung auf Reisen nachzuholen, um dann zu dem Urteil zu gelangen, dass es sich durchaus nicht gelohnt habe (vgl. 196f.). Ansonsten führe er eine »portative Romanbibliothek« (45) mit sich, aus der er unterwegs bereitwillig Titel verleiht. Er erfindet sich in den Briefen als zwar etwas spleeniger Gentlemen, doch zugleich als jemand, der Kunstkenner ist (vgl. z.B. 532f.) und in allen Lebenslagen durch seine ›Bonhommie‹ im Umgang mit anderen Menschen hervorsticht. Das wohl herausragendste Charakteristikum der Briefe eines Verstorbenen ist der spezifische Ton, auf den in der Pückler-Forschung durchgängig hingewiesen wird: Damit ist nicht nur gemeint, dass in den Text zahlreiche französische Ausdrücke eingestreut sind, die auf Weltläufigkeit schließen lassen und zudem auf das Französische als Sprache des Adels verweisen. Sondern Pückler präsentiert sich als ein Mann von »hoher, leicht beschwingter, man könnte sagen eleganter Geistigkeit«, der Text sei durchzogen von einem »dominant aristokratische[m] Gestus«.22 Arnim/Boelcke sprechen davon, dass hier »der Individualist

20 Vgl. Johann Wolfgang Goethe, »Briefe eines Verstorbenen [Rezension]«, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 22: Ästhetische Schriften 1824 bis 1832, hg. v. Anne Bohnenkamp, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999, S. 908-914, hier S. 911. 21 Vgl. T. Fischer, Literatur und Aristokratie, S. 189-195. 22 Harald Landry, »Briefe eines Verstorbenen«, in: Kindlers Literatur Lexikon Werke, Bd. 1, Zürich: Kindler 1965, Sp. 1867f. u. Reiner Marx, »Pückler-Muskau«, in: Killys Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 9, Gütersloh u.a. 1991,

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Pückler hocharistokratischem Lebensgefühl ungezwungenen, weltläufigen Ausdruck«verleiht.23 Woran lässt sich das im Text festmachen; anhand welcher Textverfahren vermittelt sich diese ungezwungene Weltläufigkeit? Es zeigt sich, so die These, auf besondere Weise darin, wie Pückler sich fortwährend als jemand präsentiert, dem zwar alle Reise- und vor allem Schreibkonventionen geläufig sind, der sich aber daran gerade nicht gebunden fühlt.24 Feste Schreibkonventionen mögen für (nicht-adlige) Schriftsteller gelten, Pückler indes inszeniert sich durch sein bewusstes Kokettieren mit diesen Regeln als jemand, der gewissermaßen außerhalb der Notwendigkeit steht, sich an die gängigen Schreibkonventionen zu halten.25 So lehnt Pückler explizit den »Reiseführer-Ton« ab, da er »langweilt«, und kündigt an, »bewusst die Feder schweifen« zu lassen (45). Er weiß also, wie Reiseberichte in der Regel verfasst sind und möchte genau dies seiner Briefpart-

S. 238-240. In der jüngsten Auflage des Kindler werden die Briefe eines Verstorbenen nicht mehr als Hauptwerk Pücklers angeführt. Vgl. Horst Belke, »Hermann Fürst von Pückler-Muskau«, in: Kindlers Literatur Lexikon, 3., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 13, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2009, S. 291f. 23 H. v. Arnim/W. A. Boelcke, Muskau, S. 195. 24 Vergleichbares lässt sich auch bei Charles Joseph de Ligne beobachten, dessen Reisebericht ebenfalls einem unkonventionellen Genremix folgt. Vgl. Urte Stobbe, »Hirschfeld versus de Ligne: Autorinszenierungen und Rhetoriken der Grenzziehung um 1800«, in: Martin Mulsow/Frank Rexroth (Hg.), Was als wissenschaftlich gelten darf. Praktiken der Grenzziehung in Gelehrtenmilieus der Vormoderne [erscheint 2014 bei Campus Historische Studien]. 25 Sebastian Böhmer verortet Pücklers Reisebeschreibungen innerhalb der literarischen Traditionen der Empfindsamkeit und Romantik, ebenso wie er das Werk vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Reiseberichten diskutiert. S. Böhmer, Fingierte Authentizität; vgl. auch Brigitte Bender, Ästhetische Strukturen der literarischen Landschaftsbeschreibung in den Reisewerken des Fürsten Pückler-Muskau, Frankfurt a.M./Bern: Lang 1982. Was dabei indes zu kurz kommt, ist die durchaus naheliegende Verortung innerhalb der zeitgenössischen Strömungen des Vormärz und des Biedermeier. Vgl. dazu Wulf Wülfing, »Reiseberichte im Vormärz. Die Paradigmen Heinrich Heine und Ida Hahn-Hahn«, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Reisebericht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 333-362, hier S. 349f. sowie Friedrich Sengle, »Reisebeschreibung«, in: ders., Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815-1848, Bd. II: Die Formenwelt, Stuttgart: Metzler 1972, S. 238-277.

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nerin und indirekt auch allen anderen Lesern nicht zumuten. 26 Wenn er sich bewusst von den anderen Verfassern dieses Genres absetzt, gehört dazu auch eine vordergründige Ziel- und Zwecklosigkeit seiner Reisen. Zwar besichtigt er auch die typischen Touristen-Highlights wie etwa Shakespeares Geburtsort Stratford-upon-Avon (vgl. 550f.), die Universitätsstadt Oxford (vgl. 557-565), die Parlamentssitzungen des Ober- und Unterhauses in Englands Hauptstadt (vgl. 646, 648), Museen, Theater und den noch im Bau befindlichen Themsetunnel (vgl. 692, 711). Doch folgt seine Reise dennoch nicht dem Primat einer festgelegten Besichtigungstour zu kanonisierten Sehenswürdigkeiten innerhalb möglichst kurzer Zeit. Seine Prioritäten sind andere: Er geht vor allem gesellschaftlichen Verpflichtungen nach (vgl. 497f.) und besichtigt zahlreiche Parkanlagen, um Anregungen für seine eigene in Muskau zu sammeln. Auffällig ist bei diesen Beschreibungen, dass er einen wissenden Leser auf Augenhöhe voraussetzt, den er nicht eigens über die Historie und Bedeutung einzelner Orte und Begebenheiten philisterhaft belehren muss. Stattdessen nimmt er im Rahmen seiner Besichtigungen und Erlebnisse für sich in Anspruch, nur das zu beschreiben, was ihm selbst als bemerkenswert erscheint. Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dass es sich bei dieser Subjektbezogenheit nicht um ein Spezifikum Pücklers, sondern geradezu um einen Topos der Reiseliteratur seit den 1780er Jahren handelt. In Heinrich Heines Harzreise findet diese Art des Reiseberichts einen prominenten Höhepunkt, wenn auch in ironischer Brechung.27 Doch stechen Pücklers Briefe eines Verstorbenen dennoch aus dieser Art von Reiseberichten heraus: Die Subjektbezogenheit Pücklers ist gekoppelt an einen Überlegenheitsgestus, der sich weniger aus Spott speist wie bei Heine, der in seiner Harzreise Philistertum und pseudoempfindsame Naturfrömmigkeit zur Zielscheibe seiner Invektiven macht, noch aus einer Haltung, die den Akt des Reisens mit der Bildung des Herzens, des Geschmacks und des Verstandes zu verbinden sucht, wie es in Franz Posselts Apodemik empfohlen wird.28 Sondern Pückler gibt sich durchweg als ein »über

26 Auch in seinen späteren Werken wird er an diesem Grundsatz festhalten. Vgl. S. Böhmer, Fingierte Authentizität, S. 61, S. 86 u. S. 230. 27 Ohff führt Heines Reisebilder als Inspiration für Pücklers Briefe eines Verstorbenen hinsichtlich »Stil und Anlage« an. Vgl. H. Ohff, Vorwort, S. XIII sowie ders., Der grüne Fürst, S. 161. 28 Vgl. Franz Posselt, Apodemik oder die Kunst zu reisen. Ein systematischer Versuch zum Gebrauch junger Reisenden aus den gebildeten Ständen überhaupt und angehenden Gelehrten und Künstler insbesondere, 2 Bde., Leipzig: Breitkopf 1795, hier

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den Verhältnissen wähnende[r] Beobachter«,29 der sich auf alle Fährnisse und Zufälle seiner Reise mit Vergnügen einlässt. Seine Schilderungen sind dabei häufig von einem leicht ironischen Unterton durchzogen. Nachdem etwa sein Gärtner, der eigens aus Muskau angereist ist, um seinen Dienstherrn auf einer mehrwöchigen Gartenbesichtigungstour zu begleiten, zweimal Schiffbruch erlitten hat, spricht er diesbezüglich von den »Irrfahrten des Garten-Odysseus« (608). Dass bei einem Zimmerbrand zahlreiche Papiere, unter anderem »ein angefangener Roman (wie schade!)« (711) sowie seine ganzen unbezahlten Rechnungen, verbrennen, kommentiert er mit einem »Das nenne ich ein verbindliches Feuer!« (712) Sein Überlegenheitsgestus findet sich jedoch vor allem in der Art, wie Pückler die Genres wechselt. Zur Unterhaltung seiner »Schnucke«, wie er seine Briefpartnerin nennt, erfindet er zwischendrin kleine Schauergeschichten, die im spannendsten Moment abbrechen und erst im nächsten Brief fortgeführt werden (vgl. 178f. u. 183) oder er entwirft zu Silvester ein Gedicht für sie (vgl. 349). Auch gibt er den Inhalt und die Art der Inszenierung der von ihm besuchten Theaterstücke wieder (vgl. 486f.).30 In den Schilderungen seiner Erlebnisse spielt er mit Elementen des Abenteuerromans, etwa wenn er sich durch eine List Zutritt zu einem Garten verschafft (vgl. 346) oder wenn er sich in Lebensgefahr begibt, um trotz aufziehenden Sturms den Snowdon zu erklettern, um dort Champagner auf das Wohl seiner Briefpartnerin zu trinken (vgl. 39f.). Nun könnte man diesen Genremix auch als späten Reflex auf romantische Darstellungspraktiken identifizieren, wofür auch der Untertitel mit der Rede von Fragmenten sprechen würde. Auch die Tatsache, dass Pückler unterwegs Sagen sammelt und diese in den Briefen als Binnenerzählungen wiedergibt (vgl. 150156, 208-211, 250-254 etc.), könnte in diesem Zusammenhang zu sehen sein, gilt doch das Auflesen ursprünglich mündlich tradierter Stoffe als genuin romantisch. Doch könnte man diese Praxis auch als adligen Gestus deuten, sich nicht auf ein einheitliches Genre festlegen zu lassen. Interessanter und abwechslungsreicher ist sein Werk in dieser Form allemal, zumal es ein ›Muss‹ für einen galanten Gentleman ist, sein weibliches Gegenüber mit ›Esprit‹ zu unterhalten. Diese ostentative Nichtbeachtung von Regeln bildet zugleich eine Art Scharnier-

insbes. »Erstes Hauptstück: Von der Art, wie derjenige reisen soll, der bloß als Mensch reist«, Bd. 1, ab S. 262. 29 S. Neuhaus, Das fehlerhafte Vorbild, S. 270. 30 Pückler soll schon als 15-jähriger Theater gespielt haben, vgl. H. v. Arnim/W.A. Boelcke, Muskau, S. 140. Theaterspielen galt in der Adelserziehung als probates Mittel, um junge Männer an das Sprechen vor Publikum zu gewöhnen.

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funktion zu genuin künstlerischen Inszenierungspraktiken, die spätestens seit dem Geniekult des Sturm und Drang auch auf ein Brechen mit Regeln abheben (können).

III. P ÜCKLERS I NSZENIERUNG ALS GENUIN ADLIGER K ÜNSTLER In die Briefe eines Verstorbenen sind selbstreflexive Passagen eingestreut, die der textuell gebundenen Inszenierung als Adliger einen besonderen ›Dreh‹ geben. So berichtet der Briefschreiber von einem Besuch bei einem Kraniologen, der ihm aus der Form seines Schädels folgende ›Diagnose‹ erstellt: »Sie sind sehr eitel, doch nicht von der Art, die viel zu sein glaubt, sondern viel sein möchte. […] Recht behaglich (easy) finden Sie sich nur da, wo Sie auf eine Weise wenigstens entweder durch Ihre Stellung oder in irgendeiner anderen Beziehung anerkannt präponderieren.« (682)

Demnach möchte er sich in seiner Stellung als Adliger oder »in irgendeiner anderen Beziehung« angemessen gewürdigt wissen – und zwar nicht oder zumindest nicht nur, weil es ihm zusteht, sondern weil er »viel sein möchte«, es ihm also ein persönliches Anliegen ist, Anerkennung zu finden. Indirekt äußert sich darin ein Führungsanspruch, der sich nicht nur auf einem Geburtsrecht gründet, sondern auch die Möglichkeit einschließt, sich wie es heißt »in irgendeiner anderen Beziehung« hervorzutun. Auch wenn es hier sehr verklausuliert ausgedrückt wird, schließt diese Formulierung auch eine Anerkennung als Künstler mit ein, zumal ihm zuvor attestiert wurde: »Sie lieben die Kunst und werden, wenn Sie ausübend darin sind oder werden wollen, sich ohne Schwierigkeiten darin ausbilden können« (681). Doch auch schon die beiden Vorworte deuten auf einen künstlerisch ambitionierten Verfasser hin. Ein für die Literatur um 1800 gängiges Fiktionalitätssignal ist die Herausgeberfiktion, die sich im Zusammenhang mit Briefromanen entwickelt hat und in den folgenden Jahrzehnten in der deutschsprachigen Literatur zur Mode wird. Auch Pückler greift dieses Verfahren in seinen Briefen eines Verstorbenen auf.31 Das Werk ist unterteilt in vier Bücher, von denen die

31 Einzelne Briefe sind von Assing-Grimelli ediert, wie etwa der Brief vom 1. Juni 1828, in dem sich Hermann bei Lucie während seiner Reise beklagt: »Warum weiß ich so viel Schönes, habe den Geschmack zum ausführen, und nicht das Geld!« Fürst

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letzten beiden als erster Band 1830 und die ersten beiden Bücher als zweiter Band ein Jahr später erscheinen. Dem ersten Teil wird ein auf den 30. Oktober 1829 datiertes Vorwort des Herausgebers vorangestellt, das die Echtheit der Briefe betont – sie seien in ihrer »Eigentümlich[keit]« (3) weitgehend so belassen worden. Über den Verfasser der Briefe erfährt der Leser lediglich, dass er bedauerlicherweise das »Unglück [hatte], während seines Lebens alles anders anzufangen als andere Leute, weshalb ihm auch wenig gelang. Viele seiner Bekannten hielten ihn aber für ein künstliches Original, und daran taten sie ihm Unrecht. Niemand war aufrichtiger in seinen Sonderbarkeiten, und schien es vielleicht weniger, niemand natürlicher, da wo alle Absicht zu sehen glaubten« (ebd., Hervorhebung im Original).

Vorweggeschickt wird dem Werk also die Aufforderung an den Leser, die Briefe des Verstorbenen gerade nicht als Zeugnis eines glücksbegabten Menschen zu verkennen, dem alles leicht zufliegt und der sich absichtlich den Anschein von etwas Besonderem gibt. Vielmehr zeugen die Briefe gerade in ihrem Einfallsreichtum von der Authentizität des Verfassers. Dass der chronologisch zweite Teil zuerst erscheint,32 wird explizit als Möglichkeit für die Rezensenten ausgewiesen, »ihren Witz leuchten zu lassen« (ebd., Anm.) – ein deutliches Indiz dafür, dass man sich bei der Überarbeitung der Briefe Gedanken über die Wirkung auf dem Buchmarkt gemacht hat. Im Vorwort zum zweiten Teil der Briefe vom 1. März 1831 wird daran festgehalten, dass Autor und Herausgeber nicht identisch sind und dass der Verfasser nicht mehr unter den Lebenden weilt. Deshalb habe der Herausgeber, angeregt durch Justinus Kerners »Die Seherin von Prevorst«, ein Medium namens Theresel gebeten, seinen Freund »L…« (für Lou, den Unterzeichner der Briefe) noch einmal auftreten zu lassen. Bei Anwesenheit eines Gelehrten namens Doktor Ypsilon reitet der verstorbene Verfasser hoch zu Ross in die Stube. Für einen Pferdeliebhaber, wie es Pückler zeit seines Lebens gewesen ist, erscheint es nur

Hermann von Pückler-Muskau, Briefwechsel und Tagebücher, hg. von Ludmilla Assing-Grimelli, Hamburg: Hoffmann & Campe/Berlin: Wedekind & Schwieger 18731876, Bd. 6, S. 414. Parallel zu den Briefen hat Pückler ein Journal verfasst, ebenso wie er auch einen vierbändigen »Lebensatlas« zusammengestellt hat, der Lithographien zu den in den Briefen eines Verstorbenen beschriebenen Personen, Gepflogenheiten und Anekdoten enthält. 32 Zu den möglichen Gründen für diese Verkehrung der Reihenfolge siehe S. Böhmer, Fingierte Authentizität, S. 100f.

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folgerichtig, dass er dabei allerlei Volten und »neun verschiedene[] Gangarten« (403) zeigt. Doch reitet er auf einem elenden Gaul, was als Bild seiner Situation als entmachteter Adliger gedeutet werden kann. Im gesamten Text finden sich analog dazu mehrere Hinweise auf eine Auseinandersetzung mit aktuellen politischen Fragen. Wenn über die schleichende Enteignung der Katholiken berichtet wird (vgl. 229-231), braucht es nicht viel Phantasie, um Verbindungen zu Pücklers Situation in der Lausitz herzustellen. Um sich vor dem denkbaren Anwurf zu schützen, in den Briefen politisch zu agitieren, wird im Vorwort ein gängiger Kunstgriff angewandt: Dass der »Verstorbene« seinen Freund und Herausgeber mit »Hermann« (404), dem Vornamen Pücklers, anspricht, erweckt den Eindruck, als könne es Pückler nicht gewesen sein, der die Briefe verfasst hat oder als habe er sich aufgeteilt in einen verstorbenen Geist und einen Hermann, der lediglich als Herausgeber der Briefe fungiere. Gleichzeitig wird der lesenden Öffentlichkeit, die bei Veröffentlichung des zweiten Bandes noch immer über die Identität des Briefschreibers gerätselt hat, ein fast eindeutiger Hinweis auf den Verfasser gegeben, ist es doch ein offenes Geheimnis, dass sich hinter dem vermeintlichen Herausgeber häufig der Verfasser selbst verbirgt. Der Leser wird insgesamt aufgefordert, sich auf ein Spiel einzulassen. So leitet der Geist aus dem »Zwischenreich« aus der positiven Aufnahme des ersten Bandes ab, dass ihm und seinem Freund damit die »Absolution« erteilt worden sei, »hier und da Dichtung (bescheidner, Fiktion) mit Wahrheit zu vermischen.« (405) Mit dem für Herausgeberfiktionen typischen Bescheidenheitstopos wird auf Goethes Dichtung und Wahrheit angespielt und zugleich ein Spiel mit Wirklichkeit und Phantasie getrieben. Sollte jemand die Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit, wie etwa das Rückwärtslaufen der Zeit während der Séancen, für »unglaublich wie läppisch« halten, würde dies als Kompliment seitens des Herausgebers gewertet werden, »denn bekanntlich sind diese Eigenschaften eben die sichersten Zeichen der Wahrheit und Authentizität.« (407, Anm.) Verkehrte Welt also: Das Unglaubwürdigste mache einen Text erst glaubwürdig. Insgesamt zeigt es sich also in den Briefen eines Verstorbenen ganz deutlich: Der unbekannte Briefschreiber will erkannt werden als Hermann von PücklerMuskau und damit als Adliger und zwar als einer, der sich das ›Air‹ des Künstlers gibt. Hätte seine Geburt keine Rolle mehr für sein Selbstverständnis gespielt, wären anderen Möglichkeiten der schriftstellerischen Selbstpräsentation denkbar gewesen. Spätere Äußerungen etwa gegenüber Ida Gräfin Hahn-Hahn bestätigen diese Haltung, wenn er darauf verweist, dass er »wenigstens die müßige Lese-

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welt auf etwas gentilere Weise unterhalte, als ein großer Teil unserer plumpen, pedantischen Literaten ohne Erziehung und Weltbildung«.33

IV. F AZIT Sicherlich hat Pückler nicht zuletzt gerade deshalb so viel Erfolg mit seinem Erstlingswerk gehabt, weil er als Adliger seltene Einblicke in eine fremde Welt zu geben verspricht, zu der Nichtadlige kaum bis gar keinen Zutritt haben. Zu beobachten sind dabei spezifische Verfahren und Darstellungsstrategien, mit denen er sich dezidiert als schreibender Adliger inszeniert: Lässige Kennerschaft, eine Pose der Überlegenheit und ein bewusstes Nicht-Einhalten von Schreib- und Besuchskonventionen bzw. das Spiel mit unterschiedlichen Genres zu Unterhaltungszwecken sind in diesem Zusammenhang zu nennen. Was Pückler mit dem Betreten des literarischen Feldes jedoch keinesfalls aufgibt, ist sein Anspruch auf Herausgehobensein. Mithin ist es auch zu einfach gedacht, analog zum bürgerlichen Subjekt auch bei Pückler als schreibendem Adligen oder adligem Künstler von einer Hybridisierung im Sinne Reckwitz’ zu sprechen. Was sich bei Pückler vielmehr zeigt, ist das Festhalten am adligen Überlegenheitsgestus, dem sich sein Schreiben über Erlebtes und Erfundenes unterordnet. Zur Schau gestellt wird die größtmögliche Freiheit in dem, was und wie es beschrieben wird: Er betritt als ›Newcomer‹ das Feld, als wäre es schon immer seines gewesen – ein untrügliches Zeichen nicht nur für ein vermeintliches ›Obenbleiben‹, sondern für ein selbstverständliches ›Obensein‹.

33 Hermann von Pückler-Muskau an Ida Gräfin Hahn-Hahn, Brief vom 15. März 1845, ediert in: Frauenbriefe von und an Hermann Fürsten Pückler-Muskau, aus dem Nachlaß neu herausgegeben von Heinrich Conrad, München/Leipzig: Müller 1912, S. 279282, hier S. 280.

»Zuerst bin ich immer Leser.« Überlegungen zur Subjektform ›Autor‹ im gegenwärtigen Literaturbetrieb S ABINE K YORA

»Zuerst bin ich immer Leser«, erklärt Ingo Schulze, als er beginnt, seine Arbeitsweise als literarischer Autor zu schildern.1 Damit nimmt er seine individuelle Kreativität zunächst einmal zurück und bezieht sich – scheinbar demütig – auf Vorgänger und Zeitgenossen, die lesenswert sind. Von Autoren, auch heutigen noch, wird zumindest im Bereich der Hochliteratur eher erwartet, dass sie individuelle, originelle Texte entwickeln, dass sie Schreiber sind und keine Leser. Trotzdem würde niemand Ingo Schulze die Rolle des literarischen Autors absprechen, er hat sich mit seiner Form der Positionierung im literarischen Feld etabliert. Genau dieser Frage gilt es im folgenden nachzugehen: Unter welchen Bedingungen und mit welchen Elementen kann sich also ein Individuum als Autor formen und unter welchen Bedingungen wird es als solcher im literarischen Feld anerkannt? Subjekte entstehen immer im Rahmen einer bestimmten Kultur zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, d.h. die Kultur legt die Bedingungen fest, unter denen ein Individuum als Subjekt anerkannt wird. Diese Bedingungen umfassen nicht nur die Beherrschung sprachlicher Codes, sondern auch Körperroutinen und Wunschstrukturen. Ebenfalls relevant ist der kompetente Umgang 1

Ingo Schulze, »Lesen und Schreiben oder ›Ist es nicht idiotisch, sieben oder gar acht Monate an einem Roman zu schreiben, wenn man in jedem Buchladen für zwei Dollar einen kaufen kann?‹«, in: Ute-Christine Krupp/Ulrike Janssen (Hg.), Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 80-101, hier S. 84.

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mit kulturellen Artefakten, der eingeübt und nur zum Teil bewusst erlernt wird oder in eine bewusste Handhabung dieser Gegenstände mündet. Einübung ist dabei auch ein Element, das die Praktiken dieser Subjektwerdung bestimmt. Nach Reckwitz trainiert sich das Subjekt und wird trainiert durch Praktiken. Eine Praktik lässt sich als »eine sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens)« definieren, sie »umfasst darin spezifische Formen des impliziten Wissens, des Know-how, des Interpretierens, der Motivation und der Emotion«,2 so Reckwitz. Praktiken führen dazu, dass sich ein Subjekt formieren kann, das gesellschaftlich als solches anerkannt wird. Es wird anerkannt, weil seine Subjektwerdung in den gesellschaftlich etablierten Praxisformen stattgefunden hat und ständig weiter stattfindet. Der Begriff der Praktik zeigt hier eine gewisse Nähe zum Begriff der Performanz, wie ihn vor allem Judith Butler für ihre Analyse der Geschlechterrollen fruchtbar gemacht hat, und zu Bourdieus Konzept des Habitus. Wie die performative Einübung der Geschlechterrollen bei Butler ist die Praktik durch die Wiederholung gekennzeichnet, durch die die Verhaltensroutine entsteht, und bezieht sich auch auf die körperliche Aktion.3 Dieser letzte Aspekt findet sich ebenfalls im Konzept des Habitus von Bourdieu: Auch der Habitus wird erkennbar durch eine Form (unwillkürlichen) körperlichen Verhaltens und führt in dieser Verkörperung zu einer Positionierung im sozialen Feld, im Falle des Autors also im literarischen Feld. Reckwitz geht es vor allem um sozial geregelte und einem bestimmten sozialen Typus zurechenbare Praktiken, die in eine Subjektform münden. Ein Autor verkörperte also eine Subjektform, die durch bestimmte Praktiken gebildet und sichtbar gemacht wird. Dabei ermöglicht es Reckwitz’ Begriff der sozialen Praktik eher als Bourdieus Habitus-Konzept, die Verkörperung eines sozialen Typus, einer Subjektform, in ihren einzelnen Elementen zu untersuchen und dabei auch auf die Entstehung und Veränderung der Subjektform und ihrer Praktiken zu achten. Für die Subjektform ›Autor‹ hieße das, einerseits die Praktiken zu analysieren, durch die diese Subjektform entstehen kann und im literarischen Feld anerkannt wird, andererseits ihre historisch veränderbaren und auch im gegenwärtigen literarischen Feld differenten Praktiken in den Blick zu nehmen.

2

Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld: transcript 2008, S. 135.

3

Vgl. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1991.

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I. Z UR S UBJEKTFORM ›AUTOR ‹ IM GEGENWÄRTIGEN L ITERATURBETRIEB Wenn wir davon ausgehen, dass die Subjektform ›Autor‹ durch und in Praktiken gebildet wird, wäre die Perspektive auf die Autoren eine, die die »sozial geregelte, typisierte, routinisierte Form des körperlichen Verhaltens (einschließlich des zeichenverwendenden Verhaltens)« herausarbeitet. Schaut man Autorenfotos an, sieht TV-Interviews mit Autoren oder besucht Dichterlesungen, kann man die von Reckwitz beschriebenen Routinen durchaus als kennzeichnend für das Auftreten und die Inszenierung der Autoren betrachten.4 Diese Routinen oder Praktiken sind auf unterschiedlichen Ebenen zu finden, sie umfassen die körperliche Performance, z.B. Mimik und Gestik, Stimme und Kleidung, aber auch inkorporiertes Wissen, Deutungswissen und Zeichengebrauch.5 Bei der körperlichen Performance agieren die Autoren meist zurückhaltend: Mimik und Gestik werden bei Lesungen zwar eingesetzt, aber in der Regel nicht inszenatorisch betont. Gehobener Casual-Stil ist bei der Kleidung die Regel, also kein Anzug mit Krawatte bei den Herren, eher eine Hose plus Jackett oder Pullover – wie festgelegt hier die Regeln sind, wird immer an den Abweichungen deutlich: Anzugträger wie Walter Kempowski werden sofort bewertet, auch die Anzüge der Popautoren, z.B. von Stuckrad-Barre in den 90ern, wurden als statement wahrgenommen. Die Autorinnen sind nicht ganz so leicht zu typisieren, die Regel ist aber auch hier die eher (geschlechts)neutrale Kleidung – also Casual, wie für die Autoren skizziert. Wenn als ›weiblich‹ klassifizierte Kleidung getragen wird, z.B. kurze Röcke, wird dieses eher als ein Ausweis mangelnder Professionalität betrachtet. Das praktische prozessorientierte Wissen der Subjektform ›Autor‹ lässt sich als im Moment der Aktion meist unbewusstes, inkorporiertes Wissen um das richtige Verhalten beschreiben, z.B. um Mimik, Gestik und die richtige Kleidung, aber auch um die Art und Schnelligkeit der Bewegung. Hier ist eher eine ruhige, den Körper in den Hintergrund stellende Form der Bewegung zu beobachten, die sich auch im Umgang der Medien mit Autoren abbildet: Nicht nur die Fragen der Interviewer werden eher langsam gestellt, auch die Schnitte in

4

Vgl. dazu ausführlicher: Sabine Kyora, »›Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur‹. Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft«, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013, S. 251-274.

5

A. Reckwitz, Subjekt, S. 136f.

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Fernsehinterviews sind nicht schell hintereinander, die Kameraperspektive bleibt meist längere Zeit bei der Nahaufnahme. Darüber hinaus konstituiert sich die Subjekform Autor durch den Umgang mit spezifischen Artefakten, also mit dem Buch, dem Stift, dem Computer oder der Schreibmaschine, mit Tisch und Stuhl. Dieses Ensemble von Dingen bestimmt die Schreibsituation und dominiert auch bei der Gestaltung des ›typischen‹, auf Fotos immer wieder dokumentierten Arbeitszimmers. Auch die Artefakte einer Dichterlesung sind ähnlich vorhersehbar: Tisch, Stuhl, manchmal eine Lampe, manchmal noch ein Mikrophon, das Buch in der Hand des Schriftstellers, mehr ist meist nicht auf der Bühne.6 Neben den bereits genannten Ebenen der Subjektivierung versteht Reckwitz das Deutungswissen, Form und Stil des Zeichengebrauchs sowie die Formung der Sinne und Affekte als Elemente einer Subjektform und ihrer Praktiken. Letzteres ist sicher am schwersten zu fassen und auch nur hypothetisch zu formulieren. Wenn man sich Interviews und Lesungen anguckt, kann man die Ruhigstellung des Körpers als ›Formung‹ betrachten (die auch für die Zuhörer gilt), ebenso wie die mittlere Engagiertheit beim Reden über die eigene Produktion oder beim Vorlesen und die Fähigkeit zur intellektuellen Konzentration. Man könnte hier mit Foucault durchaus von einer Disziplinierung der Affekte reden. Dagegen ist der Zeichengebrauch natürlich elementar für die Positionierung im literarischen Feld. Er beträfe alle im engeren Sinn literarischen Texte, aber auch z.B. Interviews und poetologische Äußerungen. Dagegen beinhaltet das Deutungswissen die explizite Interpretation des eigenen Selbst. Zum Deutungswissen gehört damit die Definition der eigenen Rolle, also Sätze wie ›Ich bin Schriftsteller‹ oder ›Ich bin ein Autor, der experimentell arbeitet‹, und die Reflexion dieser Positionierung. Gerade das Deutungswissen muss aber mit einer Besonderheit der Subjektform ›Autor‹ in Beziehung gesetzt werden: Anders als andere Subjektformen im Bereich der Arbeit kennt sie keine institutionelle Absicherung. Während andere Subjektformen durch einen bestimmten Ausbildungsweg und einen institutionellen Abschluss definiert sind, ist die Subjektform ›Autor‹ auf die geglückte Positionierung im literarischen Feld angewiesen. Diese Positionierung ist sicher von der ersten literarischen Veröffentlichung abhängig und durch sie legitimiert. Die Frage wäre aber, ob das Debüt denselben Stellenwert hat wie ein Zeugnis oder ein ähnlicher Ausweis der Zugehörigkeit zum Feld oder ob nicht vielmehr der Zugang zum Feld immer wieder neu legitimiert werden muss.

6

Zur Dichterlesung vgl. Gunter E. Grimm, »›Nichts ist widerlicher als eine sogenannte Dichterlesung.‹ Deutsche Autorenlesungen zwischen Marketing und Selbstreflexion«, in: ders./Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 141-167.

Ü BERLEGUNGEN ZUR S UBJEKTFORM ›A UTOR ‹

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Denn selbst nach geglückter Positionierung durch das Debüt muss die genaue Stellung im Feld durch die nächste Veröffentlichung erneut formuliert und durchgesetzt werden: Ein Zeichen dafür ist das Einfordern des ›zweiten Buches‹ zur Bestätigung der ›Begabung‹ durch die Literaturkritik – z.B. im Fall von Judith Hermann. Diese Bedingungen der Subjektform ›Autor‹ sprechen dafür, dass wegen der geringen institutionellen Absicherung den Praktiken der Subjektivierung sowohl auf ihrer nicht diskursiven wie auf ihrer diskursiven Ebene eine besonders wichtige Rolle zukommt. Von größerer Wichtigkeit als bei anderen Subjektformen ist dabei – so die Hypothese – das Deutungswissen, weil es den Knotenpunkt zu den poetischen Entscheidungen bildet (mit denen es aber nicht übereinstimmen muss) und die Positionierung im literarischen Feld entscheidend bestimmt. Diese Besonderheit entsteht nicht nur durch die geringe institutionelle Absicherung der Subjektform ›Autor‹ – durch diese werden ja auch die körperliche Performance, das praxisorientierte Wissen und der Umgang mit den Artefakten wichtiger –, sondern auch durch die feldspezifischen Zuschreibungen, die Autorschaft seit 1800 im nun autonom werdenden literarischen Feld definieren und zu denen sich die Autoren in ein Verhältnis setzen müssen. Zumindest im Bereich der Hochliteratur ist das Deutungswissen der Autoren darauf ausgerichtet, (geistige) Originalität und Einmaligkeit des Werks als Legitimation für die/ihre Subjektform ›Autor‹ herauszustellen. Die Subjektform enthält also (literaturgeschichtlich) eine Betonung von Intellektualität, d.h. vor allem Reflexionsfähigkeit und Individualität, die in den Praktiken ihren Ort finden muss, um anerkannt zu werden. Die Betonung des Intellektuellen und der Individualität steht dabei in einem paradoxen Verhältnis zu den ersten drei Kategorien von Reckwitz, die auf körperliche Praktiken ausgerichtet sind und die – wie oben angedeutet – auch bei Gegenwartsautoren deutlich routinisiert und typisiert sind. Für die Subjektform ›Autor‹ müssten die Elemente der routinisierten Praktiken in eine (mit Reckwitz nicht näher zu spezifizierende) Beziehung zum Anspruch auf Originalität, zur Betonung von Reflexivität und Individualität gesetzt werden. Auch die Vorstellung von Individualität und Originalität muss der Autor immer wieder unter Beweis stellen, so wie er eben auch die routinisierten Anteile der Subjektform wiederholen muss, um als Autor anerkannt zu werden. Durch diese Spannung erklärt sich vermutlich die Notwendigkeit der Reflexion der eigenen Praktiken und Positionierungen, die zwischen den skizzierten Polen zu vermitteln versucht.7 Die Spezifik der Subjektform ›Autor‹ führt

7

Zur Entstehung von Reflexion in Praktiken vgl. Thomas Alkemeyer, »Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik«, in: Alkemeyer/ Budde/Freist, Selbst-Bildungen (2013), S. 33-68, hier S. 49.

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meiner Ansicht nach zu einer Zunahme des (veröffentlichten) Deutungswissen, also poetologischen und ›Selbstverständigungs‹-Texten, die die Eigenheit von Autorschaft und Werk herausstellen und reflektieren, die gleichzeitig aber auch eine Routine bei der Positionierung als Autor der Hochliteratur darstellen. Im Verhältnis zu anderen Subjektformen hat die Subjektform ›Autor‹ also innerhalb der von Reckwitz genannten und sehr hilfreichen Kategorien bestimmte Konfliktlinien und Spezifika, die aus der Zugehörigkeit zum literarischen Feld und dessen Traditionen resultieren. Will man die Subjektform ›Autor‹ adäquat beschreiben, sollten diese Besonderheiten berücksichtigt werden. Ich will im Folgenden etwas anschaulicher anhand von drei AutorInnen vorführen, wie man das Konzept der Subjektform für die Beschreibung von Autorschaft und Autorschaftskonzeptionen modifizieren kann. Ich gehe dabei vom Deutungswissen aus.

II. »Z UERST

BIN ICH IMMER L ESER «: D EUTUNGSWISSEN , KÖRPERLICHE P RAKTIKEN UND S UBJEKTFORM

Die AutorInnen, um die es im Folgenden gehen wird, sind Sibylle Lewitscharoff, Thomas Meinecke und Ingo Schulze. Alle drei gehören ungefähr der gleichen Generation an und veröffentlichen seit Mitte der 90er Jahre Romane, alle drei sind in einem Band vertreten, der über die Schwierigkeiten von »Prosa schreiben heute« Auskunft gibt. Die Texte, die dort zu lesen sind, gehören also zur Kategorie des Deutungswissen, die AutorInnen äußern sich über ihr Selbstverständnis, reflektieren über ihre schriftstellerische Praxis und ihr Literaturkonzept. Die geschilderten Praktiken liegen dabei nicht nur auf der Ebene des Deutungswissens, sondern ebenfalls im Bereich der körperlichen Routinen. Wie bereits anhand des Verhältnisses von Deutungswissen und körperlichen Praktiken erörtert, entsteht durch die literaturgeschichtlich vorhandenen Konzepte von Autorschaft im literarischen Feld ein Spannungsverhältnis zwischen routinisierten körperlichen Praktiken und der geforderten Intellektualität und Originalität des Schriftstellers. Ein zweiter Aspekt betrifft die im Deutungswissen der Autoren bereits zu findende Reflexion des Zusammenhangs von körperlichen Praktiken der Subjektform ›Autor‹ und dem »Zeichengebrauch im Werk«, also bestimmten ästhetischen Entscheidungen. So setzt Sibylle Lewitscharoff die körperliche Performance des Schreibenden in Beziehung zum Werk: »Gibt es eine Kleidervorschrift beim Schreiben? Jawohl, es gibt sie. Man trage beim Schreiben ein Amtskleid. In meinem Fall ist es schwarzgrau gemustert und hat vorne

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ärmelschonerhafte Verlängerungen. Man kleide sich nicht zu salopp, sonst schwätzt man bald daher wie jemand, der, die Beine hoch, vor sich hintelephoniert, und so ein Telephongeschwätz sollte man besser nicht aufschreiben. Das Amtskleid darf nicht die Behendigkeit des Handgelenks lähmen, aber es soll das Handgelenk wärmen. In seinem für das Schreiben angelegten Amtskleid zeige man sich besser niemand sonst. Es muß ja nicht schön sein, dieses Kleid, ja, es darf sogar hie und da ein wenig verschabt sein.«

8

Auffällig ist bei Lewitscharoffs Beschreibung des »Amtskleids« der Zusammenhang zwischen Kleidung und Schreibweise. Das Amtskleid führt ganz deutlich zu einer Disziplinierung und hält die Autorin, den Autor vom »Schwätzen« ab, also vom unliterarischen Daherreden; es ist aber auch eine Arbeitskleidung wie der Blaumann oder ein Kittel und als solche muss es der Funktion – die Behendigkeit des Handgelenks zu gewährleisten – untergeordnet sein. Hier ist sehr deutlich die Reaktion auf die fehlende institutionelle Stützung der Subjektform ›Autor‹ zu erkennen: Der Autor hat nicht nur keine bestimmte Ausbildung, er trägt auch keine festgelegte Arbeitskleidung. Um tatsächlich Arbeitskleidung zu sein, darf das Amtskleid dann auch abgetragen sein, damit zeigt es nämlich die Routinisierung der Kleidung an. Als Amtskleid ist es nicht so genau festgelegt wie etwa ein weißer Kittel für den Arzt. Es darf aber auch nicht zu salopp oder zu schick sein, damit passt es durchaus in die vorher dargestellte Tendenz zum Casual-Stil bei den öffentlichen Auftritten von Autoren. Lewitscharoff konstruiert darüber hinaus einen engen Zusammenhang zwischen der körperlichen Performance, etwa Kleidung und Körperhaltung, und der Verfasstheit von Intellekt und Werk. Kleidung und Körperhaltung müssen der Arbeit am Werk untergeordnet werden, Lewitscharoff stellt also Formen der Disziplinierung dar, die durchaus im Reckwitz’schen Sinne als Formung der Sinne und Affekte verstanden werden können. Sie sind nötig, um die Subjektform ›Autor‹ zu stützen. Lewitscharoff formuliert sie darüber hinaus als allgemeine Regel für den Autor: ohne Amtskleid keine dichterische Produktion. Originalität ist dagegen nicht in der körperlichen Performance zu finden, sondern wird in die Literatur verlagert, die durch die Disziplinierung zustande kommt. Diese Literatur muss sich z.B. nicht an die Grenzen der Realität halten. So besteht Lewitscharoff darauf, dass die Literatur ihren Figuren größere Möglichkeiten bieten kann als die Wirklichkeit den realen Subjekten.9 In ihrer

8

Sibylle Lewitscharoff, Siebenundzwanzig Fragen, in: Krupp/Janssen, Zuerst bin ich immer Leser (2000), S. 27-39, hier S. 28.

9

Sibylle Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen. Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2012, S. 34f.

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Darstellung des praktischen prozessorientierten Wissens, also der ›richtigen‹ Körperhaltung und Körperbewegung, die ihrer Arbeitsweise zugrunde liegt, findet sich eine ähnliche Überschreitung der Realität. Lewitscharoff empfiehlt nämlich das Bett als idealen Ort für die Inspiration des Dichters: »Im Bett fängt man sehr gut die knapp über dem Boden schwebenden Sätze ein. Das Bett darf also nicht zu hoch sein. Es darf aber auch nicht zu tief sein, sonst ersticken einen die Sätze. Das Sitzen ist weniger zu empfehlen. In der mittleren Höhe, wo sich beim Sitzen der Kopf befindet, streichen so gut wie überhaupt keine Sätze herum.«

10

Das phantastische Verhalten der Sätze und der Umgang der Dichterin mit ihnen lässt den poetologischen Text zu einem phantastisch-literarischen werden. In den Kategorien von Reckwitz findet hier die Reflexion von praktischem, prozessorientiertem Wissen und des Umgangs mit Artefakten statt. Gleichzeitig wird eine individuelle Beziehung der Dichterin zur Sprache erkennbar – und zwar auf der Reflexions- wie auf der Materialebene –, die als Reaktion auf die Forderung nach Originalität gelesen werden kann. Der Umgang mit der Sprache geht von deren Eigenleben aus, so dass sich quasi zwei Individuen begegnen und die Schriftstellerin davon abhängig ist, dass sie auf herumschwirrende Sätze trifft. Lewitscharoffs Deutungswissen zeigt also genau die Unterscheidung von (gewünschter und als notwendig erachteter) Routinisierung, die auch die Disziplinierung der Affekte umfasst, einerseits und individueller, origineller Begegnung mit der Sprache andererseits. Dabei stellt der zweite Aspekt den ersten zumindest ironisch in Frage: Schließlich findet die Inspiration im Bett statt und nicht in »mittlerer Höhe, wo sich beim Sitzen« diszipliniert im Amtskleid am Schreibtisch »der Kopf befindet«.11 So legitimiert die individuelle Begegnung mit der Sprache den Anspruch auf die Subjektform ›Autor‹ im Bereich der Hochliteratur und wird im Text auch entsprechend aktualisiert. Lewitscharoffs Darstellung von

10 S. Lewitscharoff, Siebenundzwanzig Fragen, S. 33. 11 Auch diese Verbindung von Bett und Inspiration ist nicht ganz ohne Vorgänger: So erzählt Walter Benjamin von den französischen Surrealisten die Anekdote, dass SaintPol-Roux vor dem Zubettgehen an seiner Zimmertür ein Schild befestigte, auf dem stand: Le Poète travaille. Der Poet schläft also nicht im Bett, sondern arbeitet. Auch der bei Benjamin beschriebene Umgang der Surrealisten mit Sprache ähnelt dem von Lewitscharoff dargestellten. Vgl. Walter Benjamin, »Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 295-310, hier S. 296f.

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schriftstellerischen Praktiken zeigt die Reflexion als deren Element, gleichzeitig führt sie in die Reflexion einen Anteil phantastisch-literarischen Schreibens ein und etabliert so den Konnex zwischen poetologischer Reflexion und literarischem Stil als aufeinander beziehbare Praktiken. Das besondere Verhältnis zur Sprache, auch den Zusammenhang zwischen den körperlichen Praktiken der Subjektform ›Autor‹ und deren Verbindung zur Reflexion spricht Thomas Meinecke ebenfalls an, seine Konzeption sieht allerdings deutlich anders aus als bei Lewitscharoff. Sie ist einerseits von der dekonstruktiven Theorie des Subjekts inspiriert, vor allem von Judith Butler, andererseits von Meineckes Verständnis von Pop.12 Die nicht institutionelle Bindung des Autorberufs wird bei Meinecke durch die Verknüpfung des Schreibens mit seiner Arbeit als DJ aufgefangen: »Wenn ich, mit zwei Plattenspielern und einem Mischpult ausgestattet, öffentlich Schallplatten auflege, habe ich einen bestimmten Pool an Tonträgern, die im Englischen passenderweise Records heißen, mitgebracht, bin mir aber im voraus nicht bewusst, in welcher Reihenfolge sie zum Einsatz kommen werden.«13 Diese Routine überträgt Meinecke auf seine körperliche Performance als Autor, seine Reflexion des prozessorientierten Wissens und seine ästhetischen Entscheidungen. »In diversen Abwehrbewegungen gegenüber herrschenden schriftstellerischen Konzepten habe ich gelernt, meine Texte nicht als Autor, sondern gleichsam als Leser zu schreiben. […] Gefundenes Material, das ich nicht einmal richtig verstanden haben muß, über das ich eben nicht Herr und Meister bin, durch mich hindurchfließen zu lassen. […] Den Autor, das vermeintliche Subjekt, zum Objekt werden zu lassen. Ich als Text. Grenzenloses Grauen vor der originellen Idee. So sitze ich also an meinem Arbeitsplatz, zwischen Türmen von Büchern, die auch Records sind, und ziehe mir nacheinander, der musikalischen Logik eines DJ Sets folgend, meine Materialien heraus.«14

Meinecke stellt hier, so wie Lewitscharoff, den Autor bei der Arbeit dar. Sein Augenmerk gilt dabei vor allem dem Verhältnis des Autors zum Material, das die (auch körperliche) Präsenz des Schreibenden relativiert: Der Autor wird an seinem Arbeitsplatz von »Türme[n] von Büchern« überwuchert. Das Verhältnis zur Reflexion zeigt sich dabei in der Relation von körperlicher bzw. Artefakt-

12 Vgl. dazu Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten, München: C.H. Beck 2002, S. 135-142. 13 Thomas Meinecke, »Ich als Text (Extended Version)«, in: Kruppp/Janssen, Zuerst bin ich immer Leser (2000), S. 14-26, hier S. 22f. 14 Ebd., S. 23f.

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Konstellation zum Schreiben: Wenn das Material durch den Schreibenden nur hindurchfließt, hat nicht nur seine Reflexion, sondern sogar sein Bewusstsein nur einen geringen Anteil bei der Formung. Nun kann man dieses Konzept des Autors als Medium durchaus auch in eine Tradition einordnen, akzentuieren will ich hier aber, dass bei Meinecke die körperlichen Praktiken und der Umgang mit den Artefakten zu einer bestimmten Schreibhaltung führen. Diese generiert wiederum die Vorstellung des Werks, das sich aus gefundenen Materialien zusammensetzt – Meinecke nennt das »Samplen«. Diese aktualisierenden Wiederholungen bestimmen sowohl seine Tätigkeit als DJ wie seine Arbeitsweise als Schriftsteller, denn die Bücher werden wie »Records« wieder ›abgespielt‹ und dabei aktualisiert. Das Zitieren von Textbruchstücken zeigt in der Wiederholung aber die Differenz an, denn es werden nur Ausschnitte in den neuen Text aufgenommen und deren Bedeutung durch Fragmentarisierung und Montage verschoben.15 Offensichtlich wird bei Meinecke auch die Ablehnung des Originalitätsgebots für den Schriftsteller. Er hebt an anderer Stelle sogar hervor, dass er mit dem ›Tod des Autors‹, wie ihn die dekonstruktive Theorie verkündet hat, sehr einverstanden ist.16 So kommt es also nicht zu einer Spannung zwischen routinisierten, typisierten Praktiken und der Originalität des Schriftstellers – das praxisorientierte Wissen soll vielmehr das Bewusstsein und die Reflexivität des Autors überlisten und quasi hinter seinem Rücken zum Text führen. Meineckes Reflexion von praxisorientiertem Wissen und dessen Verhältnis zum Bewusstseins des Subjekts entspricht dabei genau der praxiologischen Formulierung dieses Zusammenhangs. Seine routinisierten DJ-Praktiken »präfigurieren das Handeln«, lassen »aus dem ›Spiel‹ heraus sich ergebende Inventionen« zu, die »weitere Handlungen anstoßen«.17 Dabei ist der DJ als Teilnehmer des Spiels »körperlich und mental vollkommen von diesem Spiel ergriffen«.18 Es entsteht durch die Übertragung dieser Konstellation auf die künstlerische Arbeitsweise allerdings keine sozial geregelte, typisierte Wiederholung einer Praktik. Stattdessen führt die Anwendung von praxisorientiertem Wissen im ›falschen‹ Bereich, also auf der Ebene der dichterischen Produktion, zu einer Durchbrechung der

15 Zu Meineckes Vergleich zwischen Autor und DJ: Katharina Picandet, »Der Autor als Disk(urs)-Jockey. Zitat-Pop am Beispiel von Thomas Meineckes Roman ›Hellblau‹«, in: Olaf Grabienski/Till Huber/Jan-Noël Thon, Poetik der Oberfläche: die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, Berlin: de Gruyter 2011, S. 125-141. 16 T. Meinecke, Ich als Text, S. 20. 17 T. Alkemeyer, Subjektivierung in sozialen Praktiken, S. 47. 18 Ebd., S. 48f.

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feldspezifischen Routinen. Meinecke umgeht also das Spannungsverhältnis zwischen den Routinen der Subjektform ›Autor‹ und der geforderten Originalität und Reflexivität, indem er die Routinisierung und Unwillkürlichkeit der DJRoutinen auf seine Produktionsweise ausweitet. Wenn er darüber hinaus diese Beschreibung seiner Produktionsweise auf seine feldspezifische Subjektivität bezieht, verschwindet der Autor im Text: »Ich als Text« heißt Meineckes Beitrag. Die Kombination der Texte konstruiert die Subjektform und den Autor, die Praktiken des Wiederholens und Montierens formen den Stil. Als drittes Beispiel soll Ingo Schulzes Reflexion seiner Produktionsweise herangezogen werden, seine Äußerung »Zuerst bin ich immer Leser« wurde bereits kurz kommentiert. Die Wichtigkeit des Lesens für das Schreiben ist schon bei Meinecke deutlich geworden, Schulze argumentiert hier ganz ähnlich, wenn er darauf hinweist, dass er durch die Lektüre von russischer Literatur oder von Raymond Carver einen Ton oder eine Form für seine Texte entwickeln konnte. Dabei wehrt er sich wie Meinecke gegen den Vorwurf der Literaturkritik, er habe »keine eigene Stimme« gefunden – lässt also den Einwand gegen seine angeblich mangelnde Originalität und Individualität nicht gelten. 19 Möglicherweise manifestiert sich in dem Bestehen darauf, dass der Text durch den Dialog zwischen (eigenem, gefundenem) Stoff und (fremden) Stil entsteht, die Auseinandersetzung Schulzes mit Bachtins Vorstellung des dialogischen Schreibens, die ein ebenfalls dezentriertes Autorsubjekt voraussetzt.20 Während Meinecke und Lewitscharoff aber den Autor/die Autorin bei der Produktion in seinem/ihrem Arbeitszimmer zeigen, schildert Schulze in seiner Leipziger Poetikvorlesung Szenen außerhalb des Arbeitszimmers als grundlegend für die Konstellation seiner Prosa. So parallelisiert er seine Reise nach Halberstadt und das vierte Kapitel aus Simple Storys, um daran die Differenz, aber auch die Parallelen zwischen der Erfahrung des Autors und dem Roman erkennbar werden zu lassen.21 Die geschilderte Erfahrung ist geprägt von den Praktiken der Subjektform ›Autor‹: Schulze ist auf dem Weg zu einem Stipendienaufenthalt, bei dem er sein neues Buch beginnen soll, er hat Bücher von Faulkner und Carver in der Tasche, sein Aufenthaltsort ist einsam gelegen, damit

19 I. Schulze, Lesen und Schreiben, S. 92f. 20 Vgl. dazu Markus Symmank, Karnevaleske Konfigurationen der deutschen Gegenwartsliteratur. Untersuchungen anhand ausgewählter Texte von Wolfgang Hilbig, Stephan Krawczyk, Katja Lange-Müller, Ingo Schulze und Stefan Schütz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002, S. 52-72. 21 Ingo Schulze, Tausend Geschichten sind nicht genug. Leipziger Poetikvorlesung 2007, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 33-36.

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die Gedanken des Dichters sich auf das Werk konzentrieren können. Er berichtet also von den sozial geregelten, routinisierten und typisierten Formen des Verhaltens, die als Praktiken der Subjektform ›Autor‹ zugeordnet werden können und die er nach seinem ersten Buch als jetzt etablierter Autor übernimmt. Der Durchbruch zum neuen Buch erfolgt dann aber nicht innerhalb dieser Praktiken, sondern durch ein Erlebnis auf der Reise und die Lektüre der Kurzgeschichten Carvers: »Auf diese Art [die Carvers, S.K.] ließ sich über die unmittelbare Gegenwart schreiben. Als hätte der Stoff sich seinen Tonfall gesucht, als würde der Tonfall die Geschichten anziehen. Plötzlich schien sich mein Alltag wie von selbst in Geschichten zu verwandeln. […] Merkwürdigerweise hatte ich die Geschichten von Carver bei einer früheren Lektüre wieder aus den Hand gelegt. Bei ihm, so fand ich damals, war die Welt irgendwie klein und unpolitisch. […] Für jemanden, der den Herbst ’89 in Leipzig und dann die Umwälzungen in Russland miterlebt hatte, war das befremdlich privat – bis ich plötzlich kapierte: 22

Genau das ist doch deine Welt geworden!«

Für Schulze sind die Praktiken der Subjektform ›Autor‹, mehr als bei den beiden anderen SchriftstellerInnen, eingebettet in die gesellschaftlichen Entwicklungen, die Äquivalenz von (gesellschaftlicher) Erfahrungswirklichkeit und Stil ist ihm wichtig. Für ihn besteht hier also eine Verbindung zwischen dem literarischen und dem politischen Feld, die Schulze aus seiner DDR-Vergangenheit herleitet. Auch nach dem Ende der DDR ist die Position des literarischen Autors für Schulze am ehesten die eines Zeitzeugen – eine Vorstellung, die Lewitscharoff in ihren Poetik-Vorlesungen in Frankfurt wiederum ausführlich geißelt 23 – und als Zeitzeugen begegnen ihm seine Themen und die ihnen adäquaten Stile.24 Die

22 Ebd., S. 37. 23 S. Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, S. 39-41; vgl. den Aufsatz von Miriam Runge im vorliegenden Band. 24 Die Sekundärliteratur beschreibt die Mischung aus ostdeutscher Erfahrung und amerikanischem Stil fast durchgehend als spezifisch für Schulzes Romane: Gertrud Maria Rösch, »Ingo Schulze: Simple Storys«, in: Interpretationen. Romane des 20. Jahrhunderts, Bd. 3, Stuttgart: Reclam 2003, S. 295-308; Horst Dieter Schlosser, »Ostidentität mit Westmarken? Die ›dritte Sprache‹ in Ingo Schulzes Simple Storys zwischen DDR-Deutsch und Bundesdeutsch«, in: Christine Cosentino/Wolfgang Erl/Wolfgang Müller (Hg.), An der Jahrtausendwende. Schlaglichter auf die deutsche Literatur, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2003, S. 53-68; Walter Schmitz, »Der verschwundene Autor als Chronist der Provinz. Ingo Schulzes Erzählprosa in den 90er Jahren«, in:

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Relativierung des Individuellen und der Originalität resultiert also nicht aus der dekonstruktiven Theorie, sondern aus der Einbettung des Autors in gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Reflexion der Routinen der Subjektform ›Autor‹ entsteht durch ein für Schulze spezifisches Spannungsverhältnis zum Anspruch auf Originalität. Einerseits versteht er sich als Zeitzeuge, als Beobachter der gesellschaftlichen Realität. Als Zeitzeuge ist der Autor bei Schulze aber ein Repräsentant des Allgemeinen, also des Prozesses, der sich gesamtgesellschaftlich vollzieht. Andererseits fragt Schulze sich: »Bin ich ein Plagiator, ein Scharlatan, ohne wirkliche eigene Substanz und Stimme?«25 und lässt dabei das Bewusstsein für die geforderte Originalität des Schriftstellers erkennen. Auf den Konflikt zwischen geforderter Originalität und dem Bestehen auf Zeitzeugenschaft reagiert die Reflexion; der Kompromiß, der aus diesen widerstreitenden Anforderung resultiert, ist die ›eigene‹ Praktik der Stilübernahme von fremden Texten. Wenn man die Äußerungen der Autoren kurz zusammenfassend auf die Praktiken von Autorschaft bezieht, dann fällt zunächst die Prozessorientierung auf. Die Praktiken werden in Beziehung zum Prozess der Werkentwicklung gesehen: Die poetische Produktion verlangt die (ironisch relativierte) Disziplinierung bei Lewitscharoff, sie entsteht durch performative Wiederholung bei Meinecke und durch die immer neue Begegnung von (gesellschaftspolitischem) Stoff und Stil bei Schulze. Das Verhältnis zu den (körperlichen) Routinen und Typisierungen der Subjektform ›Autor‹ ist bei Schulze und Lewitscharoff durch die jeweils reflexive, aber unterschiedliche Vermittlung zwischen den Gegensätzen von Routine und geforderter Originalität gekennzeichnet, bei Meinecke steht auch hier die performative Wiederholung im Vordergrund. Lewitscharoff stellt ihr individuelles Verhältnis zur Sprache heraus, Meinecke und Schulze verstehen gerade das Bestehen auf der Originalität als eine der Routinen der Subjektform ›Autor‹ und verweigern mit jeweils unterschiedlichen Praktiken deren Bestätigung. Die stilistischen Konsequenzen, die aus der Reflexion der Routinen resultieren, sind bei Lewitscharoff die Ablehnung nur realistischer Erzählweisen und das Plädoyer für phantastische Elemente, für Meinecke die Bevorzugung von Montagen, vom ›Samplen‹, und für Schulze die performative Wiederholung von (fremden) Stilformen. Was zeigen diese Differenzen in den Positionen? Zunächst einmal, dass die Annahme der Feldspezifik von Subjektformen die wichtigste Voraussetzung für

Volker Wehdeking, Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit (19902000), Berlin: Erich Schmidt 2000, S. 133-140. 25 I. Schulze, Lesen und Schreiben, S. 93.

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eine adäquate Analyse ist. Darüber hinaus ist erkennbar, dass innerhalb von Subjektformen eine gewisse individuelle Varianz möglich ist – alle drei Schriftsteller sind als Schriftsteller anerkannt, obwohl ihr Umgang mit den Routinen und Typisierungen, die die Subjektform ›Autor‹ verlangt, unterschiedlich ist und sie diese auch längst nicht immer bestätigen. Das Bewusstsein auch für die Typisierung der von Autoren geforderten Individualität kann wiederum als eine Reaktion auf den literaturgeschichtlichen Standort der Autoren gelesen werden, von dem aus die Herausstellung der eigenen Individualität und Originalität als Routine erscheint. Als Spezifik der Subjektform ›Autor‹ im Bereich der Gegenwartsliteratur lässt sich vorerst festhalten, dass die Reflexion von routinisierten Praktiken deutlich erkennbar ist – zudem ist der Prozess der performativen Wiederholung, der bei Reckwitz zur Einübung von Praktiken dient, nicht nur erkannt, sondern wird – zumindest bei Schulze und Meinecke – verwandt, um gerade in der vermeintlichen Routine einen Ansatzpunkt für eine eigene Arbeitsweise zu finden. Die Körperlichkeit von Praktiken, die in einem Spannungsfeld zur Intellektualität des Schriftstellers stehen könnte, wird vor allem bei Lewitscharoff reflektiert, andererseits aber auch für den Schreibprozess fruchtbar gemacht. Aus den geschilderten – körperlichen oder intellektuellen – Praktiken resultieren schließlich die Textformen. Die praxeologische Perspektive auf die Subjektform ›Autor‹ und ihr Deutungswissen zeigt also einen hohen Anteil routinisierter (körperlicher) Verhaltensweisen, auch in der Selbstwahrnehmung der Autoren. Mit diesen Praktiken verbunden ist jedoch die Reflexion des Zusammenhangs von Praktiken und deren Produkt, also des literarischen Textes und seines Stils. Die Reflexion muss einerseits als integraler Bestandteil der Subjektform ›Autor‹ angesehen werden und hat damit vermutlich eine deutlich wichtigere Funktion als das bei anderen Subjektformen der Fall ist. Andererseits lässt der Blick auf die Praktiken der Autoren erkennen, dass diese als unverzichtbares Element für die Werkproduktion dargestellt werden, die anscheinend ohne sie nicht möglich ist.

Ichwerdung als dichterischer Selbstentwurf Thomas Bernhards ›literarische‹ Inszenierung C LEMENS G ÖTZE

I. D ER AUTOR

ALS

AKTANT

IN DEN

M EDIEN

Thomas Bernhards Karriere als Autor war seit seinem Eintritt in das literarische Feld durch mediale Präsenz und Provokation geprägt und zeugt von einer höchst produktiven Inszenierungskunst, deren Eigenes dadurch charakterisiert wird, dass Autor und literarischer Text zusehends miteinander korrespondieren und schließlich sogar untrennbar miteinander verschmelzen. Dies stellt keineswegs ein Novum dar, ist doch die Bedeutung eines durch die Medien geförderten öffentlichen Bewusstseins für Autoren seit jeher integraler Bestandteil ihres Erfolges auf dem literarischen Markt; Ruhm und Erfolg sind gleichsam überlebenswichtig für das Bestehen im literarischen Feld.1 So haben die viel beachteten Skandale um Bernhards Werk (und schließlich seine Person) erheblich dazu beigetragen, dass die Geschichte seiner Literatur auch eine in besonderem Maße österreichische Skandalgeschichte ist,2 welche die Rezeption seines Werkes bis

1

Daraus generiert sich Reichtum sowohl in finanzieller wie auch ideeller Hinsicht und visualisiert die Aufmerksamkeit nicht nur in medialem Sinne. Vgl. hierzu Georg Franck, »Autonomie, Markt und Aufmerksamkeit. Zu den aktuellen Medialisierungsstrategien im Literatur- und Kulturbetrieb«, in: Markus Joch et al. (Hg.), Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer 2009, S. 11-21, hier S. 17.

2

Auf die »Wechselwirkung zwischen den Bernhardschen Texten, die Skandale verursachten und den Skandalen, die einen Einfluss auf die Texte nahmen« verweist Joseph

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heute prägt: »Bernhard ist zur Kunstfigur geworden, und sein Werk lässt sich nicht mehr ablösen von der Wirkung, die es gehabt hat.«3 Die darstellerischen Mittel seines Subjektentwurfes als Autor sind mannigfaltig, sie funktionieren in unterschiedlichen Phasen seines Werkes ebenso wie in seinem Auftreten als öffentliche Person. Spätestens mit dem Einsetzen der autobiographischen Schriften ab 1975 gilt auch für den Dichter Thomas Bernhard: »Die Autobiographie verschleiert und maskiert eine Entstellung des Geistes, die sie selbst verursacht.«4 Insofern geht es auch bei Thomas Bernhards Inszenierung von Autorgenese und Autorschaft nicht mehr vordergründig »um die ›Wahrheit‹ über einen Autor, sondern um eine ›Ins-Bild-Setzung‹, also den Grad seiner Theatralität«.5 In diesem Sinne seien hier auch die Inszenierungspraktiken6 verstanden, mit denen der Autor das Bild seiner eigenen Kunstfigur in Szene zu setzen wusste.7 Hierzu zählen neben dem literarischen Œuvre auch und vor allem das Auftreten der Persönlichkeit Thomas Bernhard in Interviews und öffentlichen Stellungnahmen, wie etwa in Form von Leserbriefen und Essays. 8 Da diese von den W. Moser, »Literaturskandal als Dialog mit der Öffentlichkeit. Der Fall Thomas Bernhard«, in: Stefan Neuhaus/Johann Holzner (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle, Funktionen, Folgen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 503-512, hier S. 503. 3

Wendelin Schmidt-Dengler, Der Übertreibungskünstler. Zu Thomas Bernhard, Wien: Sonderzahl 2010, S. 130.

4

Paul de Man, »Autobiographie als Maskenspiel«, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 131-145, hier S. 145.

5

Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 7-11, hier S. 8.

6

Vgl. zu diesem Begriff und seinen Ausprägungen Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Heuristische Typologie und Genese, in: dies. (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter Universitätsverlag 2011, S. 9-30.

7

Manfred Mittermayer spricht diesbezüglich nicht nur von autobiographischen Inszenierungen, sondern auch vom »Entwurf einer radikal selbstbestimmten Existenz«. Manfred Mittermayer, Thomas Bernhard, Stuttgart: Metzler 1995, S. 89.

8

Die jüngere Forschung kennzeichnet Bernhards Interviews als »eminent theatralische Inszenierungen, in denen er sich selber darstellt, u.a. die Rolle des Altersnarren oder Provokateurs spielend. Zum Verwirrspiel, das Bernhard dabei betreibt, gehört u.a. die Taktik, auf Privates zielende Fragen durch Blödeleien und assoziative Wortspiele auszuweichen. Ebenso ist es als kalkulierte Performance zu verstehen, wenn er eine bewusste Nähe zu Haltungen und Meinungen seiner literarischen Protagonisten herstellt,

T HOMAS B ERNHARDS › LITERARISCHE ‹ I NSZENIERUNG

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literarischen Schreibweisen ihres Autors kaum abzulösen sind, müssen sie als »integrale[r] Bestandteil[] in der Selbstdarstellung des Systems Literatur verstanden werden,9 ihnen kommt innerhalb des Gesamtwerks eine besondere Bedeutung zu.10 In zahlreichen Interviews für Presse, Rundfunk und Fernsehen sowie mehreren Leserbriefen schuf der Autor seine Medienfigur »Bernhard« als eine Form der Rollenprosa, die über das dichterische Werk hinausreicht und sich folglich in die außerliterarische Wirklichkeit einschreibt. Dies ist nicht zuletzt auch deshalb vom Publikum bereitwillig aufgegriffen worden, weil sich das Werk des Autors dem Leser zu entziehen scheint und somit das Interesse am Autor selbst steigert.11 Folgt man nicht nur dem Urteil Thomas Bernhards, der seine Selbstaussagen unbedingt »als gleichberechtigten Teil seines Werkes betrachtete«,12 und beschreibt seine Selbstdarstellung als habituelle Inszenierungspraktik unter Berücksichtigung performativer, sozialer wie politischer und ästhetischer Aspekte, so lassen diese sich als »auktoriale[] Epitexte[] mit öffentlichem Resonanzradius« verstehen.13 Die Formierung der Subjektform ›Autor‹ funktioniert bei Thomas Bernhard durch die Einschreibung und Inszenierung einer singulären Autorfigur im medialen Gefüge von Text, Bild und Performance. Vor diesem Hintergrund sollen die folgenden Ausführungen zwei wesentliche Aspekte von Bernhards autorschaftlicher Subjektivierungspraxis veranschaulichen: das Medium des Interviews und jenes der Leserbrief-Stellungnahme. Aufgrund der Fülle an diskussionswürdigem Textmaterial ist eine ausführliche Analyse in diesem Rahmen schwer zu leisten, weshalb sich dieser Beitrag auf eine Bestandsaufnahme und Verortung der Problematik in Thomas Bernhards Gesamtwerk beschränkt und einen Problemaufriss für weitere Betrachtungen anbietet. indem er gleichsam deren Masken aufsetzt.« Uwe Schütte, Thomas Bernhard, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2010, S. 114. 9

G.E. Grimm/C. Schärf, Schriftsteller-Inszenierungen, S. 7.

10 Vgl. Pia Janke, »Schriftsteller als Ikonen. Aus Anlaß der Geburtstage von Thomas Bernhard (75) und Elfriede Jelinek (60)«, in: Michael Ritter (Hg.), Praesent 2007. Das literarische Geschehen in Österreich von Juli 2005 bis Juni 2006, Wien: Praesens 2006, S. 77-85, hier S. 79. 11 W. Schmidt-Dengler, Der Übertreibungskünstler, S. 176f. Ähnlich argumentiert auch Torsten Hoffmann, »Das Interview als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schriftstellerinterviews am Beispiel W.G. Sebalds«, in: Weimarer Beiträge 55 (2009), S. 276-292, hier S. 278. 12 Andreas Herzog, »Vom Nutzen verlegerischer Wettkämpfe um Thomas Bernhard«, in: Neue deutsche Literatur 476 (1992), Heft 40, S. 123-130, hier S. 130. 13 C. Jürgensen/G. Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 12.

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II. I NTERVIEWKUNST

ALS

S UBJEKTIVIERUNGSPRAXIS

Aufgrund des diffusen Gegenstandes mag es wenig verwundern, dass die Zahl der von Bernhard geführten Interviews im umgekehrten Verhältnis zum Umfang wissenschaftlicher Studien zu diesem Thema steht. Bislang blieb eine umfassende Auseinandersetzung mit Bernhards Interviews Desiderat der Forschung. In jedem Fall kann man aber bei Thomas Bernhard von einem literarischen Interviewmodus sprechen und somit der Kategorisierung von Volkmar Hansen folgen.14 Das Interview muss demnach als inszenatorische Form der Subjektkonstitution vor einem Publikum verstanden werden und lässt sich in Anlehnung an das literarische Werk in charakteristische Phasen unterteilen, in deren Verlauf der Autor seine öffentlichen Stellungnahmen immer weiter in die Nähe seiner Literatur rückt.15 Vom anfänglich vorwiegend klassisch-informativen FrageAntwort-Interview-Schema mit Ausrichtung auf Informationsvermittlung zu aktuellen Arbeiten, Lebensstil und künstlerischem, bedächtig-kontrolliertem Sprech- bzw. Aussagemodus erarbeitet sich Thomas Bernhard ab den 1970er Jahren den Habitus16 des kritischen Intellektuellen in provokativ-selbstbewusster Pose17 mit entsprechendem Sprechmodus, der in einer hochgradig assoziativen

14 Vgl. Volkmar Hansen, »Das literarische Interview«, in: Andrea Bartl (Hg.), »In Spuren gehen…« Festschrift für Helmut Koopmann, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 461473, hier S. 461. 15 Vgl. zu diesem Problem im Interview Holger Heubner, Das Eckermann-Syndrom. Zur Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Autoreninterviews, Berlin: Logos 2002, hier S. 143 sowie S. 210. 16 Bourdieu beschreibt den Begriff des Habitus im Raum der Lebensstile als »Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem […] dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile.« Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 277f., (Hervorhebung im Original). Jürgensen/Kaiser weisen überdies darauf hin, dass »[h]abituelle Inszenierungspraktiken […] nicht an das Medium der Sprachlichkeit (mündlich/schriftlich) gebunden sein [müssen]«, C. Jürgensen/G. Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 13. 17 Der Begriff Pose ist gleichsetzbar mit der ›posture‹ und bezeichnet bei Bourdieu »die singuläre Weise, eine objektive Position innerhalb eines Feldes zu besetzen, die selbst wiederum durch soziologische Parameter eingegrenzt wird. Es handelt sich also um

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Sprachgestaltung sowie einem starken Performancecharakter mündet.18 Bernhards allgemeine Hinwendung zum Filminterview verdeutlicht, dass die Selbstdarstellung nicht nur auf Paratexte und das gesprochen-verschriftlichte Wort herkömmlicher Presseinterviews beschränkt bleibt, sondern dass zugleich das Einnehmen optisch visualisierbarer Posen zum wesentlichen Bestandteil seiner Inszenierungspraktik wird.19 Man kann von einer vorwiegend habituell geprägten Inszenierungsform im Sinne einer theatralen Performance sprechen. 20 Thomas Bernhard nimmt zu dieser Zeit immer deutlicher die Rolle eines großbürgerlichen Intellektuellen ein, was jenem Figurentypus des Spätwerks entspricht, den der Autor später im Modus der Autofiktion weiterentwickelt.21 Je eine persönliche Art, eine Rolle oder einen Status anzunehmen bzw. innezuhaben: ein Autor erspielt oder erstreitet seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst und seiner postures«, Jérôme Meizoz, »Die posture und das literarische Feld«, in: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.), Text und Feld. Bourdieu in literaturwissenschaftlicher Praxis, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 177-188, hier S. 177, (Hervorhebung im Original). Zur ›posture‹ bei Bernhard vgl. Michael Billenkamp, »Provokation und posture. Thomas Bernhard und die Medienkarriere der Figur Bernhard«, in: Markus Joch et al. (Hg.), Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart, Tübingen: Niemeyer 2009, S. 23-44, hier S. 43. 18 Gemeint ist hier der Inszenierungscharakter im Sinne der Aufführung in Form eines öffentlichen Auftrittes wie es bei einem Interview gegeben ist. Diese Verbindung sei im Sinne Fischer-Lichtes verstanden, die Performance als Paradigma zeitgenössischer Kunst auffasst, »weil in ihr referentielle und performative Funktion in ein neues spannungsvolles Verhältnis zueinander treten«. Erika Fischer-Lichte, »Grenzgänge und Tauschhandel. Auf dem Wege zu einer performativen Kultur«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 277-300, hier S. 293. 19 Dazu lassen sich auch körperbezogen-performative Selbstdarstellungsformen wie Kleidung und äußeres Erscheinungsbild, Mimik, Gestik sowie die Darstellung der alltagsgebräuchlichen Umfelder (z.B. Wohnung, Statussymbole usw.) zählen. Vgl. C. Jürgensen/G. Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 13f. 20 Zur Inszenierung als Erzeugungsstrategie vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 325. 21 Thomas Bernhards Tendenz zur Autofiktion zeichnet sich in der Folge seiner autobiographischen Pentalogie zu Beginn der 1980er Jahre mit dem Drama Über allen Gipfeln ist Ruh’ (1982) und Prosatexten wie Beton (1982), Wittgensteins Neffe (1982), Holzfällen (1984) sowie dem postum 2009 erschienenen, um 1980/81 entstandenen Band Meine Preise ab. Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff Autofikti-

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mehr sich der Autor in die Texte selbst einschreibt, desto deutlicher tritt das Rollenspiel seiner Interviews hervor. Seine Rede formt sich um, vom deskriptiven Paratext zur unterhaltenden Performance; seine Aussagen tendieren dort vielmehr zur Komik und Ironie, die von einer Kunstfigur gleichsam eines Rituals zur Aufrechterhaltung eines Images konstruiert wird.22 Insbesondere im Hinblick auf Bernhards spätere Interviews schwinden rituelle Schemata der Gesprächsform Interview auf der sprach- wie textkonstituierenden Ebene dahin und werden ersetzt durch ein darstellerisches Moment, das selbst wieder ritualisiert daherkommt, nämlich in dem Sinne, als es notwendige Voraussetzung für das Gelingen der Darstellung des Autors Thomas Bernhard ist.23 Jene in den Interviews und öffentlichen Stellungnahmen visualisierte Figur Thomas Bernhard kommt dem Begriff des Dandy24 besonders nahe und erfährt on vgl. Peter Gasser, »Autobiographie und Autofiktion. Einige begriffskritische Bemerkungen«, in: Elio Pellin/Ulrich Weber (Hg.), »all diese fingierten, notierten, in meinem Kopf ungefähr wieder zusammengesetzten Ichs«. Autobiographie und Fiktion, Göttingen: Wallstein 2012, S. 13-27, hier S. 22f. 22 Fischer-Lichte zufolge lassen sich »Theater und Ritual [...] beide als transformative Performanzen begreifen und bestimmen«. Erika Fischer-Lichte, »Theater und Ritual«, in: Christoph Wulf/Jörg Zierfas (Hg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole, München: Fink 2004, S. 279-292, hier S. 279. 23 »Begreift man Rituale vor allem als ›performances‹, so rücken die Aspekte ihrer Handlungs- und Inszenierungsformen in den Mittelpunkt [...]. Rituale werden so nicht mehr als Aufführungen eines psychologischen, sozialen oder religiösen Textes verstanden, sondern als soziale Institutionen mit einem performativen Überschuss, der sich in Dramaturgie und Organisation ritueller Interaktionen und ihrer Effekte, der szenisch-mimetischen Expressivität, dem Aufführungs- und Inszenierungscharakter und dem praktischen Wissen sozialen Handelns zeigt. So lassen sich rituelle Bedeutungen, Funktionen und Formen vor allem im Zusammenhang mit körperlichen Aufführungen, zeitlichen und räumlichen Rahmungen, ritualisierten Interaktionen und nicht nur mit ästhetischen, sondern mit der Wahrnehmung aller Sinne verbundenen aisthetischen Prozessen begreifen. Das Performative fokussiert somit die Momente des Herstellens von Ritualen, ihre Handlungsvollzüge und ihre Dynamiken, die mit den Ritualen verbundenen Materialien und Rahmungen wie auch die Austauschprozesse zwischen Akteuren und Zuschauern.« Christoph Wulf/Jörg Zierfas, »Performative Welten. Einführung in die historischen, systematischen und methodischen Dimensionen des Rituals«, in: dies. (Hg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen, Praktiken, Symbole, München: Fink 2004, S. 7-45, hier S. 29. 24 »Der Begriff des ›Dandy‹ hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England durchgesetzt und bezeichnete zunächst Männer, die einen erhöhten Wert auf ihr äuße-

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eine Entwicklung hin zum sogenannten Verweigerungskünstler.25 So handelt es sich beim »Modell des Dandy um nichts anderes als ein höchst artifizielles wie performatives Konstrukt […], dessen wesentliche Grundeigenschaften (Maskerade, Affektkontrolle, Kostümierung, Redegewandtheit, Verstellungskunst) streng genommen im Bereich der Bühnenkunst zu suchen sind«.26 Die vom Autor erschaffene und zelebrierte Kunstfigur Bernhard, die in den Interviews auftritt, bedient dabei nicht nur die Erwartungen eines Publikums,27 sondern sie inszeniert einmal sich selbst und gleichzeitig die eigene Künstlerautonomie ihres Autors und Erfinders.28 »Die Inszenierungstechnik der Bernhardschen Prosa, die schriftliche Objektivierung der sprachlichen Selbstdarstellung, setzt die Redestrategien der literarischen Figuren der Reflexion und zunehmend […] auch der Selbstreflexion aus. Als elementare Verfahrensres Erscheinungsbild legten, eine möglichst elegante Lebensführung anstrebten und einen geistreich-zynischen Konversationston für sich beanspruchten.« Gregor Schuhen, »Dichter, Dandy, Demagoge. Männlichkeitsentwürfe der Belle Epoque«, in: Marijana Erstic/Gregor Schuhen/Tanja Schwan (Hg.), Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld: transcript 2005, S. 321-360, hier S. 324. 25 Man kann diesen Umstand durchaus mit Goffmans Feststellung der »Ausdruckskontrolle« erfassen, die dieser für das Gelingen eines Selbstdarstellungsaktes voraussetzt; nur so sei die Verlässlichkeit einer »homogenen Darstellung« zu erreichen. Vgl. Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München: Piper 1983, S. 52f. 26 G. Schuhen, Dandy, Dichter, Demagoge, S. 325. 27 Damit entspricht die Selbstinszenierung des Autors der Rückbezüglichkeit auf »in der Öffentlichkeit kursierende Autorbilder«. T. Hoffmann, Das Interview als Kunstwerk, S. 282. 28 »Die Figur des Künstlers wird vor dem Hintergrund eines Wertewandels von Verteilungsgerechtigkeit zu Chancengerechtigkeit […] paradigmatisch. Sie veranschaulicht die Notwendigkeit von Wettbewerb und die Kontingenz von Erfolg. Dieser Erfolg steht gerade in keinem proportionalen Verhältnis zur Qualität der Leistung, sondern erhält einen Überschuss, der einen Künstler gegenüber anderen heraushebt, also im Wortsinn ›exzellent‹ werden lässt. Sein Talent verleiht ihm einen Grad an Überlegenheit, die das gewöhnliche Maß sprengt.« Volker Woltersdorff, »Lebenskünstler als Unternehmer. Über gegenwärtige Diskurse zur Ästhetisierung und Ökonomisierung des Selbst«, in: Gunter Gebauer/Ekkehard König/Jörg Volbers (Hg.), SelbstReflexionen. Performative Perspektiven, München: Fink 2012, S. 179-194, hier S. 185.

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weisen dieser Erlebnisverarbeitung nennt Bernhard die Beobachtungs- bzw. Übertreibungskunst, Wahrnehmungs- und Artikulationstechniken, also, die nicht im Sachbezug, sondern im Personenbezug der Rede fundiert sind.«29

Dieses inszenatorische Konzept30 Bernhards sei hier als ästhetische Duplizität bezeichnet, denn es basiert methodisch auf dem Wiederholungsschema31 der Selbstzitation.32 Stellvertretend für Bernhards Interviewwerk sei in diesem Zusammenhang ein von Krista Fleischmann geführtes TV-Interview von 1984 anlässlich der Beschlagnahme des Romans Holzfällen angeführt. Für die Genese der Kunstfigur Bernhard ist das Medium des Fernsehens für die öffentliche Stellungnahme besonders interessant, handelt es sich dabei doch um ein kulturmediales Phänomen, das besondere Reichweiten und Nähe impliziert,33 die für

29 Robert Vellusig, »Thomas Bernhards Gesprächs-Kunst«, in: Wendelin SchmidtDengler/Adrian Stevens/Fred Wagner (Hg.), Thomas Bernhard. Beiträge zur Fiktion der Postmoderne, Frankfurt a.M.: Lang, S. 25-46, hier S. 43. 30 Inszenierungen seien hier nach Martin Seel verstanden als »absichtsvoll eingeleitete oder ausgeführte sinnliche Prozesse, die vor einem Publikum dargeboten werden und zwar so, dass sich eine auffällige spatiale und temporale Anordnung von Elementen ergibt, die auch ganz anders hätte ausfallen können«. Martin Seel, »Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs«, in: Josef Früchtl/Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 4862, hier S. 51, (Hervorhebung im Original). 31 Wie Sybille Krämer zeigt, ist die Wiederholung das konstitutive Element ursprünglicher Performativa, also das Ritual der »formelhaften Rede«. Vgl. Sybille Krämer, »Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 323-346, hier S. 335. 32 Diese Verbindung sei im Sinne Fischer-Lichtes verstanden, die Performance als Paradigma zeitgenössischer Kunst auffasst, »weil in ihr referentielle und performative Funktion in ein neues spannungsvolles Verhältnis zueinander treten«. E. FischerLichte, Auf dem Wege zu einer performativen Kultur, S. 293. 33 »Durch seine umfassende Implementierung in das Privatleben der Menschen, in den Alltag, wurde das Fernsehen zum zentralen Medium, das wie kein anderes für die Gesellschaft insgesamt steht, so dass der Einzelne, wenn er sich denn mit dem Fernsehen beschäftigt, das Gefühl hat, er koppelt sich jetzt mehr oder weniger direkt an die Gesellschaft und vermittelt sich mit ihr.« Knut Hickethier, »Fernsehen, Rituale und Subjektkonstitution. Ein Kapitel Fernsehtheorie«, in: Kathrin Fahlenbach/Ingrid

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den Autor Thomas Bernhard reizvoll gewesen sein dürften, ihn aber trotzdem nicht von der Pose des Unangreif- bzw. Unnahbaren abbrachten. Im Stile der intertextuellen Aufnahme des Begriffes »Erregung« (Untertitel des Romans), erklärt Bernhard als selbstreflexive Kunstfigur die Bedeutung seiner Autorschaft und konstruiert diese als Folie für sein literarisches Werk: »Erregung ist ja ein angenehmer Zustand, bringt das lahme Blut in Gang, pulsiert, macht lebendig und macht dann Bücher. Ohne Erregung is gar nix, da können S’ gleich im Bett liegen bleiben. Im Bett is ja auch nur ein Spaß, wenn Sie sich erregen, nicht, und im Buch is genauso. Ist ja auch eine Art Geschlechtsverkehr, ein Buch schreiben, viel bequemer als früher, wo man das wirklich natürlich ausg’führt hat, ist ja viel angenehmer ein Buch zu schreiben als mit jemand ins Bett zu gehen.«34

Wo der intertextuelle Rahmen in Bernhards Ausführungen schließlich endet, ist dessen Spiel mit den Rezipienten noch nicht vorbei. Auf die Frage, was dem Autor die Stadt Wien bedeute, die er in seinem Buch als »Geistesvernichtungsanstalt« tituliere, antwortet Bernhard: »Na, Wien ist, wie da drinnen steht, eben eine Kunstmühle oder die größte Kunstmühle der Welt«; 35 er bestreitet nicht, dass seine Worte im Buch ident zu setzen sind mit der eigenen Meinung und verleiht dem Geschriebenen damit den Duktus ihres Autors Thomas Bernhard, was in der Folge immer wieder zum Problem für die Beschäftigung mit dem Werk wurde. Denn so sehr Bernhard auch darauf insistiert, die Figuren aus Holzfällen »sollen sich ja wiedererkennen, obwohl sie alle andere Namen haben«,36 so beruft er sich zum Zwecke des Selbstschutzes auf die Tatsache, mit diesem Buch ein künstlerisches Werk geschaffen zu haben. Gegenüber seinem Verleger Siegfried Unseld äußert er in einem Brief: »›Holzfällen‹ ist mein Versuch, in meiner Kunst weiter zu kommen, nichts anderes.«37 Durch diese Zurücknahme und den Verweis auf das Kunstwerk nivelliert der Autor gleichsam den Anspruch der Massenmedien, die Abbildung von Realität

Brück/Anne Bartsch (Hg.), Medienrituale. Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und Neuen Medien, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 47-57, hier S. 49. 34 Krista Fleischmann, Thomas Bernhard. Eine Begegnung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 97f. 35 Ebd., S. 98, (Hervorhebung im Original). 36 Ebd., S. 94, (Hervorhebung im Original). 37 Thomas Bernhard/Siegfried Unseld, Briefwechsel, hg. von Raimund Fellinger, Martin Huber u. Julia Ketterer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 703.

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zu gewährleisten.38 Gleichzeitig verweigert sich der Autor damit einer kritischen Verantwortung und vermittelt den Ausdruck seines Unabhängigkeitsstrebens im literarischen Feld. Überdies vollzieht Bernhard auf diese Weise die Distanzierung vom eigenen Schriftstellerimage, wie er es sogar in seinem literarischen Werk vornimmt.39 Wie in seinen literarischen Texten schafft Thomas Bernhard damit einen unverwechselbaren Stil,40 der seinen Sound so unverkennbar macht. Neben formal-stilistischen Aspekten dienen Bernhard auch thematische Bezugnahmen zu seiner Literatur dazu, die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zusehends zu verwischen. Besonders deutlich zeigt sich das Bernhardsche Konstruktionsschema von Texten in der Anwendung eines Ambivalenzprinzips, bei welchem das Einerseits gegen das Andererseits abgewogen wird und somit die Grenznivellierung als Höhepunkt einer thematischen Auseinandersetzung eine Positionsbestimmung unmöglich werden lässt.41 Im Holzfällen-Interview sagt der Autor

38 Vgl. Thorsten Benkel, Inszenierte Wirklichkeiten. Erfahrung, Realität, Konstitution von Konformität, Stuttgart: ibidem 2003, S. 21f. 39 Vgl. Nina Birkner, Vom Genius zum Medienästheten. Modelle des Künstlerdramas im 20. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 2009, S. 245ff. 40 Stil sei hier mit Soeffner wie folgt verstanden: »Aus interaktionstheoretischer Sicht verstehe ich unter einem bestimmten historischen Stil eine beobachtbare (Selbst-) Präsentation von Personen, Gruppen oder Gesellschaften. Stil als eine spezifische Präsentation kennzeichnet und manifestiert die Zugehörigkeit eines Individuums nicht nur zu einer Gruppe oder Gemeinschaft, sondern auch zu einem bestimmten Habitus und einer Lebensform, denen sich diese Gruppen oder Gemeinschaften verpflichtet fühlen. Ein Stil ist Teil eines umfassenden Systems von Zeichen, Symbolen und Verweisungen für soziale Orientierung: Er ist Ausdruck, Instrument und Ergebnis sozialer Orientierung. Dementsprechend zeigt der Stil eines Individuums nicht nur an, wer ›wer‹ oder ›was‹ ist, sondern auch, wer ›wer‹ für wen in welcher Situation ist. Und Stil von Texten, Gebäuden, Kleidung, Kunstwerken zeigt nicht nur an, was etwas ist, oder wohin es zugeordnet werden kann, sondern auch, was etwas für wen und zu welcher Zeit ist und ›sein will‹.« Hans-Georg Soeffner, Die Ordnung der Rituale. Die Auslegung des Alltags 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1992, S. 78. 41 Wendelin Schmidt-Dengler spricht in diesem Zusammenhang von einer Unbelangbarkeit durch die Literaturwissenschaft und von Umspringbildern, die zwischen zwei Polen oszillieren und je nach Betrachtung mal die eine oder andere Seite beleuchten, aber eine eindeutige Stellungnahme nicht zulassen. Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler, »›Komödientragödien‹. Zum dramatischen Spätwerk Thomas Bernhards«, in: Franz

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zum Problem der Gegensätze: »Na ja, aus denen existiert man ja, und ein Buch existiert ja auch nur aus Gegensätzen.«42 Schreiben ist für Bernhard – wie er es in seiner autobiografischen Pentalogie am deutlichsten selbstbezogen entwirft – nicht nur Lebensnotwendigkeit, sondern Produkt eines Prozesses, der aus Gegensätzen konstruiert ist.43 Die Überformung der Aussagewirklichkeit funktioniert demzufolge sowohl thematisch als auch formal, wenn sich etwa keine stringenten narrativen Strukturen mehr ausmachen lassen und das Frage-Antwort-Prinzip des Interviews gänzlich negiert respektive ins Gegenteil verkehrt wird: jene kurzen Erzählpassagen haben vorwiegend elliptische Strukturen, die nicht selten in Selbstrelativierung oder Rücknahme des Gesagten sowie im plakativen ›Blödeln‹ enden. All dies deutet darauf hin, dass es dem Autor in seinen öffentlichen Stellungnahmen keineswegs darum ging, sich selbst respektive sein Werk zu erklären, sondern diesem Modus der Selbstreflexion nur scheinbar zu entsprechen. Im Spiel mit dem Publikum bedient der Autor Thomas Bernhard auch jene, die sich an seinen Provokationen selbst stören, wie sich an den bereits erwähnten Leserbriefen verdeutlichen lässt, die als direkte Antwort des Autors und Kunstwerk in einem fungieren.

III. L ESERBRIEFSCHREIBER UND V ERWEIGERUNGSKÜNSTLER Stellvertretend für die vielen gerichtlichen Auseinandersetzungen,44 die der Autor mit seinem Werk provozierte, sei erneut das Beispiel Holzfällen angeführt, dessen Skandal sich über sechs Monate hinzog, so dass Bernhard schließlich öffentlich bekannte, er könne sich mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand »derartige erniedrigende und entwürdigende Prozesse, die in keinem anderen Staat Mitteleuropas möglich wären, nicht mehr gestatten«.45 Hier geht es demzu-

Gebesmair (Hg.), Bernhard-Tage Ohlsdorf 1994, Weitra: Bibliothek der Provinz 1994, S. 74-98, hier S. 79. 42 K. Fleischmann, Thomas Bernhard, S. 97. 43 Vgl. dazu Alexandra Ludewig, Großvaterland. Thomas Bernhards Schriftstellergenese dargestellt anhand seiner (Auto)Biographie, Frankfurt a.M. u.a.: Lang 1999, S. 60. 44 Den ersten Prozess wegen Ehrenbeleidigung musste der Autor 1956 infolge seines Essays »Salzburg wartet auf ein Theaterstück« ausstehen. Zur Chronologie vgl. Thomas Bernhard, Der Wahrheit auf der Spur, Berlin: Suhrkamp 2010. 45 Ebd., S. 225.

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folge um die konkrete Bedrohung eines kranken Autors, dessen literarisches Werk durch fehlerhafte Interpretation von Rezensenten und Publikum schließlich vom Kunstwerk zum Störfaktor – und das nicht nur für die Gesellschaft, sondern den Autor selbst – geworden ist. In einem Leserbrief stellt sich Thomas Bernhard als Vater und Anwalt seines Werkes dar und generiert seine Autorschaft in der Abbildung eines Autonomie anstrebenden Autorsubjekts. Interessant ist dabei Bernhards dramaturgisches Kalkül beim Aufbau des Textes, bei welchem sehr präzise die Positionen des Autors und seiner Ankläger gegeneinander abgegrenzt werden. Während Thomas Bernhard die Stellungnahme mit »Ich weiß« beginnt und mit »Ich finde« enden lässt, nimmt er dieses personenbezogene Ich in der Mitte seines Textes konsequent zurück und schreibt »der Autor«. Dies impliziert einerseits eine potenzielle Abgrenzung seiner Person mit dem Urheber des literarischen Werkes, weil dieses Vorgehen wie eine fiktionale Geschichte erscheint, zum Anderen stärkt diese Rücknahme des Ichs und dessen bewusst an markanten Stellen zum Einsatz gebrachte Nennung die Position Bernhards als autonomer und gleichsam missverstandener Künstler. In diesem gerichtsplädoyerartigen Leserbrief schildert Bernhard seine Sicht auf die Ereignisse der Beschlagnahme seines Romans und bildet seine Bedrängnis als Autor auch in der Konstruktion des Textes ab, indem zwei mit »Der Autor« beginnende Absätze jeweils durch zwei davorliegende mit »Das Gericht« beginnende und zwei nachfolgende mit »Herr Haider« eingeleitete Absätze – und damit der Autor – regelrecht eingerahmt und zur Ohnmacht stilisiert sind. Durch das Oszillieren zwischen der Kunstfigur, die sich selbstbewusst äußert, und der Autorfigur dieser im Leserbrief integrierten Erzählung erreicht Thomas Bernhard strukturell wie figural die Auflösung und Neuordnung seiner Autorschaft, indem er sich sowohl distanziert als auch identifiziert und so die stetige Ambivalenz von Dasein und Welt thematisiert. Bernhards Selbstlegitimation und Positionierungsgrundlage ist stets das eigene Schreiben.46 Das Sein als Autor wird bestimmt durch das Schreiben, ebenso wie das Überleben. So funktionieren natürlich die Leserbriefe unter der Prämisse des Kommentars per se als Legitimationsschrift für Positionen und Aussagen Bernhards, die außerhalb aber stets im Dialog mit der Literatur von ihm getroffen werden. Es sei jener produktiven Form »der Gleichzeitigkeit und Gleichgültigkeit von Lüge und Wahrheit, Tragödie und Komödie, Fiktion und Wirklichkeit zu verdanken,

46 Vgl. Willi Huntemann, Artistik und Rollenspiel. Das System Thomas Bernhard, Würzburg: Königshausen & Neumann 1990, S. 227.

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daß Bernhard zu einem Inbegriff des österreichischen Dichters geworden ist.«47 Schließlich mündet Bernhards totale Verweigerungshaltung, die ihn als Künstler wie auch als Privatperson scheinbar unangreifbar macht, in die konsequente Umsetzung der Rolle des Altersnarren im Interview wie auch im Leserbrief, die ihre Entsprechung in zahlreichen Figuren der literarischen Texte findet und jene Polemiken des Spätwerks sogar vorwegnimmt. Die Unbelangbarkeit des Autors zeigt sich dann in der Ästhetisierung eines figuralen Autorsubjekts, dessen Sprechweisen denen seiner Figuren zum Verwechseln ähnlich sind. Thomas Bernhards Subjektivierungspraxis als Autor kann daher am ehesten mit dem Begriff des poeta doctus umschrieben werden, wie ihn Rolf Selbmann gefasst hat, als »den souverän alle Register seiner rhetorischen Kunst ziehenden Bildungsdichter, gleichermaßen angesehen durch Gelehrsamkeit wie Traditionsbewahrung«, der gleichzeitig »als Wortjongleur, literarischer Taschenspieler oder Illusionskünstler« 48 agiert. Die Ich-Werdung seiner Autobiographie vervollständigt Bernhard schließlich spielerisch in einem autofiktionalen Modus des Spätwerkes. Dort, wo die zeitgenössische Philosophie mit Weber, Adorno und Foucault das Subjekt in der Krise beschreibt, schafft Thomas Bernhard mit seiner Kunstfigur eine produktive Form der Autorsubjektivierung und Selbstdarstellung. Seinen darin formulierten Absolutheitsanspruch als authentischer Autor, der in seinen Figuren lebt, oder diese in ihm, artikulierte er schon 1967 in seinem Essay »Unsterblichkeit ist unmöglich«: »Ich hatte immer die Wahl alles aus mir zu machen, woraus schließlich das geworden ist, was ich vorläufig bin. […] Ich hätte den Weg des Fleischhauers oder den Weg des Sägewerkers oder den Weg des Pfarrers oder den Weg des gemeinen Verbrechers gehen können […], aber nichts davon, leider, ich bin alles zusammen, mehr oder weniger theoretisch die Spekulation selbst, daß ich alle und alles bin.«49

Vor dem Hintergrund dieses bereits im Frühwerk eingeführten Stilisierungsmomentes erschließt sich die langfristig organisierte und subtil verfeinerte Subjektivierungspraxis des Autors Thomas Bernhard als literarisch-ästhetisches Verfah-

47 Wolfram Bayer, »Das Gedruckte und das Tatsächliche. Realität und Fiktion in Bernhards Leserbriefen«, in: ders. (Hg.), Kontinent Bernhard. Zur Thomas-BernhardRezeption in Europa, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 1995, S. 58-79, hier S. 77. 48 Rolf Selbmann, Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 253. 49 T. Bernhard, Der Wahrheit auf der Spur, S. 47, (Hervorhebung im Original).

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ren der spielerischen Selbstdarstellung in Form eines autofiktionalen Konstruktionsschemas im dichterischen wie medial-öffentlichen Werk. Erst in der Gesamtbetrachtung dieser Ichwerdung als dichterischem Selbstentwurf lässt sich ein poetologischer Eindruck von Thomas Bernhards Selbstverständnis als Autor gewinnen. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die Forschung diesem Aspekt zukünftig Rechnung trägt.

»Vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Geschichten das, was man einen künstlerischen Einfall nennt. Hoffentlich.« Jurek Becker zwischen Autorschaft und Zeitzeugenschaft M IRIAM R UNGE

I. E INLEITUNG : Z WISCHEN AUTORSCHAFT UND Z EITZEUGENSCHAFT Im Zentrum des von der Kamera eingefangenen Bildes befindet sich als erstes der Autor am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, links und rechts die gut gefüllten Bücherregale. Dann blickt ihm die Kamera über die Schulter, während er sich hochkonzentriert seinem Schreiben widmet. Es folgt die Reflexion des eigenen Schreibprozesses, die Anknüpfung an und Auseinandersetzung mit verschiedene(n) virulente(n) Autorschaftskonzepte(n)1 und die explizite Selbst1

Erstens rekurriert Becker mit seiner Vorstellung von einer (begrenzten) Anzahl an Geschichten, die dem Autor innewohnt, auf die Rolle der Inspiration und berührt damit eines der drei »Kräftefelder«, die Rolf Selbmann in seinem »typologische[n] Raster des dichterischen Selbstverständnisses« (Rolf Selbmann, Dichterberuf. Zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994, S. 252) beschreibt. Zweitens stellt Becker dezidiert eine Verbindung zwischen seinem Schreiben und dem GelesenWerden seiner Bücher her, artikuliert somit seine »Ausrichtung auf das Publikum«, die Rolf Selbmann als ein zweites »Kräftefeld« identifiziert. Schließlich setzt sich Becker drittens mit dem nach Sabine Kyora im aktuellen Literaturbetrieb machtvollsten Dichterbild, dem ästhetisch-autonomen Autor (vgl. Sabine Kyora, »›Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur‹. Praxeologische Perspektiven auf

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bezeichnung als Schriftsteller. Dabei zeugen auch der zurückhaltende Kleidungsstil – schlichter Pullover, Armbanduhr  und der Zoom der Kamera auf das Gesicht von einer Reduktion der Person Jurek Becker auf deren Schreib- und Sprechprozess. Dieser erscheint als professionell organisiert und insbesondere auf Grund der eher zögerlichen Prosodie Beckers als intellektuelle Angelegenheit. Damit ›praktiziert‹ Jurek Becker in dieser Anfangssequenz der 1991 von N3 ausgestrahlten TV-Reportage Nach der ersten Zukunft2 beinahe prototypisch die Subjektform ›Autor‹, wie sie Sabine Kyora in einem Beitrag zu »[p]raxeologische[n] Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft« mit Blick auf »deutschsprachige Gegenwartsautoren, die sich innerhalb der Hochliteratur positionieren wollen«,3 beschreibt.4 In einem zweiten Schritt wird diese Inszenierung des Autors Jurek Becker in der TV-Reportage abrupt abgelöst. Der Präsentation des Autors Jurek Becker folgt nach einem harten Schnitt die visuelle und akustische Inszenierung des Holocaust: Gezeigt werden typische Bilder von Konzentrationslagern wie Verbrennungsöfen und Leichenberge. Begleitet wird diese Bilder-Schau durch eine Stimme aus dem Off, deren Sprecher als traumatisierter Überlebender eines Konzentrationslagers erscheint, der einem mit »Du« angesprochenen Adressaten von seinem Leid berichtet. Er tritt als moralischer Zeuge auf, wie ihn Aleida Assmann in Anlehnung an Avishai Margalit als Sonderfall des Zeitzeugen definiert hat: »Absolut entscheidend für den moralischen Zeugen ist nach Margalit die Personalunion von Opfer und Zeuge: er und sie haben das Verbrechen, das sie bezeugen, am eigenen Leibe erfahren. Da sie ungeschützt und unmittelbar der Gewalt ausgesetzt waren, hat sie sich in ihre Körper und Seelen eingeschrieben. […] Die Wahrheit und Autorität dieses Zeugnisses liegt allein in der Teilhabe am Trauma des Holocaust durch eine unmittelbare und unveräußerliche körperliche Erfahrung von Gewalt. […] Indem der Zeuge und die Zeugin für ihr Zeugnis außerhalb des Gerichts Gehör finden, bringen sie performativ und

Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft«, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hg.), Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive, Bielefeld: transcript 2013, S. 247-270, hier S. 253f.), auseinander, indem er sich von der darin tradierten Vorstellung, dass ein Autor ohne zu schreiben nicht existieren könne, abgrenzt. 2

NACH DER ERSTEN ZUKUNFT (N3 19.05.1991, Regie: Jan Franksen).

3

S. Kyora, Autorinszenierungen, S. 250.

4

Vgl. ebd., S. 250ff.

JUREK BECKER ZWISCHEN AUTORSCHAFT UND ZEITZEUGENSCHAFT

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interaktiv eine moralische Gemeinschaft hervor, die selbst keine feste Gestalt oder Institution hat.«5

Was hat nun dieser Zeitzeuge mit dem Autor Jurek Becker zu tun? Die Verbindung entpuppt sich als komplexe Inszenierung. Am Anfang steht der Verweis auf den (fotografierten) Vater Max Becker, der als Jude tatsächlich Ghetto- und KZ-Aufenthalte überlebt hat. Die Montage der Filmsequenz erweckt den Eindruck, als sei er der Sprecher aus dem Off, der moralische Zeuge. Jurek Beckers Beziehung zum Holocaust erscheint somit erstens als eine familiäre. Bei dem Text, den die Stimme aus dem Off spricht, handelt es sich tatsächlich aber nicht um ein Zitat Max Beckers, sondern um eine Aussage des Protagonisten in Jurek Beckers Roman Der Boxer (1976), der Vaterfigur Aron Blank. Die Reportage von Jan Franksen rekurriert somit zweitens auf den Holocaust als ein zentrales Thema des literarischen Œuvres Beckers, lässt dabei aber die Grenze zwischen dem autobiographischem Hintergrund Beckers einerseits und seinem literarischen Werk, das den Holocaust thematisiert, andererseits verwischen. Das literarische Werk wird so zum Zeitzeugenbericht. Der Autor rückt in die Nähe des Zeitzeugen. 1. Herausforderungen des Autors durch den Zeitzeugen: Weitere Beispiele Jurek Becker erscheint in seiner öffentlichen Selbst- und Fremdinszenierung nicht nur auf Grund der in der Filmsequenz thematisierten Erfahrung seines Vaters beziehungsweise seiner Eltern oder wegen der Thematik seiner Werke als Akteur innerhalb des Zeitzeugendiskurses, als dessen zentrales Paradigma der Holocaust gelten kann,6 sondern auch, weil er selbst, geboren 1937 als Kind jüdischer Eltern in Lodz, Ghetto und KZ überlebt hat. Dass der ›Fall‹ Jurek Becker als exemplarisch für die Interaktion zwischen zwei verschiedenen kulturell verfestigten Subjektformen gelten kann, zeigt ein kurzer Blick auf drei andere Akteure des literarischen Feldes, die in einem ähnlichen biographischen Verhältnis zum Judenmord stehen wie Jurek Becker und neben ihrem Autorenrespektive Kritikerstatus zugleich als »Mittler zwischen der Welt der Vergan-

5

Aleida Assmann, »Vier Grundtypen von Zeugenschaft«, in: Michael Elm/Gottfried Kößler (Hg.), Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und Ermittlung, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007, S. 33-51, hier S. 44f.

6

Vgl. ebd., S. 34.

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genheit und der Gegenwart«7 agieren. So hielt der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zu Beginn des Jahres 2012 im Deutschen Bundestag die Gedenkrede für die Opfer des Nationalsozialismus. Er äußerte dort einleitend, dass er nicht als Historiker hier spreche, sondern »als ein Zeitzeuge, genauer: als Überlebender des Warschauer Ghettos«.8 Auch der Literaturnobelpreisträger Imre Kertész positioniert sich im November 2009 in einem Interview mit der Zeitung Die Welt in einem Spannungsfeld zwischen Autorschaft und Zeitzeugenschaft, wenn er auf die Frage nach seiner Beziehung zum Judentum und nach seinen Texten, die den Holocaust behandeln, folgendes antwortet: »Ich habe über den Holocaust geschrieben, weil ich diese einzigartige Erfahrung, diese für das 20. Jahrhundert so zentrale Erfahrung machen musste, machen konnte – weil ich in Auschwitz war und in Buchenwald. Bedenken Sie: was für ein Kapitel! Aber ich habe keine Holocaust-Literatur geschrieben! Ich bin ein professioneller Schriftsteller. Ich habe mich an jedem gelungenen Satz, an jedem treffenden Wort gefreut, das mir geglückt ist. Mein Ehrgeiz war immer und vor allem anderen ein künstlerischer.«9

In eine ähnliche Diskussion wurde auch Edgar Hilsenrath in einem SpiegelInterview im April 2005 verwickelt, in dem es u.a. um seinen ›HolocaustRoman‹ Nacht ging: »SPIEGEL: […] War Ihnen von Anfang an klar, dass Sie ein literarisches und kein dokumentarisches Buch schreiben wollten? Hilsenrath: Ja, ich wollte ein literarisches Werk schaffen. Ich hatte schon mit 14 Jahren beschlossen, Schriftsteller zu werden.

7

Martin Sabrow, »Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten«, in: ders./Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen: Wallstein 2012, S. 13-32, hier S. 25.

8

Marcel Reich-Ranicki, »[Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag]«, http://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/ 2012/37432080_kw04_gedenkstunde/rede_ranicki.html, Zugriff 13.02.2013.

9

Tilmann Krause, »›Ich schreibe keine Holocaust-Literatur. Ich schreibe Romane.‹ Ein Gespräch mit dem Literaturnobel- und WELT-Preisträger Imre Kertész über seine Wahlheimat Berlin, seine Auffassung von Autorschaft und seine Erfahrungen mit dem Totalitarismus«,

in:

Welt

online,

http://www.welt.de/welt_print/kultur/literatur

/article5116030/Ich-schreibe-keineHolocaust-Literatur-ich-schreibe-Romane.html, Zugriff: 13.02.2013.

JUREK BECKER ZWISCHEN AUTORSCHAFT UND ZEITZEUGENSCHAFT

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SPIEGEL: Hat das Ghetto, das Sie in ›Nacht‹ schildern, Ähnlichkeit mit jenem, dass Sie selbst erlebt haben, in Mogiljow-Podolski in der Sowjet-Ukraine? Hilsenrath: Es ist eigentlich dasselbe Ghetto, nur unter anderem Namen. SPIEGEL: Tatsächlich? In Ihrem autobiographischen Roman ›Die Abenteuer des Ruben Jablonski‹ gewinnt man eher den Eindruck, dass Sie und Ihre Familie zur privilegierten Schicht im Ghetto zählten. Hilsenrath: Stimmt. Ich habe nie so gelebt wie die Gestalten in meiner ›Nacht‹.«10

Auch wenn Hilsenrath sich zunächst – ähnlich eindeutig wie Kertész – als Autor literarischer Texte zu positionieren versucht, agiert er im weiteren Verlauf des Interviews beinahe ausschließlich als Zeitzeugen-Subjekt. Auch von den beiden Spiegel-Interviewern Martin Doerry und Volker Hage wird er primär als solches anerkannt, wie deren zitierte beinahe investigative Fragen nach seiner persönlichen Biographie zeigen. Darüber hinaus exponiert vor allem der plakative Titel des Interviews – Schuldig, weil ich überlebte – ein typisches Fragment von Zeitzeugen-Berichten.11 2. Im Fokus: Der Autor Jurek Becker als Zeitzeuge des Holocaust Während die Interviewpassagen mit Kertesz und Hilsenrath verdeutlichen, dass die Vorstellung von einer autobiographisch begründeten moralischen Zeugenschaft sowohl als Potenzial wie auch als Bedrohung eines Autor-Subjekts fungieren kann (vgl. Abschnitt II), verdeutlicht der Auftritt Reich-Ranickis im Bundestag die Relevanz des institutionellen Kontextes für die Interaktion der beiden Subjektformen ›Autor‹ und ›Zeitzeuge‹ (vgl. Abschnitt III). Ausgehend von diesen eher fragmentarischen Beobachtungen möchte ich im Folgenden am Beispiel Jurek Becker differenzierter herausarbeiten, wie sich in dessen öffentlicher Präsentation Autorschaft und Zeitzeugenschaft zueinander verhalten. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem die öffentlichen Auftritte und Aussagen Jurek Beckers, die entweder im Kontext der Veröffentlichung der drei ›Holo10 Martin Doerry/Volker Hage, »Spiegel-Gespräch. ›Schuldig, weil ich überlebte‹. Der jüdische Autor Edgar Hilsenrath über seine Jahre im Ghetto, den Beruf des Schriftstellers und seinen neuaufgelegten Roman über das Massaker an den Armeniern«, in: DER SPIEGEL vom 11.04.2005. 11 Vgl. Sabine Kyora, »Der Skandal um die richtige Identität. Binjamin Wilkomirski und das Authentizitätsgebot in der Holocaust-Literatur«, in: Johann Holzner/Stefan Neuhaus (Hg.), Literatur als Skandal. Fälle – Funktionen – Folgen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 624-631, hier S. 629.

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caust-Romane‹ Beckers, Jakob der Lügner (1969), Der Boxer (1976) und Bronsteins Kinder (1986), zu verorten sind oder in denen Becker selbst und/oder sein Gegenüber Bezug nehmen auf dessen eigene Erfahrung mit Judenverfolgung und Judenmord.12 Im Zentrum stehen dabei neben essayistischen Äußerungen vor allem Interviews von Becker, da es sich hierbei nicht nur um eine für die Konstitution von Autorschaft zentrale Praktik handelt, sondern weil das Interview, wie Martin Sabrow herausstellt, auch mit Blick auf die öffentliche Inszenierung von Zeitzeugenschaft »allen anderen Genres des Selbstzeugnisses seit den 1980er Jahren den medialen Rang abgelaufen«13 hat. Die Unterschiede und Interaktionen zwischen beiden Subjektformen manifestieren sich dabei vor allem im Bereich der selbstreferentiellen Praktiken, also in den artikulierten Selbstreflexionen Jurek Beckers, die daher im Fokus der Überlegungen stehen werden. 14

12 Damit ist vor allem eine zentrale Einschränkung verbunden: Ich fokussiere im Folgenden, wenn es um Jurek Becker als Zeitzeugen geht, sein biographisches Verhältnis zum Holocaust. Diese Beschränkung ist der Beobachtung geschuldet, dass der wissenschaftliche Zeitzeugen-Diskurs zu diesem historischen Ereigniskomplex sicherlich als der am intensivsten geführte gelten kann. Dass Becker vor allem zwischen dem Ende der 1970er Jahre, also seit seinem Umzug nach West-Berlin, und der deutschen Wiedervereinigung im öffentlichen Raum mindestens ebenso als Zeuge für das gegenwärtige und historische Geschehen in der DDR agierte und anerkannt wurde, sei dadurch nicht bestritten. 13 M. Sabrow, Zeitzeuge, S. 25. 14 Zu den verschiedenen Arten von Praktiken, die an Subjektivierungsprozessen beteiligt sein können vgl. Andreas Reckwitz, Subjekt. 2. Auflage, Bielefeld: transcript 2010, S. 136f. Andreas Reckwitz betont hier, dass die in diesem Vortrag im Zentrum stehende Analyse der »Hermeneutik des Selbst«, die den Bereich der Identitätsreflexionen umfasse, einen »sehr begrenzten Teil der gesamten Subjektform« (ebd., S. 137) ausmache. Dass ich mich im Folgenden dennoch auf diese konzentriere, resultiert daraus, dass sich Autor und Zeitzeuge in den ausgewerteten Vis-à-vis-Interviews ausschließlich durch das gesprochene Wort unterscheiden. Vor allem mit Blick auf die audiovisuell präsentierten Interviews Jurek Beckers lässt sich beobachten, dass hier durchweg die oben bereits beschriebene Zurückgenommenheit des Autor-Subjekts zu sehen ist, wobei Körperbewegungen, Kleidungsstil und Sprachverwendung kaum variieren. Körperlich artikulierte Affektstrukturen wie »das brüchige Verstummen, die verstohlen aus dem Auge gewischte Träne und die zusammengepressten Lippen« (M. Sabrow, Zeitzeuge, S. 25), die als typisch für den moralischen Zeugen des Holocaust gelten können, zeigen sich nicht.

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II. AUTOR -S UBJEKT UND Z EITZEUGEN -S UBJEKT IN I NTERAKTION ( EN ) »Vielleicht ist der Unterschied zwischen beiden Geschichten das, was man einen künstlerischen Einfall nennt. Hoffentlich.«15

Die bereits im Titel dieses Aufsatzes zitierte Aussage tätigte Jurek Becker (erstmals) 1974 in der Betriebszeitung der DEFA, in der er sich zur Entstehung seines erfolgreichen Debütromans Jakob der Lügner äußerte.16 Er beschreibt in dieser beinahe anekdotischen Schilderung, wie sein Vater, der seinen Sohn habe »notgedrungen als so eine Art Schriftsteller akzeptieren« müssen, da mittlerweile in »meinem Ausweis unter der Rubrik ›Beruf‹ das gewichtige Wort ›Autor‹ stand«, ihn zum Schreiben einer ›richtigen‹ Geschichte ermuntern wollte. Max Becker habe ihm die Geschichte eines ihm bekannten Mannes erzählt, der während des Krieges im Ghetto ein Radio versteckt gehalten und die GhettoBewohner mit Nachrichten versorgt habe; aus der Perspektive der Gestapo ein Vergehen, für das er schließlich mit dem Tod bestraft worden sei. Dem Wunsch des Vaters, die Geschichte dieses Mannes zu erzählen, mochte Jurek Becker nicht folgen, »[d]enn die Geschichte kam mir weder originell vor noch neuartig […]. Ich vergaß sie schnell.« Dafür fiel ihm – nach eigener Aussage – »Jahre später« die Geschichte ein, die als Roman unter dem Titel Jakob der Lügner bekannt geworden ist. Hierin verbreitet der Jude Jakob Heym in einem Ghetto Radio-Nachrichten von den sich nähernden russischen Befreiern, um so unter den Ghetto-Bewohnern Hoffnung zu verbreiten. Dies gelingt: Die Selbstmordrate geht gen Null; nur: in dieser Geschichte existiert das Radio nicht. Es ist, wie die von Jakob Heym verbreiteten Geschichten über den Vormarsch der Sowjetarmee, eine – nicht ganz freiwillige  Erfindung des ›Lügners‹ Jakob.

15 Dieses und die folgenden Zitate sind entnommen aus: Jurek Becker, »Wie es zu ›Jakob dem Lügner‹ kam. Artikel für die Betriebszeitung der DEFA, 12/1974, Typoskript, 2 Bl.«, in: Karin Kiwus (Hg.), »wenn ich auf mein bisheriges zurückblicke, dann muß ich leider sagen.« Jurek Becker 1937-1997. Dokumente zu Leben und Werk aus dem Jurek-Becker-Archiv, Berlin: Akademie der Künste o.J., S. 81-82, hier S. 82. 16 Vgl. ähnlich auch Karl Corino, »Deprimieren ist für mich kein Schreibmotiv.« Ein Gespräch mit dem Romancier und Filmautor Jurek Becker. Interview für den Hessischen Rundfunk, Januar 1974 (Interview-Manuskript; =AdK, Berlin, Jurek-BeckerArchiv, Nr. 112); Heinz Ludwig Arnold, »Gespräch mit Jurek Becker«, in: Text+Kritik 116 (1992), S. 4-14; und NACH DER ERSTEN ZUKUNFT, 1991.

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In der beinahe anekdotischen Schilderung der Entstehungsgeschichte seines Debütromans etabliert Jurek Becker zunächst eine dichotome Struktur: Auf der einen Seite befindet sich Max Becker, der das Schreiben seines Sohnes als ein Medium der historischen (Zeit-)Zeugenschaft versteht. Dieser Vorstellung steht auf der anderen Seite der originelle Schriftsteller Jurek Becker mit seinem »künstlerischen Einfall« gegenüber. Eine solch antagonistische Frontstellung wird aber durch ein einziges Wort, das hier einen ganzen Satz für sich beansprucht, relativiert: »Hoffentlich.« Dieses »hoffentlich« lese ich als Symptom eines Spannungsfeldes, in dem das Autorsubjekt Jurek Becker zu verstehen ist: Einerseits etabliert es sich, vor allem mit seinem Roman-Debüt, als Schriftsteller, der (nicht nur) in seinen Romanen die erzählten Geschichten als Geschichten, mithin ihren Fiktionscharakter ausstellt.17 Andererseits wird er in Interviews – ähnlich wie Kertesz und Hilsenrath  wiederholt gerade nach dem Authentizitätsgehalt, den autobiographischen Komponenten seiner Werke befragt. 18 Das Autor-Subjekt ist so zur Interaktion mit dem Zeitzeugen-Subjekt aufgefordert. 1. Autor versus Zeitzeuge: Phantasie, Recherche, Philosophieren als ›anti-biographische‹ Schreibverfahren Vor allem in seinen Äußerungen zu seinem Debüt-Roman in der ersten Hälfte der 1970er Jahre lässt sich bei Jurek Becker eine Abwehr autobiographischer Deutungen beobachten. Ausgangspunkt für die damit implizierte Zurückweisung des Zeitzeugen-Status durch den Autor ist seine oft wiederholte Behauptung, keinerlei Erinnerungen an seine Zeit im Ghetto in Lodz sowie an seine Aufenthalte in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Sachsenhausen zu haben.19 Indem er den Rückgriff auf eigene Erinnerungen und Erfahrungen als ihm unmöglich inszeniert, grenzt er sein(e) Werk(e) strikt vom Zeitzeugenbericht ab. Stattdessen konstituiert sich Becker als Autor, indem er verschiedene virulente Dichterbilder aufruft: »Vielleicht meinen Sie, welchen Einfluß die Erlebnisse meiner Jugend auf meine Themenwahl gehabt haben. Das ist eine ganz andere Frage. Ich weiß es nicht. Was Sie im Jakob der Lügner gelesen haben, ist weder das Resultat von Erlebnissen, noch das Resultat 17 Vgl. AUTOR SCOOTER (N3 13.02.1978, Red.: Jürgen Tomm et al; Mitschnitt einer TV-Sendung; =AdK, Berlin, AVM, Nr. 33.1254). 18 Vgl. exemplarisch K. Corino, Gespräch; und Richard A. Zipser (unter Mitarbeit von Karl-Heinz Schoeps): DDR-Literatur im Tauwetter. Stellungnahmen. Bd. III, New York, Berne, Frankfurt a. M.: Lang 1985, S. 61. 19 Vgl. exemplarisch K. Corino, Gespräch.

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von Erfahrung, sondern ausschließlich das Resultat von Recherchen, von Interviews und von Phantasie.«20

Zum einen wird mit dem Hinweis auf den Faktor »Phantasie« im eigenen Schaffensprozess, ähnlich wie in der eben beschriebenen Anekdote, der »Anspruch auf Autonomie des Dichters als Schöpfer«21 artikuliert. Zum anderen stellt Becker sein Werk wiederholt als Resultat eines intensiven Rechercheprozesses dar, er spricht von einem »Haufen Fachliteratur«,22 den er rezipiert hätte. Er inszeniert sich damit als poeta doctus, dessen intellektuelle Auseinandersetzung er dezidiert von der biographischen Erfahrung abgrenzt. Zum dritten weist Becker auf den philosophischen Gehalt seines Debütromans hin, um ihn jenseits des Zeugenschaftsdiskurses zu positionieren. So sei es ihm beim Schreiben des Romans um »die Rolle des Faktors ›Hoffnung‹ im Leben« oder die »Kategorie der Lüge«23 gegangen. Literatur wird hier aus seiner Perspektive zu einem Medium der Verhandlung menschlicher Grundfragen, also in ihrem Gegenwartsbezug und nicht als Zeugnis vergangener Ereignisse relevant. »Und im Jakob interessierte mich zum Beispiel, das ist […] ein ästhetisches Motiv, was ich Ihnen hier sage, der Versuch eine Art Komödie über diese Zeit zu versuchen. Ich wollte eine Art Nachweis führen, dass es kein Thema gibt, das sich dieser Art der Gestaltung entzieht.«24 20 R.A. Zipser, Tauwetter, S. 61. Vgl. ähnlich auch o.V., »›Ich nehme einen ausländischen Literaturpreis an.‹ Gespräch mit dem DDR-Schriftsteller in Ost-Berlin«, in: Frankfurter Rundschau vom 25.01.1974. 21 R. Selbmann, Dichterberuf, S. 247. 22 O.V., Gespräch mit dem DDR-Schriftsteller. 23 Ebd. 24 PROMINENTE ZU GAST (RIAS 01.11.1978, Interview: Rudolf Ossowski; Mitschnitt der Rundfunksendung; =AdK, AVM, Nr. 32.1161; Transkription M.R.). Vgl. ähnlich auch die Genre-Reflexionen Beckers in o.V., »Über die Historie hinaus. ›BZ‹-Gespräch mit Jurek Becker zum Fernseh- und Kinofilm ›Jakob der Lügner‹«, in: Berliner Zeitung vom 20.12.1974. Mit solchen Genre-Reflexionen greift Jurek Becker einen Aspekt auf, den Rezensenten – und später auch die Nachrufe – mehrfach als das Besondere des Romans und somit als Alleinstellungsmerkmal des Autors Becker feiern (vgl. dazu auch Sander L. Gilman, Jurek Becker. Die Biographie, München: Ullstein 2002, S. 105, Anm. 62). Zum einen loben sie das »Lachen im Grauen«, »Beckers Vermögen zur Komik« (Wb, »Jurek Becker. Zu seinem ersten Buch: ›Jakob der Lügner‹«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 06.12.1970; vgl. auch Werner Neubert, »Wahrheitserpichter Lügner«, in:

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Damit nennt Becker einen weiteren Aspekt, der sein Werk vom Zeitzeugenbericht unterscheidet. Mit dem Hinweis auf die komödiantischen Anteile von Jakob der Lügner oder dem an anderer Stelle geäußerten Anspruch, »ästhetische Bedürfnisse von Lesern zu erfüllen, zu formen oder gar erst zu wecken«,25 vertritt Jurek Becker ein selbstreflexives Literaturkonzept und stellt sich damit erkennbar in die Tradition ästhetisch-autonomer AutorInnen.26 2. Kreuzungspunkte von biographischer Erfahrung und Werk als Spezifika des Autors Jurek Becker Trotz der einerseits nachdrücklichen Betonung des ›Künstlerischen‹ des eigenen Schaffensprozesses, durch die sich der Autor Becker vom Zeitzeugen Becker abgrenzt, finden sich dennoch andererseits auch in Beckers Selbstdarstellung Ansätze, Verbindungen zwischen beiden Varianten zu etablieren. Diese gehen über seine Feststellung, dass »alles, was ich schreibe, auch ein Produkt meiner Neues Deutschland vom 14.05.1969). Zum andern fasziniert die Rezensenten die Geschichte von der Erfindung von Geschichten. Sie lesen den Lügner Jakob Heym als »Symbolgestalt für alle Geschichten-Erzähler« (Rolf Michaelis, »Der andere Hiob«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.03.1971) und betonen den metareferenziellen Charakter des Romans (vgl. u.a. Marcel Reich-Ranicki, »Das Prinzip Radio«, in: DIE ZEIT vom 20.11.1970). In den Nachrufen wird dann einhellig »[j]enes helle Lachen vor dem schwarzen Hintergrund« (Elisabeth Endres, »Jakob und Liebling Kreuzberg. Zum Tod von Jurek Becker«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.03.1997) oder – anders formuliert – seine Fähigkeit, »optimistische[ ] Tragödie[n]« (Tilman Krause, »Listige Lavierer in ›optimistischen Tragödien‹. Für ihn kam Kunst von können: Jurek Becker, Romancier und Fernseh-Drehbuchautor, ist tot«, in: DER TAGESSPIEGEL vom 15.03.1997) zu verfassen, als besonderes Markenzeichen Beckers herausgestellt (vgl. ähnlich auch Martin Lüdke, »Der unerträgliche Zustand. Zum Tod des Schriftstellers Jurek Becker«, in: Frankfurter Rundschau vom 17.03.1997; Frauke Meyer-Gosau, »Hinweise, die den meisten zu witzig sind. Ernste Witze: Jurek Becker konnte in E und U davon erzählen, daß es nicht sinnlos ist, sich zu wehren. Zu seinem Tod ein Portrait aus dem Tchibo-Recorder«, in: die tageszeitung vom 17.03.1997; und Wolfgang Mistereck, »Wortwiderstand aus dem Erzählen von Geschichten. Zum Tode von Jurek Becker, dem 9. Stadtschreiber von Bergen-Enkheim«, in: BergenEnkheimer Zeitung vom 20.03.1997). 25 Eduard Stapel, »Sprache als Abenteuer. Probleme beim Schreiben – Einfluss auf Leser – Literaturkritik«, in: Der neue Weg vom 26.01.1976. 26 Zum Konzept ästhetisch-autonomer Autorschaft vgl. S. Kyora, Autorinszenierungen, S. 253ff.

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Kindheit«27 ist, die er an anderer Stelle selbst als »Plattheit«28 bezeichnet, hinaus. Indem Becker bestimmte thematische und stilistische Besonderheiten seines Schaffens auf seine Erfahrungen als Holocaust-Überlebender zurückführt, profiliert er sich als Autor in dem Sinne, dass entsprechende Verweise ihm wiedererkennbare Konturen verleihen. 2.1 Der scheiternde Sprachspieler: Die Spracherwerbsbiographie als Legitimation des konformen Sprechens Jurek Becker war nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager 1945 nach eigener Aussage »im Sprachumfang eines Vierjährigen steckengeblieben«.29 Auf Grund der Entscheidung seines Vaters, nach Kriegsende nicht nach Polen zurückzukehren, sondern in Ost-Berlin zu bleiben, hatte der junge Becker nicht nur mit der rudimentären Beherrschung seiner Muttersprache zu kämpfen, sondern wurde mit einer für ihn weitestgehend fremdsprachigen Umgebung konfrontiert.30 Zum einen inszeniert Jurek Becker seinen Spracherwerb wie auch seine spätere Verwendung der deutschen Sprache als intellektuellen, sehr bewussten Prozess und beschreibt sein »Verhältnis zu dieser Sprache [als] ein ziemlich exaltiertes«31 in dem Sinne, dass er sich mit ihrer Struktur seit seiner Kindheit sehr intensiv befasst hätte. Er grenzt sein Sprachempfinden dabei von dem derer ab, die die deutsche Sprache »mit der Muttermilch« eingesogen hätten, und mit dieser eine Art Heimatgefühl verbänden, »denn ich komme mir nicht zu Hause inmitten all dieser merkwürdigen Wörter und Konstruktionen und Andeutungen vor«.32 Die persönliche Spracherwerbsgeschichte wird in Beckers Selbstdeutung

27 O.V.: »›Ich bin kein Wunderkind‹«, in: Kölner Stadtanzeiger vom 20.10.1970. 28 SONNTAGSGESPRÄCH (ZDF 19.10.1986, Interview: Dieter E. Zimmer; Mitschnitt der TV-Sendung; =AdK, Berlin, AVM, Nr. 33.1265; Transkription M.R.). 29 Jurek Becker, Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen in Frankfurt, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1990, S. 10. 30 Vgl. R.A. Zipser, Tauwetter, S. 61. 31 Jurek Becker, »[Mein Judentum]«, in: Hans Jürgen Schultz (Hg.), Mein Judentum, 3. Auflage, Stuttgart: Kreuz 1979, S. 15-24, hier S. 17. 32 Jurek Becker, »Antrittsrede«, in: Irene Heidelberger-Leonard (Hg.), Jurek Becker, 2. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 13-14, hier S. 14. Die »Antrittsrede« wurde erstmals 1983 im Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung veröffentlicht.

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zu einem Narrativ des Andersseins, mittels dessen Becker sich als ›Exot‹ in der deutschen Literaturlandschaft darstellt.33 Zum anderen – und mit Blick auf seine spätere Schriftstellerexistenz als besonders bedeutsam  beschreibt Jurek Becker ein dem eigenen Deutschlernen zu Grunde liegendes Konformitätsbedürfnis: »Es war für mich beinahe eine Existenzfrage, so schnell wie möglich mein Deutsch zu verbessern: Je eher ich die Fehler ausmerzte, um so seltener wurden die anderen darauf gestoßen, daß ich ein Fremder war. […] Einmal habe ich in einem Interview kühn behauptet, diese Art des Lernens habe bei mir zu einem besonders bewußten Verhältnis zur Sprache geführt; wo andere plapperten […], da müßte ich mit einem gewissen Aufwand an Bewußtheit Regeln befolgen. Für einen Schriftsteller, so wagte ich zu schlußfolgern, sei das wahrscheinlich kein Nachteil. […] Und heute habe ich Angst, daß dieser frühe Ehrgeiz mir so in Fleisch und Blut übergegangen ist, daß ich ihn nicht mehr loswerde. Das wäre für einen Schriftsteller nun der schrecklichste Nachteil. Ich liebe ja solche Autoren, die Regeln verletzen, die Sprache zerbrechen, wie um nachzusehen, was drin ist. Das liegt mir nicht, und wenn ich es doch versuche, habe ich das Empfinden, mich zu verstellen.«34

Der Hinweis auf die Spezifik seiner Spracherwerbsbiographie dient Becker hier als Begründung, beinahe Legitimation der eigenen Sprache, deren mögliche Konformität seinem eigenen Literaturverständnis zuwider laufe. Zugleich aber kompensiert er dieses vermeintlich zentrale ästhetische Manko seiner Sprache, indem er der Vorstellung vom sprach-biographisch ›beschädigten‹ ›Opfer-Autor‹ durch seine Selbstdarstellung als ›Liebhaber‹ gerade sprachspielerischer Autoren das Selbstbild eines avantgardistischen Lesers an die Seite stellt. 2.2 Familiengeschichte(n) der Deformation: Der Autor als Zeitzeuge ›zweiten Grades‹ Neben der Prägung der Sprache, »die ja für den Schriftsteller das Arbeitsmaterial überhaupt ist«,35 stellt Jurek Becker auch thematische Bezüge zwischen seinem 33 Dieses Identitätsnarrativ Beckers wird allerdings durch seine akzentfreie Aussprache eher konterkariert. Sein oftmals langsames Erzähltempo dagegen fundiert durchaus den Eindruck eines Menschen, der sich reflektiert und bewusst der Sprache bedient, stützt also möglicherweise Beckers Selbstbeschreibung eines Sprach-Entfremdeten. Allerdings ließe sich das zögernde Sprechen gleichzeitig auch als etablierte Praktik eines ästhetisch-autonomen Autors deuten, der Sprechen als intellektuellen Prozess vollführt (vgl. S. Kyora, Autorinszenierungen, S. 251ff.). 34 J. Becker, Warnung, S. 11f. 35 R.A. Zipser, Tauwetter, S. 61.

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Status als Holocaust-Überlebendem und seinem Schreiben her. So etabliert er erstens das Bild eines Autors, der von dem Thema Holocaust nicht loskommt.36 Dabei interpretiert er sein bereits früh artikuliertes »Verlangen«,37 sich zum Thema Holocaust zu äußern, nicht nur als Ausdruck von Interesse an einer vergangenen Familiengeschichte,38 sondern zunehmend auch als Resultat der eigenen frühkindlichen Prägung: »Der Einfluß, den das Ghetto und das Lager auf mich hatten, findet im Unbewußten statt, und darüber kann ich nicht reden. Und ich habe nie versucht, es mir bewußt zu machen – das heißt, versucht habe ich es, aber ich hatte nie Erfolg damit, und dann habe ich es sein lassen. Ich merke ja zum Beispiel, daß es Einflüsse geben muß, weil mich das Thema interessiert, das ist ja nicht gottgegeben. Ich merke, daß da etwas Obsessives ist und daß ich da etwas als Schreiber rauskriegen will – und das wird sicher mit meiner Vergangenheit zu tun haben. Aber ich kann Ihnen das nicht vorrechnen.« 39

Zweitens macht er vor allem in seinen Romanen Der Boxer (1976) und Bronsteins Kinder (1986) und in Stellungnahmen im Kontext ihrer Veröffentlichung insbesondere die Spätfolgen des Holocaust zum Thema. Der Begriff »Deformation« wird dabei zu einem oft wiederholten Schlagwort in Beckers Interviews, mit dem er die Prägung der Überlebenden, aber auch ihrer Nachfahren be36 Während Jurek Becker seine öffentliche Wahrnehmung als Spezialist für ›HolocaustLiteratur‹ einerseits vereinzelt als unpassende Fremdzuschreibung zurückgewiesen hat (vgl. exemplarisch Andrea Schiffner, »›Politisches Verhalten ist optimistisches Verhalten‹«, in: Deutsche Post. Zeitung der deutschen Postgewerkschaft 35, H. 6, vom 20.03.1983), erscheint spätestens ab Mitte der 1980er Jahre, also im Kontext der Veröffentlichung von Bronsteins Kinder, die vormalige Fremdzuschreibung zunehmend als Selbstpositionierung des Autors, wie die folgende Passage aus einem Interview mit Dieter Zimmer zeigt: »Als ich mein erstes Buch ›Jakob der Lügner‹ geschrieben hatte, das irgendwie mit dieser Thematik ja zu tun hatte, war ich sicher, das wars zu diesem Thema. Ich hab mich leer geschrieben dazu, erledigt. […] Und jetzt seh ich, ich hab ein drittes Buch geschrieben, das heißt, es muss sich offenbar um etwas halten [handeln, M.R], von dem ich nicht etwa glaube, es lässt die Leute nicht los, es lässt mich nicht los, das ist die eine Sache.« (SONNTAGSGESPRÄCH 1986). 37 K. Corino, Gespräch. 38 Vgl. ebd.; und o.V., Wunderkind. 39 Herlinde Koelbl, »›Das ist wie ein Gewitter‹«, in: DER SPIEGEL vom 24.03.1997. Vgl. ähnlich auch Beckers Aussagen zur autobiographischen Prägung von Jakob der Lügner und zur möglichen jüdischen Prägung seines Humors in der TV-Sendung AUTOR-SCOOTER 1978.

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schreibt. In den entsprechenden Interviews vermischen sich zunehmend Aussagen zu den Romanfiguren mit solchen zu Holocaust-Überlebenden allgemein und auch mit solchen zu seinem eigenen Vater, ohne dessen Kenntnis der Roman Der Boxer laut Becker nicht entstanden wäre:40 »Deformation für immer. Das glaube ich schon. Und die Frage ist, wie man mit diesen Deformationen umgeht. Das ist ja keine vollkommen erdachte Situation. Ich kenne Leute, die diese Opfer gewesen sind, und mit denen ich viel zu tun hatte. Mein Vater, zum Beispiel. Ich weiß, dass er es hasste, für ein Opfer gehalten zu werden. […] Insofern ist das eine durchaus beobachtete Geschichte, auch wenn mein Vater niemals in dieser Situation gewesen ist. Aber auf gewisse Weise glaube ich, kann man Erfahrungen dieser Art niemals abschneiden von sich.«41

Die Geschichten der Romane, die Vater-Sohn-Verhältnisse in den Mittelpunkt stellen, welche erkennbar durch die väterliche KZ-Erfahrung geprägt sind, werden somit zu Familiengeschichten, bei denen die Grenzen zwischen Fiktion und autobiographischem Schreiben durchlässig werden. Jurek Becker erscheint so zwar nicht als Zeitzeuge des Holocaust, aber er vermittelt den Eindruck von Authentizität im Sprechen über die Deformationen der Hinterbliebenen, etabliert sich quasi als Zeitzeuge ›zweiten Grades‹.42

III. (I NITIATIVES ) S PRECHEN

ALS

Z EITZEUGE

Stand bisher Jurek Beckers Inszenierung von Autorschaft unter den Bedingungen der Zeitzeugenschaft im Fokus, gilt der Blick nun solchen öffentlichen Aussagen und Auftritten Beckers, die primär den Zeitzeugen evozieren:

40 Vgl. [INTERVIEW MIT JUREK BECKER] (Radio DDR 23.02.1976, Interview: Hans Bentzin; Mitschnitt der Rundfunksendung; =AdK, Berlin, AVM, Nr. 32.1159). 41 SONNTAGSGESPRÄCH 1986. 42 Dabei zeigt sich Becker auch als kritischer Kommentator der deutschen ›Vergangenheitsbewältigung‹: »Man hat es sich auf irgendeine Weise angewöhnt, diese Deformationen zu tabuisieren, nicht so gerne darüber zu reden. Man gewährt Opfern mitunter eine Sonderbehandlung und ich glaube, wenn man jemandem das Recht einräumt, außerhalb jeder Kritik zu stehen, dann verurteilt man ihn auf gewisse Weise zum Tode.« (DIE BUCHMESSE. SZENEN VOM WELTMARKT LITERATUR. REPORTAGE ÜBER DIE

FRANKFURTER BUCHMESSE; ARD 05.10.1989; Mitschnitt der TV-Sendung;

=AdK, Berlin, AVM, Nr. 33.1263; Transkription M.R.).

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»Daß ich als jemand vor Ihnen stehe, den viele für einen deutschen Schriftsteller halten, ist die Folge einer Reihe von Zufällen. Ich bin in Polen geboren, in der unschönen Stadt Lodz, als Kind von Eltern mit, wie man sagt, jüdischem Hintergrund. Der ist, ob ich will oder nicht, somit auch mein Hintergrund. Und wenn nicht bald nach meiner Geburt die deutsche Wehrmacht gekommen wäre, wenn sie nicht das Land besetzt und meine Eltern und mich in ein Ghetto und später in verschiedene Konzentrationslager gesteckt hätte, wenn die Rote Armee nicht das Lager Sachsenhausen, wo ich zuletzt weilte, befreit hätte, dann möchte ich nicht wissen, als was und vor wem ich heute stehen würde.«43

Neben solchen Identitätsreflexionen »aus der Rolle des jüdischen Opfers heraus«, mit denen Becker laut Thomas Jung vor allem seit Beginn der 1990er Jahre »fast jede publizistische Äußerung«44 beginnt, gibt es im Œeuvre Beckers vor allem zwei essayistische Texte, die die Reflexionen jüdischer Identität oder die Ghetto-Erfahrung Beckers dezidiert in den Mittelpunkt stellen: Mein Judentum (1978)45 und Die unsichtbare Stadt (1990)46. Bei beiden Texten handelt es sich um Äußerungen des Akteurs Becker, die ›außerhalb‹ des literarischen Feldes zu verorten sind.47 Vor allem in dem Essay Die unsichtbare Stadt spricht Becker nicht als Schriftsteller, sondern als Zeitzeuge. Zentrales Thema ist die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Erinnerungslosigkeit. Dient der Verweis auf diese 43 Jurek Becker, »Mein Vater, die Deutschen und ich. [Rede auf einer Veranstaltung des Deutschen Nationaltheaters Weimar und der Bertelsmann Buch AG am 15.05.1994]«, in: ders., Mein Vater, die Deutschen und ich. Aufsätze, Vorträge, Interviews, hg. von Christine Becker, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 247-268, hier S. 247. 44 Thomas Jung, »Widerstandskämpfer oder Schriftsteller sein…«. Jurek Becker  Schreiben zwischen Sozialismus und Judentum. Eine Interpretation der HolocaustTexte und deren Verfilmungen im Kontext, Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 1998, S. 22. 45 J. Becker, [Mein Judentum]. 46 Jurek Becker, »Die unsichtbare Stadt«, in: Jüdisches Museum Frankfurt am Main u.a. (Hg.)/Hanno Loewy/Gerhard Schoenberner (Red.), »Unser einziger Weg ist Arbeit«. Das Getto in Łódź 1940-1944, Wien: Löcker 1990, S. 10-11. 47 Der Essay, der unter dem Titel Mein Judentum firmiert, ist in einem gleichnamigen Sammelband gemeinsam mit Texten anderer als Juden inszenierter Menschen veröffentlicht worden. Während Becker in diesem Text sein Verhältnis zu ›seinem Judentum‹ reflektiert, ohne dass dabei ausschließlich Geschichte und Erfahrung des Holocaust fokussiert würden, ist Die unsichtbare Stadt in einem Begleitband zur Ausstellung des Ghettos von Lodz publiziert worden und damit dezidiert im Kontext der Erforschung und Erinnerung der Judenverfolgung und des Judenmords zu verorten.

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Erinnerungslosigkeit dem Autor Becker oftmals als Argument, mit dem er seine Werke jenseits des Anspruchs auf Referenzialisierbarkeit verortet, fungiert sie für das Zeitzeugen-Subjekt als zentraler Bestandteil eines Traumatisierungsnarrativs. Im Gegensatz zu seinem sonst tendenziell intellektuellen Zugriff auf die eigene Vergangenheit stellt der Essay Die unsichtbare Stadt gerade keine gedankliche Reflexion dar, sondern zeigt Becker beim Betrachten von GhettoFotos als einen unter der Erinnerungslosigkeit leidenden Menschen, dessen zunächst intellektueller Zugang zur eigenen Vergangenheit nicht mehr trägt: »Mit einem Wort, ich denke mir Theorien über die Absichten des Fotografen zusammen, ich durchschaue seine Intentionen, der Kerl kann mir nichts vormachen. Doch auf einmal geschieht etwas, das mir ganz und gar nicht recht ist: Einzelne Bilder saugen meine Blicke auf […]. Ich hasse Sentimentalitäten, diese Verstandestrübungen [..]. Plötzlich spielt das keine Rolle mehr, die Bilder erfüllen mich selbst mit Rührung, ausgerechnet mich, und ich muß mir die dümmsten Tränen aus den Augen wischen […] Ich starre auf die Bilder und suche mir die Augen wund nach dem alles entscheidenden Stück meines Lebens. Aber nur die verlöschenden Leben der anderen sind zu erkennen, wozu soll ich von Empörung und Mitleid reden, ich möchte zu ihnen hinabsteigen und finde den Weg nicht.«48

Becker wird hier vom beobachtenden ›Zeitzeugen zweiten Grades‹, als der er als Autor agiert, selbst zum moralischen Zeugen und fügt sich als Akteur in einen Diskurs ein, den José Brunner als Medikalisierung des Zeitzeugen bezeichnet: »Durch ihre leibliche Präsenz im Hier und Jetzt, zusammen mit der Transzendenz ihres Leidens, das Raum und Zeit überbrückt, ist ihre Zeugenschaft mit einer besonderen Aura der Authentizität behaftet. Sie vermittelt nicht nur ein Wissen von Vergangenheit, sondern auch vom Leiden an Vergangenheit in der Gegenwart, an einem durch die Geschichte ihrer Seele und ihrem Körper zugefügten Schmerz. […] Dieses Wissen soll bei den Zuhörern Betroffenheit auslösen und von ihnen emphatisch mit- oder nachempfunden werden. […] Hier kommt die Medikalisierung ins Spiel: Der Begriff beschreibt einen gesellschaftlichen Prozess, in dessen Folge sowohl das Reden als auch das Schweigen der Überlebenszeugen eine psychiatrische oder psychologische Bedeutung erhalten.«49

48 J. Becker, Stadt, S. 10f. 49 José Brunner, »Medikalisierte Zeitzeugenschaft. Trauma, Institutionen, Nachträglichkeit«, in: Frei/Sabrow, Geburt des Zeitzeugen (2012), S. 93-112, hier S. 97.

JUREK BECKER ZWISCHEN AUTORSCHAFT UND ZEITZEUGENSCHAFT

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IV. R ESÜMEE »Sehen Sie, ›Jakob der Lügner‹ war mein erstes Buch – das habe ich sozusagen geschrieben, bevor ich Schriftsteller war: Das erste Buch ist immer eines, das einer schreibt, der noch nicht Schriftsteller ist. Wenn es gutgeht, ist er hinterher einer. Und wenn es nicht gutgeht, ist er hinterher immer noch keiner.«50

Im Fall von Jurek Becker ist es mehr als gut gegangen. Der Debüt-Roman hat nach eigener Aussage sein »Schriftstellerleben auf Rosen gebettet«.51 Betrachtet man vor allem die westdeutschen Rezensionen zu Jakob der Lügner, erscheint die ›Geburt‹ des Autorsubjekts Jurek Becker nicht zuletzt als Resultat der ästhetischen Qualität des Romans.52 Aber auch die geschickte öffentliche Selbstdarstellung des jungen Autors, mit der er sich als an virulente Autorkonzeptionen und Diskurse der beiden deutschen Literatursysteme anschlussfähig zeigte, mögen einen Beitrag zu seiner Etablierung geleistet haben.53

50 H. Koelbl, Gewitter. 51 Ebd. 52 So loben viele Rezensenten gerade solche Aspekte des Romans, die Andreas Reckwitz in seiner Monographie Die Erfindung der Kreativität in Anlehnung an Wolfgang Isar als Spezifika ästhetischer Zeichenverwendung beschreibt, wie »die Fiktionalität der Bedeutungsproduktion« und die Erzeugung der »alternativen Welten der Narrative« (Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 27) (zu den Rezensionen vgl. Anm. 24). 53 Dass Jurek Becker, wie in Abschnitt II.1 erläutert, vor allem Mitte der 1970er Jahre gegenüber autobiographischen Deutungsansätzen den fiktionalen, ›künstlerischen‹ Charakter seines Werks betont, mag vor allem in dem autopoietischen Literatursystem der Bundesrepublik zur erfolgreichen Etablierung des Autors beigetragen haben. In der DDR dagegen hat er sich zunächst als systemkonformer Schriftsteller etabliert, indem er sich  vor allem in seinen Reden Anfang der 1970er Jahre anlässlich von Schriftstellerkongressen oder Literaturpreisverleihungen  wiederholt als politischer Autor, der mit seinen Texten den ›real-existierenden Sozialismus‹ verbessern wolle (vgl. verschiedene unveröffentlichte Rede-Manuskripte; =AdK, Berlin, Jurek-BeckerArchiv, Nr. 108-110), in Szene setzte und so das für die DDR-Gesellschaft und -Literatur geltende »Primat des Politischen« (Wolfgang Emmerich, »Autonomie? Heteronomie? DDR-Autoren zwischen Fremd- und Selbstinszenierung«, in: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011, S. 293-312, hier S. 294) stützte.

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Der Zeitzeuge Jurek Becker konstituiert sich dagegen tendenziell erst später, worauf auch Thomas Jungs Beobachtungen zur Übernahme der jüdischen Opferrolle durch Becker hinweisen.54 Jung bietet hierfür mehrere durchaus überzeugende Erklärungsansätze an: So trete beispielsweise der Jude Becker »nach dem Verlust jener gesellschaftlich-politischen Alternative zur BRD« an die Stelle des Sozialisten Becker und werde »zur einzig verbliebenen Plattform für die schreibende Teilnahme an einem gesellschaftskritischen Diskurs«.55 Außerdem bedeute ein jüdisches Selbstverständnis auch die »Akzeptanz eines Außenseiterdaseins«, welches für Literaten eine »nicht unbeliebte, selbstgewählte Rolle« sei, »aus der heraus sie […] als das ausgelagerte moralische Bewußtsein der Nation argumentieren können.«56 Insgesamt konstatiert Jung »die Signatur eines mühevollen Selbstfindungsprozesses, pendelnd zwischen dem Selbstverständnis eines deutschen Autors und dem eines jüdischen Überlebenden des Holocaust«, die »nur zur Kenntnis genommen und allenfalls behutsam psychologisch interpretiert werden«57 könne. Über eine solche primär psychologische Deutung gehen aber bereits seine eigenen eben skizzierten Erklärungsansätze hinaus. Diese möchte ich noch um zwei weitere nicht-psychologische Deutungsvorschläge ergänzen: Zum einen lässt sich die zunehmende Selbst- und Fremdinszenierung Beckers als Holocaust-Überlebender mit erinnerungskulturellen Veränderungen der 1980er Jahre erklären, die unter anderem durch die »Geburt des Zeitzeugen« – so beispielsweise Heidemarie Uhl und Martin Sabrow im 2012 erschienenen gleichnamigen Sammelband58 – gekennzeichnet waren. Zum anderen ist es möglicherweise gerade für den Erfolg eines Newcomers im literarischen Feld entscheidend, den selbstreferentiellen Charakter seines literarischen Werkes zu betonen, wenn er als Teil der sogenannten ›Hochliteratur‹ anerkannt werden möchte. Autobiographische Deutungsansätze, die die Referenzialisierbarkeit des Werkes in der Lebensgeschichte der schreibenden Person herausstellen, wirken hier kontraproduktiv. Die erst später erfolgende Betonung des eigenen Zeugenstatus durch Becker hätte so möglicherweise zu tun mit seiner bereits erfolgreich abgeschlossenen Positionierung als Autor-Subjekt, die ihm ermöglicht, auch

54 Vgl. T. Jung, Jurek Becker, S 22. 55 Ebd., S 22. 56 Ebd., S 22. 57 Ebd., S. 11. 58 Heidemarie Uhl, »Vom Pathos des Widerstands zur Aura des Authentischen. Die Entdeckung des Zeitzeugen als Epochenschwelle der Erinnerung«, in: Frei/Sabrow, Geburt des Zeitzeugen (2012), S. 224-246, hier S. 236; und M. Sabrow, Zeitzeuge, S. 13.

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öffentlich als Zeitzeuge zu agieren, ohne seine Stellung im literarischen Feld zu gefährden. Gerade diese letzten beiden Thesen bedürfen mit Blick auf Jurek Becker allerdings sicherlich einer zentralen Einschränkung, wie Beate Müllers folgender Hinweis auf die Spezifik des Autors Jurek Becker deutlich macht: »Ein Autor, vier Verlage, zwei sehr verschiedene Literaturbetriebe in zwei ebenso unterschiedlichen deutschen Staaten; derselbe Autor, ein Geheimdienst, eine Kulturadministration und die politische Führung im sozialistischen Deutschland; und eben dieser Schriftsteller, die Medien, die Märkte und die Öffentlichkeit diesseits und jenseits der Elbe: Jurek Beckers Schaffen zu kontextualisieren ähnelt einer Gleichung mit so zahlreichen Variablen, daß ein einsinniges Ergebnis nicht zu erwarten ist.«59

Entsprechend wäre also noch zu prüfen, inwieweit die hier vorgestellten Überlegungen zur erinnerungskulturellen ›Entdeckung‹ des Zeitzeugen sowie zu den Voraussetzungen für die Etablierung eines Autors auch mit Blick auf ein vermeintlich eher wenig ausdifferenziertes Literatur- und Gesellschaftssystem wie das der DDR  so beispielsweise Wolfgang Emmerich 60  plausibel sind.

59 Beate Müller, Stasi – Zensur – Machtdiskurse. Publikationsgeschichten und Materialien zu Jurek Beckers Werk, Tübingen: Niemeyer 2006, S. 387. 60 Vgl. W. Emmerich, DDR-Autoren, S. 294.

Schreiben – Filmen – Sprechen Inszenierung und Kommunikation in Alexander Kluges Autorschaft M ATTHIAS U ECKER

»Man darf eigentlich von seinen Absichten und Plänen nicht sprechen, sondern muss sie ausführen«, erklärte Alexander Kluge im Frühjahr 2012 (und nicht zum ersten Mal) in einem Gespräch über die Publikation einer neuen Sammlung von Geschichten.1 Im Widerspruch zu dieser Aussage allerdings scheint Kluge sich permanent zu seinen Absichten zu äußern. Alexander Kluge ist nahezu allgegenwärtig – nicht nur mit seinen Produktionen in Form von Büchern, Fernsehmagazinen, Hörspielen, DVDs und Internetsendungen, sondern eben auch als Person, die sich in einer kaum mehr überschaubaren Vielzahl von Interviews und Porträts in Zeitungen, Fernseh- und Hörfunksendungen zu ihrer Arbeit äußert und deren Gesicht und Stimme dadurch mittlerweile zu wichtigeren Markenzeichen geworden sind als das Logo von Kluges Produktionsfirma dctp. Nahmen solche Auftritte früher häufig die Form von Lobbyarbeit an, in der Kluge für die allgemeinen Interessen der deutschen Autorenfilmer auftrat und gleichermaßen die kritische Öffentlichkeit wie die Entscheidungsträger in Politik und Filmwirtschaft zu beeinflussen suchte,2 so spricht er seit längerem vorwiegend in eigener Sache, als Autor.

1

Alexander Kluge, »Das Handwerk des Erzählers«, http://www.youtube.com/watch?v= medmyVcsMdo, Zugriff: 26.07.2013.

2

Kluges Arbeit als Filmpolitiker und Lobbyist ist bislang nicht zusammenhängend untersucht worden. Einzelne Aspekte sind dargestellt in Rainer Lewandowski, Die Filme von Alexander Kluge, Hildesheim: Olms 1980, S. 5-24; Peter C. Lutze, Alexander Kluge. The Last Modernist, Detroit: Wayne State University Press 1998, S.

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Darauf, dass er vor allem anderen ein Autor sei und dass dieser Begriff alle seine Tätigkeiten umfasse, hat der Schriftsteller, Filmemacher, Filmpolitiker, Fernsehproduzent, Internetkurator und Hörspielmacher immer wieder bestanden. Seine öffentlichen Äußerungen, Interviews und Selbstdeutungen scheinen geradezu obsessiv um diesen Begriff zu kreisen, so als müsse er der Öffentlichkeit beweisen, was doch offensichtlich sein sollte: Alexander Kluge ist ein Autor. 3 Schon in einer Zeit, in der die Literaturtheorie den »Tod des Autors« verkündete und eine Ethik der écriture aus der Befreiung vom »Thema des Ausdrucks« zu Gunsten eines Bezugs ganz auf sich selbst – nämlich das Schreiben –, ableiten wollte,4 arbeitete Alexander Kluge eigensinnig an dem Projekt, das Konzept der Autorschaft auszuweiten und seine gesamte Produktion auf ihm aufzubauen, und dessen Präsenz hat im Laufe der Jahre stetig zugenommen. Bei Kluges erstem Erscheinen in der Öffentlichkeit, 1962, war das offenbar strategisch zu verstehen, als Projekt eines Autors, der nicht nur schreibt, sondern auch Filme macht und darum kämpft, sich selbst und anderen Produzenten neue Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der etablierten Filmindustrie zu erschließen. Im Kontext des Oberhausener Manifests und der daran anschließenden Aktivitäten zur Etablierung des »Jungen Deutschen Films« trat Kluge entschieden dafür ein, die Arbeit des Filmemachers als Autorentätigkeit zu fassen, um damit zu begründen, warum die Kontrolle über Inhalt, Ästhetik und Produktionsbedingungen von Filmen weitgehend bei einer Person liegen sollte. 5 Im Moment seines Rückzugs aus dem Kino Mitte der 1980er Jahre verlagerte er dieses Projekt auf sein neues Arbeitsfeld, das Fernsehen. Auf das Kollektivprojekt des westdeutschen Autorenfilms folgte das »Autorenfernsehen«, das freilich vor allem Kluges eigenes Projekt blieb, ein »Fenster« im kommerziellen Rundfunk, in dem er bis heute Selbstgemachtes versenden kann.6 Von einem Internet der Autoren hat Kluge, soweit ich sehen kann, noch nicht gesprochen, doch hat er, passend zum

46-59; Matthias Uecker, Anti-Fernsehen? Alexander Kluges Fernsehproduktionen, Marburg: Schüren 2000, S. 28-48. 3

Vgl. dazu auch Georg Stanitzek, »Autorität im Hypertext: ›Der Kommentar ist die Grundform der Texte‹ (Alexander Kluge)«, in: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der Literatur 23 (1998), S. 1-46, bes. S. 1-4.

4

Michel Foucault, »Was ist ein Autor? (Vortrag)«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 234-270, S. 238.

5

Zum Oberhausener Manifest siehe Rainer Lewandowski, Die Oberhausener. Rekonstruktion einer Gruppe 1962-1982, Diekholzen: Regie 1982.

6

Zur Autorenästhetik der frühen Fernsehproduktionen vgl. M. Uecker, Antifernsehen, S. 187-198.

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Internetauftritt seiner Firma dctp, Interesse am Projekt eines »kuratierten Internet« geäußert.7 Die Selbstdarstellungen von Autoren, ihre öffentlichen Äußerungen, Selbstinterpretationen und sonstige Handlungen werden seit einiger Zeit in den Literatur- und Sozialwissenschaften systematisch als strategische Handlungen untersucht, bei denen es nicht nur darum geht, die Deutung ihrer Werke zu lenken, sondern das Werk und seinen Produzenten überhaupt als Marke zu etablieren. Eine solche Perspektive konzentriert sich nicht auf die Werkinterpretation, sondern auf jene außertextuellen Autorstrategien, die solche Interpretationen zu lenken versuchen und vor allem Aufmerksamkeit für das Werk herstellen und stabilisieren. Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser sprechen in ihrer heuristischen Typologie solcher Selbstdarstellungen von »resonanzbezogene[n] paratextuelle[n] und habituelle[n] Aktivitäten und Techniken«, die sie als »Inszenierungspraktiken« bezeichnen. »Ziel solcher Inszenierungspraktiken […] ist die Markierung und das Sichtbar-Machen einer abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes.«8 Dirk Niefanger bezeichnet solche Praktiken geradezu als eine Form der »Markenwerbung«, die – ganz nach dem Vorbild von Großunternehmen – darauf abzielt, durch die Darstellung der Person »eine ganze Palette von Produkten zu fördern«.9 Solche Ansätze, in denen die Techniken der klassischen Philologie und selbst der neueren Diskursanalyse zugunsten von kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Strategieanalysen zurückgestellt werden, bieten nicht nur neue Perspektiven auf die Funktion von inszenierter Autorschaft und das Funktionieren des Literaturbetriebs, sondern spiegeln wohl auch eine Veränderung des literarischen Feldes selbst wider, in dem – so der weit verbreitete Eindruck – Positionskämpfe und Selbstinszenierungen zunehmend professionell betrieben werden und womöglich schon die Genese der literarischen Texte selbst steuern. Dabei wirken offenbar ökonomische Faktoren, die die Arbeit der Verlage und der literarischen Öffentlichkeit 7

News & Stories, »TV.NULL/Nikloai Longolius über die Wiedergeburt des Bewegtbildes im online.tv«, Sat 1, 14.11.2010. Eine grundsätzliche Affinität von Kluges Ästhetik mit den Strukturen des Internets behauptet Stanitzek, Autorität im Hypertext.

8

Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: dies. (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 9-30, hier S. 9-10.

9

Dirk Niefanger, »Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Beispielen zu Langbehn und Kracauer)«, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 521-539, hier S. 523.

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prägen, mit medientechnischen Innovationen zusammen, die die Literatur in ein Ensemble von konkurrierenden und koexistierenden Äußerungsformen einbetten. Alexander Kluges Selbstdarstellung kann durchaus als paradigmatisches Beispiel für eine Autorenstrategie angesehen werden, in der der Name des Autors als Paratext oder Logo eingesetzt wird, um die Vielfalt der Produktion unter einem Begriff zusammenzufassen und – als eine Form von Markenwerbung – alle neuen Hervorbringungen an den schon etablierten Namen anzuschließen. Gerade weil er stärker als andere Autoren in mehreren Medien gleichzeitig arbeitet, intermediale Zusammenhänge und Interferenzen in seiner Arbeit schon immer eine zentrale Rolle spielten und der Appell an eine idealisierte Öffentlichkeit im Zentrum seiner Selbstinszenierung stand, bietet sein Auftreten eine Vielzahl von Beispielen für schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Das Grundmuster dieser Aktivitäten kann man so beschreiben, dass Kluge die vor allem für die Literatur charakteristische Autor-Funktion über deren etablierten Diskurs hinaus auf andere Diskursfelder und Funktionssysteme übertragen hat, die eigentlich relativ gut ohne diese Funktion auskommen. 10 Einen strategischen Grund dafür hat Kluge 1974 in einem Aufsatz mit dem Titel »Medienproduktion« angegeben. Zwar benötige die Industrie die »Zuarbeit« spezialisierter Autoren, doch im Zusammenhang der Entwicklung, Produktion und Distribution würden diese fast durchweg in fremdbestimmte arbeitsteilige Zusammenhänge eingefügt und jede »Selbstbestimmung über die eigenen Produktionsmittel und das Gesamtprodukt« an die Kapitaleigner verlieren. Nur eine Minderheit »verfügt wie bisher über ihre geistigen Produktionsmittel und das geistige Produkt, wird aber zunehmend von den universalen, weltumspannenden Verteilern ausgeschlossen«. Am Ende dieses Prozesses stehe für den Autor die Alternative, »individuelles Original zu bleiben (für sich, seine engere Umgebung, den Bereich der klassischen Öffentlichkeit, ohne Anschluß an die hochindustrielle Massenbasis) oder aber sein Werk dem Medienkonzern zur Verfügung zu stellen«.11 Autorschaft wird hier identifiziert mit »Selbstbestimmung« über ein »Werk«,12 und das strategische Problem besteht darin, solche Selbstbestimmung zu erhalten unter den Bedingungen der Kulturindustrie, wie sie Adorno und

10 Vgl. M. Foucault, Was ist ein Autor, S. 245. 11 Alexander Kluge, »Medienproduktion«, in: Hilmar Hoffmann (Hg.), Perspektiven der kommunalen Kulturpolitik, Frankfurt a.M.: Ullstein 1974, S. 326-337, hier S. 328f. 12 Zum notwendigen Zusammenhang von Autor-Funktion und Werk und zur problematischen Konstitution des Werks vgl. M. Foucault, Was ist ein Autor, S. 244f.

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Horkheimer beschrieben haben.13 Sowohl im Film als auch später im Fernsehen insistierte Kluge auf dem Konzept der Autorschaft, da sie ein etabliertes und funktionierendes Modell bereit stellte, das den Primat des individuellen Produzenten gegenüber Kapital und Profitinteressen behauptete. Man muss dagegen wohl einwenden, dass auch im 18. und 19. Jahrhundert literarische Autoren nur in den seltensten Fällen über jene Produktionsmittel selbst verfügten, die sie benötigten, um ihre Texte ans Publikum zu bringen, und natürlich kann man von der Warte der Diskurstheorie die Vorstellung solcher Selbstbestimmung insgesamt als ideologischen Effekt entzaubern, der die Rolle mächtiger, aller individuellen Schöpfung vorgelagerten Diskurse verschleiert, um die Konstitution der Subjekte selbst geheim zu halten. Vor allem literatursoziologische Theorien sehen in einem solchen Ansatz gerne eine »Selbstmystifikation«, die dazu dient, die handfesten ökonomischen und sozialen Interessen, die das literarische Feld und die Arbeit der Autoren selbst strukturieren, zu verdrängen und den unerbittlichen »Kampf um die knappe Ressource Aufmerksamkeit« hinter der Fassade »eines autonomen, gleichsam interesselosen Dichtertums« verschwinden zu lassen.14 Alexander Kluges Strategie wird von einer solchen Kritik allerdings nur teilweise getroffen, da er ja offensichtlich ökonomische Interessen, die Verfügungsgewalt über Produktionsmittel und die kooperative Produktion seines Werkes nicht verdrängt, sondern als Grundlage seiner strategischen Entscheidungen thematisiert. Und wenn er möglicherweise eine frühere Formation des Literatursystems, in der die Autonomie des Dichters begründet wurde,15 über die Maßen idealisiert, so dient dies, wie später noch gezeigt wird, immer einer Strategie, die spezifische Interessen des Autors in den Vordergrund stellt statt sie zu verschleiern. Aufschlussreicher ist deshalb vielleicht die These Thomas Elsaessers, der die zentrale Rolle der Autoren im Neuen Deutschen Film nicht als Antwort auf übermächtige Kapitalinteressen sieht, sondern vielmehr als Symptom von deren Schwäche. Allein wegen der mangelhaft entwickelten industriellen Strukturen der westdeutschen Filmwirtschaft nach dem 2. Weltkrieg habe sich das Modell des Autorenfilms in den sechziger Jahren etablieren können und dann auch sofort eine Vielzahl widersprüchlicher Funktionen übernehmen müssen, die in einer funktionierenden Filmwirtschaft arbeitsteilig und spezialisiert ausgeführt 13 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M.: Fischer 1971, S. 108-150. 14 C. Jürgensen/G. Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 9. 15 Vgl. dazu Lutz Winckler, Autor – Markt – Publikum. Zur Geschichte der Literaturproduktion in Deutschland, Berlin: Argument 1986.

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würden.16 Tatsächlich scheint auch in dieser Perspektive eine Verkennung am Werk: Während Kluge, die Mitautoren des Oberhausener Manifests von 1962 und ein Großteil der folgenden Gruppe von Filmemachern sich als Rebellen gegen eine Filmwirtschaft sahen, die ihnen bedeutungslose Konventionen und sachfremde, nämlich finanzielle Beurteilungskriterien aufzwingen wolle, hat Elsaesser demonstriert, dass es gerade die Schwäche dieser Industrie war, die den Raum zur Entfaltung des Autorenfilms schuf und die jungen Filmemacher zwang, als »Autoren« zu agieren, um überhaupt produzieren zu können. Das Autorsubjekt, das in diesem Kontext konstruiert wurde, benötigte offenbar die Abgrenzung gegen reale oder imaginäre externe Zwänge zur Begründung seiner Autonomieforderung, und machte in dieser Konfrontation zugleich eine Reihe anderer Autorfunktionen unsichtbar. Als in den achtziger Jahren die Spielräume für den Autorenfilm schrumpften, übertrug Kluge diese Strategie auf sein neues Arbeitsfeld: das Fernsehen. Die kommerziellen Sender waren noch nicht fest etabliert und gegenüber den politischen Entscheidungsträgern in einer unsicheren Position, die zusätzliche Legitimation erforderte. Es war diese politische Schwäche, die den Spielraum für Kluges Etablierung als Fernseh-Autor schuf. Seine erfolgreich vorgetragene Forderung nach der Etablierung eines »Fensters« für unabhängiges AutorenFernsehen begründete Kluge wie schon zwanzig Jahre zuvor mit den Gefahren, die eine Orientierung an kommerziellen Interessen für die Qualität des Fernsehens bedeuten würde. Obwohl er zunehmend alleine agierte und schließlich eine Produktionsform etablierte, in der Kluge der einzige Autoren-Produzent war, betonte er noch weit stärker als im Kontext des Autorenfilms die Stellvertreteroder Treuhänder-Funktion des Autors: Nicht um seine eigenen Interessen auszudrücken, sondern als Plattform unabhängiger Öffentlichkeit wolle er die neue Nische ausfüllen.17 Hier finden wir das zweite wesentliche Element von Kluges Begründung der Autorschaft. In zahlreichen Arbeiten hat er seit Beginn der siebziger Jahre die unabhängige Öffentlichkeit als wichtigstes Medium demokratischer Gesellschaften ebenso wie individueller Subjektwerdung dargestellt und den unabhängig produzierenden Autoren eine zentrale Rolle in der Aufrechterhaltung solcher Öffentlichkeit zugewiesen. Erneut wiederholt sich hier der Abgrenzungsduktus gegen externe Bedrohung, doch darüber hinaus behauptet Kluge, die Autonomie der Autoren sei nicht bloß Grundlage ihrer Produktivität, sondern garantiere die Autonomie aller Teilnehmer an Öffentlichkeit. Was er und andere Autoren in 16 Thomas Elsaesser, Der Neue Deutsche Film. Von den Anfängen bis zu den neunziger Jahren, München: Heyne 1994, Kapitel 2-3. 17 Vgl. dazu ausführlich M. Uecker, Anti-Fernsehen, S. 48-63.

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womöglich »homöopathischen Dosen« in die Öffentlichkeit einspeisen, diene nicht allein – womöglich nicht einmal in erster Linie – dem Ausdruck ihrer persönlichen Ideen, sondern fungiere als Platzhalter für die Masse derjenigen, die sich nicht selbst äußerten.18 Kluge scheint hier eine Position einzunehmen, die Jürgensen und Kaiser als überholt bezeichnen. Der Selbstbeschreibung als »Sprecher der Menschheit, als Repräsentanten der Nationalkultur, Historiker der Gesellschaft oder politisch einflussreiche Akteure an der literarischen Front der Klassenkämpfer« komme in der heutigen literarischen Öffentlichkeit allenfalls noch die Rolle einer »heroische[n] Illusion« zu, die den Produzenten das für die Arbeit nötige Gefühl der eigenen Bedeutsamkeit liefere. 19 Tatsächlich können Kluges Kämpfen um die Erhaltung einer (stark idealisierten) Film-Öffentlichkeit Züge einer solchen »heroische[n] Illusion« nicht abgesprochen werden.20 Wichtiger ist aber wohl eine andere, strategische Funktion: Die Stellvertreter-Theorie begründet eine gesellschaftliche Funktion der Autoren jenseits ihrer Privatinteressen – ja, sie macht diese Privatinteressen zu allgemeinen Interessen, die potentiell von allen wahrgenommen werden könnten. Tatsächlich redet Kluge immer wieder einer unbegrenzten Ausdehnung von Autorschaft das Wort, indem er nämlich den Rezeptionsakt als Form der Autorschaft konzipiert. Im Idealfall – nämlich im Kontext einiger Episoden des Neuen Deutschen Films – soll sich solche Autorschaft öffentlich realisieren, als Kommunikation unter Anwesenden, also in der gemeinschaftlichen Rezeption und Diskussion von Filmen. 21 Aber auch in der einsamen Lektüre und vor dem Fernsehbildschirm werden die Rezipienten ermutigt, sich selbständig, und das heißt für Kluge: als Autoren, zu verhalten.22 Die Materialfülle von Kluges Produktionen soll sein Publikum nicht überwältigen, sondern ihm im Gegenteil Selbständigkeit ermöglichen – und sei es nur die der 18 Vgl. Alexander Kluge, »Zum Unterschied von machbar und gewalttätig. Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit«, in: Merkur 38 (1984), Heft 3, S. 243-253; M. Uecker: Anti-Fernsehen, S. 49; Klaus Meyer, »Homöopathische Dosen im TV. DCTP: Das Fernsehreich des Filmemachers Alexander Kluge«, in: Rheinische Post vom 05.06.1993. 19 C. Jürgensen/G. Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 16. 20 Vgl. dazu vor allem Alexander Kluge (Hg.), Bestandsaufnahme: Utopie Film. Zwanzig Jahre neuer deutscher Film, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1983. 21 M. Uecker, Anti-Fernsehen, S. 9. Zu den Schwierigkeiten solcher Kommunikation vgl. Kluges Erfahrungsbericht in Alexander Kluge, Die Patriotin. Texte/Bilder 1-6, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1979, S. 23-25. 22 Vgl. zuletzt Alexander Kluge, Personen und Reden, Berlin: Wagenbach 2012, S. 28, S. 43f.

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Auswahl. So leitet er etwa das monumentale, gemeinsam mit Oskar Negt verfasste Theoriebuch Geschichte und Eigensinn mit dieser Gebrauchsanweisung ein: »Vom Leser wird in diesem Buch Eigeninteresse erwartet, indem er sich die Passagen und Kapitel heraussucht, die mit seinem Leben zu tun haben. [...] Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch.«23 Dies ist das dritte grundlegende Element von Alexander Kluges Autorschaftstrategie: Die Struktur der Werke soll so angelegt sein, dass sie die Stellvertreter-Funktion der Autoren realisiert und den Rezipienten jene Spielräume bereit stellt, in denen diese ihre eigene Autorschaft realisieren können. In Kluges Filmen und Fernseharbeiten wird vor allem der Montagetechnik die Aufgabe übertragen, Lücken zu produzieren, in denen sich die Bedeutungsproduktion der Ko-Autoren einnisten kann;24 in den neueren großen Textsammlungen dürfte es das Arrangement der Geschichten zu großen Themenblöcken sein, das diese Aufgabe erfüllt. Lange Zeit haben solche Werkstrategien den Eindruck hinterlassen, der Autor Kluge trete ganz hinter dieses Werk zurück und verzichte auf individuellen Ausdruck zugunsten des Arrangements von ›Material‹. Marcel ReichRanicki und Manfred Durzak haben behauptet, Kluge sei ein Autor ohne eigenen Stil, der lediglich ein Pastiche dominanter gesellschaftlicher Diskurse produziere.25 Kluge selbst hat seine Autorenrolle gern im Bild des Gärtners beschrieben, der Material zum Wachsen bringe und gegenüber dem Publikum einen »strikt anti-rhetorischen, nicht-überredenden Standpunkt« einnehme. Er könne »davon absehen [...], dass ich Ich bin.«26 Eng damit verbunden sind Selbstbeschreibungen als »Chronist« und »Seismograph« – beides Tätigkeiten, in denen die eigene Persönlichkeit und ihr Wille zurücktreten hinter die Aufzeichnung.27 Einen anderen Aspekt dieser Konzeption hat Kluge in Gesprächen mit Gerhard Richter und Hans Magnus Enzensberger hervorgehoben, in denen er Künstler 23 Oskar Negt/Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1981, S. 5. 24 Vgl. Andreas Sombroek, Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität und Intertextualität bei Alexander Kluge, Bielefeld: transcript 2005, bes. S. 103-112. 25 Marcel Reich-Ranicki, Deutsche Literatur in West und Ost, München: Piper 1963, S. 286f.; Manfred Durzak, Die deutsche Kurzgeschichte der Gegenwart. Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpretationen, Stuttgart: Reclam 1980, S. 294. Zur Zitat- und Montagetechnik in den frühen Texten vgl. Ulrich Schmidt, Zwischen Aufbruch und Wende. Lebensgeschichten der sechziger und siebziger Jahre, Tübingen: Niemeyer 1993, S. 86f. 26 A. Kluge, Personen und Reden, S. 25f. 27 Ebd., S. 55, S. 69.

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und Autoren als Gehäuse widersprüchlicher Eigenschaften und Stimmen beschrieb, »die selbsttätig in einem einen Chor« oder »ein Orchester« bilden, die man »nicht mal beherrscht«. »Keine Stimme kann man beliebig isolieren. Man ist 28 nicht ganz frei. Die Geschichte erzählt sich. Die hat n Eigenwillen.« Den Gegenpol zu solchen Rollen bildet in Kluges Koordinatensystem der »Dompteur«, der zwar größere Erfolgschancen auf dem Markt habe, aber nur um den Preis, sein Material ebenso wie sein Publikum zu überwältigen und diesem damit die Möglichkeit der Selbständigkeit (und eigener Autorschaft) zu rauben.29 Timothy Corrigan hat den Filmemacher Kluge daher als einen zögerlichen Autor beschrieben, der ganz hinter das Geschichtsmaterial seiner Filme zurücktrete. Seine Stimme beanspruche keine Autorität und die Beharrung auf dem Konzept des Autorenfilms fungiere allein als Kommunikationsstrategie, mit deren Hilfe ein wiedererkennbarer Werkzusammenhang und die produktive Rolle des Publikums befestigt würden.30 Hier scheint ein gewisser Widerspruch zu bestehen, denn tatsächlich tritt Kluge ja nicht nur regelmäßig als Autor in Erscheinung, sondern nimmt prinzipiell eine prominente, wenn auch mehrdeutige Position ein: In den kurzen, mit seinen Initialen gezeichneten Vorbemerkungen zu literarischen Texten, mit seiner Stimme in den meisten Filmen und den Fernsehinterviews und schließlich eben als unermüdlicher Auskunftgeber in Zeitschrifteninterviews und Rundfunkgesprächen. Fast alle diese Auftritte erfüllen eine doppelte Funktion: Sie sichern die Präsenz des Autors in seinem Werk und stellen Rezeptionsvorgaben zur Verfügung, indem sie Produktionsmotive erläutern, zentrale Konzepte hervorheben oder den Zusammenhang zu anderen Werken herstellen. Peter C. Lutze hat denn auch zu Recht darauf hingewiesen, dass Kluges Autorschaft immer eine entschiedene, strategisch eingesetzte Rolle war. Kern dieser Inszenierungspraktik sei, entgegen Corrigans Beschreibung, ein impliziter Autoritätsanspruch, der dazu eingesetzt werde, um politischen Einfluss zu gewinnen.31 Dieser Einfluss sollte jedoch nicht als im engeren Sinne definierte politische Macht verstanden werden. Vielmehr ging es Kluge im Zusammenhang des Neuen Deutschen Films und des späteren Autorenfernsehens um die Herstellung und Sicherung von Produktionsbedingungen, die erst die Arbeit von Autoren ermöglichen. 28 10 vor 11, »Gerhard Richter. Bildermacher«, RTL 18.03.2013; News & Stories, »Erlöst die Nachricht von der menschlichen Gleichgültigkeit. Gespräch mit dem großen Erzähler Hans Magnus Enzensberger«, Sat 1, 24.01.2011. 29 A. Kluge, Personen und Reden, S. 26. 30 Timothy Corrigan, »The Commerce of Auteurism: A Voice without Authority«, in: New German Critique Nr. 49 (1990), S. 43-57. 31 P. Lutze, Alexander Kluge, S. 36.

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An Stelle des Begriffs der Autorität findet man in Kluges eigenem Diskurs einen anderen, eng verwandten Begriff: Vertrauen.32 Das Augenmerk liegt hier nicht auf der Macht des Autors, sondern auf der Haltung seines Publikums, das auf spezifische Eigenschaften oder Handlungen des Autors reagiert, seine Haltung aber auch ändern könnte, wenn sein Vertrauen enttäuscht wird. Das Vertrauen stellt eine Art soziales Kapital dar, das auf der Wiedererkennbarkeit des Autors, seinem Charisma sowie der Identifikation dieses Autors mit seinem Werk basiert. Gerade weil er sein Publikum mit einer scheinbar grenzenlosen Produktivität konfrontiert, die sich auf alle Medien ausdehnt und in kaum mehr überschaubarer Fülle ständig neue Werke hervorbringt, scheint Kluge den Zwang zu verspüren, unablässig persönlich aufzutreten und sein Werk zu beglaubigen. Seine Interviews und Reden sollten daher vielleicht nicht als »Paratexte«33 vom eigentlichen Werk abgetrennt, sondern vielmehr als integraler Bestandteil dieses Werks behandelt werden, das ja ohnehin zwischen Genres und Medien keine Unterschiede macht und vor allem die Kategorie der Fiktionalität laufend unterwandert. Die »Politik der Autoren«, der es um die Sicherung kollektiver Produktionsbedingungen ging, ist nach und nach ersetzt worden durch eine Inszenierungspraxis, in der die personale Anwesenheit des Autors nicht nur die Rezeption seines Werks absichert, sondern selbst zum Werkbestandteil geworden ist. Solche Selbstinszenierungen sind nun ein fest etablierter Bestandteil der öffentlichen Rolle von Künstlern und Schriftstellern. In Übereinstimmung mit der Selbstbezeichnung als »Sammler« und »Chronist« spielt Kluge allerdings den Faktor der Kreativität oder Innovation herunter, der normalerweise das Zentrum solcher Inszenierungen bildet. Kluge beansprucht vielmehr in einer paradoxen Performance nicht auf sich selbst, sondern auf die Welt zu zeigen. Die Analyse des Kreativitätsdispositivs, die Andreas Reckwitz kürzlich vorgelegt hat, scheint daher auf Kluge allenfalls teilweise zu passen. Reckwitz argumentiert, dass mit der Etablierung von Kreativität als zentralem, an alle gerichteten Anspruch moderner Gesellschaften bestimmte Künstlerfiguren »sich von randständigen Typen in Prototypen gesellschaftlich anerkannter Kreation« verwandelt hätten. Dabei sei ein Künstlertypus entstanden, der sich über das überraschende, neue Arrangement vorgefundener Materialien auszeichne und seine »WerkKreativität [...] mit einem massenmedial sichtbaren Personality-Stil« kombiniere.34 Reckwitz unterscheidet »Werk-Kreativität«, die sich in Produkten 32 A. Kluge, Personen und Reden, S. 43f. 33 Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M.: Campus 1989. 34 Andreas Reckwitz, Die Entdeckung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 253f., S. 256f.

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vergegenständlicht, von »Performance-Kreativität«, die an das sicht- oder hörbare Auftreten des Künstlers selbst gebunden ist.35 Kluges Kombination von unablässiger Produktion und dauernder Präsenz der Person in den Medien könnte man als Verbindung dieser beiden Formen von Kreativität verstehen, die erst möglich (und vielleicht auch notwendig) geworden ist durch die Ausweitung der Produktion vom geschriebenen Text auf die neueren audiovisuellen Medien. Eine solche Analyse legt es auch erneut nahe, die in der Literaturwissenschaft fest verankerte Unterscheidung von Werk und Kommentar, Text und Paratext, in Frage zu stellen. »Werk« und »Performance« gehören vielmehr in Alexander Kluges Produktionsstrategie untrennbar zusammen und durchdringen sich so weit, dass sie kaum mehr analytisch zu unterscheiden sind.36 Reckwitz betont allerdings einseitig die Bedeutung des »Neuen« im Kreativitätsdispositiv und unterschätzt demgegenüber die Rolle von Stabilität in der künstlerischen Kommunikation: Der Autor muss sich nicht allein als Innovator und Quelle immer neuer Einfälle darstellen, sondern fungiert zugleich auch als Garant eines halbwegs stabilen Bedeutungszusammenhangs zwischen einzelnen Werken. Seine Performance stellt nicht nur den Anschein von persönlichem Kontakt zwischen Autor und Publikum her, sondern soll auch Kontinuität und Wiedererkennbarkeit sichern, die gerade ein so vielfältiges und in wesentlichen Elementen avantgardistisches Werk benötigt. Kluge war sich dieses Zusammenhangs immer bewusst. Zumindest einen Teil der Schwierigkeiten des Autorenfilms mit seinem Publikum führte er darauf zurück, dass die deutschen FilmAutoren zu einseitig auf Innovation und Kreativität setzten und in jedem Film »die Filmgeschichte pro Stück jeweils neu erfinden«, so dass dem Kinopublikum wenig Anhaltspunkte zur Orientierung in diesen Werken angeboten würden. Gerade ein Kino das weitgehend auf Genre-Konventionen verzichte, benötige alternative Orientierungshilfen für die Zuschauer. 37 Für sich selber reklamierte Kluge in zunehmendem Maße die unverrückbare Stabilität seiner Produktionsmotive, aus deren Kontinuität auch sein Publikum Vertrauen schöpfen könne. In der Sprache der Soziologie könnte man von kulturellem oder Aufmerksamkeitskapital sprechen, das zwischen den verschiedenen Bereichen von Kluges Produktion transferiert wird.38 35 Ebd., S. 252-262. 36 Es ist deshalb ein grundlegendes Problem der Forschung zu Kluge, dass die Selbstkommentare und programmatischen Aussagen des Autors eigentlich nicht als solche vom Werk getrennten Texte gelesen werden dürfen, sondern ein integraler Bestandteil dieses Werkes (und damit auch kommentarbedürftig) sind. 37 Alexander Kluge, Die Patriotin, Frankfurt a.M.: Zweitausendeins 1979, S. 41f. 38 Vgl. A. Reckwitz, Die Entdeckung der Kreativität, S. 265.

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Gerade angesichts seiner enormen Produktivität hat Kluge es auch gar nicht nötig, seine Kreativität in den Vordergrund zu stellen. Statt dessen funktioniert er wie ein Markenzeichen: Auch wenn der Inhalt seiner Bücher, Filme und Fernseh-Magazine zunächst rätselhaft sein mag, ist ihr Stil unmittelbar wiedererkennbar und kann auf diese Weise dabei helfen, die Rezeption auf bestimmte, in früheren Produktionen etablierte Motive hin zu orientieren. Kluges Name, sein Gesicht und seine Stimme treten so häufig in Erscheinung, dass allein schon durch ihre Präsenz – unabhängig von bestimmten Inhalten – ein Zusammenhang der Produktion konstruiert wird. Während Kluges Arbeit ohne diesen Kontext wegen ihrer Vielfalt und ihrer offenen Struktur zunächst verwirrend wirken müsste, stellt die Konstanz seiner personalen Anwesenheit ein Versprechen von Qualität und Zusammenhang zur Verfügung: Was die Leser und Zuschauer früher schon einmal interessiert, fasziniert und engagiert hat, wird auch im nächsten Werk-Teil wieder zu finden sein und deshalb die Aufmerksamkeit lohnen. Eine Alternative zu Reckwitz Modell der Performanz-Kreativität findet sich in Ulrich Bröcklings Analyse des »unternehmerischen Selbst« als universalisiertem Rollenmodell. Beide Beschreibungen des jeweiligen Rollenverhaltens teilen sich erhebliche Schnittmengen, aber Bröcklings Analyse hebt Kreativität oder Innovation nur als eine von mehreren miteinander verbundenen Funktionen der Unternehmerrolle hervor: »Unternehmer sind erstens findige Nutzer von Gewinnchancen, zweitens Neuerer, sie übernehmen drittens die Unsicherheiten des ökonomischen Prozesses und koordinieren schließlich viertens die Abläufe von Produktion und Vermarktung.«39 Diese Beschreibung lässt sich ohne große Probleme mit Kluges Selbstdarstellungen und seinem allgemeinen Verhalten zur Deckung bringen, auch wenn die Terminologie des Autors gelegentlich anders aussieht. Unternehmerisches Verhalten hat er sich immer wieder zugeschrieben und dabei vor allem den Gegensatz zwischen unternehmerischen Individuen und großen Konzernen, die nach einer Monopolstellung streben, hervorgehoben. Während die literarische Produktion möglicherweise individuell betrieben werden kann (selbst wenn die materielle Produktion, Vermarktung und Distribution von Dritten übernommen wird), hat Kluges Engagement als Filmemacher und Fernsehproduzent sehr wohl koordinierenden Aufgaben eingeschlossen. Als literarischer Autor beschreibt Kluge sich als »Freiberufler«,40 der »Selbstständigkeit«41 als Basis seiner 39 Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 110. 40 A. Kluge, Reden und Personen, S. 86. 41 Ebd., S. 43.

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Produktivität betrachtet und die Risiken des Verkaufs seiner Produktion weitgehend selbst tragen muss, weshalb er sich bevorzugt direkt an sein Publikum wendet. Darüber hinaus aber hat Kluge früh verstanden, dass im Zeitalter der Massenmedien der einzelne Selbständige für die Erhaltung seiner Spielräume kämpfen muss, um nicht in die Abhängigkeit der Monopolinteressen zu geraten. Die »Organisierung und Verteidigung unabhängiger Öffentlichkeit« 42 durch publizistische Aktivitäten, Lobbyarbeit und die Gründung mittelständischer Medienunternehmen ist deshalb ein wesentlicher Bestandteil seiner Unternehmer-Rolle. Politisch bedeutsam ist dabei, dass Kluge unternehmerische Tätigkeit eben nicht mit der Ökonomisierung aller Arbeit identifiziert, sondern mit Selbständigkeit und Produktivität. Die Motive seiner Produktion (und seines Publikums) werden von den finanziellen Erfordernissen der Produktion strikt getrennt; Selbständigkeit meint nicht zuletzt die Fähigkeit, diese Motive gegen kommerzielle Interessen zu schützen. Praktisch bedeutete das die Etablierung und Rechtfertigung von Unternehmensmodellen, die Kapitalbeschaffung und zumindest einen Teil des finanziellen Risikos externalisieren: in den sechziger Jahren über die heftig umkämpfte staatliche Filmförderung, in den achtziger Jahren durch die »Fensterprogramme«, die nicht nur Sendezeiten im Programm der kommerziellen Anbieter belegen, sondern von diesen auch direkt finanziert werden müssen.43 Gerechtfertigt wird diese Subventionierung der Autorenarbeit durch Dritte über jene Stellvertreter-Rolle, die Kluge für sich (und andere Autoren) in Anspruch nimmt. So wie Kluge den Gärtner vom Dompteur unterscheidet, so findet das Produktionsmodell des Unternehmers seinen Gegenpol im profitorientierten Unternehmer, der nicht selbständig und kreativ produziert, sondern die Arbeit anderer hortet und ausbeutet – prototypisch skizziert in Kluges Auseinanderset-

42 Ebd., S. 30. 43 Dies ist eines der wenigen Felder, wo das ansonsten für die Unternehmerrolle wesentliche Konkurrenzmotiv (vgl. U. Bröckling, Das unternehmerische Selbst, S. 107) zum Tragen kommt, da Kluges Firma dctp bei der Neuvergabe der Sendeplätze in Konkurrenz zu anderen Anbietern steht, die schon seit längerem behaupten, dass die für die Lizenzvergabe zuständigen Landesmedienanstalten Niedersachsen und RheinlandPfalz Kluge (oder generell die etablierten Anbieter) unrechtmäßig bevorzugen. Zu den Kontroversen vgl. z.B. Claudia Tieschky, »Kunstfehler«, in: Süddeutsche Zeitung vom 06.09.2012; Michael Hanfeldt, »Sat1 wechselt nach Hamburg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.04.2012; »Ulrich Wickert verklagt Landesmedienanstalt«, in: Die Welt vom 22.08.2008.

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zung mit der Medienindustrie am Ende der siebziger und in den frühen 1980er Jahren.44 Zusammenfassend könnte man feststellen, dass Alexander Kluges Performance von Autorschaft in allen von ihm besetzten Medien die Voraussetzungen seiner Produktion herstellen soll. Sie stellt Zusammenhang her und erleichtert es dem Publikum, das in seiner Form scheinbar disparate Werk auf einen stabilen Kern von Motiven hin zu lesen. Allerdings ergeben sich durch diese Funktionalisierung performative Widersprüche, die hier nicht weiter verfolgt werden können: Die Autorität des Autors grenzt die Eigenarbeit des Publikums ein und erschwert es ihm, sich in der Auseinandersetzung mit diesem Werk selbst als Autoren zu konstituieren.45 Wer dies leisten will, muss den Autor als Selbstinterpreten seines Werks verabschieden und seine Auftritte selbst als Bestandteil dieses Werks betrachten, statt in ihnen paratextuelle Kommentare und Rezeptionsanleitungen zu sehen, die beliebig zur Ermittlung der wahren Absichten des Autors ausgeschlachtet werden können. Eine weiteres Problem ergibt sich aus dem Verhältnis zwischen der hier behaupteten strategischen Orientierung dieser Performance zu dem von Kluge vehement betonten Motiv des Vertrauens, das die Beziehung zwischen dem Autor und seinem Publikum grundieren soll. Eine Analyse seiner Selbstinszenierungsstrategie als Form der Markenwerbung gerät rasch in die Gefahr, dem Autor eine kalkulierte, zynische Haltung zu unterstellen, die dann in krassem Kontrast zum Inhalt seiner Aussagen stehen müsste, in denen ja die Orientierung am Allgemeinen emphatisch mit der Verfolgung persönlicher Motive verkoppelt ist. Zwar können solche Ansätze dabei helfen, die Strategien, an denen Kluge sich orientiert, zu entschlüsseln, statt sie lediglich nachzuerzählen, doch bleibt ein Ungenügen: Wer Kluges Werke ernsthaft sieht, hört und liest, wird immer wieder auf Elemente stoßen, die in solcher Strategie nicht aufgehen. Jenseits der kalkulierten (und gelegentlich routinierten) Inszenierung von Autorschaft gibt es da doch noch ein grundlegenderes Motiv, das Kluges Produktivität antreibt und überhaupt erst ermöglicht. Georg Stanitzek hat auf die »emphatische Geste« hingewiesen, die Kluges Rede von Autorschaft kennzeichnet, 46 und diese Beobachtung ist grundsätzlich auf seine Kommunikationsweise insgesamt anzuwenden. Die Kommunikation, und vor allem die direkte, nicht medial vermittelte Kommunikation mit anderen treibt diesen Autor an und motiviert ihn wohl auch 44 Vgl. A. Kluge, Die Patriotin, S. 300f. 45 Zur Kritik vgl. Werner Barg, Erzählkino und Autorenfilm. Zur Theorie und Praxis filmischen Erzählens bei Alexander Kluge und Edgar Reitz, München: Fink 1996, S. 190-198, S. 256f. 46 G. Stanitzek, Autorität im Hypertext, S. 2.

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jenseits aller strategischen Erwägungen, sich immer wieder für Interviews zur Verfügung zu stellen und selbst telefonische Anfragen von Unbekannten geduldig zu beantworten.47 Kluge scheint getrieben von einem unstillbaren Produktionsbedürfnis, das zugleich ein Kommunikationsbedürfnis ist und das sich nicht allein in Werken objektivieren kann, sondern seine ganze Person erfasst und durch sie artikuliert werden muss. Deren wichtigste Erscheinungsform ist die Stimme des Autors. An der Literatur, die der Autor Kluge ansonsten unbeirrt hochhält, störe ihn nur, dass sie keine Musik wiedergeben könne, hat er mehrfach erklärt, 48 aber für das Publikum muss man diesen Satz wohl dahingehend modifizieren, dass die Texte von Alexander Kluge zunächst seine Stimme nicht zu enthalten scheinen. Dieser Eindruck täuscht. Wer in Stunden über Stunden diese Stimme in seinen Filmen und Fernseh-Magazinen gehört hat, der wird es nicht vermeiden können, sie lautlos auch in den aufgeschriebenen Geschichten, Reden und Zeitungsinterviews wahrzunehmen, denn der Gestus von Kluges Sprechen, der die Grundlage seines Tons bildet, findet sich in allen seinen Äußerungen. Diese enge Verbindung von persönlicher und künstlerischer Kommunikation war in Kluges Arbeiten der sechziger Jahre noch nicht so deutlich ausgeprägt. Aus seinen frühen Texten und Filmen schien er sich weitgehend zurückzunehmen – die Erzählperspektive ist in den Methoden der Montage zu verorten, während öffentliche Äußerungen einen programmatischen Rahmen im Sinne der oben skizzierten Strategien herstellten. Vor- und Nachworte fungierten als deutlich separierte Paratexte, auch wenn die sprachliche Form dieser Texte mit ihrer Neigung zu theoretischen Verdichtungen durchaus Ähnlichkeiten mit den erzählten »Geschichten« aufwies. Die Unterscheidung wurde aber in dem Maße verwischt, in dem Kluge in den siebziger und frühen achtziger Jahren immer ausführlicher als Sprechender mit mehrfachen Funktionen in seinen Filmen auftrat und seine Stimme zu einem festen Bestandteil seiner Film- und Fernsehproduktion machte. Wenn Foucault Anfang der 1970er Jahre behauptet hatte, in der avancierten Literatur bestehe das »Merkmal des Schriftstellers [...] nur noch in der Eigenschaft seiner Abwesenheit«,49 so insistiert Kluge gerade durch seine Stimme auf der permanenten Anwesenheit des Autors. In seinen Fernsehmagazinen nimmt 47 Vgl. Georg Stanitzek, »With Friends on the Phone: Alexander Kluge’s ›Networks‹«, IASL online vom 31.12.2008, http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3019, Zugriff: 26.07.2013; Kathrin Röggla, »Eine Stimme mit Eigensinn«, in: taz vom 14.02.2002. 48 Vgl. zum Beispiel Alexander Kluge, »Das Handwerk des Erzählers«. 49 M. Foucault, Was ist ein Autor, S. 239.

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das eine schon geradezu rituell organisierte Form an, die visuelle Abwesenheit mit stimmlicher Präsenz koppelt: Die Kamera ist ganz auf seine Gesprächspartner konzentriert, und Kluges Stimme kommt aus dem off, so dass Stimme und Kamera miteinander identifiziert werden. Sicher hat diese unsichtbare Präsenz des Autors die Aufgabe, den Gesprächsfluss zu steuern und die Aufmerksamkeit seiner Partner ebenso wie die des Publikums zu fokussieren – also Autorität zu etablieren und Bedeutung zu stabilisieren. Kathrin Lämmle ist in einer detaillierten Analyse solcher Gespräche zu dem Schluss gekommen, dass gerade durch die »visuelle Abwesenheit des Interviewers« seiner Stimme besonderes Gewicht, eine intensivierte Präsenz zufalle. Der allein sichtbare Gast mutiere dadurch »zur Projektionsfläche Kluges«, der durch seine Stimme »trotz seiner Abwesenheit im visuellen On zum eigentlichen Gegenüber« des Zuschauers werde.50 Solche Beobachtungen fügen sich erneut in die zuvor beschriebenen Inszenierungsstrategien ein, verfehlen jedoch die ebenso wichtige ästhetische Dimension von Kluges stimmlich inszenierter Präsenz. Neben den sprachlich artikulierten Inhalten trägt nämlich die Stimme einen Klang, eine Art Musik bei. Immer wieder hat Kluge die Bedeutung von Tonlagen für die Orientierung in der Kommunikation hervorgehoben.51 »Ob ich jemandem vertrauen kann oder nicht, richtet sich [...] danach, wie einer spricht. [...] Ich mache da nicht eine Inhaltskontrolle permanent, sondern ich mache eine Tonlagenkontrolle.«52 Der Einsatz seiner eigenen Stimme ist sicher das beste Beispiel für diesen Ansatz. Dass Kluges Stimme im Gedächtnis kleben bleibt, betonen Rezensenten immer wieder.53 Kathrin Röggla hat den »leicht hektische[n] Duktus«, das »Nachhakende, das die Spur verfolgende, Widersprüche benennende« dieser 50 Kathrin Lämmle, »Die Stimme aus dem Off. Zu Form und Funktion der Interviewerstimme in den Fernsehmagazinen Alexander Kluges«, in: Oksana Bulgakowa (Hg.), Resonanz-Räume. Die Stimme und die Medien, Frankfurt a.M.: Bertz + Fischer 2012, S. 258-279, hier S. 266. 51 Waldemar Fromm/Christina Scherer, »Tonlagen. Anmerkungen zum Phänomen der Stimme in den Kulturmagazinen Alexander Kluges«, in: Fernsehen ohne Ermäßigung. Alexander Kluges Kulturmagazine, S. 54-62. 52 Zit. ebd., S. 54f. 53 Siehe z.B. Dieter Linz, »Pergamons Panorama, Kluges Stimme und Berlusputins Gehirn«, http://www.volksfreund.de/nachrichten/kolumnen/Kolumnen-kolumne-Kult urwoche-Pergamons-Panorama-Kluges-Stimme-und-Berlusputins-Gehirn;art260064,3 065659, Zugriff: 26.07.2013; Daniela Sannwald, »Kluge-Land revisited«, http://www. ray-magazin.at/magazin/2007/02/dossier-alexander-kluge-kluge-land-revisited, griff: 26.07.2013.

Zu-

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Stimme als »einen strukturell juristischen Stimmduktus« beschrieben.54 Harald Jähner dagegen glaubt, eine »irritierend einfühlsame, flüsternd leise und dennoch lebhafte Märchenonkelstimme« zu hören, in der Wissen und Staunen zugleich artikuliert werde,55 während Frank Olbert von einer »atemlosen, vor intellektueller Erregbarkeit sich schier überschlagenden Stimme, die leise und heiser ist und sich dennoch ins Ohr bohrt«, fasziniert ist.56 Einigkeit besteht darüber, dass diese Stimme den Zusammenhang stiftet, der für Kluge so wichtig ist.57 Aber neben ihrer Funktion als weiteres Markenzeichen und Wiedererkennungssignal ist ihre so schwer zu beschreibende Tonlage von entscheidender Bedeutung. Kluges Stimme drückt in den Fernsehgesprächen vor allem Beteiligung und Neugier aus, sie artikuliert den Spaß an neuen Entdeckungen, Erstaunen über unerwartete Äußerungen, skeptisches Nachhaken und, besonders regelmäßig, die Rückversicherung, dass man sich gegenseitig versteht: »ja?« Hier artikuliert sich, abseits von der Strategie, die andere Subjektform des Autors Alexander Kluge am deutlichsten: ein unbegrenzt neugieriger Fragensteller, der immer schon selbst mehr Antworten parat hat als seine Gesprächspartner, und doch nie ein Ende finden kann, weil die Kommunikation nicht abbrechen soll. Dass diese Kommunikation ebenso sehr von Wiederholungen und leichten Variationen einiger weniger Grundmotive lebt wie von immer neuen Entdeckungen, sichert nicht nur ihre Anschlussfähigkeit, sondern artikuliert auch das Grundmotiv des Autors, sich verständlich zu machen. Nur ausnahmsweise benötigt er dabei eine Pause. Aus Anlass seines achtzigsten Geburtstags antwortete er auf die Frage des Kulturjournalisten Dennis Scheck, was er sich denn zum Geburtstag wünsche: »Ruhe. Ich hab mir versprochen, drei Tage nicht zu arbeiten.«58

54 Kathrin Röggla, »Eine Stimme mit Eigensinn«, in: taz vom 14.02.2002, http://www.kl uge-alexander.de/zur-person/texte-ueber/details/artikel/eine-stimmemiteigensinn.html, Zugriff: 26.07.2013. 55 Harlad Jähner, »Grundbuch der inneren Partisanen«, in: Berliner Zeitung vom 9.10.2000, http://www.kluge-alexander.de/literarischer-autor/rezensionen/detailansich t/artikel/grundbuch-der-inneren-partisanen.html, Zugriff: 26.07.2013. 56 Frank Olbert, »Einer, der Fernsehen als Hörspiel begreift«, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 11.03.2010. 57 W. Fromm/C. Scherer, Tonlagen, S. 59. 58 »Alexander Kluge bei Dennis Scheck«, http://www.youtube.com/watch?v=eB3KGue Yndo, Zugriff: 26.07.2013.

Der Autor und sein Unternehmen Subjektivierungspraktiken Ernst-Wilhelm Händlers D AVID -C HRISTOPHER A SSMANN

I. K ORRELATIONEN Ernst-Wilhelm Händler gilt weiten Teilen des Feuilletons als der deutschsprachige Gegenwartsautor, der als einer der Ersten und Konsequentesten Prozesse gesellschaftlicher Ökonomisierung und deren Folgen für das, was gemeinhin als ›Subjekt‹ gilt, zum literarischen Thema gemacht hat. Und auch die Literaturwissenschaft führt mit Blick auf deutschsprachige Wirtschaftsliteratur der Jahrtausendwende Händler gewöhnlich an.1 Näher am Text arbeitende Einzelstudien weisen dabei üblicherweise darauf hin, dass Händlers Romane darum bemüht seien, die »strukturelle Überforderung«2 des Einzelnen in gesellschaftlichen Funktions-, insbesondere ökonomischen Kontexten literarisch »nachvollziehbar«3 zu machen. Die Beobachtung, die Texte setzten mit ihrer collagenartig und schwer überschaubar diverse Gattungen, Erzählstimmen und Stile kombinierenden Darstellungsform gleichsam »ein Hauptmerkmal der universalisierten Wirt-

1

Siehe für eine solche Zusammenstellung etwa Anke S. Biendarra, »Prekäre neue Arbeitswelt: Narrative der New Economy«, in: Julia Schöll/Johanna Bohley (Hg.), Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2012, S. 69-82, hier S. 74.

2

Daniel Lutz, »Navigationssinn. Zur literarischen Problemreflexion ökonomischen Wissens«, in: Christine Künzel/Dirk Hempel (Hg.), Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft, Frankfurt a.M./New York: Campus 2011, S. 251-266, hier S. 262.

3

Ebd.

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schaft in der ästhetischen Textur um«,4 verdeutlicht nicht zuletzt, dass es diesen Studien insbesondere um eines geht: um das Herausarbeiten einer strukturellen »Korrelation«5 zwischen den literarischen Schreibverfahren von Händlers Romanen und den sozial-psychologischen Konsequenzen, die sich für Subjekte aus Prozessen gesellschaftsstruktureller Ökonomisierung ergeben. In eben diesem Sinne lasse sich etwa mit Blick auf Wenn wir sterben (2002) resümieren: »Die Dominanz des Ökonomischen setzt sich bis in die formale Struktur de[s] Roman[s] fort. [...] Nicht die Handlungen der Figuren, ihr Organisieren, Kaufen und Verkaufen, Verhandeln, Optimieren oder Sabotieren machen die Romanhandlung aus, sondern das Thema des Ökonomischen verkettet das, was die Figuren tun, zu Handlungen.«6 So wie sich das Wirtschaftssystem über dezentrierte Kommunikationsketten in autopoietischer Manier selbstorganisiere, so seien Händlers Texte letztendlich weniger an einer Poetik des wirtschaftlichen Subjekts interessiert, als vielmehr um eine »poetische Beschreibung des wirtschaftlichen Systemzustandes und seiner Implikationen« 7 bemüht. Interessant ist die Feststellung, Händlers Romane profilierten eine strukturelle ›Annäherung‹ von ökonomischer Logik und Erzählverfahren zum einen deshalb, weil die Forschung eben diese Beobachtung dazu nutzt, um Händlers Texten eine spezifische Literarizität zuzuschreiben: »Indem wirtschaftliche Prozesse so in Erzählverfahren (um-)codiert werden, erweist sich die Fähigkeit der literarischen Fiktion, eine vom Wirtschaftlichen geprägte Wirklichkeit adäquat zu begreifen.«8 Unabhängig davon, ob diese nobilitierende Feststellung, die ›Fähigkeit‹ literarischer Texte betreffend, überhaupt in literaturwissenschaftliche Relevanzbereiche fällt, ist darüber hinaus zum anderen auffallend, dass die Forschung Händlers Schreibverfahren ausschließlich in Bezug zum »ökonomische[n] Subjekt in seinen Rollenmodellen, Handlungszwängen und vor allem in

4

Christoph Deupmann, »Narrating (New) Economy. Literatur und Wirtschaft um 2000«, in: Evi Zemanek/Susanne Krones (Hg.), Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld: transcript 2008, S. 151-161, hier S. 161.

5 6

D. Lutz, Navigationssinn, S. 263. Stefanie Ablass, »Ökonomisierung des Körpers: Interdependenzen von ökonomischer und physischer Sphäre im Wirtschaftsroman«, in: Evi Zemanek/Susanne Krones (Hg.), Literatur der Jahrtausendwende. Themen, Schreibverfahren und Buchmarkt um 2000, Bielefeld: transcript 2008, S. 163-177, hier S. 176.

7

C. Deupmann, Narrating (New) Economy, S. 152.

8

Ebd., S. 161.

S UBJEKTIVIERUNGSPRAKTIKEN E RNS T -W ILHELM H ÄNDLERS

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seinen Interessenskonflikten«9 setzt, wie es die Romane thematisieren. Aus dem Blick gerät damit nämlich viel Naherliegenderes: das Autorsubjekt ErnstWilhelm Händler – ein Umstand, der umso bemerkenswerter ist, als bereits eine flüchtige Sichtung der feuilletonistischen Auseinandersetzung mit den Texten des Münchner Autors zeigt, dass den subjekt-relativierenden Schreibverfahren der Ökonomie-Romane unter Rezeptionsgesichtspunkten gerade keine Relativierung des Autorsubjekts korrespondiert – ganz im Gegenteil: Es steht zu vermuten, dass nicht zuletzt auch die dekonstruierenden Schreibverfahren dafür verantwortlich zeichnen, dass Händler üblicherweise eine ›starke‹ Autorschaft zugeschrieben wird. Ohne an dieser Stelle einer vorschnellen ›Rückkehr des Autors‹10 das Wort zu reden, möchte ich hier gleichwohl einsetzen und etwas genauer nach der spezifischen Ausformung der Subjektform ›Autor‹ bei Ernst-Wilhelm Händler fragen. Dass es dabei nicht um eine ›hinter‹ dem literarischen Werk stehende, intentional handelnde, mit einer bestimmten biographischen Identität ausgestattete, »selbsttransparente[], reflexive[], mentale[] Instanz« 11 gehen kann, muss wohl nicht eigens betont werden. Unter ›Subjekt‹ lässt sich vielmehr spätestens oder noch einmal mit der sozialwissenschaftlichen Terminologie Andreas Reckwitz’ ein Produkt sozial-kultureller Praktiken verstehen: Die »›kleinste Einheit‹ des Sozialen«12 bilden demzufolge nicht ›die Subjekte‹, sondern ein vielfältiger »nexus of doings and sayings«. 13

9

Sandra Pott, »Wirtschaft in Literatur. ›Ökonomische Subjekte‹ im Wirtschaftsroman der Gegenwart«, in: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 4 (2004), Nr. 2, S. 202-217, hier S. 216-217.

10 Die literaturtheoretische Diskussion um die Relevanz des Autors in Literatur und Literaturwissenschaft, wie sie in der germanistischen Literaturwissenschaft vor allem seit den späten 1990er Jahren geführt wird, kann an dieser Stelle nicht rekapituliert werden. Siehe lediglich grundlegend Fotis Jannidis et al. (Hg.), Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999. 11 Andreas Reckwitz, »Subjekt/Identität. Die Produktion und Subversion des Individuums«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 75-92, hier S. 78. 12 Andreas Reckwitz, »Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive«, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2009), Nr. 4, S. 282-301, hier S. 290. 13 Ebd. mit Bezug auf Theodore R. Schatzki, Social Practices. A Wittgensteinian approach to human activity and the social, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 89.

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In literaturwissenschaftlicher Perspektive kommen an diesem Punkt schriftstellerische ›Inszenierungspraktiken‹ in den Blick, die die Position eines Autors innerhalb des literarischen Feldes markieren und sichtbar machen. Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser zählen zu diesen Praktiken sowohl textuelle und paratextuelle als auch habituelle Aktivitäten und Techniken.14 Durch Wechselwirkungen zwischen diesen Inszenierungspraktiken im engeren Sinne und Zuschreibungspraktiken anderer an Prozessen der Literaturvermittlung beteiligter Akteure (Verlagsmarketing, Literaturkritik etc.) entsteht das, was ich mit Dirk Niefanger als ›Autorenlabel‹ bezeichnen möchte. Niefanger ergänzt Foucaults Begriff der ›Autorfunktion‹, um die Beziehung zwischen Text und Autor zu betonen. Während der diskurstheoretische Begriff vor allem auf die Funktion des Autors im Diskurs abzielt, fragt der Begriff des Labels, »wie sich die Autorfunktion zum einzelnen Text«15 verhält. In dieser Perspektive kommt dem Autor zwar auch eine ›diskursive Klassifikationsfunktion‹ zu.16 Das Label dient darüber hinaus aber auch und gerade dazu, erstens den ›empirischen‹ Autor im literarischen Feld sichtbar zu positionieren, und zweitens als eine Art Etikett oder Ordnungshilfe den Text näher zu bezeichnen.17 Als Paratext ist es nicht Bestandteil des ›eigentlichen‹ Textes, ja es steht zu diesem »in einem engen, sogar in einem interpretativen Verhältnis«.18 Mit anderen Worten, das Autorenlabel ist das Bündel von spezifisch auf die Person des Autors bezogenen, diesen inszenie-

14 Vgl. Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: dies. (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011, S. 9-30, hier S. 10. 15 Dirk Niefanger, »Der Autor und sein Label. Überlegungen zur fonction classificatoire Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)«, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 521-539, hier S. 524. 16 Siehe Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: ders., Schriften zur Literatur, hg. von Daniel Defert u. Francois Ewald, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 234-270. 17 Vgl. D. Niefanger, Der Autor und sein Label, S. 525. In diesem Sinne ist der Begriff des ›Labels‹ allgemeiner gehalten als der vergleichbare der ›Marke‹. Während letzterer eine Markierung ist, die einer Ware eine spezifische Qualität zuschreibt, handelt es sich beim ›Label‹ lediglich um »ein Etikett, eine Aufschrift oder ein Schild, das präzise Angaben über ein Produkt gibt«, ebd., S. 521. 18 Ebd., S. 526.

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renden Praktiken der paratextuell-vermittelnden »Übergangszone«,19 die der Leser durchschreitet, wenn er zum eigentlichen Text vorstoßen möchte. Wenn ich in diesem Sinne im Folgenden Ernst-Wilhelm Händler auf sein Autorenlabel hin befrage, konzentriere ich mich auf zwei Gesichtspunkte: Zunächst interessiere ich mich dafür, wie Händler vom Feuilleton als Autorsubjekt in Szene gesetzt wird. Die beiden sich anschließenden Abschnitte beschäftigen sich dann mit der inszenierungspraktischen Seite des Autorenlabelings, wobei zunächst Händlers Inszenierung als ökonomischer Experte im Zentrum steht, um diese anschließend als explizierte auktoriale Distinktionsgeste gegenüber anderen Gegenwartsautoren im literarischen Feld zu lesen. Meine These ist bei all dem, dass Ernst-Wilhelm Händler mittels solcher epitextuellen Praktiken als Autorsubjekt in Szene gesetzt wird, die auf ein ökonomisches, das heißt paradoxerweise de-subjektivierendes Wissen zurückgreifen.

II. U NTERNEHMENSDICHTER Im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung findet sich im September 2004 ein beinahe ganzseitiger Beitrag zu ›Geschäftsmodellen‹ deutschsprachiger Gegenwartsautorinnen und -autoren. Unter dem Titel »Schreiben und verdienen: Die Businesspläne der Poeten« geht der collagenartig zusammengestellte und mit farbigen Autorenfotos versehene Artikel der Frage nach, wie deutsche Schriftsteller um 2000 ihren Unterhalt verdienen. Diejenigen Autoren, die ›Normalromane‹ schrieben, also keinen Bestseller mit anhängender multimedialer Marketingkette vorlegen könnten, seien nämlich darauf angewiesen, so der einleitende Begleittext, ihren Unterhalt in anderen, mithin nichtliterarischen Kontexten zu verdienen. Sechs solcher literarischen ›Businesspläne‹ stellt der FASZ-Artikel vor. Während demnach Sven Regener (Modell ›Der Wertschöpfer‹) mit seinem Bestseller Herr Lehmann als der »aktuelle TopVerdiener im deutschen Literaturbetrieb«20 auf der multimedial verwertbaren Erfolgswelle reite, sei Jakob Hein (Modell ›Der Psychiater‹) als Facharzt in der

19 Uwe Wirth, »Paratext und Text als Übergangszone«, in: Wolfgang Hallet/Birgit Neumann (Hg.), Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn, Bielefeld: transcript 2009, S. 167-177, hier S. 171. Vgl. allgemein Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, 3. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. 20 »Schreiben und verdienen: Die Businesspläne der Poeten«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.09.2004.

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Berliner Charité »[f]roh, als Mediziner dem Literaturbetrieb nicht ausgeliefert zu sein«.21 Georg M. Oswald (›Der Advokat‹) habe sich demgegenüber als Rechtsanwalt auf Arbeits- und Gesellschaftsrecht spezialisiert und Felicitas Hoppe (›Die Vorleserin‹) sei immer wieder auf Lesereise unterwegs, um ihren Lebensstandard zu finanzieren. Der Rückblick in die deutsche Literaturgeschichte könne zudem einmal mehr die offensichtlich singulär-zeitlose Position Goethes herausstreichen, habe der ›Klassiker‹ doch auf einen durch mehrere Säulen gestützten Finanzierungsplan seiner literarischen Arbeit zurückgreifen können: von Erbschaften und Schenkungen bis hin zum sicheren Beamtengehalt. Komplettiert wird die Zusammenschau betrieblich-literarischer ›Businesspläne‹ durch das Modell Ernst-Wilhelm Händlers: »Er sieht aus wie ein mittelständischer Unternehmer – und tatsächlich: Er ist einer. Der 1953 geborene Ernst-Wilhelm Händler produziert so unspektakuläre Dinge wie Schaltschränke und Installationsverteiler. Niederlassungen hat seine Firma in Argentinien und Italien. Wer mit ihm spricht, bekommt Dinge zu hören, die jeder Unternehmer ähnlich sieht und unterschreiben würde: Die Tarifabschlüsse sind zu hoch, der Mittelstand hat es besonders schwer, für die Karriere sind bestimmte Opfer zu bringen etc. Doch Händler hat noch eine zweite Seite. Seit 1995 findet sich sein Name weniger im Wirtschaftsteil der Regionalzeitung als vielmehr in den Feuilletons der überregionalen Blätter. [...] Händler verlegt sich beim Schreiben auf ein Milieu, das er bestens kennt und das in der deutschen Belletristik bislang zu kurz kam: die Wirtschaft und ihre Akteure bilden den Rahmen seiner nicht leicht zu konsumierenden Literatur [...].«22

Bemerkenswert ist diese Collage im Allgemeinen, der Artikel zu Händler im Besonderen, weil sie den üblichen feuilletonistischen Umgang mit dem Münchner Autor gleichsam exemplifiziert, ja dessen Label geradezu vorbildlich aktualisiert. So steht zu Beginn, häufig aber auch im Zentrum der literaturkritischen Auseinandersetzung mit Händler zumeist weniger die Literatur, als vielmehr der Beruf des Autors. Den Umstand, dass Händler nicht nur ›wie ein mittelständischer Unternehmer‹ aussehe, sondern tatsächlich auch ein solcher sei, nutzt die Literaturkritik nahezu durchgehend dazu, Werk und Biographie des Autors mit seltener hermeneutischer Selbstverständlichkeit zueinander in Beziehung zu setzen. Denn so sehr das Feuilleton die beiden Bereiche von Händlers »ziemlich kräftezehrende[m] Doppelleben«23 in biographischen Hinsichten als voneinander 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Rolf Thym, »Wie Sprachwelten eines Unternehmers die Feuilletons erobern«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15.05.1999.

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getrennt beschreibt, verschränkt sie diese im selben Zug gleichwohl miteinander, um das ›Spezifische‹ der literarischen Texte des Autors beschreiben zu können. Der betont strikten Trennung zwischen »intensive[m] Brotberuf«24 einerseits und literarischem Schreiben andererseits, mitunter als Kafka-Modell des »nachts, an Wochenenden und auf Reisen«25 literarisch tätigen Autors realisiert, werden so Lesarten gegenübergestellt, die gezielt Ausbildung und Beruf des Autors mit Thema und Form der Texte parallelisieren. So wird die berufliche Tätigkeit des Autors als Unternehmer und Manager seit dessen ersten Veröffentlichungen nicht nur als eine in dieser Form einmalige Konstellation in der deutschsprachigen Literatur seit den 1990er Jahren präsentiert – Händler wird zur »Ausnahmeerscheinung unter den deutschsprachigen Gegenwartsautoren«,26 ja zum »Unikum in unserer gegenwärtigen Literatur« 27 stilisiert. Um Überlegungen zu den Texten Händlers argumentativ zu entwickeln und in einem anschaulichen Bild verdichten zu können, schreiben weite Teile der Literaturkritik dem Alltagsberuf des Autors darüber hinaus eine produktionsästhetisch nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Setzen Händlers Romane demnach auf »antinarrative[] Strategie[n] der Entdifferenzierung bedeutungstragender Elemente«,28 um ökonomische Zusammenhänge als Depotenzierung der beteiligten Subjekte literarisch zu thematisieren, so beruhten diese Verfahren auf dem aus der Manager-Tätigkeit Händlers generierten Wissen. Bei einem Autor, der ökonomische Kontexte so nachdrücklich zum Thema seines Schreibens mache und gleichzeitig Unternehmer sei, also schlichtweg wisse, wovon er schreibe, müsse gerade der biographische Hintergrund Rückschlüsse auf die Form der literarischen Texte zulassen. Doch obwohl oder gerade weil immer wieder betont wird, Händlers Romane setzten, geschult durch die ökonomische Expertise ihres Autors, die durch wirtschaftliche Prozesse bedingte Dekonstruktion des Subjekts performativ um, 24 Helmut Böttiger, »Wenn das eigene Leben plagiiert wird«, in: Deutschlandradio Kultur vom 9.11.2006, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/561064/, Zugriff: 30.10.2013. 25 Martin Lüdke, »Der Global Player kommt aus Niederbayern. Ernst-Wilhelm Händler erzählt die Comédie humaine des 21. Jahrhunderts«, in: Lutz Hagestedt/Joachim Unseld (Hg.), Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler, Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2006, S. 161-170, hier S. 162. 26 Sabine Franke, »Wär so gern ein Partisan«, in: Frankfurter Rundschau vom 4.10.2006. 27 M. Lüdke, Der Global Player kommt aus Niederbayern, hier S. 162. 28 Thomas E. Schmidt, »Ultra-Transparenz. Ernst-Wilhelm Händlers Ökonomie des Textsinns«, in: Lutz Hagestedt/Joachim Unseld (Hg.), Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler, Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2006, S. 245-255, hier S. 251-252.

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erweist sich in großen Teilen der feuilletonistischen Rezeption Händlers einmal mehr, dass der literarisch vorgeführten »fortschreitenden Sinnentleerung«29 in den Romanen eines zumindest nicht notwendigerweise korrespondieren muss: die Depotenzierung des Autorsubjekts. Dass Händler Schriftsteller und Unternehmer »in Personalunion«30 sei, somit zwei Subjektformen miteinander verbinde, ja auf geradezu idealtypische Weise »die Verbindung von Wirtschaft und Literatur«31 repräsentiere, führt dazu, dass der Autor nahezu immer mit der Doppelung ›Unternehmer und Schriftsteller‹32 präsentiert wird. Nicht zuletzt Volker Weidermann ist es, der in seiner kurzen Literaturgeschichte der deutschen Literatur seit 1945 einmal mehr ›Literatur und Leben‹ rhetorisch-narrativ miteinander zu verschränken weiß, wenn er bemerkt, Händler habe sein literarisches Projekt just in dem Moment in Angriff genommen, »als er die Firma übernahm«.33 Das von Weidermann eingeführte Kompositum des »Unternehmensdichter[s]«34 bringt denn auch das feuilletonistisch tradierte Autorenlabel Händlers vielleicht am prägnantesten auf den Punkt. Die derart aktualisierte Subjektform ›Autor‹ beruht jedoch nicht nur auf feuilletonistischen Zuschreibungen, sondern korrespondiert auch und gerade mit epitextuellen Inszenierungspraktiken, die dem Autor zugeschrieben werden können.

III. DIN-N ORM Dass es Händler selbst um die Akkumulation symbolischen Kapitals im literarischen Feld geht, verdeutlicht nicht nur der Umstand, dass er für längere Interviews oder Gespräche in Zeitschriften wie Sprache im technischen Zeitalter oder Neue Rundschau zur Verfügung steht, die mit nicht wenig symbolischem Kapital ausgestattet sind. Darüber hinaus platziert er immer wieder Essays im deutschen

29 Ebd., S. 252. 30 Alexander Kissler, »Im ewigen Unterwegs. Paul Kirchhof und Ernst-Wilhelm Händler über Markt und Literatur«, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.05.2009. 31 »Schriftsteller und Unternehmer. Erik-Reger-Preis für Schilderung der Arbeitswelt verliehen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.05.1999. 32 Siehe für viele exemplarisch die paratextuelle Bezeichnung des Autors am Ende des Artikels Ernst-Wilhelm Händler, »Die vorgestanzte Sprache. Was kann ein Dichter sagen?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.09.2009. 33 Volker Weidermann, Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur seit 1945 bis heute, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 235. 34 Ebd., S. 234.

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Qualitätsfeuilleton etwa von FAZ, Süddeutscher Zeitung oder Merkur und tritt zudem wiederholt als Teilnehmer an öffentlichen Podiumsdiskussionen in prominenten, zumeist bildungsbürgerlich konnotierten Institutionen auf – wie zum Beispiel im Rahmen der Frankfurter Literaturausstellung »Goethe und das Geld« zum Thema ›Literatur und Finanzkrise‹.35 Mag diese Praxis für literarische Akteure auch zunächst nicht ungewöhnlich sein, sticht bei Händlers paratextueller Kapital-Akkumulation gleichwohl ins Auge, dass er bei den genannten Gelegenheiten zwar immer auch als ›Schriftsteller‹ bezeichnet wird; in den Interviews, Essays und öffentlichen Auftritten fällt die ökonomische Seite des Labels ›Unternehmensdichter‹ jedoch keineswegs weg, sondern wird zumeist explizit betont bzw. ist der Grund, warum Händler überhaupt eingeladen worden ist. Mit anderen Worten, der Autor äußert sich immer auch und gerade entweder als literarischer Autor mit ökonomischem Portfolio oder als ökonomischer Experte mit literarisch-akademischem Hintergrund. So ist es gerade die je nach Erwartungshorizont des jeweiligen institutionellen Kontextes justierbare Doppelexpertise, mit der Händler sich genauso zur literarischen Tradition, philosophischen Grundfragen und zur Ästhetik seines jeweils neuen Romans wie zur Finanzkrise,36 zum Problem der Arbeitslosigkeit und Aussichten auf Vollbeschäftigung äußert, um darüber hinaus zu Fragen des Verhältnisses von Moral und Wirtschaft,37 zur CDU-Spendenaffäre38 oder zur Bildungspolitik nach Bologna und physikalischen Erkenntnissen Stellung zu nehmen.39 Und tatsächlich lässt Händlers Habitus, wie er immer wieder durch schlichte Anwesenheit auf Podiumsdiskussionen, Lesungen, Interviews, aber auch durch Fotos, die Rezensionen oder Essays des Autors beigefügt sind, dokumentiert ist, 35 Vgl. http://goetheunddasgeld.com/veranstaltungen vom 17.09.2012. Siehe auch etwa Volker Breidecker, »Eine Betriebsbesichtigung. Berliner Republik und Frankfurter Römerberggespräche«, in: Süddeutsche Zeitung vom 19.11.2007; A. Kissler, Im ewigen Unterwegs. 36 Siehe Ernst-Wilhelm Händler, »Gesellschaft unter Kontrollillusion. Die Finanzkrise ist nicht das Ergebnis eines überschäumenden Kapitalismus. Sie ist nur geeignet, uns falsche Vorstellungen von der Wirtschaft zu nehmen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.12.2008. 37 Ernst-Wilhelm Händler, »Bares Geld. Warum denkt ein Unternehmer über die Moral der Wirtschaft und des Marktes nach?«, in: Süddeutsche Zeitung vom 2.10.2003. 38 Ebd. 39 Ernst-Wilhelm Händler, »Den Punkt finden, an dem eine Kraft auf die andere trifft. Warum es besser für den Menschen ist, wenn er keine historischen Momente miterlebt, die unzweifelhaft solche sind«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 1.10.2006.

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eher auf einen Manager als einen Schriftsteller schließen. Lässt sich grundsätzlich feststellen, dass es »eigentlich kein Spezifikum des Autorenportraits«40 gibt, so dass sich immer auch die Frage stellt, »ob die Abgelichteten nicht ganz normale Menschen sein könnten, Nicht-Autoren, Politiker, Wissenschaftlerinnen, Medienstars«,41 tritt dem Feuilleton-Leser und dem Publikum auf Lesungen im Falle Händlers »ein[] Mann mit ausgesuchten Maßanzügen und Krawatten« 42 entgegen. Händler setzt sich mithin dezidiert nicht als Schreibender, Schriftsteller, als Intellektueller oder Künstler in Szene – wie immer das in gesellschaftlichen Kontexten der Jahrtausendwende konkret aussehen würde –, sondern tritt mit einem Habitus auf, der ihn viel eher als mittelständischen Unternehmer oder Manager zu erkennen gibt.43 Zwei Interview-Beispiele mögen die hier nur grob angedeutete habituelle Dimension der Inszenierungspraxis für den paratextuellen Bereich verdeutlichen. Das erste Beispiel ist eine Passage aus einem Essay mit dem Titel »Und tschüss. Was die sinkende Verweildauer der Vorstandsvorsitzenden über den Stand des Kapitalismus verrät«, der im Juni 2007 im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung erschienen ist. Mit dem Ziel, das sich immer schneller drehende Personalkarussel in den Vorstandsetagen großer deutscher Unternehmen wie etwa DaimlerBenz zu erklären, weiß Händler mit einer historisch-systematischen Einordnung der gegenwärtigen Entwicklungen akademisch zu glänzen: »Zu den heutigen Produktionsbedingungen des Subjekts gehört, dass es sich nur noch als Fluchtpunkt aller Definitions- und Steuerungsbemühungen sieht. Die Krise des Ich in der Literatur und in der Philosophie spielt in den Geisteswissenschaften die Rolle einer DINNorm. Die Neurowissenschaftler haben Nietzsche gelesen (oder auch nicht), der darauf bestand, dass sich das Ich erst aus seinen Fähigkeiten ergibt. Im Überwachen und Strafen wurde der Einzelne unterfordert, das globale Wirtschaftssystem aber basiert auf der strukturellen Überforderung. Es scheint, als gebe es keine Räume jenseits des Geldverdienens. 40 Martina Wagner-Egelhaaf, Ikonoklasmus. Autorschaft und Bilderstreit, in: Christel Meier/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Autorschaft. Ikonen – Stile – Institutionen, Berlin: Akademie 2011, S. 347-363, hier S. 360. 41 Ebd. 42 Helmut Böttiger, Händler und der Literaturbetrieb, in: Lutz Hagestedt/Joachim Unseld (Hg.), Literatur als Passion. Zum Werk von Ernst-Wilhelm Händler, Frankfurt a.M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2006, S. 61-71, hier S. 61. 43 Siehe besonders prägnant das Portrait von Daniel Pilar zu Ernst-Wilhelm Händler, »Eins zu eins. West-Mark und Ost-Mark, Karl Marx und Henry Miller, Frühjahr und Herbst, Leipzig und Gleiwitz, Vater und ich«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 9.10.2011.

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Die Anforderungen sind nie abgeschlossen, der Wettkampf ist nie zu Ende. Was bleibt vom Subjekt?«44

Mit dem Rückgriff auf Großtheorien von Nietzsche über Foucault und Luhmann bis hin zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen positioniert sich Händler mit Passagen wie dieser auf dem Höhenkamm philosophisch-naturwissenschaftlicher Gesellschafts- oder Subjektentwürfe, um von dort aus die Depotenzierung der Autonomie und Selbsttransparenz des Einzelnen zu diagnostizieren, wie sie in ökonomisierten Strukturzusammenhängen gleichsam zu sich selbst gekommen sei. Und so heißt es als conclusio im letzten Satz des zitierten Artikels beinahe aphoristisch-apokalyptisch: »Die Krise des Ich ist in der Philosophie und den Künsten zuerst reflektiert worden. Ihre reinste Ausprägung erfährt sie in der Ökonomie.«45 Gleichwohl korrespondiert der solchermaßen von Händler diagnostizierten ›Krise des ökonomischen Ich‹ ganz augenscheinlich keine ›Krise des Autorsubjekts‹, denn es ist der Experte Händler, der eben diese Diagnose öffentlich anstellt und sich damit zumindest partiell als außerdiskursiver Beobachter in Szene setzt. Auch ein zweites Beispiel betont diesen Effekt der auktorial-epitextuellen Inszenierungspraktik. Dabei handelt es sich um ein Zitat aus einem längeren Interview mit Thomas Assheuer und Christof Siemes von 2005, das im Feuilleton der Zeit unter der Überschrift »Der Firma Deutschland fehlt der Auftrag« erschienen ist. Das Interview setzt wie folgt ein: »DIE ZEIT: Herr Händler, beunruhigt Sie die Lage in Deutschland mehr als Unternehmer – oder mehr als Schriftsteller? Ernst Wilhelm Händler: Als Schriftsteller kann ich mich nicht beschweren. Trotz aller Klagen werden so viele Bücher publiziert wie nie. Und auch gelesen. Wenn ich mich sorge, dann als Unternehmer. ZEIT: Worin besteht diese Sorge? Händler: Wir haben ein massives ökonomisches Problem, wir verzeichnen einen Wohlstandsverlust in Verbindung mit einer hohen Zahl von Arbeitslosen. Das ökonomische Problem rührt aber nicht von der Globalisierung her, das ist Unsinn. Deutschland ist eine Firma, die früher viele Dinge konnte, die andere nicht konnten.«46 44 Ernst-Wilhelm Händler, »Und tschüss. Was die sinkende Verweildauer der Vorstandsvorsitzenden über den Stand des Kapitalismus verrät«, in: Süddeutsche Zeitung vom 11.06.2007. 45 Ebd. 46 Thomas Assheuer/Christof Siemes, »Der Firma Deutschland fehlt der Auftrag«, in: Die Zeit vom 30.06.2005.

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Während Assheuer und Siemes einmal mehr Händlers Label aufgreifen, wie es im Feuilleton kursiert, und die Alternative von ›Schriftsteller‹ und ›Unternehmer‹ zu Beginn des Interviews explizit aufmachen, kreisen die folgenden Fragen und Antworten um dezidiert ökonomische Probleme von gesellschaftspolitischer Tragweite. Es geht um Sozialhaushalte, Legislaturperioden und Aussichten auf einen radikalen Umbau des ökonomischen Systems in Deutschland. Erst im letzten Drittel kommt das Interview schließlich ansatzweise wieder auf literarische Fragen zu sprechen, die dann zudem nur kursorisch und immer in Bezug zu Fragen die Wirtschaft betreffend behandelt werden. Mit dieser für HändlerInterviews typischen Binnengliederung in zwei Teile – einen ›literarischen‹ und einen ›ökonomischen‹ – ist der Effekt dieser epitextuellen Praxen die Inszenierung des Autors als akademisch und ökonomisch ausgewiesenen Experten, der gesellschaftsstrukturelle Entwicklungen, paradoxerweise nicht zuletzt die Depotenzierung des Subjekts durch ökonomische Entwicklungen, souverän zu kommentieren und einzuordnen weiß.

IV. ABHÄNGIGKEITEN Dass Händlers ökonomische Expertise im Modus eines ökonomischen poeta doctus, im engeren Sinne eines akademisch gebildeten, insbesondere auf einen Wissensbereich (Ökonomie) spezialisierten Autors, immer im Wesentlichen als Positionsnahme im literarischen Feld zu verstehen ist, verdeutlicht nicht nur der Umstand, dass die Essays und Interviews üblicherweise in feuilletonistischen Kontexten platziert sind. Tatsächlich fällt darüber hinaus auf, dass Händler, wenn er wiederholt betont, sich als Unternehmer im Vergleich zu anderen Autoren »in einer sehr unabhängigen Position«47 zu befinden, weil er mit seinen Büchern nicht unbedingt Geld verdienen müsse, eben jenen Ordnungsmechanismus expliziert, den die soziologische Feldtheorie bekanntlich als für das literarische Feld strukturbildend beschreibt. Die Autonomie der Literatur hat sich Bourdieu zufolge »zum spiegelverkehrten Gegenbild der ökonomischen Welt [...] herausgebildet: Wer in sie eintritt, hat an Interesselosigkeit Interesse.« 48 Händler, so könnte man sagen, setzt sich als ein Autor in Szene, der sein Wissen über die Zusammenhänge des ökonomischen Feldes gerade nicht dazu nutzt, um

47 Aussage von Händler, zitiert nach R. Thym, Wie Sprachwelten eines Unternehmers die Feuilletons erobern. 48 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, 3. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 342.

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Bestseller marketingstrategisch platzieren zu können, sich also am heteronomen Pol des literarischen Feldes zu positionieren. Er will vielmehr als ein Autor verstanden werden, der, betritt er das literarische Feld, sein für ökonomischen Erfolg nützliches Kapital gänzlich verabschiedet – und mit eben dieser Geste der Negation vorgibt, symbolisches Kapital zu akkumulieren. Händlers Selbstbeschreibung zielt so gesehen auf die Inszenierung von (ökonomischer) Interesselosigkeit in literarischen Kontexten. Dass das literarische »Schreiben [...] für Händler nicht existenzentscheidend [sei; DCA]«,49 bringt der Autor nicht zuletzt dann ins Spiel, wenn er sich in Interviews zu Fragen der Literaturförderung äußert. So kommt er etwa in einem Gespräch mit Alexander Wasner und Joachim Unseld auf dieses Thema zu sprechen. Den Hinweis auf seine »zwei Berufe«,50 die es ihm erlaubten, »die Dinge aus einer etwas anderen Warte«51 zu betrachten, ja gar »offener reden [zu können; DCA] als andere Autoren«,52 nutzt Händler schließlich argumentativ, um sich vom literarischen Schreiben solcher Autoren zu distanzieren, die von »Bucheinkünften, Lesereisen und Stipendien – allerdings sehr bescheiden – leben.«53 Händler asymmetrisiert das Bedingungsverhältnis zwischen Literatur und deren sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, um mittels dieser Beobachtungsdirektive über die durch literaturfördernde Instrumente erzeugten Effekte zu spekulieren: »Außerdem hat es [das Anliegen der Literaturförderung; DCA] literarische Folgen. Wer sofort nach dem erfolgreichen Debüt freier Schriftsteller wird, sperrt sich selber vom Leben ab. Das tut der Literatur nicht gut, da sind wir wieder bei der Befindlichkeitsliteratur.«54 Das Argument, er selbst habe seinen »ökonomischen Druck woanders«55 (also im Unternehmen, nicht beim literarischen Schreiben), gerät mithin zu einer Geste der Distinktion gegenüber literarischen Kollegen, ja insgesamt als Inszenierung einer produktionsästhetisch gefärbten Autonomisierungsgeste gegenüber ökonomischen Ansprüchen. An anderer Stelle des Gesprächs ist denn auch explizit von außerliterarischen, heteronomen »Abhängigkeit[en]«56 die Rede, von denen sich Händler abgegrenzt wissen 49 Schreiben und verdienen. 50 Ernst-Wilhelm Händler/Joachim Unseld, »Wir essen halt mit Messer und Gabel«, in: Alexander Wasner (Hg.), Ich möchte lieber doch. Fernsehen als literarische Anstalt, Göttingen: Wallstein 2008, S. 39-51, hier S. 40. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 47. 54 Ebd., S. 50. 55 Ebd., S. 47. 56 Ebd., S. 50.

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möchte. An seinen eigenen Texten, so legen es die zitierten Passagen nahe, ließen sich ökonomische Voraussetzungen literarischen Schreibens eben nicht ›ablesen‹ – und dies mitunter gerade weil sie ökonomische Prozesse spezifisch, das heißt dem ökonomischen Wissen des Autors geschuldet, thematisierten. Auf der anderen Seite nutzt dieser nämlich dezidiert den Verweis auf seinen Beruf als Unternehmer und Manager, um sich nicht nur thematisch, sondern auch und gerade als Autorsubjekt sichtbar im literarischen Feld zu positionieren. Expliziert wird dies durch seinen Hinweis auf einen grundsätzlichen ›blinden Fleck‹ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. So bemerkt Händler: »Obwohl dieses Feld das Leben der Menschen in einem so hohen Ausmaß bestimmt, gibt es in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur in Bezug auf das Ökonomische einen blinden Fleck. Entweder sind die Inhalte recherchiert, oder das Ökonomische kommt nur als Randbedingung vor. Ich bin in der glücklichen Lage, dass ich das nach wie vor ausübe, ich mache es jeden Tag. Ich muss nichts recherchieren, und ich merke, hier ist ein Problemfeld, für das sich der Leser interessiert.«57

In den Blick kommt mit all dem eine geradezu paradoxe Inszenierungspraxis Händlers. Diese sucht einerseits gezielt ökonomische Formen, Strukturen und Kontexte, um sie literarisch zu verarbeiten, streift ökonomisches Kapital mit dem Eintritt ins literarische Feld indes gleichzeitig ausdrücklich ab, um an symbolischem Kapital zu gewinnen. Ihre Legitimität erhalten Händlers dekonstruierende Texte dann jedoch erst durch den hermeneutisch grundierten Hinweis auf seinen biographischen Hintergrund als ökonomischer Experte. Und genau in dieser Ambivalenz zwischen Literatur und Ökonomie, Werk und Biographie findet das Label des Autors seinen subjektivierenden Ort. Was lässt sich also für die Ausgestaltung der Subjektform ›Autor‹ im Falle Ernst-Wilhelm Händlers festhalten? Als Ergebnis möchte ich drei Punkte zusammenfassen: Erstens impft der paratextuelle Subjektivierungsprozess mittels feuilletonistischer Zuschreibungen die beiden Subjektformen ›Unternehmer‹ und ›Schriftsteller‹ auf einen Subjektstamm. Dem korrespondiert zweitens Händlers Praktik, sich als poeta doctus in Szene zu setzen, der insbesondere für ökonomisierte Gesellschaftsbereiche eine Krise des Subjekts diagnostiziert. Dabei wird die Beobachtung der Subjekt-Dekonstruktion von Händler derart mit ökonomischer Expertise angereichert, dass der Autor selbst als Subjekt umso deutlicher hervortritt. Das durch diese Subjektivierungspraxis erzeugte Autorenlabel 57 Ernst-Wilhelm Händler/Joachim Unseld, »Auf dem Weg zur ›Grammatik der vollkommenen Klarheit‹. Ernst-Wilhelm Händler im Gespräch mit Joachim Unseld«, in: Neue Rundschau 122 (2011), Nr. 2, S. 153-162, hier S. 159-160.

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›Unternehmensdichter‹ dient drittens der Akkumulation symbolischen Kapitals im literarischen Feld und damit Händler als Distinktion gegenüber anderen literarischen Akteuren. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wäre schließlich durchaus zu überlegen, ob nicht die Form der Autorenlabels anderer Autoren der Jahrtausendwende – zu denken wäre etwa an die Juristin Juli Zeh – analog strukturiert ist: nämlich als Positionsnahme im literarischen Feld über das Ausflaggen einer auf Gesellschaftsdiagnose abzielenden Expertise für bestimmte, zunächst einmal nicht-literarische Funktionsbereiche. Der Unterschied zu Händler bestünde dabei gleichwohl in der fehlenden Schärfe des unter feldtheoretischen Gesichtspunkten maßgeblichen Kontrastes zwischen ›Ökonomie‹ und ›Anti-Ökonomie‹ der Literatur.

Poeta doctus docens Poetikvorlesungen als Inszenierung von Bildung G UNDELA H ACHMANN

Der poeta doctus oder die poeta docta ist im gegenwärtigen Literaturbetrieb nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Akademische Titel und Abschlüsse, vor allem aus geisteswissenschaftlichen Disziplinen, sind ein nahezu selbstverständlicher Teil einer Autorenvita geworden.1 Schriftsteller und Schriftstellerinnen stehen unter anderem deshalb immer wieder Rede und Antwort zu ihren Bildungswegen, weil sie so ihre eigene Marke auf dem Buchmarkt profilieren, was in zunehmendem Maß eine wesentliche Strategie für literarischen Erfolg darstellt.2 In Interviews, Biografien, Fernsehporträts, vor allem aber in den ganz kurzen Textsorten wie Klappentext, Kurzbiografie oder Werbekatalogfeature spielt der Bildungsgang eines Autors oder einer Autorin eine prominente Rolle und kann den Status als essenzielle Kerninformation, wenn überhaupt, dann nur an Literaturpreise oder Auszeichnungen, also Erfolgsplaketten, abtreten. Ein prägnantes Beispiel bietet die Kurzinformation, die einem Interview von Axel Helbig mit Ulrike Draesner vorangestellt ist: 1

In ihrer statistischen Analyse von erfolgreichen literarischen Debüts im Zeitraum zwischen 2000 und 2010 konstatiert Susanne Krones: »Analysiert man Studien- und Ausbildungswege der 50 ausgewählten Debütantinnen und Debütanten, ist der Befund eindeutig: Der belletristische Debütant der Nuller-Jahre ist Akademiker, vorwiegend Geisteswissenschaftler.« Susanne Krones, »Innovation und Konvention. Literarische Debüts zwischen 2000 und 2010«, in: Johanna Bohley/Julia Schöll (Hg.), Das erste Jahrzehnt. Narrative und Poetiken des 21. Jahrhunderts, Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, S. 197-211, hier S. 200.

2

Vgl. Stefan Neuhaus, »Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb«, in: Wirkendes Wort 61 (2001), S. 313-328, hier S. 314.

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»ULRIKE DRAESNER, geboren am 20.1. 1962 in München, studierte zwischen 1981 und 1989 Rechtswissenschaft, Germanistik, Anglistik und Philosophie, in München und Oxford. In dieser Zeit wurde sie unter anderem durch die Hochbegabtenstiftung Maximilianeum gefördert. 1992 Promotion in Germanistischer Mediävistik. 1989 bis 1993 Wissenschaftliche Assistentin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lebt seit 1996 als freie Autorin in Berlin. 1998 Poetikdozentur in Birmingham, 2004 und 2006 Gastprofessorin am Literaturinstitut der Universität Leipzig. 2005 Poetikdozentur Kiel, 2006 Bamberger Poetikdozentur, 2009 Poetikdozentur Wiesbaden.«3

Erst im Anschluss daran folgen Informationen zu Draesners Veröffentlichungen als Autorin und Übersetzerin. Ihr Bildungsgang stellt einen zentralen Aspekt der Marke ›Ulrike Draesner‹ dar, eine Garantie für intellektuelle Exzellenz und hohes Niveau. Sie hat ja auch alles aufzuweisen, was zu wünschen wäre: Hochbegabtenförderung, Besuch einer der angloamerikanischen Eliteuniversitäten, Promotion an einer renommierten deutschen Universität. So führt ihr Weg nicht nur zur Autorin, sondern zur lehrenden Autorin, der Poetikdozentin. Ihre Ausbildung ist immer wieder Gegenstand der Diskussion in Draesner-Interviews, und die Autorin scheint sich dem Nutzen dieser Vermarktungsstrategie durchaus bewusst zu sein. In einem Interview mit Christian Schlosser beschreibt sie ohne konkreten Anlass seitens des Fragestellers ihren Bildungsweg,4 im Interview mit Jochen Spengler avanciert sie sogar zur Expertin in allgemeinen Fragen zur Hochbegabtenförderung,5 und auch in ihrer Bamberger Poetikvorlesung fehlt der Hinweis auf ihr Studium an der englischen Eliteuniversität in Oxford nicht.6 Solche Selbstinszenierung hat Tradition, und es ist wohl auch nicht ganz zufällig, dass Draesner im Interview mit Schlösser ihre eigene Schreibpraxis mit der von Horaz vergleicht,7 der als Urvater der poetae docti gilt.8 Doch ging es

3

Axel Helbig, »Die dritte Hälfte der Torte: Interview mit Ulrike Draesner am 1. August 2009 in ihrer Berliner Wohnung«, in: Ostragehege 16.3 (2009), S. 40-50, hier S. 41.

4

Christian Schlösser, »Gespräch mit Ulrike Draesner«, in: Deutsche Bücher 35.4 (2005), S. 269-287, hier S. 272-273.

5

Jochen Spengler, »›Man ist anders als die anderen‹. Schriftstellerin Ulrike Draesner fordert intelligente Förderung von Hochbegabten«, http://www.dradio.de/dlf/sendunge n/interview_dlf/824684/ vom 31.07.2008, Zugriff: 30.10.2013.

6

Ulrike Draesner, Zauber im Zoo. Vier Reden von Herkunft und Literatur, Göttingen:

7

Vgl. C. Schlösser, Gespräch, S. 274.

Wallstein 2007, S. 77-78. 8

Vgl. Wilfried Barner, »Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts«, in: Literaturwissenschaft und Geistes-

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Horaz noch primär darum, »den Arbeitscharakter dichterischer Produktion«9 hervorzuheben, so hat sich der Terminus seither eher zum Zweck der Aufwertung gegenüber und Abgrenzung vom literarischen Schaffen minderer Qualität etabliert. »Die je geschichtlichen Konzeptionen des poeta doctus definieren sich von Gegenbildern her. […] Die Reihe der Feindbilder, die immer leicht zur Karikatur tendieren, ist endlos, eine Typologie schwierig. Der leicht verständliche und daher erfolgreiche, ›volkstümliche‹ Schreiber, der gedankenlose, aber selbstbewußte Stümper und der dreist auf bloße Inspiration pochende ›seherische‹ Dichter sind wohl die drei wichtigsten Klischees.« 10

Sich als gelehrt und belesen zu präsentieren war schon immer eine wesentliche Strategie in der Selbstkonstruktion eines Autor-Subjekts, das sich von ungebildeten oder unbedarften Schriftstellern oder solchen, die nur auf die Inspiration setzen, abzugrenzen wünscht. Draesners Fall veranschaulicht, welchen Stellenwert der Bildungsgrad bei der Kreation einer öffentlichen Autor-Person im gegenwärtigen literarischen Feld spielt. Massenmediale Vermarktungsstrategien und erhöhter Konkurrenzdruck auf dem Buchmarkt haben diesem Aspekt der Autorenidentität seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert besondere Relevanz verliehen.11 Draesner setzt sich nicht nur von anderen, weniger gebildeten Autoren ab, sondern auch von den weniger gebildeten Massen und rechtfertigt so ihre herausgehobene Stellung als intellektuelle Meinungsführerin und Expertin. Gerade das öffentliche Sprechen über Literatur findet nun darin seine Legitimation, weshalb Draesner denn auch gleich mehrmals zur Poetikdozentin gekürt werden konnte. Wilfried Barner hält die starke Tendenz der poeta docti zum poetologischen Disput noch 1981 für »bedenklich«12 und fragt klagend »Ist das Reden über die Dichtung wichtiger geworden als die Dichtung selbst?« 13 So müssten wir heute antworten, das Reden über die Dichtung ist zu einem nahezu unvermeidbaren Faktor für den Erfolg von literarischen Werken geworden. Bei öffentlichen Auftritten eloquent und souverän über eigene wie fremde Literatur geschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen: Niemeyer 1981, S. 725-52, hier S. 730. 9

Matthias Bley, »Horaz«, in: Monika Schmitz-Emans/Uwe Lindemann/Manfred Schmeling (Hg.), Poetiken. Autoren – Texte – Begriffe, Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 195-197, hier S. 196.

10 W. Barner, Poeta doctus, S. 731-732. 11 Vgl. S. Neuhaus, Autor als Marke, S. 318. 12 Ebd., S. 751. 13 Ebd., S. 750.

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zu sprechen, ist eine der zentralen Vermarktungsstrategien für Autoren und Autorinnen auf dem heutigen Buchmarkt. 14 Bildungsabschlüsse und Titel dienen dabei oftmals als Indikatoren für eben diese Fähigkeit. Johanna Bohley stellt für die Poetikvorlesung im 21. Jahrhundert fest: »Längst wird nicht mehr der schreibende Autor an sich geehrt und ins Blickfeld gerückt. [… ] [Es] scheint hierfür ein akademischer Autor am ehesten qualifiziert zu sein. Dies belegt die Auswahl, die in der Regel auf das Ideal eines poeta doctus festgelegt ist«.15

Die Veranstalter von Poetikvorlesungen laden, wie Bohley zeigt, deutlich bevorzugt Autoren mit höheren Bildungsabschlüssen ein, darunter vor allem solche mit geisteswissenschaftlichen Doktortiteln. Diese Form des Sprechens über das Schreiben überträgt zunehmend akademische Qualifikationskriterien auf das an sich ja nicht-akademische Terrain der Literatur. Poetologische Äußerungen und Schriften gewinnen deshalb an Bedeutung, weil sie wichtige Foren zur Konstruktion der öffentlichen Person bilden, als welche ein Autor oder eine Autorin sich wahrnehmen lassen will. Konnte Gérard Genette die Interviews noch als Paratexte von untergeordneter Relevanz abqualifizieren,16 so hat die Literaturwissenschaft diese Einschätzung mittlerweile revidieren müssen. Gerade Autoren wie Heiner Müller oder W.G. Sebald haben mit ihrer subversiven Interviewpraxis17 dazu herausgefordert, diese eben als Kunst14 Von extrem seltenen Ausnahmen wie Thomas Pynchon oder Patrick Süsskind, die entschieden öffentliche Selbstdarstellungen verweigern, einmal abgesehen, müssen Autoren in Lesungen, Interviews und Vorträgen in der Regel Werbe- und Öffentlichkeitsarbeit in eigener Sache betreiben. Vgl. dazu auch S. Neuhaus, Autor als Marke, S. 317ff. 15 Johanna Bohley, »Zur Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung als ›Form für Nichts‹«, in: Bohley/Schöll (Hg.), Das erste Jahrzehnt (2011), S. 227-42, hier S. 234. 16 Gérard Genette, Paratexts. Thresholds of Interpretation, Cambridge University Press 1997, S. 384-385. 17 Genette begründet seine abqualifizierende Bewertung der Interviews unter anderem damit, dass diese dem Gesamtwerk und gerade auch seiner Meinung nach relevanterem Briefwechsel schon rein zahlenmäßig unterlegen seien. Vgl. G. Genette, Paratexts, S. 384. Hoffmann weist darauf hin, dass Heiner Müllers intensive Interviewpraxis diesem Argument die Grundlage entzieht. In der zwölfbändigen Werkausgabe nehmen 175 Gespräche aus 30 dreißig Jahren (von 1965 bis 1995) drei Bände ein. Vgl. Heiner Müller, Werke, Bde. 10-12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. Zudem zeigt Hoffmann, wie W.G. Sebald kontinuierlich in seinen vielzähligen Interviews intensiv an der Konstruktion seiner Autofiktion arbeitet. Vgl. Torsten Hoffmann, »Das Inter-

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form und nicht als Dokumentartexte oder bloße Interpretationshilfen zu lesen. Einzelne Autoren reagieren auf die wachsende Bedeutung der Interviews mittlerweile schon in Form von Parodien. Wolf Haas lässt die beiden Textsorten in seiner Interview-Satire Das Wetter vor 15 Jahren18 so geschickt verschmelzen, dass der ganze ›Roman‹ nichts als ein Sprechen über den ›Roman‹ ist, und Daniel Kehlmann bietet in seiner Göttinger Poetikvorlesung Diese sehr ernsten Scherze19 in ähnlicher Weise eine Interview-Persiflage. Der fiktive Konstruktionscharakter der poetologischen Äußerungen wird darin ebenso deutlich wie der hohe Stellenwert, den das Reden über das Schreiben gewonnen hat. Die Poetikvorlesungen, bei denen ein Autor oder eine Autorin eingeladen wird, einen poetologischen Vortrag an einer Hochschule oder zum Teil auch in Literaturhäusern zu halten, erleben auf diese Weise zurzeit eine enorme Konjunktur. Seit der Einführung der Poetikvorlesungen an der Goethe-Universität in Frankfurt 1959 haben sich mittlerweile 28 Hochschulen und Literaturhäuser im deutschsprachigen Raum das Modell angeeignet und gemäß dem eigenen Profil adaptiert, wobei Bohley daraufhin weist, dass davon 18 seit der Jahrtausendwende ins Leben gerufen wurden, die Zahl also gerade in den letzten Jahren rapide angestiegen ist.20 Bohley versteht dies als »ein Produkt hochschulpolitischer Direktiven«,21 durch welche die Poetikvorlesungen »ein Teil [der] kompetitiven Profilierung«22 unter den Hochschulen geworden seien. Es geht, in anderen Worten, längst nicht nur um die Marke des Autors oder der Autorin; auch die Marke der jeweiligen Institution soll so in Symbiose mit den einzelnen Autorennamen auf dem Bildungsmarkt positioniert und profiliert werden. So bleibt also zu fragen, welchen Stellenwert Bildung von der Sache her denn nun eigentlich für die poetologischen Äußerungen hat. Stefan Neuhaus spricht davon, dass die von Pierre Bourdieu einst konstatierte »Gegenläufigkeit view als Kunstwerk. Plädoyer für die Analyse von Schrifstellerinterviews am Beispiel W.G. Sebalds«, in: Wirkendes Wort 55 (2009), S. 276-292. Insbesondere Sebalds einstiger Kollege und Freund Richard Sheppard macht darauf aufmerksam, dass Sebalds Interviewpraxis allzu oft spielerisch ist und Elemente immer wieder frei erfunden sind, was viele Interpreten übersehen. Vgl. Richard Sheppard, »›Woods, Trees, and Spaces in between‹. A report on work published on W.G. Sebald 2005-2008«, in: Journal of European Studies 39 (2009), S. 79-128, hier S. 96-97. 18 Wolf Haas, Das Wetter vor 15 Jahren. Roman, Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. 19 Daniel Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen, Göttingen: Wallstein 2007. 20 Vgl. J. Bohley, Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 232. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 233.

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von literarischem und ökonomischem Feld, die ja ohnehin zum Teil eine scheinbare war, aus ökonomischen Gründen abgenommen hat«. 23 Unter dem Eindruck der gegenwärtigen Hochschulpolitik scheint sich diese Annäherung noch zu verschärfen. Deshalb soll die Frage darin bestehen, wie sich im Rahmen der Poetikvorlesungen symbolische und ökonomische Interessen zueinander verhalten. Zwei Fallbeispiele aus den Frankfurter Poetikvorlesungen sollen veranschaulichen, wie der Gelehrte, poeta doctus, zu einem poeta docens, einem Lehrenden, wird und wie die Dozenten diesen Übergang reflektieren. Wenn der Bildungsgrad eines Autors oder einer Autorin ein so zentrales Kriterium für die Berufung zur Poetikdozentur darstellt, so sollte sich dies doch wohl aus mehr als nur marktorientiertem und hochschulstrategischem Kalkül legitimieren. Die steigende Konjunktur der Poetikvorlesung lässt vermuten, dass sich hier ein konkretes Modell literarischer Bildung behauptet, bei dem die Performanz von Bildung das Bildungsmedium darstellt. Das erste Beispiel liefert Rolf Hochhuth, der sich als Außenseiter ohne formale Bildung, dafür aber mit einer umso umfassenderen autodidaktischen Ausbildung stilisiert und so die Bildungsvoraussetzung des Poetikdozenten implizit rechtfertigt. Worin der Nutzen einer solchen Voraussetzung bestehen könnte, zeigt dann das Beispiel von Robert Menasse, dem es zentral darum geht, die Selbstbildung seiner Zuhörer zu initiieren. Von diesen Fallbeispielen ausgehend lassen sich dann generelle Tendenzen innerhalb des Genres Poetikvorlesung nachzeichnen, sodass der Bildungsbegriff über die bereits erläuterte ökonomische Dimension hinaus in symbolische und soziale Dimensionen hin ausdifferenziert werden kann.

I. DER AUTODIDAKTISCHE AUSSENSEITER: ROLF HOCHHUTH Hochhuth eröffnet seine Poetikvorlesung, die er 1996 in Frankfurt hält, gleich mit einer Warnung an sein akademisches Publikum: Er sei kein Wissenschaftler, denn er habe kein Abitur gemacht und auch nie richtig studiert. Nur als Gasthörer habe er in Heidelberg, München und Basel Vorlesungen besucht. Die Fächer nennt er nicht. Also, so schließt er, mangele es ihm an der Objektivität eines Gelehrten, was er allerdings für durchaus typisch für einen Schriftsteller hält. 24 Mit dieser Eröffnungsstrategie bedient Hochhuth zum einen jene Bescheidenheits- und Selbstkritikphrasen, die fast alle Poetikdozenten ihren Vorlesungen voranstellen – das rhetorische Herunterspielen der eigenen Qualifikation zum 23 S. Neuhaus, Autor als Marke, S. 318. 24 Vgl. Rolf Hochhuth, Die Geburt der Tragödie aus dem Krieg. Frankfurter PoetikVorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 11.

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Dozenten gehört gewissermaßen zum guten Ton des Genres, auch wenn eigentlich keiner zu sagen weiß, worin eine akzeptable Qualifikation zu bestehen hätte.25 Zum anderen begründet und initiiert er hier aber auch jene Rhetorik, die ich performative Bildungskompensation nenne. Er bemüht eine Vielzahl von rhetorischen Mitteln, um den Mangel an formalen Bildungsabschlüssen dadurch auszugleichen, dass er sich als vielseitig belesener Autodidakt präsentiert, dessen Werke sich inhaltlich wie formal in eine renommierte literarische Tradition eingliedern und der mit fremden literarischen Texten ebenso kompetent wie kritisch umzugehen weiß. Entscheidend für seine Selbstkonstruktion als Autodidakt ist zunächst die literaturhistorische Aufwertung dieses Bildungsgangs. So gesteht Hochhuth, er selbst sei »wie Thomas Mann das von sich sagte: ›Student, ohne es rite zu sein‹«,26 und stellt sich dar als »einer jener, über die Fontane im Stechlin gesteht: ›Autodidakten übertreiben immer, ich weiß das, ich bin nämlich selber einer‹«.27 Während er Manns skeptische und eigenwillige Einstellung zur institutionellen Bildung hier durchaus angemessen zitiert, profitiert das Fontanezitat eher von seiner ungenauen Zitierweise.28 Die Reihung und kurze Abfolge der beiden Zitate schlagen eine Gleichwertigkeit vor, die so gar nicht besteht. Manns Selbsteinschätzung ist durchaus anders zu verstehen und zu bewerten als die Aussage einer Romanfigur, doch diesen Unterschied nivelliert Hochhuth und erzeugt so, gerade im schwer zu prüfenden mündlichen Vortrag, den Eindruck einer unmittelbaren Geistesverwandtschaft zwischen ihm selbst, Thomas Mann und Theodor Fontane. An anderer Stelle charakterisiert er den Inhalt seiner Poetikvorlesung als einen, zugegebenermaßen unvollständigen, Überblick über die Geschichte des politischen Dramas, die er einmal mit den Werken »von der Antigone bis Schmutzige Hände«,29 ein anderes Mal mit »von den Persern bis zu Schmutzige Hände«30 markiert, und verortet so sein eigenes Schaffen in der Tradition von Sophokles und Aischylos bis zu Jean-Paul Sartre. Hochhuth er-

25 Bohley spricht deshalb auch von einem »negativen Pakt.« J. Bohley, Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 237. 26 Ebd., S. 10. 27 Ebd. 28 Zwar gibt es durchaus Gründe Parallelen zwischen dem Autor Fontane und dessen Protagonisten, dem alten Dubslav von Stechlin, zu ziehen, doch die Äußerung zum Autodiakten macht im Roman dessen Sohn. Vgl. Theodor Fontane, Werke in fünf Bänden, Bd. 5, Berlin/Weimar: Aufbau 1979, S. 25. 29 R. Hochuth, Geburt, S. 43. 30 Ebd.

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zeugt hier literaturhistorische Genealogien, die seine eigenen Werke im Kanon verorten und seine Autor-Person entsprechend aufwerten. Überhaupt bilden Hochhuths Zitierpraxis und die für das Genre ungewöhnlich häufige Verwendung von intertextuellen Referenzen den Kern dessen, was ich performative Bildungskompensation nenne. Hauptthese seiner Poetikvorlesung ist, dass Literatur allgemein, vor allem aber seine bevorzugten Genres Drama und Autobiografie, politisch engagiert zu sein hätten. Er erzeugt dann in immer neuen Ansätzen geistesgeschichtliche Kontexte, in denen er sich selbst als geistiger Nachfolger berühmter Intellektueller darstellt, der die Tradition gegen Depolitisierungstendenzen verteidigt. Dazu setzt er sich explizit von anderen Autoren und Theoretikern ab, allen voran von Friedrich Nietzsche, dessen Abhandlung »Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik« er als »historische Fälschung«31 bezeichnet und der er eine Gegentheorie zur Entstehung der Tragödie aus der Politik entgegenhält. Aber auch die seiner Meinung nach zu unpolitischen Persönlichkeiten Annette von Droste Hülshoff, Theodor Adorno und Wolfgang Amadeus Mozart macht er zum Gegenstand seiner Polemik. Weite Teile der Vorlesungen verwendet Hochhuth dann dazu, seine intellektuellen Ahnen vorzuführen und die jeweilige politische Gesinnung zu loben. Die Liste reicht von den antiken Autoren Phrynichos, Aischylos und Homer über die Klassiker Lessing, Goethe, Schiller und Büchner, bis hin zu Arthur Miller, Gerhard Hauptmann, Bertolt Brecht, Max Frisch und Jean Paul Satre, um nur einige zu nennen. Kurz, Hochhuth versucht nichts Geringeres, als das ganze Spektrum der Weltliteratur vorzuführen und kritisch zu kommentieren. Und als wäre das nicht schon ehrgeizig – man könnte auch sagen: anmaßend – genug, weitet er seinen Rundumschlag dann auch noch über die Literatur hinaus aus. Zu jenen Vorbildern, die sich gleichermaßen literarisch wie politisch engagiert haben, zählt er neben berühmten Autoren auch Winston Churchill, Theodor Mommsen oder Otto von Bismarck. Letzteres begründet er dann mit einem Verweis auf Heinrich Manns Bewunderung für Bismarcks literarisches Schaffen.32 Seine Ausführungen zu einer politischen Theorie des Dramas hat er dicht gespickt mit Zitaten und Verweisen, ohne je deren Nachprüfbarkeit zu gewährleisten. Der Autodidakt inszeniert hier ein Bildungswissen und kehrt seine Außenseiterstellung ins Positive, indem er sich als von Konventionen unabhängig und deshalb kritikfähiger darstellt. Wenn Hochhuth seinen Vortrag mit dem Appell an seine Zuhörer beendet: »Vergessen Sie nicht, die vordringlichste Aufgabe der Kunst ist die Darstellung des Underdogs«,33 dann fasst er damit 31 Ebd., S. 12. 32 Vgl. ebd., S. 9. 33 Ebd., S. 299.

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auch seine eigene Poetikvorlesung zusammen. Als ungewöhnlich extremes Beispiel demonstriert Hochhuths Fall aber auch die absolute Offenheit einer Ausbildung zum Autor. Er selbst entscheidet, an welchen Werken oder Persönlichkeiten er sich zu bilden wünscht, und seien dies auch noch so obskure Texte wie die Memoiren Spycatcher des britischen Geheimdienstagenten Peter Wright oder der Roman Abenteuer eines jungen Herrn in Polen des österreichischen Schriftstellers und späteren Chefdramaturgen der nationalsozialistischen Heeresfilmstelle in Berlin, Alexander Lernet-Holenia. Wenn Hochhuths Poetikvorlesung eines verdeutlicht, dann, dass ein Autor sich frei aussuchen kann, welche Vorbilder, Techniken, Texte oder Stoffe das eigene Schreiben informieren, dass also der Bildungsweg zu diesem Beruf keinerlei Konvention kennt. Seine so konstruierte Identität als autodidaktischer poeta doctus erlaubt ihm dann seinerseits bildend auf sein Publikum einzuwirken, indem er seine eigenen Arbeitsmethoden und -interessen als Modell zur Imitation anbietet. So wendet er sich gelegentlich direkt an sein Publikum mit Appellen wie, »ich hoffe, auch unter Ihnen ist jemand oder sind mehrere, die einmal Stücke schreiben wollen oder die schon an einem arbeiten!«34 Den so adressierten vermeintlichen Nachwuchsdramatikern vermittelt er dann, wie und woran sie zu arbeiten hätten. Hochhuth hofft auf eine Wiederbelebung marxistischer Werte, denn die einst dogmatischen Marxisten seien »jetzt, entmachtet, […] wieder diskussionsfähig«.35 Er zitiert Herbert Marcuses Diktum vom »Naturrecht auf Widerstand, […] außergesetzliche Mittel anzuwenden« und nennt es eine »Aufforderung zur Tat«36 für die heutige Zeit. Als »Stoffgebiete [...], die das Theater eminent befruchten«, nennt er die Aufhebung der Paragraphen 218 und 175, die Abschaffung der Todesstrafe und die Verminderung der Arbeitslosigkeit.37 Und er richtet einen besonderen »Appell […] an die Autoren heute, ihre Arbeit in höherem Maß dem Krieg zuzuwenden, jenem besonders, den wir innenpolitisch erleiden […]: dem Wirtschaftskrieg«.38 Entgegen seiner eigenen Devise, »auf die Dauer ist es ja unerträglich, ich zu sagen, von sich zu reden, wenn das nicht selbstironisch geschieht«,39 entbehren seine Ratschläge allerdings jeglicher Ironie. Dieses Bildungsmodell kann aufgrund seiner Simplizität und mangelnden Reflexion letztendlich kaum überzeugen.

34 Ebd., S. 83. 35 Ebd., S. 60. 36 Ebd., S. 37. 37 Ebd., S. 49. 38 Ebd., S. 251, (Hervorhebung im Original). 39 Ebd., S. 140, (Hervorhebung im Original).

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II. DER AUFRUF ZUR SELBSTBILDUNG: ROBERT MENASSE Das ist anders in Robert Menasses Poetikvorlesung, die er 2005 in Frankfurt hält. Auch hier spielt Bildung eine ganz zentrale Rolle, wird aber auch wieder ironisch gebrochen und kritisch reflektiert. Er entwirft ein Modell von literarischer Bildung, welches die Eigenschaft, gebildet zu sein, mit der Fähigkeit, andere zu bilden, medientheoretisch in Beziehung setzt, ohne dabei wie Hochhuth einem simplen Informations- und Interessentransfer das Wort zu reden. Auch Menasse eröffnet seinen Vortrag mit der üblichen Bescheidenheitsformel und stellt damit sogleich eine erste These zur Bildung auf: »Ich habe zugesagt, eine Poetikvorlesung zu halten, aber ich kann das gar nicht. Einen Dichter einzuladen, eine Poetikvorlesung zu halten, ist etwa so sinnvoll, wie einen Kannibalen als Ernährungsberater zu engagieren«.40 Demnach ist der Autor also ein Kannibale, er verschlingt andere Autoren, um sich selbst zu bilden. Hochhuths performative Bildungskompensation liefert wohl das beste Beispiel dafür. Während Menasse nun, wenn auch bei Weitem nicht so exzessiv wie Hochhuth, seine literarischen Vorbilder, wie Spinoza, Bertolt Brecht, Erich Fried, Jean Améry, Günter Grass, Theodor Adorno, Georg Lukács, Karl Marx, Jean-Paul Sartre und Albert Camus diskutiert, stellt er immer auch sicher, dass er seine Selbstkonstruktionen wieder ironisch unterläuft. Er leitet jede einzelne seiner fünf Vorlesungen mit dem Satz »Ich muss ihnen vorab etwas gestehen« ein und lässt Geständnisse folgen, wie »Ich bin ein Hochstapler«41, »Ich bin Spinoza!«42, »Ich habe einen Menschen umgebracht«43 und »ICH BIN GOTT«44. Dieser Art Ironisierung und Fiktionalisierung gibt ihm dann auch Anlass, darauf zu bestehen, dass er im Grunde keine Poetik, sondern einen Roman vortrage. 45 Im Gegensatz zu Hochhuth reflektiert Menasse seinen Begriff von Bildung und setzt diesen dann medientheoretisch zu den poetologischen Überlegungen in Beziehung. Bildung, als Prozess ebenso wie als Zustand, stellt für ihn den Gegenpol zur einflussmächtigen Bildkultur dar, und die Poetikvorlesung dient ihm als Anlass, Bildungsmodi exemplarisch vorzuführen.

40 Robert Menasse, Die Zerstörung der Welt als Wille und Vorstellung. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 10. 41 Ebd., S. 9. 42 Ebd., S. 33. 43 Ebd., S. 89. 44 Ebd., S. 115. 45 Vgl. ebd., S. 128.

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»Derselben Wurzel entsprungen, berühren sich Bildmacht und die Macht der Bildung am Ende antithetisch – was Anspruch der Bildung war, nämlich daß die Wirklichkeit der vernünftigen Idee nicht standhalte, wurde von den Bildmedien gegen diesen Anspruch verwirklicht: die Ideen halten den Bildern der Wirklichkeit nicht stand. Die Bildmedien haben nicht das Monopol über die Vorstellungen, aber sie haben in der Welt das Monopol über die Wiederholungen errungen, die aus Vorstellungen Anschauungen und aus diesen erst Weltanschauungen machen.«46

Bildung soll also die Antithese zu Bildern sein, soll dem quantitativ überlegenen, weil beliebig reproduzierbaren technischen Bildmedien, die Poetik, also die intellektuelle Fähigkeit zur »Selbsterfindung«47 entgegenstellen.48 Menasse will letztendlich, dass sein Vortrag wie ein »Spiegelbild«49 seinen Zuhörern vorführt, wie Bildung auch für jeden Einzelnen von ihnen zur Selbstbildung und somit zum Schutz vor einflussmächtigen Bildern führen kann. Er wünscht sich, dass seine Zuhörer den ursprünglichen Gedanken des Bildungsromans, »sich zu bilden und seinen vernünftigen Platz in der Gesellschaft zu suchen«,50 wirklich und ganz bewusst umsetzen, in der Hoffnung, dass dadurch eine neue Gesellschaftsrealität entstehen könnte. Dieser Nexus zwischen Publikum oder Lesern einerseits und Literatur und ihren Autoren andererseits stellt für Menasse den Kern dessen dar, was er unter »engagierter Literatur«51 versteht. Menasses Begriffe von Bildung und Literatur beruhen auf dem Gedanken, dass eine performativ inszenierte Bildungsarbeit Zuhörer dazu ermächtigen könne, ihre eigene Bildung, d.h. ihre Identität, eigenständig und kritisch reflexiv zu bearbeiten. Weshalb er denn auch darauf insistiert, dass seine Zuhörer die eigentlichen Protagonisten seines Vortrags seien. »Ich habe zu Beginn gesagt, daß ich hier keine Poetik vortragen werde. Aber ich habe Ihnen einen Roman vorgetragen – und die Hauptfigur dieses Romans waren

46 Ebd., S. 141. 47 Ebd., S. 142. 48 Damit greift Menasse eine etymologische Bedeutungsebene des Begriffs ›Bildung‹ auf. »Das althochdeutsche Grundwort hat mit der körperlichen Bedeutung ‹abbilden, Bildnis› und ‹Gebilde, Gestalt› […] bereits einen Bezug ebenso zu ‹imago› und ‹forma› wie zu ‹imitatio› und ‹formatio› [...]«. E. Lichtenstein, »Bildung«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1, Basel/Stuttgart: Schwabe 1971, Sp. 922. 49 R. Menasse, Zerstörung, S. 128. 50 Ebd., S. 130. 51 Ebd., S. 113.

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Sie!«52 In diesem Sinne endet auch Menasse seine Poetikvorlesung mit einem Appell: »Ich sagte heute zu Beginn: Ich bin Gott. Ich wäre stolz, wenn Sie jetzt begriffen hätten, daß dieser Satz bedeutet: SIE sind Gott. Sie sind die Schöpfer ihrer Lebensrealität. Sie müssen die Welt zerstören, um sie erschaffen zu können«.53 Die gespiegelte Hyperbel markiert einmal mehr die Konstruktivität der Autorenidentität, die Menasse in seiner Rolle als Poetikdozent für sich entworfen hat, und begründet zugleich diesen Konstruktionscharakter, indem er es als Anregung zur Selbstinitiative – im doppelten Sinne – verstanden wissen will.

III. BILDUNG IN DEN POETIKVORLESUNGEN Die ausgesprochene formale und inhaltliche Offenheit des Genres Poetikvorlesung macht es sehr schwierig, generelle Aussagen darüber zu machen, weshalb Paul Lützeler es denn auch als postmodernes Genre par excellence liest, welches sich der klaren Kategorisierung entziehe.54 Die Beispiele von Rolf Hochhuth und Robert Menasse sollen hier aber dennoch dazu dienen, zu anderen Poetikvorlesungen Beziehungen zu knüpfen und übergreifende Tendenzen zu illustrieren. Bildung als errungene Eigenschaft, also die institutionelle wie auch speziell die literarische Wissensaneignung, fungiert bei den Poetikdozenturen als Indikator für die prinzipielle Bildungsfähigkeit eines Autors oder einer Autorin, womit hier sowohl die eigene Bildsamkeit,55 als auch das Vermögen, andere zu bilden, gemeint ist. Die Hochschulen arbeiten daran, dass sie über den universitären Rahmen der Poetikdozenturen hinaus auch akademische Auswahlkriterien im literarischen Feld etablieren, indem sie bevorzugt Schriftsteller mit fortgeschrittenen Bildungsabschlüssen einladen. Die Schriftsteller sehen sich durchaus in der Beweispflicht. Wo die Bildungsfähigkeit anhand von Bildungsabschlüssen, Ausbildungen, Auszeichnungen und Ähnlichem nicht unmittelbar offensichtlich ist, führt der Autor sein Bildungsniveau performativ vor. Der poeta doctus ist das Leitbild und die Voraussetzung des poeta docens, obwohl die Poetikvorlesung, wie Bohley konstatiert, im Grunde eine »Form für Nichts«56 ist, also eine Textsorte ohne festgelegte Inhalte, die eigentlich keine Wissensanforderungen stellt, 52 Ebd., S. 128. 53 Ebd., S. 142. 54 Paul Michael Lützeler, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Poetik der Autoren. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 1994, S. 18. 55 E. Lichtenstein, Bildung, Sp. 930. 56 J. Bohley, Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 228.

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sondern auf Schreiberfahrungen beruhen sollte. Die Anforderung zur Bildung erfüllt einen doppelten Zweck, indem sie gleichermaßen die Marke des Autors auf dem Buchmarkt wie auch der Hochschule oder veranstaltenden Institution auf dem Bildungsmarkt zu profilieren verhilft, also unmittelbar den ökonomischen Interessen beider Parteien dient. Bildung als inszenierte Performanz, das heißt die Konstruktion einer AutorPerson, ist tatsächlich eine der Hauptfunktionen des Genres Poetikvorlesung. Das Gespräch über Literatur, eigene wie fremde, ist diesem Zweck häufig untergeordnet, wie sowohl Hochhuths Zitierpraxis als auch Menasses ironisches Spiel mit seinen literarischen Vorbildern zeigen. Im Zentrum steht das Ich, wie es Andreas Maier so anschaulich darstellt, indem er gerade dieses Wort zum Titel seiner Poetikvorlesung wählt und dann ironisch darauf hinweist, »diese drei Buchstaben sind der Mittelteil des Wortes Nichts«.57 Ähnlich plakativ verfährt auch Ulrich Woelk, indem er seiner Paderborner Poetikvorlesung den Untertitel Aufbruch vom Ich58 verleiht, oder Ulrich Treichel, der den Titel Der Entwurf des Autors59 wählt. Die ausgesprochene Offenheit des Genres füllt der Sprecher mit seiner Autor-Person, sowie »jeweils ein[em] Wunschbild von Literatur«60 aus, das er aus der eigenen Biografie, Lese- und Schreibpraxis ableitet. In den Worten Durs Grünbeins: »Worum es im Schreiben möglicherweise insgeheim ging: […] Darum, sein Schicksal herauszufordern und zu gewinnen, unverwechselbar zu werden, sich selbst und sein einmaliges Leben und Wesen auf die Landkarte zu setzen«.61 Eine Poetikvorlesung zu halten, bedeutet ja nichts anderes als auf der literarischen Landkarte voll etabliert und vor Auslöschung zumindest vorübergehend geschützt zu sein.62 Es vollzieht sich in diesem Genre generell, was Paolo Chiarini schon bei Ingeborg Bachmann feststellt, »eine Art erzählerischer 57 Andreas Maier, Ich. Frankfurter Poetikvorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 124. 58 Ulrich Woelk, Warum schreiben (Sie?) – Aufbruch vom Ich. Paderborner Universitätsreden, hg. von Peter Freese, Paderborn: Freese 2005. 59 Ulrich Treichel, Der Entwurf des Autors, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. 60 J. Bohley, Konjunktur der Gattung Poetikvorlesung, S. 228. 61 Durs Grünbein, Vom Stellenwert der Worte. Frankfurter Poetikvorlesung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 32. 62 Die Veranstalter der Frankfurter Poetikvorlesung brüsten sich deshalb mit ihrem vermeintlichen Einfluss auf das literarische Feld. »Wollte man ein ›Who is who‹ der deutschsprachigen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur verfassen, genügte es, die Geschichte der Frankfurter Poetikvorlesungen mit ihren bislang über 65 Veranstaltungen zusammenzutragen.« http://www.poetikvorlesung.uni-frankfurt.de/Geschichte_de r_Poetikdozentur1.html, Zugriff: 25.3.2013.

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Metamorphose des dichterischen Subjekts – die Metamorphose des Autors zur Person«.63 Christoph Meckel fragt rhetorisch »Was hat Biografie für einen Sinn, wenn du sie nicht zur Zweckfälschung machst?«64 Eben dazu bietet die Poetikvorlesung das prädestinierte Forum: für die frei konstruierende Darstellung einer Autor-Person und des Werkes zu dem Zweck der Vermarktung und Verortung im literarischen Feld. Doren Wohlleben resümiert deshalb in seiner Untersuchung zum Verhältnis von Wahrheit und Lüge in den Poetikvorlesungen, dass »Fiktionen, Geschichten, mithin aus Lügen, unabdingbar für die Wahrheit des poetologischen Ich [sind], das sich von einer ›Wunschautobiographie‹, also dem Nicht-Tatsächlichen herschreibt«.65 Dabei »verschwindet das reale, private Subjekt immer mehr im Dunkeln, je deutlicher das öffentliche, medial inszenierte Autorsubjekt ins Licht rückt«,66 wie Julia Schöll exemplarisch an den ausgiebigen Subjekt- und Selbstkonstruktionen bei Daniel Kehlmann und Thomas Glavinic darlegt. Bildung als Vermittlung von Wissen über Schreibtechniken und -methoden, wie man es im Sinne einer Werkstattpoetik gerade im universitären Rahmen von den Poetikdozenten vielleicht erwarten könnte, spielt innerhalb der Gattung tatsächlich eine untergeordnete Rolle. Im Fall der Frankfurter Poetikdozentur liegt das unter anderem darin begründet, dass die Autoren ergänzend zu den Vorträgen auch begleitende Seminare mit Studierenden anbieten. 67 Es ist aber auch Folge einer oftmals skeptischen Haltung einer literarischen Bildung gegenüber, die sich im Nachahmen und Ausführen von Direktiven erschöpft. Hochhuths unbedarfte Versuche, sein Publikum zum Verfassen von Dramen anzulei63 Paolo Chiarini, »Auf der Suche nach wahren Sätzen. Zur Poetik Ingeborg Bachmanns«, in: Horst Schlosser/Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Poetik. Essays über Ingeborg Bachmann, Peter Bichsel, Heinrich Boll, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Hildesheimer, Ernst Jandl, Uwe Johnson, Marie Luise Kaschnitz, Hermann Lenz, Paul Nizon, Peter Rühmkorf, Martin Walser, Christa Wolf u. andere Beiträge zu den Frankfurter Poetik-Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Athenäum 1988, S. 15-26, hier S. 17. 64 Christoph Meckel, Von den Luftgeschäften der Poesie. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 61. 65 Doren Wohlleben, Schwindel der Wahrheit. Ethik und Ästhetik der Lüge in PoetikVorlesungen und Romanen der Gegenwart, Freiburg/Berlin: Rombach 2005, S. 16. 66 Julia Schöll, »Entwürfe des auktorialen Subjekts im 21. Jahrhundert. Daniel Kehlmann und Thomas Glavinic«, in: Bohley/Schöll, (Hg.), Das erste Jahrzehnt (2011), S. 279-292, hier S. 292. 67 Helmut Viebrock, »Dichter auf dem Lehrstuhl«, in: Horst Dieter Schlosser/Hans Dieter Zimmermann (Hg.), Poetik, Bodenheim: Athenäum 1988, S. 288.

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ten, können deshalb so wenig überzeugen, weil der zu Grunde liegende Bildungsbegriff innerhalb des Genres Poetikvorlesung immer wieder explizit oder implizit kritisiert und abgelehnt wurde. Bachmann zum Beispiel greift gerade jene Literaturvorstellung an, die auf formaler und stilistischer Imitation und Traditionsbildung beruht, und insistiert, dass »die wirklich großen Leistungen […], die eine neue Literatur sichtbar gemacht haben«, nur dort entstehen, »wo vor jeder Erkenntnis ein neues Denken wie ein Sprengstoff den Anstoß gab«.68 Und so wie Bachmann an den Mut zur Innovation und an das eigenständige kritische Denken appelliert, so warnt auch Heinrich Böll davor, »daß die Bildung in ihrer Vollendung, der Wissenschaft, eine Macht geworden ist«, der »man […] Gehorsam, Unterordnung [schuldet]«.69 Aus der Skepsis gegenüber einem hierarchischen Bildungsmodell leitet Böll dann sein spezifisches Modell literarischer Bildung ab, welche »zwischen Bildungsverletztheit und Wissenschaft« angesiedelt eine vermittelnde »gesellschaftliche Wirkung« einnehme. »[Der Autor] ist gebildet, ohne daß er irgendeinen der Bildungswege absolviert haben muß – er muß es sein und käme er noch so naiv aus Moor und Heide daher, aus Slum oder Dschungel: sich ausdrücken können in einer fast ausdruckslosen Welt, diese Tatsache erhebt ihn, ohne daß er gefragt wäre, in den Stand der Bildung: sich ein Bild machen können, ist ja der höchste Stand der Bildung.«70

Implizit ermutigen Bachmann und Böll beide die Nachwuchsautoren, ihr Verhältnis zur Sprache und zum Denken zu reflektieren, aber keiner von ihnen gibt konkrete Schreibanlässe und Techniken vor, wie Hochhuth es macht. Ja, eine solche Anleitung zum Schreiben wäre innerhalb von Bachmanns und Bölls Poetiken absolut undenkbar. Wie Bölls Ausführungen schon andeuten, ist der Bildungsbegriff in den Poetikvorlesungen nicht völlig entleert und auf bloße Marketingstrategien und Profitsteigerung hin reduziert, sondern hat auch eine gesellschaftliche Funktion. Bildungsaktivitäten vor einem breiten Publikum zu inszenieren, sehen viele Poetikdozenten, ähnlich wie Menasse, als Anleitung zur Selbstbildung. Was Meckel als »Sprung des Artisten« charakterisiert, die Bewegung »aus Selbststilisierung zu Ichgestaltung und weiter – Verwandlung des Menschen in eine

68 Ingeborg Bachmann, Frankfurter Vorlesung (1959). Probleme Zeitgenössischer Dichtung, München: Piper 1980, S. 15. 69 Heinrich Böll, »Frankfurter Vorlesung« (1964), in: ders., Werke. Kölner Ausgabe, Bd. 14, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2002, S. 139-201, hier S. 154. 70 Ebd., S. 155.

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Sprachgestalt«71 gibt den modus operandi für die Zuhörer vor. In ihrer Frankfurter Poetikvorlesung kommentiert Hilde Domin: »Diese ganze Vorlesungsreihe geht ja, schon dem Titel nach, darum, uns gegen die Programmierbarkeit zu stärken und die Augenblicke der Unabhängigkeit aufzurichten, diese Augenblicke der ›aktiven Pause‹, in der wir Subjekt und nicht Objekt sind«.72 Domin schließt hier explizit ihre Zuhörer mit ein. Der Prozess der Subjektwerdung soll sich im Vortragenden abspielen, um so reflexartig einen vergleichbaren Prozess in den Zuhörern zu initiieren. Menasse bringt dieses reziproke Verhältnis zwischen Poetikdozenten und Zuhörer sehr prägnant auf den Punkt, wenn er seine Erzählperspektive von »ich« auf »Sie« umstellt. Wohlleben zieht das Fazit: »Das poetologische Ich schreibt sich vom Unsagbaren, Unverfügbaren, Inkommensurablen, kurzum vom Ort des Anderen her. Aber indem es dieses unzugängliche Andere approximativ erfahrbar zu machen versucht, appelliert es an die Phantasie und Erinnerungstätigkeit seiner Rezipienten«.73 Eben darin sieht er dann das ethische Moment der Poetikvorlesungen begründet. Damit adaptiert das Genre einen im ausgehenden 20. Jahrhundert verbreiteten Bildungsbegriff »als einen durch Personalität, Bewußtseinserhellung und soziale Verantwortung ausgezeichneten Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins«74 und setzt ihn praktisch um. Draesner beschreibt in ihrer Bamberger Poetikvorlesung den Nutzen von Literatur mit »Lesen [...] ist Schulung in Fiktion«,75 und Poetikvorlesungen, so könnte man zugespitzt formulieren, wollen Schulung in Autofiktion sein. In diesem Bildungsbegriff gehen nun Medieninszenierung und Medienkonkurrenz eine Symbiose ein. Einerseits ist die Veranstaltung eine Medieninszenierung, die ein öffentliches Bild des jeweiligen Dozenten erzeugt, der AutorPerson also zusätzliches Profil und Präsenz in den Massenmedien verschafft; andererseits warnen die Autoren aber immer wieder vor eben diesen Medien, die sie hier bedienen. Schon in der allerersten Frankfurter Vorlesung 1959 beklagt Ingeborg Bachmann: »Aber die Leute brauchen heute Kino und Illustrierte wie Schlagsahne, und die anspruchsvolleren Leute (und zu denen gehören nämlich auch wir) brauchen ein wenig Schock, ein wenig Ionesco oder Beatnikgeheul, um nicht überhaupt den Appetit auf alles zu verlieren«.76 Warnungen und kritische Kommentare zu Bildern, Medienberichten und Fernsehen sind in den Po71 Ebd., S. 81. 72 Hilde Domin, Das Gedicht als Augenblick von Freiheit. Frankfurter PoetikVorlesungen 1987/1988, München: Piper 1988, S. 9. 73 D. Wohlleben, Schwindel und Wahrheit, S. 18. 74 E. Lichtenstein, Bildung, Sp. 937. 75 U. Draesner, Zauber im Zoo, S. 92. 76 I. Bachmann, Frankfurter Vorlesung, S. 21.

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etikvorlesungen seither weit verbreitet. So beklagt Christoph Meckel: »Große Teile dessen, was ich machte, brachte ich inmitten von Lärm zustande, in fundamentaler akustischer Folterung Gehör und Sprache schützend«.77 Dieter Wellershof gesteht zwar, dass Filme und Fotografie ihm produktive Impulse für sein literarisches Schaffen geliefert haben,78 aber auch er insistiert auf der Medienkonkurrenz, indem er den »Unterschied zwischen der Eindimensionalität der Information und der Vieldimensionalität der Erzählung«79 hervorhebt. Und Günter Grass hält die Diskussion über ein Schreiben nach Auschwitz gerade »zu einer Zeit, in der Literatur allenfalls durch die neuen Medien grundsätzlich in Frage gestellt wird«,80 für dringend geboten. Die einzige Ausnahme bildet hier Rainald Goetz, der die Massenmedien ganz gezielt in sein literarisches Schaffen miteinbezieht und unter dem Schlagwort »Rückkehr der Bilder« das Fazit zieht, »Die Literatur wird dadurch freier, beweglicher, abstrakter und asozialer. Man könnte auch einfach sagen: toller«.81 Generell zeichnet sich im Genre Poetikvorlesung die Tendenz ab, dass die Dozenten Bildern und anderen konkurrierenden Medien die Befähigung zur literarischen Bildung kontrastierend gegenüberstellen, auch wenn die meisten das längst nicht so ausführlich reflektieren wie Menasse. Die medienversierte Poetikdozentin Draesner macht dieses Konkurrenzverhältnis aber zum Beispiel zu einem ihrer zentralen poetologischen Thesen. Gemäß ihrem eingangs aufgestellten Motto, »Wir sprechen über bildgebende Verfahren. Wir sprechen von Möglichkeiten. Wir sprechen von Literatur«,82 ist eben gerade an dieser Stelle eine wesentliche Funktion von Literatur verortet: »Filme, Spiele, Tausende von Songs, Abertausende von Bildern von noch mehr Websites, second-life-Entwürfe und Identitäten, Bedienungsmodi von Handys, Fernsehern, Playstations, Planern, Note- und Subnotebooks wirbeln neben Büchern durch unsere Köpfe. Es rauscht. […] Im Gewimmel des Jetzt weiß keiner mehr die Frage nach unserem Wo zu

77 C. Meckel, Von Luftgeschäften, S. 39. 78 Vgl. Dieter Wellershoff, Das Schimmern der Schlangenhaut. Existentielle und formale Aspekte des literarischen Textes. Frankfurter Vorlesung, Frankfurt a.M: Suhrkamp 1996, S. 63 und S. 70. 79 Ebd., S. 128. 80 Günter Grass, Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung, Frankfurt a.M.: Luchterhand 1990, S. 10. 81 Rainald Goetz, Abfall für alle. Roman eines Jahres, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 300. 82 U. Draesner, Zauber im Zoo, S. 8.

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beantworten. Wer es dennoch tut, entwirft entweder Fiktion, die er als Wahrheit verkauft, oder gibt von vornherein zu, dass er nur von Möglichkeiten spricht.« 83

Das bildende – oder in Draesners Worten, bildgebende – Vermögen der Literatur soll dabei helfen, die mediale Bilderflut zu bewältigen. Und die Poetikvorlesung bietet genau den Rahmen, um solche bildenden, d.h. Gegen- und Selbstbilder konstruierenden Verfahren nicht nur zu beschreiben oder zu erzählen, sondern performativ zu inszenieren. Die Poetikvorlesungen bieten in diesem Sinn eine der Literatur entlehnte Kompetenz als Orientierungshilfe in einer viele Lebensbereiche betreffenden und vermeintlich unübersichtlichen Medienkultur an.

IV. FAZIT Auf die eingangs aufgestellte Frage, wie sich symbolische und ökonomische Interessen mit Bezug auf den Bildungsbegriff der Poetikvorlesungen zueinander verhalten, lässt sich also antworten, dass hier unterschiedliche Verständnisse von Bildung bedient werden, die ein symbiotisches Verhältnis eingehen. In der Poetikvorlesung treffen zwei unterschiedliche Systeme aufeinander, das Bildungssystem und das literarische Feld. Bourdieu weist darauf hin, dass diese voneinander profitieren, indem das Bildungssystem die Leserschaft für die symbolisch wertvolle Literatur ausbildet und die Kanonisierung der langfristig profitablen Klassiker befördert,84 und anhand der Poetikvorlesung lässt sich nun sehen, dass darüber hinaus auch die Bildungsinstitutionen ihr eigenes symbolisches Kapital mithilfe des Ansehens der Autoren zu vermehren suchen. Den poeta doctus zum maßgeblichen Auswahlkriterium für Poetikdozenten und somit zum Leitbild des Genres zu erheben, basiert auf einem quantifizierbaren Bildungsverständnis, das die Aneignung von Wissen und Kompetenzen anhand von Abschlüssen misst, das also die Kriterien des Bildungssystems importiert und unmittelbar ökonomischen Interessen dient. Innerhalb dieses Rahmens differenziert sich der Bildungsbegriff nun aber aus und setzt sich von diesen Interessen ab, indem die Poetikdozenten gerade die Relevanz und Akkumulation von symbolischem Kapital zum Gegenstand ihrer Bildungstätigkeit machen. Autoren und Autorinnen gelten als Experten der Selbstbildung zum einen, weil sie aufgrund der nicht formalisierten – und wie Böll argumentiert, auch nicht formalisierbaren – Ausbildung zum Beruf Autor sich weitgehend selbstbestimmt Wissen und Fähigkei83 Ebd., S. 57-58. 84 Vgl. Pierre Bourdieu, The Rules of Art. Genesis and Structure of the Literary Field, Stanford University Press 1995, S. 147.

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ten aneignen, und zum anderen, weil die Akkumulation von symbolischem Kapital, das zum Teil auch von den Selbstkommentaren der Autoren beeinflusst wird,85 eine so entscheidende Rolle für den Erfolg einer Autorenkarriere spielt. Einer der primären Funktionen der Poetikdozenturen besteht tatsächlich darin, dass die Poetikdozenten als Experten ihr Wissen über die (Selbst-) Bildung weitergeben. Die starke Fokussierung innerhalb des Genres auf die Konstruktion einer Autorperson dient einerseits der symbolischen Aufwertung eines Autors oder einer Autorin im literarischen Feld – auf der »Landkarte«, wie Grünbein es nennt86 –, andererseits vermittelt es aber auch das Wissen um die Notwendigkeit und die Fähigkeit zur Konstruktion dieser Autofiktion an ein Publikum, das in die Lage versetzt werden soll, sich selbst dieser Strategien zu bedienen. Diese Bildungskompetenz gilt ihnen deshalb als so wesentlich, weil eine rasant wachsende Bildkultur den kompetenten und kritischen Umgang mit eigenen wie fremden Selbstbildern und -konstruktionen in einer Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche erforderlich macht. Das literarische Feld bietet hier also gewissermaßen eine seiner Kernkompetenzen anderen Feldern zum Export an. Dass hier die Literatur anhand eines mehrdimensionalen Bildungsverständnisses vis-à-vis anderen Diskursen und anderen Medien verortet wird, lässt sich als ein Versuch verstehen, Brücken zu anderen gesellschaftlichen Bereichen herzustellen und damit indirekt eine soziale Funktion von Literatur zu bestätigen.

85 Vgl. ebd., S. 143-144. 86 D. Grünbein, Vom Stellenwert der Worte, S. 32.

Autorschaft als Legitimation Der Kurator als Autor und die Inszenierung von Autorschaft in The Exhibitionist F ELIX V OGEL

I. T RAUMBERUF K URATOR Im Sommer 2011 stand im deutschen Feuilleton – im Einzelnen waren das Die Zeit, der Tagesspiegel und die Süddeutsche Zeitung – zu lesen, dass der Kurator zum Traumberuf junger Menschen avanciere und in dieser Rolle gar den DJ abgelöst habe.1 Diese Feststellung geht einher mit der Institutionalisierung und Akademisierung des Kurators. Allein in Deutschland wurden seit dem Wintersemester 2009/2010 drei Kuratorenstudiengänge etabliert. 2 Außerdem erschienen in den letzten Jahren zahlreiche Monografien über Kuratoren, und in der Kunst-

1

Vgl. Tobias Timm, »Die Macht der Geschmacksverstärker«, in: Die Zeit vom 05.05.2011, S. 55;. Kolja Reichert, »Traumjob Kurator: Stell die Verbindung her«, in: Tagesspiegel vom 14.7.2011, http://www.tagesspiegel.de/kultur/traumjob-kuratorstell-die-verbindung-her/4395950.html, Zugriff: 19.09.2013; Jan Füchtjohann, »Curation Nation«, in: Süddeutsche Zeitung vom 23.7.2011, S. 13.

2

Im Einzelnen: Masterstudiengang »Curatorial Studies – Theorie – Geschichte – Kritik« der Goethe-Universität und der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Städelschule, Frankfurt a.M.; weiterbildender Studiengang »Kulturen des Kuratorischen« der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig; weiterbildender Studiengang »Kunstkritik & Kuratorisches Wissen«, Universität Bochum. Obwohl die Kuratorenausbildung – unterschieden von Museumsstudiengängen – in Frankreich und dem englischen Sprachraum seit den späten 1980er Jahren besteht, muss deren Geschichte erst noch geschrieben werden.

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geschichte bildet sich die Erforschung der Ausstellungsgeschichte als Forschungsgebiet heraus; darin nimmt der Kurator oft eine wichtigere Position als der Künstler, das einzelne Werk oder die Ausstellung als umfassendes Gefüge ein. Wenige Jahre zuvor verband man mit dem Berufsbild noch eine »melancholische Gestalt«,3 die in Museumsdepots arbeitet und unsichtbar hinter den ausgestellten Kunstwerken und Künstlern bleibt. Mit dem nun so beliebt werdenden Kurator ist freilich nicht der klassische Museumskurator (»Kustode«, womöglich tatsächlich eine melancholische Gestalt) gemeint, sondern der independent curator, wie er sich in den späten 1960er Jahren entwickelt hat. Dennoch fällt auf, dass es erst jetzt zu einer starken Diskursivierung und Generierung von Sichtbarkeit kommt. Im Folgenden geht es nur implizit um diese Phänomene. Auch wird keine Praxeologie des Kurators entwickelt oder seine Professionsgeschichte nachgezeichnet. Stattdessen gilt es zu überlegen, durch welche Mechanismen der Kurator als Autor hervorgebracht wird, welcher Begriff von Autor beansprucht wird und wie das Verständnis des Kurators als Autor diskursiv stabilisiert wird. Damit stehen diejenigen Prozesse im Zentrum, die ein bestimmtes Individuum als Kurator hervorbringen und ihm eine legitime Position innerhalb eines relationalen Gefüges mit anderen Akteuren zuweisen. Daneben wird der Frage nachgegangen, weshalb und auf welche Weise der Kurator damit gleichsam als ›Autor‹ inszeniert wird. Konkret wird dies nach einer einführenden Analyse des Kurators als Autor am Beispiel der Zeitschrift The Exhibitionist nachvollzogen.

II. AUTORSCHAFT

ALS

AUFGABE

Die traditionelle Aufgabe des Museumskurators bestand in der möglichst vollständigen Unsichtbarkeit, die wiederum die möglichst vollständige Sichtbarkeit des Künstlers und des Kunstwerks garantierte. Von Autorschaft war hier nicht die Rede.4 Nathalie Heinich und Michael Pollak argumentieren, dass die Tätig-

3 4

Oliver Marchart, »Das kuratorische Subjekt«, in: Texte zur Kunst 86 (2012), S. 29. Vgl. zur kuratorischen Autorschaft und zur Geschichte des Kurators als Autor, vor allem anhand des Beispiels Harald Szeemann: Beatrice von Bismarck, »Curating«, in: Hubertus Butin (Hg.), DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst, Köln: DuMont 2002, S. 56-59; Dorothee Richter, »Künstlerische und kuratorische Autorschaft«, in: Corina Caduff/Tan Wälchli (Hg.), Autorschaft in den Künsten: Konzepte – Praktiken – Medien, Zürich: Zürcher Hochschule der Künste 2008, S. 110-127; Søren Grammel, Ausstellungsautorschaft: Die Konstruktion der auktorialen Position

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keit des Kurators neuen Typs einerseits durch die von Max Weber oder Talcott Parsons entwickelten Kriterien für die Definition eines Berufs erklärt werden kann. Andererseits sei dieser Beruf auch »reliant on the artistic realm which confers certain characteristic traits upon it.«5 Eine solche Abhängigkeit von der Sphäre des Künstlerischen und damit einer Behauptung von Autorschaft wird in Daniel Burens Text zur 5. documenta von 1972 deutlich. Buren stellt die Frage nach den Kompetenzen und Zuständigkeiten des Künstlers und des Kurators zu eben jenem Zeitpunkt, in dem der Kurator als Autor sichtbar wird. Dabei geht er von einer klassischen und durch einen Antagonismus gekennzeichneten Rollenaufteilung aus, die nur den Künstler im Zentrum sieht, ihn aber bereits auf der Seite der Verlierer wähnt: »Immer mehr neigen Ausstellungen dazu, nicht mehr Ausstellungen von Kunstwerken zu sein, sondern sich selbst als Kunstwerk auszustellen. Im Falle der documenta ist es ein Team unter Harald Szeemann, das ausstellt (die Werke) und sich selbst darstellt (vor der Kritik). [...] Die Ausstellung ist zwar der Ort, wo Kunst als Kunst bestätigt und aufgewertet wird, aber auch vernichtet wird; denn, wenn gestern das Werk sich erst durch das Museum offenbarte, so dient es heute nur noch als schmückendes Teilchen einem Museum, das als Kunstwerk weiterlebt, dessen Schöpfer niemand anderes als der Organisator der Ausstellung ist.«6

In der Nachfolge von Marcel Duchamps ready-made bildet sich ein künstlerischer Produktionsbegriff heraus, der sich durch das Auswählen und Ausstellen definieren lässt.7 Der Künstler löst sich damit einerseits von einem traditionellen Gedanken der künstlerischen Neuschöpfung, um andererseits das vorgefundene des Kurators bei Harald Szeemann, Frankfurt a.M.: Revolver 2005; Boris Groys/Maria Lind/Anton Vidokle, »A Different Name for Communism«, in: Displayer 4 (2012), S. 317-339. 5

Nathalie Heinich/Michael Pollak, »From Museum Curator to Exhibition Auteur: Inventing A Singular Position«, in: Reesa Greenberg/Bruce Ferguson/Nairne Sandy (Hg.), Thinking About Exhibitions, London/New York: Routledge 1996, S. 231-250, hier S. 232f.

6

Daniel Buren, »Ausstellung einer Ausstellung«, in: Documenta 5, Ausst.-Kat., Kassel

7

Eine ähnliche Entwicklung findet in der Literatur statt, wenn wir an Autoren wie Ezra

1972, S. 29. Pound denken oder insbesondere auch an Autoren der letzten dreißig Jahre, die Marjorie Perloff auf den Begriff des »unoriginal genius« gebracht hat. Vgl. Marjorie Perloff, Unoriginal Genius: Poetry by Other Means in the New Century, Chicago/London: The University of Chicago Press 2010.

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und ausgewählte Material neu zu arrangieren: »In ihrer extremsten Manifestation setzt die Avantgarde dem [individuellen Charakter künstlerischer Produktion] nicht etwa das Kollektiv als Subjekt des Schaffens entgegen, sondern die radikale Negation der Kategorie der individuellen Produktion.«8 Wenn heute allerdings ein Werk im Sinne Duchamps geschaffen wird, denunziert der Künstler »damit keineswegs mehr den Kunstmarkt, sondern fügt sich ihm ein; er destruiert nicht die Vorstellung vom individuellen Schöpfertum, sondern er bestätigt sie«.9 Die ursprüngliche Negation von künstlerischer Autorschaft avanciert damit selbst zu einer schöpferischen Tätigkeit, und das Verschwinden des Autors in der Moderne wird zu einem wesentlichen Merkmal von Autorschaft. Eine solche Ablösung von einem klassischen Kunstbegriff verstärkt sich ab den 1960er Jahren mit Konzeptkunst, Institutionskritik und Appropriation Art parallel zum Aufkommen des Kurators. Es entwickeln sich künstlerische Arbeitsweisen, die auf den Kontext und die Institution abzielen, fallweise verlassen Künstler auch das Atelier als Produktionsort arbeiten in situ im Museum. In gewisser Weise wenden Künstler also die Verfahren von (Museums-)Kuratoren an oder jedenfalls Verfahren, die als deren Reflexion verstanden werden können. Marcel Broodthaers’ Musée d'Art Moderne, Département des Aigles (19681972) ist dafür das vielleicht bekannteste Beispiel: Broodthaers ›gründet‹ ein Museum, das sich durch eine Vielzahl von Objekten – jeweils versehen mit einer Plakette »This is not a work of art« – dem »Adler vom Oligozän bis heute« widmet. Der Künstler tritt als Sammler und Arrangeur auf, der sich musealen Techniken bedient, die allerdings wieder in einer Form der Autorschaft aufgehen.10 Daneben wird der Künstler der Nachkriegsmoderne zum »Erfahrungsgestalter«.11 Er ist also nicht mehr Urheber ästhetischer Objekte, der künstlerische Prozess zielt »nicht auf die Herstellung eines Werks, sondern auf die Auslösung eines Erfahrungsprozesses mittels einer Vorrichtung oder mittels Objekten« ab.12 Der Betrachter wird damit zum aktiven Teilnehmer des ästhetischen Prozesses. Für Andreas Reckwitz ist diese »Aktivierung des Rezipienten« ein Schlüsselmoment der Kunst der Postmoderne und des Kreativitätsdispositivs, wobei hier der Kurator eine entscheidende Rolle spielt: 8

Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 70.

9

Ebd., S. 71.

10 Vgl. Susanne König, Marcel Broodthaers. Musée d’Art Moderne, Département des Aigles, Berlin: Reimer 2012. 11 Vgl. Oskar Bätschmann, »Der Künstler als Erfahrungsgestalter«, in: Jürgen Stöhr (Hg.), Ästhetische Erfahrung heute, Köln: DuMont 1996, S. 248-281. 12 Ebd., S. 254f.

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»Der Kurator sieht sich in seiner Tätigkeit als Arrangeur und intellektueller Kommentator

selbst als Künstler, als exhibition auteur, und dies hat als Gegenreaktion wiederum eine Übernahme kuratierender Tätigkeiten durch die Künstler hervorgerufen. Der ›KünstlerKurator‹ [...] ist gewissermaßen ein Künstlersubjekt zweiter Ordnung: Über die künstlerische Anordnung von Material hinaus geht es nun um das Arrangement schon bestehender Kunstwerke und -situationen im dreidimensional musealen wie intellektuellem Raum. Das Ziel ist immer die Herstellung eines räumlichen, atmosphärischen und intellektuellen Zusammenhangs, zu dem auch eine Koordination und kommunikative Vernetzung von Personen, medialen Instanzen und Mäzenen gehört.«13

Was aber versteht man unter einer starken kuratorischen Haltung, was unter dem Kurator als Autor? Szeemann gibt nach seiner documenta – übrigens der ersten documenta, in der die Künstler nicht mehr durch ein Gremium ausgewählt wurden – zu Protokoll: »Dennoch war es der bisher umfassendste Versuch, aus einer großen Ausstellung als Resultat vieler Einzelbeiträge so etwas wie das Abbild einer Weltsicht zu machen.«14 Den Auswahlprozess der Werke beschreibt er folgendermaßen: »eine spontane Entscheidung auf Grund einer Intensität, die ich in dem Werk spüre«15 und ruft damit den bekannten Topos der Inspiration einer Genie-Ästhetik wach. Die Stichworte »Weltsicht« und »Abbild« geben Aufklärung darüber, was den Kurator als Autor ausmacht. Er übernimmt eine aktive Produzentenrolle, stellt also nicht mehr ein abgeschlossenes Werk aus, sondern tritt sowohl als dessen Co-Produzent wie auch als Mitschöpfer dieses Werk auf. Diese Position hat quasi-künstlerische Attribute. Man könnte es sehr schematisch folgendermaßen fassen: Während der (Museums-)Kurator früher für den ›idealen‹ Kontext eines Werks zu sorgen hatte, schafft das künstlerische Werk heute eine plausible Begründung für eine kuratorische These – ein Thema, eine Verallgemeinerung, eine Klassifikation oder allein eine Kombination und Verschränkung mit anderen Werken, die einen Bedeutungsrahmen vorgeben – und ist im äußersten Fall schlicht deren Illustration.16 Eine solche ›kuratorische

13 Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin: Suhrkamp 2012, S. 117. 14 S. Grammel, Ausstellungsautorschaft, S. 39. 15 Willi Bongard, »Die Kunst kehrt zu sich selbst zurück. WELT-Gespräch mit Harald Szeemann, dem Generalsekretär der ›documenta 5‹ in Kassel«, in: Die Welt vom 21.3.1972, nachgedruckt in: Klaus Staeck (Hg.), Befragung der Documenta oder Die Kunst soll schön bleiben, Göttingen: Steidl 1972, S. A 2.8. 16 Anti-thematische Ausstellung oder Ausstellungen ›ohne Konzept‹, wie dies emphatisch von Carolyn Christov-Bakargiev für ihre documenta (2012) behauptet wurde, rü-

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Zurichtung‹ entspricht natürlich nicht unbedingt der Intention (und bedarf auch nicht der Zustimmung) eines Künstlers. Zwar wird dem Künstler Autorschaft nicht unbedingt abgesprochen, jedoch tritt der Kurator ebenfalls als Autor auf. Ob er gleichrangig, übergeordnet oder untergeordnet ist, entscheidet sich im Einzelfall, wichtig ist allerdings, dass neben dem Künstler überhaupt eine weitere Autorposition entsteht oder behauptet wird. Gemeinsam ist dem Künstler und dem Kurator eine »Potentialitäts-Semantik« und Kreativität als »innerliche Wesensbestimmung [...], die sich im Kunstwerk als authentischer Hervorbringung/Zeugung objektiviert«.17 Bekanntermaßen führte Szeemanns auktoriale Position neben dem Statement von Buren – das als Verweigerung dennoch Teil der Ausstellung ist – zu einer ganzen Reihe von Absagen eingeladener Künstler. Aber jeglicher Kampf gegen die Autorität des Kurators – und damit gegen eine übergeordnete Autorposition – war sowohl anlässlich dieser Ausstellung als auch in der darauffolgenden Entwicklung vergebens. Das Modell ›Szeemann‹ wird seither als Beginn des heutigen Verständnis vom Kurator begriffen. Für ihn gilt mithin, was für den Autor und Künstler seit Beginn der Neuzeit galt: Der Eigenname bürgt »für eine ästhetische Qualität, die für moderne Kunstwerke zweierlei beansprucht: Originalität und Innovation«.18 1998 wurde die kuratorische Autorschaft in Frankreich sogar rechtlich legitimiert: Ausstellungen gelten als ›œuvre d’esprit‹ und sind damit im französischen Urheberrecht Werken anderer ›Autoren‹ gleichgestellt.19 Zudem übernimmt der Kurator in seinem Habitus bestimmte Merkmale des autonomen Künstlers. Exemplarisch steht hierfür Szeemanns Kündigung seiner sicheren – aber bürgerlichen – Arbeitsstelle als Direktor der Kunsthalle Bern und die Gründung der Agentur für geistige Gastarbeit. Der independent curator vereint nun Merkmale des bohèmehaften Künstlers und von einem »Projektorganisator [...] der projektbasierten Polis.«20 Einen eindrücklichen Fall von inszenierter Autorschaft durch Authentizitätsgesten konnte man 2012 anlässlich cken den Kurator als Autor jedoch stärker in den Vordergrund. Die einzige Legitimation der Ausstellung wird mithin durch den Kurator gewährleistet. 17 Michael Wetzel, »Autor/Künstler«, in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1, Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 480-544. 18 Ebd., S. 481. 19 Vgl. Federica Martini/Vittoria Martini, »Questions of Authorship in Biennial Curating«, in: Elena Filipovic/Marieke van Hal/Solveig Østvebø (Hg.), The Biennial Reader: An Anthology on Large-scale Perennial Exhibitions of Contemporary Art, Ostfildern: Hatje Cantz 2010, S. 260-275, hier S. 263. 20 O. Marchart: Das kuratorische Subjekt, S. 31.

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der 13. documenta erleben. Beispielsweise fehlen Fotos von deren Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev auf kaum einer Seite des Logbuchs, einer Art Ausstellungskatalog. Man sieht darin Christov-Bakargiev – meist in verwackelter Smartphonekamera-Ästhetik – bei Atelierbesuchen in freundschaftlicher Atmosphäre mit Künstlern, im Flugzeug, in Besprechungen mit ihrem Team, beim Rundgang mit Bundespräsident Joachim Gauck, mit ihrem Hund usw. Abbildung 1: Doppelseite des »Logbuch« der 13. Documenta (2012)

© documenta, Kassel

Einerseits wird so Christov-Bakargiev als Gravitationszentrum der Ausstellung inszeniert, andererseits beruht dieses Verständnis auf der generellen Annahme eines Nexus zwischen Werk/Ausstellung und Autor/Kurator. Über solche Inszenierungsmechanismen, die sich bestimmter bereits etablierter Formen bedienen, wird der Kurator als Autor hervorgebracht.

III. B Y CURATORS

FOR CURATORS

Anhand der Zeitschrift The Exhibitionist wird im Folgenden exemplarisch herausgearbeitet, welches Modell von Autorschaft für den Kurator entwickelt und legitimiert wird. The Exhibitionist erscheint seit Frühjahr 2010 halbjährlich in einer Auflage von 3000 Exemplaren und umfasst jeweils einen Umfang von

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etwa sechzig Seiten. Das Blatt gliedert sich – neben Vor- und Nachwort – in die Sektionen »Curator’s Favorites«, in der Kuratoren über für sie persönlich wichtige Ausstellungen schreiben, wobei der Ton eher anekdotisch denn analytisch gehalten ist; »Back in the Day« betrifft die Analyse einer historisch wichtigen Ausstellung; in »Assessment« schreiben jeweils vier Autoren über eine historische oder über eine aktuelle Ausstellung; »Typologies« bringt die Untersuchung jeweils eines Ausstellungsformats (zum Beispiel die Einzelausstellung); »Attitude« verschreibt sich verschiedenen Kontroversen im kuratorischen Diskurs, etwa der Ausbildung von Kuratoren, und in © Archive Books, Berlin »Rear Mirror« schreiben Kuratoren über ihre eigenen Ausstellungen. Die Zeitschrift behauptet von sich, die erste zu sein, die sich explizit und ausschließlich dem Thema des Kuratierens widmet.21 Erst seit 2012 wurde das Feld der Zeitschriften, die sich mit dem Kuratieren befassen, um drei weitere ergänzt: Das Journal of Curatorial Studies versteht sich als wissenschaftliche Zeitschrift und Red-Hook und Well-Connected sind Zeitschriften, die innerhalb eines Kuratorenstudiengangs in New York beziehungsweise Leipzig erscheinen. Die Herausgeber,22 das »Editorial board«23 und die Autoren von The Exhibitionist rekrutieren sich aus dem Who Is Who der internationalen Kuratorenszene. Die Zeitschrift eignet sich daher als Untersuchungsobjekt, denn in ihr und durch sie Abbildung 2: Cover »The Exhibitionist«, Ausgabe 1 (2010)

21 Vorläufer wie das Manifesta Journal (seit 2003) oder Displayer (2006-2012) bleiben dabei unerwähnt. 22 Editor: Jens Hoffmann; Senior editor: Chelsea Haines. 23 Carolyn Christov-Bakargiev, Okwui Enwezor, Kate Fowle, Mary Jane Jacob, Constance Lewallen, Maria Lind, Chus Martínez, Jessica Morgan, Julian Myers, Hans Ulrich Obrist, Paul O’Neill, Adriano Pedrosa, Dieter Roelstraete, Dorothea von Hantelmann.

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werden nicht nur ein bestimmter Diskurs umfassend abgebildet und etablierte Hierarchien stabilisiert, sondern auch das wiedergegeben, was als erfolgreich und Mainstream gilt. »The Exhibitionist is made by Abbildung 3: Cover »Cahiers du curators for curators.«24 Damit Cinéma«, Ausgabe 1 (1951) gleicht das Verständnis vom ›Kurator als Autor‹ nicht nur einer Selbstdarstellung, sondern es wird von der Prämisse ausgegangen, dass die Produktion und Dechiffrierung von Sinn dem sprechenden (Autoren-)Subjekt selbst überlassen werden soll. The Exhibitionist knüpft damit an eine im kuratorischen Diskurs gängige Praxis an, für die HansUlrich Obrists aus elf Interviews mit wichtigen Kuratoren bestehenden A Brief History of Curating exemplarisch steht.25 In Obrists Buch wird der Kurator als Autor vorgestellt, denn das Buch handelt weniger von einer Geschichte des Kuratierens, wie der Titel nahelegt, sondern ist © Cahiers du cinéma, Paris viel mehr als eine aus der IchPerspektive erzählte Geschichte von und mit Kuratoren zu verstehen. Der Kurator wird damit zum Hauptakteur des Diskurses über die Ausstellung, und innerhalb ihrer Historiografie ist er Subjekt und Objekt zugleich. Die Form des Interviews und das vermeintlich unmittelbare Sprechen unterstreicht dabei die vermeintliche Authentizität der Aussagen. Solche von Michael Wetzel am Beispiel von Autoren analysierte Authentizitätsgesten, wie etwa das Interview, lassen sich auch auf den Kurator als Autor übertragen: »Was in ihnen zum Ausdruck kommt, ist nicht die dokumentarische Echtheit eines Sprechens der Dinge an sich oder die materielle Ursprünglichkeit des Zeugnisses, sondern ein

24 Jens Hoffmann, »Overture«, in: The Exhibitionist 1 (2010), S. 3-4. 25 Hans-Ulrich Obrist, A Brief History of Curating, Zürich: JRP Ringier 2008.

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alles verschlingendes Gefühl der Gerechtfertigtheit oder Autorität, mit anderen Worten die Geltung einer zum Sinn hinzutretenden und über ihn hinausgehenden Kraft [...]«26

IV. P OLITIQUE

DES AUTEURS

The Exhibitionist stellt sich durch seine programmatischen Vor- und Nachworte als auch durch die grafische Gestaltung in eine direkte Tradition der seit 1951 erscheinenden Filmzeitschrift Cahiers du cinéma und deren Auteur-Theorie. Damit wählt The Exhibitionist eine historische Referenz, deren Telos die Etablierung des Regisseurs als Autor war, und versucht diese in Übertragung auf einen anderen Diskurszusammenhang zu wiederholen.27 Mit der grafischen Gestaltung wird nicht nur eine zitathafte Bezugnahme vollzogen, sondern auch die Ausrichtung von The Exhibitionist von Anbeginn, schon auf der Oberfläche, mit einer bestimmten Bedeutung angereichert. Denn Drucksachen sind nie nur Speichermedien, die reproduziert und verbreitet werden, sie sind immer zugleich auch »persuasive Gebilde«.28 Ihre Gestaltung ist nicht nur dekoratives Mittel im Dienste irgendeines Inhalts, sondern sie ermöglicht überhaupt erst eine Lektüre. Wahl des Papiers, Formate, Farben, Linien und

26 Michael Wetzel, »Artefaktualitäten: Zum Verhältnis von Authentizität und Autorschaft«, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Wilhelm Fink Verlag 2003, S. 37-54, hier S. 42. 27 Der Vergleich zwischen Kurator und Regisseur ist dabei keineswegs neu, vgl. u.a.: N. Heinich/M. Pollak: From Museum Curator to Exhibition Auteur; Boris Groys, »Multiple Authorship«, in: Barbara Vanderlinden/Elena Filipovic (Hg.), The Manifesta Decade: Debates on Contemporary Exhibitions and Biennials, Cambridge, Mass.: MIT Press 2006, S. 93-99; Robert Storr, »Show and Tell«, in: Paola Marincola (Hg.), Questions of Practice: What Makes a Great Exhibition?, Philadelphia: Philadelphia Exhibitions Initiative 2006, S. 14-31. Der Ansatz von Heinich und Pollak beruht auf der Annahme einer Vielzahl von strukturellen Ähnlichkeiten zwischen Kurator und Regisseur bzw. zwischen Ausstellung und Kino, die hier kurz erwähnt werden sollen: Erzeugung temporärer Kulturprodukte für den Massenvertrieb, kaum Standardisierung, Teamarbeit innerhalb einer bestimmten Hierarchie, ähnlich lange Produktionsdauer, ähnliche Budgets, ähnliche Besucherzahlen, ähnliche Eintrittsgelder, Modi der Rezeption und Ritualisierung (Eröffnungen, Pressevorführungen, Kritik, etc.). 28 Christof Windgätter, »Vom ›Blattwerk der Signifikanz‹ oder: Auf dem Weg zu einer Epistemologie der Buchgestaltung«, in: ders. (Hg.), Wissen im Druck: Zur Epistemologie der Buchgestaltung, Wiesbaden: Harrowitz 2010, S. 6-50, hier S. 16.

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Typografie müssen als Inszenierung von Autorität verstanden werden, die einerseits Abgrenzungen produziert, andererseits aber auch Einschreibungen in bestimmte Traditionen ermöglicht. Das Gelb der frühen Cahiers du Cinéma steht metonymisch für die frühen Jahre und das radikale Programm der Filmzeitschrift, der unbeschriftete schwarz-weiße Einzelkader auf dem Umschlag vermittelt ihr zentrales Anliegen. In The Exhibitionist treten an die Stelle der Szenen aus Filmen Abbildungen von bekannten Kunstwerken (Duchamp, Michelangelo, Caravaggio) oder Ausstellungsansichten (der Crystal Palace der Londoner Weltausstellung von 1851, SHE – A Cathedral von Niki de Saint Phalle und anderen Künstlern von 1966), die allerdings nicht, wie in den Cahiers du Cinéma, notwendigerweise in der Ausgabe thematisiert werden. Jens Hoffmann, der Herausgeber der Zeitschrift, bezieht sich im Editorial der ersten Ausgabe auf die Cahiers du Cinéma und begründet damit die direkte Bezugnahme: »The iconic French journal Cahiers du cinéma, especially its early issues, served as our primary inspiration. We were strongly influenced by its radicalism of thought, its critical and sceptical attitude, its excellently written texts, and the way it broke with then-current conventions of thinking and writing about culture. But most importantly, what connects The Exhibitionist with Cahiers du cinéma is a shared belief in the idea of the author, which applies to exhibition making just as much as it does to filmmaking. The application of the auteur theory to curating has been one of the most remarkable developments in our field in recent years, and it finds another level of urgency, intensity, and self-reflection in these pages.«29

Um die Berufung auf die Cahiers du Cinéma und deren Auteur-Theorie verstehen zu können, muss man sie in ihrem historischen Kontext betrachten.30 Gegründet 1951 von Filmkritikern (André Bazin, François Truffaut und Jean-Luc Godard und anderen), die erst über diese Tätigkeit zum Filmemachen kamen und die Nouvelle Vague begründeten, hatte die Zeitschrift ihr Hauptanliegen darin, Film als eigenständige Kunstform zu etablieren. In den Ausgaben der 1950er Jahre entwickelte sich eine politique des auteurs, die man verkürzt auf die Formel bringen kann, dass ein Film ausschließlich auf der Vision des Regisseurs basieren solle, die durch jeden Aspekt des Films durchscheine. Ausgangspunkt für das Autorenverständnis der Cahiers du Cinéma war unter anderem auch 29 J. Hoffmann, Overture, Nr. 1, S. 3. 30 Vgl. Emily Bickerton, A Short History of Cahiers du Cinéma, London: Verso 2009; Markus Moninger, Filmkritik in der Krise: Die ›politique des auteurs‹ – Überlegungen zur filmischen Rezeptions- und Wirkungsästhetik, Tübingen: Narr 1992.

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Alexandre Astrucs Idee der caméra-stylo. Moninger erwähnt drei zentrale Merkmale der politique des auteurs: »die scheinbar formalistische Beschreibungsmethode, der Ansatz zu einer Theorie über die geschichtlichen Wirkungsfunktionen filmischer Schreibweise und die damit zusammenhängenden ethischen Aspekte der Produktions- und Wirkungsästhetik des Films«.31 Die politique des auteurs richtete sich damit gegen die französischen film de qualité und setzte sich für die Anerkennung des Regisseurs als Künstlers ein. Einher ging damit die Auseinandersetzung mit Regisseuren wie Alfred Hitchcock oder Howard Hawks, die zwar im Hollywood-System arbeiteten, aber als gestaltende Autoren Anerkennung genossen. Ein weiterer wichtiger Aspekt der AuteurTheorie ist die Aktivierung des Zuschauers: »Den Zuschauer aktivieren: Das war das Ziel der ›politique des auteurs‹. Den ›auteur‹ von narrativen und erzähltechnischen Konventionen befreit zu haben: das ist ihre Leistung. Während die ›politique‹ gerade durch die Hervorhebung der individuellen ›écriture‹ das traditionelle Kunstverständnis aufbrechen konnte, während sie den Zuschauer verstärkt als Co-Autor einsetzte, unternahm sie eine Gratwanderung zwischen emanzipatorischen Tendenzen, evasiver Versenkung ins Werk und subjektivistischer Autopsie.«32

Die generellen Forderungen der politique des auteurs und deren Umsetzung werden verständlich, wenn wir an den Produktionsprozess des damaligen Films denken, in dem der Regisseur gegenüber den anderen Akteuren üblicherweise nur eine unwichtige Rolle einnahm und auch die Filmkritik weniger auf formale und stilistische Merkmal als auf den Inhalt einging. Die Auteur-Theorie wurde – sowohl innerhalb der Cahiers du Cinéma als auch außerhalb – bereits früh und auf unterschiedliche Weise kritisiert. Dabei ging es um die empirische Unmöglichkeit, den Anteil des Regisseurs nachzuweisen oder um die kommerzielle Funktion des Autornamens. Jacques Rivette etwa verlangte 1968 von Regisseuren zu bestreiten, dass Film eine subjektive Kreation sei.33 Zudem wurde der Autoren-Regisseur durch die Idee der kollektiven Produktion geschwächt, wie dies Jean-Luc Godards Dziga Vertov Group umzusetzen versuchte. Bickerton bemerkt, dass der auteur sehr schnell banalisiert wurde: »Already in 1962, Godard had noted that rather too many were being granted the title; ›inflation threatens‹, he warned – but in the eighties the process was institutionalized. […] 31 M. Moninger, Filmkritik in der Krise, S.12. 32 Ebd., S. 158. 33 E. Bickerton, A Short History, S. 60.

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The auteur notion – the journal’s notion, its real house concept – was bandied about indiscriminately, pinned to every Pierre, Paul, Jacques and found everywhere.«34

Während sich die Filmwissenschaft von der Auteur-Theorie vollständig distanziert,35 überlebt sie lediglich als stark verkürzte Modifikation in der Filmgeschichtsschreibung zur Legitimierung von Biografismen36 und im werbewirksamen Begriff ›Autorenfilm‹. Was steht zur Debatte, wenn sich 60 Jahre später The Exhibitionist dieselbe Theorie zu eigenen macht und die Positionierung des Regisseurs als Autor auf die des Kurators als Autor überträgt? Zuerst fallen die gänzlich anderen Prämissen auf: Während die politique des auteurs der Cahiers du Cinéma in den 1950er Jahren tatsächlich als ein emanzipatorischer Akt gelten konnte und eine neue Art von Film ermöglichte, ist der Kurator im Jahr 2010 alles andere als marginalisiert.37 In The Exhibitionist kommt es auch gar nicht zur Formulierung einer neuen Art von Kuratorenschaft. Während sich die Auteur-Theorie also aus einer kritischen Haltung gegenüber dem Status Quo entwickelt, versucht das Modell des Kuratoren-Autoren, ihn zu stabilisieren. Fast kann man von einer strategischen Selbstmarginalisierung, auf deren Grundlage die Verfechtung einer Autoren-Position erst zu rechtfertigen ist, sprechen. Das Cover der dritten Ausgabe zeigt Michelangelos’ David, was von Hoffmann im Editorial kommentiert wird: »Unlike so many artists who depicted David with Goliath’s head in his hand, Michelangelo chose to show him in the moment just before the fight. His face is tense, fierce, his eyebrows furrowed, yet his body seems relaxed. Strength and determination balance with 34 Ebd, S. 117. 35 Kaja Silverman, »Lost Objects and Mistaken Subjects: Film Theory’s Structural Lack«, in: Wide Angle 1/2 (1985), S. 14-29, hier S. 28: »In the wake of auteurism, and in a reaction against its privileging of the individual voice, film theory has been at pains to distinguish cinema’s enunciating agency from the figure of the director or scriptwriter. The result has been a much greater emphasis both upon the productive role of the technological and ideological apparatus, and upon the strategies for concealing this apparatus from general view.« 36 Vgl. M. Moninger, Filmkritik in der Krise, S. 163. 37 Vgl. zur Neubewertung der Position des Autors im Sinne eines Insistierens auf ein Recht auf Autorschaft von bisher Marginalisierten in der Kunst der 1990er Jahre: Stefan Germer, »Kritik des Kanons. Was man von Gespenstern lernen kann«, in: Julia Bernard (Hg.), Germeriana. Unveröffentlichte oder übersetzte Schriften von Stefan Germer zur zeitgenössischen und modernen Kunst, Köln: Oktagon 1999, S. 56-63, insbes. S. 61-63.

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sophistication and elegance – all characteristics that The Exhibitionist would like to claim for itself. In our case the struggle is to establish exhibition making as a cultural praxis with its own discourse, to claim curating as creative authorship, to overcome the suspicion and even hostility with which it is sometimes viewed, and to break through the conventions of the medium.«38

Wer ist Goliath, wenn The Exhibitionist David ist? Die Behauptung einer kritischen Haltung oder gar Radikalität wird dadurch erleichtert, dass im The Exhibitionist weder ausführlich erklärt Abbildung 4: Cover wird, was unter ›Autor‹ verstanden »The Exhibitionist«, Ausgabe 3 (2011) wird, noch was es bedeutet, dass Kuratoren zu Autoren werden, oder was die Funktion des Kurators als Autor genau ist. Dabei ist das Wort ›Autor‹ hier kein leerer Signifikant, der schon von sich heraus etwas legitimiert oder durch seine performative Kraft etwas nicht nur benennt, sondern realisiert. Vielmehr wird ein bereits etabliertes Modell von Autorschaft herangezogen, was den Kurator als Autor legitimiert und mit bestimmten Attributen versieht. Inwieweit aber das Autorenmodell der 1950er Jahre zeitgemäß und übertragbar ist, spielt dabei keine Rolle. Eher wird Bedeutung durch die Wiederholung generiert. Entscheidende Ansätze der © Archive Books, Berlin politique des auteurs – die Formulierung einer gegenüber dem Status Quo progressiven Position (sowohl im Sinne der Rezeption als auch der Produktion von Filmen), die Privilegierung des Zuschauers und der Anspruch, erzähltechnische und filmästhetische Konventionen zu überwinden – fehlen in The Exhibitionist. Die Bezugnahme auf die Autorentheorie der Cahiers du Cinéma muss man also als eine Strategie verstehen, die über das Prinzip der Genealogie funktioniert: Der Kurator als Autor wird in einem ersten Schritt durch die Einschreibung in eine bestimmte Geschichte und 38 Jens Hoffmann, »Overture«, in: The Exhibitionist 3 (2011), S. 3.

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durch Analogiebildung, in einem zweiten durch die Übertragung auf einen anderen Diskurszusammenhang legitimiert.

V. E XHUMIERUNG DES

TOTEN

AUTORS

Neben der Bezugnahme auf die Cahiers du Cinéma entwickelt The Exhibitionist einen weiteren Legitimierungsmechanismus, der den Kurator als Autor hervorbringt. Dieser besteht aus einer ins Positive gewendeten Kritik am Autorsubjekt, wie sie insbesondere Michel Foucault und Roland Barthes formulierten. In The Exhibitionist wird die poststrukturalistische Theorie der Autorschaft nicht als Rezeptionshaltung für Texte (oder für Kunst), sondern als modus operandi des Kurators als Autor (miss-)verstanden. Hoffmann formuliert dies in der ersten Ausgabe folgendermaßen: »Roland Barthes famously formulated a rejection of the [auteur] theory in his 1967 essay ›The Death of the Author‹, arguing against the belief that the author is the unifying and sole creative source of the meaning and value of a work of art. Michel Foucault in his 1969 essay ›What Is an Author?‹ proposed another redefinition of authorship as ›a certain functional principle by which, in our culture, one limits, excludes, and chooses.‹ In recognition of the set of operations and frameworks for the production and circulation of meaning that Foucault was keen to foreground, we concur that the curatorial process is indeed a selection process, an act of choosing from a number of possibilities, an imposition of order within a field of multiple (and multiplying) artistic concerns. A curator’s role is precisely to limit, exclude, and create meaning using existing signs, codes, and materials.«39

Foucault geht es in Was ist ein Autor? nicht um die Kategorie des Autors in essentiellem Sinn, sondern um die spezifische Funktion, die sie in unterschiedlichen historischen Kontexten einnimmt. Obwohl er sich zu Beginn seines Texts kritisch, wenn auch stillschweigend auf Roland Barthes’ Tod des Autors bezieht und sogar behauptet, die darin vorgetragenen Ideen seien dem 19. Jahrhundert verhaftet, werden bei Hoffmann beide Texte in einem Atemzug genannt, wodurch Foucaults Text die Behauptung vom Tod des Autors untergeschoben wird. Im Gegensatz zu Barthes geht es Foucault aber eigentlich um eine Beschreibung der Funktion und des Ortes des Autors in einer bestimmten Ordnung als Wertvorstellung, die historisch gedacht werden muss, nicht um das völlige Verschwinden des Autors.

39 J. Hoffmann, Overture, Nr. 1, S. 3.

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Foucault analysiert bestimmte Autorfunktionen, insbesondere die Idee eines »vernünftigen Wesen[s] [...], das man als Autor bezeichnet«40 und des Autors als »Diskursivitätsbegründer«.41 Er will damit andere, mit der Konzentration auf das Autorsubjekt konkurrierende Möglichkeiten der Textexegese etablieren. Beide Funktionen würden sich auch für die Untersuchung des Kurators als Autor eignen. Hoffmann stellt jedoch diese Analyse auf den Kopf: Was bei Foucault eine Rezeptionshaltung gegenüber Texten betrifft, wird bei ihm zum modus operandi des Autors. Foucault demaskiert den Autor als ideologisches Produkt, als »ein bestimmtes funktionelles Prinzip, durch das man in unserer Kultur begrenzt, ausschließt, selegiert; kurz, das Prinzip, durch das man der freien Zirkulation, der freien Manipulation, der freien Komposition, Dekomposition und Rekomposition der Fiktion Fesseln anlegt«.42

Bei Hoffmann dient nun ›begrenzen, ausschließen, selegieren‹ als Beschreibung kuratorischer Autorschaft statt als Kritik an interpretatorischen Praktiken. Zwar kann man mit diesen Tätigkeiten durchaus die Arbeitsweise eines Kurators beschreiben, doch betrifft das nicht Foucaults Kritik am Autorsubjekt als Zentrum der Interpretation. Die Tätigkeit des Auswählens ist, wie eingangs erwähnt wurde, zentral für einen künstlerischen Produktionsbegriff seit Duchamp und damit in Kategorien der Autorschaft fassbar. Ein solcher Begriff von Produktion als Rezeption lässt sich auch in Barthes’ Tod des Autors finden, wenn er vom Text als einem »vieldimensionalen Raum« spricht, »in dem sich verschiedene Schreibweisen [écritures], von denen keine einzige originell ist, vereinigen und bekämpfen. Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unzähligen Stätten der Kultur.«43 Die Kritik wird also nicht abgewendet oder für obsolet erklärt, indem Gründe dagegen aufgeführt werden,44 vielmehr wird sie affirmativ umgepolt, wodurch 40 Michel Foucault, »Was ist ein Autor?«, in: ders., Dits et Ecrits: Schriften in vier Bänden, Bd. I, 1954-1969, hg. von Daniel Defert/François Ewald, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 1003-1041, hier S. 1017. 41 Ebd., S. 1022. 42 Ebd., S. 1030. 43 Roland Barthes, »Der Tod des Autors«, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2000, S. 185-193, hier S. 190. 44 Vgl. Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Rückkehr des Autors: Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen: Niemeyer 1999; Sean Burke, The Death and Return of the Author: Criticism and Subjectivity in Barthes, Foucault and Derrida, Edinburgh: Edinburgh University Press 1992.

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der Autor als wichtigste Instanz – oder um mit Foucault zu sprechen, als die »unendliche Quelle von Bedeutung«45 – wieder zum Leben erweckt wird. Man könnte behaupten, dass der Kurator als Autor durch Hoffmanns eigenwilligen Lektüre der Autortheorie gegen Kritik immunisiert wird, indem das, was Foucault als Autorfunktion in Bezug auf die Herstellung von Bedeutung eines Textes – nicht auf die Herstellung des Textes selbst – beschreibt, als Produktionsweise des Kurators als Autors ins Positive gewendet wird. Das eigentliche Problem von Foucaults Analyse wird stillschweigend übergangen.

VI. AUTORSCHAFT ,

ANACHRONISTISCH

Interessanterweise tritt der Kurator als Autor just in den Jahren auf den Plan, in denen auch der Tod des Autors ausgerufen wird. Es kann auch kein Zufall sein, dass Barthes’ Text zuerst in einer der avanciertesten Kunstzeitschriften, dem Aspen Magazine, erschien; einem Publikationsprojekt, das man selbst als ein kuratorisches betrachten muss, indem es darin zu einer Neuverhandlung der Rollen Künstler, Kurator und Rezipient kam.46 Aber selbst wenn man mit Hoffmann davon ausgeht, dass die Rolle des ›toten Autors‹ nun vom Kurator übernommen wird, ändert das nichts an der Autorfunktion und der Frage nach der Bedeutungsproduktion. The Exhibitionist versucht nicht zu beschreiben, was unter Autorschaft verstanden wird oder was die spezifischen Eigenschaften des Kurators als Autor sind. In Wahrheit vertritt die Zeitschrift einen anachronistisch zu nennenden Schöpfer-Gedanken: »In other words, the exhibition mirrors the subjectivity of the individual curator, just as each artwork mirrors the subjectivity of the artist who made it, and the Nouvelle Vague films mirrored the subjectivity of their directors.«47 Hoffmann nimmt hier zwei anachronistische Subjektmodelle – das Künstlergenie und den Regisseur der Nouvelle Vague – als Ausgangspunkt, um die Subjektivität des Kurators ins Zentrum der Bedeutung einer Ausstellung zu stellen. Der Kurator als Autor definiert sich also nicht über eine genuin eigene Tätigkeit oder einen neuen Subjektentwurf, sondern beglaubigt seine Autorität durch die Übernahme bereits etablierter, aber längst überkommener Subjektformen. Das in The Exhibitionist geförderte Subjektmodell folgt insgesamt einer

45 M. Foucault, Was ist ein Autor?, S. 1030. 46 Vgl. zum Aspen Magazine: Gwen Allen, Artists’ Magazines: An Alternative Space for Art, Cambridge, Mass.: MIT Press 2011, S. 43-67. 47 J. Hoffmann: Overture, Nr. 3, S. 3.

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reaktionäre Konzeption: Auf struktureller Ebene bedient es sich eines bereits etablierten Modells anstelle eines progressiven Subjektentwurfs, und dieses etablierte Modell beruht auf der Vorstellung des längst überkommenen Modells des Autors als Genie. Foucault bezeichnet als die Bannung der »Gefahr, durch die die Fiktion unsere Welt bedroht«, die Festigung der Autorfunktion: »Der Autor macht eine Begrenzung ihrer krebsartig wuchernden Ausbreitung möglich, die bedrohlich für die Bedeutung einer Welt ist, in der man nicht allein mit seinen Ressourcen und Reichtümern ökonomisch verfährt, sondern auch mit seinen eigenen Diskursen und ihren Bedeutungen.«48 Wenn eine Ausstellung die Subjektivität eines Kurators widerspiegelt, dessen geniale Individualität als einziger Garant für die Autonomie eines Werks, das die Ausstellung darstellt, gilt, dann wird eben diese von Foucault angegriffene Schutzbehauptung vollzogen. Eben dies hat sich The Exhibitionist zur Aufgabe gemacht.

VII. P OLITIK

DER

AUTORSCHAFT

In der dritten Ausgabe des Exhibitionist liefert die Pekinger Kuratorin Carol Yinghua Lu unter dem Titel »The Curator as Artist« anlässlich einer Besprechung der 8. Gwangju Biennale eine Apologie des Autoren-Kurators, personifiziert durch Massimiliano Gioni. Lu nimmt auf das Nachwort der vorhergehenden Ausgabe Bezug, in der Hoffmann kritisch über eine Reihe von Leserbriefen spricht, die ihrerseits die starke Positionierung des Kurators – fast ausschließlich allerdings als eine Position vis-à-vis dem Künstler – angegriffen hatten.49 Im Anschluss an Hoffmann versucht Lu, das Autorensubjekt in der Gwangju Biennale zu identifizieren. Sie verweist auf eine vom Künstler nicht autorisierte, durch Gioni rekonstruierte Installation Mike Kelleys aus dem Jahr 1992 und auf Gionis Präsenz als Kurator, die sich beispielsweise in den zu einer bestimmten Lesart des Werks anleitenden Wandtexten zeige. Sicherlich kann man über die Frage der Rekonstruktion von nicht mehr vorhandenen Werken streiten, und auch die Erzwingung einer bestimmten Bedeutung ist fragwürdig. Problematischer ist aber folgende Aussage: »By giving each artwork in his show a clear and definite reading and context steered toward his intent, Gioni made his mark on these works, making them communicate his

48 M. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 1029. 49 Vgl. Jens Hoffmann, »Endnote«, in: The Exhibitionist 2 (2010), S. 61.

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own understanding of the complex relationship images carry within human life, representation, interaction, documentation, memory, evidence of existence, and life even after disappearance and death. Gioni’s curatorial style can seem imposing, almost dictatorial. Its emergence and visibility in the art world echoes a certain wider political temperament arising following the world’s disillusion with neo-liberalism in the wake of the current economic crisis. People have realized that absolute economic and political freedom is perhaps not the ultimate answer to the world’s problems, and that elements of intervention, control, and mediation administered from a higher level are necessary to maintain order and prosperity on this planet. These ideas can be applied to the arts and to reality at large, and Gioni acts on just such a principle.«50

Wenn hier mit dem Kurator als Autor und dem damit korrespondierenden Modell der Ausstellung die Einschränkung politischer Freiheit gerechtfertigt und sogar der Begriff »diktatorisch« positiv bewertet wird, zeigt sich sowohl in praktischer Hinsicht als auch in Bezug auf die Produktion von Bedeutung, wie problematisch die Idee des Autors als zentrale und einzige Instanz ist. Es ist daher nur folgerichtig, eine solche Konzeption des Autors und deren Konsequenzen als Autoritarismus zu bezeichnen.51 Wie könnte aber eine Auseinandersetzung mit dem Kurator als Autor aussehen? Weshalb ist es in der Literaturwissenschaft üblich, den Autor vom Erzähler zu trennen, während dieselbe naheliegende Unterscheidung für das Medium Ausstellung nicht gemacht wird? Eine solche Auseinandersetzung hätte Foucaults Analyse der Autorfunktion ernst zu nehmen und damit den Kurator zwar als Autor zu behandeln, jedoch nicht ohne ihn innerhalb seines funktionalen und diskursprägenden Zusammenhangs zu verorten. Foucault beginnt und schließt Was ist ein Autor? mit einem Zitat Samuel Becketts:

50 Carol Yinghua Lu, »The Curator as Artist«, in: The Exhibitionist 3 (2011), S. 27-28, hier S. 28. 51 Einem solchen Entwurf entgegengesetzt ist Oliver Marcharts politisch progressive Idee der ›kuratorischen Funktion‹ bzw. des ›organischen Kurators‹. Dieser an Antonio Gramscis ›organischen Intellektuellen‹ angelehnte Begriff bezieht sich zwar nicht auf die Problematik von kuratorischer Autorschaft, beschreibt den Kurator aber als jemanden, der Gegen-Hegemonie produzieren kann/soll. Vgl. Oliver Marchart, »Die kuratorische Funktion – Oder, was heißt eine Aus/Stellung zu organisieren?, in: Marianne Eigenheer u.a. (Hg.), Curating Critique, Frankfurt a.M.: Revolver 2007, S. 172179.

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»›Was liegt daran wer spricht?‹ In dieser Gleichgültigkeit zeigt sich das vielleicht grundlegendste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens. Die Auslöschung des Autors ist für die Literaturkritik seitdem zu einem gängigen Thema geworden. Das Wesentliche besteht indes nicht darin, ein weiteres Mal sein Verschwinden zu konstatieren; es gilt vielmehr, als zugleich gleichgültige und zwingende – Leerstelle die Orte ausfindig zu machen, an denen seine Funktion ausgeübt wird.«52 »Man hörte nicht länger die so lange wiederholten Fragen ›Wer hat wirklich gesprochen? Ist das auch er und kein anderer? Mit welcher Glaubwürdigkeit, welcher Originalität? Und was hat er aus seinem tiefsten Inneren in seinem Diskurs ausgedrückt?‹ Dafür würde man andere hören: ›Welches sind die Existenzweisen dieses Diskurses? Von wo aus wurde er gehalten, wie kann er zirkulieren und wer kann ihn sich aneignen? Welches sind die Plätze, die für verschiedene Subjekte vorgesehen sind? Wer kann diese verschiedenen Subjekt-Funktionen ausfüllen?‹ Und hinter all diesen Fragen würde man kaum mehr als das Geräusch einer Gleichgültigkeit vernehmen: ›Was liegt daran wer spricht?‹«53

Gleichgültigkeit bedeutet nicht Desinteresse und auch nicht Bedeutungslosigkeit. Gemeint ist damit aber, und das ist entscheidend, die Verschiebung der Frage nach der Bedeutungsproduktion vom Subjekt des Autors hin zu Orten, an denen er als Autor funktioniert. In Übertragung auf den Kurator erfordert das erhöhte Aufmerksamkeit für die Relationalität der Ausstellung, also auf das Gefüge verschiedener Akteure und Dinge, die Aufschluss über die Funktion und Position des Kurators geben können. Die Kategorie ›Autor‹ ist in Bezug auf Ausstellungen und den kuratorischen Diskurs nicht abzuschaffen. Vielmehr muss dessen Funktion – auch dessen ethische Funktion – im Zentrum der Auseinandersetzung stehen.

52 M. Foucault: Was ist ein Autor?, S. 1003. 53 Ebd., S. 1030f.

Praktiken von Autorschaft

Wohnen, Briefeschreiben, Dichten Inszenierungspraktiken Rainer Maria Rilkes J ÖRG S CHUSTER

I. ›B RIEFARBEIT ‹ –

MATERIALE EINER KULTURELLEN P RAXIS

ASPEKTE

UND

F UNKTION

Bekannt ist Rainer Maria Rilke vor allem als einer der produktivsten und erfolgreichsten Lyriker des frühen 20. Jahrhunderts. Weniger bekannt ist, dass er mindestens im gleichen Maß einer anderen Tätigkeit nachging: Er verfasste in unermesslichem Ausmaß Briefe, die in ihrer Virtuosität an sein dichterisches Werk heranreichen und die, insbesondere soweit sie der Kontaktpflege mit Mäzenen dienten, entscheidend zu seinem Lebensunterhalt beitrugen – er war ein professioneller Briefschreiber. Schätzungen, die von »etwa 10.000 Briefe[n]« 1 ausgehen, sind stark untertrieben. Rilke selbst spricht von seiner »Briefarbeit«;2 das Empfangen und Versenden von Briefen wird in Brieflisten und Briefbüchern genau verzeichnet. »Die BriefUsine«, so schreibt er 1921 an die Schweizer Freundin und Mäzenin Nanny Wunderly-Volkart, »arbeitet mit Dampf«.3 In produktiven Zeiten werden täglich an die zehn meist umfangreiche Briefe verfasst. Gegenüber Katharina Kippenberg, der Frau seines Verlegers, rekapituliert er, ebenfalls 1921: »[M]eine Feder,

1

Joachim W. Storck, »Das Briefwerk«, in: Manfred Engel (Hg.), Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2004, S. 498-506.

2

Rainer Maria Rilke an N. Wunderly-Volkart, 15.12.1922, in: ders., Briefe an Nanny Wunderly-Volkart, hg. von Rätus Luck, 2 Bde., Frankfurt a.M.: Insel-Verlag 1977, Bd. 2, S. 825.

3

R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 1.12.1921, Bd. 1, S. 585.

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Abbildung 1: Epistolare Kalligraphie: Brief von Rainer Maria Rilke an Lou Andreas-Salomé vom 13. Mai 1897

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

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diese, müde, hat innerhalb zehn oder vierzehn Tagen ungefähr 400 solcher Seiten mit Buchstabenstreifen gemustert […].«4 Mit dieser Formulierung ist ein weiterer zentraler Aspekt von Rilkes Briefproduktion angedeutet: Zu ihrer außergewöhnlichen Quantität kommt die besondere Qualität in materialer Hinsicht hinzu, indem sich die Briefe durch eine bewusst kalligraphische Gestaltung auszeichnen (s. Abb. 1). Auch auf diesen materialen Aspekt lässt sich das ironische Urteil Carl J. Burckhardts beziehen, Rilke schreibe »Briefe […] wie ein Goldschmied Schmuck anfertigt«.5 Dieses Schreiben als kunstvolle Handarbeit steht, dem zeitgenössischen Kunstgewerbe (auch in der Buchkunst) vergleichbar, bewusst im Kontrast zu den technischen Innovationen der industriellen Moderne – ein mit der Schreibmaschine geschriebener Brief Rilkes ist ebenso undenkbar wie ein Telefonanschluss an exklusiven Orten wie dem seit 1921 bewohnten Château de Muzot im Wallis. 6 Die materiale Gestalt des Briefs, das blaue Briefpapier und die blauen Umschläge, die Rilke zeitweise eigens aus Paris bestellt, sind dabei zugleich Markenzeichen mit hohem Wiedererkennungswert, genauso wie die – jeder Orthographiereform trotzende – individuell-archaisierende Orthographie, insbesondere in der Verwendung des »th« oder des »y«, das zudem preziös mit zwei Punkten versehen werden kann (»Junÿ«, » Essaÿ«7). Sowohl die orthographischen Eigenarten als auch der ausgesuchte Umgang mit der Materialität des Briefs weisen darauf hin, dass hier sehr bewusst Autographen produziert werden, die über einen Markenwert 4

Rainer Maria Rilke an K. Kippenberg, 4.12.1921, in: ders./Katharina Kippenberg, Briefwechsel, hg. von Bettina von Bomhard, Wiesbaden: Insel-Verlag 1954, S. 445.

5

C.J. Burckhardt an H. v. Hofmannsthal, Oktober 1920, in: Hugo von Hofmannsthal/Carl J. Burckhardt, Briefwechsel, hg. von Carl J. Burckhardt/Claudia MertzRychner, Frankfurt a.M.: Fischer 1991, S. 49.

6

Zum Problem der Mechanisierung des Schreibens um 1900 vgl. den instruktiven Sammelband von Davide Giuriato u.a. (Hg.), »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte, München: Fink 2005.

7

R.M. Rilke an E. Key, 27.6.1907, in: ders./Ellen Key, Briefwechsel. Mit Briefen von und an Clara Rilke-Westhoff, hg. von Theodore Fiedler, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel-Verlag 1993, S. 199, S. 201. Spätestens mit der I. und II. Orthographischen Konferenz von 1876 bzw. 1901 waren insbesondere das »th«, das »ey«, das »dt« (etwa in »tödten«), die Verbendung »-iren« (statt »-ieren«) sowie die Substantivendung »niß« abgeschafft; vgl. Dieter Nerius (Hg.), Deutsche Orthographie, 4. Auflage, Hildesheim u.a: Olms 2007, S. 342-350; ders. (Hg.), Die orthographischen Konferenzen von 1876 und 1901, Hildesheim u.a.: Olms 2002, S. 342-350; Hiltraud Strunk (Hg.), Dokumentation zur Geschichte der deutschen Orthographie in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Bd. 1, Hildesheim u.a.: Olms 2006.

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verfügen. Im Unterschied zum publizierten Werk, das sich an ein anonymes Publikum richtet und in Bezug auf dessen Textgestaltung Verleger, Redakteure und Drucker mitbestimmen, ist der Autor im Fall der kulturellen Praxis des Briefschreibens völlig sein eigener Herr, der über alles verfügt – vom gewählten Adressaten über den Inhalt, das Schriftbild und die Farbe des Briefpapiers bis hin zum Zeitpunkt des Absendens. Doch warum schreibt Rilke derart exzessiv Briefe, was ist die Funktion des quantitativ wie qualitativ herkömmliche Rahmen sprengenden Briefverkehrs? Primär geht es für den aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammenden und zunächst als Schriftsteller nicht reüssierenden Rilke natürlich darum, im literarischen Betrieb Fuß zu fassen, geht es um das Herstellen und Erhalten eines Netzes an Beziehungen. Dies schließt den Kontakt mit Verlegern wie Axel Juncker und Anton Kippenberg oder mit einflussreichen Personen des literarischkulturellen Lebens wie Lou Andreas-Salomé oder Ellen Key ebenso ein wie später die Tuchfühlung mit Mäzenen, aber auch mit Lesern und vor allem mit Leserinnen.8 Bei genauerem Hinsehen besitzt die Praxis des Briefschreibens dabei eine ambivalente Funktion: Sie ermöglicht es Rilke einerseits, den Kontakt zu seinem sozialen Umfeld aufrecht zu erhalten und doch andererseits zugleich Distanz zu wahren. Mit Briefen kann er Begegnungen stets aufschieben, um die für die poetische Produktion nötige Ruhe und Einsamkeit zu garantieren. Mittels Briefen richtet sich Rilke aber auch in einem ganz wörtlichen Sinne im Leben ein. Noch wichtiger als das Werben um finanzielle Unterstützung ist ihm in seiner Korrespondenz von Beginn an die Suche nach einem idealen – und möglichst feudalen – Wohnort.9 Die obsessive epistolare Beschäftigung mit dem Thema ›Wohnen‹ erfolgt dabei auf unterschiedlichen Ebenen. Andauernd schreibt Rilke Briefe, um ganz konkret nach Wohnungen zu suchen, Gastfreundschaften und andere Formen von Unterkünften zu organisieren. Der Brief ist aber ebenso das Medium, in dem 8

Der Grundthese der soziologisch ausgerichteten Studie von Martina King über Rilkes Autorschaftskonzept (Martina King, Pilger und Prophet, Heilige Autorschaft bei Rainer Maria Rilke, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 100) ist nur zuzustimmen: »[E]r erzeugt, erhält und modifiziert seine Gemeinde durch das Briefmedium«. Zu Rilkes (Brief-) Beziehungen zu Frauen vgl. die feuilletonistische Studie von Gunnar Decker, Rilkes Frauen oder Die Erfindung der Liebe, Berlin: Aufbau-Verlag 2006.

9

Vgl. zu diesem Themenkomplex insbesondere Vincent Kaufmann, Post Scripts. The Writer’s Workshop, Cambridge, MA/London: Harvard University Press 1994, S. 4253.

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er immer wieder auf einem höheren Abstraktionsniveau die ideale Umgebung – und damit implizit sich selbst als Subjekt und Autor – imaginiert und inszeniert. Ein maßgeblicher Aspekt, um den sich die Wohn-Briefe drehen, ist dabei das Bedürfnis nach Schutz. Kontinuierlich geriert sich Rilke in seinen Briefen als ein labiles Ich, das mit seiner stets gefährdeten Disposition zur poetischen Produktion des Schutzes vor den störenden Einflüssen und Zufällen der Außenwelt bedürfe. Mit dem Wohnen und dem Briefschreiben sind im Falle Rainer Maria Rilkes somit zwei kulturelle Praktiken mit erheblichen Inszenierungspotentialen aufs engste miteinander verknüpft.

II. J UGENDSTIL -B RIEFE

AUS

S CHMARGENDORF

Ein frühes Beispiel für die epistolare Imagination und Inszenierung idealen Wohnens ist Rilkes Briefwechsel mit der Worpsweder Malerin Paula Becker, die seit September 1900 mit dem Kollegen Otto Modersohn verlobt war. 10 Er setzt Anfang Oktober 1900 ein, als Rilke die Künstlerkolonie, in der er sich einen Monat lang aufgehalten hatte, schon wieder verlässt, um sich für die nächsten viereinhalb Monate in Schmargendorf bei Berlin, in der unmittelbaren Nähe seiner Geliebten und Ersatz-Mutter Lou Andreas-Salomé, niederzulassen. Verbunden bleiben die Malerin und der Dichter durch das Medium Schrift (Briefe, Bücher, Gedichte) und, in engem Zusammenhang damit stehend, durch gemeinsame Erinnerungen, die, dem Zusammenwohnen in Worpswede geschuldet, vor allem an Räume gebunden sind.11 Dem stellt Rilke seine gegenwärtige Situation entgegen: »Ich bin allein. Das Haus ist laut und feind.«12 Die aufgegebene Wahl-Heimat Worpswede und der

10 Zur Beziehung zwischen Rilke und Paula Modersohn-Becker vgl. Friederike Daugelat, Rainer Maria Rilke und das Ehepaar Modersohn. Persönliche Begegnung und künstlerisches Verhältnis, Frankfurt a.M.: Lang 2005; Tina Simon, »in Gefahr gewesen … und bis ans Ende gegangen«. Rilke als Mentor junger Künstlerinnen, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel-Verlag 2007, S. 158-197. 11 Dass Erinnern häufig mit Räumen konnotiert, memoria räumlich strukturiert ist, wurde seit der antiken Rhetorik bekanntlich immer wieder reflektiert; vgl. Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, 2. Auflage, Stuttgart: Metzler 1986, S. 215. 12 R.M. Rilke an P. Modersohn-Becker, 18. Oktober 1900, in: Paula Modersohn-Becker, Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke, hg. von Rainer Stamm, Frankfurt a.M./Leipzig: Insel-Verlag 2003, S. 11.

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weiterziehende Dichter stehen dabei für zwei grundsätzlich voneinander verschiedene Existenzentwürfe. Diese Antithese bildet das Zentrum von Rilkes erstem Brief aus Schmargendorf vom 18. Oktober 1900: »Um Sie«, so wendet sich Rilke an Paula Becker, »steht alles Ihre als Ding, Wirklichkeit und Wärme ist um Sie, mit Wolken und Winden und Wassern lebt alle Liebe des Lebens auf Sie zu und umgiebt Sie mit Theilnahme und adelt die kleinste Ihrer Alltäglichkeiten. Meine Umgebung ist nicht um mich gestellt. In der Ferne auf weiten Fahrten habe ich die Städte gesehen, die ich bewohne, und die Gärten, die über mir rauschen, sind viele Flüsse weit von mir. Kirchen, die an der Wolga stehn und die sich in sanfterem Weiß und mit matterem Kuppelgold im ziehenden Strom wiederholen, läuten mir morgens und abends mit ihren großen stehenden Glocken und Lieder, die Blinde und Kinder singen, gehen wie Verirrte um mich herum und betasten meine Wangen und mein Haar. So ist meine Landschaft, liebe Freundin.«13

An die Stelle der realen dynamischen Kraft, durch die sich die – unter exzessivem Einsatz poetischer Mittel verklärte – Worpsweder Heimat auszeichnet (»Wirklichkeit und Wärme […], mit Wolken und Winden und Wassern«), tritt im Fall von Rilkes zwischen Erinnerung und Imagination changierender, aus dem Erlebnis seiner Russland-Reisen gespeisten »Landschaft« nicht nur die irreale, zart-flüchtige Berührung (»betasten«); an ihre Stelle tritt vor allem eine Beschreibung, die dem konventionellen Arsenal dekorativer Jugendstil-Motive (Wangen, Haar) entnommen ist. Die imaginierte ideale Umgebung ist ein Produkt der artifiziellen epistolaren poiesis, die eine irreale Wunsch-Heimat als synästhetisches Jugendstil-Ambiente etabliert. Ihre Irrealität wird durch den weiteren Verlauf des Briefs unterstrichen: »[I]ch darf diese Umgebung, die wie Duft und Ton um mich ist, nicht durch eine breitere Wirklichkeit verdrängen wollen; denn ich will ja so leben und schaffen, daß das, was mich jetzt, halb Erinnerung und Ahnung halb, umgiebt, allmählich sich in den Raum reimt und mich wirklich umstellt […].«14

Nicht nur die irreale Imagination, sondern noch die Wirklichkeit, genauer: die Relation zwischen Wirklichkeit und Traumbild wird nach poetischästhetizistischem Muster entworfen. Dass die Umgebung sich ›reimen‹ soll, lässt ihre Konzeption so artifiziell erscheinen wie die Sprache des Briefs, in dem sie imaginiert wird. 13 Ebd., S. 8f. 14 Ebd., S. 9.

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Dass Rilke »noch nicht wohnen [darf]«, wird allerdings in seinem nächsten Brief Lügen gestraft, in dem er Paula Becker vermeldet: »Meine Wohnung hat sich eben vollendet. Ich weiß nicht mit welchem Ding es geschah, – plötzlich kam alles zu Ruh – und nun ist sie gleich eingewohnt und eingewöhnt, wie nicht mehr neu«.15 Die Paronomasie ist signifikant: Dass die Wohnung, obwohl gerade erst bezogen und eingerichtet, doch schon »eingewohnt und eingewöhnt« wirkt, lässt sie als eine Umgebung erscheinen, die dem Ich nicht neu und fremd, sondern absolut angepasst ist. Es handelt sich um einen ganz eigenen, selbst hervorgebrachten Raum, der völlig nach den Vorstellungen des Bewohners eingerichtet ist. Erreicht wird dies nicht nur durch im Brief genau geschilderte Details wie russische Souvenirs, ein Büchergestell und zwei Schreibtische. Von entscheidender Bedeutung ist vielmehr, dass alle Einrichtungsgegenstände »in irgendwelchem Zusammenhang« miteinander und mit dem Bewohner stehen. Zu diesem artifiziellen Arrangement kommt jedoch eine zweite Inszenierungsleistung hinzu, die Beschreibung des Interieurs im Brief. Der Zusammenhang von Schrift und Raum ist somit nicht nur von Bedeutung, wenn es um erinnerte Räume geht, sondern auch, wenn es sich um das gegenwärtige Wohnen handelt, das erst durch die epistolare Inszenierung zum ›idealen‹ Wohnen wird: »Rilke is obsessed with the creation of his own space. This space exists, for many years, only in his letters«.16

III. »ALS OBS D UINO WÄRE « – EPISTOLARE I NSZENIERUNG VON W OHNEN UND AUTORSCHAFT Von den Anfängen bis zum letzten, idealen Ort der poetischen Produktion, dem Château de Muzot im Wallis, lässt sich bei Rilke eine spezifische InterieurKonzeption beobachten, die ihren pointiertesten Ausdruck im Bild des Kokons findet.17 Dieses Modell zeichnet sich insbesondere durch drei Aspekte aus:

15 Ebd., S. 13. 16 V. Kaufmann, Post Scripts, S. 45. 17 So schreibt Rilke etwa am 27.12.1913 an Marie von Thurn und Taxis: »Ich bin in der Puppe, liebe Freundin, es weht wie Altweibersommer in meiner Stube herum, von alledem was ich tagsüber und nachtsüber ausspinne mich einwickelnd, daß ich schon nicht mehr kenntlich bin. Warten Sie, bitte, bitte, auf den nächsten Schmetterling« (R.M. Rilke/M. v. Thurn und Taxis, Briefwechsel, in: ders./Marie von Thurn und Taxis, Briefwechsel, 2 Bde., hg. von Ernst Zinn, Zürich/Wiesbaden: Insel-Verlag 1951, Bd. 1, S. 341); vgl. zu dieser Symbolik auch den Brief an Hans Reinhart vom

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Erstens durch den Schutz gegenüber der Außenwelt im Sinne einer Hülle, einer Haut; zweitens durch die völlige Angepasstheit dieser Schutzhaut an das sich in ihr aufhaltende Subjekt, d.h. ein organisches Verwobensein von Subjekt und Raum; drittens durch die Tatsache, dass das Subjekt den ihn umgebenden Raum selbst hervorbringen, ganz nach seinen eigenen Vorstellungen gestalten muss, um dieses Verwobensein zu erzielen. Bis in einzelne Details ist dieses InterieurKonzept symptomatisch für die Lebens- und Wohnkultur um 1900, wie sie von Henry van de Velde bis zu Walter Benjamin immer wieder beschrieben (und verwirklicht) wurde.18 In dieser Hinsicht – und vielleicht nicht nur in dieser – ist 29. November 1920 (R.M. Rilke, Briefwechsel mit den Brüdern Reinhart 1919-1926, S. 163f.). 18 Zum Interieur – in der Doppelbedeutung als Genre der Malerei und im Sinne von Innenarchitektur – vgl. Mario Praz, Die Inneneinrichtung. Von der Antike bis zum Jugendstil, München: Keyser 1965; Sabine Schulze (Hg.), Innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov, Ausstellung vom 24. September 1998 bis zum 10. Januar 1999, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie Frankfurt a.M., Ostfildern-Ruit: Hatje 1998; Felix Krämer, Das unheimliche Heim. Zur Interieurmalerei um 1900, Köln u.a.: Böhlau 2007; Markus Brüderlin/Annelie Lütgens (Hg.), Interieur Exterieur. Wohnen in der Kunst. Vom Interieurbild der Romantik zum Wohndesign der Zukunft. Ausstellung vom 29. November 2008 bis zum 13. April 2009, Kunstmuseum Wolfsburg, Ostfildern: Hatje Cantz 2008; Karl Schütz, Das Interieur in der Malerei, München: Hirmer 2009. Eine übergreifende kulturgeschichtliche Darstellung des Themas – speziell auch für die Zeit um 1900 – steht bislang jedoch, sieht man von Gert Selles knapper Skizze ab (Gerd Selle, Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wohnens, Frankfurt a.M./New York: Campus-Verlag 1993), noch aus. Auch die literaturwissenschaftlichen Studien zum Thema sind zumeist nicht ausreichend kulturgeschichtlich fundiert; vgl. Claudia Becker, Zimmer-Kopf-Welten. Zur Motivgeschichte des Interieurs im 19. und 20. Jahrhundert, München: Fink 1990; Claudia Becker, »Innenwelten – Das Interieur der Dichter«, in: Sabine Schulze (Hg.), Innenleben, S. 170-181. Eine instruktive Studie über das kuriose Phänomen der Reise im bzw. um das Zimmer und damit zugleich einen Beitrag zum Interieur aus der Perspektive der Literatur insbesondere des 19. Jahrhunderts liefert Bernd Stiegler, Reisender Stillstand. Eine kleine Kulturgeschichte der Reisen im und um das Zimmer herum, Frankfurt a.M.: Fischer 2010. Einen bemerkenswerten Beitrag hat jüngst Ines Lauffer (Poetik des Privatraums. Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit, Bielefeld: transcript 2011) vorgelegt. Als aufschlussreiche literatur- und kulturgeschichtlich ausgerichtete Einzelstudien sind weiterhin zu nennen: Mathias Mayer, »Interieur« und »Nature morte«: Bilder des Lebens bei Maeterlinck und Hofmannsthal, in: Etudes Germaniques 46 (1991), S. 305-322, sowie Cornelia

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Rilke der Vertreter eines weit ins 20. Jahrhundert verlängerten ›fin de siècle‹. Von zentraler Bedeutung ist dabei jedoch nicht der Schutz für das Subjekt, im Mittelpunkt steht vielmehr stets die Suche nach der adäquaten Umgebung für das Schreiben – für das Briefschreiben ebenso wie für die poetische Produktion. Ideale Schreiborte findet Rilke immer wieder – auf Zeit. Einer der bekanntesten ist das Schloss Duino an der Adriaküste bei Triest, wo er sich auf Einladung der Fürstin Marie von Thurn und Taxis seit dem Herbst 1911 ein halbes Jahr lang aufhält. Auf idealtypische Weise ist hier eine Dramaturgie zu beobachten, die Rilke wieder und wieder praktiziert: Zunächst sondiert er in Briefen den idealen Aufenthaltsort;19 dort angekommen, preist er, ebenfalls in Briefen, die ›zusägliche‹ Umgebung – dann beginnt die poetische Produktion. Seit der Abreise aus Duino im Mai 1912 ist Rilke auf der Suche nach einem vergleichbaren Ort, der ihm die Fortsetzung des dort begonnenen ElegienZyklus’ erlauben würde. Die Unmöglichkeit, diesen Ort zu finden, dient zugleich stets als Entschuldigung dafür, das Werk nicht vollenden zu können. Je länger die Arbeit an den Duineser Elegien stockt, desto größer wird das Verlangen nach einer Umgebung, die dem Dichter völlig angemessen ist und ideale ArbeitsbeBlasberg, »Jugendstil-Literatur. Schwierigkeiten mit einem Bindestrich.«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), H. 4, S. 682-711. 19 Bereits einen Monat nach dem ersten Briefkontakt mit Marie von Thurn und Taxis schreibt er ihr am 8. Januar 1910: »Nun stell ich mir dann und wann kommende Tage vor, Tage vielleicht in Ihrem ›Schloß am Meere‹« (R.M. Rilke an M. v. Thurn und Taxis, Bd. 1, S. 8). Als die Planung konkreter wird, dankt Rilke ihr am 17. September 1911: »Ihr Brief, Fürstin, indem er mir Duino vorstellte als meine große einsame Aussicht, war genau das, was ich brauchte […]. Ich kann Ihnen nicht genug sagen, was für Bedürfnis nach Alleinsein, langem Alleinsein, liebe Fürstin, täglich zu dem schon vorhandenen in mir hinzukommt –, nicht sprechen, nicht aufsehen, es sei denn in’s Gesichtlose, ganz Ausgebreitete, Meer, Meer – das wird das Richtige sein. […] Welcher Segen, daß Sie mich in Duino verbergen wollen: als ein Flüchtling, wie unter fremdem Namen, will ich mich dort aufhalten, nur Sie sollen wissen, daß ichs bin.« (Ebd., S. 63f.; Hervorhebung dort durch gesperrten Druck.) Eine knappe Woche später treibt Rilke die Engführung zwischen den Briefen der Fürstin und der ersehnten Umgebung noch weiter: »Wenn ich jetzt etwas nöthig habe, Fürstin, so sinds Ihre Briefe, mit denen kommt alles etwas weiter; was ich von der nächsten Zukunft an Ruhe, an Sicherheit erwünsche, – in ihnen ist es schon da, mehr als versprochen, vorhanden, nur eben noch nicht in Gebrauch genommen. […] Duino ist die Wolke meines Wesens, fort fort und in der Entrückung wohnen, nichtwahr, Sie fühlen wie mir’s noth thut.« (Ebd., S. 65f.)

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dingungen garantiert. »Auf Anpassungen«, so schreibt Rilke im Januar 1920 an Katharina Kippenberg, »mag und darf ich mich nicht mehr einlassen […]: wonach mich so dringend verlangt, das ist ja eben eine Umgebung, in der, eine Zeit lang, nichts als meine Arbeit maß-gebend ist, eine Stille, die ich sozusagen in meiner Macht habe, soweit nicht von draußen die Natur sie durchdringt und, näher, das auf mich bezogene Haus sie ausnutzt und umsetzt. Ich bin so sehr abhängig vom Gehör her, und ich erinnere noch, wie, wochenlang, auf Duino damals, das Brausen der Stille dem ersten Auftritt des Elegien-Anfangs vorauszog.«20

Völlige Angepasstheit an die Bedürfnisse der Arbeit, Schutz, Einsamkeit und Stille – so lauten die am Duineser Winter orientierten Kriterien für ein ideales Wohnen. Das Verhältnis zur Umgebung antizipiert dabei die poetische Produktion: Kontingenzen und Äußerlichkeiten sind ausgeschaltet, »maßgebend« ist allein die Arbeit des Poeten, der alles unter Kontrolle, »in [s]einer Macht« hat. Der Autor inszeniert sich damit einerseits als Medium in einem beinahe spiritistischen Sinne, das des poetogenen Orts und des »Brausen[s] der Stille« bedürfe; andererseits gibt er zu verstehen, dass er es ist, dem das Arrangement der Produktionsbedingungen obliegt.21 Ausgerichtet am Vorbild Duino, hat Rilke überaus genaue Vorstellungen, wie die Umgebung konkret auszusehen hätte, die seinen Wünschen entspräche: Ein feudales Anwesen (möglichst samt Dienstboten) und insbesondere eine schützende Allee22 gehören immer dazu, wenn Rilke das Idealbild seines Wohnens entwirft oder in der Realität erblickt: »Heute […] auf Schloß Holligen zu […]: die große alte Kastanien-Allee der Zufahrt, am Ende, hinter dem Thorgitter, das steile Schlößchen und seitlich unter dem Baumrand hin der längliche Ausblick in das wagrecht beschienene Land, mir triebs wieder die Thränen in die Augen, – eine solche Allee, ein solches Haus ein Jahr lang, und ich wäre gerettet. 20 R.M. Rilke an K. Kippenberg, 6.1.1920, S. 384f. (Hervorhebungen im Original). 21 Ebd. 22 In einem Detail wie diesem kommt abermals die Affinität zum Jugendstil zum Ausdruck. Die schützende Funktion von Alleen führt auch Henry van de Velde an, wenn er dafür plädiert, »einen Schutz zu schaffen gegen jeden störenden Einfluß, um so unser Leben mit Heiterkeit zu erfüllen. […] die großen, ernsten Alleen sind Zimmer der Melancholie, und den schützenden Zweigen der Bäume vertrauen wir unseren Kummer, damit sie ihn beschwichtigen.« (H. van de Velde, Allgemeine Bemerkungen zu einer Synthese der Kunst, in: ders., Zum neuen Stil. hg. von Hans Curjel. München: Piper 1955, S. 32).

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Mir war, hätt ich dort hinauf und in ein hohes stilles Arbeitszimmer können, das mich erwartete: ich arbeitete noch diesen Abend! (Ists eine Ausrede? Ich trau mirs zu, daß ich mich täusche, auch dann Mängel fände, Hemmungen, Unterbrechungen, Schwierigkeiten …) Aber doch, warum diese Ergreifung durch solche Alleen […]: wie sie hoch war –, schützend, dunkel, feierlich, wie sie sich sang, choralig zu beiden Seiten, wie am Ausgang mit gedämpfter Helligkeit das Schloß stand … Sie sehens? Ich ging bis dicht ans ParkGitter … […], und in den alten Parkbäumen pfiff ein abendlicher Vogel, ein einzelner, wie eine Frage, ob die Stille tief genug sei für das Gefühl seines Lauts …: sie war –«23

Das Arbeiten, die poetische Produktion, bleibt im Konjunktiv, das ersehnte Schloss hinter Gitterstäben. Wie in den Jugendstil-Briefen an Paula Becker aus Schmargendorf besteht Rilkes allzu hohes Verlangen noch immer darin, dass sich seine »Ahnung« idealen Wohnens »in den Raum reimt«.24 Die schützende Allee wird als Choral poetisiert, der abendliche Vogel wird zum existenziellpoetologischen Symbol des Dichters: Die »Frage, ob die Stille tief genug sei für das Gefühl seines Lauts«,25 verweist auf ein Ideal der Umgebung als tabula rasa, die sich den Ansprüchen des ›Gesangs‹ völlig anzupassen habe. Dass der ersehnte Schutzraum primär als ein Hör- und Resonanzraum entworfen wird, unterstreicht die absolute Innerlichkeit dieser Konzeption, in der alles zu ›stimmen‹ hat, um die poetische Produktion zu ermöglichen. Die Suche nach dem idealen Ort, dem verlorenen Elegien-Ort erfolgt dabei auf epistolar-poietischem Wege: Sie ist halb poetisch, halb pragmatisch – poetisch in ihrer Idealisierung und Fiktionalisierung des gesuchten Orts, pragmatisch, indem das epistolar etablierte Ideal die Adressaten dazu drängt, einen Ort zu finden, der für den Dichter wenigstens akzeptabel ist. Dieser Ort wird während Rilkes Schweiz-Aufenthalts Anfang der 1920erJahre bald gefunden: Schloß Berg am Irchel bei Zürich (s. Abb. 2), auf dem Rilke durch die Vermittlung der Schweizer Freundin Nanny Wunderly-Volkart, seiner Wohn-Organisatorin par excellence, von November 1920 bis Mai 1921 wohnt, ist »vollkommen stimmend und zusagend«26 und bildet »die unübertrefflich schützende, entlegene retraite«:27»Ich werde eine Gastfreundschaft ausnutzen dürfen«, meldet Rilke am 1. November Anton Kippenberg, 23 R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 22.08.1920, Bd. 1, S. 311. 24 R.M. Rilke an P. Modersohn-Becker, 18.10.1900, S. 9. 25 R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 22.08.1920, Bd. 1, S. 311. 26 R.M. Rilke an S. Nádherný von Borutin, 20.11.1920, in: Rainer Maria Rilke/Sidonie Borutin, Sidonie Nádherný v. Borutin, Briefwechsel. 1906-1926, hg. von Joachim W. Storck, Göttingen: Wallstein-Verlag 2007, S. 362. 27 Ebd., S. 364.

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Abbildung 2: Interieur auf Schloss Berg am Irchel

© Deutsches Literaturarchiv Marbach

Abbildung 3: Château de Muzot

© Schweizerisches Literaturarchiv

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»die viel Ähnlichkeit mit jener, seinerzeit, auf Duino besitzt, weniger großartig, aber von verwandter Stille und Sicherheit: das kleine alte Schlößchen Berg am Irchel (Kanton Zürich) wird mir nebst Domestiken und Heizung für die Winter=Monate zur Verfügung stehen […].«28

Dass der Ort Rilke ›zusagt‹, ist somit zum einen in pragmatischen Vorteilen wie Dienstboten und Heizung begründet; entscheidend ist zum anderen jedoch die semantische Aufladung des Ortes, die durch die epistolar hergestellte Analogie zu Duino erfolgt. Mit dem Château de Muzot im Wallis findet Rilke schließlich auf Dauer den Ort, der sämtliche Kriterien seines Wohn-Ideals erfüllt, eine dem eigenen Ich und der Arbeit völlig angemessene Schutzhülle (s. Abb. 3): »Muzot«, so schreibt er im Oktober 1922 an Nanny Wunderly-Volkart, »ist wie die Guß-Form für eine einzige Lebensgestalt«.29 Und etwas später heißt es: »Muzot ist immer mehr eines geworden, so eindeutig ›Zelle‹, ganz nach Maaß von Arbeit und Einsamkeit gemacht.«30 Bereits bei seinem Einzug meldet er dem Verleger Anton Kippenberg: »es ist ein hier=Wohnen nicht viel anders, als stäke man in einer Rüstung«.31 Natürlich ist wiederum insbesondere die Hoffnung auf einen ›zusäglich‹ geschützten Ort für die Vollendung der Elegien ein maßgebliches Argument für Muzot: »Möglicherweise wäre dieses wunderbare spanisch-provençalische Valais die Umgebung für einen Elegien-Winter und Muzot hätte die Zukunft, mir dafür Schutz zu sein.«32 Für Muzot – wie in gewisser Weise für Rilkes vorige Schweizer Aufenthaltsorte – gilt dabei zugleich in hohem Maße, dass die Wohnung in ihrer Angemessenheit an die Arbeit und an das Subjekt völlig von diesem selbst hergestellt wird. Der Zusammenhang zwischen Briefschreiben, Wohnen und poetischer Produktion äußert sich dabei ganz pragmatisch darin, dass der umfangreiche Briefwechsel mit Wunderly-Volkart sich von Beginn an, häufig begleitet von Skizzen der Innenräume (s. Abb. 4) oder von Listen ausgeliehener oder zu besorgender Gegenstände, zum Zweck des Herstellens idealer Arbeitsbedingungen primär um konkrete Fragen der Wohnungseinrichtung dreht – häufig bis hin zur Fetischisierung einzelner Gegenstände. Der Zusammenhang von Wohnen und poetischer Produktion, wie er in den Briefen entworfen wird, ist aber noch weitaus komplexer. Und vor allem ist er, 28 R.M. Rilke an A. Kippenberg, 01.11.1920, Bd. 2, S. 175. 29 R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 20.10.1922, Bd. 2, S. 728. 30 R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 26.03.1923, ebd., S. 883. 31 R.M. Rilke an A. Kippenberg, 17.08.1921, Bd. 2, S. 227. 32 R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 15.07.1921, Bd. 1, S. 509.

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Abbildung 4: Grundriss des Erdgeschosses von Muzot, Brief an Nanny Wunderly-Volkart vom 20. Juli 1921

© Schweizerisches Literaturarchiv

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wie so oft bei Rilke, paradox: »Muzot war mir so schwer«, bemerkt er zwei Monate nach dem Einzug gegenüber Nanny Wunderly-Volkart, »vielleicht hab ich mir damit ein Gutes von ihm verdient, zu dem es sich bereit fände?«33 Es handelt sich hier um das von Rilke gerne praktizierte poetische Verfahren der Inversion, der Umkehrung:34 Das Wohnen (unter erschwerten Bedingungen) wird als Er-Wohnen zur epistolar inszenierten aktiven Leistung, während die poetische Produktion passiv als ›Belohnung‹ für diese Wohn-Leistung hingenommen wird. Der Dichter hofft darauf, inspiriert zu werden durch die Umgebung, die er sich – zumindest partiell – selbst erschaffen hat. Die eigentliche ›Leistung‹ besteht dieser Fiktion zufolge nicht im Schreiben, sondern im Herstellen, im An-Eignen der Umgebung, für die als ›Gegenleistung‹ die poetische Stimulation erwartet wird. Eine solche das Wohnen im idealen Interieur in den Mittelpunkt rückende Selbstinszenierung als Autor weicht erkennbar von herkömmlichen Mustern ab. Besonders deutlich wird dies, wenn man sich den Kontrast zur wirkungsmächtigen emphatischen Subjekt-Konzeption vor Augen führt, wie sie 150 Jahre zuvor mit der Genie-Ästhetik des Sturm und Drang etabliert worden war. 35 Es handelt sich hier nicht mehr um ein gottgleiches Original-Genie, das völlig aus sich selbst heraus literarische Werke hervorbringt. Die Aufgabe besteht unter den erschwerten Bedingungen der Moderne vielmehr darin, eine gegenüber der bedrohlichen Außenwelt geschützte und dem eigenen Ich völlig angepasste Umgebung, ein lebensweltliches ›paradis artificiel‹ zu gestalten, das zum Autor oder mittels dessen er zu sich selbst spricht. Es handelt sich, das Vorhandensein der – ebenfalls auf epistolarem Wege akquirierten – finanziellen Mittel vorausgesetzt, um ein selbstbezügliches System: Die ideale Umgebung wird selbst hergestellt, und aus ihr resultiert – so die Illusion – im Idealfall wiederum ›automatisch‹ die poetische Produktion. Ästhetische Autonomie und Selbstbezüglichkeit erstrecken sich in dieser Inszenierung von Autorschaft somit auch auf die Produktionsumstände, auf die Gestaltung der lebensweltlichen Umgebung als dem Schrei33 R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 24.09.1921, ebd., S. 554f. 34 Diese Technik der Umkehrung hat Paul de Man – fälschlicher Weise unter dem Begriff ›Chiasmus‹ – als eine zentrale poetische Strategie Rilkes, insbesondere in den Neuen Gedichten, benannt; vgl. Paul de Man, Rilke. Tropen, in: ders., Allegorien des Lesens. 4. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 52-90, hier S. 76. 35 Für einen historischen Überblick über Autorschaftsmodelle seit dem 18. Jahrhundert vgl. insbesondere Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002; für die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vgl. Rolf Parr, Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930, Heidelberg: Synchron 2008.

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ben völlig angemessenem Ambiente. Wie labil dieses Modell von Subjektivität unter den Bedingungen der Moderne ist, demonstrieren Rilkes ständige Schaffenskrisen, wie sie sich insbesondere im zehnjährigen Stocken der Arbeit an den Duineser Elegien äußern.36 Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass es sich bei der Herstellung der idealen Umgebung primär um einen Semiotisierungsprozess handelt. Die semantische Aufladung – insbesondere in sozialer Hinsicht – ist weitaus wichtiger als realer Komfort. Bei dem alten Gemäuer des Schlösschens handelt es sich zwar um den kargsten und am wenigsten luxuriösen, zugleich aber – aus Rilkes Sicht – um den am meisten feudal konnotierten Ort: Mittels eines von einem – wie Rilke bürgerlichen – Mäzen, Nanny Wunderly-Volkarts Cousin Werner Reinhart, überlassenen Hauses unternimmt der Dichter seine Selbstnobilitierung: »[V]or der Hand bin ich Herr dieses merkwürdigen alten Herrenthurms im Wallis, landläufig ›Château de Muzot‹ genannt«, meldet er am 17. August 1921 seinem Verleger Anton Kippenberg. 37 Und an Nanny Wunderly-Volkart richtet er die suggestive Frage: »Est-ce que, naturalisé, je m’appelerai Monsieur de Muzot? Ce serait parfait et si reposant!«38 Briefe aus und über Muzot werden so zu selbst verfertigten Adels-Briefen – Rilke lässt sogar ein eigenes Muzot-Briefpapier mit gedrucktem Briefkopf herstellen.39 Eine gewisse Pointe ist allerdings darin zu sehen, dass sich Rilke, indem er sein Wohnen als ›Leistung‹ ansieht, in völligen Widerspruch zum adlig-feudalen Wohnen begibt, das ihm als Ideal vorschwebt. Das Wohnen als Leistung anzusehen, steht dem adligen savoir-vivre in ererbtem Ambiente diametral entgegen. Dass Rilke

36 Zur epistolaren Inszenierung dieser Krise vgl. Anthony Stephens, »›Alles ist nicht es selbst‹ – zu den ›Duineser Elegien‹«, in: Ulrich Fülleborn, Manfred Engel (Hg.), Rilkes Duineser Elegien, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 308-348. 37 R.M. Rilke an A. Kippenberg, 17.08.1921, Bd. 2, S. 227. 38 R.M. Rilke an N. Wunderly-Volkart, 04.07.1921, Bd. 1, S. 502. 39 Vgl. den Brief an N. Wunderly-Volkart, 20.07.1921, ebd., S. 517. Der Versuch, adliges Wohnen zu imitieren, äußert sich ferner besonders signifikant in Rilkes Idee, Muzot ein Wappen-Buch zu schenken (vgl. den Brief an N. Wunderly-Volkart, 7.10.1921, ebd., S. 565f.). Eine Ironie der Geschichte ist in diesem Zusammenhang darin zu sehen, dass Rilke das ›adlig‹ konnotierte Wohnen zu einer Zeit anstrebt, in der viele Adlige ihre Landsitze aus Kostengründen längst aufgegeben hatten – das ›Aristokratische‹ wird als Projektionsfläche für glamouröse Bürger-Träume in dem Moment frei, in dem seine soziale Funktion rapide abnimmt; vgl. Eckart Conze u.a. (Hg.), Aristokratismus und Moderne. Adel als politisches und kulturelles Konzept 1890-1945, Köln u.a.: Böhlau 2013.

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eine aristokratische Wohnform herstellen, ›leisten‹ will, ist ein performativer Widerspruch.40 Die Frage, warum Rilke so exzessiv Briefe über das Wohnen schreibt und in welchem Zusammenhang Briefschreiben und Wohnen bei ihm stehen, ist vor dem geschilderten Hintergrund nunmehr aber zu beantworten. Erstens verdankt sich seine imago als ebenso labiler wie magisch-visionär inspirierter Autor weitgehend der Inszenierung seines Wohnens in möglichst feudalen, exklusivgeschützten und genau seinen Bedürfnissen entsprechenden Interieurs. Diese Inszenierung wiederum vollzieht sich insbesondere im Medium ›Brief‹, mit und in dem die semantische Aufladung der Umgebung geleistet wird. Zweitens zeichnet sich beides, das Wohnen im geschützten Interieur und das Briefschreiben, durch den gleichen für Rilkes Autorschaftsmodell zentralen DistanzMechanismus aus – beides bedeutet Ersatz für unmittelbaren menschlichen Umgang. Bei der durch die eigene Semiotisierungsleistung ›beredten‹ Umgebung und beim Adressaten des Briefs handelt es sich auf jeweils unterschiedliche Weise um mittelbare ›Kommunikationspartner‹, die dem Briefschreiber nicht zu nahe treten können und die er als imaginierte im Moment des Schreibens völlig unter seiner Kontrolle hat. In der Inszenierung des doppelten Interieurs der Wohnung und des Briefs ist er vor den Zumutungen und Zufällen der Außenwelt geschützt.

40 Vgl. Jörg Schuster, »Erfundener Adel – Aristokratie als poetisches Konzept um 1900«, in: ebd., S. 106-127.

Das fotografische Porträt Thomas Manns U LRICH K INZEL

Benjamin bemerkt über die von dem Abb. 1: Prospekt für Thomas Manns amerikanischen Fotografen David Auftritt in der Carnegie Hall1 Octavius Hill abgebildeten Menschen, dass sie »in den Blickraum der Photographie unbescholten oder besser gesagt unbeschriftet« traten. Das hatte seinen Grund darin, dass Fotografien um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht in den (ohnehin teuren) Zeitungen zu sehen waren. Noch, so beschreibt Benjamin diesen Zustand weiter, »sahen die wenigsten Menschen ihren Namen gedruckt. Das menschliche Antlitz hatte ein Schweigen um sich, in dem der Blick ruhte«.2 Die Abbildung (Abb. 1) zeigt uns nun den gerade entgegengesetzten Zustand. Der Porträtierte wird gerahmt durch eine Reihe von Hinweisen und Zuschreibungen, die das

1

Trotz ausgiebiger Recherche konnte der Rechteinhaber des Bildes leider nicht ermittelt werden; Hinweise diesbezüglich gerne an die Herausgeberin.

2

Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, Bd. II, S. 1, S. 372.

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Bildnis determinieren, ja überdeterminieren und so etwas wie einen schweigenden, sich versenkenden Blick ausschließen. Der Name des Redners »Thomas Mann« ist verbunden mit Zuschreibungen, die seinen symbolischen (und in diesem Fall auch seinen kommerziellen) Wert in höchste Höhen treiben: »›The Greatest Living Man of Letters‹. Nobel Prize Winner«. Angekündigt also wird der größte Schriftsteller der Gegenwart, man ist versucht zu sagen: der Schriftsteller an sich. Diese hohe Bedeutsamkeit wird in ihrem Wert dadurch gesteigert, dass die Veranstaltung am 6. Mai die »Only Public New York Appearance« darstellt. Die kulturelle Bedeutsamkeit des ausgestellten Schriftstellers wird durch den politischen Kontext ein weiteres Mal gesteigert, und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen durch das (amerikanische) Thema der Demokratie, zum anderen durch die strategische Situation, dass der Exilant von der Zukunft und von einem zukünftigen Sieg der Demokratie über Hitler sprechen wird. Nimmt man diese geballte Ladung an Zuschreibungen und Wertsteigerungen, so dürfte sich Thomas Mann hier am Höhepunkt seiner Karriere gewähnt haben – hier scheint sein eigener Anspruch auf Repräsentation in Erfüllung gegangen zu sein, hier in diesem Bild des Schriftstellers an sich, der zugleich auf der richtigen moralisch-politischen Seite steht. Denn nun ist der alte, politisch belastende Komplex von kultureller Repräsentanz und restaurierter Adelspose (›Königliche Hoheit‹) durch die glücklichere Komplizität von kulturellem Erfolg und demokratischer Öffentlichkeit ersetzt. In diesem Kontext kann der Autor Thomas Mann sogar und gewiss als Star fungieren,3 wobei erstaunlicherweise die bürgerliche Attitüde, welche die Rhetorik des Plakats rahmt, sich als transferierbar in den Raum einer transatlantischen Öffentlichkeit erweist. Möglicherweise wirken hier alte Prinzipien – als ob sich die Heroisierung des Künstlers, die allein die Zuschreibung von Kunstwerken zu individuellen Erzeugern in der Renaissance mit sich bringt,4 mit dem amerikanischen Kult von Größe und Erfolg träfe. Solche Zuschreibungen und Assoziationen von Repräsentanz sollen für die hier anzustellenden Überlegungen allerdings ausgeklammert werden, um das reine Bild durch einen Diskurs zu spezifizieren, der um das Thema der Lebens-

3

Walter Delabar, Der Autor als Repräsentant, Thomas Mann als Star. Aufstieg und Niedergang der öffentlichen Funktion des Autors im 20. Jahrhundert, in: Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 87-102.

4

Ernst Kris/Otto Kurz, Die Legende vom Künstler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, Kap. III; Michel Foucault, Das ›Nein‹ des Vaters, in: Schriften zur Literatur, hg. von Daniel Defert et al., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 33-34.

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weise angesiedelt ist. Die Lebensweise wird dabei als etwas aufzufassen sein, das durch das literarische Feld positioniert ist oder zu sein scheint, aber auch ein Widerlager zu den Mechanismen des Feldes bildet. Diese diskursive Betrachtungsweise bewegt sich zwischen zwei Polen. Sie suspendiert den aktuellen Rahmen des Fotos (seine unmittelbare soziale Funktion); sie gibt sich andererseits aber nicht einem reinen, versenkenden Blick hin, der entweder (wie Benjamin) die Aura oder (wie Barthes) den Ausdruck jenseits der Pose registriert. Fotografische Inszenierung heißt vielmehr: in Szene setzen einer Lebensweise.

I. I NSZENIERUNG UND

LITERARISCHE

E THIK

Bevor man nun einige Fotografien, die Thomas Mann zeigen, mit bestimmten, sein Werk und sein Leben bestimmenden Themen rahmt, ist man gezwungen, einige theoretische Unterscheidungen vorzunehmen. Diese Unterscheidungen betreffen den Begriff der ›Lebensweise‹. Er findet sich zum Beispiel in Roland Barthes’ Reflexionen über die Wiederkehr des Autors und über Leben und Werk von Autoren als kreative Einheit. Diese Reflexionen wiederum sind eingebettet in das Projekt einer Vita Nova. Auf der Suche nach einem Ausweg aus einer schweren Depression sucht Barthes nach einer Möglichkeit sein Leben zu erneuern. Der Weg, den er dabei einschlägt, besteht darin, sein Leben so zu ändern, dass er sich in die Lage versetzt, selbst ein Kunstwerk zu vollbringen. Der »Gedanke des WERKES«, sagt Barthes, wird »mit der Idee eines BRUCHS im Leben, einer ERNEUERUNG der Lebensweise, der Organisation eines NEUEN LEBENS verbunden: VITA NOVA«.5 Barthes gibt in seiner Vorlesung anhand von Flaubert, Proust und Kafka einen längeren Aufriss der verschiedenen Formen und Aspekte jenes methodischen Lebens, das die Autoren sich auferlegen, um ihr Werk vollbringen zu können. Die Umerziehung seiner selbst zu diesen Lebensweisen nun ordnet Barthes in den Horizont einer Ethik ein. Er sagt: »das WERK ist ein Wert, ein ethisches Objekt«.6 Wir kennen nun eine ethische Reflexion der Lebensweise oder besser, die ›Lebensweise‹ als ethischen Begriff auch bei Foucault. Aber trotz einer Ähnlichkeit auf den ersten Blick gibt es hier eine grundlegende Differenz. Bei Foucault ist die ethische Aktivität eine ästhetische Aktivität und ihr Ziel ist die Veränderung und Gestaltung des Selbst. Das Selbst ist das Kunst-

5

Roland Barthes, Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008,

6

Ebd., S. 378.

S. 326.

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werk, das es zu gestalten gilt.7 Bei Barthes ist das Ziel der ethischen Aktivität, die selbst nicht künstlerisch ist, das Kunstwerk. Bei ihm also ist die Lebensweise ein Operator des Kunstwerkes, während bei Foucault die Ausarbeitung der Lebensweise die Kunst ist. Wenn – aus philologischer Perspektive – die Beziehung zwischen Kunstwerk (in fiktivem Sinne) und Existenz ein Problem der Ethik darstellt, dann ist im Falle Barthes die Existenz ein Operator des Werkes, im Falle Foucaults das Werk ein Operator der Existenz. Die Frage des Autors oder schreibenden Subjekts lässt sich aber, wie Jürgensen und Kaiser das getan haben, auch im Sinne von ›Inszenierungspraktiken‹ modellieren. So gesehen, ist der Lebensstil nicht auf die Existenz bezogen, sondern intentional »auf öffentliche Resonanzräume«.8 Die verschiedenen performativen Erscheinungsweisen des inszenierten Autors ließen sich erschließen mit Hilfe einer Rhetorik, die ihre Formen und ihre Systematik analysiert und einer Soziologie, die sie in der Geschichte und Logik des kulturellen Feldes positioniert. Bevor es darum geht, eigene Beobachtungen zur Inszenierung Thomas Manns in diesem theoretischen Feld zu positionieren, sei vorbereitend eine Bemerkung Renners vorausgeschickt, die auf treffende Weise das Verhältnis von Werk und Leben bei Thomas Mann charakterisiert: »Während die frühen Texte Leben, Erfahrung und Werk noch in einer naiv-exkludierenden Opposition beschreiben und als einen unaufhebbaren Gegensatz darstellen, der im traditionellen Diskurs über die Spannung zwischen Kunst und Leben, Künstler und Gesellschaft nur verschlüsselt ist, zeigen die späteren fiktionalen Texte, dass die unmittelbare Erfahrung von Leben allmählich durch die Aneignung bereits geformten Lebens ersetzt zu werden vermag. Das fiktionale Werk, das ursprünglich vor allem den Gegensatz von Künstlertum und Leben thematisiert, wird in zunehmendem Maß zum Ort der Vermittlung und zur vorübergehenden Aufhebung dieses Gegensatzes. Die Substitution des wirklichen durch das geborgte, nacherzählte und nachgedachte Leben wird zum Gesetz der künstlerischen Produktion.«9

7

Vgl. Michel Foucault, On the Genealogy of Ethics [Interview], in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, 2. Aufl., Chicago: University of Chicago Press 1983, S. 236f.

8

Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese, in: dies. (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011, S. 10.

9

Rolf Günter Renner, Das Ich als ästhetische Konstruktion, Freiburg: Rombach 1987, S. 11.

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In diesem Sinne ist eine Äußerung Thomas Manns aus der Zeit der Abfassung von Der Tod in Venedig zu verstehen: »Des weiteren bin ich kein Schriftsteller, sondern ein Dichter, der auch an seinem Leben dichtet. Und indem ich von meiner Künstlereinsamkeit zu jenem Stück Welt schöne Brücken schlage, dichte ich an meinem Leben.«10

Diese Selbstauskunft – die im Übrigen bestätigt, dass es mit dem Problem der ›Schriftstellerinszenierung‹ nicht getan ist – deutet an, dass die Beziehung zwischen Leben und Werk nicht als Beziehung der Repräsentation, sondern der Problematisierung zu denken ist. Das Werk repräsentiert nicht das Leben, es macht nicht ein biografisches Faktum anschaulich, das Werk ist nicht auf die Evidenz des biografischen Faktums bezogen, vielmehr problematisiert und transformiert das Werk ein Lebensthema. Das trifft grundsätzlich auf alle Texte eines im weitesten Sinne moralischen Diskurses zu. Die Besonderheit des fiktiven Werkes besteht darin, dass diese Lebensproblematik (sie kann biografischer, theoretischer oder gesellschaftlicher Natur sein) maskiert oder, anders gesagt, inszeniert wird. »Seit dem ›Kleinen Herrn Friedemann‹ vermag ich plötzlich die diskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann. Während ich ehemals, wollte ich mich auch nur mir selbst mitteilen, eines heimlichen Tagebuches bedurfte...«11

Diese Ebene der Inszenierung sei hier vernachlässigt, da sie den Gang der Untersuchung in eine andere Richtung drängen und Werkanalysen verlangen würde. Aber der Aspekt der Inszenierung taucht noch auf einer anderen Ebene auf. Denn wenn Problemkonstellationen die Beziehung zwischen Werk und Leben strukturieren, dann wäre das fotografische Porträt des Autors Thomas Mann eine Belichtung eben dieser Problematisierungen. Aus dieser Perspektive gelangt man vielleicht am dichtesten in die Nähe des paratextuellen Inszenierungsbegriffs, aber nur um ihm vielleicht wieder zu entgehen, denn eigentlich geht es ja darum, die uns durch häufigen Gebrauch matt gewordenen Fotos durch Konstellationen des Thomas Mann-Diskurses zu

10 Ebd., S. 9. 11 Thomas Mann, Briefe an Otto Grauthoff 1894-1901 und Ida Boy–Ed 1903-1928, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a.M.: Fischer 1975, S. 90, zitiert nach ebd., S. 9.

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belichten und damit das Thema der Inszenierung durch das der Diskursivierung zu ersetzen. Mit dieser methodischen Verschiebung hat Trachtenberg das Studium der Fotografie für die literarische und historische Analyse fruchtbar gemacht.12 Sie ist hier als Versuch auf dem Weg zu werten, im Schatten einer übermächtigen Autorenphilologie zu Fragmenten eines anders perspektivierten Denkens des Werkes Thomas Manns vorzustoßen.

II. DER

BÜRGERLICHE

S CHRIFTSTELLER

Das erste Porträt, dem einige Überlegungen gewidmet sein sollen, wurde 1922 angefertigt und stammt von dem Münchner Porträtfotografen Theodor Hilsdorf (Abb. 2). Es zeigt Thomas Mann im Halbprofil sitzend und lesend an seinem Schreibtisch. Er wirkt konzentriert auf die Lektüre des Schriftstückes und zugleich nachdenklich kommentierend. Abb. 2: Theodor Hilsdorf, Thomas Mann (1922)

© Thomas Mann-Archiv Zürich 12 Alan Trachtenberg, Reading American Photographs. Images as History. Mathew Brady to Walker Evans, New York: Hill and Wang 1989; Photographs as Symbolic History, in: Lincoln’s Smile and Other Enigmas, New York: Hill and Wang 2008, S. 86-122.

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Man kann, wie jüngst geschehen, dieses Foto in eine Reihe mit anderen Porträts stellen, die Hilsdorf angefertigt hat, und wird einen bestimmten Typus von Porträt erkennen. Pohlmann hat in seiner Analyse von Hilsdorfs Porträtfotografie hervorgehoben, dass sie den Zufall und den Moment ausschließt zu Gunsten eines präzisen Arrangements. Der Körper – das zeigt auch das Porträt Thomas Manns – verharrt in statischer Unbeweglichkeit, unterstützt durch den eng anliegenden, zugeknöpften Anzug. Schreibtisch, Lampe, Manuskript, Utensilien und im Hintergrund verschwommen die Bücher in den Regalen lassen sofort den Beruf des Porträtierten erahnen. Die Bildnisse lassen die individuellen Züge der Belichteten erkennen, ohne allerdings das Unberechenbare anzunehmen, das im Ausdruck liegt. Jede Person ist identifizierbar. All dies zusammen mit der Dunkeltonigkeit der Porträts ruft, wie Pohlmann sagt, »eine ruhige, feierlich-ernste Atmosphäre, gepaart mit der Aura des Vornehmen und Gebildeten« hervor.13 Insgesamt folgt Hilsdorf einer Ästhetik der Tradition. Seine Porträts heben das hervor, was den Menschen repräsentiert und in seinem sozialen Stand erkennbar und lesbar macht. Zusammengenommen ergeben seine fotografischen Porträts eine Galerie der Bürgerlichkeit. »Bei Hilsdorf bleibt der Mensch in erster Linie Bürger, Vertreter seines Standes, einer Schicht oder Berufsgruppe, ausgerüstet mit den Insignien der Macht, den Lorbeeren seiner Verdienste oder Zeichen einer zumeist geistigen Tätigkeit, wozu nicht zuletzt der ein sitzendes Arbeiten andeutende Stuhl gehört.«14

Wenn wir aber nicht bei diesem Befund stehen bleiben wollen, stellt sich die Frage, inwieweit sich dieses Porträt in eine Beziehung zum Werk und seiner kulturellen Konzeption übersetzt. Ich möchte dazu zwei Annäherungen versuchen: zunächst über Äußerungen Thomas Manns selbst und dann weiterführend zur Frage des literarischen Feldes. Vorangestellt sei die Betrachtung einer Fotografie Paul Heyses.

13 Münchner Kreise. Der Fotograf Theodor Hilsdorf 1868–1944, hg. von Hans-Michael Koetzle, Ulrich Pohlmann, Ausstellungskatalog, Bielefeld: Kerber 2007, S. 74. 14 Ebd., S. 37.

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Abb. 3: Frank Eugene, Paul Heyse (1910)

© Christian Brandstätter

Frank Eugenes Porträt Paul Heyses von 1910 (Abb. 3) stattet den Dichter mit den gleichen Attributen aus, die ihn mit seinem beruflichen Stand identifizieren: Schreibfeder, Papier, Brille. Zugleich aber – und ganz anders als im Porträt Thomas Manns – starrt Heyse mit blinden Augen traumversunken in die Ferne. Eugene porträtiert Heyse als entrückten Seher und baut damit eine Spannung zum bürgerlichen Habitus auf. Welches kulturelle Programm belichtet Hilsdorfs Porträt Thomas Manns? Dem kann man sich – aber das kann an dieser Stelle nur ein vorläufiger Versuch sein – über einige, im Übrigen recht bekannte Bemerkungen aus dem Vortrag Lübeck als geistige Lebensform annähern, die etwa gleichzeitig (1926) zur Fotografie Hilsdorfs erschienen sind. »Künstlertum […] ist etwas Symbolisches. Es ist die Wiederverwirklichung einer ererbten und blutsüberlieferten Existenzform auf anderer Ebene.

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Man hört nicht auf, zu sein, was die Väter waren, sondern ist ebendieses in anderer, freierer, vergeistigter, symbolisch darstellender Form nur noch einmal. Wie oft im Leben habe ich mit Lächeln festgestellt, mich geradezu dabei ertappt, dass doch eigentlich die Persönlichkeit meines verstorbenen Vaters es sei, die als geheimes Vorbild mein Tun und Lassen bestimmte.«15

Den Vater erinnert Thomas Mann als einen klugen, fleißigen, nach Erfolg strebenden Menschen, der seine Pflichten in der Lübeckischen Polis ernst nahm und viele Ämter bekleidete. Von hier aus bestimmt Thomas Mann das, was er – im Gegensatz zum Ästhetischen – das Ethische nennt: es ist »recht eigentlich Lebensbürgerlichkeit, der Sinn für Lebenspflichten, ohne den überhaupt der Trieb zur Leistung, zum produktiven Beitrag an das Leben und die Entwicklung fehlt; das, was einen Künstler anhält, die Kunst nicht als einen absoluten Dispens vom Menschlichen aufzufassen, ein Haus, eine Familie zu gründen, seinem geistigen Leben, das oft abenteuerlich genug sein mag, eine feste, würdige, ich finde wieder nur das Wort: bürgerliche Grundlage zu geben.«16

Man darf sich fragen, welche Position diese Lebensweise der ›Lebensbürgerlichkeit‹ des Künstlers in der Geschichte und Systematik des literarischen Feldes, also in dem Modell einnehmen könnte, das Bourdieu entworfen hat. Die zentrale soziologische Erkenntnis besteht darin, dass sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Literatur als ein autonomes literarisches Feld ausdifferenziert hat, das von einem so großen Systemzwang ist, dass es außerhalb dieses Feldes keine literarische Position geben kann und dass die ästhetischen Wahlen des einzelnen Schriftstellers durch das Feld bestimmt sind. In diesem Zusammenhang spielen nicht nur literarische Programme und Werke eine Rolle, sondern auch bestimmte, nämlich künstlerische Lebensweisen, allen voran die der Bohème. Dabei handelt es sich um eine »umfangreiche Population« von jungen Leuten, die sich auf Grund spezifischer sozialer Umstände ausbildet und eine »Lebenskunst« entwickelt, die sich von allen sozialen Werten unterscheidet und zur Formation einer Gesellschaft in der Gesellschaft führt.

15 Lübeck als geistige Lebensform, in: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a.M.: Fischer 1990, XI, S. 385-86. 16 Ebd., S. 387.

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»Die Gesellschaft der Künstler ist […] das Labor, in dem jene ganz besondere Lebensweise entwickelt wird, der künstlerische Lebensstil, eine fundamentale Dimension des künstlerischen Schaffensprozesses.«17

Auch wenn sich Künstler, die später die Position des ›l’art pour l’art‹ ausgestalten werden (wie Baudelaire oder Flaubert), von der Bohème absetzen werden, weil sie nicht in deren planlosem Treiben oder ihrer Vulgarität untergehen wollen, so gilt doch auch für den ›l’art pour l’art‹ die Opposition zu den Werten und Institutionen der bürgerlichen Welt und das heißt vornehmlich zu den kommerziellen Prinzipien und Institutionen. Der Neutralismus Flauberts bedeutet, alle gesellschaftlichen Determinationen aus dem Bereich des Schreibens herauszuhalten und sich einer disziplinierten Lebensweise zu unterwerfen, die nur dem Werk gilt und allen Ämtern, allen Ehrungen, allem Ehrgeiz für Erfolg entsagt. Thomas Mann beschreibt die Bohème in ähnlichen Worten wie Bourdieu 18 und er sieht, analog zur rückwirkenden soziologischen Einsicht, diese Lebensweise, die »eine spöttische Abwehr gegen das, was Erfolg heißt, gegen die weltlichen Ehren und Vorteile des Erfolges«19 umfasst, als eine Wurzel des modernen Künstlertums an; er spricht vom »Boheme–Zustand des Künstlers, den er gänzlich niemals verlässt«.20 In diesem Zusammenhang muss man auf Thomas Manns Modifikation des eigenen Selbstbildes hinweisen, die Detering 21 an den fotografischen Porträts der Jahre 1903 bis 1905 herausstellt. Danach wandelt sich der träumerische, elegante Ästhet in den pflichtbewussten, gut gekleideten Schriftsteller. Dieser hebt, den Bohemien überwindend, die Antithese von Künstler und Bürger in der Synthese der ›Lebensbürgerlichkeit‹ auf, ein Prozess, der nicht zuletzt deshalb möglich wird, weil – wie Renner sagte – das Leben des Autors selbst Literatur wird.

17 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 99. 18 Ebd., S. 96; Thomas Mann, Zur Gründung einer Dokumentensammlung in Yale University , in: GW XI, S. 462. 19 Ebd., S. 462-463. 20 Ebd., S. 462. Die Bohème ist für Thomas Mann eine Figur des Fremden; seine unterschiedlichen Rollen in der Aufzeichnung des eigenen Lebens legt Yahya Elsaghe (Die imaginäre Nation, München: Fink 2000, S. 335-377) dar. 21 Der Litterat. Inszenierung stigmatisierter Autorschaft im Frühwerk Thomas Manns, in: Michael Ansel/Hans–Edwin Friedrich/Gerhard Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin, New York: de Gruyter 2009, S. 191-206, hier S. 197f.

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Gleichwohl weist die Idee der ›Lebensbürgerlichkeit‹ auf ein grundsätzliches Problem, dem man sich mit einem Essay von Georg Lukács über Theodor Storm nähern kann, der den Titel Bürgerlichkeit und l’art pour l’art trägt. In diesem Essay zitiert er aus dem Briefwechsel zwischen Keller und Storm, die sich beide unverständlich über die fortwährende Krankheit äußern, die Paul Heyse, der einen Lyrikband fertig gestellt hat, erfasst haben soll. »Ich glaube fast«, schreibt Keller an Storm, »es räche sich, dass Heyse seit bald dreißig Jahren dichterisch tätig ist, ohne ein einziges Jahr Ableitung und Abwechslung durch Amt, Lehrtätigkeit oder irgend eine andere profane Arbeitsweise genossen zu haben.«22 Diese Bemerkungen zeigen nach Lukács, dass Storm, Keller, Mörike und andere deutsche Autoren ihre berufliche Arbeit nicht im Gegensatz zu ihrer künstlerischen Arbeit gesehen und betrieben haben. Die bürgerliche Lebensweise war nicht etwas, was die Dichter abstoßen mussten, um ihre Kunst ausüben zu können, sie war im Gegenteil diejenige »Lebensführung«, die sich in der »Kunstübung«23 fortsetzte. Und diese Lebensführung, die Lukács (wie später Thomas Mann) als »Ethik« bezeichnet, war gekennzeichnet durch wiederkehrende Pflicht und »die Herrschaft der Ordnung über die Stimmung, des Dauernden über das Momentane«.24 »Wie bei den alten Handwerkskünstlern ist auch bei ihnen die Kunst eine Äußerungsform des Lebens, so wie alles andere, und daher ist ein der Kunst gewidmetes Leben mit denselben Rechten und Pflichten verbunden, wie jede andere menschlich-bürgerliche Tätigkeit«.25

Diese ›Debatte‹ zwischen Bourdieu und Lukács macht uns etwas aufmerksamer gegenüber der theoretischen Forderung, die Inszenierung von Autoren als Markierung einer Position innerhalb des literarischen Feldes zu verstehen. Betrachten wir noch einmal Hilsdorfs fotografisches Porträt Thomas Manns, so sehen wir sehr wohl einen Künstler, dessen Haltung und dessen Attribute auf die Beherrschung seines Handwerks verweisen, der aber nicht – wie das Modell ›Flaubert‹ – in völliger Opposition zum bürgerlichen Leben arbeitet, sondern der als jemand inszeniert wird, der einem Stand angehört, welcher wiederum ähnlich und gleichberechtigt zu anderen bürgerlichen Ständen steht und keine Ausnahme

22 Georg Lukács, Bürgerlichkeit und l’art pour l’art, in: Die Seele und die Formen, Neuwied, Berlin: Luchterhand 1971, S. 86-87. 23 Ebd., S. 90. 24 Ebd., S. 84. 25 Ebd., S. 91.

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oder Gesellschaft in der Gesellschaft darstellt. Für Porträts, die eine solche Autonomie inszenieren, müsste man die Fotografien Julia Camerons 26 oder Frank Eugenes befragen. Das Modell der ›Lebensbürgerlichkeit‹ aber durchkreuzt Bourdieus soziologische Gesetze des literarischen Feldes, insofern Thomas Mann, um autonom als Künstler zu arbeiten, sich nicht in eine neutrale, von der Gesellschaft distanzierte Position begibt oder eine dezidierte Position im literarischen Feld einnimmt,27 sondern im Gegenteil – nach der Überwindung der jugendlichen Kämpfe – die bürgerliche Lebensführung mit seiner künstlerischen Tätigkeit verschränkt und verschmilzt. Es geht also nicht um eine Lebensführung, die das Kunstwerk ermöglicht, sondern um eine Lebensführung, die das Werk umfasst. In einem seiner selbst verfassten Lebensläufe (1936) heißt es: »Doch war ich niemals ein Arbeits-Anachoret wie Flaubert, wünschte nicht, weltfremder zu sein, als es nun einmal in der Natur des Poeten liegt, und habe mich immer bemüht, dem Menschlichen und dem sozialen Leben, dem Staate, soweit seine Sphäre sich mit der der Kultur berührt, der Familie, der Geselligkeit und Freundschaft, der Zerstreuung und dem Genuß das Ihre zu geben. Das Problem des Gegensatzes von Kunst und Leben, Künstlertum und Menschentum hatte mich früh und tief beschäftigt, und so sehr ich mich zur Kunst berufen, um nicht zu sagen: verurteilt fühlte, wollte ich mich nicht in ihr verzehren, sondern ein Mensch sein, so gut ich es nur vermochte.«28

Und man sieht nun auch, warum das Werk da ist, ohne abgebildet zu sein – weil es selbstverständlicher Teil der inszenierten patrizischen Lebensführung ist und der Monumentalisierung nicht bedarf. Und man sieht auch die Differenz zu Eugenes Bildnis Heyses, das den Dichter als dem bürgerlichen Leben entrückt inszeniert.

26 Vgl. Alan Trachtenberg, Lincoln’s Smile, Ambiguities of the Face in Photography, in: Lincoln’s Smile, S. 69-85; S. 78. 27 Vgl. Thomas Mann, Meine Zeit, in: GW XI, S. 311 – er habe sich aus allen literarischen Kämpfen herausgehalten und sich außerhalb des literarischen Feldes positioniert. Vgl. auch Ralf Klausnitzer, Jenseits der Schulen und Generationen? Zu literarischen Beziehungspolitik eines Solitärs, in: Ansel et al. (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, S. 453-487. 28 Thomas Mann, [Lebenslauf 1936], in: GW XI, S. 454-455.

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III. E NTBÜRGERLICHUNG Das Modell des Künstlers als eines Menschen von bürgerlichem Stand impliziert eine Universalisierung dieses Standes. Anders als bei August Sander, wo jedes Porträt ein differenzielles Element einer sozialen Anatomie darstellt, ist das Porträt des Dichters Thomas Mann bei Hilsdorf ein analoges Element in einer ständischen Inszenierung, die nicht das fest umrissene Bild einer Klasse oder Schicht erzeugt, sondern das fließende Panorama einer herrschenden Gruppe, die die Tugenden einer Gesellschaft zu repräsentieren glaubt. Ich möchte von hier aus eine Gruppe von fotografischen Porträts betrachten, die dieses Bild des Künstlers als ein dem Stand angehörendes Individuum modifizieren. Ihr Geheimnis ist ihre Unauffälligkeit. Abb. 4: John Graudenz, Portrait of Thomas Mann (1926) 29

Abb. 5: Man Ray, Thomas Mann (1938)

© Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Das Porträt, das John Graudenz von Thomas Mann geschaffen hat (Abb. 4), zeigt uns den Autor noch immer im bürgerlichen Anzug, aber das Ständische ist abgefallen. An seine Stelle tritt, hervorgehoben durch das schärfentiefe Schwarz, die Seriosität. Noch deutlicher wird der Vorgang der Entbürgerlichung an dem

29 Mit freundlicher Erlaubnis von Eckhard Zimmermann und Hans R. Vaget.

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Porträt (Abb. 5), das von Man Ray stammen soll: Wir sehen keine Insignien oder Einschreibungen des Berufes (als Stand), Thomas Mann wirkt hier neutralisiert. Anzug, Hemd, Krawatte, die Thomas Mann zu seiner ständigen zweiten Haut wählte, um den Bürger zu bezeichnen, verlieren ihre ›Bürgerlichkeit‹, man könnte von einer ›Entbürgerlichung der Universalität‹ sprechen, einer Universalität, die sich am Rande einer eigenschaftslosen Neutralität bewegt und den zur Berühmtheit gelangten Autor als eine Art »chargé d’affaires des Geistes der Nation« zeigt.30 Viele der späteren Porträts umkreisen diese intellektuelle Universalität. Aber es gibt auch Ausnahmen, die dieses Kontinuum des Bürgerlichen versuchen aufzubrechen. Abb. 6: Man Ray, Thomas Mann (1942)

© Man Ray Trust, Paris/VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Man Rays Porträt Thomas Manns von 1942 (Abb. 6) zeigt uns Thomas Mann wie gewohnt sitzend mit Anzug und Zigarette. Aber wie völlig verändert ist die Atmosphäre, in die das gewohnte Bild getaucht ist: Der dunkle Hintergrund und das plötzlich aus diesem Dunkel hervortretende Gesicht (unterstützt durch die Beugung oder Bewegung des Körpers nach vorn) lassen den Autor wie in einem Film, genauer vielleicht wie in einem Film noir erscheinen. Plötzlich unterstützt

30 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke 2, hg. von Adolf Frisé, Reinbek: Rowohlt 1978, S. 429.

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der gestreifte Anzug nicht mehr den Eindruck eines bürgerlichen Schriftstellers, sondern verdichtet sich (zusammen mit den pomadiert wirkenden Haaren) zu einer Filmfigur im Milieu des ›noir‹. Der Schleier des bürgerlichen Kontinuums wird hier zerrissen. Thomas Mann wird in ein anderes Kontinuum aufgenommen. Man könnte dieser Beobachtung durch eine Verdichtung diskursiver Tatsachen eine größere Bedeutsamkeit verleihen, indem man das Entstehungsjahr der Fotos – 1942 – im Zusammenhang sieht mit der Entstehung des Film noir – The Maltese Falcon von 1941 und Murder, My Sweet von 1944 – und von hier aus eine weitere Schlinge zieht zu Bruder Hitler, jenem Text, der in New York 1942 erschien, zu einer Zeit, in der Man Ray in Hollywood ein Studio unterhält. Wenn schon die Ausleuchtung des Fotos starke Ähnlichkeiten zu den Filmtechniken des Film noir aufweist, so gilt das auch für das grundlegende Thema, welches das Filmgenre anstößt: die Dunkelheit des Verbrechens, die die Stadt in einen Schattenraum verwandelt, der wiederum Stück für Stück durch das Auge des Detektivs, der das Verbrechen ans Licht bringt, erhellt wird. 31 Dieses Thema von hell und dunkel durchzieht auch Thomas Manns Selbstporträt Bruder Hitler: »Kunst ist freilich nicht nur Licht und Geist, aber sie ist auch nicht nur Dunkelgebräu und blinde Ausgeburt der tellurischen Unterwelt [...]«32

Unterwelt, Leben, das ist die Bohème, mit der Thomas Mann Hitler und sich selbst assoziiert. Und es ist die Bohème, die den Verbrecher und Gangster als ehrlichen Repräsentanten des Kapitalismus und als Gegenbild zum verhassten Bürger aufwertet.33 Georg Grosz beispielsweise inszenierte sich fotografisch als amerikanischer Gangster.34 In diesem Koordinatensystem muss man das Foto Man Rays von Thomas Mann verorten, in dem mit der Ambiguität des Anzuges, der Zigarette, der Physiognomie, der Haare gespielt wird, die wir als Attribute des Bürgerlichen gelesen haben und die nun umkippen und Thomas Mann seiner reinen literarischen Spiritualität entreißen und ihn zur Filmfigur werden lassen.

31 Vgl. Alan Trachtenberg, Realms of Shadow, Film Noir and the City, in: Lincoln’s Smile, S. 326-341. 32 Thomas Mann, Bruder Hitler , GW XII, S. 852. 33 Helmut Kreuzer, Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Stuttgart: Metzler 1968, S. 336. 34 Siehe La Bohème. Die Inszenierung des Künstlers in Fotografien des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Bodo von Drewitz, Ausstellungskatalog Museum Ludwig Köln, Göttingen: Steidl 2010, S. 12.

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Und so findet sich der Autor der Lebensbürgerlichkeit plötzlich auf der Seite der surrealistischen Bohème wieder. Eine zweite Form der Entgeistigung und Materialisierung lässt sich an einem Foto der Modeagentur Condé Nast erkennen.35 Auch auf diesem Foto ist die Kleidung samt der Accessoirs sorgfältig ausgesucht: ein sommerlicher Anzug, helle Schuhe, ein Sommerhut, ein gestreiftes Hemd samt Fliege, eine randlose Brille, noch immer alles »so höllschen fien«. 36 Das Signifikat dieses Arrangements (unterstützt durch eine lässige Pose) ist aber nicht ›Sommer‹ und ›Bürgerlichkeit‹, sondern ›Kalifornien‹. Dieses Signifikat wird unterstützt durch eine für die Region typische, naturbelassene Bank und einen lichtdurchfluteten Park, die auf die Natur, mehr noch aber auf die Wärme und den entspannten Aufenthalt im Freien unter der hellen Sonne Kaliforniens verweisen. Man sieht auch hier die Ambiguität des Anzugs, der schon nicht mehr allein Bürgerlichkeit und Geist (die im Stand des bürgerlichen Schriftstellers vereint waren) bezeichnet, sondern in seinem Eigenwert als Mode hervortritt und als Element von ›lifestyle‹. Diese Fotografien sind gewiss Ausnahmen. Sie versuchen, das Kontinuum der Bürgerlichkeit zu durchbrechen und die Figur Thomas Mann in jeweils andere Bezüge zu versetzen. Sie betreiben ein Spiel mit dem begrenzten Arsenal bürgerlicher Accessoires, das – anders als das fiktive Spiel des Autors mit sich selbst und diesem Arsenal – den Autor aus der kulturellen Rolle, die er sich selbst zuschreibt, herausdrängt.

IV. S PIRITUALISIERUNG Abschließend sei ein grundsätzliches Wort Genettes zur Paratextualität aufgegriffen, um das Verhältnis der fotografischen Porträts zum Werk oder zur Werk/Leben-Einheit zu reflektieren. Der Paratext, so Genette, »richtet […] zwischen der idealen und relativ unwandelbaren Identität des Textes und der empirischen (soziohistorischen) Realität seines Publikums eine […] Art Schleuse ein, […] die dem Leser hilft, […] von einer Welt in die andere zu gelangen […]. Der Text ist unwandelbar und als solcher außer Stande, sich an die Veränderung seines Publikums in

35 Agentur Condé Nast, Thomas Mann in Kalifornien (1944), in: Eva-Monika Turck, Thomas Mann. Fotografie wird Literatur, München u.a.: Prestel 2003, S. 47. 36 Buddenbrooks, GW 1, S. 415.

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Raum und Zeit anzupassen. Der flexiblere, wendigere, immer überleitende, weil transitive Paratext ist gewissermaßen ein Instrument der Anpassung.«37

Fotografien sind Paratexte in diesem Sinne; sie begleiten das Werk und führen als flexible und die Empirie abbildende Medien, die ständig und in großer Zahl den Thomas Mann-Diskurs säumen, das Auge zum Leben/Werk-Komplex, den Blick zum Text. Mit Bezug zur Lebensbürgerlichkeit wäre das folgende Bildnis (Abb. 7) – eine Karikatur – als paratextuelles Phänomen zu verstehen: es greift den empirischen, Raum und Zeit geschuldeten Aspekt der aufwendigen Gestaltung des Äußeren auf und hebt die konkreten modischen Accessoires hervor: soignierte Hauskleidung, gesteppte Randnähte, farbige Ärmelaufschläge, korrekt geschnürte Schuhe, kennerhaft abgespreizte Zigarre. Die Karikatur hebt, was der Zeit unterworfen ist, hervor und ist gegenüber dem unwandelbaren Kontinuum der Lebensbürgerlichkeit in der Tat Paratext – Dokument der Entkunstung Thomas Manns. Abb. 7: Gerd Burchtens, »Warum wollt ihr nicht an meinem Kranze rupfen?« (1974)38

37 Gérard Genette, Paratexte, Frankfurt a.M./New York: Campus 1992, S. 389. 38 Trotz ausgiebiger Recherche konnte der Rechteinhaber des Bildes leider nicht ermittelt werden; Hinweise diesbezüglich gerne an die Herausgeberin.

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Abb. 8: Gustav Seitz, Skizzen

© Gustav-Seitz-Stiftung

Betrachtet man dagegen die Zeichnung des Bildhauers Gustav Seitz (Abb. 8): Die glatte Kontur, die die Fotografien erkennen lassen und die das Modell durch sorgsame Pflege (Haarschnitt, Bartschnitt, Haut) inszeniert, ist hier vermieden, die fast ruppige, raue Kontur bringt den Blick weg von der Oberfläche bürgerlicher Eleganz. Der Blick wird hingelenkt, konzentriert auf das, was Konzentration ausdrückt: auf die Partie der Augen, der Brauen und der Stirn – Ort des Denkens –, aber auch auf die Mundpartie, Ort des Redens, der Sprache. Ganz anders also als die Karikatur abstrahiert dieses Porträt völlig von dem, was der Zeit unterworfen ist (Mode) und meißelt eine zeitenthobene Expressivität des Geistes heraus. Hier sind die Züge des Bürgerlichen verschwunden, Thomas Mann erscheint hier gewissermaßen als Geist ohne Adel. Damit aber ist die Zeichnung kein ephemerer Paratext, in ihr offenbart sich vielmehr die gegenläufige Tendenz zur Verewigung, der Versuch, die Lebensbürgerlichkeit zu entempirisieren. Es ist kaum verwunderlich, dass man der Tendenz zur Verewigung an einer Zeichnung gewahr wird, hat sich doch auch die Fotografie immer wieder an der Zeichnung orientiert, um Effekte der Unwandelbarkeit hervorzubringen. Weniger allerdings durch Verfahren der Entwicklung als vielmehr durch die fotografische Inszenierung versucht auch Yousuf Karsh in seinem Porträt Thomas Mann stehend mit Zigarre vom Februar 1946 (Abb. 9) ein Bild der Konzentration zu erschaffen, das Bild nicht so sehr des Schriftstellers als des Denkers – Zeit und Bürgerlichkeit enthoben. Das Porträt nähert sich dem Standbild. In seiner mo-

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numentalen Verewigung der Kontemplation (Europa/Geist) ist es das Gegenbild zur Inszenierung des ›Greatest Living Man of Letters‹ (Amerika/Demokratie).

Abb. 9: Yousuf Karsh, Thomas Mann stehend mit Zigarre (1946)

© Photograph by Yousuf Karsh, Camera Press London

Abgrenzung, Re-Kombination, Neu-Positionierung Strategien der Autorinszenierung in der Gegenwartsliteratur C HRISTOPH J ÜRGENSEN /G ERHARD K AISER

I. M OMENTAUFNAHMEN : 2012/1471 ›Wer schreibt, der bleibt‹,

so will es ein Spruch wissen, in dessen Kürze aber eben dann doch auch wieder nur die halbe Wahrheit liegt. Denn wer schreibend bleiben, d.h. den Eindruck, den er in der Geschichte als Schreibender macht und hinterlässt, auf Dauer stellen will, der muss in der Regel mehr tun, als eben nur: schreiben. Er muss dafür Sorge tragen, dass das, was da geschrieben steht, auch wahrgenommen wird, und er muss – über das Geschriebene schreibend oder mit anderen Mitteln – Aufmerksamkeit dafür erzeugen, dass das Geschriebene von ihm stammt. Vielleicht sollte man nicht so weit gehen, diesen Drang, für die Schrift und für sich Aufmerksamkeit zu erzeugen, gleich als anthropologische Konstante zu verorten. Und doch scheint ein solcher Drang, hinter der Schrift gerade nicht zu verschwinden ›wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand‹ (wie es früher einmal so schön hieß), ein historisch relativ stabiles Phänomen im schreibenden Treiben des Menschen zu sein, ein Phänomen, mit dem man rechnen darf und das es deshalb zu analysieren gilt. Um hier nur zwei zeitlich möglichst weit auseinander liegende Beispiele anzuführen: Wenig verwunderlich ist, dass sich dieses Phänomen kürzlich wieder einmal bei dem Medienbeauftragten der deutschen Literatur, Rainald Goetz, beobachten ließ, als er auf seinen neuen Roman Johan Holtrop hinwies, indem er die Pressevertreter zu einem ›Event‹ einlud und die Rezensionsexemplare persönlich an sie verteilte. Auf YouTube wie auf einer eigens zu diesem Roman eingerichteten Homepage lässt sich ansehen, dass Goetz dieses Mal zwar auf

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Stirnschnitte verzichtet, sich mit dem Buch aber immerhin an den Hinterkopf schlägt, ein Loblied auf die »Objektizität dieses Objekts« singt und sich ruhelos hampelnd wie ein legitimer Nachfahre von Louis de Funes inszeniert – und dergestalt den Autor vor das Werk schiebt bzw. beides effektvoll zusammenbringt.1 Bei dem ›Godfather‹ der jüngeren Popliteratur ist mit einer öffentlichkeitswirksamen Form der Selbstdarstellung also durchaus zu rechnen. Aber schon den schreibenden Mönch an der Zeitenwende zwischen spätem Mittelalter und früher Neuzeit treiben Sorgen um die Resonanz seiner Schriften um: »[U]nd dar umb das ir wissen was ich úch mit miner arbeit zů samen getragen hab / so wil ich hie bestimen ettliche der groͤsten und der nuͤtzlichest buͤcher von mir zů samen gefuͤgt uf das ir sy wissen fúr uwer cloͤster zů bestellen.«2

So leitet etwa der Verfasser des Epistel brief zů den swesteren prediger ordens, der dominikanische Ordenschronist Johannes Meyer, um 1471 einen Katalog samt detaillierten Beschreibungen seiner »größten« Schriften ein, deren »nützliche« Lektüre er seinen Adressatinnen nachdrücklich empfiehlt. Deutlich artikuliert sich hier, lange vor Etablierung des literarischen Marktes und freier Autorschaft, ein auktoriales Selbstbewusstsein, das sich eben nicht mit der eher zeittypischen Rolle des »unselbständigen Kompilators« zufrieden gibt. Meyers im Blick auf das ›Zielpublikum‹ deutschsprachig verfasster Paratext zielt eben auch darauf, den resonanzförderlichen Innovationsgrad und singulären Status des eigenen Schrifttums in Abgrenzung von vergleichbaren Schriften aufzublenden.

1

http://www.youtube.com/watch?v=gS96txHrUXc,

Zugriff: 22.06.2013; auf

der

Homepage (www.johannholtrop.de) hingegen findet sich der Clip nicht mehr. 2

Johannes Meyer, Epistel brief zů den swesteren prediger ordens, zit. nach: Christian Seebald, »Schreiben für die Reform. Reflexionen von Autorschaft in den Schriften des Dominikaners Johannes Meyer«, in: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011, S. 33-53, hier S. 33.

S TRATEGIEN DER A UTORINSZENIERUNG

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II. I NSZENIERUNGSPRAKTIKEN ALS DISTINKTIONS STRATEGISCHE P OSITIONIERUNGSHANDLUNGEN : B EGRIFF , G ESCHICHTE UND H EURISTIK 3 Bei allen Differenzen, die sich ›naturgemäß‹ zwischen beiden Fällen schnell feststellen ließen: Man sieht – bei der Beschäftigung mit schriftstellerischen Inszenierungspraktiken rückt notwendigerweise die Figur des Autors wieder in den Blick, und sogleich scheint damit Biographisches zu dräuen. Eine Sorge mag sich aufdrängen, die der russische Literaturwissenschaftler und Linguist Boris Tomaševskij mit Nachdruck in seinem 1923 erschienenen Text Literatur und Biographie ausspricht: die Sorge nämlich, dass, weil und wenn es um »den Autor als Menschen« geht, die Literatur und ihre Geschichte völlig aus dem Blick geraten. »[U]nd«, so Tomaševkij weiter, »man kann noch froh sein, wenn es um den Autor geht und nicht um seine Brüder und Tanten.«4 Dennoch ist auch für Tomaševskij das Biographische nicht einfach und in jeder Hinsicht nichtig oder zu vernachlässigen. Er unterscheidet allerdings zwischen dem, was er als die »reale, amtliche Biographie« eines Autors bezeichnet und dem, was er als die »biographischen Legenden« über einen Autor bestimmt. Auf Letztere hat nach Tomaševskij die Literaturwissenschaft ihr Augenmerk zu richten, stellen sie ihm zufolge doch »die literarische Konzeption des Lebens des Dichters dar, eine Konzeption, die notwendig ist als wahrnehmbarer Hintergrund des literarischen Werks, als die Voraussetzung, die der Autor selbst einkalkulierte, als er seine Werke schuf.«5 Was Tomaševskij hier als biographische Legende bezeichnet, ist ein gewichtiger Aspekt, besser noch: ein Effekt innerhalb jenes Komplexes, den wir mit dem Begriff der schriftstellerischen Inszenierungspraktiken6 kennzeichnen möchten. Was meint dieser Begriff?

3

Erstmals ausführlich dargelegt haben wir die folgenden Überlegungen in: »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken, S. 9-30. Wir danken der Herausgeberin für die Möglichkeit, unser Konzept im Rahmen ihres Bandes präsentieren zu können.

4

Boris Tomaševskij, »Literatur und Biographie«, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Texte

5

Ebd., S. 57.

6

Zu Formen der Inszenierung von Autorschaft vgl. Christine Künzel/Jörg Schönert

zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart: Reclam 2003, S. 49-61, hier S. 49.

(Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007 sowie Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008.

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Inszenierung meint nicht Täuschung. Es meint auch nicht ein völlig den einzelnen Akteur festlegendes Rollenspiel innerhalb eines umfassenden Verblendungszusammenhangs. Wir möchten im Folgenden weder die Verwendungsgeschichte des Inszenierungsbegriffes nachzeichnen, noch die Kontroversen der soziologischen Rollentheorie rekapitulieren, sondern uns vielmehr darauf konzentrieren, das heuristische Potential des Begriffes zu verdeutlichen: Inszenierungspraktiken, darunter verstehen wir hier – im Rückgriff auf Überlegungen Genettes und Bourdieus – jene paratextuellen und habituellen Techniken und Aktivitäten von Schriftstellern, mit denen sie öffentlichkeitsbezogen für ihre eigene Person, für ihre Tätigkeit und/oder für ihre Produkte Aufmerksamkeit erzeugen (wollen).7 Eine Geschichte dieser Inszenierungspraktiken müsste sicherlich spätestens mit der Entstehung des literarischen Marktes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzen (auch wenn es sie – wie das Beispiel des Dominikanermönches zeigt – bereits vorher vereinzelt gegeben hat), der die Struktur der literarischen Öffentlichkeit geradezu revolutionierte und mediengewandte ›Popliteraten‹ avant la lettre, wie die Protagonisten des Sturm und Drang, hervorbrachte8. Mit der Medienevolution, dem Boom massenkultureller Unterhaltungsangebote und der Provokation bildungsbürgerlicher Kunstnormen durch die AvantgardeBewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte sich die Situation der literarischen Intelligenz gegenüber dem Selbstverständnis der Geniepoetik dann noch einmal fundamental. Die grundlegenden Innovationen der Selbstinszenierungspraktiken endeten mit den Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts. Denn nach den Erfahrungen der Bohème, mit der Verschärfung des Innovationsdrucks durch die verschiedenen und sich rasch abwechselnden ›Ismen‹ um die Jahrhundertwende beschleunigten sich der Einsatz und zugleich der Verschleiß von Strategien der Selbstinszenierung. Jede neue Markierung der Originalität und Autonomie des Autors kann kodifiziert und damit normalisiert werden und verliert so tendenziell ihre Funktion. Die Stilisierungsstrategien sind bis zur Selbstverletzung allesamt durchgespielt und können nun – nur noch – kombinatorisch eingesetzt werden.

7

Vgl. hierzu Gerhard Kaiser, »Inszenierungen des Authentischen. Martin Kessel und die Epochale Substanz der Dichtung«, in: Stefan Scherer/Claudia Stockinger (Hg.), Martin Kessel (1901-1990) – ein Dichter der Klassischen Moderne, Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 109-142, bes. S. 115-120.

8

Zur Selbstinszenierung der ›Stürmer und Dränger‹ siehe Christoph Jürgensen/Ingo Irsigler, Sturm und Drang, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 7-9 u. S. 1322.

S TRATEGIEN DER A UTORINSZENIERUNG

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Die Heuristik zielt nun darauf, solche schriftstellerischen Inszenierungspraktiken in zwei lediglich analytisch zu trennenden Hinsichten beschreibbar zu machen. Zum einen geht es um die Frage, wo solche Inszenierungspraktiken angesiedelt sind (›lokale‹ Dimension), zum anderen darum, wie sie beschaffen sind (›habituelle‹ Dimension). Nimmt man die lokale Dimension in den Blick, so treten neben distinktive textuelle Inszenierungspraktiken (etwa Sujetwahl, Formgebung oder Stil) paratextuelle Inszenierungspraktiken, 9 die sich wiederum in peritextuelle und epitextuelle Selbstdarstellungsweisen untergliedern lassen. Erstere zielen auf rahmende Praktiken in großer zeitlicher und räumlicher Nähe zu den literarischen Texten (Widmungen, Motti, Titel, Vor- und Nachworte); letztere auf solche, bei denen die zeitliche und räumliche Distanz größer ist (poetologische Selbstkommentare, Interviews, Lesungen, Aufnahmen etc.). Referenzobjekt der habituellen Inszenierungspraktiken 10 ist nicht mehr vorrangig der literarische Text. Der Begriff zielt vielmehr auf die Inszenierung eines ›Lebensstils‹. Dieser Lebensstil ist ablesbar an Praxisformen, deren Komponenten als Verweisungsmuster, Symbole, Zeichen im Hinblick auf soziale Positionierung und Orientierung gelesen werden können. Habituelle Inszenierungspraktiken können performative Elemente (Aspekte der Körperlichkeit, Kleidung, Stimme), weltanschauliche Elemente (die Integration von außerliterarischen Wissensbeständen: politische, soziale, religiöse, wissenschaftliche) wie ästhetische Elemente umfassen und kombinieren (Charakterisierung der eigenen Ar9

Nach Genette handelt es sich beim Paratext um »jenes Beiwerk, durch das ein Text zum Buch wird und als solches vor die Leser und, allgemeiner, vor die Öffentlichkeit tritt«. Gérard Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M.: Campus 1989, S. 10.

10 Nach Bourdieu ist der Habitus definiert durch zwei »Leistungen«: durch die »Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen«. Dadurch, so Bourdieu, konstituiert sich ein »Raum der Lebensstile«. (Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 278, Hervorhebung im Original). Der für die Analyse ausdifferenzierter, moderner Gesellschaften zentrale Aspekt der Distinktion in der Kunst findet sich indes bereits bei Arnold Gehlen: »[E]ben dies gilt weithin von den modernsten Formen der Musik, Lyrik und Malerei. Der Tendenz nach erstreben sie durchaus den isolierten, reinen und durchschlagenden Effekt, aber sie erreichen ihn nicht mit gut schätzbarer Wahrscheinlichkeit, und darin liegt der innere Grund, warum sie sich zusätzlich, aber notwendig noch mit einer anderen, zuverlässiger wirkenden Erfolgsgarantie versehen müssen: mit unermüdlicher Propaganda.« (Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Klostermann 2007, S. 40).

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beitsweise, Genealogisierung der eigenen Tätigkeit, distinktive Formen der Authentizitätsbeglaubigung). Es sollen damit jedoch nicht post festum alle dokumentierten Lebensäußerungen eines Autors zu Inszenierungspraktiken hypergeneralisiert werden. Die spezifische Differenz bei allen skizzierten Praxisformen ist der Aspekt der Öffentlichkeitsbezogenheit. Soll sich diese Heuristik nun als hilfreich zur Klassifikation und Interpretation schriftstellerischer Inszenierungspraktiken erweisen, muss sich mit ihr prinzipiell auf maximal unterschiedliche Inszenierungsformen ausgreifen lassen. Daher wollen wir die Tragfähigkeit des heuristischen Instrumentariums im Folgenden an zwei Gegenwartsautoren erproben, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben, und zwar zum einen an Martin Mosebach als einem hochpreisigen Repräsentanten der nachmodernen Hochkultur, und zum anderen an Benjamin von Stuckrad-Barre als Vertreter einer Literatur popkultureller Provenienz. Bei allen Unterschieden spielt die Strategie der Distinktion im Inszenierungsrepertoire beider Autoren eine gewichtige Rolle. Zudem lassen sich – gleichsam idealtypisch – zwei weitere Strategien bei den Autoren beobachten: die der Re-Kombination bei Mosebach sowie die der Neupositionierung bei Stuckrad-Barre.

III. R E -K OMBINATION : »R ÜDESHEIM «-E FFEKT UND DER RADIKALE C HIC EINER » REAKTIONÄREN O RTHODOXIE « BEI M ARTIN M OSBACH Im zweiten Teil unserer Ausführungen ging es unter anderem um die historische Verlaufsannahme, dass sich das Potential originärer Inszenierungspraktiken mittlerweile erschöpft hat und dass dies wiederum zu einer Phase geführt habe, in der Akteure auf die Re-Kombination bereits erprobter Wissensbestände über Autorinszenierung setzen. Ein aufschlussreiches, aktuelles Beispiel für diese Strategie der Re-Kombination ist Martin Mosebach, der nicht nur ein äußerst erfolgreicher Autor ist, sondern auch durch seinen ostentativ in Szene gesetzten Katholizismus immer wieder für Aufsehen und Aufregung im literarischen Feld sorgt. Wir gehen dabei von der Annahme aus, dass Mosebachs hybride Inszenierungspraxis Versatzstücke aus dem historischen Archiv etablierter Autorinszenierungen rekombiniert: Maßhalten in den Bahnen des bürgerlichen Realismus

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auf poetologisch-ästhetischer Ebene mit der weltanschaulichen Provokation: in der Tradition eines Dandyismus à la Baudelaire oder Oscar Wilde.11 In ästhetischer Hinsicht ist Mosebachs Inszenierungspraxis so konsequent traditionell, dass man fast sagen könnte, er kehre das Modell des ›poète maudit‹ einfach um. In Interviews und Gesprächen weist er regelmäßig darauf hin, dass er »mit der Hand schreibe«,12 »künstlerischen Irrationalismus«13 ablehne und »Geschichten, die Hand und Fuß haben, die Anfang und ein Ende haben [und] motivierte Handlungen«14 liebe. Dass man seine Sprachwahl und Stilgebung immer wieder mit dem 19. Jahrhundert in Verbindung bringe, führt Mosebach auf eine »Schule« in der Literaturkritik zurück, die sage, »wenn ein Satz einen oder vielleicht sogar zwei Nebensätze hat, dann ist das 19. Jahrhundert.«15 Freilich bedient er diese Rückbeziehbarkeit seines eigenen Schriftstellerethos auf die realistischen Schreibprogramme des 19. Jahrhunderts immer wieder selbst. Schon sein Vater, der ihn mit der Dichtung vertraut machte, habe die »keineswegs besonders originelle und auch gar nicht ganz abwegige Überzeugung« vertreten, »daß die Literatur mit dem Anbruch des zwanzigsten Jahrhunderts an ihr Ende gelangt sei«,16 so der Autor anlässlich seiner Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Mosebachs Vater – dies nur nebenbei – scheint wiederum, wie auch sein Sohn, ein eifriger und folgsamer Leser Gehlens gewesen zu sein, denn dessen These von der »kulturellen Kristallisation« gibt die kulturphilosophische Blaupause ab für die Überzeugung Mosebachs, »daß

11 Der ›Fall‹ Mosebach kann hier lediglich exemplarisch behandelt werden. Zu einer ausführlicheren Darstellung der Inszenierungspraktiken Mosebachs im Zeichen eines ›neuen‹ Konservativismus s. Gerhard Kaiser, »›Wir glauben mit den Knien oder wir glauben überhaupt nicht‹. Schriftstellerische Inszenierungspraktiken bei Martin Mosebach«, in: Maike Schmidt (Hg.), Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik (in Vorbereitung). 12 So etwa in: »›Unbeirrt vom Zeitgeist‹. Der Büchner-Preisträger im Gespräch mit Literaturkritiker Martin Lüdke«, in: Börsenblatt 26 (2007), S. 34-37, hier S. 34. 13 »Ein Gespräch mit Juli Zeh und Martin Mosebach. ›Über Recht und Literatur‹«, in: Hermann Weber (Hg.), Literatur, Recht und Musik. Tagung im Nordkolleg Rendsburg vom 16. bis 18. September 2005, Berlin: Lit Verlag 2007, S. 183-204, hier S. 199. 14 Ebd., S. 188. 15 Ebd., S. 191. 16 Martin Mosebach, Auf das Gelesene antworten. Martin Mosebach zur Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, http://www.martin-mosebach.de/d er-autor/der-autor-über-sich-selbst.html, Zugriff: 20.04.2013.

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die Zeiten der schöpferischen Kunst im Westen eben zu Ende seien, daß die westliche Kultur an ihr Ende gelangt sei.«17 Wie aber positioniert man sich selbst als Schreibender, hat man einmal das »Ende der Zeiten der schöpferischen Kunst«18 diagnostiziert? An versteckter und auch an weniger versteckter Stelle hat Mosebach zu erkennen gegeben, wie es möglich sein kann, sich dem Innovationsimpetus der künstlerisch Moderne zu entziehen und ihn doch – gleichsam durch die Hintertür – wieder zu bedienen. In einem Essay über das Rheingau in der Süddeutschen Zeitung schreibt der Kulturdiagnostiker über das Städtchen Rüdesheim: »Das einst abstoßende Butzenscheibenwesen wirkt heute recht interessant. Abgetane Moden, überlebte Sehnsüchte, ein überholter Geschmack bietet ästhetischen Kennern ein reiches Jagdfeld.«19

Jene »Avantgarde der Tradition«,20 diesen für Mosebach spezifischen ›Rüdesheim-Effekt‹, in dessen Zuge das Alte schließlich doch zum neuen Neuen wird, hat der Autor in seinem Essay Liturgie ist Kunst zu einer grundsätzlichen Kritik der ›falschen‹ Originalität generalisiert: »Sind Künstler nicht Schöpfer von Neuem, vor allem beständige Erneuerer der Form? […] So denken wir uns das in den Zeiten eines von uns noch kaum in seinem ganzen Umfang geahnten Niedergangs. In den großen produktiven Epochen beschäftigten sich die Künstler nie mit dem Problem der Originalität, sie schufen etwas Neuartiges, etwas Unerhörtes und bis dahin Niegesehenes gerade dann, wenn sie glaubten, einer großen überlieferten Form besonders liebevoll und verehrend zu dienen. Das Neue, das wirklich Neue, nicht das zurechtgebastelte Experiment, entsteht unbewußt aus neuer individueller Belebung des Alten.«21 17 Ein Gespräch mit Juli Zeh und Martin Mosebach, S. 188. 18 Ebd. 19 Martin Mosebach, »Die Heimat gemütvoller roter Nasen«, in: Süddeutsche Zeitung vom 29./30. März 2003, Wochenendbeilage, S. VI. 20 In dem gleichnamigen Essay über die Benediktiner von Fontgambault wird dieser Effekt ähnlich charakterisiert: »Die Rückkehr zur vollständigen Regel des heiligen Benedikt […] wird in reformfreudiger Zeit als besonders wagemutige Reform begriffen.« (Martin Mosebach, »Die Avantgarde der Tradition. Die Benediktiner von Fontgambault«, in: ders., Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München: Hanser 2007, S. 89-100, hier S. 92). 21 Martin Mosebach, »Liturgie ist Kunst«, in: ders., Häresie der Formlosigkeit, S. 101120, hier S. 106.

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Mosebachs eigene, neue, wenn auch freilich nicht unbewusste, deshalb sentimentalische Belebung des ästhetisch Alten, bewegt sich, insofern seine Romanpoetik betroffen ist, dann in der Tat hauptsächlich im Rahmen der im 19. Jahrhundert gesetzten Standards. Mimetische Exaktheit wird ausgespielt gegen ein – für Mosebach als selbsterklärten »Reaktionär«22 ohnehin – illusionistisches Engagement, denn der Romanschriftsteller, so heißt es in seinem poetologischen Kernessay Was ist katholische Literatur?, habe darauf zu verzichten, die Welt so darzustellen, wie sie seinem Wunsch gemäß sein soll, zugunsten der »Darstellung der Welt, wie sie ist.«23 Diese Absage an eine operative Literatur ist aber – dies gilt es zu beachten – zugleich auch eine Absage an eine katholische Gesinnungspoesie, die für Mosebach »ein Unterfall der Gattung der engagierten Kunst« ist und deren doppelte Hypothek des Mangels an der »Freude an der Absurdität und [der] Freude am Spiel«24 trägt. Im Namen »unsere[r] großen Vorbilder, eben des 19. Jahrhunderts, eben Stendhal oder Flaubert« und eingedenk der Forderung nach impassibilité des Letzteren optiert Mosebach für »die Meinungslosigkeit, Botschaftslosigkeit des echten Romans« sowie für die »große [...] Kunst der vollständige[n] Ratlosigkeit.«25 Dieses Programm einer ästhetischen Standpunktlosigkeit wird allerdings radikal durchbrochen, wenn es um weltanschauliche Fragen geht. Hier weicht der diskrete Charme von Mosebachs traditionalistischer Poetologie einer radikaleren Tonart. Auf weltanschaulichem Gebiet weitet er die Kampfzone aus und greift schließlich doch, wie im Folgenden gezeigt werden soll, mit dem Mittel der Provokation auch in die ›Hausapotheke‹ der verfemten Poeten. Auf der performativen Ebene mag sich das Dandyhafte der Selbstdarstellung Mosebachs ins regelmäßig getragene Einstecktuch verflüchtigen. Aber auch, wenn der Autor versichert: »Ich verbinde mit meinen Kleidern kein besonderes Programm. Ich bin einfach bei einem bestimmten Stil, den ich als sehr junger

22 Im Gefolge des kolumbianischen, radikal modernekritischen Philosophen Nicolás Dávila (1913-1994), der das Etikett ›reaktionär‹ für sich beansprucht, erläutert Mosebach: »Ich würde das Wort reaktionär dem Wort konservativ deshalb vorziehen, weil es mir mehr entspricht. Es ist weiter weg von konkreten politischen Programmen. Die wichtigste reaktionäre Einsicht besagt: Die Welt ist unreformierbar, es gibt keine Rezepte, die Welt zu heilen. Daraus ergibt sich notwendigerweise ein Abstand zur konkreten Politik des Tages.« (Unbeirrt vom Zeitgeist, S. 36). 23 Martin Mosebach, »Was ist katholische Literatur?«, in: ders., Schöne Literatur. Essays, München: Hanser 2006, S. 105-129, hier S. 117. 24 Ebd., S. 113. 25 Ein Gespräch mit Juli Zeh und Martin Mosebach, S. 198 und S. 197.

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Mann angenommen habe, geblieben«,26 so ist der Kleidungsstil doch auch eine Interpretationsvorgabe, setzt doch das Einstecktuch dem sich ins MaßvollBürgerliche einreihenden Anzug gleichsam ein seidenes Glanzlicht der Übererfüllung auf, das zugleich auch ein subtiles Zeichen des abweichenden Geschmacks ist. In diesem Zugleich von maßvoller Bürgerlichkeit und im Detail sich zeigenden Dandytum spiegelt sich auf performativer Ebene erneut Mosebachs hybrides, inszenatorisches Gesamtprogramm. »[D]er ›Reaktionär‹ des Gómez Dávila zieht es vor, unsichtbar zu sein« – das mag für die Poetologie Mosebachs gelten; »der ›Dandy‹ Baudelaires stieß den optimistisch liberalen Spießer vor den Kopf«27 – das gilt zweifellos genauso für die weltanschauliche Selbstinszenierung Mosebachs, wie seine Beobachtung der Provokationspolitik des einstecktuchbewehrten, irischen Prototyp des Dandytums leicht auch als ein Selbstkommentar gelesen werden kann: »Wilde achtete bei seinen Provokationen stets sorgfältig darauf, möglichst vielen Leuten auf einmal auf die Füße zu treten.«28 Wer Mosebachs Wortgefecht für einen traditionalistischen Katholizismus – wie er es in Sonderheit in seiner Streitschrift über die Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind führt – lediglich als die ästhetizistische Velleität einer an sich selbst gelangweilten Nachmodernität abtut, der überliest das weltanschauliche Credo des Autors. Gewiss, auch ästhetischer ennui ist mit im Spiel, etwa wenn er das nachkonziliare Erscheinungbild der Kirche ob seiner signifikanten Selbst-Verkleinbürgerlichung mit Hohn und Spott übergießt: »Der sprachliche Kitsch, der musikalische Kitsch, der Kitsch in Malerei und Architektur haben das Erscheinungsbild der öffentlichen Akte der Kirche vollkommen überflutet. Auf den Altären liegen beigefarbene Treviradecken wie auf Couchtischen, drei dicke Kerzen in handgetöpferten Tonschalen mit unappetitlich an Körpersekrete erinnernden Glasuren stehen in der einen Ecke, in der anderen schmückt ein nach den mißverstandenen Prinzipien des japanischen Ikebana geschaffenes Gesteck aus Wurzeln und Trockenblumen die Tischplatte, in deren Mitte sich statt eines Kreuzes das Mikrophon erhebt. Wo steht die Schale mit den Salzmandeln, fragt man sich […] Diese Betonhallen, diese Teppichböden, die Ledersessel am Altar […] – diese ganze Innenarchitekten-Solidität einer neuen oder restaurierten Kirche weiß nichts davon, daß der heilige Raum, der heilige Ort terribilis, schaudererregend, ehrfurchtgebietend ist und auch so aussehen muß.«29

26 Unbeirrt vom Zeitgeist, S. 34. 27 M. Mosebach, Liturgie ist Kunst, S. 103. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 116f.

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Aber Mosebachs Unbehagen ist nicht nur ästhetischer Art, oder, wie er es selbst an anderer Stelle formuliert: »Ästhetische Einsichten haben politische Konsequenzen.«30 Denn »wo das Häßliche sonst nur auf das Unwahre schließen läßt, bedeutet es im Bereich der Religion die Anwesenheit des Satanischen.«31 Mosebachs Weltsicht ist radikal manichäistisch und radikal ultramontan. Und politisch ist sie durchaus in einem eminenten Sinne, geht es Mosebach doch ganz im Sinne des von ihm verehrten Carl Schmitt um einen der Wesenszüge des Politischen: Um die, wie Schmitt im Begriff des Politischen ausführt, »Unterscheidung von Freund und Feind«, die den Sinn habe, »den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen«. Diese ziele auf zweierlei ab: auf die »seinsmäßige Negierung eines anderen Seins« und auf die »seinsmäßige Behauptung der eigenen Existenzform.«32 Kurzum oder anders gesagt: Mosebach meint es ernst. Er ist bereit und er weiß – anders als viele jener Kulturkritiker am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, bei deren konservativ-revolutionärer Semantik sich Mosebach bisweilen bedient – durchaus auch wozu. Und deshalb sollte man ihn auch ernst nehmen und abschließend zwei Fragen klären: Wofür steht die römische Liturgie im Denken Mosebachs und worin liegt ihr distinktives Potential, bzw. wer ist »ihr Feind«? Mosebachs Freund-Feind-Verortung rund um die römische Liturgie hat – neben der bereits angesprochenen ästhetischen a) – drei weitere Dimensionen: b) eine institutionelle, im Sinne Gehlens entlastende, c) eine metaphysische und eine d) geschichtsphilosophische Dimension. Ad a) Die römische Liturgie ist – hier bedient sich Mosebach der für ihn typischen Argumentationsfigur der Umkehrung – Religionskunst. Das, was man bis weit in die 1960er Jahre hinein an der Kunst wertschätzte – ihre Formvollendetheit, ihre unterstellte Unausschöpfbarkeit – reimportiert Mosebach zum Lob der Liturgie: Die Form der alten Liturgie »war so körperlich, so vollplastisch, daß sie die Feiernden daran hinderte, der Abstrahierung, Philosophierung, Historisierung und Soziologisierung des Glaubens, wie sie eine neue Theologie leistete, willig zu folgen.«33 Die Liturgie ist ein Bild, das – wie es das Konzil von Trient gefordert habe – »›nichts Unnützes oder Überflüssiges‹ enthalte, ein Bild,

30 Martin Mosebach, »Metropolis in bäuerlichem Land. Mein fantastisches und mein wirkliches Frankfurt«, in: Frankfurter Rundschau vom 18.01.2002, S. 19. 31 Martin Mosebach, »Ewige Steinzeit«, in: ders., Häresie, S. 7-18, hier S. 9. 32 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin: Duncker & Humblot 1963, S. 27, 33 und S. 50. 33 M. Mosebach, Liturgie ist Kunst, S. 103.

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das im Ganzen mehr ist als die Summe seiner Teile und deshalb angeschaut werden muß und niemals ganz verstanden werden kann.«34 Ad b) Neben diese ästhetische tritt nun eine im Sinne von Gehlens Institutionenlehre verhaltensentlastende Dimension »ein[es] solche[n] Institut[s], das Jahrtausende überdauert hat.«35 Institutionen sind Gehlen zufolge »dauernde und stationäre, den einzelnen Menschen übergreifende Gefüge«,36 die dem Menschen als instinktreduziertem und weltoffenen Wesen Entlastung im Rahmen eines grundsätzlich kontingenten Weltgeschehens verschaffen, indem sie für zeitliche Kontinuität und soziale Stabilität sorgen. Für Gehlen sind sie deshalb der Ort einer »höheren Art der Freiheit«:37 »Sich von den Institutionen konsumieren zu lassen gibt einen Weg zur Würde für jedermann frei.«38 Mosebach zufolge war die alte Liturgie – deren lebensphilosophisch unterfütterte »organisch[e], unbewußt[e], unbeabsichtigt[e]«39 Gewachsenheit gegen die Künstlichkeit der neuen ausgespielt wird – »eine Unterwerfung unter die Form, die jede Spur des Subjektiven auslöscht«. Die »Zerstörung der Selbstverständlichkeit der Liturgie« durch ihr Verbot zerstöre nun auch die Selbstverständlichkeit des Glaubens, denn: »Das ist Glaube: was wir selbstverständlich tun.«40 Diese verhaltensentlastende und glaubenssichernde Funktion der einstigen Institution – nach Mosebach gibt es »nichts Köstlicheres als ein von festen Gewohnheiten geprägtes Leben. […] Solche Gewohnheiten sind das Fundament der Kultur«41 – sei in der neuen Form »tot, wenn es zu ihrem Vollzug eines frommen und guten Priesters bedarf. Niemals darf es möglich sein, daß die Gläubigen die Liturgie als Leistung des Priesters betrachten.«42 34 Ebd., S. 111 und S. 110. 35 Paul Badde, »Trotzdem Halleluja. Der Romancier Martin Mosebach beklagt, dass die katholische Kirche ihre schöne, alte Liturgie verloren hat. Gespräch mit Martin Mosebach«, in: DIE WELT vom 21.12.2002, http://www.welt.de/print-welt/article308133/ Trotzdem-Halleluja.html, Zugriff: 31.08.2012. 36 Arnold Gehlen, Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, Frankfurt a.M.: Klostermann 1983, S. 379. 37 Ebd. 38 Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, 6. Auflage, Frankfurt a.M.: Klostermann 2004, S. 75. 39 M. Mosebach, Ewige Steinzeit, S. 18. 40 Martin Mosebach: »Liturgie – Die gelebte Religion«, in: ders., Häresie, S. 19-51, hier S. 23. 41 »Sind sie konservativ?« Martin Mosebach im Interview mit der Frankfurter Rundschau vom 21.07.2005. 42 M. Mosebach, Liturgie – Die gelebte Religion, S. 26.

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Ad c) ›So what?‹ könnte man als Laie an dieser Stelle möglicherweise einwenden, sähe Mosebach im Verbot und in der zeitweiligen »Verfolgung«43 des alten Ritus’ nicht ein Unglück von metaphysischen Ausmaßen, nämlich »die große historische und religiöse Katastrophe, die grundsätzliche Beschädigung der Brücke des Menschen zu Gott.«44 Denn für Mosebach konstituiert der römische Ritus eine gleichsam sakralzeitliche Entschleunigungsoase, in der allein immer wieder Lebens- und Weltzeit mit der Sakralzeit kurzgeschlossen werden können. Der Ritus steht »in einer sich unvorhersehbar und rasend ändernden Welt – als Gegenwelt, als Pol, den die Zeit umkreist«,45 und in ihm findet der kairos der historischen Weltenstunde – verstanden nicht als »Mythos«, sondern als »historisches Ereignis«46 – seine notwendige und stetig wiederholte Wiederanverwandlung: »In ihr [der Liturgie] wird die Zeit aufgehoben – die Zeit in der Liturgie ist eine andere, als die, die außerhalb der Kirchenmauern abläuft. Es ist die Zeit Golgathas, die Zeit des einzigen und einmaligen Opfers – ›hapax‹ –, und diese Zeit enthält alle Zeiten und keine.«47

Ad d) Wer aber ist nun der Feind eines solchen Offenbarungsgeschehens? Hier wird die geschichtsphilosophische Dimension von Mosebachs Wortgefecht deutlich. Sein Eintritt für die Liturgie mag in der Wahl des Anlasses idiosynkratisch sein, in ihrer geschichtsphilosophischen Dimension reiht sie sich – allerdings ins Katholische perspektiviert – ein in jenen »Aufstand gegen die sekundäre Welt«48 der Moderne, den die Kulturkritik schon seit Rousseau, Schiller und

43 Im Zuge einer distinktiven Inversion wird aus der Orthodoxie von gestern bei Mosebach die Häresie der Gegenwart: »Wir tun so, als wären dies [die Anhänger der römischen Liturgie, GK] einer Kümmerverfassung des Religiösen verfallene Halbheiden.« (Christian Schlüter, »Und wenn der Kirchturm umfällt.« Da hilft nur noch beten, aber auch in Latein? Ein römisch-katholisches Sprachspiel in Frankfurt, in: Frankfurter Rundschau vom 22.08.2007, S. 35). 44 M. Mosebach, Liturgie – Die gelebte Religion, S. 20. 45 »Martin Mosebach über die Lateinische Messe«, in: WELT ONLINE vom 18.01. 2007. 46 »Die Fleischwerdung Gottes ist kein Mythos. Die Christen verstehen sie als historisches Ereignis.« (Trotzdem Halleluja). 47 M. Mosebach, Liturgie – Die gelebte Religion, S. 26. 48 Botho Strauß, Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Anmerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit, München: Hanser 2004.

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der Aufklärungskritik der Romantiker, über Nietzsche und die konservativen Revolutionäre der Weimarer Republik bis hin zu Botho Strauß probt. Der »homo religiosus« Mosebachs, »der glaubt, durch sakrale Akte eine Verbindung zwischen Makro- und Mikrokosmos herstellen zu können«,49 kämpft gegen jene »kulturelle[…] Entwicklung des Westens, die den modernen, irreligiösen, rationalistischen, metaphysisch blinden Menschen hervorgebracht hat.«50 Allerdings wäre Mosebach kein guter Katholik, begänne seine Variante dieser Verfallsgeschichte nicht schon bei Luther. Beim »Radikalreaktionär Borchardt«, so Mosebach gewiss auch pro domo in seinem Essay über Rudolf Borchardt, verortet er »die Erkenntnis, Martin Luthers Sprachrevolution habe die deutsche Geschichte brutal von ihrer fruchtbarsten Epoche, dem Mittelalter, abgetrennt.«51 Von da an, so wird man mit Mosebach sagen dürfen, ging’s stetig bergab. Der »[u]nbezweifelbare Sieg« der politischen und industriellen Revolution im 18. Jahrhundert führe zu der »Ahnung, der Bruch mit der organischen Entwicklung des irdischen Menschenlebens sei wirklich irreversibel.«52 »Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war sie [die katholische Kirche, GK] nur noch in Verteidigungsposition. Der Zeitgeist war strikt gegen sie […] Auf die Revolutionen folgten die Enteignungswellen, die Herausdrängung aus dem laisierten Staat und die Verachtung der meisten Intellektuellen. Die großen totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts haben allesamt die Kirche verfolgt.«53

Die terroristischen Auswüchse der französischen Revolution und die genozidale Ostpolitik des Nationalsozialismus während des Zweiten Weltkrieges in einer Verfallslinie zusammenzuschalten, auch davor schreckt der esprit noir Mosebachs nicht zurück. Wie ein Kassiber platziert er diese Provokation – »zum Erschrecken der aufgeklärten Bourgeoisie«54 – ausgerechnet bei seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises. Hier zitiert Mosebach zunächst Büchners St. Just: »›Das Gelangen zu den einfachsten […] Grundsätzen hat Millionen das Leben gekostet, die auf dem Weg starben. Ist es nicht einfach, daß zu einer Zeit, wo der Gang der Geschichte rascher ist, auch mehr Menschen

49 M. Mosebach, Liturgie – Die gelebte Religion, S. 50. 50 Ebd. 51 Martin Mosebach, »Borchardt, der Ghibelline«, in: ders., Schöne Literatur, S. 39-51, hier S. 44. 52 Sind sie konservativ?. 53 Trotzdem Halleluja. 54 M. Mosebach, Was ist katholische Literatur?, S. 111.

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außer Atem geraten?‹«, um dann ein Zitat aus Himmlers Geheimrede in Posen 1943 anzuhängen: »›Wenn wir diesen Worten nun noch das Halbsätzchen einfügten: ›…dies erkannt zu haben, und dabei anständig geblieben zu sein…‹ dann wären wir unversehens einhundertfünfzig Jahre später, und nicht mehr in Paris, sondern in Posen.‹«55

Endgültig geschliffen wird die letzte Bastion der metaphysischen Verbindung zwischen Mensch und Gott – eben die römische Liturgie – aber dann schließlich erst während der »Welt-Kulturrevolution von 1968«, im Zuge »der innerkirchlichen 68er-Revolution.«56 Mosebach schreibt: »In Wahrheit ist 1968 ein Achsenjahr der Geschichte mit voneinander scheinbar vollkommen unabhängigen Anti-Traditionsbewegungen in der ganzen Welt. Ich bin aber davon überzeugt, dass man eines Tages, wenn erst genügend Abstand da ist, die chinesische Kulturrevolution und die römische Liturgiereform in einem engen Zusammenhang begreifen wird.«57

Dass Mosebach diese zeitgeschichtliche Achse für eine solche des Bösen hält, daran wird man nicht zweifeln dürfen. Dass gerade der bekennende ›Reaktionär‹ Martin Mosebach 2007 den Georg-Büchner-Preis erhält, mag man für eine jener 55 Das erste Zitat stammt aus Georg Büchner, Dantons Tod, in: ders.: Werke und Briefe, Münchner Ausgabe, hg. von Karl Pörnbacher/Gerhard Schaub/Hans-Joachim Simm/ Edda Ziegler, München 1988, S. 104. In Himmlers Rede heißt es: »Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – ›Das jüdische Volk wird ausgerottet‹, sagt ein jeder Parteigenosse‚ ›ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.‹ […] Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.« Zit. nach: Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (IMT, Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher, Nachdruck, München: Delphin Verlag 1989, Band 29: Urkunden und anderes Beweismaterial (Dokument 1919-PS), S. 145f). 56 Trotzdem Halleluja. 57 »Einblicke. Das deutsche Pontifikat. Interview mit Martin Mosebach«, in: VaticanSpezial, Mai 2010, S. 7f.

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Zusammenfälle des Gegensätzlichen halten, die der Theologe und Philosoph Nikolaus von Kues und mit ihm Mosebach selbst, als Wesensprinzip der coincidentia oppositorum, am katholischen Lehrgebäude so hervorheben. 58 Will man sich damit nicht zufrieden geben, so drängt sich allerdings die Frage auf, warum einem Autor, der »schon« – wie Michael Maar ebenfalls 2007 festhält – »in seinem ersten, 1983 erschienene Roman […] ganz der Alte ist«,59 also vor fast dreißig Jahren schon so schrieb, wie er heute noch schreibt, gerade in den vergangenen Jahren eine solche Resonanz widerfährt. Möglicherweise ist es so, dass – wenn es also nicht nur an den Texten Mosebachs selbst liegen kann – gerade die Mischung, die seine Inszenierungspraxis kennzeichnet, im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts auf verstärkte Aufnahmebereitschaft in der kulturraisonnierenden Öffentlichkeit stößt. In zweifacher Hinsicht nämlich liefert Mosebachs Selbstdarstellung jene Schlüsselreize, die für ein orientierungsappetentes Restbildungsbürgertum in Zeiten ästhetischer wie religiöser Ortlosigkeiten anschlussfähig sind: Seine traditionalistische, handwerksanaloge und gleichwohl Bildunsgesättigtheit ausstrahlende Poetologie mag Balsam und Genesungsparadigma zugleich sein für jene professionellen Kulturverwalter, die in Zeiten des PISA-Schocks den stetigen Sprach- und Bildungsverfall der nachwachsenden Generationen befürchten. Es gibt sie eben doch noch, die guten Kunstwerke. Dass Mosebach zudem in religiösen Belangen fundamentalistische Ecken und Kanten, kurzum: ein wiedererkennbares Profil, zeigt, mag einigen ein wenig zu ›steil‹ erscheinen. Nicht wenige mögen in Mosebachs »Avantgardismus der Tradition« aber auch den Akt einer kulturkritischen, religiösen Selbstvergewisserung sehen oder den Akt einer Selbstvergewisserung über die eigenen, wie Mosebach stets betont: europäischen Wurzeln, die im Nachschatten des 11. Septembers dringend geboten sei, um sich im befürchteten »Kampf der Kulturen«60 zumindest religiös zu reimmunisieren.

58 Vgl. M. Mosebach, Was ist katholische Literatur?, S. 113. 59 Michael Maar, »Dieses schon-fertig-Sein im Moment der Entstehung«, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste, Jahrbuch 21 (2007), Göttingen: Wallstein 2008, S. 189-196, hier S. 189. 60 Samuel Phillips Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München: Goldmann 2002.

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IV. S TART , ABSTURZ , N EUSTART : S TUCKRAD -B ARRES I NSZENIERUNGSSTRATEGIEN IM Z EICHEN DER P OPMUSIK Distinktionssignale in Richtung der 1968er-Bewegung spielen bekanntlich auch im Rahmen der Popliteratur eine gewichtige Rolle. Die ostentative Bejahung der Oberfläche, das Sich-Einschreiben in popkulturelle Verweisungszusammenhänge wie überhaupt der Wille zu einer marktbezogenen Selbstdarstellung sind immer zugleich – wenn auch nicht so fundamentalistisch eingedunkelt wie bei Mosebach – auch adressiert häretische Brüche mit jenen Authentizitätsvorstellungen, die man mit der Generation der 68er assoziiert. Dass Inszenierungspraktiken gerade in der Popliteratur im Allgemeinen und für Benjamin von StuckradBarre im Besonderen eine herausragende Rolle spielen, haben Feuilleton wie Forschung zwar durchaus erkannt und teils gelobt, teils (oder eher mehrheitlich) kritisiert. Gleichwohl sind die pophistorischen Verweisungszusammenhänge, in denen diese Inszenierungspraktiken stehen, bislang nicht angemessen berücksichtigt worden. Erst der Blick auf diese Zusammenhänge, so unsere These, ermöglicht eine präzise Rekonstruktion seines Weges durch das literarische Feld. Und über den Einzelfall ›Stuckrad-Barre‹ hinaus zeichnen sich dabei geradezu idealtypisch zwei zentrale Praktiken ab, die die Literaturgeschichte der Autorinszenierungen insgesamt prägen: Distinktion und Neupositionierung. 61 Stuckrad-Barres Karriereauftakt steht ganz im Zeichen der Popmusik: zum einen insofern, als dass der Protagonist von Soloalbum ein Musikfan und journalist ist, der alle Lebenslagen durch den Rekurs auf Popsongs kommentiert, versteht und zu verarbeiten versucht. Zum anderen, und darauf werden wir uns im Folgenden konzentrieren, als dass der Text über seine paratextuelle Rahmung als literarisches Analogon zu einer ›Tonscheibe‹ (sei es eine Schallplatte oder eine CD) entworfen ist und seinen Autor damit als Popstar inszeniert. Diese über den Paratext etablierte intermediale Analogie setzt gleich mit dem cover des Buches und dem Titel ein: Dieser prangt nämlich vor der unscharfen Silhouette einer Tonscheibe und fasst den Roman in einem Begriff aus dem popmusikalischen Bezugssystem zusammen, der dem entsprechend sozialisierten Rezipienten leicht erkennbar seinen Inhalt verrät: Offenkundig wird es um einen Erzähler gehen, der sein Leben nach einer Trennung als Soloprojekt verfolgt, so wie ein

61 Im weiteren Gang der Argumentation folgen wir Überlegungen unseres Beitrags: »›White Album/Blackbox‹. Popkulturelle Inszenierungsstrategien bei den Beatles und Stuckrad-Barre«, in: Literatur im Unterricht 1 (2011), S. 17-38, der sich wesentlich einlässlicher mit der Beziehung zwischen Stuckrad-Barre und The Beatles beschäftigt.

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Musiker nach der Trennung von seiner Band ein Soloalbum veröffentlicht. Der Klappentext führt diese Analogie-Relationen fort, indem er die popmusikalische Terminologie in Bezug auf das Leben des Protagonisten weiter auffächert und überdies auf den Autor überträgt: »Der Ich-Erzähler, gerade mal Anfang zwanzig, ist soeben von seiner Freundin verlassen worden; […]. Trotz verschiedener ›Soloprojekte‹ in der gemeinsamen Zeit, trotz der gelegentlichen Gastrolle auf einer Single, sozusagen, fühlt sich der Erzähler schlecht wie lange nicht […]. Das alte Lied vom Lieben und Sterben, von sterbender Liebe (und unsterblichen Popstars) kehrt in der Version von Benjamin v. Stuckrad-Barre in die Charts der Gegenwartsliteratur zurück.«62

Das Inhaltsverzeichnis greift dann die stilisierte Tonscheibe des covers auf und führt auf einer A- und einer B-Seite die jeweils 14 Kapitel der beiden Seiten an, die allesamt nach Songs der Britpopband Oasis benannt sind, der Lieblingsband des Erzählers. Neben den Seitenzahlen schließlich sind solche icons angebracht, die im CD-Player die Optionen ›fast forward‹ und ›fast backward‹ markieren und im Zusammenspiel mit den Kapiteltiteln die Analogisierung des Buches mit einer ›Platte‹ über die Schwelle des Paratextes ins Buchinnere führen. Während die Erzählstruktur des Textes eher konventionell gebaut ist und keine Formanleihen bei der Popmusik macht, wie dies charakteristisch für den sogenannten ›Suhrkamp-Pop‹ von Autoren wie Rainald Goetz oder Thomas Neumeister ist,63 adaptiert der Paratext folglich Begriffe und Strukturen der Popindustrie auf innovative Weise. Die weitere Geschichte ist bekannt: Stuckrad-Barres ›Debütalbum‹ schoss tatsächlich direkt in die Charts der Gegenwartsliteratur, er avancierte über Nacht zum gleichermaßen vom seriösen Feuilleton angefeindeten wie von jugendlichen 62 Benjamin von Stuckrad-Barre, Soloalbum, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998. 63 Goetz beispielsweise geht in Rave der Frage nach, wie »ein Text klingen« müsse, »der von unserem Leben handelt«, und präsentiert als Antwort eine Aneinanderreihung scheinbar zusammenhangloser Textsequenzen, die sich als Äquivalent zur Syntax der Musikmaschine lesen lassen (Rainald Goetz, Rave, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 32). Und Thomas Neumeister erzählt in Gut laut (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001) aus der Perspektive eines musikbesessenen »Kettenhörer[s]«, der popmusikalische Verfahren insofern adaptiert, als er Versatzstücke der Gegenwart im Stile eines ›TextJockeys‹ mixed und sampled. Vgl. hierzu Ingo Irsigler, »›Music makes the world go sound‹ – Die Adaption popmusikalischer Verfahren in der neueren deutschen Popliteratur«, in: Jan-Oliver Decker/Hans Krah (Hg.), Erzählstile in Literatur und Film, Tübingen: Stauffenberg 2008, S. 93-107.

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Lesern gefeierten ›Popstar‹ der Literatur und münzte dieses distinktionsstrategische Image in der Folgezeit konsequent aus. Nur folgerichtig erscheint, dass Stuckrad-Barre die textuelle Selbstinszenierung zunächst performativ ausagierte: Er ging auf ›Tour‹. Ebenfalls folgerichtig ist, dass ›Mitschnitte‹ dieser Tour bald in Form eines Livealbum[s] vorgelegt wurden, dessen Paratext analog zu demjenigen von Soloalbum organisiert ist. Somit verfolgt Stuckrad-Barre eine geradezu klassische Marketingstrategie, indem er mittels einer Wiederholung der Verbindung des Autornamens ›Stuckrad-Barre‹ mit einer auf die Popmusik referierenden Titelgebung ein leicht zu identifizierendes Label etabliert.64 Auch das cover von Livealbum referiert wieder auf ein Pop-Phänomen, in diesem Fall – passend zum Inhalt des Bandes – auf das Phänomen ›Fan‹. Abgebildet ist auf dem Buchumschlag nämlich eine Gruppe gespannt wartender, auf eine nicht im Bildbereich liegende Bühne blickender Fans. Und kohärent ist in diesem Zusammenhang, dass die einzelnen Kapitel von Show # 1 bis Show # 12 durchnummeriert sind, ergänzt von drei Kapiteltiteln, die ebenfalls dem popmusikalischen Kontext entlehnt sind: Break-Beat (ein Musikstil), Day Off (ein Tag Ruhepause während der Tournee) und Big in Bangkok (eine Anspielung auf den Song Big in Japan der Band Alphaville). Dass diese ›Tour‹ mit traditionellen Lesereisen tatsächlich wenig gemein hatte und stattdessen vorrangig den Inszenierungskonventionen der Popmusik folgte, sprechen eine Vielzahl der selbstreflexiven Passagen in Livealbum in wünschenswerter Klarheit aus. So benennt Stuckrad-Barre ausdrücklich die Orientierung seiner ›Performances‹ an den Organisationsprinzipien von Popmusikkonzerten: »Musiker notieren die geplante Songreihenfolge für einen Live-Auftritt auf einer Setlist: einen Knaller zu Beginn, ganz wichtig, damit die Menschen gleich dabei sind, vor allem auch begeistert genug, im Anschluß Unbekanntes zu hören und zu mögen. Denn es gibt auch wichtige Stücke, die KEINE Hits sind. Beim Erstellen einer Setlist ist darauf zu achten, die Hits gut zu portionieren. Den größten im Zugabenblock, um allzu großen frühzeitigen Abwanderungsbewegungen vorzubeugen.«65

Zeitgleich mit Livealbum erschien schließlich eine Remix betitelte Sammlung journalistischer Texte aus den Jahren 1996-1999, mit der sich die Adaption eines 64 Vgl. hierzu Dirk Niefanger, »Der Autor und sein Label. Überlegungen zur ›fonction classificatoire‹ Foucaults (mit Fallstudien zu Langbehn und Kracauer)«, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart: Stauffenberg 2002, S. 521-539. 65 Benjamin von Stuckrad-Barre, Livealbum, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999, S. 90f.

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popmusikalischen Verwertungskreislaufs gewissermaßen rundet. Der wiederum den Autornamen mit einer Genrebezeichnung der Popmusik verbindende Titel Remix verweist auf das gängige Prinzip der ökonomischen Verwertung von Erfolgsalben, dessen Hits neu gemischt noch einmal auf den Markt gebracht werden. Der Klappentext erläutert dazu, dass die einzelnen Stücke des Bandes zwar zum »Teil [...] schon in Magazinen und Zeitungen zu lesen« waren, doch: »›Remix‹ heißt natürlich: Texte nicht bloß zweitverwertet, sondern überarbeitet, nachgebessert (Sound! Rhythmus! Refrains!), entaktualisiert (fein gemacht für die Ewigkeit!), geschliffen, veredelt. Gestraffte Single-edits und angereicherte Maxi-Versionen machen ›Remix‹ zu einer kompakten Best-of-Sammlung […].«66

Damit war das von der Popindustrie geborgte Inszenierungsrepertoire einmal durchgespielt und hätte nur noch wiederholt werden können. Und so gut wie der Volksmund weiß der inszenierungspraxeologische Virtuose, dass man gehen soll, wenn es am schönsten ist. Am schönsten, oder sachlicher: am resonanzträchtigsten war dann das mittlerweile legendäre Gespräch zur ›Lage der Nation‹, das Stuckrad-Barre am 30. April 1999 mit seinen popliterarischen Bündnisgenossen Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Joachim Bessing im Berliner Luxushotel Adlon führte und kurz danach unter dem zugleich ironischen und selbstbewussten Titel Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit einem Bild der ›Band‹ auf dem hinteren Umschlag veröffentlichte. Im Sinne der Werbeweisheit, derzufolge auch schlechte Publicity gute Publicity ist, ging das resonanzstrategische Kalkül voll auf: Die taz beispielsweise summierte gehässig, Tristesse Royale sei eines der »am meisten verrissenen Bücher der deutschen Sprache«.67 Die Kehrseite dieses Erfolgs war allerdings, um mit einem früheren ›Popstar‹ der deutschen Literatur zu sprechen, dass sie die Geister, die sie riefen, nicht mehr loswurden: Das Image war nun endgültig festgeschrieben, das Feuilleton reagierte zunehmend genervt und stereotyp, und vergleichbar hohe Resonanzgewinne hätten sich durch eine Fortschreibung dieses Konzepts von Autorschaft nicht erzielen lassen. Notwendig wurde daher, marketingstrategisch formuliert, ein Re-Modeling: Nach Tristesse Royale liefen die Inszenierungsweisen des Brat Packs auseinander – denn, wie Stuckrad-Barre auf die Frage eines Interviewers nach künftigen Gemeinschaftsprojekten antwortete: »Wir sind ja nicht die Rolling Stones.«68 Christian 66 Benjamin von Stuckrad-Barre, Remix. Texte 1996-1999, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1999. 67 Gerrit Bartels, »Denn sie wissen, was sie tun«, in: taz vom 23.11.1999. 68 Heiko Rauber, »Der Aufsteiger (Interview mit Stuckrad-Barre)«, in: GQ 9 (2000).

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Kracht veröffentlichte seine hermetische Revolutionsparabel 1979 und gibt seither die Sphinx der deutschen Gegenwartsliteratur – und Stuckrad-Barre brachte Blackbox69 heraus. Ein großer Teil der Literaturkritik reagierte auf Blackbox mit den mittlerweile topischen Vorwürfen gegen die Neue Deutsche Popliteratur, monierte also die Oberflächlichkeit des Autors wie seines Textes und resümierte, hier werde nur eine weitere Variante des bekannten popliterarischen Programms inszeniert. »Alles wie gehabt«,70 setzt etwa die Besprechung des Erzählbandes in Profil ein und bündelt damit die Haltung dieser Kritiker-Fraktion. Einige Rezensenten bemerkten immerhin eine Veränderung der Poetik und, damit verbunden, den Versuch eines Imagewechsels: »Benjamin von Stuckrad-Barre will jetzt ernst genommen werden, und zwar als Literat«, meinte etwa die Süddeutsche Zeitung im Rückgriff auf die traditionsmächtige Dichotomie zwischen hoher und niederer Literatur erkannt zu haben, und spürte seinen »sehnsüchtigen Versuch, mit der eigenen Schreibtradition zu brechen«.71 Ebenfalls in diesem Sinne, aber weniger spöttisch fasste Szene Hamburg zusammen: »Das erste ›richtige‹ Stuckrad-Barre-Buch. Literatur also, mit ganz wenig Pop davor.«72 Doch auch diesen Kritikern fehlten gewissermaßen die Koordinaten, um den Programmwechsel genau nachzeichnen und die neue Position Stuckrad-Barres verorten zu können. Die Literaturwissenschaft konstatierte dann immerhin, dass Blackbox »lediglich das Bezugsmedium« wechselt und mit ihm die »Symbolik von Popmusik zu Computer. Die konkrete Durchführung ließe sich nach dem Vorbild von Soloalbum fast schon simulieren.«73 In der Tat verfährt ein Teil des Paratextes konsequent strukturhomolog zu Soloalbum, nur unter Bezug auf ein anderes mediales Referenzsystem: das Medium Computer. Das Inhaltsverzeichnis von Blackbox wird nämlich nicht als ›Platte‹ präsentiert, sondern als WindowsDateileiste mit solchen icons neben den Kapiteltiteln, die im Computermenü für das ›Anklicken‹ der jeweiligen Datei stehen. Überdies sind die Kapiteltitel dem 69 Benjamin von Stuckrad-Barre, Blackbox. Unerwartete Systemfehler, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2000. 70 Wolfgang Paterno, »Zorn-Oden«, in: Profil vom 18.09.2000. 71 Tobias Timm, »Fehler mit System. ›Blackbox‹ – Benjamin von Stuckrad-Barre will literarisch werden«, in: Süddeutsche Zeitung vom 28.08.2000. 72 Thorsten Bathe, »Blackbox. Benjamin von Stuckrad-Barre geht auf Sinnsuche«, in: Szene Hamburg 10 (2000). 73 Rolf Parr, »Literatur als literarisches (Medien-)Leben. Biografisches Erzählen in der neueren deutschen ›Pop‹-Literatur«, in: Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher (Hg.), Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg: Synchron 2004, S. 183-200, hier S. 186.

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PC-Jargon entlehnt und lauten unter anderem »herunterfahren«, »strg s« oder »soundfiles«. Der Paratext erschöpft sich aber nicht in dem Bezug auf dieses System, sondern verschaltet es mit der Referenz auf ein weiteres Speichermedium: die titelgebende Blackbox. Dass mit diesem »unmusikalische[n] Titel« auf das Gerät angespielt wird, auf dem alle Flugdaten aufgezeichnet werden und das nach einem Absturz Aufschluss über die Ursachen geben kann, verdeutlicht die vordere Klappentextlasche, in der eine solche Aufzeichnung notiert ist: » – – Was ist hier los? – – Was geht hier vor? Hilf mir! – – Zieh mit mir! – – Letzte Worte von Flugkapitän Ahmed al-Habashi (31.10.1999) an Bord der EA 990 New York > Kairo, aufgezeichnet vom Voicerecorder um 01 Uhr 50.15.«

Schließlich findet sich im Buchinneren ein Daumenkino, das – je nach Richtung des Blätterns – ein aufsteigendes oder abstürzendes Flugzeug zeigt. Angedeutet ist damit im Paratext erstens, dass es im Buch um Abstürze welcher Art auch immer geht, sowie zweitens, dass das Referenzsystem ›Popmusik‹ von anderen Bezugsgrößen abgelöst bzw. das mediale Bezugssystem zumindest erweitert ist. Ist Blackbox also tatsächlich ›Literatur mit ganz wenig Pop davor‹? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Blick zurück auf eines der massenwirksamsten und nachhaltigsten Pop-Phänomene des 20. Jahrhunderts notwendig, und zwar ein Rückblick auf den Imagewandel, den die Beatles im Zuge der Veröffentlichung der beiden Alben Sgt. Peppers’s Lonely Hearts Club Band (1967) und The Beatles (1968) in Szene setzten. Die Vorgeschichte dieses Imagewandels gehört mittlerweile wohl zum festen Bestandteil eines kollektiven Pop-Gedächtnisses: Ermüdet und verschlissen von der massenmedial erzeugten und nahezu weltweit wirksamen ›Beatlemania‹, beschließt die Gruppe nach einem Konzert im Candlestick Park von San Francisco am 29. August 1966 ihre Karriere als LiveBand zu beenden. Die aufmerksamkeitsökonomisch justierten Funktionsmechanismen des (populär)kulturellen Feldes bedingen es allerdings, dass auch einem solchen Teilrückzug aus der Öffentlichkeit ein Öffentlichkeitsbezug eignet: Man entzieht sich der Öffentlichkeit, verweigert sich einem Teil ihrer bisherigen Ansprüche und Erwartungen und lässt sich dabei von ihr beobachten. Demgemäß wird auch die mit Rubber Soul (1965) einsetzende und nun massiv forcierte Verkunstung der Beatles, d.h. ihre Transformation »von einer untypisch einfallsreichen Schlagercombo zu einer ästhetisch reflektierten und anspruchsvollen Gruppe von Komponisten, Textern und Musikern«,74 nicht nur musikalisch und textlich ins Werk gesetzt. Die gesteigerte Komplexität, die die Spätphase der 74 Walter Grasskamp, Das Cover von Sgt. Pepper. Eine Momentaufnahme der Popkultur, Berlin: Wagenbach 2004, S. 20.

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Beatles kennzeichnet, wird nämlich im wahren Sinne des Wortes ›verpackt‹ in einen Imagewandel, der gleichsam para-musikalisch, d.h. hier vor allem durch die Gestaltung der entsprechenden Album-sleeves, inszeniert wird. Das Besondere der ›Verpackung‹ des Wandels der Beatles – dies zeigt ein genauerer Blick auf die Hüllen von Sgt. Pepper’s und The Beatles – liegt darin, dass sie die Band als eine Gruppe inszeniert, die sich zwar ironisch von den Regeln des Pops distanziert, ohne indes mit ihnen zu brechen. Die Beatles beliefern mithin jenen Markt, dessen jahrelange Bedienung ihre Selbstverkunstung seit 1966 erst ermöglicht, ohne sich ihm auszuliefern. Für das Sgt. Pepper’s-Album – schon dies allein mag als Ausdruck der künstlerischen Ambitionen der Beatles Ende 1966 erscheinen – verbringt die Band die für damalige Produktionsstandards geradezu aberwitzig lang anmutende Zeit von sechs Monaten in den Abbey Road-Studios.75 Den auf musikalischer wie textlicher Ebene allenthalben erhobenen (und hier nicht weiter zu erörternden)76 Anspruch des Albums, mehr zu sein als nur eine letztlich beliebige Sammlung von möglichst radiotauglichen hits, nämlich ein ambitioniertes und in seiner Konzeption reflektiertes Kunstwerk, dokumentiert auch und gerade seine ›Verpackung‹. So sind etwa auf der Rückseite des sleeves sämtliche Texte des Albums abgedruckt, womit Lese- und damit Literaturansprüche geltend gemacht werden. Vor allem aber macht das vom britischen Pop-Art-Künstler Peter Blake gestaltete cover den Imagewandel der Band selbst zum Thema. Wie in einer Momentaufnahme illustriert es die doppelte Optik der ›neuen‹ Beatles, ihren Anspruch auf eine Form der Selbstverkunstung, die im Bereich des Populären verbleibt: Die Beatles posieren in Fantasieuniformen als Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, neben sich sie selbst in der in Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett eingegangenen, 1967 also schon historisch gewordenen und nun zu überwindenden moptop-Imagevariante, hinter sich eine Gruppe scheinbar wahl75 »The Beatles’ music«, so Mark Lewisohn in seinen liner notes im Beiheft zur digital neu aufbearbeiteten Ausgabe des Albums, »progressed in a most tangible way with each record they made. Even so, when it came to the time invested in the making of Sgt. Pepper – all the way from November, 1966 to April, 1967 – it seemed a ridiculously long period in which to make an album. ›What on earth are they up to?‹, people wondered« (Beiheft zu The Beatles, 2009 [1967], Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, o. S.). In den recording notes des gleichen Beiheftes wird noch einmal ausdrücklich auf die zeitliche Investition und ihren kunstindikatorischen Effekt verwiesen: »Their experimental and painstaking approach meant that it took nearly 400 hours to complete the LP – an astonishing amount of work for an album at that time«. 76 Zum textlichen wie musikalischen Innovations- und Distinktionspotentials des Albums siehe etwa Peter Kemper, The Beatles, Stuttgart: Reclam 2007, S. 84-89.

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los zusammengestellter Größen aus Wissenschaft, Musik, Literatur, Sport und Film. Der semantische Verweisungshorizont des Arrangements ist ein doppelter: Behauptet wird erstens die ›Neuerfindung‹ der Band, die sich in ihren neuen alter egos, d.h. als Band der ›einsamen Herzen‹, von den alten Erwartungen und Ansprüchen der Fans und der Industrie an ihre bisherige Identitätsvariante ironisch distanziert und befreit, um künstlerisch innovativere Wege beschreiten zu können. Aber zugleich und zweitens illustriert das cover, dass sich dieser Befreiungsakt gegenüber den Zurichtungen der Kulturindustrie durchaus innerhalb der Kulturindustrie vollzieht. Indem es die Beatles als Band der ›einsamen Herzen‹ einordnet in eine Schar und in einen Kanon von Vorbildern (und potenziellen Zuhörern) aus Wissenschaft, Kunst und Unterhaltung, deren Spektrum die Grenzen zwischen Hoch- und Massenkultur dezidiert missachtet, rückt das cover die Distanzierungsgeste der Selbsterneuerung ein in den Kontext einer zeitgenössischen Forderung nach einer Revision des kulturellen Kanons. Gemeint ist damit jene von der Pop-Art und ihrer künstlerischen Adelung des Trivialen, Alltäglichen und Unterhaltsamen längst betriebene, von Leslie Fiedlerdann 1969 im Playboy auf den Begriff gebrachte Kanonrevision,77 die die »Demarkationslinie zwischen Hochkunst und Massenware«78 ignoriert und die für die Akteure der Populärkultur die gleiche Achtung und Aufmerksamkeit einfordert wie für die in traditioneller Weise kanonisierten Heroen der Hochkultur. Diese Strategie der Selbstverkunstung im Populären findet eine intensivierte Fortsetzung in der ›Verpackung‹ jenes 1968 erscheinenden Beatles-Doppelalbums, dessen eigentlicher, ebenso schlichter wie Bedeutsamkeit anzeigender Titel relativ schnell durch die vom Pop-Art-Künstler Richard Hamilton gestaltete Verpackungsweise außer Kurs gerät: aus The Beatles wird das White Album, das ›Weiße Album‹. Plakativer noch als beim Sgt. Pepper-Album fällt hier sowohl die kunstanzeigende Verweigerungsgeste als auch deren Zurücknahme aus. Auf der LP exerzieren die Beatles ein selbst für ihre Verhältnisse äußerst heterogenes Nebeneinander von Stilen durch, vom Kinderlied über Country bis zu Hardrock und experimentellen Soundcollagen. Das vollständig in Weiß gehaltene cover weist allerdings bei näherer Betrachtung in der Mitte den in Blindprägung und wie beiläufig angeschrägt platzierten Titel »The Beatles« sowie rechts unten eine 77 Leslie Fiedler, »Cross the Border, Close the Gap«, in: Playboy, Dezember 1969, S. 151, 230 und S. 252-258. Der Text wurde zunächst im Juni 1968 bei einem Symposium in Freiburg vorgetragen. Wiederveröffentlicht u.a. als Leslie Fiedler, »Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin: Akademie Verlag 1988, S. 57-74. 78 W. Grasskamp, Das Cover von Sgt. Pepper, S. 30.

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fortlaufend aufgedruckte Seriennummer des jeweiligen Exemplars auf. Die Innenhülle listet auf der linken Seite die Titel der Kompositionen auf und präsentiert auf der rechten Seite vier Einzelportraits der Musiker. Dass die Musiker hier einzeln und nicht als Gruppe porträtiert werden, mag durchaus auch als Indikator für den sich seit 1968 beschleunigenden Zerfallsprozess der Band gelesen werden. Doch zurück zur Außenhülle. »I proposed to Paul McCartney that he should have a white sleeve to the new album«, erinnert sich Richard Hamilton, »because sleeves in general were getting a bit hyperactive, especially Sergeant Pepper.«79 Hamilton blendet hier vor allem den auf die Produkte der Band bezogenen, ›verpackungs‹-geschichtlichen Distinktionseffekt der Hüllengestaltung ein. Und mehr noch: Jene an die Kulturindustrie und an die Fans adressierte Verweigerung, in den Bahnen eines einmal eingeschliffenen Images etablierte Erwartungen zu erfüllen, wird hier zunächst noch radikalisiert. Das cover des ›Weißen Albums‹ inszeniert in aufmerksamkeitsträchtiger Weise die völlige Bildverweigerung und konterkariert damit sowohl die gesichts- bzw. personenfokussierten Distributionsrituale der Popindustrie, als auch die Erwartungen der Fans. Das fanbezogene Desillusionierungspotenzial der Hülle wird durch die aufgedruckte Seriennummer noch potenziert. Missversteht man sie nicht als Insignie einer Exklusivität suggerierenden Limitationspraxis (was angesichts der Auflagenzahl der in Umlauf gebrachten LP’s kaum nahe liegt), dann enthüllt die aufgedruckte Nummer gleichsam ungefiltert die Warenförmigkeit des Kunstproduktes, das der Fan käuflich erworben hat und nun in den Händen hält. Diese zur Schau gestellte Produkthaftigkeit bricht nachhaltig gerade mit jenen ungeschriebenen Regeln der Popkultur, die das Verhältnis zwischen Produzent und Rezipient, zwischen Star und Fan als eine Projektionsfläche für Individualitätssehnsüchte inszeniert. Die Seriennummer legt die Warenförmigkeit des populärkulturellen Verwertungskreislaufs offen und macht aus dem Fan, der eine individuelle Ansprache imaginiert, einen nummerierbaren Kunden unter Millionen. Man muss dies – zumindest aus der Perspektive der Beatles – nicht notwendigerweise als reine Kritik an der Kulturindustrie lesen, sondern man kann es auch als ein Bekenntnis zu ihr durch demonstrative Offenlegung ihrer Funktionsmechanismen begreifen. Bezeichnend für die doppelte Optik der Beatles-Inszenierung ist allerdings, dass auch die radikale Bildverweigerung und Durchkreuzung von Individualisierungsansprüchen im Rahmen der Hüllengestaltung des ›Weißen Albums‹ wieder zurückgenommen werden. Was die Außenseite des sleeves vehement verweigert, jegliches Zugeständnis an die Fan-Ikonografie, liefert dann sein Inneres nämlich umso umstandsloser: Findet der Fan doch dort als Beilage und 79 Zit. nach W. Grasskamp, Das Cover von Sgt. Pepper, S. 69.

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als Konzession an die populärkulturellen Bedürfnisse vier einzelne, aufwändig gedruckte Farbfotografien der Musiker in DIN-A4 Größe. Vom Inneren des Albums aus also darf sich dann der Fan schließlich doch wieder ein Bildnis machen von jenen Akteuren, deren Kunstprodukt sich auf seinem Plattenteller dreht. Kennzeichnend für die Inszenierung um das ›Weiße Album‹ ist folglich ein Spiel von Verweigerung und Präsenz, eine Distanzierung vom Pop, ohne mit seinen Regeln grundlegend zu brechen. An dieses popkulturelle Spiel also knüpft Stuckrad-Barre an: Blackbox ist sein ›Weißes Album‹. Denn der Umschlag des Buches ist zwar schwarz und nicht weiß, aber einfarbige Umschläge referieren notwendig auf das berühmteste monochrome cover der Populärkultur – und die Popmusikgeschichte hat eine veritable Zitat-Tradition zum cover vom ›Weißen Album‹ herausgebildet, die derjenigen zum sleeve von Sgt. Pepper kaum nachsteht. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Prince’ schon lange vor seiner Veröffentlichung sagenumwobenes Black Album (1994), das mittels dieser Anspielung seinen Rang als Gipfelpunkt der Black Music behauptet, oder an das analog zum Vorbild schlicht Tocotronic betitelte, bis auf den Namenszug auf dem vorderen sleeve ganz in weiß gehaltene Album der Diskurspopper aus dem Jahr 2002, mit dem ein Wechsel sowohl der Bandinszenierung als auch des musikalischen Konzepts eingeleitet wurde. Eine solche Bezugnahme liegt nun offenkundig auch mit Stuckrad-Barres Blackbox vor, der sein Werk damit in doppelter Hinsicht in einen popmusikalischen Referenzrahmen stellt: zum einen insofern, als er auf ein Werk der Popmusik referiert, und zum anderen insofern, als er sich in eine spezifisch pophistorische Zitat-Tradition einschreibt. Kurzum: Blackbox ist Literatur, aber mit ganz viel Pop davor. Grundsätzlich angezeigt wird durch die vordere Umschlagseite von Blackbox, die wie das ›Weiße Album‹ den Titel in Blindprägung präsentiert, also ein Imagewandel, allerdings keiner, der auf das ›Prinzip Pop‹ verzichten würde. Vielmehr inszeniert Stuckrad-Barre mittels der Beatles-Referenz eine Form der Selbstverkunstung, die sich gerade der Mittel des Pops bedient. Mit Blick auf unsere Überlegungen zum ›Weißen Album‹ formuliert: In (eigentlich) äußerst aufmerksamkeitsstiftender Weise inszeniert das cover von Blackbox eine radikale, kunstindizierende Bildverweigerung und bedient sich der für die Popindustrie charakteristischen Strategien der Aufmerksamkeitserzeugung. Der Klappentext sekundiert sich von den popindustriellen Distributionsverfahren distanzierenden Kunstbehauptung, indem er auf die formale Virtuosität des Autors hinweist: »So unterschiedlich die Themen sind, so unterschiedlich sind die Textformen, die der Autor benutzt: Protokolle, Erzählungen, Märchen, Gedichte, Dialoge, ein

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Dramolett«.80 Auch dies lässt sich als Analogie zum ›Weißen Album‹ lesen, das sich ja wesentlich durch die Vielfalt seiner musikalischen Stile auszeichnet. Darüber hinaus entkräftet der Klappentext prophylaktisch den Vorwurf der egomanischen Selbstbezüglichkeit dadurch, dass er das diesmal heterogene Personal des Bandes – u.a. eine Schauspielerin, einen Rockmusiker, einen Existenzgründer, einen Straßenhändler und einen Fremdenführer – aufführt. Wie das ›Weiße Album‹ tritt Blackbox dem Leser also mit einer kunstanzeigenden Verweigerungsgeste entgegen, und wie die Beatles nimmt StuckradBarre diese Verweigerung teilweise wieder zurück: So führt die hintere Umschlagseite die Termine der Lesereise im Stile einer Konzerttournee auf, zudem finden sich in der hinteren Klappentextlasche bezeichnenderweise vier künstlerisch verunschärfte Aufnahmen des lässig rauchendne Autors. Mit Blick auf die Einzelporträts im Innenteil des ›Weißen Albums‹ ließe sich dies wie folgt deuten: nach dem ›Absturz‹ der Band ›Tristesse Royale‹ gibt es kein Gruppenporträt mehr, sondern Einzelporträts des Autors. Und im zentralen Kapitel speichern unter: krankenakte dankeanke tritt der fiktionale Wiedergänger seines Autors ausdrücklich als ›Popautor‹ auf – eine textinterne Selbstinszenierung, die sich ironisch von den medialen Zurichtungen distanziert und zugleich den Skandalwert seiner Beziehung zu Anke Engelke aufmerksamkeitsökonomisch geschickt nutzt; keine Rezension kam umhin, die Beziehung zwischen Anke Engelke und Stuckrad-Barre ausführlich zu thematisieren.81 Stuckrad-Barres Arbeit am Image zielt dementsprechend einerseits auf eine Neukonturierung seines Autor-Bildes ab, sichert andererseits aber dessen Wiedererkennbarkeit, um keinen vollständigen Neustart initiieren zu müssen. Noch deutlicher als an Blackbox lässt sich dieses Zusammenspiel aus Imagewandel und -kontinuität an der Doppel-CD Bootleg (2000) ablesen, die die Tour zum Buch dokumentiert, und noch deutlicher wird durch das cover der CD vor allem die Referenz auf die Beatles, denn Bootleg ist ein weißes Album im buchstäblichen Sinn: Die CD’s sind ›gehüllt‹ in einen weißen Umschlag, mit dem Titel in Blindprägung auf der Vorderseite und der tracklist auf der Rückseite. Damit aber noch nicht genug der Analogien: Wie der Fan im Innenteil des ›Weißen Albums‹ der Beatles die Farbfotografien seiner Idole findet und sich damit trotz der Verweigerungsgeste der äußeren Hülle doch wieder ein Bild machen

80 B. v. Stuckrad-Barre, Blackbox, Klappentext. 81 Zur medienreflexiven Dimension dieses ›Dramoletts‹ vgl. Astrid Arndt/Christoph Deupmann, »›Fernsehgerücht‹. Zur literarischen Beobachtung einer Medien-Affäre in Benjamin von Stuckrad-Barres Erzählsammlung ›Blackbox‹«, in: Wirkendes Wort 56 (2006), S. 103-125.

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kann, so bietet der Innenteil von Stuckrad-Barres ›Weißem Album‹ u.a. ein Bild des Autors im stylishen blauen Anzug, barfuß und mit coolem Gesichtsausdruck, sowie immerhin 32 Fotos von der ›Tournee‹, vor und hinter den Kulissen, von adorierenden Fans und dem Popstar in action, oder von Christian Kracht im dandyhaften Mantel mit Pelzkragen. Mit diesen Bildern feiert das mit dem cover zeichenhaft ›abgestürzte‹ Popstarimage gleichsam seinen Wiederaufstieg, allerdings mit verändertem Vorzeichen. Stuckrad-Barre schreibt mit Blackbox und inszeniert mit seinen Performances durchaus immer noch Pop(literatur), aber sozusagen anderen, zugleich selbstreflexiven und polymedialen ›Pop‹. Ein kurzer Ausblick nur noch abschließend auf die weiteren Stationen der Inszenierungsgeschichte: An den mit Blackbox und Bootleg vollzogenen Strategiewechsel Stuckrad-Barres knüpfte im folgenden Jahr die Textsammlung Transkript an, die wiederum eine Reihe von live-acts ›aufführte‹: Während das Inhaltsverzeichnis durch Überschriften wie einerseits Intro oder Keine Vorband und andererseits Vom Netz 1 oder Neustart 2 die Bezugsmedien Popmusik und PC zusammenführt, inszeniert der sleeve ironisch-selbstreflexiv die ›naturgemäße‹ Folge seiner Selbstverkunstung, indem er die Reihe Erläuterungen und Dokumente des Reclam-Verlages imitiert: Er nimmt die ›fällige‹ Kanonisierung kurzerhand selbst vor.82 Das Format stimmt (fast), der Band ist im reclamtypischen Grün gehalten und der Text ist mit Fußnoten und Zeilenzählung versehen. Kaum noch verwundert es daher , dass wenig später die Veröffentlichung einer CD mit dem Titel Benjamin v. Stuckrad-Barre Trifft: Johannes Brahms (2002) folgte, ein von Stuckrad-Barre zusammengestelltes ›Best Of‹ des Komponisten. Damit wechselte Stuckrad-Barre aber keineswegs endgültig ins hochkulturelle Fach, sondern verfolgte den eingeschlagenen Weg weiter, wie schon durch die medienreflektierenden Titeln seiner Bücher wie Deutsches Theater (2001, erweiterte Neuausgabe 2008)83 oder Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft. Remix 2 (2004)84 deutlich wurde. Als vorläufiges ›Meisterstück‹ dieser popkulturell imprägnierten Selbstinszenierungsstrategie lässt sich der Band Auch Deutsche unter den Opfern85 einordnen, der unter der titelgebenden NachrichtenPhrase, einem Titelbild von Martin Honert, das im Frankfurter Museum für Moderne Kunst hängt, sowie einem Vorwort ausgerechnet von Helmut Dietl, dem 82 Benjamin von Stuckrad-Barre, Transkript, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001. 83 Benjamin von Stuckrad-Barre, Deutsches Theater, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001; erweiterte Neuausgabe, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 84 Benjamin von Stuckrad-Barre, Festwertspeicher der Kontrollgesellschaft: remix 2, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004. 85 Benjamin von Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010.

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Regisseur von Mediensatiren wie Kir Royal (1986),86 eine popkulturelle Gegenwartschronik bietet, die alle Bereiche des Populären behandelt. Auf der Rückseite des Umschlags schließlich erteilt ausgerechnet Hans Magnus Enzensberger den bildungsbürgerlichen Ritterschlag: »Wenn Bildungserlebnisse so sind, begeistern sie mich. Ich lerne mit jeder Seite.

86 KIR ROYAL (D: 1986, R: Helmut Dietl).

»Brecht hätte gerne eine Mitarbeiterin wie dich gehabt.« Zur Inszenierung von transkultureller Autorschaft und auktorialem Traditionsverhalten bei Emine Sevgi Özdamar A LEXANDER M. F ISCHER

I. Ö ZDAMAR ALS S PRACH -N OMADIN UND W ÖRTERSAMMLERIN »Bei einem Putsch steht alles still«, erzählt Emine Sevgi Özdamar in ihrer Dankrede zur Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises 1999 in München, »die Baustellen, Export und Import, Menschenrechte. Auch die Karriere steht still. Sogar die Liebe kann stillstehen, ein großes Loch tut sich auf. Dort in Istanbul, in diesem tiefen Loch haben die Wörter Brechts mir geholfen: Gott sei Dank geht alles schnell vorüber Auch die Liebe und der Kummer sogar. Wo sind die Tränen von gestern abend? Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?«1

Die Autorin präsentiert hier ihre Erinnerungen an den Staatsstreich vom 12. März 1971, in dessen Verlauf es zur Verfolgung insbesondere links orientierter Arbeiter, Studenten und Intellektueller kommt. Auch Özdamar selbst wird

1

Emine Sevgi Özdamar, Der Hof im Spiegel, 2. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 125-132, hier S. 127f.

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wegen ihres Engagements für die neomarxistische Arbeiterpartei der Türkei zeitweilig verhaftet.2 Da sie angesichts der politischen Verhältnisse keine Perspektiven zum Leben und Arbeiten in der Türkei sieht, entschließt sie sich, zunächst als Hospitantin, dann als Mitarbeiterin und Schauspielerin zu Benno Besson an die Ostberliner Volksbühne zu gehen. Denn in der Türkei, so berichtet Özdamar in ihrer Chamisso-Preisrede im Rekurs auf Hölderlin bzw. Heiner Müller, habe nach dem Putsch »Wort gleich Mord« bedeutet.3 Man habe »wegen Wörtern erschossen, gefoltert, aufgehängt werden [können]« bzw. nur noch darüber gesprochen, wer aufgehängt, verschwunden, ermordet worden sei.4 Für Özdamar machten die Wörter insofern schlechte Erfahrungen, sie selbst sei in der türkischen Sprache unglücklich geworden.5 Brechts Verse aus Nannas Lied hingegen, seine Sprache, werden ihr in dieser Situation, wie sie andernorts sagt, zu einem »Sprachsanatorium«, weil sie eine Utopie versprechen und ihr helfen, mit den Ereignissen umzugehen.6 Folgerichtig träumt sie davon, »einmal mit einem Brecht-Schüler zu arbeiten.«7 Mit ihren ersten deutschen Worten habe sie sich Benno Besson vorgestellt: »›Herr Besson, ich bin gekommen, um von Ihnen das Brecht-System zu lernen.‹«8 Als er, so Özdamar, nur freundlich »›Willkommen‹« antwortet, machen diese ihre »ersten deutschen Wörter eine gute Erfahrung«, ihr Traum wird nicht desillusioniert.9 Neben dieser legendenhaften Schilderung ihrer ersten Begegnung mit Besson gibt Özdamar in ihrer Chamisso-Preisrede jedoch noch ein zweites konkretes Beispiel dafür, wie Wörter ihr helfen und zu guten Erfahrungen führen konnten. Während ihres ersten Paris-Aufenthalts habe sie einmal in der Pförtnerwohnung 2

Vgl. ebd. S. 138; ferner: Norbert Mecklenburg, »Ein weiblicher Schelmenroman. Das Erzählprinzip der komischen Verfremdung in Emine Sevgi Özdamars ›Brücke vom Goldenen Horn‹«, in: Studien zur deutschen Sprache und Literatur, hg. von der Abteilung für deutsche Sprache und Literatur an der Philosophischen Fakultät der Universität Istanbul, Bd. XVI (2004), S. 1-21, hier S. 2.

3

E.S. Özdamar, Der Hof im Spiegel, S. 128.

4

Ebd., S. 128f.

5

Ebd., S. 129.

6

Vgl. Emine Sevgi Özdamar/Barbara Frischmuth, »Schrift des Freundes« – »Die Brücke vom Goldenen Horn« – »Seltsame Sterne starren zur Erde«. Ein literarischer Blickwinkel zum Thema Türkei und Europa, Moderation Sabine Kroissenbrunner (19. April 2005), http://www.kreisky-forum.org/pdfs/rueck/236.pdf, S. 5, Zugriff: 11.07. 2012.

7

E.S. Özdamar, Der Hof im Spiegel, S. 129.

8

Ebd.

9

Ebd.

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eines Studentenwohnheims auf einen Freund gewartet und sei dabei schließlich auf dem Sofa eingeschlafen. Nachts sei sie dann plötzlich wegen eines Schattens über sich erwacht. Der Pförtner habe neben ihr gesessen und sie angesehen. Da sie damals kein Französisch sprach, habe sie dem Mann das arabische Gebetswort Bismillahirahmanirrahim entgegen gehalten – was sie letztlich, wie angedeutet wird, vor einer Vergewaltigung bewahrt. Denn der Mann algerischer Herkunft weicht sofort zurück und erwidert nur konventionsgemäß das Gebetswort.10 Özdamar präsentiert sich hier implizit bereits im Sinne ihrer Erzählerin aus Mutterzunge und Großvaterzunge als »Wörtersammlerin«,11 die Wörter nicht abstrakt, sondern im Leben, auf dem Theater und auch beim Schreiben körperlich und stets an spezifische Erfahrungen gebunden erlebt, erprobt und erinnert. 12 Sie offenbart sich als Sprach- und Kulturnomadin, die sich, wie sie gerne betont, nicht einer Nation oder Kultur zugehörig, sondern »zwischen den Ländern« zuhause fühlt.13 Gerade »Lebensunfälle«, Brüche im Leben, die aus der unerwarteten Konfrontation mit Neuem und Fremdem resultieren und oft mit (migrati10 Ebd., S. 128. 11 Emine Sevgi Özdamar, Mutterzunge, 4. Auflage, Berlin: Rotbuch 2010, S. 51. 12 Vgl. E.S. Özdamar, Der Hof im Spiegel, S. 131f. – Vgl. auch Dilek Dizdar, »Die Mutterzunge drehen. Erfahrungen aus und mit einem Text«, in: Gisella Vorderobermeier/Michaela Wolf (Hg.), »Meine Sprache grenzt mich ab…«: Transkulturalität und kulturelle Übersetzung im Kontext von Migration, Wien u.a.: Lit 2008, S. 95-110, hier S. 100; Cornelia Zierau, Wenn Wörter auf Wanderschaft gehen… Aspekte kultureller, nationaler und geschlechtsspezifischer Differenzen in der deutschsprachigen Migrationsliteratur, Tübingen: Stauffenburg 2009, S. 75; Ottmar Ette, »Die Fremdheit (in) der Mutterzunge. Emine Sevgi Özdamar, Gabriela Mistral, Juana Borrero und die Krise der Sprache in Formen des weiblichen Schreibens zwischen Spätmoderne und Postmoderne«, in: Reinhard Kacianka (Hg.), Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen u.a.: Francke 2004, S. 251-268, hier S. 253. 13 Bettina Göçmener, »Die Immigration beginnt erst jetzt. Kleist-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar unterwegs zwischen den Kulturen.«, in: Welt online vom 20.11.2004, www.welt.de/printwelt/article353616/Die_Immigration_beginnt_erst_jetzt.html,

Zu-

griff: 11.7.2012. Vgl. auch Emine Sevgi Özdamar, »Interview mit Annette Wierschke (23.10.1993)«, in: Annette Wierschke, Schreiben als Selbstbehauptung: Kulturkonflikt und Identität in den Werken von Aysel Özakin, Alev Tekinay und Emine Sevgi Özdamar. Mit Interviews, Frankfurt a.M.: IKO 1996, S. 249-270, hier S. 265 – ferner vgl. Brigid Haines/Margaret Littler, Contemporary women’s writing in Germany: changing the subject, Oxford u.a.: Oxford University Press 2004, S. 119.

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onsbedingten) sprachlichen bzw. kulturellen Leid- und Verlusterfahrungen einhergehen, wertet Özdamar im Sinne von Ortfried Schäffter als Möglichkeiten zur kreativen Ergänzung des eigenen Ichs. 14 Obwohl Özdamars deutsche Wörter keine Kindheit haben, wie ihre Chamisso-Preisrede exponiert, die deutsche Sprache also nicht allmählich habituiert worden ist, wird sie wegen der mit ihr verbundenen (positiven) Erfahrungen von Özdamar als essenziell für die eigene (künstlerische) Identität15 betrachtet. Özdamar inszeniert damit eine Autorschaft, die mit Wolfgang Welsch als eine in besonderer Weise transkulturelle bezeichnet werden kann. 16 Kulturen sind nach Welsch »intern durch eine Pluralisierung möglicher Identitäten ge-

14 Von solchen »Lebensunfällen« sprechen sowohl die Erzählerin aus Mutterzunge/ Großvaterzunge als auch Özdamar selbst in ihrem Essay zur Entstehung von Mutterzunge (vgl. E.S. Özdamar, Mutterzunge, S. 12; Emine Sevgi Özdamar, »Lebensunfälle, Schreibunfälle. Von Karawanserei zu Mutterzunge«, in: Renatus Deckert (Hg.), Das erste Buch. Schriftsteller über ihr literarisches Debüt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 291-297, hier S. 295f. – Zum Fremderleben als Ich-Ergänzung vgl. Ortfried Schäffter, Modi des Fremderlebens. Deutungsmuster im Umgang mit Fremdheit, http://ebwb.hu-berlin.de/team/schaeffter/downloads/III_19_Modi_des_Fremderlebens _Endv.pdf vom 8.5.2012, Zugriff: 26.06.2013, [erstmals publiziert in: O.S. (Hg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen: Westdeutscher Verlag 1991, S. 11-42.], S. 10ff. 15 Identität im Sinne von Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2010, S. 43f. 16 Zum Begriff Inszenierung bzw. Inszenierungspraktiken vgl.: Katrin Blumenkamp, »Typologie des ›Als ob‹. Praktiken der Autorinszenierung um die Jahrtausendwende«, in: Christoph Jügensen/Gerhard Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, Heidelberg: Winter 2011, S. 363-381, hier S. 363f.; Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, »Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese«, in: Jügensen/Kaiser (Hg.), Schriftstellerische Inszenierungspraktiken (2011), S. 9-30, hier S. 10ff. Zur Transkulturalität vgl. Wolfgang Welsch, »Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen«, in: Kurt Luger/Rudi Renger (Hg.), Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien, Wien u.a.: Kunst- und Kulturverlag, S. 147-169; Wolfgang Welsch, »Transkulturalität. Zur veränderten Verfasstheit heutiger Kulturen.«, http://www.foru m-interkultur.net/uploads/tx_textdb/28.pdf, Zugriff: 07.05.2012 [zuerst publiziert in: Zeitschrift für Kultur-Austausch/Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart, Bd. 45 (1995), 1, Stuttgart: Con Brio 1995, S. 39-44].

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kennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf.«17 Obwohl nun im Verständnis von Welsch nahezu alle Autorschaften per se, d.h. objektiv qua Kulturalität transkulturell sind,18 bedeutet dies jedoch nicht, dass diese transkulturelle Verfasstheit einer Autorschaft auch entsprechend inszeniert werden müsste. Immerhin ist ebenso denkbar, dass Transkulturalität durch Inszenierungen gerade verdeckt und eine kulturell-homogene Prägung suggeriert werden soll. Man erinnere hier etwa Thomas Manns Anweisungen an Otto Grautoff, in seinen Rezensionen den spezifisch deutschen Charakter der Buddenbrooks hervorzuheben.19 Emine Sevgi Özdamar liefert nun ein herausragendes Beispiel dafür, dass AutorInnen nicht nur durch mehrfache kulturelle Anschlüsse bestimmt sind, sondern dass diese auch öffentlichkeitswirksam exponiert werden. Özdamar präsentiert sich gerade mit dem Hintergrund ihrer Migrationserfahrung bewusst als kulturelles ›Mischwesen‹, als hybrid durchaus im emphatischen Sinne Homi Bhabhas.20 Für die Analyse von Inszenierungen transkultureller Autorschaft, dies wird sich am Beispiel Özdamar zeigen, bedarf es einer spezifischen Neuakzentuierung von Welschs Transkulturalitätsansatz, was die Bewertung der FremdheitsKategorie betrifft. Zwar ist Welsch grundsätzlich zuzustimmen, wenn er konstatiert, dass heute »innerhalb dessen, was man traditionell als homogene Kultur verstand, de facto kaum weniger Fremdheiten existieren als außerhalb«, und es daher folglich falsch sei, »das Außenverhältnis zum Grundverhältnis hinsichtlich des Fremden zu machen, das Innenverhältnis hingegen als eines der Einheitlichkeit zu stilisieren.«21 Hieraus kann gerade bei einer Fokussierung auf Autorinszenierungen nun jedoch keineswegs eine völlige Verabschiedung oder Marginalisierung der Kategorien von Eigenheit und Fremdheit resultieren. 22 Denn unab17 Ebd., S. 2. – Zur Kritik an Welsch vgl. Volker C. Dörr, »Multi-, Inter-, Trans- und Hyper-Kulturalität und (deutsch-türkische) ›Migrantenliteratur‹«, in: Dieter Heimböckel/Irmgard Honnef-Becker/Georg Mein/Heinz Sieburg (Hg.), Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un-)vollendetes Projekt der Literatur- und Sprachwissenschaften, München: Fink 2010, S. 71-86, hier S. 75ff. 18 Vgl. V.C. Dörr, Multi-, Inter-, Trans- und Hyper-Kulturalität und (deutsch-türkische) ›Migrantenliteratur‹, S. 75f. 19 Vgl. Thomas Mann, Briefe an Otto Grautoff 1894-1901 und Ida Boy Ed 1903-1928, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt a.M.: S. Fischer 1975 , S. 139 (Brief an Otto Grautoff, 26.11.1901). 20 Vgl. etwa: Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000, S. 12f. 21 W. Welsch, Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, S. 156. 22 Vgl. ebd., S. 3.

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hängig von der Selbsthermeneutik eines Autors kann gerade eine ›Inszenierung von (partieller) Fremdheit‹ – jeweils bezogen auf ein spezifisches Publikum und seine Rezeptionsgewohnheiten – der Akkumulation von öffentlicher Aufmerksamkeit und der Positionierung im literarischen Feld dienen.23 Der ChamissoPreis, der ja gerade an ›fremde‹, weil nicht muttersprachliche AutorInnen vergeben wird, institutionalisiert diese Inszenierungsmöglichkeit sogar. In ihrer Chamisso-Preisrede inszeniert Özdamar insbesondere zwei ›Posen‹,24 die zentral sind für ihre gesamte Positionierung als transkulturelle Autorin. Durch die Nennung des arabischen Gebetsworts Bismillahirahmanirrahim aktualisiert sie einerseits eine Pose, die man aus Sicht des deutschen Publikums als die der tendenziell exotisch-fremd anmutenden ›Orientalin‹ bezeichnen kann. Andererseits inszeniert sie sich als Brecht-Verehrerin bzw. -Schülerin; damit gibt sie dem Publikum eine Anleitung zur konkreten poetologischen wie ideologischen Verortung ihrer Autorschaft innerhalb der europäischen Theater- und Literaturtraditionen. Zumal Özdamars Brecht-Begeisterung durch zahlreiche Interviews und Essays immer wieder an die 1968er-Bewegung rückgekoppelt wird. »Ich gehöre zu den 68ern. Diese Bewegung gab es auch in der Türkei und ist ohne Brecht, den wir vergöttert haben, nicht denkbar«, äußert sie etwa gegenüber Bettina Göçmener in der Berliner Morgenpost.25 Sieht man sich die Rezeption von Özdamars Person und Werk an, so scheint es insgesamt betrachtet die Kombination dieser beiden Posen zu sein, die der Autorin maßgeblich Beachtung einbringt.26 Gerade der ihrer Selbstinszenierung implizite Verweis auf die 23 Vgl. Andreas Englhart/Annemarie Fischer/Katerina Gehl, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Die Öffentlichkeit des Fremden. Inszenierungen kultureller Alterität im langen 19. Jahrhundert, Münster u.a.: Lit, 2010, S. 7-20, hier S. 16ff. 24 Den Begriff der Pose verwende ich hier weitgreifend auch im Sinne von Haltung, Verhalten, (Theater-)Rolle, um eine Differenz zu subjektivistisch-voluntaristischen bzw. -rationalistischen Rollen-Modellen zu verdeutlichen. 25 Emine Sevgi Özdamar, »›In der Fremde wird die Heimat magisch‹. Die Autorin Emine Sevgi Özdamar über Emigration. Interview von Bettina Göçmener.«, in: Berliner Morgenpost vom 27.11.2002, zitiert nach Erol M. Boran, Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts. Diss. Ohio State University 2004, http://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/files/12320/Erol_M._Boran_Eine_Geschichte _des.pdf, Zugriff 23.07.2012, S. 138; vgl. auch: E.S. Özdamar, »Interview mit Annette Wierschke (23.10.1993)«, S. 262. 26 Vgl. zu Özdamars Rezeption Karen Jankowsky, »›German‹ Literature Contested: The 1991 Ingeborg-Bachmann-Prize Debate, ›Cultural Diversity‹, and Emine Sevgi Özdamar«, in: German Quarterly 70.3 (1997), S. 261-276; Kader Konuk, Identitäten im Prozeß: Literatur von Autorinnen aus und in der Türkei in deutscher, englischer

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Wirkmacht von Brecht (und den 1968igern) in der Türkei wird zu einer Neuigkeit, die ebenso viel Aufmerksamkeit erregt wie ihr Spiel mit der OrientalinnenPose.27 Im Folgenden werde ich zeigen, wie Özdamar beim Posieren als ›Orientalin‹ und als Brecht-Schülerin in exponierter Weise die spezifische Transkulturalität ihrer Autorschaft betont, darüber hinaus stets auch die generelle Transkulturalität von Kultur reflektiert und mit ihren Inszenierungen zudem auf eine sehr spezielle Möglichkeit auktorialen Traditionsverhaltens verweist.

II. Ö ZDAMAR IN DER P OSE DER ›O RIENTALIN ‹ Das Cover von Özdamars Erzählband Mutterzunge, mit dem sie 1990 das literarische Feld in Deutschland betritt, ziert ein gelber, aus arabischen Schriftzeichen stilisierter Vogel.28 Der Körper des Vogels setzt sich gut lesbar aus den arabischen, aber natürlich auch im türkischen Alltag gebräuchlichen Wörtern Allah und Bismillahirahmanirrahim zusammen; die Vogel-Darstellung zitiert insofern die Tradition islamischer Kalligraphie.29 Es ist nun bekannt, dass Özdamar die Gestaltung ihrer Bücher sehr genau überwacht, im Fall des KarawansereiRomans an dieser sogar selbst maßgeblich mitgewirkt hat. 30 Das Buchcover kann insofern als stark autorisierte Autorinszenierung Özdamars gelesen werden.

und türkischer Sprache, Essen: Die blaue Eule 2001, S. 111ff.; A. Wierschke, Schreiben als Selbstbehauptung, S. 161-169. 27 Beide Posen werden jedoch nicht nur von Özdamar inszeniert bzw. angeboten, sondern auch durch die Rezeption popularisiert. Selbst- und Fremdinszenierungen (durch Feuilletons, Verlag etc.) greifen ineinander. 28 E.S. Özdamar, Mutterzunge, Umschlaggestaltung: Bayer & Ost, Frankfurt a.M. 29 Vgl. K. Konuk, Identitäten im Prozeß, S. 138f.; Bettina Brandt, »Collecting Childhood Memories oft the Future: Arabic as Mediator between Turkish and German in Emine Sevgi Özdamar’s ›Mutterzunge‹«, in: The Germanic Review: literature, culture, theory, Bd. 79 (2004), H. 4, S. 295-315, hier S. 306. 30 Vgl. Regula Müller, »›Ich war Mädchen, war ich Sultanin?‹: Weitgeöffnete Augen betrachten türkische Frauengeschichte(n). Zum Karawanserei-Roman von Emine Sevgi Özdamar«, in: Sabine Fischer (Hg.), Denn du tanzt auf einem Seil: Positionen deutschsprachiger MigrantInnenliteratur, Tübingen: Stauffenburg 1997, S. 133-149, hier S. 135f., S. 147.

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Wenn man auch davon ausgehen muss, dass der durchschnittliche deutsche Leser die kalligraphierten arabischen Worte zunächst nicht zu dechiffrieren vermag, so verweist die Vogel-Kalligraphie zusammen mit dem Peritext des türkischen Autornamens Emine Sevgi Özdamar immerhin auf einen tendenziell ›fremd‹ anmutenden, dabei erkennbar orientalischen Kulturzusammenhang. Özdamars Pose als ›orientalische‹ Schriftstellerin wird damit bereits aktualisiert. Sie wird zudem bekräftigt durch den Buchtitel Mutterzunge sowie durch das Thema der gleichnamigen Erzählung und ihrer Fortsetzung Großvaterzunge. Bei dem Titel Mutterzunge, so erfährt der Leser bereits im ersten Satz der Erzählung, handelt es sich um eine direkte Übersetzung von türkisch anadili © 2010 (1990) Rotbuch Verlag, Berlin (ana=Mutter; dil=Zunge), was dem deutschen Wort für Muttersprache entspricht.31 Das Wort ist folglich eine sprachliche Hybridbildung, wie sie charakteristisch für den literarischen Stil in nahezu allen Texten Özdamars ist.32 Der hybride Titel verweist direkt auf das zentrale Thema der beiden Erzählungen. Mutterzunge handelt von einer türkischstämmigen Ich-Erzählerin, die in Berlin lebt und dort plötzlich die Erfahrung macht, sich ihrer Muttersprache entfremdet zu haben. Um wieder einen Zugang zu ihr zu finden, beginnt sie, die Großvaterzunge, d.h. die arabische Schrift bei einem religiösen Lehrer zu lernen und den arabischen Einflüssen im Türkischen nachzuspüren, die mit Atatürks Schriftreform ab 1928 vollständig getilgt werden sollten. Sowohl der hybride Buchtitel als auch dieses Thema verweisen auf spezifische sprachliche und kulturelle Kompetenzen Özdamars und damit implizit auf eine türkisch-›orientalische‹ Herkunft, die die Angaben Abb. 1: Cover ›Mutterzunge‹

31 Vgl. Yasemin Yildiz, »Political Trauma and Literal Translation. Emine Sevgi Özdamar’s ›Mutterzunge‹«, in: Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch, Bd. 7 (2008), Tübingen: Stauffenburg, S. 248-270, hier S. 250; Kader Konuk, Identitäten im Prozeß, S. 136ff. 32 Vgl. etwa Annette Wierschke, Schreiben als Selbstbehauptung, S. 173f.; Annette Mingels, »Emine Sevgi Özdamar, ›Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus‹ (1992)«, in: Claudia Benthien (Hg.), Meisterwerke deutschsprachiger Autorinnen im 20. Jahrhundert, Köln u.a.: Böhlau 2005, S. 297-316, hier S. 303f.

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zur Autorin auf der Rückseite des sogenannten Schutztitels dann auch zusätzlich bestätigen. Komplexer wird die Autorinszenierung über die Peritexte des Buchcovers nun aber dadurch, dass sich der kalligraphierte Vogel als zentrales Motiv in den beiden Erzählungen findet; die Darstellung erfährt eine semantische Aufladung. So steht der Vogel zunächst metaphorisch für die ambivalent erfahrene Freiheit und das Leid des Migranten-Daseins der Protagonistin (»Ich bin ein Vogel. Geflogen aus meinem Land, ich war auf den Autobahnen am Rande der XYungelöst-Städte.«).33 Zudem verweist er auf den (positiven) Prozess sprachlicher und kultureller Fremdheitserfahrung. Als die Protagonistin beginnt, arabische Wörter zu lesen, heißt es, die Buchstaben, die aus ihrem Mund kommen, ähnelten u.a. einem Vogel;34 und beim Lernen hat die Erzählerin das Gefühl, der Schriftmeister Ibni Abdullah habe ihr einen »neugeborenen Paradiesvogel« in die Hand gegeben, also ihr Selbst maßgeblich bereichert. 35 Damit zusammenhängend wird in der Erzählung schließlich die unglücklich verlaufende Liebe der Protagonistin zu Abdullah mit der Ankunft und dem Flug eines Vogels verglichen (»Die Liebe ist ein leichter Vogel […]«).36 Diese Liebe wird aus Sicht der Ich-Erzählerin zu einem jener »Lebensunfälle«,37 die dazu führen, dass die Figur sich selbst, wie bereits angesprochen, letztlich als selbstbewusst-avantgardistische »Wörtersammlerin« zu verstehen vermag.38 Als solche gelingt es ihr, »Tiefe zu erzählen«,39 indem sie gerade unterschiedliche sprachliche und kulturelle Semantiken subjektiv-kreativ aufeinander bezieht und überlagert (»›Ruh heißt Seele‹, […]. ›Seele heißt Ruh‹, sagte sie.«)40 und damit ihre transkulturelle Existenz (performativ) bejaht und exponiert. Die Vogel-Kalligraphie auf dem Buchcover visualisiert diesen Kontext, wobei sie nicht allein auf die Erzählung verweist. Als autorverantworteter Peritext inszeniert die Vogel-Kalligraphie gemeinsam mit dem Peritext des Autornamens und des Buchtitels auch die spezifische transkulturelle Autorschaft von 33 E.S. Özdamar, Mutterzunge, S. 29; vgl. auch: K. Konuk, Identitäten im Prozeß, S. 138. 34 Vgl. ebd., S. 19. 35 Ebd., S. 20. 36 Ebd., S. 38, 42, 45; vgl. S. 23, 34 (Metaphern des Fliegens für Liebessehnsucht) und S. 38 (Vogelmotiv und Liebe im Märchen). 37 Ebd., S. 12, 48. 38 Vgl. ebd., S. 51. 39 Ebd., S. 12. 40 Ebd., S. 51. – Vgl. K. Konuk, Identitäten im Prozeß, S. 138, B. Brandt, Collecting Childhood Memories of the Future, S. 307f.

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Özdamar selbst, indem sie ein Zusammenspiel von arabischen, türkischen und deutschen Sprach- und Kultureinflüssen ausstellt. Damit präsentiert die Inszenierung nicht nur die Pose der ›Orientalin‹, sondern stellt ›das Orientalische‹ selbst wieder als hybrid aus. Das Arabische erscheint im Kontext der Kodierung als gleichsam unbekannt-›fremde‹ kulturelle Facette im Türkischen, womit einem westlichen Publikum vorgeführt wird, dass ein Denken ›der türkischen Kultur‹ bzw. ›der orientalischen Kultur‹ als homogene Entität höchst problematisch ist.41 Özdamar spielt in ihrer Autorinszenierung mit stereotypen Erwartungshaltungen, nur um zugleich im Sinne Edward Saids diskurs- bzw. ideologiekritisch, dabei spielerisch-performativ, auf die Wirkmacht von kultureller Stereotypisierung hinzuweisen. Im Hinblick auf Özdamars Autorinszenierung gilt es ferner zu berücksichtigen, dass die Erzählungen Mutterzunge und Großvaterzunge einen stark autofiktionalen Charakter aufweisen.42 Dies verbindet sie mit zahlreichen anderen Erzählungen Özdamars sowie mit ihren beiden Romanen Das Leben ist eine Karawanserei und Die Brücke vom Goldenen Horn. Die Texte bieten nicht nur einen Fiktionspakt an, sondern offerieren durch die massive Einschreibung von Autobiographemen43 zugleich einen indirekten autobiographischen Pakt im Sinne Philippe Lejeunes.44 Insbesondere durch ihren Essay »Lebensunfälle, Schreibunfälle: Von Karawanserei zu Mutterzunge«, der über die Entstehung ihrer ersten beiden Bücher berichtet, faktualisiert Özdamar nachträglich die beschriebene Erfahrung einer Entfremdung von der Muttersprache wie auch die Erfahrung 41 In ähnlicher Weise wird in den Erzählungen die Hybridität Berlins/Deutschlands, aber etwa auch die spezifische Hybridität des türkischen Islams exponiert, indem etwa gerade auf seine schiitisch-alevitischen Ausprägungen angespielt wird (vgl. K. Konuk, Identitäten im Prozeß, S. 90, 98f.; Sonja Ellen Klocke, »›Zungen‹, Borders and Border Crossings: Özdamar’s ›Mutterzunge‹ as an Attempt to deal with the Effects of Globalization«, in: Focus on German Studies. Journal on and beyond German-language literature, Bd. 11, Cincinnati/Ohio: University of Cincinnati 2004, S. 15-32, hier S. 18). 42 Zum Begriff der Autofiktion vgl. Frank Zipfel, »Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?«, in: Simone Winko et al. (Hg.), Revisionen, Bd. 2, Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin u.a.: de Gruyter 2009, S. 285-314. 43 Zum Begriff des (Auto-)Biographems vgl. Dirk Niefanger, »Biographeme im deutschsprachigen Gegenwartsroman (Herta Müller, Monika Maron, Uwe Timm)«, in: Peter Braun/Bernd Stiegler (Hg.), Literatur als Lebensgeschichte. Biographisches Erzählen von der Moderne zur Gegenwart, Bielefeld: transcript 2012, S. 289-306. 44 Vgl. Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, insbesondere S. 45ff.

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einer scheiternden Liebesbeziehung.45 Durch diese autobiographische Aufladung des Texts wird der Leser erneut dazu eingeladen, einen Bezug zwischen der Erzählerin und ihrer Autorin herzustellen; zumindest aber wird der Text durch die Biographie Özdamars authentifiziert, und die verhandelte Thematik wird als in besonderer Weise relevant für die Autorin selbst inszeniert. Mit Özdamars Selbstinszenierungen in MutterAbb. 2: Cover zunge korrespondiert auch das Cover ihres nachfol›Karawanserei‹ gend veröffentlichten Karawanserei-Romans.46 Ihr Autorname und das zentrale, seltene Titelwort Karawanserei verweisen auch hier den Leser bereits auf Özdamars Herkunft. Eine Karawanserei, erklärt Özdamar, sei ein altes orientalisches Hotel, dessen Besonderheit darin liege, dass es keine abschließbaren Türen habe, alle Verbindungswege offen stünden und die Gäste sich also nie ganz voneinander zurückziehen könnten.47 Das Leben als Karawanserei zu begreifen, hieße folglich, es als Reise zu begreifen, auf der man mit verschiedensten Menschen und Kulturen in Kontakt kommt. Folgt man dieser Deutung, so verweist der Titel auf den Lebensweg der Protagonistin zwischen den © 1992 Kiepenheuer & verschiedenen kulturellen Einflüssen und auf ihre Witsch, Köln Bereitschaft, sich auf diese einzulassen. Durch den bereits angesprochenen autofiktionalen Charakter des Romans ist auch hier zugleich suggeriert, diese Lesart dürfe auch auf die Autorin selbst bezogen werden. Die Länge des Romantitels lässt sich zudem im Anschluss an Regula Müller als Zitat eines mündlich vorgetragenen Gedicht- oder Erzählungsanfangs interpretieren.48 Die Punkte, die in der Darstellung auf dem Buchcover den Titel gliedern, würden dann keine Kommas (welche auf dem inneren Titelblatt auch 45 E.S. Özdamar, Lebensunfälle, Schreibunfälle, S. 294ff.; auch: Emine Sevgi Özdamar, »Living and Writing in Germany. Emine Sevgi Özdamar in conversation with David Horrocks and Eva Kolinsky [1994]«, in: David Horrocks and Eva Kolinsky (Hg.), Turkish Culture in German Society today, Oxford: Berghahn 1996, S. 45-54, hier S. 48. 46 Emine Sevgi Özdamar, Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1992; Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln. 47 Vgl. E.S. Özdamar, Interview mit Annette Wierschke (23.10.1993), S. 249. 48 Vgl. R. Müller, Ich war Mädchen, war ich Sultanin?, S. 135.

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fehlen) repräsentieren, sondern die Atempausen während des Erzählens markieren.49 In dieser Deutung weckt der Romantitel analog zu Özdamars Stil im Karawanserei-Roman, der in der Forschung etwa als atemlos-sprunghaft, assoziativ und thematisch inkonsistent, unstrukturiert, dabei gleichförmig fließend und zäsurlos beschrieben worden ist, Assoziationen an orientalische Erzähltraditionen.50 Die insofern hier anklingende Pose der ›Orientalin‹ wird durch die weitere Cover-Gestaltung unterstrichen. Wie schon das Cover von Mutterzunge erinnert auch die Abbildung auf dem Karawanserei-Roman an islamische Kalligraphie, wo neben schwarzer insbesondere rote Farbe Verwendung findet und auf Papyrus oder Tücher geschrieben wird – der Leser von Mutterzunge weiß dies bereits. Ebenso weiß er, dass das umrandende Grün die Abb. 3: Rückseite heilige Farbe des Islam ist.51 Die evozierte Pose der ›Seltsame Sterne starren orientalischen Autorin enthält nun aber insofern zur Erde‹ einen Bruch, als die Schrift ja eine lateinische und keine arabische ist. Damit offenbaren sich bereits bei der Inszenierung der Pose als ›Orientalin‹ auch die europäischen Einflüsse auf die türkische Kultur. Özdamar präsentiert sich durch die peritextuelle Inszenierung zugleich wiederum als Autorin mit einem wachen Bewusstsein für die spezifische kulturelle Hybridität ihres Herkunftslandes. Eine Autorinszenierung in der Özdamars Pose der ›Orientalin‹ bereits mit der der Brecht-Schülerin verschmilzt, liefert schließlich eine Fotografie, die auf dem Rückumschlag des autobiographischen Texts Seltsame Sterne starren zur Erde abgedruckt ist.52 Das Foto zeigt Özdamar, ganz in Schwarz © 2003 Kiepenheuer & Witsch, Köln gekleidet und mit rotem Lippenstift, wie sie hinter © Ulf Andersen einem schweren, langen, roten Vorhang hervorschaut. Der Vorhang ist mit kleinen goldenen Rauten bestickt, an der Kante mit abstrakten, unregelmäßig-scheinenden, grün-blau-goldenen Mustern versehen. 49 Vgl. ebd., S. 135. 50 Vgl. etwa A. Wierschke, Schreiben als Selbstbehauptung, S. 163ff., R. Müller, Ich war Mädchen, war ich Sultanin?, S. 135f. 51 Vgl. E.S. Özdamar, Mutterzunge, S. 19. 52 Vgl. Emine Sevgi Özdamar, Seltsame Sterne starren zur Erde, Wedding - Pankow 1976/77, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003; Schutzumschlag Rückseite: Foto © Ulf Andersen/Gamma/Studio X.

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Darunter findet sich ein erläuternder Peritext, der darauf hinweist, dass Özdamar »mit staunenden Augen und umwerfendem Witz […] von einem schon fast vergessenen Berlin der 70er Jahre [erzähle]«; sie berichte von Westberliner WGMitbewohnern, ostdeutschen Bekannten, türkischen Einwanderern, den politischen Ereignissen und ihrer »heftigen Liebe zum Theater Heiner Müllers und Benno Bessons.«53 Es ist ihre Liebe zum Theater Bertolt Brechts, mag man präzisieren, für die die Vermittlung Müllers und Bessons entscheidend ist. In der Autorinszenierung, die wohl in erster Linie dem Verlag zuzuschreiben ist, die gleichwohl als autorisiert gelten muss, evoziert bereits die Bemerkung über ein staunend-witziges Erzählen von ›fast vergessenen Tagen und Städten‹ das (stereotype) Bild einer orientalischen Märchenerzählerin. Eventuell referiert sie implizit zugleich auf das pikareske Erzählen innerhalb des KarawansereiRomans, das in Feuilletons und Forschung gleichermaßen als besonderes Merkmal des Özdamar’schen Erzählens hervorgehoben wurde54 – das sich in Seltsame Sterne starren zur Erde aber kaum noch findet. Der verzierte rote Vorhang auf der Fotografie kann als Hinweis auf orientalische Muster und Pracht gelesen werden, er mag Assoziationen wecken an medial vermittelte Szenen, in denen ein Märchenerzähler aus dem Zelt tritt oder in sein Zelt einlädt. Darüber hinaus aber lässt sich die Fotografie im intertextuellen Zusammenhang mit dem Hinweis auf Özdamars Theaterleidenschaft auch zugleich als Inszenierung ihrer Pose als Theaterfrau in der Nachfolge Brechts lesen. Der Vorhang erscheint dann als Theatervorhang, hinter dem die erfolgreiche Schauspielerin, Regisseurin und Autorin hervortritt, um von ihrem Leben am Theater zu berichten. Aufmerksamkeitsökonomisch kann argumentiert werden, dass die fotografische Autorinszenierung mit wechselnder Perspektive verschiedene Interessen und Lesergruppen anzusprechen sucht.

53 Ebd. 54 Vgl. Norbert Mecklenburg, Ein weiblicher Schelmenroman. Das Erzählprinzip der komischen Verfremdung in Emine Sevgi Özdamars Roman ›Brücke vom Goldenen Horn‹, insbesondere S. 8ff.

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III. Ö ZDAMAR IN DER P OSE DER B RECHT -S CHÜLERIN UND -N ACHFOLGERIN Emine Sevgi Özdamars autobiographischer Text Seltsame Sterne starren zur Erde, in dem sie ausführlich über ihre Zeit als Hospitantin und Mitarbeiterin Bessons an der Ostberliner Volksbühne erzählt, trägt folglich schon thematisch maßgeblich zur Inszenierung ihrer Pose als Brecht-Schülerin bzw. -Nachfolgerin bei. Özdamar exponiert ihre Lebensentscheidung zugunsten des (Brecht-) Theaters, markiert, dass ihr erster großer Lebenstraum sich bereits hier, am Beginn ihrer Karriere als Theater-Regisseurin und Autorin, verwirklicht habe.55 Indem sie im Jahr 2003 ausführlich darauf hinweist, dass sie in den 70er Jahren mit Benno Besson, Heiner Müller, Fritz Marquardt, Matthias Langhoff und anderen – ex post betrachtet – Großen der Theater- und Literaturszene umgegangen sei und von ihnen habe lernen können, liefert sie implizit aber vor allem auch eine Legitimation für ihre schon früh präsentierte Pose der BrechtSchülerin. Die ausgewählten und in den Text montierten, laut Özdamar authentischen Tagebucheinträge weisen den Leser immer wieder auf die Wertschätzung hin, die ihr gerade von Menschen entgegengebracht wurde, die Brecht noch persönlich kannten.56 So berichtet Özdamar beispielsweise zunächst mit großer Ausführlichkeit über die Familiengeschichte Matthias Langhoffs, vermerkt ausdrücklich, dass er »zwischen Künstlern wie Hanns Eisler, Paul Dessau, Bertolt Brecht, Helene Weigel, Anna Seghers, Arnold Zweig und Ernst Busch auf[gewachsen sei]«.57 Nur wenig später hebt sie dann hervor, dass jener Matthias Langhoff die Zeichnungen bewundere, die sie, ursprünglich als persönliche Gedächtnisstütze, von den Theaterproben anfertigt und die wie zur zusätzlichen Beglaubigung der Authentizität ihrer Tagebucheinträge vielfach in den Text von Seltsame Sterne eingefügt sind. Bei Sichtung dieser Zeichnungen, so hält Özdamar für ihre Leser fest, habe Langhoff nur geäußert: »Brecht hätte gerne eine Mitarbeiterin wie dich gehabt.«58 Özdamar erscheint als aus berufe-

55 E.S. Özdamar, Seltsame Sterne starren zur Erde, S. 245, 247 und S. 180. 56 Vgl. Daniel Bax, »Deutschland ein Wörtermärchen,« in: taz.de vom 20.11.2004. http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2004/11/20/a0257, Zugriff: 20.07.2012, S. 2. 57 E.S. Özdamar, Seltsame Sterne starren zur Erde, S. 145. 58 Ebd., S. 151.

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nem Munde geadelt, sie wird durch diese Aussage geradezu in die Riege der berühmten Brecht-Frauen eingereiht.59 Ihre folglich legitime beziehungsweise legitimierte Pose der BrechtNachfolgerin stützt und konkretisiert Özdamar durch Inszenierungspraktiken und Inszenierungskontexte, die zugleich eine sehr spezifische Möglichkeit auktorialen Traditionsverhaltens offenbaren. In Anlehnung an den von Wilfried Barner eingeführten Begriff des literarischen Traditionsverhaltens verstehe ich auktoriales Traditionsverhalten hier zunächst allgemein als implizite oder explizite Weitergabe und spezifische Variation von (kollektivem) Wissen in literarischen Texten, aber auch in außerliterarischen Äußerungen eines einzelnen Autors.60 Konkreter geht es mir um die implizite oder explizite Übernahme oder Variation ›spezifischer Posen‹ eines früheren Autors durch einen späteren. In Anlehnung an Jérôme Meizoz’ Konzept der auktorialen posture könnte man hier von ›posturalem Traditionsverhalten‹ sprechen.61 In einem zentralen Nebentext ihres Stücks Keloglan in Alamania (1991/2000) – einer Art Lehrstück für Kinder ab zwölf Jahren, das durch intertextuelle Anspielungen allerdings so verdichtet ist, dass es wohl eher die begleitenden Erwachsenen als Publikum erreicht – bezeichnet sich Emine Sevgi Özdamar explizit als »[d]ie Schreiberin dieses Stückes« [Kursiv, AMF], gerade nicht als Autorin.62 Indem sie sich insofern als ›Stückeschreiberin‹ präsentiert, greift sie auf die wohl berühmteste Selbstinszenierung Brechts zurück, um sich im literarischen Feld zu positionieren. ›Stückeschreiber‹ nennt sich Brecht, um sich von der – aus seiner Sicht – bürgerlichen Bezeichnung ›Dichter‹ abzugrenzen. Der Begriff Stückeschreiber soll den handwerklichen Charakter der schriftstellerischen Tätigkeit offen ausstellen, den Prozess der Kunstproduktion als 59 Wobei hier nicht in Frage gestellt werden soll, dass Langhoff sich tatsächlich entsprechend geäußert hat; es geht nur darum zu unterstreichen, dass Özdamar die Äußerung auswählt, um sich für ihr Publikum zu positionieren. 60 Vgl. Wilfried Barner, »Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland«, in: Reinhart Herzog/Reinhart Koselleck (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München: Fink 1987, S. 3-51. 61 Vgl. Jérôme Meizoz, »Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq«, in: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.), Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 177-188. 62 Emine Sevgi Özdamar, »Keloglan in Alamania oder die Versöhnung von Schwein und Lamm,«, in: Marion Victor (Hg.), Spielplatz 18. Sechs Theaterstücke über Außenseiter und Fremde, Frankfurt a.M.: Verlag d. Autoren 2005, S. 189-228, hier S. 217. Die Szene kann zudem als Reminiszenz an Heiner Müllers Hamletmaschine (Zerreißung der Fotografie des Autors) gelesen werden.

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einen Produktionsprozess unter anderen markieren, ihn jeglicher ideologischen Überhöhung entkleiden. Die Bezeichnung ›Stückeschreiber‹ verweist auf eine gesellschaftskritische Kunst aus sozialistischer Perspektive, welche aus dem Glauben an die Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse resultiert.63 Über diese Selbstdarstellung als Stückeschreiberin weist Özdamar ihrer Kunst, zumindest ihren Theaterstücken und -arbeiten, somit dezidiert eine soziale und politische Funktion zu. Als Rekurs auf eine Pose Brechts lässt sich insAbb. 4: Cover ›Sonne auf besondere auch Özdamars Selbstinszenierung als halbem Weg‹ Raucherin lesen. Özdamar beginnt bereits als junge Frau mit dem Rauchen, und sie raucht zumindest bis weit in die 1990er Jahre hinein. Entscheidend ist nun allerdings, dass sie in ihren autobiographischen und (auto-)fiktionalen Texten immer wieder auf ihre Rauchleidenschaft hinweist bzw. ihre Ich-Erzählerinnen ebenfalls rauchen und über das Rauchen reflektieren lässt. Es ist denn auch kein Zufall, dass Özdamar für das Titelcover ihrer Istanbul-BerlinTrilogie Sonne auf halbem Weg ein Foto wählt, das sie als junge Frau zeigt, die lässig eine Zigarette zwischen den Lippen hält.64 Die Trilogie, die Das Leben ist eine Karawanserei, Die Brücke vom Goldenen Horn und Seltsame Sterne enthält, erscheint © 2006 Kiepenheuer & pünktlich zu Özdamars sechzigstem Geburtstag, und Witsch, Köln bereits die exponierte Präsentation der Texte als © Hüseyin Tüzün Trilogie sorgt für eine starke Personalisierung: (Auto-)Fiktionales und Autobiographisches wird in einen gemeinsamen Leben(s)Werk-Zusammenhang gestellt. Die Fotografie von Özdamar als junge Raucherin lässt sich vor diesem Horizont als Peritext lesen, über den das Rauchen der Protagonistinnen im Karawanserei-Roman und in Die Brücke vom goldenen Horn faktualisiert, d.h. für den Leser als Autobiographem gekennzeichnet wird. Die Inszenierung des Rauchens 63 Vgl. etwa Bertolt Brecht, »Lied des Stückeschreibers«, in: Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA 14), hg. von Werner Hecht u.a., Frankfurt a.M. u.a.: Suhrkamp 1989, S. 298. 64 Vgl. Emine Sevgi Özdamar, Sonne auf halbem Weg. Die Istanbul-Berlin-Trilogie, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006. Die Fotografie stammt, wie dem Leser auf dem Buchumschlag mitgeteilt wird, von Hüseyin Tüzün und entstand 1968 in Istanbul. Hierdurch werden die erzählten Inhalte zusätzlich authentifiziert.

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als Autobiographem wird dann zur Leseanweisung, die Semantik des Rauchens auch in den (auto-)fiktionalen Texten nicht nur auf die Protagonistinnen, sondern ebenso auf die Autorin selbst zu beziehen. Wie ist das Rauchen nun innerhalb der Trilogie kodiert? Es lassen sich hier drei wesentliche Kontexte herausstellen. In Das Leben ist eine Karawanserei markiert die erste Zigarette der Protagonistin am Ende des Texts den Beginn ihrer Ablösung von den Eltern und ihren Traditionen. »›Meine Tochter, ich habe die Ehre, deiner ersten Zigarette Feuer zu geben‹«,65 sagt ihr Vater, nachdem er ihre Entscheidung akzeptiert hat, nach Deutschland zu gehen. Das Entzünden der Zigarette wird zur Initiationshandlung; die Protagonistin beginnt ein eigenständiges, anderes Leben zwischen Deutschland/Europa und der Türkei zu führen. In Die Brücke vom Goldenen Horn wird das Rauchen durch die – zumeist selbst rauchende – Erzählerin mehrfach reflektiert. Es erscheint verbunden mit dem Klima der 68er-Bewegung, in dem die Protagonistin sich umfassend ausprobiert, diverse sexuelle und künstlerische Erfahrungen sammelt und ein politisches Bewusstsein auszubilden beginnt. Es steht aber vor allem für eine linkspolitische Einstellung. Diese wird von der Erzählerin rückblickend als unreflektierte Haltung ausgestellt und oft mit ironischer Distanz als bloßes, zeitgenössisches Lebensgefühl präsentiert. Ein Kapitel des Romans überschreibt Özdamar entsprechend mit der Feststellung: »Die Zigarette ist das wichtigste Requisit eines Sozialisten«.66 Am Romanende geht das Rauchen dann andererseits wieder mit einem ernst gemeinten, wenn auch subtilen Bekenntnis der Protagonistin zu ihrer linken Haltung einher. Nach dem Armeeputsch von 1971 sitzt die Erzählerin im Zug nach Berlin, als sie in der Cumhuriyet eines Mitreisenden die Schlagzeile liest, der spanische Diktator Franco sei gestorben. Als dieser Mitreisende, der ihr Alter hat und den sie anhand der Zeitung als Linksintellektuellen identifiziert, ihr unmittelbar darauf eine Zigarette anbietet, antwortet sie mit einem bestimmten, gewissermaßen hoffnungsvollen »›Ja‹« und markiert durch diese positive Reaktion nachdrücklich ihre eigene linkspolitische Einstellung.67 In Seltsame Sterne wird das Rauchen schließlich – sicherlich nicht überraschend – durch Bezugnahmen auf Brecht, seinen Schüler Besson und deren Theater semantisch aufgeladen. Ein Tagebucheintrag beschreibt einen Besuch von Özdamar an Brechts Grab, bei dem sie eine Zigarre hinter seinem Grabstein findet; ein Verehrer hat die Zigarre offenbar als symbolische Gabe hinterlegt. 68 65 E.S. Özdamar, Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, S. 370. 66 E.S. Özdamar, Die Brücke vom Goldenen Horn, S. 222. 67 Ebd., S. 330. 68 Vgl. E.S. Özdamar, Seltsame Sterne starren zur Erde, S. 164.

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Mit der Szene aktualisiert Özdamar für den Leser die durch zahlreiche Fotografien verbreitete Pose des (Zigarre)rauchenden Bertolt Brecht. Diese Pose wird dann zu einem Bezugspunkt, auf den hin sich Özdamars Verweise auf ihr eigenes Rauchen lesen lassen. Dabei werden insbesondere zwei Selbstdarstellungen relevant: So berichtet Özdamar scheinbar beiläufig, doch auffallend umfangreich darüber, dass sie an dem Tag, an dem sie von Besson als Hospitantin angenommen wird, ebenso wie an ihrem ersten Arbeitstag an der Volksbühne Zigarillos raucht – und nicht wie üblich Zigaretten.69 Sie imitiert also in Grenzen Brechts Vorliebe für Zigarren. Zudem weist sie mehrfach darauf hin, die gleichen Zigaretten wie Brechts Schüler Besson zu rauchen – Gauloises ohne Filter. 70 Özdamars Rauchen avanciert insofern zum Ausdruck einer tiefen Identifikation mit Brecht und seiner Theatertradition. Diese Semantik ihres Rauchens wird noch konkreter, wenn man berücksichtigt, dass Brecht selbst sein Rauchen und damit auch seine eigene Raucher-Pose bereits sehr spezifisch kodiert. In den mehrfach publizierten »Anmerkungen zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« etwa bemerkt er, die Haltung der Zuschauer im Theater verändern zu wollen; er möchte – und das ist hier entscheidend – sie »veranlassen, ihre Zigarren herauszuziehen«, anstatt allzu begierig »Wachs zu werden in den Händen der Magier [des Illusionstheaters]«.71 Der Raucher ist folglich der ideale Zuschauer des epischen Theaters. Wer raucht, schaut nicht nur, sondern vermag zugleich analytische Distanz zu halten zu den Vorgängen auf der Bühne, er bleibt sich seines Schauens und seiner Situation im Theater bewusst. Allgemein markiert das Rauchen damit eine Haltung, bei der man das eigene Handeln mit dem Verstand selbstreflexiv-souverän begleitet und nicht vollständig in einer Handlung versinkt.72 In Brechts Denken verweist die Haltung des Rauchers damit in letzter Konsequenz auf freigesetzte gesellschaftskritische Produktivität und die resultierende Möglichkeit zu gesellschaftlichen Veränderungen. Indem Brecht in verschiedenen Texten das Rauchen immer wieder mit dieser Bedeutung auflädt, inszeniert er sich zugleich durch sein öffentlichkeitswirksames Posieren als Raucher performativ als analytischer und gesellschaftskritisch auf Veränderung zielender Autor und Theater-Reformer. 69 Vgl. ebd., S. 36, S. 39. 70 Vgl. ebd., S. 40. 71 Bertolt Brecht, Zu: »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny«, in: Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA 24), S. 81. 72 Brecht hat diese Haltung des Rauchers 1935 in seinem Gedicht Der Insasse beschrieben (vgl. Bertolt Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe (BFA 14), S. 308).

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Man kann davon ausgehen, dass die Besson-Schülerin Özdamar mit dieser Brecht’schen Semantik des Rauchens vertraut ist. Indem sie nun auf die Raucher-Pose Brechts referiert bzw. sie in der Öffentlichkeit performativ darbietet, schreibt sie sich implizit auch selbst die entsprechende Haltung und ihrer Kunst gesellschaftsverändernde Funktion zu. Durch die dreifache semantische Aufladung des Rauchens innerhalb der Istanbul-Berlin-Trilogie erscheint die Fotografie der rauchenden jungen Emine Sevgi Özdamar auf dem Buchcover zuletzt als Autorinszenierung, in der mehrere zentrale Posen der Schriftstellerin Özdamar zugleich aktualisiert werden: die (übergeordnete) Pose der Sprach- und Kulturnomadin bzw. Wörtersammlerin ›orientalischer‹ Herkunft, die Pose der vom Geist der 68er geprägten Intellektuellen und, damit zusammenhängend, schließlich die Pose der gesellschaftskritisch-analytischen Brechtianerin. Damit präsentiert die Fotografie die spezifische Transkulturalität einer AutorInnenposition, die Brecht neu zu befruchten, weiter zu entwickeln und eine alternative Rezeption seines Werks anzuregen hofft. Die baskische Kultur-Webpage Hitzen Abb. 5: Fotografie Özdamar Uberan publizierte im März 2012 einen vor Brecht-Büste am Berliner Artikel zu Emine Sevgi Özdamar, der von Ensemble einem Foto illustriert wurde, das die Autorin am Berliner Ensemble vor der Statue Bertolt Brechts posierend zeigt.73 Bereits in Özdamars Erzählung Großvaterzunge findet sich eine Passage, in der die Protagonistin ebenfalls auf dem Platz vor dem Berliner Ensemble sitzt und gerade diese Brecht-Statue kritisiert. In der Erzählung heißt es: »Da stand eine Statue von Brecht, er sah wie ein pensionierter Alter aus, saß da mit geschlossenen Augen, wenn die Kinder laut sind, wird er sie wegjagen, ich wollte, daß diese Statue verschwindet und Brecht mit Mütze und Flöte dasteht.«74

Die Erzählerin, so lässt sich deuten, wendet sich gegen eine Musealisierung Brechts, gegen eine Zementierung seiner Ansätze, die zuletzt nur mangelnde gesellschaftliche Wirkmächtigkeit verdeckt. Sie wünscht sich, er möge wieder 73 Vgl. http://www.uberan.org/?amuak/item/emine-sevgi-oezdamar-2, Zugriff: 01.12. 2012. Trotz ausgiebiger Recherche konnte der Rechteinhaber des Bildes leider nicht ermittelt werden; Hinweise diesbezüglich gerne an die Herausgeberin. 74 E.S. Özdamar, Mutterzunge, S. 18.

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zum Tanz aufspielen, sein Denken möge wirksam bleiben – womöglich im Feld der (türkisch-) deutschen Gegenwartsliteratur. Dass es tatsächlich so sein kann, dafür will Emine Sevgi Özdamar selbst stehen.

»Ich kann ja gar kein Buch schreiben« Schriftstellerische Inszenierungen in deutschen Late-Night-Shows E LLA M. K ARNATZ

I. »I CH KANN JA GAR

KEIN

B UCH SCHREIBEN «

»Ich kann ja gar kein Buch schreiben« ist ein Zitat der bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich als Moderatorin bekannten Sarah Kuttner, die diesen Satz während eines Besuches in der Harald Schmidt Show im November 2005 äußerte.1 Sie sprach mit Harald Schmidt in dieser Sendung über ihr erstes Buch2 und bezog ihre Aussage darauf – wie sie in der Show weiter anführt –, dass dies lediglich eine Sammlung ihrer Kolumnen beinhalte, dass sie also gar nicht so ›richtig‹ ein Buch geschrieben hätte. Was ihre Aussage hier impliziert, ist eine idealisierte Vorstellung von Buch, vom Buchschreiben und auch von Autorschaft. Einfach nur Kolumnen zusammenzuführen, kommt dem laut Kuttner also nicht nahe; der Prozess scheint mit speziellen Vorstellungen und Bildern verknüpft zu sein, mit denen sich Kuttner zu dem Zeitpunkt (noch) nicht identifizieren konnte. Es ist zu erkennen, dass spezielle Vorstellungen von Autorschaft existieren, die auch in Late-Night-Shows tradiert werden. Kuttner entfernt sich mit ihrer Aussage von der traditionellen Vorstellung eines ästhetisch-autonomen Künstlerideals,3 bei dem Schreiben als ein spontaner, intuitiver, schöpferischer Prozess verstanden 1

Harald Schmidt Show. Eine Sendung vom 30.11.2005, ausgestrahlt in der ARD,

2

Sarah Kuttner, Das oblatendünne Eis des halben Zweidrittelwissens. Kolumnen,

3

Vgl. zum Konzept der ästhetischen Autonomie II.2. dieses Beitrags.

http://www.youtube.com/watch?v=EIhT03RBd-0, Zugriff: 15.03.2013. Frankfurt a.M.: Fischer 2006.

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wird. Sie nutzt jedoch ihren Auftritt, um sich selbst als ein kreatives und sympathisches Subjekt darzustellen. Indem sie sich von einer ›künstlerischen Überlegenheit‹ distanziert, suggeriert sie Nähe zu den Zuschauenden. Doch auch wenn Kuttner sich nicht als eine talentierte Schriftstellerin in der Sendung inszeniert, so ist zu vermuten – und einige Reaktionen auf die Sendung bestätigen diesen Kausalzusammenhang –, dass dem ein oder anderen Zuschauenden Kuttners Auftritt, ihr Name und die Tatsache, dass sie ein Buch geschrieben hat, in Erinnerung geblieben ist. »Ich fange nun mit dem Buch ›Das oblatendünne Eis des halben Zweidrittelwissens‹ von Sarah Kuttner an […]. Die hat gestern in der Harald Schmidt-Show einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen […].«4

Hier zeigt sich, dass in Late-Night-Shows nicht nur existierende Bilder tradiert werden, sondern dass diese an der Autorgenerierung beteiligt sein können. Denn auch wenn während dieses Auftritts noch keine Begriffe wie ›Autorin‹ oder ›Schriftstellerin‹ genannt wurden und Kuttner auch selbst sagt, sie könne gar kein Buch schreiben, so konnte mit dem Auftritt doch der Weg für sie als ›Autorin‹ geebnet werden. Denn die Aufmerksamkeit, die ihr durch den Auftritt in der Show zu Teil wurde, förderte den Verkauf des Buches und damit auch die Aufmerksamkeit weiterer Medien: Einige Zeit nach dem Auftritt wurde im Feuilleton der Begriff ›Autorin‹ mit ihrem Namen in Zusammenhang gebracht, wodurch sie – performativ gelesen – auch den Status ›Autorin‹ erwarb.5 Neben dem Tradieren und dem Generieren von Autorschaft ist in LateNight-Shows weiterhin sichtbar, wie mit Autorschaftskonzepten gespielt und Autorfiguren stilisiert werden: Wenn Christian Kracht gegenüber Harald Schmidt erwähnt, dass Nick Hornby aussehe wie ein Penis, Sibylle Berg äußert, sie hätte in der DDR nur ›gevögelt‹, und Charlotte Roche gegenüber Stefan Raab anführt, dass ihre Erzählung fiktiv sei und die Betonung dabei jedoch auf der

4

Beitrag des Mitglieds Mygalf im Forum von www.talk.portal.com, http://www.talkportal.com/thread/postid=145507/threadview=1/hilight=/hilightuser=, Zugriff: 15.03. 2013. Vgl. dazu Christian Geyer, Das Heute ist eine tolle Sache, in: Faz.net vom 10.04. 2006, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/das-heute-i st-eine-tolle-sache-1332468.html, Zugriff: 27.03.2013.

S CHRIFTSTELLERISCHE I NSZENIERUNGEN IN DEUTSCHEN L ATE -N IGHT -S HOWS | 269

ersten Silbe läge,6 dann wird zum einen nach dem Credo ›sex sells‹ gehandelt, das Thema der Sexualität also genutzt, um Aufmerksamkeit zu produzieren. Zum anderen ist bei diesen Auftritten die für die Medien stilisierte Figur zu erkennen, für die die Fiktionalität ebenso zu gelten scheint wie für die Werke von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Die Tradierungen, Generierungen, Stilisierungen sowie Transformierungen von Autorschaft, die in Late-Night-Shows zu beobachten sind, werden hier mit dem Terminus ›schriftstellerische Inszenierungspraktiken‹ überschrieben, der auf Prozesse und Praktiken der Subjektivierung zu einer Subjektform ›Autor/in‹ verweist,7 d.h. auf die Praktiken, die eine Autorin bzw. ein Autor innerhalb einer Late-Night-Show nutzt, um sich selbst zu konstituieren. Hier wird nun davon ausgegangen, dass diese Praktiken zum einen durch die Strukturmerkmale der Show als auch durch bereits bestehende Vorstellungen von Autorschaft, sprich: Autorschaftskonzepte, beeinflusst sind. Aus diesem Grund werden zunächst das Fernsehgenre ›Late-Night-Show‹ und Konzepte von Autorschaft vorgestellt.

II. D IE P RAKTIK ›AUFTRITT

IN EINER

L ATE -N IGHT -S HOW ‹

Der Auftritt in Late-Night-Shows kann grundsätzlich als eine Praktik der Subjektivierung zur Subjektform ›Autor/in‹ angesehen werden, denn sie dient neben anderen Inszenierungspraktiken dazu, öffentlich wahrgenommen zu werden und bietet Autorinnen und Autoren eine Möglichkeit, sich im literarischen Feld zu positionieren. Dabei stellt sich die Frage, ob dem Besuch einer Late-Night-Show solch eine Positionierung bereits inhärent sein könnte: Geht bereits durch die Verbindung mit der Unterhaltungssendung eine Klassifizierung und damit auch

6

Vgl. Harald Schmidt Show. Sendungen vom 30.11.2005 und 22.10.2009, ausgestrahlt in der ARD, http://www.youtube.com/watch?v=EIhT03RBd-0 und http://www.youtube.com/watch?v=3baqMtQv0wQ, Zugriff: 27.03.2013.

7

»Der Begriff der Subjektivierung bringt das Subjekt nicht als Substanz, sondern als eine ›in Formierung begriffene Struktur‹ in den Blick: Es wird in einer ProzessPerspektive unter dem Gesichtspunkt seiner Entstehung, Entwicklung, Erhaltung und Veränderung betrachtet und in einer Praxis-Perspektive mit Wie-Fragen konfrontiert: Wie erlangt ein Individuum durch seine Teilnahme an sozialen Praktiken den Status eines intelligiblen, als ›mitspielfähig‹ anerkannten Subjekts? Wie bildet, organisiert und transformiert es sich dabei selbst?« (Thomas Alkemeyer/Dagmar Freist/Gunilla Budde, Einleitung, in: dies., Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013, S. 34).

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Positionierung im literarischen Feld einher? Zu Late-Night-Shows werden vor allem diese Autorinnen und Autoren eingeladen, deren persönlicher Auftritt oder deren Themen versprechen »spannend, amüsant und interessant« zu sein. »Zeitgeist, Bekanntheit bzw. Medienpräsenz und ein möglichst zu erwartendes, unterhaltsames Auftreten beim Talk […]« seien bei der Auswahl der Gäste relevant. Darüber hinaus würden vor allem abseitige Themen interessieren, so beispielsweise die Redaktion von TV total. Denn die Late-Night-Shows dienen hauptsächlich der abendlichen Unterhaltung.8 Auf den ersten Blick scheinen daher die Autorinnen und Autoren in den Late-Night-Shows nicht anzutreffen zu sein, deren Texte und Themen Ernsthaftigkeit, Betroffenheit und Nachdenklichkeit beinhalten und nahelagen. Es ist also zunächst anzunehmen, dass sich diese Autorinnen und Autoren, die sich durch ihre Texte und weitere öffentliche Praktiken als ästhetisch autonom9 inszenieren, seltener in Late-Night-Shows zeigen. Einige der Buchtitel, die in Late-Night-Shows vorgestellt wurden, stützen diese These: Dr. Sex (T.C. Boyle), Feuchtgebiete (von Charlotte Roche) oder Ufos im 21. Jahrhundert (von Alexander Knörr). Auch die in den Shows sichtbare Autorfigur, die oftmals stärker im Vordergrund steht als die Publikation selbst, kann während des Auftritts »spannend, amüsant« und wie bei den oben angeführten Beispielen auch »abseitig« auftreten. Aus diesem Grund können Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die sich auf die Unterhaltungs- und/oder Popkultur einlassen, auch in dieser Hinsicht in das literarische Feld eingeordnet werden. D.h. sie sind auf den ersten Blick eher dem Bereich der sogenannten Pop- und/oder Unterhaltungsliteratur zuzurechnen; sie verweigern sich nicht den Angeboten der Massenmedien, mit denen auch ökonomisches Kapital erwirtschaftet werden kann, und stehen damit scheinbar eher am Rande des literarischen Feldes. Klassifizierungsbegriffe, die die Autorinnen und Autoren, die bisher Late-Night-Shows besuchten, seitens Literaturkritik und -wissenschaft erhielten, bestätigen dies: Zu nennen sind hier z.B. Alexa Hennig von Lange, Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, Rainald Goetz und Sibylle Berg als sogenannte Popliteratinnen und -literaten sowie Charlotte Roche, Sarah Kuttner und prominente, Bücher schreibende Comedians als Medienliteratinnen und -literaten, deren Literatur v.a. aufgrund der bereits vorhandenen Medienpräsenz funktioniert. Als Gäste in Late-Night-Shows tauchen darüber hinaus auch Bestsellerautorinnen und -autoren auf, die für historische, Science-Fiction- oder Fantasyromane bekannt sind (z.B. Frank Schätzing oder Tanja Kinkel). Doch

8

Die Zitate sind Aussagen seitens der Redaktion von TV total, die mir per Mail zugäng-

9

Vgl. Kapitel II.2. dieses Beitrags.

lich gemacht wurden.

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stehen diese aufgeführten Autorinnen und Autoren wirklich am Rande des literarischen Feldes? Auf diese Frage wird später zurückzukommen sein.10 Was all diesen Autorinnen und Autoren, so unterschiedlich diese auch sein mögen, gemeinsam ist, ist die Praktik des öffentlichen Auftritts, die auch ein Zur-Schau-Stellen des eigenen Körpers beinhaltet. Diese Praktik und das ZurSchau-Stellen kann dabei jedoch jeweils unterschiedlich gestaltet werden. Durch den Comedy-Charakter der Show ist weiterhin eine Zuwendung zu einem jungen Publikum sowie die Bereitschaft zu einer humoristischen Darstellung des eigenen Buches bzw. der eigenen Person erkennbar. Das Genre der Late-Night-Show gibt demnach durch seine Strukturmerkmale schriftstellerischen Inszenierungen einen ganz speziellen Rahmen. 1. Genrespezifische Spielräume Die erste Sendung, die als Late-Night-Show bezeichnet wurde, ist die in den 50er Jahren in den USA entstandene The Tonight Show. Sie war ebenso wie die in den 80er Jahren ausgestrahlte Show Late Night with David Letterman retrospektiv genrekonstituierend.11 Zu den Merkmalen des Genres zählen ein spezieller Personenbestand (ein Moderator/eine Moderatorin, eine Show-Band, ein oder mehrere Sidekick(s),12 Gäste sowie das (Live-)Publikum). Weiterhin ist ein geregelter Ablauf (a. Monolog, b. Talkteil mit prominenten Gästen sowie c. Musikteil) Bestandteil der Sendung. Eine spezielle Dekoration des Studios gehört ebenfalls dazu (der Nachthimmel und eine beleuchtete Skyline im Hintergrund, der Schreibtisch, ein Schreibtischstuhl, Sessel sowie Wasserglas bzw. -gläser). Das Auftreten des Moderators/der Moderatorin ist in den Shows außerdem durch einen gehobenen, geschäftlichen Kleidungsstil geprägt. In Deutschland gibt bzw. gab es mehrere Shows, die dem Genre zugerechnet werden: Neben den derzeitig und demnächst wieder ausgestrahlten relativ bekannten Sendungen Harald Schmidt Show und TV total können die Sendungen Stuckrad Late Night, bei der für diesen Aufsatz eher der Moderator als die eingeladenen Politiker von Interesse wäre, oder auch neoParadise genannt werden. Ebenfalls als Late-Night-Shows galten die bereits abgesetzten Sendungen

10 Vgl. das Fazit des Beitrags. 11 Philip Hartmann, Was ist dran an Harald Schmidt? Eine qualitative Studie zu den Nutzungsmotiven der Zuschauer von Harald Schmidt, Berlin u.a.: Lit Verlag 2006, S. 13. 12 Unter einem ›Sidekick‹ versteht man einen Stichwortgeber, einen Zuspieler in Unterhaltungssendungen.

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Schmidteinander, Götz-Alsmann-Show, Gottschalk Late Night oder auch Anke Late Night, um nur eine Auswahl zu nennen. Die Show, die dem amerikanischen Vorbild sehr nahe kommt, ist die Harald Schmidt Show,13 die neben TV total für die Überlegungen dieses Beitrags als Beispiel herangezogen wurde. Wie ein Autor, eine Autorin mit dem Wasserglas umgeht, seine oder ihre Reaktion auf die Einrichtung, die Interaktion mit dem Moderator/der Moderatorin und dem (Live-)Publikum, der Umgang mit der kurzen Präsentationszeit von zehn Minuten, all das kann in die Inszenierung von Schriftstellerinnen und Schriftsteller einfließen oder diese beeinflussen. Insbesondere das Publikum spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, da es erwartet, möglichst gut unterhalten zu werden. Aus diesem Grund ist das Gespräch zwischen dem Moderierenden und der Schriftstellerin oder dem Schriftsteller sowie die Buchvorstellung stets auf die Zuschauenden und eine gute Pointe gerichtet. Gern wird skandalisiert und auf persönliche oder provokative Themen Bezug genommen, die oftmals eher die Autorin oder den Autor bzw. die stilisierte Figur betreffen. Durch die Sendezeit (nach 23 Uhr) ist es weiterhin erlaubt, ein Programm mit einer Freigabe von 18 Jahren abzuspielen, wodurch es auch möglich ist, über Themen wie Pornografie zu sprechen.14 Dadurch findet sich in den Shows ein Sprachgebrauch, der exzessiv sein kann: Es lassen sich Übertreibungen beobachten, die v.a. der Unterhaltung dienen, die in manchen Fällen jedoch auch als Distanz und Kritik an der Show, dem Moderator oder der eigenen Person bzw. Figur gelesen werden können. Der Autor oder die Autorin begibt sich mit dem Auftritt bei einer LateNight-Show auf eine Medienbühne, die i.d.R. durch den Moderator bzw. sehr selten auch durch die Moderatorin, dominiert wird. Der Moderator lenkt das Gespräch und wird durch die Einrichtung des Studios auch als der ›geschäftigere‹ inszeniert, indem er hinter einem Schreibtisch sitzt. Der prominente Gast darf ihm in seinem Sessel bei der Arbeit zuschauen und gelegentlich das Schauspiel des Moderators zustimmend kommentieren. Jedoch liegt auch dem Moderator etwas daran, seinen Gast gut in Szene zu setzen – eine Wechselbeziehung, die sich auch auf die Popularität der Show auswirken kann. Ein weiteres Strukturmerkmal der Show bezieht sich auf Körperlichkeit und die Einrichtung: Denn durch die Einrichtung des Studios, durch den Schreibtisch des Moderators und den freistehenden Sessel für die Gäste, ist der Körper des Gastes im Gegensatz zu dem des Moderators vollständig sichtbar. Dadurch wird dieser zu einem Objekt, das auf der Bühne ausgestellt wird, was auch die Domi-

13 Vgl. P. Hartmann, Was ist dran an Harald Schmidt?, S. 17. 14 Vgl. § 5 Abs. 4 im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV).

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nanz des Moderators unterstreicht. Jedoch gelingt es einigen Autorinnen und Autoren, dieses Hierarchieverhältnis mittels unterschiedlicher Inszenierungspraktiken zu unterlaufen. 2. Autorschaftskonzeptionelle Spielräume Autorschaftskonzepte15 können als spezifische Kategorien der Subjektform ›Autor/in‹ verstanden werden, an die Subjektcodes gebunden sind, die es zu erfüllen gilt. Zwei grundlegende und scheinbar konträre Konzepte von Autorschaft können als Ideal auf gegenwärtige Autorinnen und Autoren Einfluss haben: Zum einen das Konzept des ästhetisch autonomen Autors, welches seit circa 1800 zu verzeichnen ist,16 und zum anderen das seit Beginn des 21. Jahrhunderts benannte Konzept von der Autorin, von dem Autor als Marke.17 Das Konzept des ästhetisch autonomen Autors gilt dabei als das nach wie vor dominantere: In seinem Aufsatz »Der Autor als Medienstar« konstatiert Heinrich Kaulen, dass

15 An dieser Stelle sei auf die Schwierigkeit hingewiesen, die die zunächst leere Kategorie ›Autorschaftskonzept‹ beinhaltet. Es handelt sich um ein Hilfskonstrukt, mit dem der Versuch unternommen wird, Typen von Autorinnen und Autoren zu beschreiben. Schwierigkeiten finden sich u.a. in der Verallgemeinerung und dem epochenübergreifenden Denken (vgl. zu den Schwierigkeiten Rolf Selbmann, Dichterberuf – zum Selbstverständnis des Schriftstellers von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1994, S. 253). In diesem Aufsatz werden Autorschaftskonzepte aus dem Grund verwendet, der sie auch hervorgebracht hat: Sie dienen der Orientierung und als Folie. 16 Dies Konzept findet seinen Ursprung im Geniegedanken des 18. Jahrhunderts, welcher für Autorinnen und Autoren leitend blieb, auch wenn »das Genie infolge der neuen ökonomischen Rahmenbedingungen vom Zentrum an den Rand des gesellschaftlichen Lebens gedrängt wurde«, wie Hans-Jörg Neuschäfer dies für das 19. Jahrhundert anführt (Hans-Jörg Neuschäfer, Das Autonomiestreben und die Bedingungen des Literaturmarktes. Zur Stellung des »freien Schriftstellers« im 19. Jahrhunderts, in: Bernard Cerquiglini und Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.), Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 556-581, hier S. 557). 17 Vgl. Stefan Neuhaus, Der Autor als Marke. Strategien der Personalisierung im Literaturbetrieb, in: Wirkendes Wort 61 (2011), S. 313-328. Auch in Dirk Niefangers Artikel »Der Autor und sein ›Label‹« sind Aspekte des Konzepts beschrieben (vgl. Dirk Niefangers, »Der Autor und sein ›Label‹«, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft, Positionen und Revisionen, Stuttgart u.a.: Metzler 2002, S. 521-539).

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das Bild eines »nonkonformistischen Außenseiters«, der sich gegen die »Öffentlichkeit und ihre populären Kommunikationsangebote« stelle, noch weit verbreitet sei.18 Zu einer ähnlichen Feststellung gelangt auch Sabine Kyora in ihrem Aufsatz zur Praxeologie in der Literaturwissenschaft.19 Darin widmet sie sich auch der Frage, wie die Subjektform ›Autor/in‹ konstituiert sein könnte und führt an, dass diese durch Zurückgenommenheit und Disziplinierung der Affekte geprägt sei: halblaute Stimme bei Lesungen, zurückgenommener Kleidungsstil, gemessene Bewegungen,20 Praktiken, bei denen das ›geistige Produkt‹ im Vordergrund steht und nicht die Figur des Autors, der Autorin das Produkt überlagert. Diese Subjektcodes21 passen ebenso wie die Verschleierung bzw. Ablehnung ökonomischer Interessen eher zum Konzept des ästhetisch autonomen Autors, was dessen Dominanz bestätigt. Beim Konzept der Marke arbeitet die Autorin bzw. der Autor dagegen mit den von den Massenmedien und der Popkultur zur Verfügung gestellten Produkten und nutzt mediale Plattformen, um sich als einzigartig herauszustellen und Aufmerksamkeit zu erzeugen.22 Ökonomische Interessen werden dabei nicht verschwiegen. Die damit einhergehenden Praktiken erinnern an Darstellungen von Pop- und Rockstars sowie an Strategien der Werbeindustrie.

18 Heinrich Kaulen, Der Autor als Medienstar und Entertainer. Überlegungen zur neuen deutschen Popliteratur, in: Hans-Heino Ewers (Hg.), Lesen zwischen Neuen Medien und Pop-Kultur. Kinder- und Jugendliteratur im Zeitalter multimedialen Entertainments, Weinheim/München: Juventa-Verl. 2002, S. 209-228, hier S. 217. 19 Vgl. Sabine Kyora, »Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur«. Praxeologische Perspektiven auf Autorinszenierungen und Subjektentwürfe in der Literaturwissenschaft, in: T. Alkemeyer/D. Freist/G. Budde, Selbst-Bildungen (2013), S. 251-274. 20 Vgl. ebd., S. 255. 21 »Soziale Praktiken sind durch kulturelle Codes strukturiert, die klassifizieren, welche Verhaltensweisen denkbar und welche unmöglich sind. […] Indem sich die Codes auf Praktiken auswirken und in das implizite Wissen der sie tragenden Subjekte eingehen, regulieren sie die Subjektivierung« (A. Reckwitz, Subjekt, S. 136). 22 Durch die hohen Zahlen der Neuerscheinungen bei sinkenden Einzeltitelauflagen scheint »der Druck auf Verlage wie AutorInnen, sich um möglichst viel Aufmerksamkeit beim Lesepublikum zu bemühen, stetig zu wachsen« (S. Neuhaus, Der Autor als Marke, S. 318). »Die Ökonomisierung der Gesellschaft hat dazu geführt, dass Aufmerksamkeit vor allem über medial leicht vermittelbare Images hergestellt werden kann« (ebd., S. 319).

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Für Gegenwartsautorinnen und -autoren ergeben sich nun Spielräume, deren Pole zum einen durch das traditionelle Konzept des autonomen Künstlers und zum anderen durch das Konzept der Marke markiert sind. 3. Beispielanalyse: Sibylle Berg bei Harald Schmidt Angelehnt an den heuristischen Bezugsrahmen für Subjektanalysen von Andreas Reckwitz werden im Folgenden exemplarisch die Inszenierungspraktiken Sibylle Bergs während eines Auftritts in der Harald Schmidt Show in den Blick genommen. Der Bezugsrahmen, »ein praxeologisch-poststrukturalistischer Katalog möglicher forschungsleitender Gesichtspunkte, die helfen können, nach Subjektformen zu suchen«,23 beinhaltet die Aspekte körperliche Performance, Knowhow- und Deutungswissen sowie die Affektstrukturen, welche für diese Studie entscheidend sind: Die ›körperliche Performance‹ beschreibt die »Art und Weise der Körperbewegungen« (Mimik, Gestik, Stimme etc.), das ›Know-howWissen‹, »ein prozedurales und methodisches Wissen von und um ›scripts‹, in denen das Subjekt in entsprechenden Situationen der Praktik angemessen agiert und Schemata gekonnten Verhaltens folgt«. Das ›Deutungswissen‹ umfasst »interpretative Schemata« und »ein spezifisches Selbstverstehen«, die ›Affektstrukturen‹ beziehen sie sich auf »Emotionalität und ›Gestimmtheit‹«.24 Am 17. August 2009 erschien der Roman Der Mann schläft von Sibylle Berg, die am 22. Oktober 2009 die Harald Schmidt Show besuchte, um »Staubsauger zu verkaufen«, wie sie selbst anführte und »um das Buch ganz nach oben zu bringen«, wie Harald Schmidt es ausdrückte.25 Noch bevor Berg jedoch die Fernsehbühne betrat, stellte Harald Schmidt sie als Bestseller-Autorin vor, wodurch eine Fremdinszenierung sichtbar wird: Berg wird als erfolgreiche Autorenpersönlichkeit klassifiziert. Es ist weiterhin die gegenseitige Werbung erkennbar, was zunächst eine Zuordnung der Autorin zum Konzept der Marke beeinflusst. Die Autorin wird wie ein Produkt angepriesen. Betrachtet man nun die Aspekte des heuristischen Bezugsrahmens, fällt in Bezug zu ›Affektstrukturen‹ und gleich zu Beginn des Auftritts auf, dass Berg ein gelangweiltes, beinahe verdrießliches Gesicht zeigt, geradezu genervt wirkt, als wolle sie eine Distanz zu dem Auftritt signalisieren. Durch ein aufgesetzt anmutendes Lächeln wird diese Vermutung verstärkt.

23 A. Reckwitz, Subjekt, S. 135. 24 Alle Zitate: ebd., S. 136. 25 Vgl. Fn. 6 in diesem Beitrag.

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Abbildung 1: Sibylle Berg in der Harald Schmidt Show

© Bonito TV-Produktionsgesellschaft mbH

Bei ihrer ›körperlichen performance‹ ist insbesondere ihre Mimik während ihres Hereintretens bemerkenswert: Zunächst schenkt sie den Zuschauenden einen sehr intensiven Blick und deutet anschließend ein Lächeln an, was als ironischer Kommentar zu ihrem Auftritt gewertet werden kann. Ihr Kleidungsstil ist recht schlicht gehalten: Das gilt für den Schnitt ebenso wie für die Farbe Schwarz, die sie bevorzugt trägt. Ihre Bewegungen sind zurückgenommen und gelassen, ihre Stimme ist sehr ruhig, was den Codes der Subjektform ›Autor/in‹ entspricht. Die durch die Erscheinung evozierte Zurückgenommenheit wird in ihren Aussagen jedoch mithilfe von Provokation und Derbheit konterkariert. Denn Berg formuliert in der Sendung salopp »nichts gegen Schweinegrippe zu haben, da zu viele Menschen…«,26 dass »sie 70 Jahre alt sei« und »in der DDR nur gevögelt und damit mit fünf bereits begonnen hätte«. Mit den Aussagen bedient sie die Rezeptionserwartungen des Late-Night-Publikums und bringt ihr mediales ›Know-how‹ zum Ausdruck. Die drei Sätze entsprechen – davon kann ausgegangen werden – keinesfalls der Realität. Sie inszeniert sich demnach selbst als ein fiktives Wesen und zeigt, dass in ihrer Agitation ein hoher Grad an Selbstreflexion sowie ›Deutungswissen‹ steckt. Damit literarisiert sie ihren Auftritt und gibt der Figur in den Medien einen ähnlich hohen Grad an Fiktionalität wie den literarischen Werken. Ihre Selbstdarstellung übertönt insgesamt die gesamte Buchvorstellung: der Inhalt ihres Romans kommt bis auf den Satz von Schmidt »es geht um Liebe« nicht zur Sprache. Sie scheint trotzdem davon überzeugt zu sein, dass der Auf-

26 Vgl. ebd; in der Show endet der Satz des letzten Zitats ebenfalls unvollständig.

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tritt dem Verkauf ihres Buches zu Gute kommt: Sie äußert dies sogar konkret gegenüber Schmidt. Die Übertönung des Buches durch sie selbst ist daher nur eine scheinbare. Sie bringt ihren Namen mit dem Medienspiel ins Gespräch, eröffnet einen Diskurs um ihre Person und damit auch um ihr Buch. Bild-online hilft, ob intendiert oder nicht sei dahingestellt, ihre Popularität zu steigern und nimmt Bergs Auftritt zum Anlass, um vom Sex-Geständnis der Star-Autorin zu berichten.27 Dass ihr Auftritt bei potentiellen Leserinnen und Lesern Aufmerksamkeit produziert, bestätigt sich in einigen Blogeinträgen von Zuschauenden der Sendung: »Ich muss zugeben, dass ich vor dem gestrigen Abend noch nie bewusst von der Autorin Sibylle Berg gehört, geschweige denn etwas von ihr gelesen oder auch nur ein Buch von ihr in Händen gehalten hätte. Deshalb kann ich auch über sie als Autorin nichts sagen, aber obwohl ich twitternd am Notebook saß und das Gespräch nicht mit voller Aufmerksamkeit verfolgte, hatte ich an dem Abend der Sendung bereits das Gefühl, dort einen Menschen, eine Frau und Autorin zu sehen, die angenehm anders ist.«28 »Auf alle Fälle kann ich sagen, dass mich seit langem kein Auftritt mehr so fasziniert hat wie der von Sybille Berg bei Harald Schmidt. Sybille Berg ist die höchstwahrscheinlich witzigste Autorin im deutschsprachigen Raum. Warum lerne ich sie erst jetzt kennen?«29

Anhand der Zitate wird ebenso wie bei Kuttner die Wirkkraft der Show deutlich, die die Popularität von Autorinnen und Autoren befördern und damit auch den ökonomischen Erfolg steigern kann. Doch auch wenn viele Zuschauenden von ihrem Auftritt begeistert scheinen, halten einige sie auch für skurril oder bestätigen ihr einen »Sockenschuss«, wie bei Kommentaren zu dem Auftritt auf YouTube zu erkennen ist.30 Auf einer ersten Betrachtungsebene lässt sich Berg hier als Autorin verstehen, die dem Konzept der Marke zuzuweisen ist. Sie tritt in einer Late-Night-

27 Vgl. ohne Verfasser/in: Star-Autorin: Ihr Sex-Schocker bei Harald Schmidt. »Ich hab’ gevögelt – ohne Spülen danach«, in: Bild.online vom 23.09.2009, http://www.bild.de/ news/2009/schmidt/sex-gestaendnis-der-mutter-aller-feucht-gebiete-10195778.bild.ht ml, Zugriff: 27.03.2013. 28 http://www.exil-kieler.net/2009/10/sibylle-berg-in-der-harald-schmidt-show-und-waru m-ich-zufrieden-mit-mir-bin/, Zugriff: 22.03.2013. 29 http://sachabrohm.de/2009/10/26/sybille-berg/, Zugriff: 27.03.2013. 30 Vgl. die Kommentare auf YouTube zu dem Video mit einem Ausschnitt aus der Sendung: http://www.youtube.com/watch?v=3baqMtQv0wQ, Zugriff: 27.03.2013.

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Show auf und bedient das Publikum mit den gewohnten Themen: Sie übertreibt in Bezug auf Sexualität und Alter und stellt sich und ihren Körper als Unterhaltungsobjekt aus. Sie inszeniert sich weiterhin als eine Autorin, die scheinbar aufgrund ökonomischer Interessen in der Harald Schmidt Show auftritt. Jedoch schimmert durch ihre Übertreibungen in ihrem Gesagten und die inszenierte Verdrießlichkeit ein autonomes Künstlersubjekt durch, das während des Auftritts die Dominanz des Moderators zu unterlaufen weiß. Wie funktioniert das? Durch ihre körperliche Performance wird der Show eine weitere Interpretationsebene hinzugefügt, in der sie den eigenen Auftritt und die in der Show gängige Praxis kritisiert. Diese implizite Kritik kann jedoch wiederum als Inszenierungsstrategie gelesen werden: Denn auch wenn sie durch ihre Handlungen zunächst dem Konzept der Marke zuzuweisen ist, signalisiert sie durch ihre Performance, dass sie außerdem zum Kreis der ästhetisch autonomen Künstler gehört, sie sich also nicht gerne ausstellten lässt, um wahrgenommen zu werden. Folgt man dieser Interpretation, wäre ästhetisch autonome Autorschaft in Late-Night-Shows, zumindest implizit, auch bei den Autorinnen und Autoren sichtbar, die auf den ersten Blick dem Konzept der Marke zugewiesen werden können. Die Inszenierung Bergs bei dem Auftritt in der Harald Schmidt Show zeigt zum einen, dass Klassifizierungen von Autorinnen und Autoren oft nicht eindeutig sind, dass diejenigen, die zunächst dem Konzept der Marke zugeordnet werden, ebenso Aspekte des traditionellen Konzepts der ästhetischen Autonomie aufweisen. Zum anderen zeigt die Inszenierung, dass die Subjektform ›Autor/in‹, die bisher eher mit dem Konzept des ästhetisch autonomen Künstlers einherging, mit den Neuen und Massen-Medien transformiert. Eine postmoderne Hybridform wird sichtbar, bei der sowohl verschiedene Autorschaftskonzepte als auch ökonomische und ästhetische Interessen gekoppelt sind. Bergs Auftritt kann demnach mit dem von Reckwitz beschriebenen »konsumtorischen Kreativsubjekt«31 in Zusammenhang gebracht werden, welches er als hegemoniale Subjektform für die Postmoderne ausgemacht hat, die sowohl ökonomische als auch ästhetische Interessen zu befriedigen versucht, wozu sie sowohl körperorientierte als auch digitale Praktiken anwendet.32 Ein strukturell vergleichbarer Auftritt ist der bereits zu Beginn erwähnte Auftritt von Christian Kracht in der Harald Schmidt Show im Jahr 2001: Das Prinzip ist ein ähnliches wie bei dem Auftritt von Berg: Zu beobachten ist das Kreieren einer fiktiven Figur, die zum einen der Vermarktung und womöglich

31 Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 15. 32 Vgl. ebd., S. 555ff.

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auch dem Schutz der Privatsphäre dient, die ebenso aber diese Vermarktung kritisiert. Denn in der Übertreibung und Überschreitung von Grenzen kann auch oppositionelle Kraft liegen.33 Durch diese Kritik können Bilder traditioneller Autorschaft belebt werden.

III. F AZIT Sei es nun die Sympathien und Authentizität schaffende Medienjongleurin oder der sich literarisierende Schriftsteller, der durch seine Skurrilität auffällt, LateNight-Shows bieten eine Plattform für schriftstellerische Inszenierungen und können die Popularität steigern. Der Auftritt wird damit entscheidend im Kampf um die ›Ressource Aufmerksamkeit‹. Denn es können nur diese Autorinnen und Autoren als Autorsubjekt anerkannt sein, die von einer breiten Öffentlichkeit als solche auch wahrgenommen werden. Der Markt erzwingt demnach die Kooperation mit den Unterhaltungsmedien: »Festzustellen ist ein immer schnellerer Wechsel literarischer Moden bei stagnierendem Leser-Interesse. Das führt zu einem immer rascheren Verschleiß von Autoren. […] Die Lebensspannen der Bücher in den Buchläden verkürzen sich immer mehr, das Zeitfenster, in dem sie vom Konsumenten überhaupt wahrgenommen werden können, wird immer schmaler«.34

Late-Night-Shows bieten bzw. boten35 aufgrund der Veränderungen im Buchmarkt eine begehrte Plattform, auch für schriftstellerische Inszenierungen. Dass

33 Die Vorstellung von oppositionellen Kräften in der Popkultur geht zurück auf John Fiske, Lesarten des Populären. Cultural Studies Bd. 1., Wien: Turia und Kant 2000, S. 15. 34 Siegrid Löffler, Wer bestimmt, was wir lesen? Der globalisierte Buchmarkt und die Bücherflut: Wie literarische Moden gemacht werden und welche Rolle die Literaturkritik dabei spielt, in: Heribert Tommek/ Klaus-Michael Bogdal, Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Medien-Ökonomien – Autorpositionen, Heidelberg: Synchron 2012, S. 102. Im September 2012 berichtete Sueddeutsche.de: »0,00 Millionen wollen Harald Schmidt sehen« (http://www.sueddeutsche.de/medien/quotentief-fuer-late-night-show -harald-schmidt-floppt-bei-sky-1.1461789, Zugriff: 28.03.2013). Aufgrund der rückläufigen Quoten wechselte Harald Schmidt mit seiner Late-Night-Show in den vergangenen Jahren vom Sender Sat.1 zur ARD und zurück zu Sat.1. Derzeit (März2013)

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dabei Transformationen der Subjektform ›Autor/in‹ zu beobachten sind, scheint nicht zu überraschen. Schriftstellerinnen und Schriftsteller passen sich sowohl den Gegebenheiten im Buchmarkt als auch den Strukturmerkmalen der Shows an. Damit werden jedoch Klassifizierungen von Autorschaft und Positionierungen im literarischen Feld nicht mehr eindeutig. D.h. dass auch dem Besuch einer Late-Night-Show keine Positionierung im literarischen Feld inhärent sein muss. Die Aussage Kuttners »Ich kann ja gar kein Buch schreiben« steht in diesem Zusammenhang nicht nur für eine Distanzierung von einem ästhetisch autonomen Künstlerideal, und damit einer speziellen Inszenierungsstrategie, sondern für eine hegemoniale Strategie in Late-Night-Shows, mit der Aufmerksamkeit produziert wird. Bei dieser Strategie geht es nicht um den Wirklichkeitsbezug einer Aussage, sondern hauptsächlich darum, dass eine Aussage etwas beim Zuschauenden bewirkt, was in Erinnerung bleibt wie Sympathie und/oder Neugier. Eine etwas polemische Weiterführung der Aussage Kuttners bringt dies auf den Punkt: »Ich kann ja gar kein Buch schreiben« – aber verkaufen!

wird sie im Privatsender Sky ausgestrahlt. Wie lange diese Sendung noch eine begehrte Plattform für Autorinszenierungen sein wird, ist fragwürdig.

Der Autor auf Facebook Inszenierung im Sozialen Netzwerk E LISABETH S PORER

Autorinnen und Autoren stehen heute unter großem Druck. Sie werden nicht mehr als einzigartige Genies gesehen, denen es gegeben ist, Werke von besonderem Rang zu verfassen, und die deshalb verehrt werden. Außerdem ist die Konkurrenz stark angestiegen: Jahr für Jahr werden mehr Bücher produziert. Für die Verlage sind Verkaufszahlen wichtiger geworden, es wird immer stärker signalisiert, dass die Produktion von Literatur Luxus sei. Um sich nun von Kollegen der schreibenden Zunft abzuheben, bedarf es verschiedenster Strategien der Inszenierung. Vor allem der hohe Stellenwert der Medien Fernsehen und Internet zwingt Autoren dazu, diese für sich zu nutzen. Um auf dem literarischen Markt genügend Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, muss ein Autor über den reinen Text hinaus präsent sein und möglichst in Kommunikation mit seinen Lesern treten. Die Technologien des Web 2.0 im Internet bieten verschiedene Wege an, dies zu erreichen. Sie ermöglichen es, auf einfache Weise Informationen weiterzugeben, zu kommunizieren und sich auch zu inszenieren. Im Folgenden wird die postmoderne Lebenssituation mit dem Begriff ›Inszenierung‹ in einen Zusammenhang gebracht und dieser Konnex erläutert. Auch werden Soziale Netzwerke als Instrumente der Inszenierung beschrieben. Abschließend wird eine Kategorisierung für die Inszenierung von Autoren auf Facebook vorgeschlagen.

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I. S UBJEKT UND P OSTMODERNE Die Entwicklung der aktuellen Form von Inszenierung in Sozialen Netzwerken wurzelt im postmodernen Lebensstil und in der postmodernen Konstruktion von Subjekten. Durch die veränderten Lebensumstände hat sich auch die Konstruktion der Subjekte verändert. Während die Moderne die Symptome des Zerfalls zwar erkannte, aber den Glauben an das große Ganze noch nicht aufgegeben hatte, hat sich die Postmoderne mit der Auflösung des Subjekts in ein multiples Ich abgefunden. Die Pluralität hat alle Bereiche unseres Lebens verändert. »Pluralität« – so Wolfgang Welsch – »ist der Schlüsselbegriff der Postmoderne. Sämtliche als postmodern bekannt gewordene Topoi – Ende der Meta-Erzählungen, Dispersion des Subjekts, Dezentrierung des Sinns, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Unsynthetisierbarkeit der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster – werden im Licht der Pluralität verständlich.«1

Diese von Welsch genannten Kennzeichen zeigen, dass das Leben in der Postmoderne nicht mehr so stabil sein kann wie zuvor. Der Verlust des großen Ganzen, der mit Orientierungsverlust, Unklarheit und Risiken einhergeht, wird häufig als negatives Phänomen gesehen2 bzw. als Schicksal,3 dem man nicht entrinnen kann. Traditionelle Bindungen und Solidarität gibt es nicht mehr im gleichen Maß wie früher. Ein »Gemeinschaftsgefühl«, wie es vor dem 20. Jahrhundert existierte, ist durch die postmodernen Lebensumstände kaum zu finden. Ohne feste Anhaltspunkte wird es immer schwerer, das Leben zu ordnen und die Last der freien Entscheidungen zu tragen bzw. zu ertragen, die mit der heutigen Pluralität einhergehen. Jeder Einzelne ist in zunehmendem Maß für sich selbst und sein Leben verantwortlich. Auch wenn diese Probleme nicht zu leugnen sind und vor allem am Beginn der Postmoderne das Leben derjenigen erschwerten, die noch nicht für diese neue Freiheit bereit waren, sollte man auch die andere Seite der Medaille be-

1

Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 7. Aufl., Berlin: Akademie Verlag 2008, S. XVII.

2

Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Berlin: Suhrkamp 1986.

3

Max Weber, Vom inneren Beruf zur Wissenschaft, in: ders., Soziologie. Universalgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart: Kröner 1973, S. 311–339, hier S. 330, im Zusammenhang mit dem Phänomen des Pluralismus: »Denn Schwäche ist es: dem Schicksal der Zeit nicht in sein ernstes Antlitz blicken zu können.«

I NSZENIERUNG

IM

S OZIALEN NETZWERK

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trachten, wie dies Welsch tut. Er konzentriert sich auf den Aspekt der Freiheit und der Möglichkeiten, die durch diese eröffnet werden. Er sieht in der Postmoderne eine starke Tendenz zur Demokratisierung, die auf ethischen Grundlagen basiert, da es zwangsläufig zu Reibungspunkten kommt, die diskutiert werden müssen. Es gibt also nicht ein großes, allgemein gültiges Ziel bzw. ein großes Ganzes, auf das unhinterfragt von allen hingearbeitet wird, sondern es gibt viele Gruppen mit verschiedenen Zielen. Ein wichtiger theoretischer Aspekt der Postmoderne ist die bereits erwähnte »Dispersion des Subjekts«.4 Das Subjekt ist von der Instabilität der Welt und den Folgen, die mit der postmodernen Pluralität und Freiheit einhergehen, stark betroffen. Es gibt im Leben nicht mehr eine einzige, klar definierte Rolle, die es zu erfüllen gilt, sondern unterschiedliche. Das führt zur Auflösung einer einheitlichen Identität zugunsten mehrerer Identitäten. Das Subjekt ist also nicht mehr klar vordefiniert und kann sich je nach Situation verschieden verhalten. Man spricht in diesem Zusammenhang von Patchwork-Identität.5 So kann sich beispielsweise ein Autor über mediale Kanäle und Auftritte in der Öffentlichkeit eine bestimmte Identität zulegen und diese dort etablieren. Er kann sich als großer Literat, als schrulliger Eigenbrötler, als umgänglicher ›Normalo‹ oder – etwa durch vollkommene Abwesenheit – als Mysterium inszenieren.

II. I NSZENIERUNG Mit Inszenierung ist der Prozess gemeint, an dessen Ende die Performance steht.6 Inszenierung ist immer mit einer gewissen Absicht und daher auch mit einer reflexiven Komponente verbunden. Es geht hier um ein überlegtes Handeln, in dessen Zusammenhang dem Akteur bewusst ist, wie er sich verhält und warum er etwas Bestimmtes tut.7 Die Inszenierung umfasst verschiedene Handlungen, die schließlich in eine Performance münden. Der Begriff ›Inszenierung‹ kommt ursprünglich aus dem Theater, wird aber mittlerweile in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, in denen gehandelt wird, verwendet, da man jegliches Handeln mit der Aufführung in einem Theater vergleichen kann. »Die ›Aspekte‹ der Inszenierung und der Performance haben sich jedenfalls in vielen Hand4

W. Welsch, Postmoderne Moderne, S. XVII.

5

Vgl. Heiner Keupp u.a., Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, 4. Aufl., Reinbek: Rowohlt 1999.

6

Herbert Willems, Theatralisierung der Gesellschaft, Bd. 1: Soziologische Theorie und

7

Ebd., S. 80.

Zeitdiagnose, Wiesbaden: VS 2009, S. 15.

284 | ELISABETH S PORER

lungsbereichen offensichtlich verselbstständigt und – auch im Weltbewusstsein der Akteure – an Relevanz gewonnen. Gleichzeitig haben sich entsprechende Funktionen, Situationen und Rollen ausdifferenziert.«8 Auch die Art und Weise, wie sich Autoren auf der Bühne der Medien darstellen, ist mehr oder weniger parallel zu Auftritten im Theater zu sehen. Es wird bewusst etwas dargestellt, das von Rezipienten aufgenommen und bewertet wird. Allerdings hat sich die Darstellung insofern verändert, als die Gleichzeitigkeit von ›Aufführung‹ und ›Rezeption‹ in der Regel nicht mehr gegeben ist. Es ist nicht mehr garantiert, dass der Rezipient sofort auf eine ›Aufführung‹ reagiert. Gerade im Fall der Inszenierung im Internet ist es so, dass Rezeption bzw. Reaktionen zeitlich weit auseinander liegen können. Die Inszenierung der eigenen Person ist in manchen Bereichen negativ konnotiert. In Feldern wie Politik oder auch Religion ist es wichtig, dass Amtsträger glaubwürdig erscheinen. Eine offensichtliche Inszenierung kann dem entgegenwirken. Es geht hier in erster Linie um Authentizität. Rezipienten rechnen wohl auch hier mit einem gewissen Grad an Inszenierung, es geht aber in erster Linie darum, dass ein Auftritt stimmig ist und nicht gekünstelt wirkt. Die Person muss also als authentisch wahrgenommen werden, sonst fühlt sich das Publikum betrogen. Dies ist zum Teil auch bei Autoren der Fall, zumindest wenn es in ihren Büchern um ernste Themen geht. Gerade dann will der Rezipient die Sicherheit haben, einem ›seriösen‹ Autor vertrauen zu können. Dementsprechend muss der Autor sich dann auch in der Öffentlichkeit so geben, dass er dem Bild, das seine Leser von ihm haben, entspricht. Andererseits können Autoren auch mit der eigenen Authentizität spielen, indem sie sich nicht durchgehend gleich verhalten, sondern ihr Verhalten immer wieder ändern, sodass dieses unvorhersehbar wird. Letzteres lässt sich immer wieder beobachten, oft auch im Zusammenhang mit Skandalen. Da es den Autoren in diesem Fall nicht um Glaubwürdigkeit, sondern um Aufmerksamkeitserregung geht, kann auch Unverlässlichkeit eine erfolgreiche Strategie sein.

III. I NSZENIERUNG IN

DER AKTUELLEN

M EDIENWELT

»Die Identität eines Menschen konstituiert sich über die Anerkennung des Selbstwertes durch Mitmenschen. Menschen sind deswegen permanent bestrebt,

8

H. Willems, Theatralisierung, S. 81.

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sich der Anerkennung anderer zu versichern.«9 Dies ist laut Hegel das »Grundmuster menschlichen Handelns«.10 In diesem Zusammenhang sind aktuelle gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen zu sehen, die dazu führen, dass die Inszenierung in den meisten Bereichen des Lebens kontinuierlich zunimmt, nicht zuletzt im literarischen Betrieb. In der soziologischen Forschung ist in den letzten Jahren viel zum Thema Aufmerksamkeit publiziert worden. Von der »Ökonomie der Aufmerksamkeit«11 war ebenso die Rede wie vom »Kampf um Aufmerksamkeit«.12 Dies steht in engem Zusammenhang mit den bereits angedeuteten aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Es hat zwar immer schon Inszenierung und den Wunsch nach Aufmerksamkeit gegeben, aber nie waren die Möglichkeiten so vielfältig, sich in dieser Hinsicht zu verwirklichen. Es gibt eine große Anzahl von Medien bzw. Medienformaten (Zeitung, Fernsehen, Radio, Internet), in denen man sich präsentieren kann. Allerdings war es genau aus diesem Grund auch noch nie so schwer, auf sich aufmerksam zu machen, wie heute. Die Rezipienten werden von einer Vielzahl an Informationen und Reizen aus Zeitungen, Fernsehen und Internet überschwemmt. Sie müssen eine Selektion treffen, da nie alles aufgenommen bzw. wahrgenommen werden kann. Autoren müssen also – angesichts der großen Menge an Kollegen – darauf achten, dass sie überhaupt wahrgenommen werden. Bei den ›Stars‹ der Branche übernimmt der jeweilige Verlag die Werbung und das Marketing mit eigenen Werbekampagnen für neue Buchtitel. Weniger bekannte Autoren müssen da schon selbst tätig werden. Medienauftritte sind natürlich immer gut für die Aufmerksamkeit, gewonnene Preise noch besser, allerdings ist es für weniger bekannte Autoren nicht so leicht, einen Fernsehauftritt oder ein Zeitungsinterview zu bekommen. Da ist es schon viel einfacher, sich eine Homepage einzurichten. Über diese können dann Texte, Gedanken, Werbung, Fotos oder auch Lesungstermine veröffentlicht werden. Die Rahmenbedingungen für Autorinnen und Autoren haben sich – nicht zuletzt durch das Internet – in den letzten zehn bis zwanzig Jahren wesentlich verändert. So gibt es nun die Möglichkeit, Texte ohne Verlag und Druckkosten digital zu veröffentlichen und die eigene Person ins digitale Rampenlicht zu stellen. Heute muss sich ein Autor nicht mehr in HTML-Programmierung auskennen. Es gibt Anbieter, die die technische Infrastruktur zur Verfügung stellen. 9

Kristina Nolte, Der Kampf um Aufmerksamkeit: Wie Medien, Wirtschaft und Politik um eine knappe Ressource ringen, Frankfurt a.M.: Campus 2005, S. 11.

10 Ebd., S. 11. 11 Georg Franck, Ökonomie der Aufmerksamkeit: Ein Entwurf, Berlin: Hanser 1998. 12 K. Nolte, Kampf um Aufmerksamkeit.

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Content Management Systeme (CMS) ermöglichen es, Texte mittels eines WebEditors zu erstellen bzw. zu bearbeiten, von dem die HTML-Programmierung automatisch generiert wird. Aber auch Blog-Software oder Twitter bieten Schriftstellern die Möglichkeit, Texte, Gedanken und Fotos problemlos auf der eigenen Homepage zu veröffentlichen. Dass die Nutzung des Internets inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, zeigt sich darin, dass sich auch renommierte Autoren der älteren Generation – wie etwa Alexander Kluge, um nur ein Beispiel zu nennen – auf einer Homepage präsentieren. Eine der neuesten und einfachsten Varianten, sich medienwirksam zu inszenieren, ist es, sich über die Social-Media-Plattform Facebook zu präsentieren. Facebook ist das bekannteste Beispiel für die als Web 2.0 bekannte, interaktive Form des Internets. Die Entwicklung der aktuellen Form von Inszenierung in Sozialen Netzwerken wurzelt im postmodernen Lebensstil und in der postmodernen Konstruktion von Subjekten.

IV. W AS IST W EB 2.0? Web 2.0 steht für Elemente der Interaktion, Kommunikation und Kollaboration im Internet. Nutzer können hier nicht nur Inhalte konsumieren, sondern selbst Inhalte generieren und im Internet veröffentlichen. Schon zu Beginn des Internets waren Ideen im Umlauf, die sich mit dem decken, was heute als Web 2.0 bekannt ist. Das Internet war auch in seinen Anfängen als Kommunikationsmedium gedacht. In der Geschichte des Mediums finden sich schon in den 1960er Jahren Lern-Communities an Universitäten, Mailinglisten und Kommunikationswerkzeuge, die an heutige Foren erinnern. In den Anfängen des öffentlich zugänglichen Internets bestanden dessen Inhalte vor allem aus privaten Homepages, die spezifisches Wissen (z.B. von Fans, Spezialisten usw.), private Fotos, kommentierte Linklisten etc. bereitstellten. Auch sogenannte Webringe waren zu finden, die auf befreundete Webseiten verlinkten. Dies alles erinnert bereits an das Phänomen, das heute als Web 2.0 bezeichnet wird. Allerdings war die Entwicklung natürlich immer an den jeweiligen Stand der Technik geknüpft. Zum Beispiel wäre eine Serverleistung, wie sie mittlerweile von Facebook und anderen Plattformen13 erbracht wird, vor zwanzig Jahren noch gar nicht möglich gewesen. So bot die technische Weiterentwicklung auch die Chance, mit Bil13 Jan Schmidt, Das neue Netz: Merkmale, Praktiken und Folgen des Web 2.0, Konstanz: UVK 2011, S. 25: »Als ›Plattform‹ sollen solche Angebote bezeichnet werden, die einer Vielzahl von Nutzern eine gemeinsame Infrastruktur für Kommunikation oder Interaktion bieten.«

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dern, Videos und Audio-Dateien Multimedialität ins Internet zu bringen. Die heute wohl bekanntesten und meist genutzten Anwendungen des Web 2.0 sind Facebook und Twitter. Facebook gehört zur Gruppe der Sozialen Netzwerke und bietet den Anwendern eine große Vielfalt an Möglichkeiten der Interaktivität. Ein weiterer Vorteil von Sozialen Netzwerken besteht darin, dass sie (zumindest noch) kostenlos genutzt werden können und so die Nutzer ohne finanziellen Aufwand Eigenwerbung und Selbstinszenierung betreiben können. Soziale Netzwerke sind Online Communities, in denen man Kontakte pflegt. Um an einer Community teilhaben zu können, muss man sich zunächst mit gewissen persönlichen Angaben anmelden. Sodann erstellt man eine Profilseite, die verschiedene Informationen über die angemeldete Person enthalten kann. Was davon für andere Nutzer des Netzwerks sichtbar ist, wird festgelegt. In der Folge können auch verschiedenen Gruppen von Nutzern jeweils andere Informationen angezeigt werden. Da in der westlichen Welt Facebook im Moment als vorherrschendes Soziales Netzwerk gesehen werden kann, wird im Folgenden beispielhaft nur auf dieses eingegangen. Das Hauptaugenmerk liegt bei Facebook darauf, ›Freunde‹ zu kontaktieren und zu gewinnen. Man kann Freundschaftsanfragen verschicken, die beantwortet werden müssen. Somit helfen diese Communities dabei, Freundschaften zu pflegen, sowohl Real-Life- als auch OnlineFreundschaften. Jeder Nutzer hat eine ›Pinnwand‹. An dieser kann man entweder selbst Statusmeldungen posten oder Freunde können Nachrichten hinterlassen, Links vorschlagen und vieles mehr. Alle Elemente, die sich auf der Pinnwand finden, können kommentiert werden. Außerdem kann man für bestimmte Themen, Firmen, Bands, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Vereine usw. ›Fanseiten‹ anlegen. Auf diesen stehen ebenfalls Pinnwände zur Verfügung.

V. F ACEBOOK

ALS I NSTRUMENT DER I NSZENIERUNG

Um Facebook als Marketing-Instrument bzw. Instrument zur Inszenierung nutzen zu können, muss man zunächst eine Fanseite erstellen. Dies erfolgt mit dem bereits angelegten Profil einer Institution bzw. einer Einzelperson. Die Person, die als Administrator der Seite fungiert, kann dann Einstellungen tätigen, Statusmeldungen posten oder auch im Namen der Fan-Page »Gefällt mir« vergeben. Um als Interessent die veröffentlichten Postings dieser Seite bei seinen eigenen »Neuigkeiten« sehen zu können, muss man auf einen »Gefällt mir«-Button klicken.

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An der Pinnwand einer solchen Seite kann der Administrator bzw. können die Administratoren (man kann mehrere Personen mit Facebook-Profil dazu qualifizieren) ebenso wie auf privaten Profilseiten Statusmeldungen, Fotos, Links, Videos, Notizen etc. veröffentlichen. Außerdem können berechtigte Administratoren bestimmen, inwieweit sich Fans hier einbringen können, also ob sie Pinnwandeinträge hinterlassen bzw. Links posten dürfen usw. Ein anderer Vorteil von Fanseiten gegenüber normalen Profilseiten besteht darin, dass es hinsichtlich der Anzahl von Fans keine Beschränkungen gibt, hinsichtlich der Anzahl von Freunden auf Profilseiten aber sehr wohl. Außerdem ist es dort viel einfacher Anwendungen, wie etwa Gewinnspiele, einzubauen. Uwe Hettler beschreibt die Vorteile von Firmen-Fanseiten folgendermaßen: »Die Kommunikation mithilfe von Fanseiten ermöglicht es einer Marke, im Kreis der Fans direkt in Erscheinung zu treten. Dies wäre auf der Basis von persönlichen Profilen, zum Beispiel über den Umweg von Facebook-Profilen der eigenen Mitarbeiter, nicht in dieser Form möglich. Facebook-Fanseiten haben gegenüber den personenbezogenen Profilseiten zudem den Vorteil, dass mehrere Administratoren für deren Pflege benannt werden können, wobei deren Namen nach außen nicht sichtbar werden.« 14

Autoren nutzen derartige Fanseiten mittlerweile rege, einerseits, um Kontakt mit Lesern zu pflegen, andererseits, um sich selbst und ihr Schaffen zu präsentieren. Sogenannte Statusmeldungen dienen dazu, Werbung für Lesungen oder sonstige Auftritte zu machen, Fotos bzw. Videos zu verlinken, auf Interviews oder Rezensionen zu Büchern oder auch auf Zeitungsartikel zu verweisen. Auch Diskussionen zu aktuellen Themen in Kultur und Politik werden initiiert. Hierbei sind Grad der Inszenierung und Tiefe der Einblicke in die Privatsphäre sehr verschieden. Manche Autoren zeigen Bilder vom gemütlichen Zusammensitzen mit einem Glas Wein oder sie werfen sich vor der Fotokamera in Pose, andere beschränken sich auf die Ankündigung von Auftritten. Manche Seiten werden auch von Verlagen betrieben. Im Folgenden beschränke ich mich jedoch auf Seiten, die von den Autoren selbst betreut werden. Neben diesen gibt es Autoren, die auf das Anlegen einer Fanseite verzichten, dafür aber ihr privates Profil öffentlich zugänglich machen und dabei die Funktion für sich nutzen, dass man private Seiten ›abonnieren‹ kann und dann ebenfalls die neuesten Beiträge angezeigt bekommt. Die Postings auf Facebook bestehen aus Texten (textuelle Komponente), Fotos (bildliche Komponente) und Links (verweisende Komponente). Die Beiträge 14 Uwe Hettler, Social Media Marketing. Marketing mit Blogs, Sozialen Netzwerken und weiteren Anwendungen des Web 2.0, München: Oldenbourg 2010, S. 202.

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im Sozialen Netzwerk können aus einer der drei Komponenten, aus zwei oder aus allen drei bestehen. Die verwendeten Bilder und Texte spiegeln die Art der Inszenierung wider. Wenn nur Postings erstellt werden, die mit der Person des Autors zu tun haben (Fotos, Auftritte usw.), dann steht diese auch im Mittelpunkt der Inszenierung. Wenn vor allem Texte veröffentlicht werden, dann steht entweder die Ästhetik des Schreibens im Zentrum oder die Betonung liegt auf Meinungsäußerungen des Autors. Es gibt aber auch die Variante, dass Postings auf den ersten Blick nichts mit Autor, Meinungen oder Schaffen zu tun haben, sondern beispielsweise nur dem Verbreiten von Links, Fotos etc. dienen, deren Auswahl unter Umständen auch mehr oder weniger wahllos erscheinen mag. Doch auch diese Form der Verwendung kann auf bestimmte Interessen oder eine gewollte Inszenierung hindeuten.

VI. T YPOLOGIE DER AUTOREN -F ANSEITEN AUF F ACEBOOK Fanseiten werden mittlerweile von den meisten großen Unternehmen, von Vereinen, Politikern und immer mehr auch von Kunstschaffenden eingerichtet. In den letzten Jahren sind die Zahlen sogenannter Fans sprungartig angestiegen. Das Publizieren von Links, Fotos, Postings usw. ist auf Facebook – wie schon ausgeführt – problemlos zu bewerkstelligen. Diese Elemente einer Fanseite werden in der Folge auch weiterverbreitet. Durch ›Teilen‹ können Fans sie auf der Pinnwand des eigenen Profils anzeigen. Somit ist die Meldung dann auch für deren Freunde sichtbar und kann von diesen wieder geteilt werden. Es werden auch Promotion-Angebote – etwa Verlosungen von Büchern oder Treffen mit Autoren – über Fanseiten beworben, Umfragen gestartet etc. Auch wenn sich bei verschiedenen Autoren Zweck und Art der Inszenierung auf Facebook häufig unterscheiden, gibt es doch Überschneidungen. Im Folgenden werden die Facebook-Fanseiten von ausgewählten Autoren danach kategorisiert, was auf ihrer Seite das vorherrschende bzw. auffälligste Prinzip ist. Manche Autoren führen ein ›Doppelleben‹ und können unter mehreren Kategorien eingeordnet werden. Es soll hier versucht werden, einen knappen Überblick über die Möglichkeiten der Eigen-PR bzw. Selbstinszenierung zu bieten. 1. Der Autor im Hintergrund Es gibt Autoren, die ihr Profil vor allem dazu verwenden, Websites, Artikel, Fotos, Witze, Videos etc. zu verlinken. Manchmal werden diese Links kommen-

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tarlos gepostet, teilweise werden sie mit Annotationen versehen, die dabei helfen, den verlinkten Inhalt einzuordnen und den Grund für die Verlinkung zu erkennen. Die Auswahl kann bereits als Teil der Inszenierung des Autors betrachtet werden. Was sind seine Interessen? Was unterstützt er? Es kann sich aber auch um ›Nonsens-Links‹ zu Internetseiten handeln, die keinen Bezug zum Autor erkennen lassen. Bei diesen Formen der Inszenierung stehen nicht der Autor und seine Tätigkeit im Mittelpunkt, sondern eher seine Interessen, Hobbys, sein Freundes- bzw. Bekanntenkreis etc. Der ›wirkliche‹ Mensch verbirgt sich hinter gezielt ausgewählten Informationen, die einerseits nur indirekt auf die Persönlichkeit zurückschließen, diese andererseits aber in einem gewissen Licht erscheinen lassen. Dadurch soll ein gewünschtes Image erzeugt werden, das jedoch auch wieder geändert werden kann. Viele Beispiele für Postings ohne bestimmten Bezug zum Autor finden sich etwa auf den Seiten von Thomas Glavinic und Peter Glaser. Die Postings haben eher unterhaltenden Charakter und präsentieren unter anderem Fundstücke aus dem Internet. Abb. 1: Fotomontage

Abb. 2: I like this post

© Thomas Glavinic, Hanser Verlag

© Peter Glaser

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Auf Peter Glasers Seite fällt eine obsessiv anmutende Sammlung von Katzenfotos auf.

Abb. 3: Grumpy Cat

Abb. 4: Katzengraffiti

© Peter Glaser

© Peter Glaser

2. Der Text im Mittelpunkt Manche Autoren arbeiten bei ihrer Inszenierung in hohem Maß mit der Ästhetik ihrer Sprache und stellen bei ihren Internetauftritten Texte in den Mittelpunkt. Es kann sich neben Prosa und Lyrik auch um Experimentelles, etwa um Wortneuschöpfungen, handeln. Teilweise bestehen die Postings aus einer Kombination von Texten und Bildern. Peter Glaser versucht sich fast täglich darin, Wortneuschöpfungen zu kreieren, die zu tagesaktuellen Themen passen oder ihm gerade einfallen. Beispielsweise betitelt er ein gefälschtes Bild von Lidl-Lasagne mit einem Pony auf der Packung mit »Schummelreiter« und spielt damit auf den aktuellen Pferdefleischskandal in Deutschland und Österreich an.

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Abb. 5: Fressefreiheit

Abb. 6: Schummelreiter

© Peter Glaser

Abb. 7: Guttenberg

© Peter Glaser

© Peter Glaser

Martin Auer beschäftigt sich in seinen Postings ebenfalls regelmäßig mit Sprache und veröffentlicht Prosa-Texte und Gedichte, darunter auch Haikus.

Abb. 8: Haiku

Abb. 9: Weihnachtsgeschichte

© Martin Auer

Abb. 10: Nebelfeucht

© Martin Auer

© Martin Auer

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3. Das Privatleben im Mittelpunkt Manchmal wird nicht eine eigene Fanseite angelegt, sondern das ›private‹ Facebook-Profil zur Inszenierung verwendet. In diesem Fall wird das ›private‹ Profil öffentlich sichtbar gemacht. So wird auch der Umstand genutzt, dass ›private‹ Profilseiten seit einiger Zeit abonniert werden können. So ist es Fans möglich, kontinuierlich nachzuverfolgen, was sich auf der Seite eines Autors tut. In diesem Fall ist auch die ›private‹ Pinnwand-Kommunikation des Autors mit Freunden und Bekannten für jeden sichtbar und nicht mehr privat. Also unterscheiden sich diese Profile im Inhalt meist nicht wirklich von Fanseiten. Die Entscheidung eines Autors, sein ›privates‹ Profil zu öffnen, kann jedoch als Statement betrachtet werden, die Leser am Privatleben teilnehmen lassen zu wollen. Robert Menasse zum Beispiel inszeniert sein Privatleben unter anderem auf seiner ›privaten‹ Facebookseite mit Fotos von Familienmitgliedern, Kollegen und Freunden, Reisefotos, Fotos von Dreharbeiten usw. Selbst die Produktion neuer Pressefotos wird dokumentiert.

Abb. 11: Pressefoto

Abb. 12: Robert Menasse mit Reinhold Messner

© Robert Menasse

© Robert Menasse

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Auf Fan-Seiten kann natürlich ebenfalls Privates inszeniert werden. Auch dafür kann Robert Menasse als Beispiel angeführt werden, der uns regelmäßig Einblicke in die Hotelzimmer bzw. -betten gewährt, in denen er auf seinen Reisen übernachtet. Dies führt dazu, dass seine Fans immer wissen, wo Menasse sich gerade aufhält. Abb. 13: Hotelzimmer Triest

© Robert Menasse

Martin Auer macht seinen Lesern alltägliche Entdeckungen zugänglich, die er ihnen in Form von Fotos, Filmen oder Audiodateien präsentiert.

Abb. 14: Amsel-Audio

Abb. 15: FirmenschildEntdeckung

© Martin Auer © Martin Auer

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Unter Umständen werden jedoch auch falsche Fährten gelegt. Wenn beispielsweise Thomas Glavinic ›Persönliches‹ öffentlich preisgibt, geschieht dies nicht selten so überspitzt, dass es sich kaum um reale Informationen handeln kann. Durch diese Art der Inszenierung konstruiert er eine zumindest teilweise fiktive Identität, die nicht mit der realen Person Thomas Glavinic gleichgesetzt werden kann. Ähnliches ist auch in seinem Roman Das bin doch ich zu erkennen, in dem es auf den ersten Blick um Autobiographisches zu gehen scheint, bei dem es sich aber bei genauerer Betrachtung um Fiktion und Inszenierung handelt. 15 Leider sind die meisten der persönlichen Postings von Thomas Glavinic mittlerweile nicht mehr zugänglich.

Abb. 16: Anekdote

© Thomas Glavinic, Hanser Verlag

15 Vgl. den Beitrag von Stefan Neuhaus in diesem Band.

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Abb. 17: Landkonditoreien

© Thomas Glavinic, Hanser Verlag

Auch Kristof Magnusson ist ein Autor, der gerne öffentlich bekannt gibt, wie er seine Zeit verbringt, ob es sich nun um einen Segelausflug oder um andere Erlebnisse handelt, die er unbedingt seinen Lesern vermitteln will. Aber auch Alltagsentdeckungen werden bei Magnusson, wie bei Martin Auer, festgehalten und gepostet. Abb. 18: Magnusson beim Segeln

Abb. 19: Was er gerade macht

© Christoph Magnusson © Christoph Magnusson

4. Die Performance im Mittelpunkt Inszenierungen dieser Kategorie zielen darauf ab, die Fans zu verwundern, zu erstaunen und zu verunsichern. Bei vielen Postings dieser Art stellt sich die Frage: ›Wieso macht der Autor das?‹ Die Person des Künstlers steht performativ im Mittelpunkt. Vor allem durch Fotos oder auch durch Kommentare wird der

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Leser immer wieder mit neuen Absonderlichkeiten konfrontiert. Diese Form der Inszenierung zielt stark auf die Erregung von Aufmerksamkeit bzw. sogar auf Provokation ab. Die Absicht des Autors kann durch die Muster seiner Postings rasch erkannt werden. Sibylle Berg nutzt seit geraumer Zeit Facebook sehr intensiv zur Präsentation der eigenen Person. Sie postet täglich mehrfach im Social Network. Gerne veröffentlicht sie etwa Fotos als kleine Einblicke in ihr Leben, das durch Bergs Performance auf den Bildern häufig skurril anmutet. So zeigt sie etwa eine neue Reisetasche, in der sie selbst zusammengerollt liegt, präsentiert sich mit einer übertrieben erscheinenden Verneigungspose am »schönste[n] Ort in Weimar« oder deutet in einem Hotel einen ›Souvenir‹-Diebstahl an. Abb. 20: Weimar

Abb. 21: Reisetasche

© Sibylle Berg

© Sibylle Berg

Abb. 22: Standesgemäßer Abgang

© Sibylle Berg

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Außerdem ›neckt‹ Sibylle Berg ihre Leser immer wieder mit Aufnahmen der eigenen Person an teilweise schwer erkennbaren Orten und der Frage: »Wo bin ich?«. Solche Fragen sind im Facebook-Marketing sehr beliebt, da auf diese Weise eine Kommunikation zwischen Poster und Fan erzeugt und Letzterer stärker an die Fanseite gebunden wird.

Abb. 23: Wo bin ich I

© Sibylle Berg

Abb. 25: Wie mir neulich ein Penis gewachsen ist.

© Sibylle Berg

Abb. 24: Wo bin ich II

© Sibylle Berg

Berg inszeniert auch ihre spezielle Art von Humor, die ebenfalls dazu geeignet ist, Aufmerksamkeit zu erzeugen. So scherzt sie beispielsweise darüber, dass ihr »neulich ein Penis gewachsen« sei, und illustriert dies mit einem gestellten Foto, auf dem etwas Spitzes unter ihrer Hose zu erkennen ist. Der Scherz passt auch zu ihrem aktuellen Buch, in dem es um die geschlechtliche Verwirrungen eines Hermaphroditen geht.

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5. Das Marketing im Mittelpunkt Es gibt auch Autoren, die sich als richtiggehende Marketing-Experten erweisen. Sie posten fast täglich nach allen Regeln der Facebook-PR, weisen auf eigene Neuveröffentlichungen und Veranstaltungen hin, setzen Links zu Rezensionen etc. Im Vordergrund steht hier das professionelle Promoten eines Autors hinsichtlich seines Schaffens und seiner Person. Cornelia Travnicek postet häufig Statements, die Aussagen darüber treffen, was sie gerade macht. Man kann durchgehend mitverfolgen, wo sie ihre Arbeit als Schriftstellerin gerade hintreibt und welche kleineren oder größeren Erfolge sie feiert. Sie war beispielsweise in diesem Jahr zum Bachmannpreis eingeladen und dokumentierte ihre ReiAbb. 26: Lesungsankündigung se auf Facebook. Auch die Platzierung ihres Buches Chucks in einem Geschäft wird von Travnicek thematisiert und wohlwollend kommentiert. Sie ist offensichtlich damit zufrieden, zwischen Maja Haderlap und Peter Handke platziert worden zu sein. Cornelia Travnicek beantwortet auf © Cornelia Travnicek ihrer Fanseite auch Fragen, beispielsweise die nach ihrem Arbeitsplatz. Sie tut dies, indem sie ein Foto postet und feststellt, dass sie bis jetzt keinen Arbeitsplatz hatte, aber es einmal damit probieren wolle. Abb. 27: Rezension

© Cornelia Travnicek

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Abb. 28: Buchhandlung

Abb. 29: Arbeitsplatz

© Cornelia Travnicek

© Cornelia Travnicek

Aber auch andere Autoren und Autorinnen, wie beispielsweise Olga Flor oder Jenny-Mai Nuyen, nutzen ihre Facebook-Fanseite vor allem für diese Zwecke. Abb. 30: Interview des Verlags

Abb. 31: Olga Flor im Radio

© Olga Flor

© Jenny-Mai Nuyen

Auch Thomas Glavinic postet nicht nur wahllos erscheinende Links bzw. betreibt Inszenierung der eigenen Identität, er vermarktet auch seine Bücher und Veranstaltungen über Facebook.

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6. Politik und Weltgeschehen im Mittelpunkt Manche Schriftsteller setzen sich intensiv mit Politik und dem Weltgeschehen auseinander und wollen dies auch auf Facebook zeigen. Aktuelle politische Ereignisse, Reisen zu politischen Veranstaltungen und sonstige Tätigkeiten, die mit der Weltanschauung des Autors zu tun haben, werden auf der Fanseite erörtert. Somit steht in diesem Fall die Sicht des Autors auf die Welt und auf seine Umwelt im Mittelpunkt. Aber in der Regel kommt bei dieser Art der Inszenierung der Autor selbst als Person nicht zu kurz. Die öffentliche Zurschaustellung von Meinungen erregt auch eine gewisse Aufmerksamkeit. Abb. 32: FPÖ

© Robert Menasse

Abb. 33: Essay zur EU auf Facebook

© Robert Menasse

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Abb. 34: Uni brennt

© Robert Menasse

Wiederum kann Robert Menasse als Beispiel für diese Art der Inszenierung dienen. Er verwendet Facebook unter anderem dazu, politische Statements abzugeben bzw. politische Texte zu veröffentlichen. Hierfür verwendet er die sogenannte »Notiz-Funktion«, die es Nutzern ermöglicht, längere Texte zu verfassen und dann, beispielsweise auf der Fanseite, zu verlinken. Diese Texte können von Facebook-Usern kommentiert werden, was bisweilen zu hitzigen Diskussionen zum jeweiligen Thema führt. Thematisch konzentriert sich Menasse auf die österreichische Politik und die EU, aber auch politische Aktionen von Studierenden werden von ihm unterstützt. Matin Auer erklärt auf Facebook seine Abneigung gegen die Todesstrafe oder kommentiert ironisch die Wahlwerbung der Österreichischen Volkspartei. Er nutzt Facebook auch, um Aufrufe zu starten oder offizielle Statements abzugeben.

Abb. 35: Todesstrafe

Abb. 36: Statement

© Martin Auer

© Martin Auer

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Abb. 37: ÖVP Wahlwerbung

© Martin Auer

Ein weiterer österreichischer Autor, der gerne politische bzw. weltanschauliche Themen kommentiert, ist Fanzobel. In seinen Postings ist eine pessimistische Grundstimmung auszumachen. Hier erstrecken sich seine Themen von Nahrungsmitteln bis zu Hierarchiemustern. Abb. 38: ZORN-Manifest

Abb. 39: Kuriosum

© Franzobel

© Franzobel

Formen der Grenzüberschreitung

Das bin doch ich – nicht Autorfiguren in der Gegenwartsliteratur (Bret Easton Ellis, Thomas Glavinic, Wolf Haas, Walter Moers und Felicitas Hoppe) S TEFAN N EUHAUS

R AHMEN I: S OZIALGESCHICHTLICHE V ORAUSSETZUNGEN Das moderne Subjekt ist im 18. Jahrhundert in der Folge der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Ablösung des (dann schon sehr brüchigen) christlichfeudalen Weltbildes entstanden, und wie die einschlägigen Texte der deutschsprachigen Literatur zeigen (etwa Dramen und Lyrik der jungen Stürmer und Dränger Goethe und Schiller), wurde es bereits krisenhaft geboren. Dennoch wird, man denke an Kants kleine Schrift Was ist Aufklärung?, in Philosophie, Literatur und Kunst ein emphatischer Freiheitsbegriff entworfen, der die Selbstbestimmung des Subjekts zumindest als mögliches Fernziel ausgibt. In der Zeit um 1900, mit Beginn der sogenannten Klassischen Moderne, kippt diese Vorstellung unter dem Eindruck neuerer Erkenntnisse und Entwicklungen. Sigmund Freud hat in diesem Zusammenhang von den drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit gesprochen.1 Der Astronomie nach Kopernikus (die Erde ist nicht Mittelpunkt des Weltalls) und der Evolutionstheorie Charles Darwins (der

1

Vgl. Sigmund Freud, »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«, in: ders., Werke aus den Jahren 1917-1920, unter Mitwirkung v. Marie Bonaparte u.a. hg. von Anna Freud, Frankfurt a.M.: Fischer 1999, S. 3-12.

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Mensch ist ein Produkt der Natur) fügt er die Psychoanalyse hinzu, die gezeigt habe, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus«.2 Die Veränderungen des Weltbildes führen zu Radikalisierungen, die nach dem weitgehenden Ende der Zensur in der Zeit der Weimarer Republik offen zutage treten. Während Literatur und Kunst darin eine Chance sehen, dem Subjekt seine eigenen Begrenztheiten zu zeigen und ihm so die Möglichkeit zu geben, die vorhandenen Spielräume besser zu nutzen, setzen die Vertreter von Ideologien auf einfache Rezepte, die – wie es dann im Nationalsozialismus und im Sozialismus zu sehen ist – einen vormodernen Zustand herstellen, in dem sich das Subjekt als Teil eines größeren Ganzen fühlen kann. Die Attraktivität solcher Angebote ist für Subjekte offenbar sehr groß, denn die entsprechenden Systeme in Europa führten zu Katastrophen und Untergängen, die letztlich genau das Gegenteil der Versprechungen ideologischer ›Führer‹ zeitigten. Nach dem 2. Weltkrieg gab es neue Anläufe, in der Auseinandersetzung mit der bisherigen Entwicklung und der vorgefundenen Gegenwart dem Subjekt seine Begrenzungen und Möglichkeiten aufzuzeigen, ein bekanntes Beispiel ist die Kritik an einer pervertierten Aufklärung durch die Kritische Theorie. 3 Die wenig später einsetzende Postmoderne konnte daran anschließen. Wolfgang Welsch hat die von ihm so genannte »postmoderne Moderne« als »Durcharbeitung und Verwandlung der Moderne« oder auch als Radikalisierung der Moderne bezeichnet und »Pluralität« als ihren emphatischen »Schlüsselbegriff« identifiziert. Gegenbegriff ist für ihn »Pluralismus«, der »zur Uniformierung in den diversen Erscheinungsformen der Gleichgültigkeit, Indifferenz und Beliebigkeit« führe. 4 Pluralität ist für Welsch die eindeutig positive »Grunderfahrung der Postmoderne«: »die des unüberschreitbaren Rechts hochgradig differenter Wissensformen, Lebensentwürfe, Handlungsmuster«.5 Daraus ergibt sich im besten Fall eine große Gestaltungsoffenheit für das Subjekt. Das Problem ist allerdings, dass diese Gestaltungsoffenheit auch in Orientierungslosigkeit kippen kann. Zu den durch die Postmoderne aufkommenden Konzepten gehörte die Forderung des Schriftstellers Norman Mailer, des Literaturwissenschaftlers Leslie Fiedler und anderer, eine »Verbindung von Elite- und Massenkultur«6 zu errei-

2 3

Ebd., S. 11. Vgl. v.a. als bekanntesten Text: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 15. Aufl., Frankfurt a.M.: Fischer 2004.

4

Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 6. Aufl., Berlin: Akademie

5

Ebd., S. 5.

6

Ebd., S. 15.

Verlag 2002, S. XVII u. 6.

A UTORFIGUREN IN DER G EGENWARTSLITERATUR

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chen. Literatur und Kunst wurden als Teil der bisherigen Herrschaftsinstrumente auch in dem Sinn begriffen, dass sie den Gegensatz zwischen dem Bildungsbürgertum und der Arbeiterklasse zementierten. Freilich hat sich in den darauffolgenden Jahrzehnten in den westlichen Gesellschaften, auch unter dem Eindruck der Veränderungen der sogenannten Arbeiterklasse, die der Theorie des Klassenkampfs zugrunde liegende marxistische Lehre als weitgehend inadäquat herausgestellt, einerseits, weil sie der Komplexität der Phänomene nicht angemessen ist, andererseits (was daraus folgt), dass sie in der Umsetzung sogar gegenteilig wirkt (also Ungerechtigkeiten befördert). Mit den Dispositionen des Subjekts in der jüngeren Zeit haben sich bereits zahlreiche WissenschaftlerInnen, vor allem der Soziologie, beschäftigt. Andreas Reckwitz hat Subjekt und Identität wie folgt bestimmt und voneinander abgegrenzt: »Wenn mit dem Subjekt die gesamte kulturelle Form gemeint ist, in welcher der Einzelne als körperlich-geistig-affektive Instanz in bestimmten Praktiken und Diskursen zu einem gesellschaftlichen Wesen wird, dann bezeichnet die ›Identität‹ einen spezifischen Aspekt dieser Subjektform: die Art und Weise, in der in diese kulturelle Form ein bestimmtes Selbstverstehen, eine Selbstinterpretation eingebaut ist, wobei diese Identität immer direkt oder indirekt auch mit einer Markierung von Differenzen zu einem kulturellen Anderen verknüpft ist.«7

Die bereits skizzierte Entwicklung des Subjekts hat folgende Konsequenzen: »Die Moderne produziert keine eindeutige, homogene Subjektstruktur, sie liefert vielmehr ein Feld der Auseinandersetzung um kulturelle Differenzen bezüglich dessen, was das Subjekt ist und wie es sich formen kann. Kennzeichnend für die Moderne ist gerade, dass sie dem Subjekt keine definitive Form gibt, sondern diese sich als ein Kontingenzproblem, eine offene Frage auftut, auf die unterschiedliche, immer wieder neue und andere kulturelle Antworten geliefert und in die Tat umgesetzt werden. […] Gleichzeitig sind die Subjektstrukturen nicht eindeutig und homogen gebaut, sie sind vielmehr durch eine spezifische Hybridität gekennzeichnet: Subjektkulturen erweisen sich als kombinatorisches Arrangement verschiedener Sinnesmuster, und Spuren historisch vergangener Subjektformen finden sich in den später entstehenden, subkulturelle Elemente in den dominanten Subjektkulturen, so dass sich eigentümliche Mischungsverhältnisse ergeben. […] die

7

Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist: Velbrück 2006, S. 17.

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Postmoderne von den 1980er Jahren bis zur Gegenwart entwickelt das Modell einer kreativ-konsumtorischen Subjektivität. Die Transformation der Subjektordnungen verläuft schlagwortartig vom ›Charakter‹ über die ›Persönlichkeit‹ zum ›Selbst‹.«8

Für Moderne kann Postmoderne eingesetzt werden, dabei sollte letztere als Radikalisierung ersterer verstanden und nicht, wie Reckwitz dies tut, auf den ›konsumtorischen‹ Aspekt eingeschränkt werden. Hier könnte man auch an Welsch anschließen und zwischen zwei Tendenzen – Pluralität vs. Pluralismus – unterscheiden, der Bereich des Konsums wäre dann der zweiten Tendenz zuzuordnen. Welchen Problemen sich das Subjekt in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend ausgesetzt sieht, haben beispielsweise Ulrich Beck und Zygmunt Bauman beschrieben. Die brüchig gewordenen Sozialbeziehungen und Erwerbsbiographien führen zu tiefgehenden Kontingenzerfahrungen, zu Einsamkeit und Orientierungslosigkeit, denen das Subjekt vor allem mit Konsum begegnet, der aber nur die kurzfristige (Ersatz-)Befriedigung von Bedürfnissen gewährt.9

R AHMEN II: E RZÄHLVERFAHREN Die brüchig gewordene Identität moderner wie postmoderner Subjekte ist Grundlage und Thema der Konzeption avancierter Literatur geworden. Der auktoriale Erzähler ist, von Ausnahmen abgesehen, nur noch in der Trivialliteratur anzutreffen, weil sich die Auffassung durchgesetzt hat, dass die Wahrnehmung der Welt nurmehr subjektiv und fragmentarisch möglich ist. An seine Stelle sind personale Erzähler oder multiperspektivisches Erzählen getreten, in der Regel verbunden mit unsicherem Erzählen, wie es sich programmatisch am Anfang von Günter Grass’ Roman Die Blechtrommel findet: »Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt, mein Pfleger beobachtet mich, läßt mich kaum aus dem Auge; denn in der Tür ist ein Guckloch, und meines Pflegers Auge ist von jenem Braun, welches mich, den Blauäugigen, nicht durchschauen kann.«10

8

Ebd., S. 14f.

9

Vgl. v.a. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003; Zymunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003; außerdem: Manfred Prisching, Das Selbst – die Maske – der Bluff. Über die Inszenierung der eigenen Person, Wien u.a.: Molden 2009.

10 Günter Grass, Die Blechtrommel, München: Luchterhand 1987, S. 6.

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Einerseits finden sich also Beschränkungen durch die Wahl der Erzählperspektive, andererseits werden Techniken eingesetzt und weiterentwickelt, die auf verschiedene Weisen Wahrnehmung erweitern, vor allem sind dies Intertextualität und Metafiktion. Durch das Zitieren anderer, nicht nur literarischer Texte, also durch eine für ein breiteres Publikum interessante Verweisstruktur und durch Anspielungen auf die Konstruiertheit des Textes wird Distanz erzeugt und ein scheinbar unendlicher Möglichkeitsraum eröffnet, der mit der Metapher des ›Spiels‹ bezeichnet worden ist.11 Autorfiguren – also Figuren, die selbst Autoren sind oder sich als solche ausgeben – tragen zur Metafiktionalität von Texten bei, sie stellen aber auch ganz grundlegend die Frage nach den ›Spielräumen‹ des Subjekts in der jeweiligen kulturellen Gegenwart. 12

R AHMEN III: F IGUREN

UND FIKTIONALE

R EALITÄT

Die grundlegende Differenz von Literatur und Realität ist, dass das eine (grundsätzlich) Fiktion, das andere (möglicherweise) wahr ist. In literarischen Texten treten Figuren auf, sie sind von einer Autorin oder einem Autor konstruiert, auch wenn sie auf reale Personen verweisen, meist in dem allgemeinen Sinn, dass sie Eigenschaften haben, die die Autorin/der Autor auf der einen Seite, die Leserin/der Leser auf der anderen kennt oder sich zumindest vorstellen kann. Figuren

11 Vgl. ebd., S. 33, u. bezogen auf weitere Beispiele aus der Literatur: Stefan Neuhaus, »Das Subversive des Spiels. Überlegungen zur Literatur der Postmoderne«, in: Thomas Anz u. Heinrich Kaulen (Hg.), Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte, Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 371390. 12 Zu unterscheiden sind die Begriffe Autofiktion und Autorfiktion, auf letzteren werde ich später näher eingehen. Der Begriff der Autofiktion ist 1977 von Serge Doubrovsky geprägt worden, vgl. Christina Schaefer, »Die Autofiktion zwischen Fakt und Fiktion«, in: Irina O. Rajewesky u. Ulrike Schneider (Hg.), Im Zeichen der Fiktion.

As-

pekte fiktionaler Rede aus historischer und systematischer Sicht, Festschrift für Klaus W. Hempfer zum 65. Geburtstag, Stuttgart: Steiner 2008, S. 299. Schaefer diskutiert an Beispielen aus der französischsprachigen Literatur insbesondere die Verwischung der Grenze zwischen Autobiographie und Fiktion. – Für den Hinweis danke ich Thomas Wegmann.

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sind Bestandteil der von Fotis Jannidis so genannten »narrativen Organisation von Erfahrungen«,13 hier lassen sich drei Ebenen unterscheiden: »Auf der ersten Ebene kommuniziert ein realer Autor mittels seines Erzählwerks mit einem ebenso realen Leser. Auf der zweiten Ebene kommuniziert ein Erzähler mit der Leserrolle im Text und auf der dritten Ebene kommunizieren die Figuren der Erzählung miteinander.«14

In der Folge wird »aus dem Text aufgrund der im Text gegebenen Informationen und dem Weltwissen des Lesers ein mentales Modell der Figuren und Situationen konstruiert«. 15 Die Differenz von Fiktion und beobachtbarer Realität, geschriebener Sprache und ›Wirklichkeit‹ ist das Ergebnis eines doppelten Konstruktionsprozesses von Wahrnehmung, denn diesem Prozess der Konstruktion einer fiktionalen Realität, die für die Dauer der Lektüre als ›real‹ eingestuft werden kann, ist bereits die Konstruktion der Erfahrungswirklichkeit vorgelagert. 16 Auch die Autobiographieforschung hat gezeigt, dass Beschreibungen ›realer‹ Lebensläufe zumindest fiktionale Elemente aufweisen und sogar selbst Fiktion sein können.17 Autorfiguren schließen die Unterscheidung von Autor und Figur scheinbar kurz – deshalb laden sie dazu ein, auf spielerische Weise die Grenze zwischen Fiktion und Realität zu verwischen. Autorfiguren können auf allen drei üblicherweise vorhandenen Ebenen der narrativen Ordnung auftreten: (1) Auf der Figurenebene als Figur, die ebenfalls Autor ist; in dem Fall ist die Frage, ob die Autorschaft der Figur auf die Konstruiertheit des Textes verweist, eine Frage von Anspielung und Interpretation. (2) Wenn der Erzähler die Autorfigur ist, werden Figuren und Handlung als durch ihn konstruiert ausgewiesen – Herausgeberfiktionen können Teil ei-

13 Fotis Jannidis, Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie, Berlin/ New York: de Gruyter 2004, S. 5. 14 Ebd., S. 16. 15 Ebd., S. 179. 16 Vgl. Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 93f. 17 Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, Stuttgart/Weimar: Metzler 2000; Ulrich Breuer u. Beatrice Sandberg (Hg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Band 1: Grenzen der Identität und der Fiktionalität, München: Iudicium 2006.

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ner solchen narrativen Strategie sein, sofern sie nicht beglaubigende Wirkung haben, sondern im Gegenteil zur Unsicherheit darüber beitragen, welche Teile der Narration innerhalb der Fiktion ›wahr‹ sind. (3) Schließlich können auch Name und Persönlichkeit des ›realen‹ Autors Teil der Narration werden. Einige wenige Beispiele dieses zur Gegenwart häufiger auftretenden Sonderfalls möchte ich vorstellen, um die dahinter stehende Strategie und ihre Konsequenz für die Subjektproblematik zu diskutieren. Der Autor als Figur Am Schluss von Grabbes in seiner Modernität immer noch unterschätzter Komödie Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung von 1827 steht folgende Szene: »RATTENGIFT (am Fenster). Aber wer kommt dort noch mit der Laterne durch den Wald? Es scheint, daß er seinen Weg hieher richtet! SCHULMEISTER (ebenfalls am Fenster). O so schlage der Donner darein! Kommt mir der Kerl mit seiner Laterne noch spät in der Nacht durch den Wald, um uns den Punsch aussaufen zu helfen! Das ist der vermaledeite Grabbe, oder wie man ihn eigentlich nennen sollte, die zwergigte Krabbe, der Verfasser dieses Stücks! Er ist so dumm wieʼn Kuhfuß, schimpft auf alle Schriftsteller und taugt selber nichts, hat verrenkte Beine, schielende Augen und ein fades Affengesicht! Schließen Sie vor ihm die Tür zu, Herr Baron, schließen Sie vor ihm die Tür zu! GRABBE (draußen vor der Tür). O du verdammter Schulmeister! Du unermeßlicher Lügenbeutel! SCHULMEISTER. Schließen Sie die Tür zu, Herr Baron, schließen Sie die Tür zu! LIDDY. Schulmeister, Schulmeister, wie erbittert sind Sie gegen einen Mann, der Sie geschrieben hat! (Es klopft.) Herein! (Grabbe tritt herein mit einer brennenden Laterne.) (Der Vorhang fällt.)«18

Die Laterne symbolisiert die Aufklärung, doch unterläuft die durchgehende Ironie des Stücks die mögliche Aussage, dass der Dichter nun Ordnung in dieses Durcheinander der Amoral und des Aberglaubens bringt. Wir haben es hier mit einer Autorfigur zu tun, mit einem bisher in der Forschung wenig beachteten

18 Christian Dietrich Grabbe, Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen, Stuttgart: Reclam 1970, S. 64f.

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Figurentypus.19 Dass die Autorfigur zur Gegenwart hin, soweit sich dies angesichts fehlender Überblicksdarstellungen sagen lässt, nicht anders als die Technik des metafiktionalen Erzählens allgemein offenbar immer häufiger auftritt,20 dürfte an den skizzierten Entwicklungen liegen – der spielerische Umgang der Literatur mit Traditionen führt zu zahlreichen Rahmenbrüchen und eben auch zur Auflösung der Grenze zwischen den Ebenen des Erzählens. Dies kann, wie gezeigt, so weit gehen, dass nicht nur eine Figur als Autor auf die Konstruiertheit des Textes verweist, sondern der reale Autor in den Text eingeführt wird. Grabbes dramatisches Verfahren, am Schluss des Stücks sein Alter Ego mit Laterne auftreten zu lassen, gehört einerseits in die Tradition der Romantik und weist andererseits doch weit über sie hinaus. Schon damals gab es massive Erschütterungen des Vertrauens in das Subjekt, nicht nur sein eigenes Leben zu meistern, sondern auch das allgemeine Wohl zu befördern. Die ›modernen‹ Autoren der Zeit, insbesondere E.T.A. Hoffmann und Heinrich von Kleist, betonen das Abgründige des Subjekts und zeigen bereits, dass es nicht mehr ›Herr im

19 Ich habe nur wenige Untersuchungen zur Autorfigur gefunden, die zudem auf das Werk bestimmter AutorInnen beschränkt sind; angesichts fehlender Überblicksdarstellungen erhebt die kleine Liste aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Wolfgang Behschnitt, Die Autorfigur. Autobiographischer Aspekt und Konstruktion des Autors im Werk August Strindbergs, Basel: Schwabe 1999; Derk Frerichs, Autor, Text und Kontext in Stevie Smiths Lyrik der 1930er Jahre. Eine Untersuchung zu Realitätsgehalt, Erscheinungsweise und Funktion der Autorfigur, Bochum: Projekt-Verlag 2000; Nathalie Amstutz, Autorschaftsfiguren. Inszenierung und Reflexion von Autorschaft bei Musil, Bachmann und Mayröcker, Köln u.a.: Böhlau 2003; Ludwig Fischer, »Der fliegende Robert. Zu Hans Magnus Enzensbergers Ambitionen und Kapriolen«, in: Christine Künzel/Jörg Schönert (Hg.), Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 145-175; Petra Gropp, »›Ich/Goetz/Raspe/Dichter‹: Medienästhetische Verkörperungsformen der Autorfigur Rainald Goetz«, in: Gunter E. Grimm/Christian Schärf (Hg.), Schriftsteller-Inszenierungen, Bielefeld: Aisthesis 2008, S. 231-247. – In den letzten Jahren ist auch mit dem Zusammenhang zwischen den Begriffen Autofiktion und Autorfiktion gespielt worden und es hat sich insbesondere bei Tagungen als Zwischenbegriff die Autor(r)fiktion eingebürgert, allerdings habe ich bisher keine deutschsprachigen Publikationen mit dieser Variante im Titel gefunden. 20 Vgl. auch Stefan Neuhaus, »Eine Legende, was sonst«. Metafiktion in Romanen seit der Jahrtausendwende (Schrott, Moers, Haas, Hoppe), in: Carsten Rohde/Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.), Die Unendlichkeit des Erzählens. Der Roman in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989, Bielefeld: Aisthesis 2013, S. 69-88.

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eigenen Haus‹ ist. Grabbe führt vor, dass selbst der Autor nicht mehr Herr im eigenen Stück ist – wobei die sorgfältige Konstruktion natürlich darauf verweist, dass es sich hierbei wieder um eine Fiktion handelt. Die Einführung von Autorfiguren initiiert also eine doppelte Denkbewegung: Die Fiktion wird gebrochen und zugleich bekräftigt. An fünf Romanen möchte ich in der gebotenen Kürze versuchen zu zeigen, wie und weshalb AutorInnen der Gegenwart den Typus der Autorfigur verwenden, es handelt sich um Walter Moers’ Ensel und Krete (2000), Bret Easton Ellis’ Lunar Park (2005), Wolf Haas’ Das Wetter vor 15 Jahren (2006), Thomas Glavinic’ Das bin doch ich (2007) und Felicitas Hoppes Hoppe (2012). Ich werde im Fall Glavinic-Haas nicht chronologisch vorgehen, um das Spektrum der Verwendungsmöglichkeiten besser zeigen und Ähnlichkeiten genauer herausarbeiten zu können.21 Zuvor noch ein kurzer Rückblick: Einer der wichtigsten frühen Romane mit Autorfiktion ist E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr, die Wirkungsgeschichte dieses bekannten Werks wäre ein eigenes Thema. Der Roman Hoffmanns aus den Jahren 1919/21 wird gerahmt durch eine Herausgeberfiktion; der Herausgeber namens E.T.A. Hoffmann behauptet, die Autobiographie eines Katers wiederzugeben, in die Erzählungen aus dem Leben des Kapellmeisters Kreisler einmontiert sind, weil der Kater die Biographie Kreislers für seine Zwecke zerrissen und als Papiervorrat verwendet habe. In der Figur des Katers parodiert Hoffmann den Bourgeois seiner Zeit. Es gehört zu Hoffmanns ironischem Spiel mit dem Leser, nachdrücklich die Authentizität der Katerbiographie zu behaupten: »Schließlich darf der Herausgeber versichern, daß er den Kater Murr

21 Auch andere Beispiele wären möglich, etwa der Roman Stadt aus Glas (1985) von Paul Auster, in dem eine Figur mit dem Namen Paul Auster vorkommt (allerdings nicht die Hauptfigur ist), oder Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten (2009) von Daniel Kehlmann. Hier gibt es eine Autorfigur namens Leo Richter, dessen Geschichte Rosalie geht sterben gleichberechtigt neben den anderen Kapiteln des Bandes steht, obwohl darin die Figur Rosalie mit ›ihrem‹ Autor Leo Richter aushandelt, dass er sie doch nicht sterben lässt. Ein noch neueres Beispiel ist Michel Houellebecqs Roman Karte und Gebiet (2010, dt. 2011), in dem eine Figur gleichen Namens, mit den Attributen des Autors versehen, sogar Opfer eines brutalen Raubmordes wird. In den von mir gewählten Texten ist die Autorfigur aber noch stärker im Zentrum der Konzeption.

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persönlich kennengelernt und in ihm einen Mann von angenehmen milden Sitten gefunden hat. Er ist auf dem Umschlage dieses Buchs frappant getroffen.«22 Hoffmanns Roman (und auch anderen seiner Texte) dürfte ein Autor viel verdanken, dessen Romane üblicherweise der Kinder- und Jugendliteratur zugerechnet werden, obwohl sie vermutlich unter Erwachsenen ebenso viele LeserInnen haben. Walter Moers hat bereits im Jahr 2000 begonnen, eine Autorfigur zu inszenieren und seinen eigenen Namen mit ins Spiel zu bringen, und zwar mit dem zweiten Roman aus seiner Feder, der auf dem fiktiven Kontinent Zamonien spielt. Ensel und Krete ist, wie der Paratext weiter angibt, ein Märchenroman von einem schreibenden Dinosaurier namens Hildegunst von Mythenmetz und Walter Moers heißt der Übersetzer ›aus dem Zamonischen‹.23 Dem Roman sind sogar Karten von Zamonien und von der Gegend um Bauming vorangestellt, in der die Handlung spielt. Einerseits referiert der Titel des Romans auf eines der bekanntesten Beispiele der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, andererseits ist die fiktive Welt von Zamonien bzw. Bauming als Spiegelwelt zur außertextuellen Realität angelegt – so wird schon am Anfang auf Probleme des Tourismus eingegangen. Der Roman besteht – wie Hoffmanns Kater Murr – aus zwei sich abwechselnden Handlungssträngen, aus den in der Er-Perspektive geschilderten Erlebnissen der beiden Fhernhachenkinder Ensel und Krete und aus – in anderer Schrift wiedergegebenen – Kommentaren des Ich-Erzählers sowie ›Autors‹ Hildegunst von Mythenmetz, der sich, wie einst Hoffmann z.B. in Der goldne Topf (1814), direkt an die LeserInnen wendet. Mythenmetz zeichnet sich in diesen Kommentaren vor allem durch Arroganz aus: »Aber es geht hier nicht um die Befindlichkeiten eines Erfolgsschriftstellers. Worum geht es dann? Es geht um Großes, natürlich: Sie, der Leser, dürfen Augenzeuge einer Sternstunde der zamonischen Literatur sein. Sie haben es vielleicht noch nicht bemerkt, aber Sie sind schon mittendrin in einer von mir entwickelten und vollkommen neuartigen schriftstellerischen Technik, die ich die Mythenmetzsche Abschweifung nennen möchte« (EK, 40).

22 E.T.A. Hoffmann, Lebensansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern, Berlin/ Weimar: Aufbau 1994, S. 9. 23 Vgl. Walter Moers, Ensel und Krete. Ein Märchen aus Zamonien, 6. Aufl., München: Goldmann 2002. Der Roman wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle EK und Seitenzahl.

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Die Übertreibungen wirken freilich komisch, es handelt sich nicht nur um einen (fiktiven) Erfolgsschriftsteller, sondern auch um die Parodie auf den (realen) Habitus von Autoren. Dies weitet sich aus zu einer Parodie auf den Literaturbetrieb, etwa wenn die Autorfigur Mythenmetz seitenweise »Brummli« schreibt (EK, 59ff.), um den »Machtmißbrauch« von Autoren durch ihre Schreibweise deutlich zu machen (EK, 62), oder wenn sie auf die Literaturkritik schimpft, insbesondere auf einen ihm offenbar besonders feindlich gesonnenen Kritiker (vgl. EK, 88ff.). Autorfiguren – das werden auch die folgenden Beispiele zeigen – eignen sich besonders für parodistische Bezugnahmen auf den Literaturbetrieb. Den Texten von Hoffmann und Moers ist gemeinsam, dass von Lektürebeginn an niemand glauben wird, dass schreibende Kater, geschweige denn schreibende Dinosaurier wirklich existieren – die Autorfiktion ist also bereits in ihrer Konstruktion als unrealistisch erkennbar. Bei den weiteren ausgewählten AutorInnen und Texten geht es zunächst um die ›realistische‹ Inszenierung von Authentizität durch die Nennung des Autornamens, analog zu autobiographischem Schreiben, um diese Authentizität dann auf textabhängige Weise zu subvertieren. Lunar Park führt eine Autorfigur namens Bret Easton Ellis ein, der ein Leben führt, wie es für Ellis selbst vorstellbar ist.24 Um die außertextuelle Existenz der Ehefrau des Protagonisten, Jayne Dennis, zu beglaubigen, wurde sogar (aller Wahrscheinlichkeit nach im Auftrag des Autors und mit Hilfe des Verlags) eine Fanseite ins Internet gestellt.25 Von der Seite wird u.a. auf ein angebliches FBIDokument verlinkt, das ein psychiatrisches Gutachten zitiert, in dem Ellis »levels of paranoia, suggesting drugs and alcohol as ›key factors‹« bescheinigt werden.26 Freilich hat dieses ›Dokument‹ eine URL, die auf die offizielle Webseite zum Roman verweist, und wenn man auf das angebliche Dokument klickt, kommt Werbung für das Buch.27 Wie bereits in Ellis’ Erfolgsroman American Psycho (1991) herrscht auch in Lunar Park unsicheres Erzählen vor. Die LeserInnen werden konsequent verunsichert, ob sich der Protagonist die drastischen Ereignisse – grauenhafte Morde geschehen, Spielzeuge werden lebendig und greifen Menschen an etc. – nur einbildet oder ob sie innerhalb der Fiktion ›wirklich‹ geschehen. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität werden auch dadurch verwischt, dass der Protago-

24 Vgl. Bret Easton Ellis, Lunar Park, München: Heyne 2007. Der Roman wird im nachfolgenden Text zitiert mit der Sigle LP und Seitenzahl. 25 Vgl. http://www.jayne-dennis.com, Zugriff: 18.06.2012. 26 Vgl. http://www.lunar-park.com/fbi/index.html, Zugriff 18.06.2012. 27 Vgl. http://www.lunar-park.com, Zugriff: 18.06.2012.

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nist immer wieder glaubt, Patrick Bateman – die Hauptfigur aus American Psycho – zu sehen und sich von Bateman bedroht fühlt. Das Thema des Romans ist autobiographisch grundiert – in der Auseinandersetzung von Ellis mit seinem verstorbenen Vater Robert, der als Vorbild für Patrick Bateman gedient haben soll (vgl. LP, 24f.). Wir haben es also auch hier mit einem literarischen Doppelgänger und mit dem Verwischen von Grenzen zwischen Identitäten zu tun. Es dürfte wohl nur für Menschen, die den ›realen‹ Autor Ellis gut kennen, genau festzustellen sein, welche Übereinstimmungen es zwischen der Romanhandlung und dem Leben, zwischen der Autorfigur und der psychischen Disposition des Autors selbst gibt. Schon die Drastik der Handlung und die zunehmende Paranoia der Hauptfigur passen ganz offensichtlich nicht zu der kalkuliert erzählten Geschichte mit ihrem klugen Spannungsaufbau. Bereits der Anfang des Romans thematisiert erstens die Einführung der Autorfigur und zweitens ihre Verdopplung, schon hier (bzw. zuvor sogar schon in den Motti) wird deutlich, dass Ellis ein komplexes Spiel mit Realität und Fiktion spielen wird: »1 die Anfänge ›Du siehst dir verblüffend ähnlich.‹ So lautet der erste Satz von Lunar Park, der in der Kürze und Einfachheit eine Rückkehr zur Form, ein Echo auf die erste Zeile meines Debütromans Unter Null darstellen soll (LP, 9).«

Dabei ist der Roman auch als Satire auf Teile der US-amerikanischen Gesellschaft angelegt, etwa auf den Literaturbetrieb. Die Autorfigur reflektiert hier über ihr neues Romanprojekt (einen solchen Roman gibt es bisher unter Ellisʼ Namen nicht): »Der ursprüngliche Titel von Teenage Pussy war Holy Shit! gewesen, doch die Leute bei Knopf (die allein für die US-Rechte fast eine Million Dollar locker gemacht hatten) versicherten mir zaghaft, dass Teenage Pussy der kommerziell vielversprechendere Titel sei (kurz war auch Der skandalöse Mike angedacht, dann aber für ›zu unkontrovers‹ befunden worden). Knopf wollte den Roman im nächsten Katalog als ›pornographischen Thriller‹ ankündigen, was mich ungemein erregte, und die Warnung hinzufügen, Arthur und Esther Knopf würden sich im Grab umdrehen, wenn das Ding erschien. Seit mir klar geworden war, dass ich im Begriff stand, ein neues Genre zu schaffen, war mein Anfall von Schreibblockade verflogen […]« (LP, 110f.).

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Hier werden nicht nur die Mechanismen der Skandalisierung im Literaturbetrieb durch Ironisierung verdeutlicht, auch wird auf den Text selbst verwiesen, denn Lunar Park dürfte zweifellos für »ein neues Genre« stehen, das bald danach bereits in der deutschsprachigen Literatur adaptiert worden ist. Das bin doch ich von Thomas Glavinic ist zwei Jahre nach der englischen Erstausgabe und ein Jahr nach der Veröffentlichung der deutschsprachigen Übersetzung von Ellisʼ Roman erschienen, angesichts zahlreicher Gemeinsamkeiten liegt es nahe, in Lunar Park das Muster zu sehen, so wie sich Christian Kracht mit Faserland (1995) erfolgreich an American Psycho orientierte. Freilich verzichten beide – Kracht wie Glavinic – auf die bei Ellis dominanten Extreme, also auf den ›Wahnsinn‹ des Protagonisten, die Morde (wenn man davon absieht, dass die Hauptfigur in Faserland den Selbstmord seines besten Freundes hätte verhindern können) und die zunehmend fantastische Handlung (in Lunar Park). Auch der Glavinic heißende, mit allen äußeren Attributen des Autors versehene Protagonist und Ich-Erzähler des Romans Das bin doch ich hadert mit sich selbst, auf diese Weise wird er zur komischen Figur. 28 Noch stärker als bei Ellis handelt es sich um einen Literaturbetriebsroman, denn die Schilderungen des Alltags der Autorfigur betreffen vor allem Termine in Literaturhäusern oder Theatern und Treffen mit Kulturschaffenden, wobei insbesondere die österreichischen Vertreter ironisch bis satirisch gezeichnet werden – damit stellt sich Glavinic in eine Tradition mit (dem im Roman erwähnten) Thomas Bernhard (vgl. DI, 29). Der Protagonist selbst scheint der in der Postmoderne weit verbreiteten, sogenannten ewigen Post-Adoleszenz anheimgefallen: »Thomas Glavinic ist ein Achtjähriger, und ich muß mit ihm leben« (DI, 18). Die Autorfigur bescheinigt sich selbst, keine stabile Identität ausgebildet zu haben: »[…] ich frage mich, was mich eigentlich zusammenhält. Nein, ich frage mich das nicht, ich weiß es ja, es ist das Schreiben, und deswegen muß ich etwas unternehmen, ich kann nicht einfach einen Roman zu Ende bringen und eine Weile nichts tun« (DI, 11). So wird der Roman als zufälliges Produkt eines narzisstischen Autors inszeniert, der seine Umwelt genau beobachtet und nicht nur von seinen eigenen Neurosen, sondern auch und gerade von Akteuren des österreichischen Kulturbetriebs Rechenschaft ablegt, etwa wenn es um die Verleihung des Wiener Filmpreises »Viennale« geht und alle, bis auf Glavinic, der Meinung sind, dass nicht die künstlerische Qualität, sondern die politische Aussage das entscheidende Kriterium sein sollte (DI, 46f.). Hier wird die Figur Glavinic als positive Gegenfigur

28 Vgl. Thomas Glavinic, Das bin doch ich, München: Hanser 2007. Der Roman wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle DI und Seitenzahl.

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zum Kulturbetrieb in Stellung gebracht, die Schwäche seiner Identität erscheint nun als Stärke: »Mich stört, daß sie auf alles eine Antwort haben, prompt und ohne Zögern. Sie sind sich ihrer Meinungen so sicher« (DI, 47). Das kritisierte Verhalten der Kulturschaffenden steht dabei pars pro toto für Österreich als Ganzes: »Er [die Autorfigur Jonathan Safran Foer] fragt mich, ob dies eine typische österreichische Gastwirtschaft ist. Bedauernd schüttele ich den Kopf: ›It’s a bit too clean and the waiter is too polite‹« (DI, 13). Auch die Familie wird von der Ironie nicht ausgenommen: »Meine Familie hat die Angewohnheit, in Gasthäusern aufzutreten wie die Entourage des Zuckerkönigs, sie sind überzeugt, jedermann muß sich über ihren Besuch unbändig freuen« (DI, 79). Um die Provinzialität und Dummheit des Kulturbetriebs besser herausarbeiten zu können, werden weitere Gegenfiguren geschaffen. So sind die fremdsprachigen Autoren, die zu Lesungen und Gesprächen nach Wien kommen, durchweg extrem gebildet und weltgewandt, dabei zugleich aber auch außerordentlich bescheiden, während sich jene, die mit ihnen zu tun haben, in jeder nur denkbaren Weise daneben benehmen. Den Roman durchzieht der Austausch des Protagonisten mit der Autorfigur Daniel Kehlmann. Vor allem werden immer wieder SMS zitiert, die den Erfolg von Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt (2005) dokumentieren, ohne dass Kehlmann selbst deswegen sein ruhiges, selbstsicheres und dennoch angemessen bescheidenes Verhalten ändern würde (beispielsweise trinkt er Apfelsaft, während Glavinic Wein in sich hinein schüttet: vgl. DI, 26). Kehlmann wird als Komplementär- und Gegenfigur zur Autorfigur Thomas Glavinic inszeniert, als Komplementärfigur, weil die beiden gegen den österreichischen Kulturbetrieb in Stellung gebracht werden, und als Gegenfigur, weil der als tollpatschig und unreif geschilderte Glavinic, abgesehen von allen anderen Ängsten, um seinen Erfolg als Schriftsteller bangen muss. Der durch seine Romane um den Detektiv Brenner bekannte Wolf Haas hat ebenfalls einen Literaturbetriebsroman geschrieben und eine Autorfigur ins Zentrum gestellt. Das Neue ist aber, dass sein im Paratext als »Roman« bezeichnetes Werk als Dialog inszeniert ist, ohne weiteren Text, also auch ohne Erzählerkommentare. Die Handlung eines Liebesromans wird in einem Gespräch über diesen (real nicht existierenden) Liebesroman diskutiert. Das Wetter vor 15 Jahren lautet der Titel von Roman und Roman im Roman, wobei der Dialog

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zwischen einem »Wolf Haas« genannten Autor und einer »Literaturbeilage« genannten Interviewerin geführt wird.29 Was die beiden Figuren diskursiv entwickeln, ist eigentlich die Handlung eines Trivial- oder Kolportage-Romans: Vittorio Kowalski ist als Kind mit seinen Eltern aus dem Ruhrgebiet jeden Sommer zum Urlauben in ein österreichisches Bergdorf Farmach gefahren, dort hat er sich als Teenager in das einheimische Mädchen Anni Bonati verliebt, ohne zu wissen, dass seine Mutter ein Verhältnis mit Annis Vater hat. Als Vittorio und Anni 15 Jahre alt sind, flüchten sie vor einem Gewitter in eine Hütte, die Annis Vater als Schmugglerlager benutzt. Offen bleibt, ob sich die beiden dort nur geküsst oder auch miteinander geschlafen haben. Wie es der absichtsvolle Zufall will, haben dort auch Annis Vater und Vittorios Mutter ihre Schäferstündchen verbracht. Zu allem Überfluss möchte Annis Vater gerade zu der Zeit des jugendlichen Beisammenseins in der Hütte Unterschlupf finden, doch weil die Tür verschlossen ist, muss er weiter und verunglückt. Der Tod des Vaters von Anni bzw. Liebhabers der Mutter von Vittorio führt zum überstürzten Aufbruch der Kowalskis. 15 Jahre später wird Vittorio Mitspieler in der ZDF-Fernsehshow »Wetten dass…?«, der immer noch in Anni Verliebte kann das Wetter in Farmach seit seiner Abreise auswendig. Vittorios Freund, der ihn bereits ohne sein Wissen für die Show angemeldet hatte, lockt ihn mit einer gefälschten Postkarte nach Österreich. Doch als Vittorio dort Anni wiedersehen will, stellt sich heraus, dass sie im Begriff ist seinen ehemaligen Gegenspieler Lukki zu heiraten, der nun, wie seinerzeit Annis Vater, Chef der Bergrettung ist. Vittorio flüchtet in die Berge, kommt zu der Schmugglerhütte, findet dort in einer Höhle alte Zeugnisse der Affäre seiner Mutter und Schmugglergut. Er wird bei seiner Suche verschüttet, findet Sprengstoff und zündet ihn genau in dem Moment, als Anni dabei ist, Lukki das Jawort zu geben. Bei der Rettungsaktion wird Vittorio befreit und sein Nebenbuhler Lukki stirbt. Der Gipfel der ironischen Konzeption ist aber nicht diese haarsträubende Handlung, sondern dass die Autorfigur Wolf Haas sie als ›reales‹ Geschehen und sich selbst nur als Chronisten ausgibt (WJ, 35). Mit Vittorio verbindet die Autorfigur seither sogar eine Freundschaft:

29 Vgl. Wolf Haas, Das Wetter vor 15 Jahren, 3. Aufl., Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. Der Roman wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle WJ und Seitenzahl.

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»Wolf Haas Erst letzte Woche hat er mich angerufen und erzählt, dass ihm das Buch ganz neue Verehrerinnenschichten erschlossen hat. Lachen Sie nicht, aber er nennt sie ›die Intellektuellen‹! Literaturbeilage Wie sie Ihr Buch gelesen haben. Wolf Haas Genau« (WJ, 41).

Gerade die Bedeutung genauer Recherche wird von der Autorfigur immer wieder unterstrichen: »Literaturbeilage Aber ich denke mal, beim Schreiben kann man daraus ja auch eine Pointe machen, dass es eben nicht alle so gut wissen wie Herr Kowalski. Wolf Haas Ja schon, aber die Pointe, dass es einer falsch sagt, kann man als Autor auch nur machen, wenn man es selber weiß« (WJ, 51).

Auch Felicitas Hoppes Roman Hoppe von 2012 zeichnet sich durch eine ironische Konstruktion aus. Unter der Gliederungszahl 0 findet sich lediglich folgender Satz: »Felicitas Hoppe, *22.12.1960 in Hameln, ist eine deutsche Schriftstellerin. Wikipedia«.30 Diesem Realismus signalisierenden Lexikoneintrag folgt der Beginn einer scheinbaren Autobiographie, die von Anfang an mit Fiktionalitätssignalen durchsetzt ist: »Weltweit, egal welcher Zeitung, hat Hoppe immer dieselbe Geschichte erzählt: wie sie als Ratte mit Schnurrbart und Schwanz versehen, Wurst in der Linken, Brot in der Rechten, den Marktplatz ihrer Heimatstadt Hameln betritt, um sich im Freilichttheater unter der Führung des Rattenfängers vor Touristen aus aller Welt ein Taschengeld zu verdienen« (HH, 13).

Mit diesem ersten Zitat soll bereits angedeutet werden: »Die Hamelner Kindheit ist reine Erfindung« (HH, 14). Und weiter: »Hoppes kanadische Kinderjahre dagegen sind verbrieft« (HH, 17). Die Perspektive wird also herumgedreht, die Wahrnehmung auf den Kopf gestellt – die Realität ist nur scheinbar und die hier enthüllte Fiktion ist real. Der Roman ist zugleich eine teilfiktive Biographie bzw. eine fiktionalisierte Autobiographie. Die ›reale‹ Autorin, die Ich-Erzählerin (die Biographin) und die Protagonistin tragen den selben Namen. Anders als in den bisherigen Beispieltexten haben wir es hier also nicht ›nur‹ mit einer Verdopplung, sondern mit

30 Felicitas Hoppe, Hoppe, Frankfurt a.M.: Fischer 2012. Der Roman wird im folgenden Text abgekürzt zitiert mit der Sigle HH und Seitenzahl.

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einer Verdreifachung zu tun – alle relevanten Erzählinstanzen (Autor, Erzähler, Figur) fallen in eins zusammen und sind dennoch grundsätzlich verschieden. Passenderweise wird mit dem Motiv der Lügengeschichte gespielt, etwa durch Verweis auf bekannte Figuren und Texte der Weltliteratur: auf den Rattenfänger von Hameln, auf Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf (die gerne Lügengeschichten erzählt: vgl. HH, 60), auf Collodis Pinocchio, der zeitweise eine lange Nase bekommt, wenn er lügt (»Hoppes Lieblingsbuch«: HH, 60), oder auf L. Frank Baums Der Zauberer von Oz (vgl. HH, 250), der ja, wie sich gegen Ende des Märchens herausstellt, gar kein ›echter‹ Zauberer ist. Über den mittelalterlichen Lügenbold Till Eulenspiegel schreibt die Protagonistin sogar eine wissenschaftliche Abschlussarbeit (vgl. HH, 320). Realitätsbezüge und Fiktionalitätssignale werden unterschiedslos miteinander verschränkt. Die Erzählerin verweist einerseits auf Bücher der Autorin, die es wirklich gibt, und andererseits auf solche, die es nicht gibt (z.B. das Buch K. über den angeblichen Vater Karl Hoppe: vgl. HH, 279). Dass die ›reale‹ Autorin nach ihrem Erfolg mit Picknick der Friseure eine Reise auf einem Containerfrachtschiff unternahm, wird von der Erzählerin als ›nicht beglaubigt‹ abgetan (vgl. HH, 13). Zahlreiche Formulierungen lassen sich als metafiktional und ironisch lesen: »Aber wen kümmert der Sinn, wenn die Tonlage stimmt [...]« (HH, 285). Wie die bisherigen Beispieltexte ist auch Hoppe zum Teil als Literaturbetriebssatire angelegt – die Biographin zitiert immer wieder die beiden Kritiker Kai Rost und Raimar Strat, die einiges an Hoppe und ihrem Werk auszusetzen haben. Die Biographin scheint sich die kritischen Meinungen der anderen zu eigen zu machen: »Schon früh entwickelte sie jenen Hang, sich die Welt, ihre Landschaft und deren Bewohner, nicht nur literarisch anzueignen, sondern sie jederzeit rigoros ihren höchstpersönlichen Zwecken unterzuordnen. „Man möchte fast von einer Art Einebnung sprechen, von einer gespenstisch phantastischen Faulheit“, bemerkt so bewundernd wie missmutig der Kulturwissenschaftler Kai Rost in den frühen zweitausender Jahren. „Wir haben es hier nämlich mit einer Autorin zu tun, die offenbar nicht gern liest und davon ausgeht, immer und überall die Erste zu sein« (HH, 102).

Am Schluss des Romans Hoppe stellt sich die Autorin Felicitas Hoppe, so wie wir sie kennen, sogar als eine Erfindung eines US-amerikanischen Germanisten namens Hans Herman Haman heraus, der sich darum bemüht, das in einer Kiste zurückgelassene Werk der Romanfigur Hoppe zu veröffentlichen (vgl. HH, 326). Hier kommt also noch eine Herausgeberfiktion zum Spiel mit den Identitäten

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dazu. Zum Schluss taucht das Objekt der Erzählung in Berlin wieder auf und eignet sich die eigene ›fiktive‹ Biographie an, während der Erfinder dieser Biographie, der Dozent Haman, in der National Portrait Gallery in Washington verschwindet, in einem Museum, in dem ein »etwa fünfjähriges, in ein wasserdichtes graues Rattenkostüm eingenähtes Mädchen« immer in der Nacht zum 22.12. (Hoppes Geburtstag) spukt (HH, 328) und dabei die in einem »Erfinderzimmer« aufgehängte Reihe von Porträts abläuft, die Figuren aus dem Roman zeigen, freilich »unscharf« (HH, 329).

AUTORFIGUREN IN DER G EGENWARTSLITERATUR . E IN KURZES F AZIT Wenn man auf die Inhalte der diskutierten Texte blickt, dann lässt sich feststellen: AutorInnen der Gegenwartsliteratur gehen mit Freud davon aus, dass das Ich nicht mehr Herr ist in seinem eigenen Haus, doch anders als die AutorInnen der Klassischen Moderne (allen voran Franz Kafka) wenden sie diese Erkenntnis oftmals ins Positive, indem sie Identitäten als Entwürfe durchspielen und die Grenze zwischen AutorIn, Text und LeserIn zur Disposition stellen. Das ist nicht Ausdruck von »Indifferenz und Beliebigkeit« (Welsch), sondern es trägt der »Hybridität« (Reckwitz) heutiger Identitäten Rechnung. Blickt man außerdem noch auf die Konstruktion der Texte, dann wird deutlich, dass die AutorInnen sehr genau wissen, was sie tun und durchaus MeisterIn ihrer fiktiven Welt sind. Identität ist bereits in der Realität Ergebnis eines Konstruktionsprozesses und dies wird in der Literatur erfahrbar. Autorfiguren machen den Konstruktionsprozess transparent, indem sie das Subjekt verdoppeln oder vervielfachen und auch zur Reflexion über den dem Text zugrunde liegenden schöpferischen Akt im Kontext spezifischer gesellschaftlicher Rahmenbedingungen anregen. Autorfiguren sind Mittler. Auf intelligente Weise und ohne dem Eskapismus zu huldigen, wird durch sie das Brüchige und Fragmentarische heutiger Subjekterfahrung verhandelt und durchaus nicht beklagt, auch wenn die gewählten Texte genügend Probleme der fiktiven Autorsubjekte aufzeigen. Die kluge Konstruktion der Texte funktioniert wie eine Karte, mit der aufmerksame LeserInnen auf eine spannende Reise in die Geschichte und teilweise sogar ins Innere des Autorsubjekts gehen können. Wie weit damit eine Steuerung durch Direktiven im Text verbunden ist, ist unterschiedlich – das eine Ende des Spektrums markiert Das bin doch ich, hier bleibt den LeserInnen wenig Spielraum für eigene Identitätsentwürfe. Das andere Ende des Spektrums ist Hoppe – der Roman ist so

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absichtsvoll heterogen angelegt, dass er jene LeserInnen, die sich auf ihn einlassen, provoziert, verschiedenste Deutungsmöglichkeiten durchzuspielen und ihn sich, soweit möglich, anzueignen – in einem dialogischen Lektüreverfahren, als LeserInnensubjekt in der Auseinandersetzung mit einem AutorInnensubjekt.

Der Patient namens ›Schriftsteller‹ Borderline als Autorschaft und Krankheit bei Joachim Lottmann I NNOKENTIJ K REKNIN Lottmann schreibt die Welt ersteht als Diskokugel und vergeht Lottmann schreibt SVEN LAGER1

I. S YMPTOMATIK Es könnte die Überschrift eines ärztlichen Fallberichts sein: »Name des Patienten: Joachim Lottmann«.2 Was erwartet man von einer solchen Einleitung, wenn man weiß, dass der Autor der Zeilen promovierter Mediziner ist? 3 Tatsächlich eine Diagnose? Vermutlich eher nicht das Folgende: »Er hat ja immer behauptet, die Reportage wäre der letzte wahre Ort für Literatur, für Fiktion. Und er schrieb dann Porträts und Reportagen, wo das Echte und Erfundene sich auf wirklich irritierende Weise mischten. Eigentlich ja vielleicht toll. Aber durch die

1

http://blogs.taz.de/lottmann/2007/04/14/und-weiter-3/, Zugriff: 18.06.2013.

2

Rainald Goetz, Abfall für alle, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 500.

3

Vgl. Tina Deist, »Biografisches zu Rainald Goetz«, in: Text + Kritik 190 (III/2011), S. 100.

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inszenierte Undurchsichtigkeit und Verschlagenheit von Joachim Lottmann selbst bekam das ein fiesen Stich ins Diabolische. Ich hatte Angst vor ihm.«4

Keine medizinische Diagnose also, sondern eher eine poetologische, in welcher der Arzt seine Angst vor dem so diagnostizierten Patienten formuliert und damit die hergebrachte Hierarchie von Arzt-Subjekt vs. Patient-Objekt umkehrt. Zugleich auch eine Äußerung über einen Schriftstellerkollegen, 5 die letztlich in einem harschen Urteil über dessen literarische Produktion und ihn selbst mündet: »Alles spielte auf der Grenzlinie zum Fiktiven, nur Ausgedachten, absichtlich gestört. Alles war gestellt, erfunden, nur erzählt, behauptet, zurückgenommen als Lüge. […] Bei Joachim Lottmann war es das erste mal, daß ich mir irgendwann dachte: dieser Mensch ist wirklich BÖSE. Finster, zuinnerst, zutiefst und ohne Grund, einfach böse.«6

Halten wir fest: Joachim Lottmann lügt, er ist diabolisch und »wirklich BÖSE«. Diese Krankheit der pathologischen Lüge erhält auch einen Namen und dieser lautet: Borderline. Ziemlich genau zehn Jahre nach den Äußerungen in Abfall für alle findet sich der so übel beurteilte Autor als Gast in der im ORF1 ausgestrahlten LateNight-Show Willkommen Österreich wieder. Gleich nach seinem Eintritt in die Sendung entwickelt sich zwischen Lottmann und dem Moderator Dirk Stermann das folgende Gespräch: »STERMANN: Wir haben vorher [...] erfahren, dass Du dafür bekannt bist, zu lügen. Beziehungsweise, die Menschen empfinden das als Lüge, was Du machst [...]. Die Frage ist jetzt: Wie können wir dann ein Gespräch führen; also, brauchen wir irgendwie so eine Art anderen Zugang zu Antworten von Dir oder ist das was Du sagst ... würdest Du das gar nicht als Lüge bezeichnen dann? LOTTMANN: Nein, niemals, also: Für mich ist es die Wahrheit. Das macht halt dies Borderline-Syndrom aus.

4

R. Goetz, Abfall für alle, S. 500f.

5

Dass dies eine Äußerung von Rainald Goetz über Joachim Lottmann darstellt, soll nicht als Anwendung der ›intentional fallacy‹ gelten. Vielmehr handelt es sich bei dem Ich-Erzähler in dem Roman Abfall für alle um ein autofiktionales Konstrukt mit dem Namen Rainald Goetz. Vgl. dazu u.a. Eckhard Schumacher, »›Adapted from a true story‹. Autorschaft und Authentizität in Rainald Goetz’ Heute Morgen«, in: Text + Kritik 190 (III/2011), S. 77-88.

6

R. Goetz, Abfall für alle, S. 501.

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STERMANN: Aber Du hast, hast; leidest unter dem Borderline-Syndrom ... LOTTMANN: [unterbricht ihn]: Ich leide darunter nicht. Ich empfinde es auch gar nicht so. Ich würde es auch niemals wahrnehmen. Es sind halt die Anderen, die mich so bezeich7

nen.«

Lottmann ist also ein Patient, der selbst an seinem Zustand nicht leidet, dessen Krankheit aber andere ängstigt und irritiert. Er selbst lebt in seiner eigenen Wahrheit – so zumindest seine Rhetorik – während es die anderen sind, welche die Symptome als pathologisch wahrnehmen. Wer aber ist eigentlich dieser Joachim Lottmann, möchte man fragen und warum wiegt der Umstand der Lüge so schwer? Joachim Lottmann ist ein literarischer Autor, der im Kontext der PopLiteratur verortet wird8 und der bereits sieben Romane veröffentlichte. Während hier das pathologische Lügen eher noch als Vorteil denn als Defizit durchgeht, könnte es sich bei seinem zweiten Betätigungsfeld anders verhalten. Denn Lottmann war seit den 1980er Jahren für fast alle überregionalen Zeitungen als Journalist tätig. Und auch wenn im Bereich des Informationsjournalismus das notorische Lügen als guter Kündigungsgrund taugt, so erweist sich auch hier dieser Umstand als für Lottmann kaum bedrohlich, im Gegenteil: Als exponierterem Vertreter des deutschsprachigen New Journalism dient ihm die Lüge vielmehr als Kapital, um die Reibung zwischen den Bereichen des Faktualen und Fiktiven zu erzeugen, aus der sich der New Journalism maßgeblich speist.9 Und um die Lüge als solche soll es hier auch nicht gehen. Sie wird vielmehr nur als Symptom einer Krankheit angesehen, die das Subjekt namens Joachim Lottmann erst erschafft. Ich möchte im Folgenden nachzeichnen, wie in den Werken Lottmanns die Autorschaft als Pathologie entworfen wird. Es soll dabei die These gestützt werden, dass es zuerst diese ›Krankheit‹ ist, die Lottmann als Figur, Subjekt und 7

Willkommen Österreich. Eine Sendung vom 17. Januar 2008. Vgl. http://www.willko mmen-oesterreich.tv/pl.php?plid=26#F26, Zugriff: 18.06.2013.

8

Vgl. dazu u.a. Moritz Baßler, Der deutsche Pop-Roman, München: Beck 2005, S. 110f., S. 114, S. 153; Hubert Winkels, Gute Zeichen, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 151ff.; Volker Weidermann, Lichtjahre, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2006, S. 227ff.

9

Vgl. zu den Traditionen und Formen des New Journalism vor allem die Aufsätze in Joan Kristin Bleicher u.a. (Hg.), Grenzgänger: Formen des New Journalism, Wiesbaden: Verl. für Sozialwissenschaften 2004 und insbesondere darin Bleichers Beitrag »›Sex, Drugs & Bücher schreiben‹: New Journalism im Spannungsfeld von medialem und literarischem Erzählen«, S. 126-159.

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Person erschafft10 und die deswegen als legitime Subjekttechnik angesehen werden kann, die sich nicht nur auf literarische Diskurse beschränken muss, sondern auch ihren Weg in die Alltagswirklichkeit findet. Es wird zudem nachzuweisen sein, dass die Angst nicht unberechtigt ist, die Rainald Goetz ganz zu Beginn äußerte, denn Lottmanns Krankheit ist ansteckend und man wird sie anschließend nur sehr schwer wieder los.

II. T AXONOMIE Außer dem medizinischen ist es der journalistische Diskurs, in welchem der Begriff der ›Borderline‹ zur Kategorisierung bestimmter Phänomene dient und als eine Variation des New Journalism auftritt. Deswegen sei hier eine knappe Erläuterung angefügt, was man sich darunter vorzustellen habe. Von allen journalistischen Textgattungen ist es neben der Polemik die Reportage, die das Attribut der Subjektivität am ehesten verträgt. 11 Eben diese Gattungseigenschaft wird in den Poetiken des New Journalism zum konstitutiven Merkmal erhoben. Nicht die objektive Berichterstattung und auch kein neutraler Beobachter führen hier die Feder, sondern eine explizite Autor-Figur, die nicht austauschbar ist. Lottmanns journalistische Arbeiten folgen dabei einer Poetik, in der die reine Empirie und mögliche Referentialität des Geschilderten keine Gültigkeit haben. Die Relevanz der ›Fakten‹ verblasst und weicht dem ›Möglichen‹, die Grenze zur literarischen Fiktion wird permanent überschritten. Die Pointe dieser Überschreitung besteht jedoch darin, dass der Übergang textimmanent nicht markiert wird, man als LeserIn also stets mit einem Maß kontingenter Referentialität rechnen muss. Der Borderline-Journalismus Lottmannscher Provenienz ist damit geprägt durch eine kontextuelle Öffnung und immanente Schließung zugleich: Wenn man anderweitige Informationen heranzieht, kann

10 Diese drei Begriffe können für diese Untersuchung als eine Genese entworfen werden: Als Figur bezeichne ich im Folgenden eine Instanz, die als fiktives und/oder fiktionales Subjekt in Erscheinung tritt. Die Grenzen zwischen Subjekt-Figur und Subjekt erweisen sich dabei als fließend. Das Subjekt definiert sich mit Foucault und Butler als ein kommunikativ und sprachlich umgesetztes Prinzip, das noch nicht als operierende Größe im sozialen Gefüge der Kommunikation auftritt, das aber sowohl Ergebnis als auch Ursache von Subjektivation ist. Sofern eine erfolgreiche Subjektivierung vorliegt, kann das Subjekt als Individuum wahrgenommen werden, das dann in Form einer Person innerhalb sozial-kommunikativer Situationen in Erscheinung tritt. 11 Vgl. Michael Haller, Die Reportage, 4. Aufl., Konstanz: UVK Medien 1997, S. 13.

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man das Berichtete wenn nicht falsifizieren, so doch wenigstens anzweifeln und entsprechend den Deutungshorizont vergrößern. Zugleich dient jedoch der Autor selbst durch seine Identität und Kontinuität als ein Prinzip der Schließung. Denn Lottmanns Reportagen lehnen sich bei der Selbstinszenierung an den Gonzo-Journalismus im Stil eines Hunter S. Thompson an, indem der Autor kurzerhand selbst zum Hauptprotagonisten der Geschichten avanciert. Journalisten-Image und Erzähler-Image verschmelzen, um eine konsistente Figur zu erschaffen, die sich in einem Bereich zwischen alltagswirklicher Referentialität und literarischer Fiktion installiert. 12 Diese an sich journalistischliterarische Poetik kann an dem Punkt als eine Subjektpoetik aufgefasst werden, an dem eine Unterscheidung zwischen stilisierter Autor-Figur, vermeintlich realer Person und dem Protagonisten der Reportagen nicht mehr auszumachen ist – was bei Lottmann durchgängig der Fall ist. Dieser Autor erfüllt nun genau diejenige Funktion, die Roland Barthes in »Der Tod des Autors« dem literarischen Text auszutreiben bemüht war; er beschränkt den Sinn. »Lottmann verlottmannt die Welt« heißt es in dem kurzen Film, der vor seinem Eintritt in Willkommen Österreich gespielt wurde. Diese Formulierung trifft den Umstand sehr genau, denn sofern die Welt durch Lottmanns journalistische Autorschaft gegangen ist, wird sie das Attribut der ›Lüge‹ immer in sich tragen. Wenn man sich bei einem Lottmann-Text Eines versichern kann, dann dessen, dass darin alles stimmen kann, aber nichts stimmen muss. Der Borderline-Journalist Lottmann ist damit die konsistente Autor-Subjekt-Figur in einer Zwischenwelt, die ihre eigene Identität dadurch gewährleistet, dass sie eine Poetik der stets möglichen und unmarkierten ›Lüge‹ bedient – was zugleich die einzige Wahrheit über das Subjekt Joachim Lottmann sein kann. Diese Poetik wird von Lottmann in all ihrer Ambivalenz offen ausgetragen. Seit April 2007 betreibt er auf den Internetseiten der tageszeitung einen Blog mit dem Titel »Auf der Borderline nachts um halb eins« – und der erste Beitrag beginnt bezeichnenderweise mit den Worten: »Was ich jetzt sage, ist die Wahrheit.«13 Das Grenzgängertum des Borderline-Patienten hat im medizinischen Diskurs ganz und gar nicht den ludischen Charakter, der ihm im Journalismus und der Literatur attestiert werden kann, sondern äußert sich als Pathologie. Im Pschyrembel wird die Erkrankung definiert als:

12 Vgl. J.K. Bleicher, »Sex, Drugs & Bücher schreiben«, S. 147. 13 http://blogs.taz.de/lottmann/2007/04/12/fruehling-der-gefuehle/ vom 12.04.2007, Zugriff: 18.06.2013.

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»spezif. Persönlichkeitsstörung (DSM-IV) mit Störung der Affektregulation, d.h. im sozialen Kontext rasch aufschießenden u. verzögert abklingenden Affekten, die mit quälenden, rasch einschießenden Anspannungszuständen einhergehen.«14

Diese Beschreibung enthält auf den ersten Blick noch keine Parallelen zu den Phänomenen der textuellen Borderline-Poetiken. Dies ändert sich bei den ebenda gelisteten Symptomen: »Affektinstabilität, Impulsivität, häufig scheiternde Beziehungen, die durch Wechsel von Idealisierung u. Entwertung gekennzeichnet sind, Selbstverletzung, Wutanfälle, dissoziative Symptome, erhaltene Realitätsprüfung (Abgrenzung gegenüber Psychosen).«

Vor allem der Aspekt der »erhaltenden Realitätsprüfung« verdient hier eine genaue Betrachtung. In einem Manual zur psychodynamischen Therapie der Borderline-Persönlichkeit gehen die Autoren auf diesen Punkt ein und liefern eine gut verständliche Erklärung, die zum Begriff der Identität und zum Verhältnis von Fakt und Fiktion zurückführt: »Der Einschätzung der Identität folgt – vor allem in Fällen schwerer Identitätsdiffusion – die genaue Exploration von Verhalten, formalen und inhaltlichen Denkprozessen, sowie Affekten, die den Interviewer seltsam oder bizarr anmuten [...]. Gibt es Anhaltspunkte für derartige Verhaltensweisen, Gedanken oder Affekte, sollte der Therapeut den Patienten taktvoll mit seiner Verwirrung konfrontieren und den Patienten fragen, ob er diese nachvollziehen könne [...]. Die Fähigkeit des Patienten, eine derartige Erklärung zu liefern – mit anderen Worten, die Fähigkeit, sich in herkömmliche Kriterien der sozialen Realität [...] – einzufühlen, ist ein Hinweis für eine gut erhaltene Realitätsprüfung und würde die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung bestätigen.«15

Mit anderen Worten: Der Patient ist durchaus in der Lage, »alternative Sichtweisen in Erwägung zu ziehen«16 und ist damit in gewisser Weise mündig, sich selbst realistisch im Kontext seiner sozialen Umwelt zu verorten. Der Faktor der ›erhaltenen Realitätsprüfung‹ als Bestandteil dieses Modells weist auf die Möglichkeit der alternativen und pluralen Sichtweisen hin, die sich

14 »Borderline-Persönlichkeitsstörung«, in: Pschyrembel, 263. Aufl., Berlin u.a.: de Gruyter 2012, S. 307. 15 John F. Clarkin/Frank E. Yeomans/Otto F. Kernberg (2008): Psychotherapie der Borderline-Persönlichkeit, 2. Aufl., Stuttgart: Schattauer, S. 129. 16 Ebd.

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auch in den Borderline-Reportagen finden und dort in Lottmanns Fall als ›Lüge‹ apostrophiert werden. Der Borderline-Autor ist, wie der Borderline-Patient, einer generellen Identitätsdiffusion unterworfen, derer er sich bewusst ist. Er ist prinzipiell in der Lage, andere Schreibweisen zu erwägen, im konkreten Moment des akuten Leidens (das hier mit ›Schreiben‹ gleichgesetzt werden kann) ist jedoch die gerade aktuelle Weltsicht diejenige, die entscheidungsleitend ist, bzw. diejenige, die zu Papier gebracht wird. Hier findet sich eine weitere Konstante in Lottmanns Poetik, die unmittelbar an Autorschaft als Subjekttechnik anschließt. Die Diagnose der ›pathologischen Autorschaft‹ erweist sich als Paradox, als eine self-fulfilling prophecy: Das ›Symptom‹ der ›Krankheit‹ ist gleichzeitig auch ihre Ursache; die BorderlineAutorschaft ist als solche immer nur dann feststellbar, wenn sie fortgesetzt wird und einem Gesetz der Serialität folgt. Folgendes Argument soll hier stark gemacht werden, das zugleich dazu dienen soll, den Borderline-Journalismus als eine Spezialform des New Journalism zu definieren: Eine Borderline-Poetik lässt sich nicht textimmanent und auch nicht aus einzelnen Werken erschließen, und dies aus zwei Gründen: (1) Eine solche Poetik ergibt sich erst dann, wenn sie aus einem umfangreichen Konvolut aufeinander verweisender Texte eines Autors erschlossen werden kann. Mögen Abweichungen zur ›Realität‹ auch in einem einzelnen Text identifizierbar sein, so ist es m.E. nur sinnvoll, von einer Borderline-Poetik zu sprechen, wenn die Texte ein komplexes Universum sowohl intratextuell als auch kontextuell referentialisierbarer Verweise 17 enthalten. Dieses Universum muss dabei als Konkurrenz zu anderen solchen Universen lesbar sein, sprich: Es muss das Potenzial haben, operative Fiktionen zu installieren.18 (2) Die journalistisch-literarische Borderline-Poetik ist meines Erachtens dadurch definiert, dass sie wie der Gonzo-Journalismus auf eine konsistente Autor-Subjekt-Figur angewiesen ist, welche die Einheit des Universums garantiert, in dem sie zuallererst erschaffen wird. Diese Autor-Subjekt-Figur 17 Die Latenz der ›Lüge‹ ist durch die alltagswirkliche Referentialität nicht gefährdet. Vielmehr kann der ›lügende‹ Text ja überhaupt erst als solcher erkannt werden, wenn er ein alltagswirkliches Referentialitätsbegehren suggeriert. 18 Die Romane Uwe Johnsons oder auch die Marvel-Comics bieten Beispiele solcher Verweisuniversen, die jedoch beide nicht zu operativen Fiktionen werden: Johnson wegen der deutlichen literarischen Überformung und Marvel wegen der fehlenden Realistik. Zum Begriff der operativen Fiktion vgl. Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 3, Aufl. 4., Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 367.

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muss dabei innerhalb eines Werkkomplexes nicht identisch mit sich selbst bleiben, die Erzähler können (und müssen) der gleichen kontingenten Referentialität unterliegen wie alle anderen Elemente dieses Universums. Als Konstante und Garant muss dabei jedoch feststellbar sein, dass alle diese Figuren als Figurationen eines alltagswirklichen Trägers einer konkreten Autor-Funktion auftreten. Auf gut Deutsch: Es muss eine als ›real‹ konnotierte Person identifizierbar sein, die das poetologische Virus Borderline in sich trägt, welches immer dann ausbricht, wenn ein neuer Text unter dem Namen des so hergestellten Autors erscheint. Dies alles funktioniert als Poetik noch deutlich besser, wenn der Autor sich nicht auf den Journalismus als Tätigkeitsbereich beschränkt, sondern wie Lottmann auch als Literat in Erscheinung tritt. Im besten Falle ist zudem zwischen literarischem und journalistischem Schreiben nicht zu unterscheiden und beide Diskurse werden als ein großer Text lesbar, der von zwei Seiten her geschrieben wird. Je mehr Text, je zahlreicher die Institutionen, in denen er erscheint, desto gefährlicher die Krankheit und desto stärker die Figur, die so erschaffen wird. Lottmann gibt hier ein hervorragendes Beispiel ab, entwirft er sich doch von Beginn an als ein Subjekt, das nur einen Zielhorizont kennt: Die Vertextung der Welt.

III. K RANKHEITSVERLAUF Lottmanns erster Roman Mai, Juni, Juli erschien 1987 bei Kiepenheuer & Witsch, erlangte zunächst kaum Aufmerksamkeit und wurde retrospektiv als Gründungstext einer neuen Pop-Literatur bestimmt,19 die mit Christian Krachts Faserland (1995) und Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (1998) ihre paradigmatischen Vertreter fand. Eine Handlung im Sinne eines Spannungsbogens weist der Text nicht auf. Vielmehr kreist er um das Problem, wie denn ein Roman zu schreiben sei, denn der Ich-Erzähler namens Joachim Lottmann ist sich seiner Bestimmung sicher: »Es war in der Zeit, als ich unbedingt ein Schriftsteller sein wollte. Eine schreckliche Zeit. Morgens kam ich nicht aus dem Bett, und Abends hatte ich Depressionen. Dazwischen zersprang mir der Kopf. Oft saß ich einen halben Tag lang [...] vor meinem Schreibtisch und dachte: Ich bin ein Schriftsteller. [...] Jeden Moment konnte die Idee meines Lebens

19 Vgl. u.a. V. Weidermann, Lichtjahre, S. 227.

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durch mein weiches Bewußtsein zucken, und hurtig mochten die bereiten Finger alles zu Papier bringen. Der Roman, der alles veränderte. Ja, ich war davon überzeugt, ein großer Schriftsteller zu sein, wenn ich nur anfing.«20

Als der gewünschte Roman, der »Authentizitätsbolzen«, der »einfach JEDEN Zipfel der Wirklichkeit beschreiben«21 soll, innerhalb der schon fortlaufenden Handlung dann endlich anfängt,22 wechseln weder Stil noch Personal, so dass man als Leser damit konfrontiert ist, in eine Mise-en-abyme-Falle getappt zu sein: Der gerade gelesene Roman scheint sich damit auszuweisen, eben jener Text zu sein, über dessen Entstehung er berichtet.23 Der Text folgt dabei durchgängig den Prinzipien der Realistik, die Frank Zipfel ausstellte24 und spielt mit der alltagswirklichen Referentialisierbarkeit der beschriebenen Personen, Orte und Ereignisse.25 Dass hier die vorgebliche Realität ihren Auftritt in der Literatur hat, wird auch von Lottmann in Worten vermerkt, die deutlicher nicht sein können: »Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sollten zufällige sein – ich lachte nicht schlecht. Tatsächlich war alles die reine Wahrheit gewesen.«26 Dieses beharrliche Behaupten der Wahrhaftigkeit allerdings führt nun zu einer Umkehrung der Rhetorik: Der Ort, von dem aus Lottmann die Wahrheit behauptet, ist ein Ort der unausgesetzten Verschiebung und war es bereits bei seiner ersten größeren Publikation. Die Symptome der Borderline-Poetik sind also da, nur der Name fehlt. Dieser Umstand wurde spätestens im Jahr 2007 umso deutlicher korrigiert. Zeitgleich zum Start des Weblogs »Auf der Borderline nachts um halb eins« erschien ein gleichnamiger Band mit Reportagen Lottmanns, die zumeist

20 Joachim Lottmann, Mai, Juni, Juli, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1987, S. 7. 21 Ebd. 22 Vgl. ebd., S. 87-103, S. 111-123. 23 Diese Anlage ist noch etwas komplexer, als sie hier ausgeführt werden kann. Vgl. ausführlicher Innokentij Kreknin, Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion, Berlin: de Gruyter 2014 [im Erscheinen], Kap. 5.1. 24 Vgl. Frank Zipfel, Fiktion, Fiktivität, Fiktionalität, Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 108-113. 25 Dieser Umstand wird von dem Verleger Helge Malchow in seinem Nachwort der Neuausgabe betont, vgl. Helge Malchow, »Nachwort«, in: Joachim Lottmann: Mai, Juni, Juli, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2003, S. 250-256. 26 Joachim Lottmann, »Meine Abenteuer in der Wirklichkeit«, in: Die Tageszeitung vom 26.02.2003.

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Zweitverwertungen aus der Presse darstellen.27 Wenn man Borderline als Raum entwerfen kann, in dem sich das Subjekt Lottmann bewegt, dann wurde dies mit diesem Doppelschlag geleistet. Zudem wurde auf diese Weise die Identität von Presseautor und Internet-Autor namens Lottmann hervorgehoben und Borderline als eine die Medienbereiche übergreifende Poetik installiert. Waren in Mai, Juni, Juli die Kopfschmerzen und Depressionen noch diejenigen Faktoren, die das Schreiben verhinderten, so werden sie in dem 2011 erschienenen Roman Unter Ärzten zum Hauptmotiv des Buches. Der diesmal als Johannes Lohmer titulierte Erzähler28 berichtet von seinen Versuchen, die Depressionen und Selbstkrisen durch den Besuch von Psychiatern in den Griff zu bekommen. Auch Lohmer ist – wie alle Ich-Erzähler Lottmanns – ein literarischer und journalistischer Autor, der einer neuen Psychiaterin zuallererst den Lottmann-Roman Deutsche Einheit überreicht, um ihr einen »Eindruck« von ihm zu vermitteln.29 Unter Ärzten erscheint insgesamt als Aushandlung der Bedingungen einer literarisch erschriebenen, auf Autorschaft beruhenden und sich in der Schriftstellerei erfüllenden Existenzform – eine Anlage, die auf die gesamte Selbstpoetik der autofiktionalen Figur ›Joachim Lottmann‹ übertragen werden kann. Einen echten Schriftsteller zeichne es aus, dass ihm das Schreiben so lebenswichtig sei wie essen und atmen: Der echte Schriftsteller muss nicht publizieren, aber er muss fortgesetzt schreiben.30 Jolo nun sei ein Vertreter eben jener Spezies, wie im Gespräch mit der Therapeutin entwickelt wird: »[B]ei mir gab es einen [...] Mechanismus, nämlich [... dass] ich über alle Menschen, die mit mir zu tun hatten, schrieb. [...] Mein Verkehr mit der Welt war nun einmal schriftlich, von Anfang an. Ich kannte es nicht anders. ›Was taten Sie denn, als Sie fünf Jahre alt waren?‹ Fragte die rundliche Therapeutin amüsiert. ›Ich schrieb.‹ 27 Joachim Lottmann, Auf der Borderline nachts um halb eins, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2007. 28 Die Ich-Erzähler von Lottmanns Romanen tragen immer entweder seinen Klarnamen oder aber die strukturelle Äquivalenz ›Johannes Lohmer‹. Egal wie der Held konkret heißt, teilen sich die Figuren dabei grundsätzlich das Akronym Jolo (bzw. seltener: Lojo), mit dem sie stets angeredet werden. 29 Damit wird explizit ein Anschluss an die Autor-Funktion ›Joachim Lottmann‹ hergestellt, da Lohmer für sich die Autorschaft von Deutsche Einheit beansprucht. Vgl. Joachim Lottmann, Unter Ärzten, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, S. 200. 30 Vgl. ebd., S. 176.

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›Wer hatte es Ihnen denn so früh beigebracht?‹ ›Niemand. Ich diktierte es meinem Bruder.‹ In Ihren Augen blitzte es auf. Oh, ein Sonderfall? [...] Ein Mann kommt aufgrund einer Zellkern-Mutation nicht als Baby auf die Welt, sondern als Schriftsteller?«31

Die Situation des Gesprächs eines Patienten mit einem Psychiater stellt dabei das für die Moderne klassische Modell einer Subjektbildung dar und leistet dabei einen Anschluss sowohl an die narrativen Konzepte der Autobiographie als Lebensweg als auch an die Funktion der Beichte und des Geständnisses, deren Wichtigkeit Michel Foucault für die Bildung von Subjekten hervorgehoben hat.32 Der Held des Romans sucht dabei dem Dilemma der Subjektbildung mittels seiner Autorschaft, bzw., präziser gefasst: durch die reine Tätigkeit des Schreibens und Fiktionalisierens zu begegnen: »Ich mußte eine künstliche, eben erzählbare Struktur in meine Existenz bringen […]. Ich mußte einen Grund liefern, warum gerade an meiner Existenz gearbeitet werden sollte.«33 Das Metaleptische von Unter Ärzten besteht nun darin, dass bei der Thematisierung und Beschreibung dieser Existenz sie als allererstes erschaffen wird. Dies geschieht jedoch nicht zum ersten Mal, erscheint doch der Jolo aus Unter Ärzten zwar nicht identisch, wohl aber äquivalent zu all den anderen Jolos, die als Erzähler und Träger der Fokalisierung in Lottmanns Romanen auftreten. ›Jolo‹ wird damit als ein poetisches Prinzip erkennbar, aus dem heraus sich all die fiktiven, journalistischen und alltagswirklichen Derivate namens ›Joachim Lottmann‹ bei jeder Publikation neu formieren. Dass diese Existenz nur im ›Modus Borderline‹ existieren kann, macht die folgende Passage deutlich, die das Verhältnis von Fiktion und Wahrheit ins Zentrum rückt: »Ich spürte bei jeder Antwort das brennende Verlangen, den Sachverhalt zu literarisieren. […] Aber dann war die ganze Therapie wertlos! Nur die Wahrheit konnte mich weiterbringen. Deshalb zwang ich mich dazu, wenigstens dieses Mal noch.«34

31 Ebd., S. 211. 32 Vgl. dazu Michel Foucault, »Technologien des Selbst«, in: ders., Ästhetik der Existenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 287-317, hier S. 309-317; Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 75-84. 33 J. Lottmann: Unter Ärzten, S. 194. 34 Ebd., S. 197.

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Das Ziel einer in sich geschlossenen Subjekthaftigkeit wird unerreichbar, die Therapie wertlos, wenn sie mit ausgedachten oder literarisch verfremdeten Elementen operieren muss. Eine Arbeit an der Existenz dieses schreibenden Patienten ist nur dann möglich, wenn sie mit ›Wahrheiten‹ operiert. Damit lässt sich die gesamte Selbstpoetik der Autor-Subjekt-Figur Joachim Lottmann in a nutshell formulieren: Seine Position als Autor, als Figur und als AutorFigur manifestiert sich durch die pathologische Schreibtätigkeit und die borderlinesche Verschiebung der Welt. Die Poetik erschafft immer wieder ein äquivalentes Subjekt namens Jolo, der als Patient-Schriftsteller als solches nur existieren kann, solange er diese Krankheit in sich trägt. Dass dies kein Spaß ist, zeigen die Symptome derjenigen, die sich damit angesteckt haben, so z.B. ein gewisser ›Rainald Goetz‹.

IV. V IRULENZ Zunächst gilt es anzumerken, dass Lottmann als Person, i.e. als Träger der gleichnamigen Autorfunktion, in der medialen Öffentlichkeit durchaus als ›krank‹ wahrgenommen wird. Der Zusammenhang von Pathologie und Schreibtätigkeit erfolgt hierbei jedoch uneinheitlich. Mal wird sein Schreiben als etwas beschrieben, das nur in Abwesenheit der Krankheit bzw. im Zustand des NichtPathologischen möglich sei,35 mal erscheint es wiederum als ein alternatives Heilmittel gegen die Krankheit.36 Was hier jedoch in erster Linie interessiert, ist die streuende Wirkung, welche diese Lottmansche ›Krankheit‹ entfaltet. Eines ihrer Opfer ist eben jener Rainald Goetz, der gleich zu Beginn des Aufsatzes das wenig schmeichelhafte Urteil formulierte. Lottmanns Borderline-Blog ging wenige Monate nach dem Start von Klage online – und diese unterschied sich durch den ausgestellten literarischen Charakter ganz entschieden von Lottmanns Borderline-Poetiken.

35 Vgl. Peter Mühlbauer, »Eine Form der Kritik, die man sich noch leisten kann«, in: Telepolis vom 29.09.2007, http://www.heise.de/tp/artikel/26/26299/1.html: »Nach seinem Erstling Mai, Juni, Juli […] veröffentlichte Joachim Lottmann fast eineinhalb Jahrzehnte lang praktisch nichts. Die Popliteratur-Welle Ende der 1990er […] und eine neue Generation von Antidepressiva kurbelten sein literarisches Schaffen wieder an.«, Zugriff: 20.06.2013. 36 Vgl. folgenden Kommentar, der von einem User in Lottmanns Blog gepostet wurde: »Nimm besser weiter deine Medikamente und setz dafür das Schreiben ab…«, http://blogs.taz.de/lottmann/2007/04/12/fruehling-der-gefuehle/, Zugriff: 20.06.2013.

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Knappe zwei Wochen nach dem Start der Online-Borderline kommt es in dem Blog von Goetz zu einem poetischen Bruch:37 Eine Figur aus einem der Lottmannschen Romane hält plötzlich Einzug und dessen Verwandlungen der Welt selbst werden nicht nur explizit thematisiert, sondern teilweise in der Manier eines Pastiches imitiert. War die Hauptthematik von Klage zuvor das Feld der Politik, so wird es nach dieser Infektion die Frage nach der ›Diskretion‹ des Schreibens. Der Gerichtsprozess um das Verbot von Maxim Billers Roman Esra bietet bei Goetz immer wieder Anlass, die Grenzen und Möglichkeit eines ›wahrhaften‹ oder eben ›lügenden‹ Schreibens auszuhandeln, wobei Goetz als die Stimme der Klage nun selbst die Krankheit in sich trägt: »Und was heißt das Urteil jetzt für uns Borderliner?, sagte ich zu Joachim Lottmann [...]. Dann sagte Lottmann, springend zum aktuellen Anlass, du meinst wohl den Fall ESRA, und ich sagte, ja natürlich.«38 Auch in dem nach Klage erschienenen Band loslabern wird Lottmann explizit erwähnt und dient Goetz39 erneut dazu, die eigene Position als Schreiber zu reflektieren. Die Borderline-Poetik wird wieder mit einer Mischung aus Bewunderung und Abscheu betrachtet, die Existenz als Schriftsteller, der sein Schaffen an dem Ort ansiedelt, an dem sich Fiktion und Wirklichkeit aushandeln, wird reflektiert. Die beiden Figuren begegnen sich, kommen ins Gespräch – und die Übertragung der Krankheit äußert sich in einem Symptom der Angst: »Ich hatte eine unfassbare ANGST vor Joachim Lottmann. Wahrscheinlich, dachte ich jetzt, hinter Lottmann hergehend, haben die Leute vor mir genau dieselbe Angst, wie ich sie vor Lottmann habe, die Angst vor Lüge, die Angst, Figur zu werden, die Angst, missbraucht zu werden. Und sie hatten recht, dachte ich [...].«40

Die Borderline-Poetik wird damit als der Figur eigen ausgewiesen, die latente Aufhebung der Grenze von Wahrheit & Lüge, Welt & Text macht einen solchen Schriftsteller zu einer Gefahr, da er das System der Literatur überschreitet und sich – zumindest als Motiv – in die Alltagswirklichkeit einschreibt. Wie berechtigt eine solche Sorge ist, soll an einem letzten Beispiel demonstriert werden: Diese weitere ›Infektion‹ ist symptomatisch für das BorderlineSystem und ist aus dem Grund von Belang, da hier mit der Welt am Sonntag ein one-to-many-Medium infiziert wird, das eigentlich ihrem Typ nach daran betei37 Rainald Goetz, Klage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 106. 38 Ebd., S. 235. 39 Wie in Abfall für alle, Rave, Celebration und Klage ist der Ich-Erzähler bzw. die Autorfigur ein autofiktionales Konstrukt, das den Namen von Rainald Goetz trägt. 40 Rainald Goetz, loslabern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, S. 110.

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ligt ist, die operativen Fiktionen unserer Alltagswirklichkeit mit herzustellen – ein Umstand, den man von Lottmanns Blog nicht unbedingt behaupten kann. In eben jener Zeitung erschien am 24.10.2004 die Reportage »Ein Nachtclub, der Deutschland heißt« von Thomas Lindemann über Lottmann. Das Bemerkenswerte daran ist der Umstand, dass darin die Figuren aus Lottmanns Romanen in die Sphäre journalistischer ›Fakten‹ übersetzt werden; alles sei in der Wirklichkeit tatsächlich so, wie Lottmann es in der vorgeblichen Fiktion beschrieben habe.41 Lindemanns vorgeblich decodierender Artikel markiert den Beginn einer Spirale von Fortschreibungen, deren Modus eigentlich demjenigen der Lottmannschen Zwischenwelt entsprechen müsste, der aber ebenso an der Konfiguration eines typischen Feuilleton-Artikels einer seriösen überregionalen Wochenzeitung Teil hat. So partizipiert Lottmann nachträglich selbst an der Konfiguration von Lindemanns Text, als er im Tagesspiegel eine ›Gegendarstellung‹ eben jenes Abends publiziert, den Lindemanns Reportage beschrieb – wobei allerdings alle dort genannten Elemente durchgängig bestätigt werden.42 Weniger als eine Fortschreibung markiert Lottmanns Publikation allerdings eine ›Aneignung der Konfiguration‹ bzw. die Arbeit an einer Lindemann als Reporter zuzuweisenden Poetik, wenn er in seiner Version der Ereignisse diesen instruiert: »Lindemann, Sie müssen Ihren Bericht wie ein Popautor schreiben, nicht wie ein Journalist.«43 War Lindemanns Autorschaft zuvor dafür verantwortlich, Lottmann und einige seiner Figuren als ›reale Personen‹ darzustellen, so revanchiert sich Lottmann auf seine Weise, indem er Lindemann zur Figur seiner eigenen Welt erhebt.44 Die Folge davon ist, dass sich diejenigen Welten von Fiktion und Fakt, die zumindest heuristisch getrennt werden müssen, um als Person ein Leben dahingehend zu führen, dass es operationalisierbare Anschlüsse an andere Diskurse leistet, bis zur Ununterscheid41 Vgl. Thomas Lindemann, »Ein Nachtclub, der Deutschland heißt«, in: Welt am Sonntag vom 24.10.2004. 42 Vgl. Joachim Lottmann, »Schreib’ das auf, Lindemann!«, in: Der Tagesspiegel vom 13.11.2004. 43 Ebd. 44 Thomas Lindemann taucht auch als Figur in Lottmanns Weblog auf – dies soweit referentialisierbar, als nicht nur (angebliche) Fotos seiner Person, sondern ganze Artikel von ihm komplett zitiert werden. Vgl. u.a. http://blogs.taz.de/lottmann/2008/08/ 20/alice_ist_eine_schlampe_betrug_bei_hansenet/ und http://blogs.taz.de/lottmann/2007/05/02/5-kapitel-die-grundsatzdebatte/, Zugriff: 20.06.2013. Zudem erscheint er als Figur in einem der Romane, vgl. Joachim Lottmann, Der Geldkomplex, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2009, S. 133ff.

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barkeit vermengt werden. Lottmanns Borderline-Universum, das ja eigentlich konventionell gedacht nur aufgrund der Autorisierung durch ihn als Träger der Autor-Funktion existieren kann, erfährt so ein unkontrollierbares Eigenleben. Die Infektion mit dem Borderline-Virus macht sich damit als potenziell stets bereits vollzogen dar. Wie Herpes-Viren, die in quasi allen Menschen zu finden sind, aber nur selten zum Ausbruch einer Krankheit führen, wird die Borderline-Krankheit als eine Latenz begreifbar, über die man keine komplette Kontrolle ausüben kann: Man kann sich die Subjektform ›BorderlineSchriftsteller‹ aneignen und selbstbestimmt beginnen zu publizieren, dabei Fakt und Fiktion ununterscheidbar vermischend – durch die Möglichkeit, einen Weblog oder Tumblr aufzusetzen, sind hier keine institutionellen Kontrollmechanismen präsent. Es ist allerdings auch möglich, dass man sich als bereits publizierender Journalist o.Ä. unversehens damit konfrontiert sieht, von and eren als Borderline-Autor attribuiert zu werden – und die Performanz einer solchen Zuweisung bedeutet nichts weniger als eine Ansteckung mit dem Virus, der man von da an nicht mehr entkommen kann, da ein jedes Publizieren, jede öffentliche Gegendarstellung weiterhin das Potenzial aufweist, im Modus der Borderline-Poetik rezipiert zu werden.

V. D IAGNOSE Joachim Lottmann vollführt seine eigene Einschreibung in den medialen Raum als eine ›pathologische Autorschaft‹, die an die Poetiken des BorderlineJournalismus gebunden ist. Es ist dabei gleichgültig, ob die Helden seiner Romane und Reportagen dabei seinen Klarnamen oder die Variation ›Johannes Lohmer‹ tragen, da dabei stets ein Anschluss an die konkrete Autorfunktion ›Joachim Lottmann‹ geleistet wird und ›das Prinzip Jolo‹ für eine Konsistenz der Poetik sorgt. Ganz konkret erweisen sich seine Werke nicht als die Konstruktion eines Autor-Subjekts, sondern beliebig vieler Autor-Subjekt-Figuren, die in einem Modus serieller Äquivalenz immer neu hergestellt werden. Die konkrete Person namens Joachim Lottmann, die sich im alltagswirklichen literarischen Feld bewegt, erweist sich als die Personifikation dieses ›Jolo-Prinzips‹. Dieses Prinzip ist dabei dem Modus der Verschiebung verpflichtet, in welchem die Grenzen zwischen Alltagswirklichkeit und Fiktion immer neu austariert werden und dabei spezielle Wahrheiten der so entstehenden Figuren hervorbringen. Das Pathologische äußert sich dabei zum einen in einer strengen Verpflichtung auf die Verschiebung und zum anderen in einer Kongruenz von Schreibtätigkeit und Existenz: Die Texte von Lottmann werden so als eine ei-

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genartige Variation von hypomnêmata45 lesbar, die performativ das hervorbringen, wovon sie sprechen – und dies sowohl inhaltlich als auch formal. Der so entstehende ›Patient Schriftsteller‹ erweist sich somit als eine besondere Form der Subjektform ›Autor‹. Um die negativen Attribute zu interpretieren, die Lottmann vor allem vonseiten Rainald Goetz’ erfahren hat und die nachfolgend sein Bild in der Öffentlichkeit maßgeblich geprägt haben, muss man den Fokus auf die Offenheit einer solchen Poetik lenken, die in diesem Aufsatz als ›Ansteckung‹ bezeichnet wurde: Wenn man sich unversehens als Figur in einem so konfigurierten Universum findet, kann man noch rechtliche Schritte erwägen. Wenn man jedoch bereits eine Autor-Funktion im medialen Feld belegt, und dann sich damit konfrontiert sieht, dass die eigenen Schreibweisen von anderen als einer Borderline-Poetik angehörend bezeichnet werden, dann kann man dieser Konstellation eigentlich nur entkommen, wenn man den Motor der Krankheit stoppt und aufhört, eigen autorisierte Schrift in den medialen Raum zu stellen. Sofern man nicht dazu bereit ist, wird immer ein Zweifel daran bleiben, ob man die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion tatsächlich so aushandelt, wie es in der binären Heuristik von Journalismus und Literatur angelegt ist. Ob dies dann tatsächlich ›böse‹ ist, oder aber einfach nur den Normalzustand einer auf Selbstbeteiligung hin offenen Mediengesellschaft beschreibt, bleibt letztlich dem persönlichen Urteil überlassen.

45 Vgl. Michel Foucault, »Über sich selbst schreiben«, in: ders., Ästhetik der Existenz, Frankfurt. a.M.: Suhrkamp 2007, S. 137-154, S. 140-145.

»Tu Schlechtes und rede darüber« Das Drogengeständnis als Selbstinszenierungspraktik bei Benjamin von Stuckrad-Barre G ERRIT V ORJANS

Als Benjamin von Stuckrad-Barre im Frühsommer 2004 seine Drogensucht publik machte, geschah dies nicht etwa zufällig oder beiläufig, sondern im Zuge einer groß angelegten PR-Kampagne. Den Auftakt dieser Kampagne markierte ein am 24. Mai 2004 veröffentlichtes Interview mit dem Spiegel, in welchem der Schriftsteller seine jahrelange Kokainabhängigkeit und seine Aufenthalte in verschiedenen Entzugskliniken thematisierte.1 Binnen weniger Tage griffen verschiedene überregionale Tages- und Wochenzeitungen das Spiegel-Interview auf und berichteten nun ihrerseits über Stuckrad-Barres Drogenprobleme. Währenddessen wiederholte dieser seine Kokain-Beichte in verschiedenen weiteren Interviews und schließlich am 31. Mai in der ARD-Talksendung Beckmann. Nachdem das öffentliche Interesse an diesem Thema dergestalt geweckt war, strahlte der WDR am 2. Juni den Dokumentarfilm »Rausch und Ruhm« von Herlinde Koelbl aus. In dieser Dokumentation portraitiert Koelbl den Schriftsteller auf dem Höhepunkt seiner Kokainabhängigkeit und begleitet ihn mit der Kamera unter anderem in eine Entzugsklinik. Diesen Film wiederum nahmen die FAZ und der Tagesspiegel zum Anlass, um darüber zu berichten, dass StuckradBarre nicht nur drogenabhängig war, sondern sich dabei auch noch hat filmen

1

Vgl. Christoph Dallach/Wolfgang Höbel, »Ruhe fand ich, wenn ich breit war.«, in: Der Spiegel 22 (2004), S. 170-175.

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lassen.2 Wenngleich sich auch Teile der Medien fast reflexartig auf das Thema stürzten, so zeigten sich indes längst nicht alle Journalisten vom Geständnis des Schriftstellers überrascht. So bemerkte beispielsweise Arno Frank in der taz süffisant, eine wirklich berichtenswerte Nachricht wäre es gewesen, hätte Stuckrad-Barre zugegeben, noch nie Drogen genommen zu haben.3 Betrachtet man die Selbstinszenierung Stuckrad-Barres eingehender, so kann seine Kokain-Beichte tatsächlich kaum überraschen. Vielmehr zählt, wie noch zu zeigen ist, die Thematisierung des eigenen Drogenkonsums bereits seit dem Beginn seiner literarischen Karriere zu den Praktiken seiner Selbstinszenierung als Pop-Literat und Rockstar des deutschen Literaturbetriebs. 4 Die skizzierte PRKampagne von 2004 ist aber insofern aufschlussreich, als dass sie Ausdruck eines Wandels der Selbstinszenierungspraxis Stuckrad-Barres ist. Zu dieser Praxis bemerkten Jürgensen und Kaiser, Stuckrad-Barre habe mit der Veröffentlichung seines Buches Blackbox im Jahr 2000 mit einen »Re-Modeling«5 seiner Selbstinszenierung begonnen. Im Zuge dieses längerfristigen Re-Modelings hat sich, wie ich im Folgenden argumentieren werde, auch Stuckrad-Barres Inszenierung des eigenen Rauschmittelkonsums verändert.

I. »H ARDROCKSZENARIEN «: K OKAIN

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Die Thematisierung des eigenen Drogenkonsums markiert eine Selbstinszenierungspraktik Stuckrad-Barres, die vor allem zu Beginn seiner literarischen Karriere untrennbar mit den kulturellen Codes der Rock- und Popkultur verbunden

2

Vgl. Klaudia Brunst, Sie mag die Seite an ihm, die er nicht zeigt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.05.2004, S. 56 und Barbara Nolte, »Ich traf einen verzweifelten Menschen«, in: Der Tagesspiegel vom 02.06.2004.

3

Vgl. Arno Frank, »Die Beichte als Sucht«, in: taz.die tageszeitung vom 25.05.2004, S. 14-15.

4

Ohne der Frage nach der Inszenierung des Drogenkonsums eine besondere Bedeutung zuzumessen, haben bereits Markus Tillmann und Jan Forth auf die Inszenierung Stuckrad-Barres als Rockstar hingewiesen. Vergleiche hierzu: Markus Tilmann/Jan Forth, »Der Pop-Literat als ›Pappstar‹. Selbstbeschreibungen und Selbstinszenierungen bei Benjamin von Stuckrad-Barre«, in: Ralph Köhnen (Hg.), Selbstpoetik 18002000, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2001, S. 271-283.

5

Christoph Jürgensen/Gerhard Kaiser, »White Album/Blackbox. Popkulturelle Inszenierungsstrategien bei den Beatles und Struckrad-Barre«, in: Literatur im Unterricht 12 (2011), S. 17-38, hier S. 33.

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war. Dies zeigt sich bereits an Stuckrad-Barres literarischem Debüt Soloalbum. Schon in der zweiten Auflage6 des Buches ist dem Roman ein Peritext nachgestellt. Es handelt sich dabei um ein Fax des Journalisten Ulrich Hoffmann, der sich bei Stuckrad-Barre unter anderem nach dessen persönlichen Drogenerfahrungen erkundigt. Stuckrad-Barre antwortet darauf mit einem ebenfalls abgedruckten Zitat des englischen Pop-Musikers Jarvis Cocker: »I did experiences with substances/ but all it did was make me ill«.7 Wichtiger als die Frage, ob man der hier ohnehin wenig konkreten Auskunft Stuckrad-Barres zu seinem Drogenkonsum Glauben schenken mag, sind zwei andere Aspekte dieses Peritextes. Erstens lenkt bereits das bloße Abdrucken dieses Schriftwechsels die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Frage nach dem Drogenkonsum des empirischen Autors Stuckrad-Barre. Aus der Lektüre dieses Romans alleine drängt sich diese Frage nicht zwingend und nicht in dieser Prominenz auf. Indem Stuckrad-Barre zweitens mit einem Zitat des Pop-Stars Jarvis Cocker antwortet, verortet er die Drogenthematik dezidiert in einen popkulturellen Kontext. Dieser Kontext ist indes durchsetzt von bestimmten kulturellen Codes und Klischees, von denen das des drogenabhängigen Rockstars eine besondere Prominenz aufweist, wie sie sich nicht zuletzt im geflügelten Wort von ›Sex, Drugs & Rock’n’Roll‹ niederschlägt. Es ist vor allem die Rock’n’Roll-Kultur, die im Zusammenhang mit dem Sprechen über Drogen von Stuckrad-Barre zu Beginn seiner Karriere immer wieder als Bedeutungshorizont aufgerufen wird. Dies zeigt sich bereits in einem frühen Text von Stuckrad-Barre, der im 1999 veröffentlichten Sammelband Remix enthalten ist, sehr deutlich. Darin heißt es über Robbie Williams: »Ein Jahr lang hat er daraufhin gelernt – zu rocken. Richtig zu Rocken. Übereifriger Amateur, der er war, hat er sich mit dem Teufel eingelassen in dessen putziger Variante Noel & Liam Gallagher. Nach so vielen Jahren mit Bodybuildung und Tanzunterricht war das Kopieren von deren waghalsigem Lebensrythmus natürlich fatal. Endstation Entzugsklinik, dann aber – und das ist dann Rock! – Comeback und plötzlich: Rock auch in der Musik. […] Innerhalb eines Jahres hat Robbie gelernt, wie Rock geht. Rock heißt: Tu Schlechtes und rede darüber.«8

Zunächst ist grundsätzlich anzumerken, dass Stuckrad-Barre hier eine bestimmte klischeehafte Vorstellung von Rock’n’Roll aufgreift und reproduziert, die stark von der Auseinandersetzung des Schriftstellers mit den Künstlern des sogenann6 7

Verlagsangabe von Kiepenheuer & Witsch. Benjamin von Stuckrad-Barre, Soloalbum, 2. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 248.

8

Benjamin von Stuckrad-Barre, Remix, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2004, S. 279.

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ten Brit Pop geprägt ist.9 Wenn also im Folgenden von ›Rock‹ die Rede ist, so ist damit jene stereotype Vorstellung von Rock gemeint, derer sich Stuckrad-Barre in seinen Texten und seiner Inszenierung bedient. Im oben angeführten Zitat erscheinen der exzessive Konsum von Drogen inklusive des Absturzes in die Sucht sowie der darauf folgende Neustart als obligatorische Bestandteile einer Rock-Subjektivierung,10 durch die aus einem gewöhnlichen Musiker erst ein Rockstar wird. Diese Subjektivierung ist dabei in der Schilderung Stuckrad-Barres erstens ein gleichsam zirkulärer Prozess mit einer festen Abfolge einzelner Phasen, die sich als ›Exzess‹, ›Absturz‹, und ›Neustart‹ bezeichnen lassen.11 Zweitens hat diese Subjektivierung immer auch eine öffentliche Dimension, denn der Rockstar wird erst dann vollends zum Rockstar, wenn er auch als solcher von der Öffentlichkeit anerkannt wird – was im Übrigen prinzipiell auch für den Literaten gilt. Es ist diese auf die öffentliche Anerkennung zielende Dimension der Subjektivierung, die mit dem Begriff der ›Selbstinszenierung‹ gemeint und auf welche der Untersuchungsfokus gerichtet ist.12 Diese öffentliche Dimension scheint von Stuckrad-Barre stets mitgedacht, 9

Vergleiche zum Britpop: J. Mark Percival, »Britpop or Eng-pop?«, in: Andy Bennet (Hg.), Britpop and the English music tradition, Surrey: Ashgate 2010, S. 123-143.

10 In Anschluss an Alkemeyer, Budde und Freist wird unter dem Begriff der Subjektivierung eine Forschungsoptik verstanden, welche das Subjekt »nicht als Substanz, sondern als eine ›in Formierung begriffene Struktur‹ in den Blick [nimmt]. Es wird in einer Prozess-Perspektive unter dem Gesichtspunkt seiner Entstehung, Entwicklung, Erhaltung und Veränderung betrachtet und in einer Praxis-Perspektive mit WieFragen konfrontiert: Wie erlangt ein Individuum durch seine Teilnahme an sozialen Praktiken den Status eines intelligiblen, als ›mitspielfähig‹ anerkannten Subjekts?« Thomas Alkemeyer/Dagmar Freist/Gunilla Budde, »Einleitung«, in: dies. (Hg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld: transcript 2013, S. 34. 11 Von Absturz und Neustart spricht bereits Ute Paulokat in ihrer Dissertation: Benjamin von Stuckrad-Barre. Literatur und Medien in der Popmoderne, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2006, S. 194. 12 Die hier gewählte Forschungsoptik fokussiert damit ganz auf die öffentlichen und in gewisser Hinsicht diskursiven Praktiken der Subjektivierung Stuckrad-Barres und untersucht dezidiert nicht, ob der Schriftsteller nun wirklich drogenabhängig war oder dies nur behauptet hat. Zwar soll Stuckrad-Barres Kokain-Sucht ebenso wenig in Zweifel gezogen werden wie sein möglicherweise tatsächlich auch ›privat‹ gepflegter ›Rockstar-Lebensstil‹. Aber die Frage nach einer ominösen Wahrheit ›hinter‹ der Inszenierung des Autors wird hier aus zwei Gründen nicht gestellt: Erstens ist das meines Erachtens besonders Interessante an Stuckrad-Barre gerade die Frage, wie er es

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wenn er als Rock-Credo formuliert: »Tu Schlechtes und rede darüber« (Hervorhebung, GV). Konsequenterweise hielt er sich zu Beginn seiner Laufbahn auch bei der eigenen Inszenierung an dieses von ihm selbst formulierte Prinzip, wie ein Blick auf seinen zweiten Roman Livealbum von 1999 zeigt. Diesem Text, der die Lesereise eines jungen Literaten schildert, ist das Motto »Let me entertain you!« vorweg gestellt, das zugleich der Titel eines ein Jahr zuvor veröffentlichten Liedes des bereits erwähnten Sängers Robbie Williams ist. Qua Intertextualität wird der Roman also von Anfang an in Bezug zur Pop-Kultur gesetzt. Mit diesem Text betreibt Stuckrad-Barre wesentlich deutlicher als noch mit seinem Debütroman auch die Inszenierung seiner eigenen Autorschaft. Möglich wird dies vor allem durch verschiedene Techniken, mit denen permanent die Grenze zwischen Fiktion und Autobiographik verwischt wird. So taucht im Text beispielsweise Stuckrad-Barres Schriftsteller-Freund Christian Kracht als namentlich genannte Figur auf, die mit dem Protagonisten eine Doppellesung abhält. Eine solche Doppellesung mit Kracht war auch Teil von Stuckrad-Barres echter Lesereise im Jahr 1998, wovon seine Fans und Leser durchaus Kenntnis haben konnten, weil Audio-Mitschnitte dieses Ereignisses bereits als CD unter dem Titel Liverecordings veröffentlicht worden waren. Durch solche und andere Verwischungen der Grenzen zwischen Fiktion und Realität suggeriert der Roman also verschiedentlich, Stuckrad-Barre würde hier über sich selbst und seine eigene Lesereise schreiben. Die literarische Darstellung dieser Reise aber hat mit konventionellen Dichterlesungen wenig gemein, sondern wird als die Tournee eines Rockstars geschildert, wie ein Blick in das Kapitel über besagte Lesung mit Kracht offenbart: »Volle Hütte war das eine, volle Autoren das andere. Ich war bizarr gut gelaunt und pfefferte die beiden dann ja doch nicht mit Katja Riemann eingeworfenen Pillen auf den Rauchtglastisch meines in ›Raum für strategische Planung und Künstlerbetreuung‹ umbenannten Hotelzimmers. Wenn das so sei, sagte Kracht; und stellte eine Vizir-Umweltgeschafft hat, über Jahre hinweg eine so große öffentliche Präsenz herzustellen und zu wahren. Zu untersuchen, was ›jenseits‹ dieser öffentlichen Selbstinszenierung liegt, wäre in diesem Zusammenhang wenig zielführend. Zweitens ließe sich letztgenannte Frage ohnehin nicht beantworten, da es dazu praktisch keine verlässlichen Daten beziehungsweise Dokumente gibt. Alles, was von und über Stuckrad-Barre geschrieben oder gedreht wurde, scheint immer schon im Hinblick auf eine (mögliche) Veröffentlichung angefertigt worden zu sein und ist damit je schon Teil von Fremd- oder Selbstinszenierung. Dies gilt auch für den weiter unten betrachteten Dokumentarfilm »Rausch und Ruhm«, der bei genauerer Betrachtung deutliche inszenatorische Eingriffe beinhaltet.

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kugel, gestrichen voll mit Kokain daneben. […] Es wirkte, brannte, smashte. Wir verpackten die Vorräte und warteten auf den Veranstalter. Abwechselnd sprangen wir auf und skizzierten die unterschiedlichsten Hardrockszenarien. Wir würden einen Laufsteg ins Publikum benötigen, eine Videoleinwand und Steven Tyler-Tücher am Mikrophonständer. Auf jeden Fall bedürfte es einer überlauten Ouvertüre. Wir öffneten einige Flaschen regionalen Spitzenpilseners, da sich das Kokain gerade mit der hundertfachen Wucht handelsüblicher Ahoi-Brause anschickte, unsere Rachenhinterräume zu verätzen.«13

Auch in Livealbum steht die Thematisierung des exzessiven Kokainkonsums also im kulturellen Kontext des Rock’n Roll. Sie wird als eine Praktik geschildert, die zum Lebensstil des Rockstars ebenso dazu gehört wie bestimmte Formen des Bühnenauftritts oder der an anderer Stelle im Roman geschilderte Beischlaf mit einem »Groupie«.14 Diese Praktiken der Rock-Subjektivierung werden im Roman dem Lebensstil einer zunächst formal gesehen fiktiven Figur zugeschrieben, welche aber wie ausgeführt nicht mehr trennscharf vom empirischen Autor Stuckrad-Barre geschieden werden kann. Eine Trennung wird zudem noch dadurch erschwert, dass auch StuckradBarres außerliterarische Selbstinszenierung in dieser Phase seiner Karriere große Ähnlichkeiten zu der Inszenierung der Figur in seinem Roman aufweist. Auch jenseits seiner Texte adaptierte er konsequent und in aller Öffentlichkeit Inszenierungspraktiken des Rock und inszenierte sich unter Rückgriff auf diverse, wie Tilmmann und Forth es nennen, »Rockpose[n]«.15 Dazu zählte beispielsweise die Annäherung seiner Lesungen an das Format des Rockkonzerts, was in einem Auftritt Stuckrad-Barres beim Rock am Ring-Festival im Jahre 2000 gipfelte. Dazu gehörte ferner sein exzentrisches Auftreten in Talkshows, in denen sich der Autor systematisch über die Verhaltensnormen solcher Formate hinwegsetzte. So bewarf er andere Talkgäste mit Babypuder, provozierte die Moderatoren oder stieg gleich auf Tische und Stühle wie in der vom HR ausgestrahlten Sendung Late Lounge. Dieses Verhalten Stuckrad-Barres befeuerte dann wiederum die Spekulationen der Presse über seinen Drogenkonsum.16 Kurzum: Stuckrad-Barre transponierte zu Beginn seiner Karriere verschiedene Subjektivierungspraktiken des Rock’n’Roll in den literarischen Betrieb und inszenierte sich selbst als eine Art Literatur schaffender Rockstar. Zu diesen Praktiken zählte nicht zuletzt eine bestimmte Form der Thematisierung des eigenen Kokainkonsums. Das Sprechen über den Umgang mit Drogen blieb dabei 13 Benjamin von Stuckrad-Barre, Livealbum, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, S. 118. 14 Ebd., S. 57. 15 M. Tillmann/J. Forth, Der Pop-Literat als Pappstar, S. 277. 16 Vgl. ebd.

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aber zunächst ein Sprechen in Andeutungen, was in gewisser Hinsicht sehr geschickt war. Denn indem er es lange vermied, die Öffentlichkeit im Hinblick auf seine Sucht vor vollendete Tatsachen zu stellen, blieben die Spekulationen über seinen Konsum virulent. Dadurch gelang es Stuckrad-Barre, das Interesse der Medien, auf die er als Mitspieler bei seiner Inszenierung angewiesen war, an sich und der Frage seines Drogenkonsums zu wahren. Ein besonders gutes Beispiel dafür, wie es der Autor vermochte, die Medien auf subtile Weise als Mitspieler seiner Inszenierung zu rekrutieren, ist die sogenannte ›Stadlober-Affäre‹. Das Internetboulevardblatt Thema1 hatte in einer rasch wieder aus dem Netz entfernten Test-Version eines Artikels die Meldung publiziert, Stuckrad-Barre habe den Schauspieler Robert Stadlober auf einer Toilette »zu Sex und/oder Drogen«17 verführt. Diese frei erfundene Geschichte hatte nach Betreiberangaben »allenfalls eine Verbreitung wie eine Schülerzeitung«18 und wäre gewiss von der breiten Öffentlichkeit unbemerkt geblieben, wenn Stuckrad-Barre nicht erstens eine Schmerzensgeldklage eingereicht und dieses Beschreiten des Rechtsweges zweitens publik gemacht hätte. Auf diese Weise aber gelangte das Gerücht über Stuckrad-Barres Drogenkonsum im ›Gepäck der Meldung‹ über die eingereichte Klage unter der Überschrift »Pop-Autor protestiert« bis in das Magazin Spiegel. Dabei vermied es der um Stellungnahme gebetene Autor, die Gerüchte um seinen Drogenkonsum eindeutig zurückzuweisen,19 wodurch diese weiterhin virulent blieben. So verwundert es auch nicht, dass seine KokainBeichte 2004 eine so große öffentliche Resonanz erzeugte. Worüber schon seit Jahren in den Medien spekuliert wurde, war nun Gewissheit geworden. Auf die noch in Livealbum förmlich gefeierte Phase des Drogenexzess folgte nun die 17 O.A., »Pop-Autor protestiert«, in: Der Spiegel 42 (2000), S. 357. 18 Ebd. 19 Stattdessen behauptete Stuckrad-Barre gegenüber dem Spiegel, er und Stadlober hätten »im Feuilleton der Münchner ›Abendzeitung‹ Haarproben hinterlegt:« Dieser Kommentar kann als eine ironische Replik auf die Affäre um den damals designierten Fußballbundestrainer Christoph Daum gelesen werden. Dieser hatte, nachdem von besagter Münchner Abendzeitung Gerüchte über seinen Kokainkonsum veröffentlicht wurden, in einer viel beachteten Pressekonferenz angekündigt, diese Gerüchte durch die Untersuchung einer Haarprobe entkräften zu wollen. Diese Pressekonferenz fand genau eine Woche vor der Veröffentlichung des Spiegel-Artikels über Stuckrad-Barre statt. Pikanterweise führte diese Haarprobe wiederum eine Woche darauf zu dem Ergebnis, dass Christoph Daum der Kokainkonsum nachgewiesen wurde. Unabhängig davon, ob Stuckrad-Barre diesen nicht ganz überraschenden Ausgang der Affäre um Daum antizipiert hat, hat das Statement des Autors die Kokaingerüchte um ihn damit zumindest nicht entkräftet. Vgl.: O.A., »Pop-Autor protestiert«.

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Inszenierung des Absturzes in die Sucht und des sich daran anschließenden Neustarts.

II. D IE H ÖLLENFAHRT ALS S ELBSTVERSUCH : N EUSTART DER I NSZENIERUNGSPRAKTIK Das aufschlussreichste Dokument des Wandels in der Inszenierungspraxis Stuckrad-Barres ist die eingangs bereits erwähnte Dokumentation Rausch und Ruhm. In diesem über mehrere Monate entstandenen Film von Herlinde Koelbl sind alle drei Phasen der Rock-Subjektivierung repräsentiert. Der erste Teil des Films zeigt einen gleichsam im Absturz begriffenen und körperlich sichtlich angeschlagenen Stuckrad-Barre vor seinem Drogenentzug. In seiner völlig verwüsteten Wohnung berichtet der Autor von seinen suchtbedingten Wahnvorstellungen, von Schlafstörung und sozialer Isolation sowie der Unfähigkeit, den eigenen Alltag zu bewältigen. Das Leben des Autors wird dem Leser – in Stuckrad-Barres eigenen Worten – als ein aus der Abhängigkeit resultierender »Verfall und Ruin«20 präsentiert. Gleichzeitig aber bekommt der Schriftsteller in dieser Dokumentation auch die Möglichkeit, in rückblickenden Erzählungen seine Vergangenheit zu deuten, wozu er wiederum auf die bekannten Muster einer Selbstinszenierung als Rock-Star zurückgreift. So schildert er beispielsweise, wie er sich im Kokain-Rausch auf der Suche nach käuflichem Sex für 913 Euro pro Nacht mit einer Prostituierten in der Präsidenten-Suite eines Berliner Luxushotels einmietete, was er mit den Worten kommentiert, dies sei »nicht Rock’n’Roll, das ist Geld verbrennen«:21 Dabei negiert er mit dieser Bemerkung nur scheinbar das von ihm selbst ja erst ins Spiel gebrachte Deutungsschema des Rock’n’Roll. Denn der aufgerufene Gegensatz zwischen Rock’n’Roll und der Verschwendung von Geld erweist sich bei genauer Betrachtung als Luftschloss. Bereits 1989 kam Harry Shapiro in einer Untersuchung über die Rock’n’RollKultur zu dem Schluss, dass der materielle Exzess, mithin also das redensartliche Geldverbrennen, fester Bestandteil dieser Kultur sei. 22 Nebenbei bemerkt ist die Inanspruchnahme der Dienste von Prostituierten in den Luxus-Suites der teuersten Hotels inklusive des Konsums von Alkohol und Drogen bereits an sich ein typisches Rock-Klischee und man wundert sich vielleicht lediglich, dass nicht

20 RAUSCH UND RUHM (D 2003, R: Herlinde Koebl) 21 Ebd. 22 Vgl. Harry Shapiro, Drugs Rock’n’Roll. Rauschgift und Popmusik, London: Hannibal 1989, S. 231f.

D AS D ROGENGESTÄNDNIS

ALS

S ELBSTINSZENIERUNGSPRAKTIK

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auch noch von einem zerstörten Hotelzimmer die Rede ist. Stuckrad-Barres Formulierung, dies sei »nicht irgendwie Rock’n’Roll oder so« lässt sich an dieser Stelle also getrost als Paralipse lesen – dies umso mehr, als dass sein bisheriger Lebensttil auch in anderen Passagen der Dokumentation sehr deutlich als der eines Rockstars interpretiert wird. So intoniert Stuckrad-Barre nach seinem überstandenen Entzug beispielsweise vor laufender Kamera zusammen mit Udo Lindenberg dessen Song »Mein Body du und ich«. Das Lied ist eine Hommage des alternden Rockstars an seinen Körper, welcher ihn durch alle Alkohol- und Drogenexzesse hindurch nicht im Stich gelassen hat. Symbolisch besingen Lindenberg und Stuckrad-Barre gemeinsam das Überleben des oftmals ruinösen Rockstar-Lebensstils. Damit ist indes zugleich auch der Brückenschlag zu dem im zweiten Teil der Dokumentation thematisierten Neustart Stuckrad-Barres vollzogen, der zunächst als eine Rückkehr in den Alltag inszeniert wird. Bemerkenswerterweise bringt der Schriftsteller dabei am Ende des Films ein neues Deutungsschema für seine überwundene Kokain-Sucht ins Spiel. Anstatt das Sprechen über Drogen weiterhin in den Kontext des Rock’n’Roll zu stellen, ist nach dem überstandenen Entzug nun von einem »Experiment, das dann eine Selbstzerstörung wurde«23 die Rede. Aus diesem Experiment aber werde nun ein Roman entstehen, der »jede Höllenfahrt wert«24 sei, wobei Stuckrad-Barre diese Metapher im pathetischen Schlusssatz der Dokumentation noch einmal wiederholt: »Es muss von der Hölle handeln, das Schreiben.«25 Nachträglich wird damit die zurückliegende Krise des Autors kurzerhand als ein immer schon als solches gedachtes Experiment deklariert, das zum Quell der künstlerischen Produktivität erklärt wird. Dabei inszeniert sich Stuckrad-Barre nun als ein Schriftsteller, der sich und seinen Körper als ein Erkenntnisinstrument bei einem radikalen und riskanten Selbstversuch begreift. Mit dieser Selbststilisierung als Schriftsteller, der sich und seine Biographie zum Instrument der künstlerischen Erkenntnis nimmt, greift er indes auf eine vergleichsweise alte Form der Autorinszenierung zurück. Vor allem im Zusammenhang mit der literarischen Verarbeitung von Drogenerfahrungen ist diese Inszenierungsform häufig bemüht worden, wobei die Beispiele von Thomas de Quincey über Charles Baudelaire bis hin zu Ernst Jünger reichen. Diese Deutung der eigenen Vergangenheit als Experiment verbindet sich bei Stuckrad-Barre dabei mit dem in seinem Buch Auch Deutsche unter den Opfern

23 RAUSCH UND RUHM. 24 Ebd. 25 Ebd.

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(2010) noch einmal bekräftigten Anspruch, nun ernsthafte Kunst zu betreiben. 26 Wenn Jürgensen und Kaiser also von einem »vollzogenen Strategiewechsel«27 in der Selbstinszenierung des einstigen Vorzeige-Popliteraten sprechen, so ist dieser Einschätzung durchaus zuzustimmen. Nachdem Stuckrad-Barre die bereits 1999 am Beispiel von Robbie Williams durchdeklinierte Abfolge aus Exzess, Absturz und Neustart einmal vollständig durchlaufen hat, gehören die Zeiten, in denen er sich als kokainaffiner Rockstar des deutschen Literaturbetriebs inszenierte, jedenfalls der Vergangenheit an. Ob ihm nun allerdings tatsächlich die künstlerische Aufarbeitung seiner Drogensucht in Form des groß angekündigten Romans gelingen wird, bleibt unterdessen vorerst ungewiss. Denn auch neun Jahre nach seiner öffentlichen Kokain-Beichte lässt die literarische Vergangenheitsbewältigung des Schriftstellers noch auf sich warten.

26 In diesem Buch, das vor allem eine Sammlung journalistischer Reportagen ist, thematisiert Stuckrad-Barre noch einmal seine von Koelbls Kamera dokumentierte Drogensucht, die er wiederum als »abenteuerliches Experiment« bezeichnet. Gleichsam apodiktisch unterstreicht er dabei auch seinen künstlerischen Anspruch: »Und wenn ein Schlaukopf daherkommt und sagt, das sei doch Exhibitionismus, dann sage ich dem Schlaukopf: Genau, Schatz – es ist Kunst. Und die handelt von der Wirklichkeit.« Benjamin von Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern, 3. Auflage, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2010, S. 128. 27 Jürgensen/Kaiser, Whitealbum/Blackbox, S. 36.

Autorinnen und Autoren

Assmann, David-Christopher, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main; studierte Germanistik/Literalitätsforschung, Sozialwissenschaften und Erziehungswissenschaft an den Universitäten Bielefeld und Basilicata; Promotion zu Literaturbetriebs-Szenen um 2000 im Deutsch-Italienischen Promotionskolleg Bonn/Florenz; Forschungs-schwerpunkte: Literaturvermittlung und/als Literatur, Literaturtheorie und deutschsprachige Literatur um 2000. Fischer, Alexander M., Habilitand und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen; studierte Deutsche Philologie, Politikwissenschaft und Theaterwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, der Georg-August-Universität Göttingen und der University of Glasgow; 2008 Promotion an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg mit dem Thema Dédoublement. Wahrnehmungsstruktur und ironisches Erzählverfahren der Décadence. (Huysmans, Wilde, Hofmannsthal, H. Mann); Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Autorinszenierungen und Autorschaftstheorie; Wiener Moderne und Literaturen der europäischen Décadence; Literatur der Weimarer Republik; Gegenwartsliteratur, insbesondere Popliteratur und türkisch-deutsche Literatur. Götze, Clemens, Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik der Universität Potsdam; studierte Literaturwissenschaft, Germanistische Linguistik, Geschichte und Kunstgeschichte an den Universitäten Wien und Potsdam; Promotion mit einer Arbeit zu Autorschaft und Inszenierungspraxis Thomas Bernhards; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Thomas Bernhard, österreichische Literatur- und Theatergeschichte, Theorie der Autorschaft, literarische Interviews, Wien-Bilder in der Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

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Günter, Manuela, apl. Professorin, Akademische Oberrätin am Institut für deutsche Sprache und Literatur I der Universität Köln; studierte Germanistik, Philosophie, Soziologie und Geschichte in München; Dissertation 1995 mit dem Titel Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin und Carl Einstein; Habilitation 2006 mit der Arbeit Im Vorhof der Kunst. Mediengeschichten der Literatur im 19. Jahrhundert; Forschungsschwerpunkte: Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Shoah-Literatur, gender studies, Weibliche Autorschaft und Literaturgeschichtsschreibung, Literaturzeitschriften des 19. Jahrhunderts, Autobiographie, Theorie und Geschichte literarischer Unterhaltung. Hachmann, Gundela, Assistenzprofessorin für Germanistik an der Louisiana State University in Baton Rouge im Department of Foreign Languages and Literatures. Dissertation 2008 an der Harvard University mit der Arbeit Blick in die Zeit. Optische Medien in deutschen Romanen der Postmoderne; derzeit Arbeit am Buchprojekt Die Technoimagination der Literatur. Lehre in den Bereichen Deutsch als Fremdsprache, deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, deutscher Film. Forschungsschwerpunkte: deutsche Gegenwartsliteratur, Intermedialität, Wissenspoetik und poetologische Theorien. Jürgensen, Christoph, Akademischer Rat a.Z. für Neuere deutsche Literaturgeschichte/Allgemeine Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal; studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Kiel, Dissertation 2005 an der Universität Kiel mit der Arbeit »Der Rahmen arbeitet« – Paratextuelle Strategien der Lektürelenkung im Werk Arno Schmidts. Derzeit Arbeit am Habilitationsprojekt Embedded Poets – Autorschaft im Zeichen der Befreiungskriege. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken; Goethezeit; Gewalt und Literatur; Gegenwartsliteratur. Kaiser, Gerhard, apl. Professor, Dozent für Neuere deutsche Literatur am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen; studierte Deutsche Philologie, Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften, Politik und Englische Philologie in Köln sowie Deutsch, Sozialwissenschaften und Philosophie auf Lehramt in Siegen; Dissertation 2000 an der Universität Siegen mit dem Thema »…und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine.« Erzählstrategien in Thomas Manns Doktor Faustus. Habilitation 2007 mit der Arbeit Grenzverwirrungen – Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhun-

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dert; Theorie und Geschichte schriftstellerischer Inszenierungspraktiken von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart; Wissenschaftsgeschichte. Karnatz, Ella Margaretha, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; studierte Germanistik und Geschichte in Oldenburg; derzeit arbeitet sie an einem Dissertationsprojekt zum Thema Autorinszenierungen und Autorbilder in den (Neuen- und Massen-)Medien im 21. Jahrhundert; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Gegenwartsliteratur; Theorien zur Autorschaft; Literatursoziologie. Kinzel, Ulrich, apl. Professor am Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; studierte Deutsche und Englische Philologie sowie Soziologie in Kiel; 1987 Promotion an der Universität Kiel mit dem Thema Zweideutigkeit als System. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen der Vernunft und dem Anderen in Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹; 1997 Habilitation im Fach Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg mit der Arbeit Ethische Projekte. Literatur und Selbstgestaltung im Kontext des Regierungsdenkens. Humboldt, Goethe, Stifter, Raabe; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Deutsche Literatur des 16. bis 21. Jahrhunderts, Literaturtheorie und Diskursanalysen, Komparatistik (engl./am. und dt. Literatur) und Literaturdidaktik. Kreknin, Innokentij, studierte u.a. Germanistik und Russistik in Greifswald. 2012 Promotion an der Graduate School ›Practices of Literature‹ (Westfälische Wilhelms-Universität Münster) mit der Arbeit Poetiken des Selbst. Identität, Autorschaft und Autofiktion (erscheint 2014 in Berlin: de Gruyter). Forschungsschwerpunkte: Autofiktion; Medialität; Literatur- und Kulturtheorie; Naivität. Mitbegründer und Mitherausgeber von Textpraxis. Digitales Journal für Philologie. Kyora, Sabine, Professorin für Deutsche Literatur der Neuzeit an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; studierte Literaturwissenschaft und Geschichte in Bielefeld und Hamburg, Dissertation 1991 an der Universität Bielefeld mit der Arbeit Psychoanalyse und Prosa im 20. Jahrhundert. Habilitation 1999 mit der Arbeit Eine Poetik der Moderne (überarbeitete Fassung, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007). Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Subjektkonzepte in der Literatur der Moderne; Gender Studies; kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft; Gegenwartsliteratur.

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Neuhaus, Stefan, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz; studierte Diplom-Germanistik mit Schwerpunkt Journalistik und Politikwissenschaft an der Universität Bamberg. Dissertation 1996 ebendort mit der Arbeit Freiheit, Ungleichheit, Selbstsucht? Fontane und Großbritannien. 1999 Vertretungsprofessur in Sewanee/Tennessee. Habilitation in Bamberg 2001 mit der Arbeit Literatur und nationale Einheit in Deutschland (Veröffentlichung: Tübingen u. Basel: Francke 2002). Professuren in Oldenburg (2003-04) und Innsbruck (2004-12). Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göteborg 2005. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Literatur des 19. Jahrhunderts, Literaturvermittlung, Gegenwartsliteratur, Literatur und Film, kulturwissenschaftliche Themen (etwa Liebe, Sexualität und Skandal). Runge, Miriam, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und freie pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte »Denkort Bunker Valentin« (Bremen); studierte Germanistik und Geschichte in Oldenburg; arbeitet an einer Dissertation mit dem Arbeitstitel Inszenierungen nationaler und politisch-sozialer Gemeinschaften in literarischen Darstellungen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus (19451989); Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Nachkriegsliteratur, kulturwissenschaftliche Erinnerungstheorie, Erzähltheorie. Schuster, Jörg, Privatdozent an der Philipps-Universität Marburg und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Münster; studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine Rhetorik und Philosophie; 2001 Promotion an der Universität Tübingen mit einer Arbeit zum Thema Poetologie der Distanz. Die ›klassische‹ deutsche Elegie 1750-1800; 2012 Habilitation an der Philipps-Universität Marburg mit dem Thema ›Kunstleben‹. Zur Kulturpoetik des Briefs um 1900 – Korrespondenzen Hugo von Hofmannsthals und Rainer Maria Rilkes; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts und der Zeit um 1800; Literatur und Kultur der Jahrhundertwende 1900; Kulturpoetik der deutschen Literatur 1930-1960; Gegenwartsliteratur; Lyrik und Lyriktheorie; Brief; Tagebuch; Editionswissenschaft; Rhetorik; Creative Writing. Sporer, Elisabeth, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik, Universität Innsbruck; studierte Germanistik in Innsbruck, Abschluss des Diplomstudiums 2009 mit der Arbeit Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. Seit 2010 promoviert sie im Bereich Literatur- und Kulturwissenschaft zum Thema »Selbstinszenierung von AutorInnen im Internet«. Schwerpunkte in

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Forschung und Lehre: Erzähltheorie; Autorschaft; Medientheorie; kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft; Gegenwartsliteratur. Stobbe, Urte, wissenschaftliche Mitarbeiterin am IGK Germanistik der Universität Vechta; sie studierte Deutsche Philologie, Geschichte sowie Politikwissenschaft in Göttingen, Udine (Italien) und UC Berkeley, Dissertation 2008 in Göttingen mit der Arbeit Kassel-Wilhelsmhöhe. Ein hochadeliger Lustgarten im 18. Jahrhundert. Derzeit Arbeit am Habilitationsprojekt zum Verhältnis von Adel und Literatur im 19. Jahrhundert; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Reiseliteratur- und Kulturtourismusforschung 18.-21. Jh.; Ecocriticism (bezogen auf Gegenwartsliteratur); adlige Autorschaft in Romantik, Biedermeier und Vormärz. Uecker, Matthias, Professor of German an der University of Nottingham; lehrte an verschiedenen britischen Universitäten; er studierte Germanistik und Geschichte an der Universität in Essen; 1994 Dissertation mit der Arbeit Kulturpolitik im Ruhrgebiet der zwanziger Jahre ebendort. Er forscht zur Kultur der Weimarer Republik, zur westdeutschen Literatur und Kultur seit den fünfziger Jahren und zum deutschen Film. Vogel, Felix, wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der frühen Neuzeit, Kunsthistorisches Institut, Universität Zürich. Lehraufträge u.a. an der HEAD Genève, Universidade de Lisboa und der University of Toronto; regelmäßige Tätigkeit als freischaffender Kurator; studierte Kunstwissenschaft, Medientheorie, Philosophie und Ästhetik an der HfG Karlsruhe und an der Universidad Autónoma de Madrid. Promotionsvorhaben zu Empfindsamkeitsarchitektur. Zum Verhältnis von Raum und Körper im Hameau de la Reine in Versailles; Forschungsschwerpunkte sind Gartenarchitektur und Wissenskultur des 17. und 18. Jahrhunderts, Kunst, Architektur und Theoriebildung des 20. und 21. Jahrhunderts, Theorie und Geschichte der Ausstellung und des Ausstellens sowie dokumentarische und historiographische Praktiken der Gegenwartskunst und des Films. Vorjans, Gerrit, Stipendiat im interdisziplinären Graduiertenkolleg »SelbstBildungen. Praktiken der Subjektivierung« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Er studierte Sozialwissenschaften und Germanistik an der Universität Oldenburg und arbeitet derzeit an einer Dissertation über die Funktion und Bedeutung der Suizidmethoden in Texten der deutschsprachigen Literatur.

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Forschungsschwerpunkte sind: Subjektkonzepte in der Literatur, literarische Suiziddarstellungen um 1900, sozial-historische Literaturwissenschaft.

Praktiken der Subjektivierung Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung 2013, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8

Dagmar Freist (Hg.) Diskurse – Körper – Artefakte Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung April 2014, ca. 340 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2552-3

Thomas Pille Das Referendariat Eine ethnographische Studie zu den Praktiken der Lehrerbildung 2013, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2289-8

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