Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert [1 ed.] 9783428454006, 9783428054008

152 63 43MB

German Pages 302 Year 1983

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert [1 ed.]
 9783428454006, 9783428054008

Citation preview

DIETRICH TRIPP

Der EinfluÊ des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert

Schriften zur

Rechtsgeschichte

Heft 31

Der Einfluß des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre i m 19. Jahrhundert

Von

Dr. Dietrich Tripp

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Tripp, Dietrich: Der Einfluss des naturwissenschaftlichen, philosophischen u n d historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre i m 19. Jahrhundert / von Dietrich Tripp. — B e r l i n : Duncker u n d Humbiot, 1983. (Schriften zur Rechtsgeschichte; H. 31) I S B N 3-428-05400-8 NE: G T

Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 05400 8

Die vorliegende Arbeit ist vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Philipps-Universität i n Marburg als Dissertation angenommen worden. Sie entstand auf Anregung von Herrn Professor Dr. Ernst Wolf, Marburg, dessen realistische Ontologie und Reale Rechtslehre es erst ermöglicht haben, die zentralen Lehren des naturwissenschaftlichen, des philosophischen, des historischen und des juristischen Positivismus des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage einer i n sich geschlossenen, streng empirischen Wissenschafts-, Erkenntnis- und Rechtslehre zu untersuchen. Darüber hinaus möchte ich mich bei Herrn Professor Wolf vor allem auch für seine intensive persönliche wissenschaftliche Betreuung und vielfältige Förderung sehr herzlich bedanken. Dank schulde ich außerdem Herrn Professor Dr. Dieter Meurer für zahlreiche Anregungen und wertvolle Hinweise insbesondere zur „modernen Wissenschaftstheorie". Marburg, August 1983 Dietrich

Tripp

Inhaltsverzeichnis

Einführung Α . Der Stand der Auseinandersetzung m i t dem Rechtspositivismus i m rechtsphilosophischen u n d rechtshistorischen Schrifttum

11

B. Die wissenschaftlichen Grundlagen dieser A r b e i t

23

I. Die empirisch-realistische Ontologie Ernst Wolfs I I . Die Reale Rechtslehre Ernst Wolfs i n ihren Grundbegriffen C. Der Gang der Untersuchung

23 33 37

Erster

Teil

D e r naturwissenschaftliche, philosophische, historische und naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

1. Kapitel Der naturwissenschaftliche Positivismus

43

2. Kapitel Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

50

A . Einleitung

50

B. Die Grundlagen des philosophischen Positivismus i n der Lehre David Humes

53

I. Die „Untersuchung über den menschlichen Verstand" 1. Die Lehre v o m „Ursprung der Ideen"

53 54

2. Die Lehre v o n den „abstrakten Vorstellungen"

59

3. Die Lehre v o n den „Ideenassoziationen"

62

4. Die Lehre von der „Idee der notwendigen Verknüpfung"

65

8

Inhaltsverzeichnis 5. Der „Skeptizismus" Humes

68

6. Die „skeptische Lösung" des Skeptizismus

74

I I . Zusammenfassung

75

3. Kapitel Der philosophische Positivismus des 19. Jahrhunderts A . Das Selbstverständnis des philosophischen Positivismus

77 .

77

B. Der philosophische Positivismus als „Tatsachen-" u n d „Erfahrungswissenschaft"

79

I. Das Tatsachenverständnis des philosophischen Positivismus

79

1. Die Lehre von den „subjektiven" u n d den „objektiven T a t sachen"

79

2. Die Lehre v o n der „Correlativität v o n Subjekt u n d Objekt" . . .

85

3. Der Einfluß Humes

88

4. Entsprechung zur Lehre Kants v o m „ D i n g an sich selbst"

88

5. Der Versuch der Rettung des philosophischen Positivismus als TatsachenWissenschaft: der „begründete" „Glaube" an „ T a t sachen"

91

6. Folgerungen

94

I I . Die Lehre v o n der Relativität der Erkenntnis

95

C. Der philosophische Positivismus als „Gesetzeswissenschaft"

106

4. Kapitel Der Historische Positivismus

120

A . Die Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" auf den h i storischen Positivismus 120 I. Die Naturwissenschaften als „ V o r b i l d " der Geschichtswissenschaft 120 I I . Die falsche Anthropologie auffassung

i n der positivistischen

Geschichts-

I I I . Die positivistischen Auffassungen zur Menschheitsgeschichte

122 129

1. Die vertretenen Lehren

129

2. K r i t i k der dargestellten Auffassungen

130

Inhaltsverzeichnis a) Die Lehre v o n der Geschichte als Ganzes

130

b) Die Lehre v o n den „Entwicklungsgesetzen der Menschheit" 134 B. Die Übereinstimmung zwischen positivistischer u n d idealistischer Geschichtsauffassung 138

5. Kapitel Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

151

A . Einleitung

151

B. Ernst Machs Tatsachen- u n d Erkenntnislehre

152

C. Exkurs: Die Naturteleologie Darwins

156

D. Ernst Machs Kausallehre

159

E. Heinrich Helmholtz

161

F. Konsequenzen der fehlerhaften Wissenschafts- u n d Erkenntnislehre 164

Zweiter

Teil

Die Hinwendung der Rechtswissenschaft zum Positivismus Die Problematik

166

6. Kapitel Die Vorbereitung des rechtswissenschaftlichen Positivismus in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts A . Thibaut als Vorläufer des dogmatischen Positivismus I. Thibauts K a m p f gegen die „ A x i o m a t i k e r " I I . Thibauts K a m p f gegen die „Historische Rechtsschule"

168 168 168 180

1. Die Grundlagen der „Historischen Rechtsauffassung" Savignys i n seiner Lehre v o m „positiven Recht" 181 2. Savignys „Wissenschaftsauffassung": Rechtsgeschichte 3. Thibauts Argumente gegen Savigny

„Rechtswissenschaft" als

191 197

10

Inhaltsverzeichnis

Β . V o n der Krise der idealistischen Rechtslehren zum Wendepunkt i n der Rechtswissenschaft 202 I. Das Scheitern der idealistischen Rechtslehre I I . Der „Wendepunkt der Rechtswissenschaft"

202 208

7. Kapitel Der redits wissenschaftliche Positivismus

212

A . Die Wissenschaftslehre, Erkenntnismethode u n d Rechtsauffassung des dogmatischen Positivismus 212 I. Der dogmatische Positivismus i n der Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts 212 I I . Der dogmatische Positivismus i n der Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts 239 I I I . Der dogmatische Positivismus des Strafrechtlers A d o l f M e r k e l . . 246 B. Höhepunkt u n d Ende des dogmatischen Positivismus

249

8. Kapitel Der falsche Rechtspositivismus A . Die Rechtslehre Rudolf v o n Jherings

257 257

1. Jherings „naturhistorische Methode"

258

2. Jherings „Wende"

264

3. Jherings Lehre v o m „Zweck i m Recht"

269

4. Zusammenfassung

277

B. Die Rechtslehre K a r l Bergbohms

277

I. Die Grundlagen der „Rechtserkenntnis" i n der Lehre Bergbohms 277 I I . Die Rechtsbehauptungen Bergbohms I I I . Zusammenfassung

281 282

C. Die Rechtslehre Ernst Rudolf Bierlings

282

9. Kapitel Abschluß

Literaturverzeichnis

287 291

Einführung Α. Der Stand der Auseinandersetzung mit dem Rechtspositivismus im rechtsphilosophischen und rechtshistorischen Schrifttum Der Auseinandersetzung mit den als „Rechtspositivismus" bezeichneten rechtsphilosophischen und rechts wissenschaftlichen, auf das 19. Jahrhundert zurückgehenden Lehren liegt i m heutigen Schrifttum ganz allgemein folgendes Verständnis zugrunde: es handele sich dabei u m „diejenigen Richtungen und Methoden, die sich auf die Auslegung und geistige Verarbeitung des ,positiven' Rechts, insbesondere der Gesetze, beschränken und von einer wertenden Stellungnahme zu ihrem Inhalt i n metaphysischem, ethischem oder politischem Sinn absehen" 1 . Der rechtswissenschaftliche Positivismus w i r d vorgestellt als „Denkansatz", i n dem „sich das Vorbild der ,exakten' Naturwissenschaften als maßgebend" erweise: „das, was der wissenschaftlichen Erkenntnis, abgesehen von der Logik und der Mathematik, allein zugänglich" sei, seien „nach positivistischer Auffassung die wahrnehmbaren ,Fakten' mitsamt der an ihnen hervortretenden i m Experiment zu erhärtenden »Gesetzlichkeit' " 2 . Hinsichtlich des wissenschaftstheoretischen Anliegens des Rechtspositivismus w i r d ausgeführt, daß „die Rechtswissenschaft" dadurch zu einer „,wahren Wissenschaft'" erhoben werden solle, daß sie „auf unbezweifelbare Fakten gegründet" werde, daß sie sich „unter Ausschluß aller ,metaphysischen' Betrachtungen an die Beobachtung der Tatsachen" zu halten und ihre „Aufgabe durch die Feststellung ihrer Bedeutung für das Recht als erschöpfend gelöst" anzusehen habe. I n geistesgeschichtlicher Hinsicht w i r d hervorgehoben, daß der Positivismus mit seiner Grundeinstellung, die Rechtswissenschaft als „Tatsachenwissenschaft" 3 zu begreifen, sich nur an das positiv „Gegebene und Nachweisbare", „an die gegebene Wirklichkeit, i n der das Recht 1 Diese Formulierung stammt v o n Herrfahrdt, Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft (87); vgl. auch E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 15. Kap. (624 ff.); Dahm, Deutsches Recht (124 ff.); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 1 1 (431) m. zahlr. Nachw. 2 Larenz, Methodenlehre (40); vgl. auch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (58) m. w . N. 3 Vgl. Larenz, Methodenlehre (39) m. w . N.

12

Einführung

existent" sei 4 , zu halten und „die Rechtssätze und ihre Anwendung ausschließlich aus System, Begriffen und Lehrsätzen der Rechtswissenschaft" abzuleiten 5 , „als Gegenbewegung sowohl gegen das rationaldeduktive Naturrecht wie gegen die metaphysische Grundeinstellung der idealistischen deutschen Philosophie, aber auch gegen die Romantik und die ältere »Historische Schule' " 6 , aufzufassen sei. Infolgedessen und weil der juristische Positivismus die Frage ζ. B. nach „irgendwelchen ,überpositiven' Rechtsgrundsätzen, einem ,Naturrecht' oder der Rechtsidee als einem" vermeintlichen „Sinn-apriori allen Rechts" strikt als unwissenschaftlich zurückweise 7 und „außerjuristischen, etwa religiösen, sozialen oder wirtschaftlichen Wertungen und Zwecken" keine „rechtserzeugende oder rechtsändernde K r a f t " zugestehe 8 , w i r d er von jeder spekulativen, ausschließlich geisteswissenschaftlich orientierten Rechtstheorie seit nunmehr fast einem Jahrhundert 9 als „Hauptfeind Nr. 1" angegriffen 10 . Bekämpft w i r d der juristische Positivismus nicht i n einzelnen Fehlern oder Theorien, sondern i n i h m w i r d die wissenschaftstheoretische Grundhaltung als solche angegangen, für die er steht: nämlich die Auffassung, daß die Rechtswissenschaft nur dann eine Wissenschaft ist, wenn sie als logisch-empirische Tatsachenwissenschaft aufgefaßt und durchgeführt wird. Den Hauptbeweis gegen die sogenannte „positivistische Trennungsthese" 1 1 und damit ganz allgemein gegen die Auffassung, daß alle Rechtssätze und Begriffe Aussagen über ein „gegenständliches Sein", nicht über ein „rechtliches Sollen" 1 2 zu sein haben, glaubte man gleich nach dem Ende der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft i n Deutschland gefunden zu haben: das offenkundige Versagen der Justiz i m D r i t 4

Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie, § 39 I (487). So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 I 2 (433). 6 So Larenz, Methodenlehre (39). 7 So Larenz, Methodenlehre (42). 8 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 I 1 (431) m. zahlr. Nachw. Vgl. das berühmte Z i t a t Windscheids, des „Klassikers" des rechtswissenschaftlichen Positivismus' (so Wieacker a.a.O.) aus dem Jahre 1884: „Ethische, politische u n d volkswirtschaftliche Erwägungen sind nicht Sache des Juristen als solchen" (Windscheid, Die Aufgaben der Rechtswissenschaft, i n : Gesammelte Reden u n d Abhandlungen (101)). 9 Wortführer der K r i t i k des Rechtspositivismus i m 19. Jahrhundert w a r O. v. Gierke, der eine umfassende K r i t i k dieser Lehre i m Jahre 1883 veröffentlichte, u n d zwar i n seinem Aufsatz „Labands Staatsrecht u n d die deutsche Rechtswissenschaft" in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, V e r w a l t u n g u n d Volkswirtschaft, V I I , S. 1097 ff. 10 So Franssen, JZ 1969, 767. 11 So Ott, Der Rechtspositivismus (174). 12 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, §2312a (434); ähnlich z . B . Larenz, Methodenlehre (41); Henkel, Rechtsphilosophie, § 3 9 V I (498); v. H i p pel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken (206). 6

Α. Stand der Auseinandersetzung im Schrifttum

13

ten Reich wurde dem Rechtspositivismus angelastet 13 . Dieser Umstand hat nicht nur zur Herabminderung des Positivismus i n der Jurisprudenz geführt, sondern er läßt seither von vornherein jeden Versuch, die Rechtswissenschaft als Tatsachen-, Erfahrungs- und Gesetzeswissenschaft unter Verzicht auf metaphysische Annahmen aufzufassen oder zu begründen, als anrüchig erscheinen 14 . Die Generalanklage gegen den Positivismus formulierte Gustav Radbruch bereits i m Jahre 1946: „ A l l e r orten" werde „unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Unrechts und des übergesetzlichen Rechts der Kampf gegen den Positivismus aufgenommen". „Der Positivismus" habe „ i n der Tat m i t seiner Überzeugung »Gesetz ist Gesetz' den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts" 1 5 . Legt man die eingehenden und m i t zahllosen Belegstellen versehenen Untersuchungen von Rüthers 1 6 und Franssen 17 , die i n den späten sechziger Jahren zu diesem „Hitler-Argument" 1 8 gegen den Rechtspositivismus erschienen sind, zugrunde 1 9 , kommt man kaum umhin, diese A n klage Radbruchs bereits i n ihrem historischen Gehalt als eine außerordentliche Fehlbeurteilung zu bezeichnen"20. Ganz abgesehen davon, daß „die schlimmsten Untaten des Dritten Reichs gerade ohne gesetzliche Grundlage erfolgten" 2 1 , ist festzuhalten, daß die nationalsozialistische Rechtsideologie zu dem Positivismus wie zu keiner anderen Richtung der Rechtsphilosophie i n einem absoluten, feindlichen Gegensatz stand. Carl Schmitt, ein Wortführer der nationalsozialistischen Rechtsideologie, bekämpfte ζ. B. ausdrücklich „die trügerische Bindung an die verdrehbaren Buchstaben von tausend Gesetzesparagraphen" 22 , das „Gesetzesdenken" wurde als „artfremd" und „autoritätsfeindlich" bezeichnet 23 . 13 Vgl. insbesondere E. v. Hippel, Die positivistische Staatslehre i m N ü r n berger Prozeß u n d nach dem Grundgesetz, in: Gedächtnisschrift für Rudolf Schmidt (35 ff.); Weinkauff, JZ 1970, 55; weitere zahlr. Nachweise bei Franssen, JZ 1969, 766 ff. 14 Vgl. die Feststellung Riezlers (Der totgesagte Positivismus, in: Festschrift für Fritz Schulz, 2. Bd. (330)), daß „ u n t e r den Juristen" „der Positivist" „gegen den Strom" schwimme u n d daß er „zugleich" „vielen als ein minderwertiges M i t g l i e d seiner Z u n f t " gelte. 15 Radbruch, Rechtsphilosophie, A n h a n g Nr. 4 (344 f.). 18 Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung (insbes. 117 ff., 121 ff., 125 ff.). 17 Franssen, JZ 1969, 766 ff. 18 So Ott, Der Rechtspositivismus (178 f.). 19 I n s t r u k t i v auch Rosenbaum, Naturrecht u n d positives Recht (64 ff.). 20 Dies g i l t auch dann, w e n n die K r i t i k Radbruchs allein auf den sogenannten „Gesetzespositivismus" eingeschränkt w i r d , w i e dies geschieht ζ. B. bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 I I 2 (440 f.). 21 Franssen, J Z 1969, 768 (Fn. 48). 22 Carl Schmitt, Staat, Bewegung, V o l k , 1933 (46). 23 Vgl. Franssen, JZ 1969, 768 m. w . N.

14

Einführung

Die i m Nationalsozialismus vorherrschende Grundeinstellung gegenüber dem Positivismus findet sich bei Larenz i m Jahre 1934 wie folgt zusammengefaßt: „Die Erneuerung des deutschen Rechtsdenkens" sei „ohne eine radikale Abkehr vom Positivismus und Individualismus nicht denkbar". „Die deutsche Rechtsphilosophie der letzten Jahre" stehe „zum großen Teil i m Zeichen des Kampfes gegen den Positivismus, insbesondere gegen die ,Reine Rechtslehre 4 . Die allgemeine Entwicklung der neuen deutschen Philosophie" komme „diesem Bestreben entgegen. Das allgemeinste Kennzeichen dieser Entwicklung glauben w i r i n der Abwendung von der formalen Logik und Erkenntnistheorie und der Hinwendung zum Gegenständlichen und zu einer immanenten Sachlogik des Gegenständlichen erblicken zu dürfen. I n dieser Hinsicht" begegnen „sich — bei aller ihrer grundsätzlichen Verschiedenheit — die moderne Phänomenologie und die Erneuerung des Hegelianismus" 24 . Der Verweis auf den Hegelianismus zeigt bereits, daß die nationalsozialistische Rechtsideologie weit entfernt davon war, die Gründung des „Sollens und Geltens" auf „dem Gesetz innewohnende Werte" zu unterlassen 25 . Larenz schrieb i m Jahre 1934: „Der Führer" sei „kraft seines Führertums der ,Hüter der Verfassung' und d. h. hier: der ungeschriebenen konkreten Rechtsidee seines Volkes" 2 6 . „Der Richter" sei „gebunden, jedes Gesetz, das mit dem Willen des Führers i n Kraft" trete, „als Recht anzuerkennnen und anzuwenden; aber er" habe „es anzuwenden i m Geiste des Führers, gemäß dem gegenwärtigen Rechtswillen, der konkreten Rechtsidee der Gemeinschaft. Das Recht" erschöpfe „sich gerade i m völkischen Staat nicht i m Gesetz .. , " 2 7 . Daraus kann man folgenden Schluß ziehen: Explizit nicht die Behauptung einer Identität von „Recht" und staatlichem „Gesetz" und damit der Identität von „Recht" und staatlicher W i l l k ü r hat die nationalsozialistische Rechtsideologie ausgezeichnet, sondern — i n ausdrücklichem Gegensatz dazu — die absolute Inanspruchnahme der „Rechtsidee" für den ,Führerwillen'", damit die Ineinssetzung von „Rechtsidee" und Staatsmacht. Daraus folgt weiter, daß nicht der Positivismus „als Helfershelfer des totalen Staats zu brandmarken" ist 2 8 , sondern 24

Larenz, Deutsche Rechtserneuerung u n d Rechtsphilosophie (15). Den Verzicht darauf sieht Radbruch (Rechtsphilosophie, A n h a n g Nr. 4 (344 f.)) als Hauptursache für die Ineinssetzung von rechtlichen Gesetzen u n d staatlicher Macht i m Nationalsozialismus an. 26 Larenz, Deutsche Rechtserneuerung u n d Rechtsphilosophie (34). 27 Larenz, Deutsche Rechtserneuerung u n d Rechtsphilosophie (36). 28 Zutreffend Topitsch, Einleitung, in: Kelsen, Aufsätze zu Ideologiekritik (26): „Hatte m a n seinerzeit i n Vorbereitung oder i m Dienste der totalen Herrschaft den Positivismus als Bundesgenossen der liberal-humanitären Demokratie verdammt, so wurde man nunmehr nicht müde, die Metaphysik als wahren H o r t der Demokratie zu preisen, den Positivismus aber als Helfershelfer des totalen Staats zu brandmarken". 25

Α. Stand der Auseinandersetzung im Schrifttum

15

der sich auf Hegel — und die historische Rechtsschule 29 — berufende Rechtsidealismus. Die Erfahrungen des Nationalsozialismus können nicht gegen die „positivistische Trennungsthese" angeführt werden — i m Gegenteil. Kelsen, der sich selbst als Rechtspositivist versteht, führt zur Begründung der Notwendigkeit der „Trennung des Rechts von der Moral", die er als die „wesentlichste Konsequenz des Rechtspositivismus" bezeichnet 30 und gegen die „Wertungsjurisprudenz" folgendes aus: „Beschränkt sich eine Wissenschaft vom Recht nicht peinlich darauf, ihren Gegenstand i n seiner Wirklichkeit zu erkennnen, d. h. ihn begrifflich zu erfassen, seine Struktur zu analysieren, die hier bestehenden Zusammenhänge aufzuklären, sondern maßt sie sich — als Wissenschaft — auch an, das ihr zur Erkenntnis aufgegebene Objekt nach irgendwelchen Wertgesichtspunkten zu gestalten, dann t r i t t , was nur Ausdruck subjektiven Interesses ist, bekleidet mit der Autorität der Wissenschaft, d.h. ausgerüstet m i t der Autorität objektiver Erkenntnis, auf. Die Wissenschaft w i r d zu einer bloßen Ideologie und damit zu einem Instrument der P o l i t i k " 3 1 . Es scheint diese und nicht die ihr entgegengehaltene Ansicht durch die Erfahrungen m i t der Rechtsphilosophie i m Nationalsozialismus bestätigt worden zu sein. Abgesehen von dem historischen Gehalt der Ausführungen Radbruchs scheint auch i n Wissenschafts- und rechtstheoretischer Hinsicht insbesondere der von i h m vertretene „Gesichtspunkt des gesetzlichen Unrechts und des übergesetzlichen Rechts" keineswegs über jeden Zweifel erhaben. Dieser „Gesichtspunkt" liegt heute dem zentralen Einwand gegen den Rechtspositivismus als Erfahrungswissenschaft zugrunde, er beschränke „sich auf die Frage, was das Recht ist; die andere Frage, wie es richtigerweise sein sollte", lasse er „entweder unberührt, oder" er klammere sie aus 3 2 . Unterstellt hierbei ist, daß man überhaupt von (staatlichen) rechtlichen Gesetzen sprechen kann, obwohl diese (möglicherweise) als „Unrecht" zu bezeichnen sind. Nach einer solchen Auffassung sind demnach Rechtsgesetze denkbar, denen das Merkmal „Recht" zugleich nicht zukommt. Der zentrale Einwand gegen den Rechtspositivismus unterstellt ferner, daß man das Existieren von Recht annehmen kann, ohne daß damit die Frage beantwortet ist, ob es sich dabei u m „objektiv ,rich29 Vgl. Larenz, Deutsche Rechtserneuerung u n d Rechtsphilosophie (17): „Die Berechtigung des Volksgeistbegriffs der Historischen Schule w i r d wieder deutlich". 30 Vgl. Kelsen, JZ 1965, 468. 31 Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre, in: Festgabe für Giacometti (155). 32 Henkel, Rechtsphilosophie, § 39 V 1 (498).

16

Einführung

tiges4 Recht" 3 3 handelt. Demnach sind zwei Arten von „Recht" denkbar: einerseits ein existierendes „Recht", das möglicherweise kein „objektiv »richtiges' Recht" ist — dem also die Merkmale des Begriffs Recht „obj e k t i v " nicht entsprechen, wiewohl es sich bei dem untersuchten Gegenstand u m „Recht" handeln soll; andererseits das „objektiv »richtige' Recht" als ein vom „existierenden Recht" getrenntes, damit als ein vom „existierenden Recht" getrennt existierendes Recht. Der seitens der ein „wertorientiertes Denken" 3 4 vertretenden prudenz gegenüber dem Rechtspositivismus vorgetragenen K r i t i k damit die Annahme eines doppelten Rechtsbegriffs zugrunde, der miteinander zu vereinbarende Merkmale enthält. Entsprechend i h r ein doppelter Gesetzesbegriff zugrunde.

Jurisliegt nicht liegt

Dieser zuletzt genannnte Umstand w i r d besonders deutlich, wenn von Radbruch die Behauptung aufgestellt wird, die „Überzeugung »Gesetz ist Gesetz"' habe „den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts". Denn die Aussage „Gesetz ist Gesetz" hat zwar keinen Erkenntniswert — weil sie tautologisch ist — ist aber als solche unangreifbar. W i r d sie angegriffen, geschieht dies unter der Voraussetzung, daß ein und derselbe Begriff — hier: der Begriff Gesetz — jeweils einen verschiedenen Gegenstand bezeichnet. Für den Begriff Rechtsgesetz bedeutet dies i n dem vorliegenden Zusammenhang, daß er einmal ohne jedes rechtliche Merkmal, damit als Nicht-Rechtsgesetz und einmal als Rechtsgesetz gedacht wird. Dies aber widerspricht — ebenso wie die Annahme eines doppelten Rechtsbegriffs — einem Grundgesetz der klassischen „formalen Logik", nach der i n Bezug auf ein und denselben Gegenstand nicht einander ausschließende Merkmale gedacht werden können. Schließlich erscheint die Bezeichnung einer Auffassung, für die Recht und staatliche W i l l k ü r dasselbe sind, als (Gesetzes-)Positivismus 35 auch i n geistesgeschichtlicher Hinsicht als fragwürdig. Denn derselben wissenschaftlichen Grundeinstellung, die Rechtswissenschaft als empirischlogische Tatsachenwissenschaft zu verstehen, werden zwei einander völlig entgegengesetzte Rechtsauffassungen zugeordnet: zum einen die als „rechtswissenschaftlicher Positivismus" 3 6 bezeichnete Begriffsjuris83 Diese Formulierung stammt v o n Henkel, Rechtsphilosophie, § 39 I V 2c (498). 34 Dieser Ausdruck wurde v o n Larenz, Methodenlehre (192 ff.) übernommen. 35 Z u Gesetzespositivismus vgl. A . Kaufmann, Rechtsphilosophie i m Wandel (71 ff., 135 ff., 153 ff.); Ott, Der Rechtspositivismus (41 ff.) m. zahlr. Nachw.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 1 1 (431 f.). 86 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 (430 ff.).

Α. Stand der Auseinandersetzung im Schrifttum

17

prudenz, die, unter Anführung des „Klassikers des Positivismus" Windscheid 37 , i n ihrer Arbeit mit „allgemeinen dogmatischen Lehrsätzen" und „rechtswissenschaftlichen Begriffen" unter strenger Anwendung der Gesetze der sogenannten „formalen" oder „klassischen Logik" denkbar weit entfernt davon war, Recht und Gesetz mit dem Interesse einer Herrschaft ineinszusetzen 38 , zum anderen eine „Überzeugung, daß alles Recht vom staatlichen Gesetzgeber erzeugt werde und sich i n seinen Befehlen erschöpfe" 39 , die folglich über keinerlei begrifflichen Merkmale des Rechts verfügt, um beispielsweise zwischen rechtsstaatlichen Gesetzen und als staatliche Gesetze erlassenen Vorschriften einer Unrechtsherrschaft unterscheiden zu können. Grundsätzliche Ablehnung i m „wertorientierten" Schrifttum erfährt der Rechtspositivismus auch, sofern er auf naturwissenschaftliche Einflüsse zurückgeführt w i r d 4 0 , wie dies insbesondere bei dem als „Naturalismus" 4 1 bezeichneten Positivismus der Fall ist. Aber auch die hierfür angegebenen Gründe sind fragwürdig. Wenn ζ. B. i n Bezug auf den Positivismus die Feststellung getroffen wird, er beschränke „die Wissenschaft" „streng auf die »Tatsachen' und deren empirisch zu beobachtende Gesetzlichkeit", für ihn erweise „sich das Vorbild der »exakten4 Naturwissenschaften als maßgebend" 42 , und gleichzeitig ausgeführt wird, „nach positivistischer Anschauung" gelte „für beide Bereiche" (nämlich sowohl für die „Tatsachen und Vorgänge der ,Außenwelt'" wie für die „psychischen Tatsachen") das gleiche Kausalgesetz; „seelische Vorgänge" haben „gleich Naturvorgängen ihre ,Ursachen'", seien „durch sie restlos determiniert" 4 3 , w i r d die Unvereinbarkeit der i n Bezug auf den Positivismus behaupteten Merkmale mit der Annahme eines „Determinismus" aller Tatsachen und Vorgänge offenbar nicht bemerkt. Denn da es einen solchen auch nach Ansicht der hier zitierten Verfasser nicht gibt, handelt es sich unter Zugrundelegung ihrer eigenen Auffassung bei der Behauptung einer „restlosen Determiniertheit" aller Tatsachen nicht u m eine „empirisch zu beob37

So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 1 1 (431). Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 I I 2 (441 f.). 39 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 I 2 (432). 40 Dies geschieht insbesondere bei Coing, Rechtsphilosophie (60 f.); v. H i p pel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken (202); Henkel, Rechtsphilosophie, §39111 (489 f.); Larenz, Methodenlehre (40 f.); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 29 I I 2 (563 f.). 41 Diese Bezeichnung geht auf Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie, zurück; vgl. auch Larenz, Methodenlehre (40) u n d E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 15. Kap. (623 ff.). 42 Larenz, Methodenlehre (39 f.). 43 Larenz, Methodenlehre (40); ähnlich Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 29 I I 2 (563 f.). 38

2 Tripp

18

Einführung

achtende Gesetzlichkeit", sondern um einen vor jeder Untersuchung vorliegenden Glauben an ein überall wirkendes Kausalgesetz. Dasselbe bedeutet die als positivistisch bezeichnete Auffassung, die „Wissenschaft" habe „die Aufgabe, die besonderen Gesetze aufzufinden, denen zufolge sich die Determination i m näheren" vollziehe, „und danach die Vorgänge zu ,erklären'" 4 4 . Der jeder wissenschaftlichen Analyse danach vorausgesetzte, erklärtermaßen nicht zu beweisende (verifizierende) Standpunkt einer „Determination" aller „Vorgänge" hat mit dem „Vorbild der ,exakten' Naturwissenschaften" nichts zu t u n 4 5 . Die Ablehnung des rechtswissenschaftlichen Positivismus aufgrund seines naturwissenschaftlichen „Vorbildes" beruht jedoch nicht allein auf der genannten fehlerhaften Auffassung eines naturwissenschaftlichen Einflusses. Tiefgreifender ist die Ablehnung, die von der Annahme einer grundsätzlichen Trennung von Natur- und sogenannten „Geisteswissenschaften" ausgeht 46 . M i t dieser wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundfrage kann an dieser Stelle eine Auseinandersetzung nicht geführt werden. Es muß hier ein doppelter Hinweis genügen, der zur Infragestellung dieser Auffassung Anlaß gibt. Erstens: Die absolute Trennung von Natur- und „Geisteswissenschaften" w i r d i m heutigen erkenntnistheoretischen Schrifttum zunehmend aufgegeben 4'7. Zweitens: Es existiert bereits eine auf der Aufhebung der Spaltung von Natur- und Geisteswissenschaften beruhende, i n sich geschlossene Rechtslehre 48 . Als Ergebnis der bisherigen Ausführungen soll hier festgehalten werden, daß gerade dort, wo man i n der Ablehnung des Rechtspositivismus 44

Larenz, Methodenlehre (40 f.). Die Bezeichnung eines derartigen Glaubens an einen absoluten Determinismus als „Anschauung" oder „ W e l t b i l d " (Larenz, a. a. O) t r i f f t diesen Sachverhalt allerdings. E i n solcher Glaube ist w e i t davon entfernt, „wahre Wissenschaft" oder „exakte" Erkenntnis zu sein. 46 Vgl. ζ. Β. v. Hippel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken (196 ff.); Henkel, Rechtsphilosophie, §39 111 (498); Larenz, Methodenlehre, Einleitung (5 f.); vor allem auch Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (61): „Die seit dem 19. Jahrhundert i n der Geschichte, i n der Sprachwissenschaft, auch i n der Jurisprudenz u n d Sozialwissenschaft immer wieder gemachten Versuche, diese Wissenschaften nach dem Muster der Naturwissenschaften zu organisieren", seien „dann auch vergeblich gewesen, w e i l sie dem Gegenstand i n adaequat" seien. 47 Vgl. z.B. Lorenzen, Methodisches Denken (27): „Das an den Naturwissenschaften orientierte Denken übt gegenwärtig — gerade auch i n den Wissenschaften, die sich m i t dem Menschen beschäftigen — einen starken, v i e l leicht sogar noch wachsenden Einfluß aus"; bzgl. der Rechtswissenschaft vgl. neuerdings auch Ott, Der Rechtspositivismus (29). 48 Gemeint ist die auf einer „realistischen Ontologie" beruhende „Reale Rechtslehre" Ernst Wolfs, vgl. dazu insbes. Wolf, B G B A l l g . T., V o r w o r t , und unten S. 33 ff. 45

Α. Stand der Auseinandersetzung im Schrifttum

19

als Tatsachenwissenschaft am entschiedensten auftritt, nämlich hinsichtlich der „Trennungsthese", hinsichtlich des „Gesetzespositivismus" und hinsichtlich des „Naturalismus", von gesicherten historischen, wissenschafts- und erkenntnistheoretischen sowie geistesgeschichtlichen Erkenntnissen nicht sprechen kann. Geistesgeschichtliche und begriffliche Unklarheiten sind auch bei der Darstellung und Beurteilung des klassischen „rechtswissenschaftlichen" 49 bzw. „dogmatischen Positivismus" 5 0 und damit insbesondere der von Windscheid führend vertretenen Begriffsjurisprudenz 5 1 festzustellen. I n Bezug auf diese für das Verständnis des Rechtspositivismus wie der Rechtswissenschaft als empirisch-logischer Wissenschaft überhaupt schlechthin zentrale Lehre w i r d die Ansicht vertreten, es handele sich dabei u m einen „rationalistischen Positivismus" 5 2 . Näher w i r d dazu ausgeführt: Der „rationalistische Positivismus" erblicke „die rechtserzeugenden Elemente i n gegebenen Begriffen", „aus denen i n logischer Deduktion die Rechtssätze und aus diesen wiederum die konkreten Fallentscheidungen ableitbar sein sollen" 5 3 . Bezieht man diese Ausführungen auf die allgemeinen Merkmale des rechtswissenschaftlichen Positivismus, w i r d ein wissenschaftlicher Standpunkt, der sich bei der Rechtserkenntnis auf das „positiv Gegebene und Nachweisbare" beschränke, der sich „an die gegebene Wirklichkeit, i n der das Recht existent" sei, halte, ineinsgesetzt mit einem solchen, nach dem diese „Wirklichkeit" des Rechts durch das Erkennen erst „erzeugt" wird. Das Recht wäre damit aber gerade kein „Gegebenes" für die wissenschaftliche Erkenntnis: denn eine Erkenntnis kann nicht zugleich als die Erkenntnis einer „gegebenen Wirklichkeit, i n der das Recht existent" sei, und zugleich als diese „Wirklichkeit" erst hervorbringend gedacht werden. „Nachweisbar" wäre die Existenz des Rechts unter den angegebenen Voraussetzungen nur mittels eines Zirkelschlusses: wenn angenommen wird, daß das Recht durch Begriffe „erzeugt" wird, kann der Beweis der Existenz des Rechts nur wiederum in diesen Begriffen liegen, die die Existenz des Rechts aber schon voraussetzen. Ein solcher „Beweis" müßte i n Anwendung und Abwandlung des von dem Begründer des 49 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, §23 1 1 (431); Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft (68 ff., 496 ff. u. ö.); Dahm, Deutsches Recht (124 ff.) u. a. 50 Vgl. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 14. Kap. (602). 51 Vgl. dazu insbesondere E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 14. Kap. (591 ff.) m i t zahlr. Nachw. 52 So z.B. Henkel, Rechtsphilosophie, §39 11 (487 f.); Larenz, Methodenlehre (29 ff.). 53 Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie, § 39 I I (487). 2*

20

Einführung

Rationalismus, Descartes, stammenden Satzes „cogito ergo sum" lauten: „Ich denke das Recht, also existiert das Recht". Ein solcher Satz wäre aber selbst i m Sinne des Rationalismus kein Beweis, sondern ein Satz, der eines Beweises nicht bedarf, weil er „etwas" „von zweifelloser Gewißheit" habe 5 4 . M i t den genannten, nicht miteinander i n Einklang zu bringenden Ausführungen i n Zusammenhang steht auch, daß einerseits festgestellt wird, daß der Positivismus von „Tatsachen" bzw. einem „Gegebenen" ausgeht, andererseits die Methode der Bildung von „Rechtssätzen" i m Falle des „wissenschaftlichen Positivismus" als rein deduktiv beschrieben wird. W i r d der Ausdruck Deduktion, wie es i n der angeführten Stelle offenbar geschieht, i m Sinn der Lehre der klassischen Logik verstanden, w i r d damit das Schließen „vom Allgemeinen auf das Besondere" bezeichnet 55 . „Allgemeine Behauptungen oder Wahrheiten", von denen aus logisch auf speziellere „Behauptungen oder Wahrheiten" geschlossen w i r d 5 6 , sind bei einem Deduktionsschluß notwendig vorausgesetzt. Da sich bei einer rein deduktiven Methode die Wahrheit der „allgemeinen Behauptungen oder Wahrheiten" ihrerseits nur aus noch „allgemeineren Behauptungen oder Erwartungen" ergeben kann usw., endet ein solches Verfahren des Schließens zwangsläufig bei sogenannten „ersten Sätzen" 5 6 a , die ihrerseits nicht mehr auf noch allgemeinere Sätze zurückgeführt werden können und die deshalb endgültig unbeweisbar sind. Eine als solche bezeichnete „axiomatische Theorie" oder „Methode" 5 6 1 5 , die auf nicht beweisbaren Grundannahmen b e r u h t 5 6 0 , geht damit auch nicht von einem „Nachweisbaren" aus. Sie geht außerdem nicht von einem Sein, also auch nicht von einem Sein des Rechts, sondern von einem Gedachten aus. W i r d dieses m i t dem Sein identisch gesetzt — und dies geschieht i n einer Lehre, i n der das Denken eines Gegenstands (hier: das Recht) zugleich diesen Gegenstand erst konstituieren soll (hier: „Begriffe" als „rechtserzeugende Elemente") — handelt

54 Vgl. Descartes, Meditationen über die Grundlage der Philosophie, Ziff. 8 (17 f.). 55 Vgl. z. B. Klug, Juristische Logik (107). 56 Vgl. Aarnio, Denkweisen der Rechtswissenschaft (199). 56a Dazu u n d zu dem hier Ausgeführten vgl. insbesondere Lorenzen, Methodisches Denken (15 ff.). 56b Aus dem neueren Schrifttum vgl. dazu z. B. Lorenzen, Methodisches Denken (17); Viehweg, Topik und Jurisprudenz (81 ff.); Bochénski, Die zeitgenössischen Denkmethoden (73 ff.); Weinberger, Rechtslogik (361 ff.). 58c Vgl. Klug, Juristische Logik (16): „ F ü r den Ausdruck A x i o m können auch die synonymen Bezeichnungen Postulat, Grundsatz, Grundvoraussetzung u n d Grundprämisse verwandt werden". Entscheidend ist nach Ott (Der Rechtspositivismus (112 f.) m. zahlr. Nachweisen), „daß man diese Grundvoraussetzungen beweislos einführt".

Α. Stand der Auseinandersetzung im Schrifttum

21

es sich i m begrifflichen und historischen Sinn u m eine idealistische Lehre 5 7 . Unklarheiten über das geistesgeschichtliche Verhältnis des Rechtspositivismus zu idealistischen Lehren ergeben sich auch daraus, daß der wissenschaftliche und historische Zusammenhang zu dem naturwissenschaftlichen wie dem philosophischen und historischen Positivismus nicht oder nicht hinreichend analysiert wird. Dies ist u m so erstaunlicher, als es eine geschlossene, Inhalt und Standpunkt des Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts abschließend klärende rechtspositivistische Lehre nicht gibt 5 8 , so daß eine Darstellung des Rechtspositivismus ohne die Berücksichtigung seiner i m naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus enthaltenen allgemeinen wissenschaftlichen Grundlagen i n erheblichem Maße die Gefahr von Fehlern oder Mißdeutungen enthalten muß. Zwar w i r d die Tatsache, daß der Rechtspositivismus seine Grundlagen i m „allgemein-philosophischen" Positivismus hat, häufiger hervorgehoben 59 , teilweise w i r d dabei aber zwischen dem rechtswissenschaftlichen, dem philosophischen und historischen sowie dem naturwissenschaftlichen Positivismus keinerlei Unterscheidung getroffen 60 , teilweise w i r d hervorgehoben, daß der rechtswissenschaftliche Positivismus m i t dem „von Comte zur Philosophie, j a zur Pseudoreligion erhobenen allgemeinen wissenschaftlichen Positivismus" „nicht verwechselt oder einfach gleichgesetzt werden" dürfe 6 1 . Eine genauere Klärung „der Einflüsse der positivistischen' Sozialphilosophie Auguste Comtes, englischer Philosophen (Bentham, J. St. Mill) oder der Naturwissenschaften" — zu denen „insbesondere die »Entwicklungslehre' Darwins" gezählt w i r d — sowie der Frage, „wieweit eine Wiederaufnahme des älteren ,Empirismus', der Assoziationspsychologie Lockes" oder Humes vorgelegen hat, w i r d nicht vorgenommen. Statt dessen begnügt man sich zum einen mit dem Hinweis, „daß die Rechtswissenschaft an der allgemeinen Hinwendung zum Positivismus ihren vollen Anteil genommen" habe 6 2 , zum anderen vertritt man die Auffassung, daß der rechtswissenschaftliche Positivismus mit 57 Vgl. dazu u n d zur K r i t i k insbesondere der deutschen idealistischen Philosophie Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (bes. 173 ff., 196 ff.). 68 Viehweg, Positivismus u n d Jurisprudenz (105 f.), weist darauf hin, daß sogar die Frage, ob die „Wortprägung ,Rechtspositivismus 4 " „aus dem 19. Jahrhundert stammt", „trotz einschlägiger Bemühungen nicht ganz gesichert" beantwortet werden kann. 59 Vgl. insbes. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (58 f.); Larenz, Methodenlehre (39 f.); v. Hippel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken (197); Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft (68 ff.). 60 Vgl. z. B. die häufig zitierte Untersuchung Schönfelds, Die Grundlegung der Rechtswissenschaft (68 ff., 510 ff.). 61 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 1 1 (432). 62 Siehe Larenz, Methodenlehre (39).

22

Einführung

dem „allgemeinen wissenschaftlichen Positivismus" „gemein" habe „nur den Verzicht auf eine metaphysische Rechtsbegründung und der unbedingten Autonomie der Fachwissenschaft" „— und auch dies nur i n seiner Endstufe" 6 3 ). Ausgangspunkt und Grundlage des allgemeinen philosophischen und des rechtswissenschaftlichen Positivismus wären nach der zuletzt genannten Auffassung verschieden — die für die Erkenntnis der historischen und wissenschaftlichen Zusammenhänge einer ganzen historischen Geistesrichtung meines Erachtens unerläßliche Frage, welche Einflüsse nicht positivistischer A r t — ζ. B. die genannten religiösen Einflüsse — auf die positivistische Philosophie oder Wissenschaftsauffassung eingew i r k t haben, w i r d jedoch nicht geklärt. Das führt ζ. B. dazu, daß neben dem Empirismus ein Einfluß Kants und damit ein Einfluß der deutschen idealistischen Philosophie „auf den vom Positivismus zugrunde gelegten Wissenschaftsbegriff" angenommen w i r d 6 4 , ohne zu analysieren, worin dieser Einfluß besteht. Letzlich ungeklärt bleibt dam i t immerhin die geistesgeschichtlich zentrale Frage, inwiefern der Positivismus — wie dies gleichzeitig über ihn ausgesagt w i r d — „als Gegenbewegung" . . . „gegen die metaphysische Grundeinstellung der idealistischen deutschen Philosophie" „gekennzeichnet" ist. 6 5 Die nicht oder nicht genügend vollzogene Unterscheidung zwischen dem Rechtspositivismus und idealistischen Einflüssen auf ihn hat sogar dazu geführt, daß i n einem Teil des Schrifttums der Rechtspositivismus geistesgeschichtlich mit der „Konstruktionsjurisprudenz" Puchtas und der Historischen Rechtsschule zusammengeworfen w i r d 6 6 . Damit w i r d — dies darf der folgenden Untersuchung als These vorangestellt werden — insbesondere die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung des Rechtspositivismus i m 19. Jahrhundert grundlegend verkannt. Diese unter Überwindung der dargelegten Mängel i n ihren Grundzügen, insbesondere unter Berücksichtigung der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge m i t dem allgemeinen Positivismus des 19. Jahrhunderts neu darzulegen, ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung.

83

Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 1 1 (432). v. Hippel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken (197); vgl. auch Larenz, Methodenlehre (39), der diesen Einfluß auf den naturwissenschaftlichen Positivismus eingegrenzt wissen w i l l . 65 Siehe Larenz, Methodenlehre (39). 66 So vor allem bei Wieacker, Privatrechtsgeschichte, §23 (430 ff.); Wilhelm, Z u r juristischen Methodenlehre i m 19. Jahrhundert (17 ff., 70 ff.); Dahm, Deutsches Recht, § 17 (130). 64

Β. I. Grundlagen dieser Arbeit: die

t l e

Ernst Wolfs

23

B. D i e wissenschaftlichen Grundlagen dieser A r b e i t I. Die empirisch-realistische Ontologie Ernst Wolfs

Die i m folgenden vorgestellte Ontologie scheint als Grundlage einer Untersuchung der verschiedenen positivistischen Theorien schon deshalb i n besonderer Weise geeignet, weil sie den Ausgangspunkt dieser Theorie, die positivistische Wissenschaftsauffassung, i m wesentlichen teilt, jene also von ihren eigenen Grundlagen her untersucht werden können. Die positivistische Lehre ist nämlich nach Ernst Wolf i n ihrer „Grundeinstellung, nach der wissenschaftliches Erkennen beweisendes Feststellen und gesetzmäßiges Verknüpfen von Tatsachen (Erfahrungswissenschaft)" sei; i n ihrer Auffassung, daß „anders als solcherart bewiesene Voraussetzungen (Gegebenheiten)" „erkenntnismethodisch ausgeschlossen" seien; i n ihrer weiteren Auffassung, daß „unbewiesene subjektive Meinungen oder Wertungen, unbeweisbare religiöse, ethische oder weltanschauliche (metaphysische) Glaubenssätze und politische Absichten" „für das wissenschaftliche Erkennen" ausscheiden, „im wesentlichen gleichbedeutend mit Wissenschaft"® 1. Die in dieser Arbeit zugrundegelegte Lehre w i r d i m folgenden anhand der Definitionen der i n diesem Zitat enthaltenen Grundbegriffe jeder Wissenschaftslehre, die auch die für die Analyse des Positivismus wichtigsten Begriffe sind, vorgestellt und — i n der gebotenen Kürze — erläutert 6 8 . Es kann hier nicht darum gehen, diese Lehre zu begründen und zu diskutieren. Diesbezüglich muß auf die in mehreren Werken veröffentlichten Begründungen Ernst Wolfs, deren Fundstellen bei den jeweils erörterten Definitionen angegeben sind, verwiesen werden. Wo es möglich ist, werden Zusammenhänge und Abgrenzungen zur „modernen Wissenschaftstheorie" 69 i n Fußnoten kenntlich gemacht. 67

Wolf, das Recht zur Aussperrung (49). Z u r Vermeidung etwaiger Mißverständnisse sei i m vorhinein folgendes klargestellt: Eine Untersuchung des Positivismus auf der Grundlage dieser Lehre k a n n nicht bedeuten, daß die i m folgenden dargestellten Definitionen den einzelnen positivistischen Lehren unbesehen unterlegt werden. Damit wäre die Gefahr einer Sinnverfälschung dieser Lehren gegeben. Dann jedoch, w e n n jede Definition eines gebrauchten Begriffs fehlt — u n d das ist allerdings häufig der F a l l — muß es methodisch zulässig sein, eine nachgewiesene Bedeutung eines wissenschaftlichen Begriffs den jeweils untersuchten Ausführungen zugrundezulegen, w e n n sich aus dem Gesamtzusammenhang ergibt, daß der I n h a l t der Definition sachlich dem Gemeinten entspricht. Dies gilt insbesondere für den Begriff Tatsache, dem zentralen Begriff des Posit i vismus. 69 Dieser Ausdruck, der Stegmüller I, Einl. (XV), entnommen wurde, w o h l wissend, daß es sich dabei nicht u m eine i n sich geschlossene einheitliche Theorie handelt, dient zur Kenntlichmachung derjenigen Lehren, die i m heutigen wissenschaftstheoretischen Schrifttum diskutiert werden. 68

24

Einführung

Der Begriff Wissenschaft w i r d wie folgt definiert: Wissenschaft ist wissenschaftliches Erkennnen und darauf gegründetes Wissen 70 . Die Berufung auf den „der neuzeitlichen Naturwissenschaft zugrundeliegenden Begriff Wissenschaft" 71 verweist auf einen weiteren, für die Analyse des Positivismus bedeutsamen Vorzug dieser Lehre: I n ihrer Definition des Begriffs Wissenschaft ist die von i h r als „verhängnisvoll" 7 2 bezeichnete Spaltung der Wissenschaft i n Naturwissenschaften und „Geisteswissenschaften" aufgehoben. Die Definitionen der Merkmale des Begriffs Wissenschaft lauten: Erkennen ist begründet wahres Beurteilen eines Gegenstands. Wissen ist gegenwärtiges Denken oder Erinnerbarkeit einer Erkenntnis. Denken ist Urteilen. 7 3 Wissenschaftliches Erkennen ist nach Gesetzen oder gesetzesähnlichen Regeln methodisch beweisendes Erkennen 7 4 . Bei diesen Definitionen w i r d davon ausgegangen, daß Erkennen und damit wissenschaftliches Erkennen notwendig Erkennen von Existierendem ist. Die Erkenntnis des Begriffs wissenschaftliches Erkennen setzt damit die Erkenntnis des Begriffs Sein voraus 7 5 . Der Begriff Sein ist der allgemeinste Gattungsbegriff, den es gibt; er kann daher nur von der allgemeinsten Wissenschaft, der Ontologie als der Wissenschaft von den Seienden als Seienden 76 , erkannt werden. 70

Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (25), Das Recht zur Aussperrung (49). 71 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (25). 72 Vgl. Wolf, BGB Allg. T., Vorwort (IX). 73 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26). 74 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (34). 75 Vgl. hierzu und zum folgenden Wolf, Der freie Raum der Wissenschaft und seine Grenzen (25 ff.). I n der „modernen Wissenschaftstheorie" w i r d die Klärung des Begriffs Sein nicht als für jede Wissenschafts- und Erkenntnislehre unerläßlich erachtet, w e i l sie „konkrete Dinge, Phänomene oder konkrete Ereignisse", die als „herausgerissene ,Stücke' der raumzeitlichen W i r k lichkeit" bezeichnet werden, „nicht als Gegenstände wissenschaftlicher Erklärungen" auffaßt. Begründet w i r d dies damit, daß es „von keiner konkreten Realität dieser A r t nur eine begriffliche und sprachliche Charakterisierung oder Beschreibung" gebe. Dazu und zum Problem der „Bedeutung" i n der Sprache, das ein Grundproblem i n der modernen Wissenschaftsdiskussion ist, vgl. v. a. Stegmüller I (250 ff.); Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I (15 ff.); ders., Philosophische Grammatik (15 ff.). Aus diesem Problem hat sich eine eigenständige philosophische Lehre entwickelt, die „sprachanalytische Philosophie", „die glaubt, die der Philosophie vorgegebenen Probleme lösen zu können oder lösen zu müssen auf dem Wege einer Analyse der Sprache" (so Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung i n die sprachanalytische Philosophie (15 ff.) m. w. N.; vgl. auch Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (356): „Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre"; instruktiv auch Eike v. Savigny, Die Philosophie der normalen Sprache, Frankfurt 1977. 76

Vgl. Wolf, Gibt es ein marxistische Wissenschaft (39 ff.); Gegenstände

Β. I. Grundlagen dieser Arbeit: die

t l e

Ernst Wolfs

25

Eine besondere Schwierigkeit der Erkenntnis dieses Begriffs besteht darin, daß er als der allgemeinste Begriff nicht wie jeder andere Begriff durch Angeben eines i n i h m als Gattungsmerkmal enthaltenen nächst allgemeineren Begriffs (des Gattungsbegriffs) und eines gleichfalls i n i h m enthaltenen Artmerkmals (des Artbegriffs) zu definieren ist 7 7 . Der Begriff Sein kann also nur durch Angeben von Merkmalen definiert werden, die sich nicht nach Gattungs- und Artmerkmalen unterscheiden. Da die Merkmale dieses Begriffs jedem Seienden zukommen müssen, müssen sie folgerichtig den Momenten entsprechen, die i n jedem Seienden als solchen enthalten sind. Beim Erkennen dieser Momente w i r d i n der von Ernst Wolf begründeten Ontologie davon ausgegangen, daß es nicht nur körperliche (das sind solche, die räumlich ausgedehnt sind und einen stofflichen Inhalt haben), sondern auch geistige Seiende (das sind solche, die einen begrifflichen Inhalt haben) gibt 7 8 . Für die Untersuchung des Positivismus als einer historischen Gegenbewegung insbesondere gegen die deutsche idealistische Philosophie von entscheidender Bedeutung ist, daß i n der hier vorgestellten Ontologie der Nachweis dessen geführt wird, daß es geistige Seiende nur als Bestandteile von Gehirntätigkeiten gibt 7 9 . Denn diese enthalten zugleich körperliche Bestandteile, nämlich die für das Existieren der geistigen Bestandteile unmittelbar notwendigen körperlichen Nerventätigkeiten. Geistige Seiende existieren danach nur i n untrennbarer Einheit m i t körperlichen Seienden; die Existenz „rein geistiger Seiender" ist zu verneinen. Damit stellt diese Lehre insbesondere eine K r i t i k sowohl des auf Descartes zurückgehenden Dualismus von „res extensa" und „res cogitans" wie auch der deutschen idealistischen Philosophie i n ihrer Auffassung eines absoluten Bewußtseins (ζ. B. eines „Weltgeistes" i m Sinne der Philosophie Hegels), die die Behauptung einer absoluten Identität von Sein und Denken enthält, dar 8 0 . Ausgehend von dem Problem, daß der Begriff Seiendes weder identisch sein kann mit dem Begriff körperliches Seiendes (wie dies i n der der Ontologie sind auch andere Gegenstände, deren Erkenntnis für alle oder einige Speziaiwissenschaf ten notwendig sind, z. B. Begriffe u n d Urteile. 77 Z u r Methode der Definition vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (31). 78 Z u den Begriffen körperlich u n d geistig vgl. Wolf, Gibt es eine m a r x i s t i sche Wissenschaft (40). 79 Vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § I A I I b (6). 80 Vgl. dazu u n d darüber hinaus zur K r i t i k der materialistischen Verneinung des Geistigen als inhaltlich selbständigen Seienden Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (44 f.).

26

Einführung

Philosophie der absoluten Materie behauptet wird) noch mit dem Begriff geistiges Seiendes (wie dies i n einer Philosophie des absoluten Geistes der Fall ist), daß er vielmehr sowohl den körperlichen wie den geistigen Seienden zukommen muß, ergibt sich als Definition des Begriffs Sein: Ein Seiendes ist ein änderbares, einzelnes, inhaltlich ausgefülltes, begrenzt zeitlich ausgedehntes Beständiges 81 . Daß es Seiende und das Erkennen von Seienden gibt 8 2 , w i r d in der Lehre Ernst Wolfs anhand eines Zwickbeispiels erläutert 8 3 . Indem ein Mensch sich i n den A r m zwickt, kann er i n und an sich unmittelbar nachvollziehen, daß es sinnlich wahrnehmbare Gegenstände gibt, die auch vorhanden sind, wenn sie nicht wahrgenommen werden, die aber gleichwohl erkannt werden können. Die Erkenntnis, daß es Gegenstände gibt, die unabhängig von einer sich darauf beziehenden Bewußtheit, also real, existieren, und die erfahren werden können, kennzeichnet die Grundeinstellung des auch i n der hier vorgestellten Lehre vertretenen Empirischen Realismus. I m Hinblick auf die Untersuchung des Positivismus muß hervorgehoben werden, daß der Begriff Seiendes nicht ineins zu setzen ist mit dem Begriff Tatsache. Eine Tatsache ist nach der hier vertretenen realistischen, empirischen Ontologie ein entstandenes Seiendes oder Moment an einem Seienden. Entstanden ist ein gegenwärtig existierendes oder vergangenes Seiendes sowie ein gegenwärtig vorhandenes oder vergangenes Moment an einem Seienden 84 . Eine Tatsache, die kein Moment an einem Seienden ist, ist somit ein Seiendes besonderer A r t , nämlich ein Seiendes, das kein künftiges Seiendes ist. Auch ein künftiges Seiendes, ζ. B. das Eintreten der nächsten Sonnenfinsternis, ist wissenschaftlich erkennbar. Daß der Positivismus diese Unterscheidung 81

Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (40). Daß es die Erkennbarkeit des Seins gibt, w i r d insbes. von der sog. hermeneutischen Philosophie, „die bei der Sprache und der Reflexion einsetzt", verneint, w e i l die „Existenz" „stets eine interpretierte Existenz" bleibe. Vgl. Paul Ricoeur, Hermeneutik u n d Strukturalismus (35 f.). 83 Wolf, Der freie Raum der Wissenschaft u n d seine Grenzen (26 f.); ders., Gibt es eine marxistische Wissenschaft (33 f.). 84 Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (108). Wolf k a n n sich bei der Definition des Begriffs Tatsache insbesondere auf die Bedeutung des Wortes „ F a k t u m " ( = gemacht, getan, geschehen) berufen. Was gemacht, geschehen oder getan ist, ist entweder i n der Vergangenheit vollendet oder hat i n dieser zumindest begonnen. — Nach der Ontologie Wolfs existiert eine Tatsache unabhängig von einer sich darauf beziehenden Bewußtheit, also auch von einem (wahren) Urteil. Anders i. S. d. „modernen Wissenschaftstheorie" Frege (Der Gedanke, i n Kleine Schriften, Hrsg. I. Angelelli, D a r m stadt 1967 (359)): „Eine Tatsache ist ein Gedanke, der w a h r ist". Vgl. auch Stegmüller I (252): „Tatsachen sind durch wahre Sätze beschriebene Sachverhalte". I m Sinne der hier vorgestellten Lehre gebraucht den Ausdruck Tatsache offenbar Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I (197). 82

Β. I. Grundlagen dieser Arbeit: die

t l e

Ernst W o l f s 2 7

nicht vornahm 8 5 , ändert an seinem Standpunkt, die gesamte Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft zu begründen, allerdings nichts. Ein Seiendes ist nach dieser Lehre auch zu unterscheiden von einem Gegenstand. Ein Gegenstand ist ein Seiendes, auf das sich ein Begriff bezieht 8 6 . Aufgrund der bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage nach den näheren Bestimmungen des Begriffs Erkennen als begründet wahres Beurteilen eines Gegenstands. Das Erkennen geschieht nach der hier vorgetragenen Lehre mittels Begriffen. Die grundlegenden Definitionen dazu lauten wie folgt: Ein Begriff ist eine mit einem Wort oder sonstigen Zeichen bezeichnete Einheit von Merkmalen, die sich auf einen oder mehrere Gegenstände bezieht 8 7 . Ein Merkmal ist ein Teilinhalt des Gehirnzentrums, der Bestandteilen oder Momenten, die i n bzw. an Seienden vorkommen, inhaltlich entspricht 88 . Ein Merkmal ist danach ein geistiger Bezug auf ein Seiendes, ein Bestandteil eines Seienden oder ein Moment an einem Seienden 89 . Ein Merkmal ist abstrakt, objektiv und allgemein 9 0 . Die Abstraktheit eines Merkmals besteht darin, daß es aus wenigen gleichartigen, i n einfacher Weise miteinander verknüpften Teilinhalten zusammengesetzt ist, die ihrerseits wiederum Merkmale (Teilmerkmale) sind. Die Objektivität eines Merkmals ist seine ausschließliche inhaltliche Bedingtheit durch die Seienden, denen es zukommt. Entsprechend seinen Merkmalen ist auch ein Begriff abstrakt und objektiv. Objektivität bedeutet nach dieser Lehre ausschließliche Gegenstandsbedingtheit. Daraus folgt für die Objektivität eines Begriffs, daß diese i n seiner ausschließlichen Bedingtheit durch das Seiende oder die Seienden besteht, denen er inhaltlich entspricht und auf die er sich bezieht. Das Erfordernis der inhaltlichen Entsprechung von Begriff und Gegenstand ist nur i n den folgenden zweierlei Weisen der Entstehung 85 Vgl. ζ. B. M i l l , System der deduktiven u n d i n d u k t i v e n Logik, Bd. I, 3. K a p , § 15 (92). 86 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26); i n der „modernen Wissenschaft stheorie" w i r d zwischen Sein u n d Gegenstand nicht unterschieden (vgl. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung i n die sprachanalytische Philosophie (35 ff.)). 87 Wolf, BGB, A l l g . T., § 1 A V I b 5 (21). 88 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26). 89 Vgl. Wolf, Der freie Raum der Wissenschaft (27). 90 Hierzu u n d zum folgenden vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26 ff.); ders., Der freie Raum der Wissenschaft und seine Grenzen (27 ff.).

28

Einführung

eines Begriffs gewahrt: Ein Begriff entsteht entweder durch Abstraktion aufgrund von Wahrnehmungen (Wahrnehmungsbegriff) oder durch Reduktion, d.h. hier durch verallgemeinernde Ableitung aus weniger allgemeinen Begriffen (Reduktionsbegriff). Eine sinnliche Wahrnehmung ist die Entstehung einer einem körperlichen Seienden inhaltlich gleichenden Erscheinung i n einem Gehirnzentrum infolge Einwirkung dieses körperlichen Seienden auf Nerven, Erregung dieser Nerven und Weiterleitung dieser Erregung an das Gehirnzentrum. Ein Wahrnehmungsbegriff entsteht nach der hier vorgetragenen Lehre dadurch, daß aus dem Inhalt einer sinnlichen Wahrnehmung als einem Bündel von Erscheinungen ein Teilinhalt isoliert und i h m eine Benennung gegeben wird. Dieser Vorgang ist eine Abstraktion. Ein Reduktionsbegriff entsteht durch die Zerlegung mehrerer Wahrnehmungsbegriffe i n ihre gemeinsamen Merkmale (Analyse) und Zusammenfassung zu einer Einheit (Synthese) i n der Weise, daß ein i n ihnen enthaltenes gleiches Merkmal herausgelöst und als allgemeiner Begriff (Gattungsbegriff) verselbständigt wird. Während ein Wahrnehmungsbegriff unmittelbar wahrnehmungsbedingt ist, ist ein Reduktionsbegriff mittelbar wahrnehmungsbedingt 91 . Die Grundthese der hier vorgetragenen empirischen Erkenntnislehre lautet damit: A l l e Begriffe sind unmittelbar oder mittelbar wahrnehmungsbedingt (Erfahrungsbegriffe) 92 . Das gilt nach der hier dargelegten realistischen Ontologie — was aufgrund der i n ihr aufgehobenen Spaltung von Natur- und „Geisteswissenschaften" folgerichtig ist — auch für die Begriffe, die sich auf geistige Seiende beziehen. Die Erkenntnis, daß es ζ. B. Begriffe, Denken, Wirkungen, überhaupt geistige Seiende gibt, läßt sich ζ. B. als unmittelbar oder mittelbar wahrnehmungsbedingt i m Sinn der hier ver91 Die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungsbegriffen und Reduktionsbegriffen entspricht nicht der i n der „modernen Wissenschaftstheorie" v o r genommenen Unterscheidung von Begriffen, die „ z u m Beobachtbaren" „gerechnet" werden (dazu gehöre alles, „was sinnlich wahrnehmbar oder m i t Hilfe relativ einfacher Verfahren konstatierbar" sei) u n d den sog. „ r e i n theoretischen Begriffen", „ f ü r die sich n u r eine sehr indirekte u n d partielle Deut u n g i n der Beobachtungssprache geben" lasse (vgl. Stegmüller I (93)). „ P a r tielle Deutung" bedeutet i m vorliegenden Zusammenhang, daß sich die „theoretischen Begriffe" „aufgrund von Korrespondenzregeln" n u r teilweise „ m i t beobachtbaren Größen verbinden" lassen, also nicht ausschließlich auf sinnliche Wahrnehmung — sei es auch n u r mittelbar — zurückführbar sind (vgl. Stegmüller I (517)). 92 Die unabhängig v o n aller Erfahrung (apriori) i n der Vernunft vorhandenen „Denkformen" (Kategorien) i m Sinn der Philosophie Kants sind nach dieser Lehre keine Begriffe; vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (30).

Β. I. Grundlagen dieser Arbeit: die

t l e

Ernst W o l f s 2 9

tretenen Auffassung anhand des angeführten „Zwickbeispiels" nachvollziehen 9 5 . Auch Rechtsbegriffe, ζ. B. der Begriff Eigentum oder der Begriff Rechtsgeschäft, sind danach als Erfahrungsbegriffe aufzufassen. Ein Urteil ist nach der Lehre Ernst Wolfs eine Verbindung von Begriffen zu einer Seinsbehauptung. Verbunden werden ein Begriff (Subjektsbegriff) und ein anderer Begriff (Prädikatsbegriff) zur Behauptung des Seins eines Gegenstands oder der Vorhandenheit eines Moments an einem Gegenstand (Positives Urteil: S —P), zur Behauptung des Nichtseins oder der Nichtvorhandenheit eines solchen (Negatives Urteil: S— NonP) oder zur Behauptung der kognitiven Möglichkeit sowohl des Seins als auch des Nichtseins, der Vorhandenheit und der Nichtvorhandenheit (Problematisches Urteil: S — VielleichtP) 9 4 . Die Definition des Begriffs Wahrheit entspricht dem zur Objektivität eines Begriffs bzw. Merkmals Ausgeführten: Ein Urteil ist nach der hier vorgestellten Lehre dann wahr, wenn es dem Gegenstand entspricht, auf den es sich bezieht 9 5 . Das trifft nach dieser Lehre dann zu, wenn die i n dem Urteil als dem Gegenstand zukommend gedachten Begriffe dem Gegenstand tatsächlich zukommen 9 6 . Begründet wahr ist ein Urteil dann, wenn der Urteilende die Wahrnehmungs- und Denkzusammenhänge kennt, aus denen die Wahrheit eines Urteils folgt. Der Grund der Wahrheit eines Wahrnehmungsurteils liegt i n der diesem zugrundeliegenden sinnlichen Wahrnehmung. Der Grund der 03

Vgl. hierzu Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (33 f.). Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 11 (25 f.). 95 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (32 f.). 96 Der so definierte Wahrheitsbegriff steht i m Gegensatz zu den Konsenstheorien, insbesondere des Konstruktivismus v o n Habermas (vgl. dazu v. a. Habermas, Wahrheitstheorien, in: H. Fahrenbach (Hrsg.), W i r k l i c h k e i t u n d Reflexion (Festschrift W. Schulz) Pfullingen 1973 (221 ff.) sowie den Kohärenztheorien (rationalistischen Wahrheitstheorien) (vgl. dazu v. a. N. Rescher, The Coherence Theory of T r u t h , Oxford 1973) u n d ist i. S. d. „modernen Wissenschaftstheorien" am ehesten den Korrespondenztheorien (insbes. den ontologischen Wahrheitstheorien) zuzuordnen, die der klassischen Definition „Veritas est adaequatio rei et intellectus" i n etwa entsprechen (vgl. v. a. A . Tarski, Der Wahrheitsbegriff i n der formalisierten Sprache, in: K . Berka / L. Kreiser, Logik, Texte, B e r l i n 1973 (445 ff.); Wuchterl, Methoden der Gegenwartsphilosophie, Bern, Stuttgart 1977 (41 ff. m. w . N.). Verschiedene A r t e n v o n Wahrheit (etwa streng-konstruktive, konstruktive u n d klassische) u n d dementsprechend verschiedene Wahrheitsbegriffe gibt es nach der hier vorgestellten Lehre nicht. Anders Kamiah/Lorenzen, Logische Propädeutik (217) m. w . N. E i n U r t e i l k a n n n u r einem Gegenstand inhaltlich entsprechen oder nicht. Grade von Wahrheit, etwa „Wahrheitswerte" i. S. d. „modernen Wissenschaftstheorie" (vgl. dazu z.B. Kamiah/Lorenzen, Logische Propädeutik (117 ff.) m. w. N.; zu „Wahrheitswertargument" Stegmüller I (158 ff.)) gibt es nach der hier vorgetragenen Lehre nicht. 94

30

Einführung

Wahrheit eines durch Schlüsse aus einem oder mehreren anderen Urteilen abgeleiteten Urteils liegt i n der Wahrheit der Urteile, aus denen es abgeleitet ist und i n seinem inhaltlichen Notwendigkeitszusammenhang mit diesen. Entsprechend wie alle Begriffe sind alle wahren Urteile unmittelbar oder mittelbar wahrnehmungsbedingt. Die weitere Grundthese der hier vorgetragenen empirischen Wissenschafts- und Erkenntnislehre lautet hiermit: Jedes Erkennen ist Erfahren 9 7 . Der Beweis der Wahrheit eines Urteils geschieht nach der Lehre Ernst Wolfs durch Anwendung von Gesetzen oder gesetzesähnlichen Regeln 98 . Ein Gesetz ist ein erkennntnismethodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Notwendigkeitszusammenhänge einer bestimmten A r t 9 9 . Eine gesetzesähnliche Regel ist ein erkennntnismethodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Häufigkeitszusammenhänge einer bestimmten A r t 1 0 0 . Die wichtigsten Sachgesetze sind die Kausalgesetze. Das sind Gesetze des Notwendigkeitszusammenhangs zwischen Wirkungen einer bestimmten A r t und deren Ursachen 101 . Aus den vorangegangenen Ausführungen zu den Begriffen Begriff und Urteil folgt hinsichtlich der Erkenntnis von Gesetzen: Da wissenschaftliches Erkennen wie jedes Erkennen Erfahren ist, sind die Gesetze oder gesetzesähnlichen Regeln, durch deren Anwendung ein wissenschaftlicher Beweis erfolgt, solche der Erfahrung 1 0 2 . Zusammenfassend lautet die dritte Grundthese der empirischen Wissenschafts- und Erkenntnislehre Ernst Wolfs: Wissenschaftliches Erkennen liegt nur vor, wenn jeder Begriff, jedes Gesetz und jede gesetzesähnliche Regel sowie jedes Urteil über einen individuellen Gegenstand 97

Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (33, 35). Vgl. zur näheren Begründung Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (106 f.). Daß es („außer einem kleinen Teil" der Wissenschaft) „beweisbare Erkenntnis" gibt, w i r d insbes. von dem modernen Positivismus bestritten. Nach diesem gibt es als „wissenschaftliche Erkenntnisse" n u r „ V e r mutungswissen"; vgl. Popper, Objektive Erkenntnis (90). 99 Z u m Begriff Gesetz vgl. insbes. Wolf, Der Begriff Gesetz, in: Sein u n d Werden i m Recht, Festgabe für Ulrich v. Lübtow, 1970 (109 ff.). 100 v g l . Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (35); bei den gesetzesähnlichen Regeln handelt es sich ζ. B. u m statistische Gesetzmäßigkeiten i. S. d. „modernen Wissenschaftstheorie", wie sie ζ. B. i n der Quantenphysik häufig vorkommen; vgl. dazu Stegmüller I (452 f.). ιοί Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (36). Es handelt sich dabei u m „deterministische Gesetze" bzw. „deterministische Gesetzesaussagen" i. S. d. „modernen Wissenschaftstheorie"; vgl. dazu Stegmüller I (452 ff.). 98

102 y g L w o l f , Gibt es eine marxistische Wissenschaft (35).

Β. I. Grundlagen dieser Arbeit: die

t l e

Ernst Wolfs

31

vollständig auf Erfahrung gegründet sind (Empirismus). Eine nicht konsequent auf Erfahrung gestellte (nicht empirische) Wissenschaft gibt es nicht 1 0 3 . Das gilt insbesondere auch für die Gesetze der L o g i k 1 0 4 , der Wissenschaft vom erkenntnismethodisch richtigen Denken. Die Gesetze der L o g i k 1 0 5 sind nach der realen Ontologie Wolfs die Gesetze, die erkenntnismethodische Notwendigkeitszusammenhänge 106 zwischen Merkmalen, Urteilen und Begriffen zum Gegenstand haben 1 0 7 . 103 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (35). 104 M i t der Auffassung, daß es sich bei der Logik u m eine empirische Wissenschaft handelt, steht die reale Ontologie Wolfs i n Gegensatz zur Auffassung der „modernen Wissenschaf tstheorie" (Stegmüller I (1)). 105 Nach der „modernen Wissenschaftstheorie" gibt es nicht „die Logik", sondern allein verschiedene „Logiksysteme" (vgl. Essler, Wissenschaftstheorie I I (87) m. w. N.). Als „bisher bekannte Logiksysteme" werden angegeben: „intuitionistische, endlich oder unendlich mehrwertige, solche m i t verschiedenen A r t e n v o n Negation u n d solche m i t Quasi-Wahrheitswerten" (vgl. Weingartner, Wissenschaftstheorie I I (223, Fußnote 265). 106 A u f g r u n d der Auflösung der Logik i n „Logiksysteme" w i r d i n der „ m o dernen Wissenschaftstheorie" der Begriff „der" „logischen Notwendigkeit" aufgegeben u n d werden statt dessen höhere oder niedere „Stufen der logischen Notwendigkeit" unterschieden. Vgl. ζ. B. Weingartner (Wissenschaftstheorie I I (265) m. w. N.): „Diejenigen logischen Gesetze also, die i n möglichst vielen verschiedenen Logiksystemen gelten oder noch mehr jene, die i n allen (bisher bekannten) Systemen gelten, stehen auf einer höheren Stufe der logischen Notwendigkeit als jene, die n u r i n einzelnen gelten". 107 Daß die Gesetze der Logik i m Sinne der realen Ontologie Wolfs „erkenntnismäßige Notwendigkeitszusammenhänge zwischen Merkmalen, Urteilen u n d Begriffen zum Gegenstand haben", schließt nicht aus, daß es sich bei diesen Urteilen selbst u m Behauptungen der Möglichkeit sowohl des Seins als auch des Nichtseins (problematische Urteile) handeln kann; insofern bezieht der hier vertretene Begriff der Logik die sogenannte Modallogik als intensionale Semantik, die die Begriffe der Notwendigkeit, der Möglichkeit u n d der Unmöglichkeit logisch zu erfassen sucht, m i t ein (vgl. dazu insbes. Kutschera, Einführung i n die intensionale Semantik, B e r l i n 1976). M i t von der angegebenen Definition der Logik erfaßt w i r d auch die sog. epistemische Logik als Logik des Glaubens u n d Wissens (vgl. dazu insbes. U. Blau, Glauben und Wissen — Eine Untersuchung zur epistemischen Logik (Diss.), München 1969 m. w. N.), denn die Frage, ob ein Mensch an einen Sachverhalt oder eine Aussage glaubt, ist als i n einem Menschen existierendes Geschehen empirisch-logisch erkennbar. Die sog. deontische Logik (Deontik) ist hingegen keine Logik i. S. d. hier vertretenen realistischen Ontologie. Denn bei der Deontik als sich m i t den „logischen Beziehungen zwischen normativen Sätzen" beschäftigenden „ L o g i k " (vgl. Stegmüller, Hauptrichtungen I I (156 ff.) m. w. N.), die sog. „ G r u n d gesetze des Sollens" untersucht, handelt es sich nicht u m eine Logik, die sich m i t der Erkenntnis von Seienden befaßt. E i n Sollen ist nicht empirisch erkennbar nach der realen Ontologie; nach dieser gibt es daher keine „Sollenslogik" (so aber Stegmüller (157)). Abzulehnen ist nach der vorgetragenen realen Ontologie auch die Lehre von den sog. „mehrwertigen Logikendie neben den „Wahrheitswerten" „wahr-falsch" weitere „Wahrheitswerte", z.B. den „Wahrheitswert" „unbe-

Einführung

32

Das d e r gesamten realistischen O n t o l o g i e W o l f s u n d d e r gleichfalls d u r c h i h n b e g r ü n d e t e n R e a l e n Rechtslehre z u g r u n d e l i e g e n d e m e i n s t e Gesetz der L o g i k " l a u t e t : M e r k m a l e , die e i n a n d e r ausschließen

(widersprüchliche

Merkmale),

können

nicht

„allge-

inhaltlich demselben

Gegenstand z u k o m m e n . D a r a u s f o l g e n als w e i t e r e Gesetze: M e r k m a l e , die e i n a n d e r

wider-

sprechen, k ö n n e n n i c h t i n e i n e m U r t e i l als sich a u f denselben B e g r i f f b e z i e h e n d b e h a u p t e t w e r d e n . V o n z w e i U r t e i l e n , die e i n a n d e r w i d e r sprechen, ist eins n o t w e n d i g u n w a h r 1 0 8 . D a m i t s i n d d i e B e g r i f f e v o r g e s t e l l t u n d e r l ä u t e r t , die f ü r d i e A n a l y s e des P o s i t i v i s m u s als empirisch-logischer Tatsachenwissenschaft

positiv

v o n B e d e u t u n g sind. N e g a t i v v o n B e d e u t u n g ist d e r B e g r i f f M e t a p h y s i k , da metaphysische Aussagen f ü r d e n P o s i t i v i s m u s nichtwissenschaftliche A u s s a g e n sind. N a c h d e r h i e r v o r g e s t e l l t e n realistischen O n t o l o g i e e r g i b t sich die R i c h t i g k e i t dieser Aussage aus f o l g e n d e m : 1 0 9 M e t a p h y s i k ist die a l l g e m e i n e L e h r e v o m Ü b e r w e l t l i c h e n . Ü b e r w e l t l i c h ist, w a s a u ß e r h a l b (über) d e r W e l t l i e g t . D i e W e l t s i n d a l l e Seienden. A u s d e m d a r g e l e g t e n M e r k m a l d e r O b j e k t i v i t ä t d e r B e g r i f f e e r g i b t sich die U n m ö g l i c h k e i t d e r E r k e n n t n i s v o n Ü b e r w e l t l i c h e m 1 1 0 : stimmt" behauptet (vgl. zur Darstellung der „mehrwertigen Logik" Stegmüller, Hauptströmungen I I (182 ff.) m. w. N.). Nach der klassischen Logik, die der Definition der Logik durch Wolf zugrundeliegt, k a n n ein U r t e i l n u r einem Gegenstand entsprechen oder nicht, es k a n n n u r w a h r oder u n w a h r sein. E i n drittes ist danach nicht denkbar. Das gilt uneingeschränkt ζ. B. auch für ein problematisches Urteil, ζ. B. bei der Behauptung v o n Zukunftsereignissen, w e i l die Behauptung einer Möglichkeit, w e n n diese Möglichkeit existiert, zutrifft (diese Behauptung also w a h r ist), w e n n sie nicht existiert, nicht zutrifft (die Behauptung der Möglichkeit dann u n w a h r ist). Anders formuliert: Eine Möglichkeit ist als mögliches Seiendes ein Seiendes besonderer A r t und w i r d als solches wie jedes andere Seiende erkannt. Entsprechendes gilt für die Quantenlogik (oder Logik der Quantenmechanik), da i n i h r ebenfalls eine „dreiwertige L o g i k " behauptet w i r d (vgl. Stegmüller, Hauptströmungen I I (208 f f , insbes. 216 f.)). 108 Z u Logik vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (36); ders, B G B A l l g . Τ , § 1 A V I b 14 (26). Die Nichtgültigkeit dieser Gesetze der klassichen Logik, die nach der „modernen Wissenschaftstheorie" auf dem „zweiwertigen Wahrheitsbegriff" aufbaut, w i r d aufgrund v o n Ergebnissen der „Quantenmechanik" v o n Anhängern der sog. „Quantenlogik" zu beweisen versucht (vgl. dazu Essler, Wissenschaftstheorie I I (89) m. w . N.; Stegmüller, Hauptströmungen I I (215 f.) m. w . N.). 109 Hierzu u n d zum folgenden vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (39 ff.). 110 Daß der grundlegende Unterschied v o n „Erfahrungswissenschaften u n d Metaphysik" hinsichtlich der Erkennbarkeit ihrer Gegenstände auch i n der „modernen Wissenschaftstheorie" i n Frage gestellt w i r d , liegt daran, daß der Satz „Aussagen der positiven Wissenschaften sind verifizierbar, Aussagen der Metaphysik sind es nicht", nicht als w a h r erkannt werden kann, solange

Β. II. Grundlagen dieser Arbeit: die Reale Rechtslehre Ernst Wolfs

33

Objektivität (Gegenstandsbedingtheit) der Begriffe bedeutet, daß sie durch Seiende bedingt sind und sich auf solche beziehen. Da Überweltliches gleichbedeutend ist mit außerhalb (über) allen Seienden, gibt es i n Bezug auf Überweltliches keine durch Seiende bedingte Begriffe. Damit gibt es i n Bezug auf Überweltliches keine Begriffe, keine Merkmale, keine Urteile, keine Gesetze, keine Beweise. Damit sind auch die Begriffe Wahrheit und Unwahrheit i n Bezug auf Überweltliches unanwendbar. Aussagen, die sich auf Überweltliches beziehen, sind weder begreifbar noch begründbar; es handelt sich u m absolute Aussagen, die nur Gegenstand eines Glaubens sein können. I n einer Glaubensentscheidung ist ein Mensch frei. Genausowenig wie zwischen Seiendem und Nichtseiendem, zwischen Welt und Überweltlichem ein Kompromiß denkbar ist, gibt es einen solchen zwischen metaphysischem Glauben und wissenschaftlichem Erkennen. Werden letztere miteinander vermengt, etwa wenn der wissenschaftliche Beweis absoluter Glaubenssätze versucht w i r d oder umgekehrt das wissenschaftliche Erkennen von der Voraussetzung des Glaubens an absolute Aussagen abhängig gemacht wird, handelt es sich i m Sinne des hier dargelegten Empirischen Realismus u m falsche Metaphysik. Falsche metaphysische Lehren sind danach insbesondere Rationalismus, Idealismus und Materialismus. I I . Die Reale Rechtslehre Ernst Wolfs in ihren Grundbegriffen

Für die Rechtswissenschaft treffen die bisher dargelegten Lehren der empirischen realistischen Ontologie und der daraus abgeleiteten Wissenschaf ts- und Erkenntnislehre ohne jede Einschränkung zu. Die Rechtswissenschaft ist danach wie jede andere Wissenschaft eine empirische Wissenschaft 111 . Nach der i n dieser Arbeit zugrunde gelegten Realen Rechtslehre Ernst Wolfs lautet die Definition des Begriffs Rechtswissenschaft: Rechtswissenschaft ist wissenschaftliches Erkennen von Gegenständen, die m i t dem Wort Recht bezeichnet werden 1 1 2 . Die Rechtswissenschaft als Erfahrungswissenschaft setzt die Erfahrbarkeit des Gegenstandes Recht voraus. Die Erfahrbarkeit des Rechts und damit sein Erkennen ist nach der hier vorgetragenen Lehre dadurch bedingt, daß das Recht existiert: Die Rechtswissenschaft setzt das „nicht genau bestimmt ist, was m i t »verifizierbar 4 gemeint ist" (vgl. Essler, Wissenschaftstheorie I I (104 f.) m. w . N.). 111 Die Frage der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft ist bis heute ungeklärt, der Streit darüber geht bis i n das 16. Jahrhundert zurück; vgl. zum Stand der Diskussion Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft (174 ff.) m. w . N. 112 Wolf, B G B A l l g . T., V o r w o r t (XI). 3 Tripp

Einführung

34

Sein des Rechts v o r a u s u n d h a t als empirische Wissenschaft nur

dieses

zum Gegenstand113. D i e R e a l i t ä t des Gegenstands Recht b e d e u t e t n a c h d e r o b e n 1 1 4 gegebenen D e f i n i t i o n , daß er a u ß e r h a l b e i n e r sich a u f i h n b e z i e h e n d e n B e w u ß t h e i t e x i s t i e r t . Das Recht als reales Seiendes e x i s t i e r t d a m i t w e d e r als „ G e d a c h t e s " 1 1 5 n o c h als „ G e w o l l t e s " 1 1 6 , w e d e r als „ N o r m " 1 1 7 noch als „ R e c h t s i d e e " 1 1 8 . D i e g e g e n t e i l i g e A u f f a s s u n g v e r n e i n t n a c h d e r h i e r v o r g e s t e l l t e n L e h r e die R e a l i t ä t u n d d a m i t die E x i s t e n z des Rechts, auch w e n n das n i c h t b e a b s i c h t i g t ist. Solche r e c h t l i c h e n V e r h ä l t n i s s e , d i e j e d e m Menschen a l l e i n a u f g r u n d seines E x i s t i e r e n s als P e r s o n gegenüber j e d e m a n d e r e n einschließlich des Staates zustehen, s i n d natürliche

rechtliche V e r h ä l t n i s s e 1 1 9 .

Als mit

d e m E x i s t i e r e n des Menschen als Person u n t r e n n b a r v e r k n ü p f t e rechtliche V e r h ä l t n i s s e s i n d sie s o w e n i g a u f h e b b a r w i e e t w a das F a l l g e s e t z l i i 0 . 113 Einen Dualismus v o n „Sein" u n d „Sollen", wie er i n der heutigen Wertungsjurisprudenz vertreten w i r d (vgl. z.B. Henkel, Rechtsphilosophie, §3 (20 ff.) m . w . N . ; Kaufmann, Rechtsphilosophie (241 ff., 316 ff.) m . w . N . ; Larenz, Methodenlehre (41) m . w . N . spricht von einem „Sollensmoment" des Rechts). Die Auffassung v o n dem Recht als einem „Sollen" oder einer „Sollensforderung" (vgl. Henkel, Rechtsphilosophie, § 3 I I (24)) hängt m i t der idealistischen Lehre v o m „ o b j e k t i v e n Recht" zusammen. Z u deren K r i t i k vgl. eingehend Wolf, B G B A l l g . T., § 1 C (74 ff.) m. zahlr. Nachw. 114 Siehe oben S. 26. 115 Vgl. ζ. B. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts, Bd. 1 (23); Larenz, Methodenlehre (410) („allgemeines Rechtsbewußtsein"); vgl. a u d i Henkel, § 18 (186 ff.) („Das Recht als O b j e k t i v a t i o n des Gemeingeistes"). 116 Vgl. z . B . Enneccerus/Nipperdey, §32 (205 ff.), §38 (261); Küchenhoff, Rechtsbesinnung (237 ff.). 117 Statt vieler Larenz, Methodenlehre (171 ff.) m. w . N.; vgl. zur K r i t i k Wolf, B G B A l l g . T., § 1 C (74 ff.); ders., Festgabe für v. L ü b t o w (109 ff.) m. w . N. 118 Z u „Rechtsidee" vgl. insbesondere Henkel, Rechtsphilosophie, §§ 31 ff. (389 ff.) m. zahlr. Nachw.; Küchenhoff, Rechtsbesinnung (20 ff.); Radbruch, Rechtsphilosophie, § 9 (164 ff.). Zur K r i t i k vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I I a (2 ff.); ders., Das Recht zur Aussperrung (31 ff.). 119 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I I I (10); vgl. auch A r t . 6 GG: „das natürliche Recht der Eltern". Die natürlichen rechtlichen Verhältnisse haben ihren G r u n d nicht i n einem „ T r i e b " , z.B. dem „Selbsterhaltungstrieb" des Menschen u n d nicht i n einer „Idee", einer idealen „ N a t u r " oder absoluten „ V e r n u n f t " , sondern i n der natürlichen Eigenschaft des realen Menschen als Person. Dadurch unterscheidet sich die hier vorgestellte Rechtslehre v o n den historischen Naturrechtslehren (vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I I I (10)). 120 Davon zu unterscheiden ist, daß etwa ein Staat die Existenz natürlicher rechtlicher Verhältnisse, ζ. B. die Menschenrechte, die die natürliche Grundlage aller anderen rechtlichen Verhältnisse sind (vgl. Wolf, B G B A l l g . T., rechtlichen Verhältnisse nicht etwa auf, sondern er handelt unrechtmäßig. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit staatlichen Handelns, die Beurteilung dessen, ob ein Staat Rechtsstaat oder Unrechtsstaat ist, ist als wissenschaftliches U r t e i l n u r möglich, w e n n es ein Sein des Rechts unabhängig v o m Staat gibt.

Β. II. Grundlagen dieser Arbeit: die Reale Rechtslehre Ernst Wolfs

35

Hergestellte und damit nichtnatürliche rechtliche Verhältnisse entstehen dadurch, daß natürliche rechtliche Verhältnisse durch Vereinbarungen und durch einseitige Erklärungen der Beteiligten entsprechend Entschlüssen i n den Grenzen der i n einem rechtlichen Verhältnis nach dessen Begriff enthaltenen Möglichkeiten inhaltlich geändert werden. Das ist der Fall bei Verträgen und einseitigen Rechtsgeschäften wie auch bei durch staatliche Gesetzgebung hergestellten rechtlichen Verhältnissen 1 2 1 . Sowohl die natürlichen rechtlichen Verhältnisse, die allein dadurch entstehen, daß Menschen als natürliche Personen existieren, als auch die hergestellten rechtlichen Verhältnisse sind als entstandene Seiende Tatsachen. Die Rechtswissenschaft ist damit Tatsachenwissenschaft. Um einen existierenden Gegenstand als Recht zu beurteilen, muß der Begriff Recht wissenschaftlich erkannt sein. Nach der Realen Rechtslehre lautet die Definition des Begriffs Recht: Recht sind die rechtlichen Verhältnisse. Ein rechtliches Verhältnis ist ein personhaftes Ordnungsverhältnis zwischen Menschen 122 . Ein Ordnungsverhältnis ist ein Verhältnis m i t dem Inhalt, das Entstehen, Erhalten, Entfalten oder Vermehren eines Seienden zu bedingen 1 2 3 . Personhaft ist ein Seiendes, das dem Wesen des Menschen als Lebewesen mit der Anlage zur Entschließungsfähigkeit (Person) entspricht 1 2 4 . Das empirische Erkennen eines rechtlichen Verhältnisses geschieht durch Denken des Begriffs Recht oder eines anderen Rechtsbegriffs i n einem sich auf dieses Verhältnis beziehenden begründet wahren Urt e i l 1 2 5 . Wissenschaftlich erkannt w i r d ein rechtliches Verhältnis durch methodische Anwendung eines rechtlichen Gesetzes i n einem solchen Urteil126. Rechtsbegriffe — das sind solche, die den Begriff Recht als Gattungsmerkmal enthalten, ζ. B. die Begriffe Rechtswirkung oder Rechtsgeschäft 1 2 7 — sind wie alle Begriffe Erfahrungsbegriffe. Die wissenschaftliche Erkenntnis dieser Begriffe erfolgt unter Anwendung von Gesetzen, insbesondere von logischen Gesetzen und von Rechtsgesetzen. Ein Rechtsgesetz ist ein Kausalgesetz mit dem Inhalt, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten A r t vorliegt, eine Rechtswirkung einer be-

121 122 123 124 125 128 127

3*

Vgl. Wolf, B G B A l l g . Τ , § 1 A I I I (11). Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I (1). Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I I (1). Wolf, B G B A l l g . Τ , § 1 A I I b (5). Vgl. Wolf, B G B A l l g . Τ , § 1 A V I a (20). Vgl. Wolf, BGB A l l g . T., § 1 A V I a (21). Vgl. Wolf, B G B A l l g . Τ , § 1 A V I b 3 (21).

36

Einführung

stimmten A r t e i n t r i t t 1 2 8 . Ob es sich u m ein natürliches oder ein vom Staat erlassenes Rechtsgesetz handelt, macht insoweit keinen Unterschied. Ein natürliches Rechtsgesetz ist ein Rechtsgesetz, das natürliche Kausalzusammenhänge, ein staatliches Rechtsgesetz ist ein Rechtsgesetz, das durch staatliche Gesetzgebung hergestellte Kausalzusammenhänge zwischen Tatbeständen einer bestimmten A r t und Rechtswirkungen einer bestimmten A r t zum Gegenstand h a t 1 2 9 . Bei den Rechtsgesetzen handelt es sich, wie bei allen Gesetzen, u m erkenntnismethodisch bewiesene Urteile über Notwendigkeitszusammenhänge 1 3 0 . Diese Urteile sind Erfahrungsurteile, die rechtlichen Gesetze solche der Erfahrung. Daß es sich bei dem rechtswissenschaftlichen Erkennen wie bei jedem Erkennen u m Erfahren handelt, schließt „metaphysische" und „ethische" „Stellungnahmen" 1 3 1 als Inhalte der Rechtserkenntnis aus. Als objektives Erkennen schließt es Wertungen, die notwendig subjektiv sind 1 3 2 , ebenfalls aus. Politisch ist Recht deshalb nicht erkennbar, weil ein politisches Handeln rechtmäßig oder unrechtmäßig sein kann, seine Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit durch seine Entsprechung oder Nichtensprechung m i t dem Begriff Recht bedingt ist, das Recht also nicht zugleich durch die Politik bedingt sein k a n n 1 3 3 . M i t dem Rechtspositivismus stimmt die Reale Rechtslehre i n wesentlichen Grundthesen überein 1 5 4 : — daß die Rechtswissenschaft auf „unbezweifelbare Fakten" gegründet wird, daß sie also Tatsachenwissenschaft ist; — daß ihr Gegenstand allein das Sein des Rechts ist, die Rechtswissenschaft ausschließlich Erfahrungswissenschaft ist; — daß die Rechtswissenschaft Gesetzeswissenschaft ist unter Einbeziehung der Gesetze der Logik; 128 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 15 (29); ders., Festgabe für v. L ü b t o w (132 ff.). 129 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 16 (29). 130 Siehe oben (30). ist v g l . w o l f , B G B A l l g . T., § 1 Β I b 2 (45 ff.), c (48 ff.) m. zahlr. Nachw. 132 Grundlegend zur heutigen Wertungsjurisprudenz Larenz, Methodenlehre (194 ff.) m. w . N. Z u r K r i t i k vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β I b 1 (41 ff.); § 1 C I I I f 8 (104 f.) m. w. N. 133 Z u Recht u n d politische Verhältnisse vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β V I (62 ff.). Entsprechendes g i l t für die Verhältnisse v o n Recht u n d „Gesellschaft" (vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β I I I c (58 ff.), von Recht u n d Wirtschaft sowie v o n Recht u n d Geschichte (vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § 1 B V e (67 ff.)). 134 Vgl. oben S. 11 ff.

C. Gang der Untersuchung

37

— daß es hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft keinen Unterschied zur Naturwissenschaft gibt; — daß die Rechtswissenschaft wertende Stellungnahmen zu ihrem Inhalt i n metaphysischem, ethischem oder politischem Sinn als außerwissenschaftlich zurückzuweisen hat. Abgesehen von ihrer Durchführung erweist sich die Reale Rechtslehre den rechtspositivistischen Lehren an einer entscheidenden Stelle überlegen. I n ihr w i r d nämlich der wissenschaftliche Nachweis geführt, daß die Rechtswissenschaft als Tatsachen- und Gesetzeswissenschaft nicht nur nicht zur Ineinssetzung von Recht und staatlichen Gesetzen führt, sondern daß sich diese Ineinssetzung allein vom Standpunkt einer empirischen und streng logisch verfahrenden Rechtswissenschaft als wissenschaftlich unhaltbar erweist 1 3 5 . Das Recht als gegebene Tatsache w i r d nämlich gerade verneint, wenn behauptet wird, es gebe nur „gesetztes", also (staatlich) hergestelltes Recht. Denn damit w i r d der Sache nach behauptet, das Recht entstehe durch menschlichen Willensakt ex nihilo. Da dazu aber eine entsprechende Macht gehört, entsteht daraus die falsche Ineinssetzung von Recht und Macht, oder — was dasselbe ist — die Ersetzung des Rechts durch die Macht. Damit w i r d das Recht verneint — von i h m als Tatsache, als gegebene Voraussetzung bleibt damit i n Wahrheit nichts übrig. Eine Rechtslehre, die eine Ineinssetzung von Recht und Mächt behauptet, kann keine Tatsachenwissenschaft sein. C. D e r Gang der Untersuchung

Die i m folgenden vorgenommene Untersuchung des Einflusses des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die Rechtslehre des 19. Jahrhunderts geht von der Fragestellung aus, inwieweit es sich bei den dabei zu behandelnden Lehren u m empirisch-logische Tatsachenwissenschaften handelt. Nur eine derartige Fragestellung ermöglicht es, daß Einflüsse auf die untersuchten Theorien, die nicht logisch-empirischer A r t sind, ausgeschieden werden können. Dies ist die Grundvoraussetzung für die Beantwortung der geistesgeschichtlich bedeutsamen Frage, inwieweit die als positivistisch vorgestellten Lehren tatsächlich eine Überwindung falscher metaphysischer Lehren gewesen sind, inwieweit vor allem die deutsche idealistische Philosophie überwunden werden konnte. Nur ein derartiges analytisches Vorgehen, das aufgrund der i m vorherigen Abschnitt dargelegten empirisch-realistischen Ontologie möglich ist, erlaubt schließlich die Frage insbesondere nach der wissenschaftstheoretischen Leistung und 135 Grundlegend zum Verhältnis v o n Recht u n d Gesetz Wolf, Das Recht zur Aussperrung (96 ff.).

38

Einführung

den Grenzen des Positivismus i m 19. Jahrhundert vom Standpunkt einer Tatsachenwissenschaft aus zu beantworten. Da es eine i n sich geschlossene Gesamtdarstellung einer rechtspositivistischen Lehre unter Einschluß ihrer eigenen wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen nicht gibt, w i r d man diesbezüglich bei der Untersuchung des Rechtspositivismus auf die Lehren des philosophischen und historischen (bzw. soziologischen) Positivismus, die der gesamten mit diesem Wort bezeichneten Geistesrichtung den Namen gaben, hingeführt. Diese Lehren verweisen wiederum auf ihr „Vorbild", die Naturwissenschaft. Aber auch diese Theorien stellen bei näherer Analyse keine i n sich geschlossene Wissenschafts- und Erkenntnislehre dar. Für die Naturwissenschaften hätte die Erarbeitung einer solchen Lehre die Überschreitung ihres Gegenstandsbereichs bedeutet; die Erkenntnis anderer als naturwissenschaftlicher Gegenstände überließ man aber (zumindest i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) lieber der Philosophie. Diese versuchte zwar, soweit sie positivistisch eingestellt war, eine Wissenschafts- und Erkenntnislehre zu erarbeiten, sie scheiterte aber bereits an einer empirischen Erklärung der wichtigsten Grundbegriffe jeder Erfahrungswissenschaft: nämlich der Begriffe Tatsache (Sein), Erkennen und Gesetz. Der Grund dafür liegt i n ihrer zentralen Beeinflussung durch die Lehre Humes: diese stellte sich i n ihrem Versuch, i n Anlehnung an die Naturwissenschaften „die Methode der Erfahrung auf geistige Objekte" anzuwenden, i m Verlauf der Forschungen zu dieser Arbeit i n allen zentralen ontologischen Fragen immer mehr als der Hauptschlüssel zum Verständnis des philosophischen und historischen Positivismus heraus. Damit ergab sich die Notwendigkeit der Aufarbeitung des philosophischen und historischen Positivismus von seinen Grundlagen her. Denn daß bei dem Vorhaben einer einigermaßen fundierten Beurteilung des wissenschaftstheoretischen Einflusses des Positivismus auf die Rechtslehre i m 19. Jahrhundert auf eine allgemein anerkannte Analyse des außerrechtswissenschaftlichen Positivismus nicht zurückgegriffen werden konnte, sieht man schon daran, daß man heute unter dem Wort „Positivismus" folgende Lehren zusammengefaßt findet: „Nominalisten und platonische Realisten, Phänomenalisten und physikalische Realisten, Empiristen und Rationalisten, Theologen, Agnostiker und Atheisten" 1 3 6 . Aufgrund der dargelegten Schwierigkeiten und Zusammenhänge ergab sich für die vorliegende Arbeit folgender Gang der Darstellung: 136

Nach Essler, Wissenschaftstheorie I (13).

C. Gang der Untersuchung

39

I n einem ersten Hauptteil w i r d der naturwissenschaftliche, philosophische und historische sowie der durch den philosophischen Positivismus wesentlich beeinflußte naturwissenschaftliche philosophische Positivismus für sich untersucht. I n dem 1. Kapitel dieses Teils w i r d i n einem kurzen historischen Abriß dargelegt, daß der Fortschritt der Naturwissenschaften seit dem 16. Jahrhundert einher ging mit ihrer Herausbildung als Tatsachenund Erfahrungswissenschaft und daß dies wiederum nur möglich war durch eine radikale Abkehr von jeder metaphysischen Lehre, sei es der scholastischen Naturphilosophie, des Descartes'schen Rationalismus oder der deutschen idealistischen Philosophie. Die Naturwissenschaften sind i n allen Merkmalen positivistische Wissenschaften; daß der Positivismus i n anderen Wissenschaften einen schnellen Aufschwung nahm, ist i n erster Linie auf die großen wissenschaftlichen Erfolge des Positivismus i n den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. I n dem 2. Kapitel werden die allgemeinen ontologischen Grundlagen des philosophischen Positivismus i n der Lehre David Humes untersucht. Die zentralen Thesen zu diesem Abschnitt lauten: Hume ist insbesondere sowohl an der Erklärung empirischer Begriffe wie auch an der Erklärung empirischer Gesetze, bei der rationalistische Grundthesen übernommen werden, gescheitert. Die Folge davon war die Infragestellung der Möglichkeit von Erkennen und damit von Wissenschaft i n der Lehre des Skeptizismus. Die „skeptische Lösung des Skeptizismus" bedeutet, daß die „Methode der Erfahrung" aufgegeben und durch einen absoluten Glauben als Grundlage des Erkennens ersetzt wird. Der Hume'sche „Empirismus" kennt damit weder Erfahrung noch handelt es sich bei i h m u m Erfahrungswissenschaft. Das 3. Kapitel ist der Analyse des philosophischen Positivismus des 19. Jahrhunderts gewidmet. Die wichtigsten Thesen zu diesem Abschnitt lauten: Wie sich anhand der Untersuchung der Lehre Mills herausstellt, ist der philosophische Positivismus bereits i n seinem Tatsachen- und Erfahrungsverständnis und damit seinen Grundbegriffen zentral durch Humes „Empirismus" beeinflußt. Insbesondere aufgrund der Ineinssetzung von „Empfindungen" und „Außenwelt" w i r d ein absoluter Skeptizismus i n Bezug auf Existenz und Erkennbarkeit realer Seiender behauptet und durch die Übernahme der Lehre Kants vom „Ding an sich selbst" zu lösen versucht, was dazu führt, daß die realen Seienden und damit die Tatsachen als Gegenstände der Metaphysik behandelt werden. Die Folge davon ist, daß M i l l schließlich bei der rationalistischen Grundthese „cogito ergo sum" anlangt. Der philosophische Positivismus ist damit keine Tatsachenwissenschaft, er vertritt keinen Gegebenheitsstandpunkt.

40

Einführung

Die Untersuchung der Lehre von der „Relativität der Erkenntnis" anhand der grundlegenden Aussagen von Comte und M i l l ergibt, daß es sich dabei ebenfalls nicht u m eine empirische Lehre handelt, sondern u m die Behauptung eines absoluten Subjektivismus als Erkenntnistheorie. Auch i n der „Gesetzesauffassung" zeigt sich der philosophische Positivismus zentral von Hume beeinflußt. Die Übernahme des Satzes „post hoc propter hoc" führt nicht zur Erkenntnis von Erfahrungsgesetzen, sondern zum Glauben an eine notwendig unbestimmte, gegenständlich unbeschränkte, alles umfassende Gesetzmäßigkeit, an sogenannte absolute Gesetze der „Entwicklung". Der philosophische Positivismus erweist sich damit insgesamt als das Gegenteil einer empirisch-logischen Tatsachenwissenschaft: er ist i m Ergebnis eine spekulative Lehre. I m 4. Kapitel w i r d der historische Positivismus i n seinen Grundzügen dargestellt. Die Analyse des historischen Positivismus, der sich auf den philosophischen Positivismus stützt, zeigt, daß auch er zentrale Grundthesen der Geschichtsauffassung der deutschen idealistischen Philosophie teilt. U m dies zu beweisen, wurden eine Übersicht und K r i t i k der idealistischen Geschichtsauffassung erarbeitet und ihre wichtigsten Thesen mit denen des historischen Positivismus verglichen. Hervorgehoben an dieser Stelle seien nur die beiden wichtigsten: die Behauptung absoluter Entwicklungsgesetze i n Bezug auf die Natur und die Geschichte (absoluter Dynamismus); die teleologische Auffassung der Vorherbestimmtheit menschlicher Geschichte (Geschichtsdeterminismus). I m 5. Kapitel w i r d eine hauptsächlich durch den philosophischen Positivismus beeinflußte, innerhalb der Naturwissenschaften entstandene Lehre, nämlich der von m i r als solcher bezeichnete naturwissenschaftliche philosophische Positivismus, untersucht. Dies erschien unerläßlich für die Klarstellung, daß unter dem naturwissenschaftlichen Positivismus als empirisch-logischer Tatsachenwissenschaft nicht die unter dem Namen naturwissenschaftlicher Positivismus allgemein bekannten wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Lehren zu verstehen sind. Die Bedeutung dieser Lehren liegt darin, daß der philosophische und historische Positivismus, der der Sache nach eine idealistische Lehre darstellt, mit der Anerkennung der höchsten wissenschaftlichen Autoritäten des 19. Jahrhunderts — den Naturwissenschaftlern — versehen wurde, obgleich er mit naturwissenschaftlich empirisch-exakten Forschungsmethoden nichts zu t u n hat. Diese Lehre muß daher ansgeschieden werden, wenn es u m die Beurteilung des Ein-

C. Gang der Untersuchung

41

flusses naturwissenschaftlichen Denkens auf die übrigen Wissenschaften geht. Als Ergebnis des ersten Hauptteils ergibt sich: Nur der naturwissenschaftliche, nicht der philosophische, historische und naturwissenschaftliche philosophische Positivismus sind empirisch-logische Tatsachenwissenschaften und damit i n diesem begrifflichen Sinn positivistisch. Bei der Analyse des rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts, die i m nunmehr sich anschließenden zweiten Hauptteil erfolgt, ist demgemäß von vornherein streng zu unterscheiden zwischen dem Einfluß naturwissenschaftlich-exakten Denkens auf die Rechtslehre und dem des i n dem dargelegten Sinn idealistischen philosophischen und historischen Positivismus. Die Untersuchung des Rechtspositivismus erfolgt demgemäß i n zwei Strängen: Zunächst werden die Vorbereitung und die schließliche Durchsetzung des Rechtspositivismus als empirisch-logischer Tatsachenwissenschaft (des hier als solchen bezeichneten dogmatischen Positivismus) dargestellt. Anschließend w i r d der vom idealistischen (von m i r als falsch bezeichneten) Positivismus beeinflußte soziologische und psychologische Rechtspositivismus anhand seiner wichtigsten Hauptvertreter analysiert. Thesenartig zusammengefaßt ergibt sich dabei folgendes: Die Herausbildung des dogmatischen Positivismus als Tatsachenwissenschaft und empirisch-logischer Gesetzeswissenschaft geschah — dies ist der Gegenstand des 6. Kapitels — vor der Entstehung des philosophischen und historischen Positivismus i n der Auseinandersetzung m i t Naturrechtslehren und m i t der „historischen Rechtsschule". Der Kampf u m das Recht begann m i t dem Kampf gegen die W i l l k ü r der Gesetzesinterpretation, als Kampf gegen ein „Billigkeits-" oder „Gerechtigkeitsdenken", gegen einen antidogmatischen, antiwissenschaftlichen und antirechtsstaatlichen Historismus. Der dogmatische Positivismus, der der Gegenstand des 7. Kapitels ist, ist, insbesondere wie er i n der Lehre Windscheids vertreten wird, Begriffsjurisprudenz, die von der Konstruktionsjurisprudenz etwa eines Puchta, wie die Untersuchung der Grundzüge von dessen Lehre zeigt, scharf zu unterscheiden ist. Der dogmatische Positivismus arbeitet m i t Begriffen, die zum großen Teil solche des Römischen Rechts sind. Unter Anführung von Originalbelegen und vor allem unter Berufung auf führende Romanisten w i r d dargelegt, daß es sich bei diesen Begriffen i n erheblichem Umfang u m mittels methodisch-analytischen Denkens zustande gekommene Erfahrungsbegriffe handelt. Daß diese Begriffe existierten, hat die Rechtswissenschaft als logisch-empirische Tatsachenwissenschaft erst möglich gemacht.

42

Einführung

Der Positivismus Windscheids bedeutet einen Einbruch naturwissenschaftlich-exakten Denkens i n großem Stil i n die Rechtswissenschaft. Er war die bedeutende historische Gegenbewegung gegen den Irrationalismus i n der Jurisprudenz, die schließlich zum Höhepunkt der deutschen Rechtswissenschaft, der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuches, führte. Sie blieb nicht auf das Privatrecht beschränkt, sondern fand hervorragende Vertreter auch i m Bereich des öffentlichen Rechts und des Strafrechts. Einen wesentlichen Mangel konnte jedoch auch der dogmatische Positivismus nicht überwinden. Infolge fehlender allgemeiner ontologischer Grundlagen konnte der immer wieder unternommene Versuch, den Begriff Recht als vollständig unabhängig von der staatlichen Gesetzgebung zu definieren, nicht gelingen. Der Rechtswissenschaft fehlte damit die entscheidende wissenschaftliche Grundlage, u m dem neu aufkommenden idealistischen Historismus wirksam zu begegnen. Die i m Schlußkapitel der Arbeit vorgenommene Analyse des mit Jhering beginnenden soziologischen und des späteren psychologischen Positivismus zeigt, daß i m Gewände sich naturwissenschaftlich gebender Lehren der i m ersten Hauptteil kritisch erörterte philosophische und historische Positivismus seinen Einzug i n die Rechtswissenschaft hielt. Und mit diesem Positivismus kehrten idealistische und historische Grundpositionen zurück, die somit nicht etwa die Rechtswissenschaft als empirisch-logische Tatsachenwissenschaft weiterentwickelten, sondern dieser der Sache nach i m Anschein des Gegenteils den Kampf ansagten. Diese antinaturwissenschaftlich, antilogisch, antiempirisch und antirechtlich eingestellten Lehren als Tatsachenwissenschaften aufzufassen, führt notwendig zu Fehlern i n der historischen Würdigung und der geistesgeschichtlichen Einordnung rechtspositivistischer Lehren. Die Vermengung idealistischer und realistischer Rechtslehren ist darüber hinaus eine der Hauptursachen der bis heute währenden überwiegenden wissenschaftstheoretischen Verneinung realer Rechtslehren und — i n letzter Konsequenz — der Verneinung der Rechtswissenschaft als Wissenschaft überhaupt.

Erster

Teil

Der naturwissenschaftliche, philosophische, historische und naturwissenschaftliche philosophische Positivismus 1. Kapitel

Der naturwissenschaftliche Positivismus Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, ein Zeitraum, i n dem eine der unbestritten größten Leistungen der deutschen Rechtswissenschaft m i t der Schaffung des bis heute gültigen Bürgerlichen Gesetzbuches erbracht wurde, ist geistesgeschichtlich i n überragendem Maße durch den Positivismus geprägt. Die Durchsetzung des Positivismus sowohl gegen den Rationalismus wie gegen die „metaphysische Grundeinstellung der deutschen idealistischen Philosophie" 1 äußerte sich i n einer allgemeinen Hinwendung der sog. „Geisteswissenschaften" i n vielen Ländern Europas zu ihm, woran insbesondere die deutsche Rechtswissenschaft „ihren vollen A n t e i l genommen hat" 2 . Dieser „Sieg des Positivismus" 3 wäre ohne den „triumphalen Aufschwung" 4 der Naturwissenschaften i m gesamten 19. Jahrhundert, insbesondere der experimentellen Physik 5 und der Chemie 6 , aber auch der Medizin, Physiologie, Bakteriologie, Biologie 7 , Geologie 8 , u m nur die wichtigsten zu nennen, nie zustandegekommen. Der gerade auch i m Vergleich zu allen übrigen 1

Vgl. Larenz, Methodenlehre (39) m. w . N. So Larenz, Methodenlehre (39) m. w . N. 8 So Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (128). 4 So E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 15. Kap. (624); vgl. auch Werner von Siemens, der das 19. Jhdt. das „naturwissenschaftliche Zeitalter" nannte (1886 auf einer Naturforscherversammlung i n Berlin). 5 Hier v. a. die Elektrodynamik, i n der Elektrizität, Magnetismus u n d Licht zusammengefaßt sind; außerdem die Begründung der theoretischen Physik i n Deutschland. Vgl. hierzu u n d zum Folgenden die ausgezeichnete Übersicht bei Hennemann, Grundzüge einer Geschichte der Naturphilosophie (56 ff.). β Ζ. B. die exakten Untersuchungen der Gesetzmäßigkeiten chemischer Verbindungen. 7 Ζ. B. die Entdeckung des Aufbaus der Pflanzen aus Zellen (1838). 8 Insbesondere die Jahre zwischen 1790 u n d 1830 gelten als das „Heroische Zeitalter der Geologie"; vgl. Mason, Geschichte der Naturwissenschaft, V, 33 (479). 2

44

1. Kap.: Der naturwissenschaftliche Positivismus

Wissenschaften überragende Erfolg der Naturwissenschaften, dem sie ihre häufige Bezeichnung als „exakte Wissenschaft" 9 verdankt — begrifflich ist diese Bezeichnung ein Pleonasmus, der allein schon auf die Schwäche der anderen Wissenschaften verweist — beruhte auf der Anwendung genauer, empirischer Forschungsmethoden und auf der daraus folgenden Erkenntnis naturwissenschaftlicher Erfahrungsgesetze. Nur das „durch Erfahrung und Experiment Nachgewiesene" wurde als gesicherte Erkenntnis anerkannt, „alles Übrige" „soweit wie möglich aus der Wissenschaft" eliminiert 1 0 . M i t „Eliminierung" „alles Übrigen" war i n Deutschland i n erster Linie die spekulative Naturphilosophie Schellings und Hegels gemeint, für die die Natur „sichtbarer Geist" 1 1 bzw. „die Idee i n der Form des Andersseins" 12 war, d.h. als identisch mit der von ihnen geglaubten absoluten „Idee" aufgefaßt wurde. Dieser idealistischen Naturlehre entsprach die Auffassung über die „Wissenschaft der Natur". Diese ist nach Schelling „Erhebung über die einzelnen Erscheinungen und Produkte zur Idee dessen, worin sie eins sind und aus dem sie als gemeinschaftlichem Quell hervorgehen" 1 3 . Derartige spekulative Auffassungen über Natur und Naturwissenschaft wurden von den Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts als „Hegelei", „poetische Phantasterei" und „teleologische Mystik" radikal verworfen. Das Wort „Metaphysik" war für sie gleichbedeutend m i t dem „Unbeweisbaren", „von dem es keine begründeten Aussagen und also auch keine Wissenschaft geben" könne 1 4 . Diese Opposition der Naturwissenschaftler gegen die spekulative Naturphilosophie, die der hauptsächliche Grund dafür war, daß i m 19. Jahrhundert alle führenden Physiker sich zugleich erkennntnistheoretisch äußerten und sich schließlich eine eigenständige naturwissenschaftliche Philosophie, der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus, entwickelte 1 5 , entstand nicht erst i m 19. Jahrhundert. Seit dem 16. Jahrhundert, seit Kopernikus und Galilei, ist die Geschichte der Durchsetzung des Empirismus i n der Naturwissenschaft die Geschichte der Durchsetzung gegen die falsche Metaphysik 1 6 . Metaphysik als die allge9

So z.B. Sachsse, Naturerkenntnis u n d W i r k l i c h k e i t (5). Vgl. Hennemann, Geschichte der Naturphilosophie (70) m. w. N. 11 Schelling, Naturphilosophie, Erster T h e i l (64). 12 Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften i m Grundbegriffe, §192. 18 Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 11. Vorlesung (253 f.). 14 Hierzu u n d zum Vorstehenden vgl. Hennemann, Geschichte der N a t u r philosophie (71). 15 Vgl. dazu unten S. 151 ff. 16 Vgl. auch Hennemann, Geschichte der Naturphilosophie (33): „ M a n k a n n die Geschichte der exakten Naturwissenschaft i m christlichen Abendland als die Geschichte der allmählichen Uberwindung des Aristotelismus bezeichnen". 10

Logischer Empirismus in den Naturwissenschaften

45

meine Lehre vom Überweltlichen ist die Lehre vom Nichtbegrenzten und Nichtbedingten (Absoluten) 1 " 7 . Falsche Metaphysik besteht darin, i n Bezug auf nichtabsolute Gegenstände absolute, i n Bezug auf Absolutes nichtabsolute Behauptungen aufzustellen und so Absolutes und Nichtabsolutes ineins zu setzen 18 . U m eine solche, notwendig fehlerhafte Ausweitung der Metaphysik auf ontische und damit erfahrbare Gegenstände hatte es sich auch bei der scholastischen Naturphilosophie gehandelt, die die erfahrbare Natur als „natura creata", als von der „natura aeternä", der „ewigen Natur", geschaffene auffaßte, und die zur Identifizierung der Substanz oder dem Wesen der Dinge m i t dem Wesen Gottes führte. Gegen diese Naturauffassung, die zusammen m i t der dazugehörigen Macht der Kirche eine Naturerkennntnis oder gar eine Naturwissenschaft jahrhundertelang nicht zuließ, mußte sich Galilei durch seine „Methode der experimentellen Naturerklärung" 1 9 , bei der „allgemeine Sätze" ausgehend von der Erfahrung mit Hilfe des Experiments erkannt und bewiesen, teleologische Gesichtspunkte hingegen aus der Wissenschaft ausgeschlossen wurden, durchsetzen. Die mit Kopernikus und Galilei eingeleitete „wissenschaftliche Revol u t i o n " 2 0 , i n der statt nach dem metaphysischen „Wesen" der Dinge nach dem „Gesetz der Dinge" gefragt und geforscht wurde 2 1 , was bald „die bewußte Elimination fast jedes metaphysischen Elementes aus der Wissenschaft zur Folge" hatte 2 2 , fand rasch Eingang i n die Philosophie, und zwar i n erster Linie durch Francis Bacon. Bacon, der heute noch als einer der „Erzväter des Positivismus" gilt 2 3 ), rechnete „die teleologische Naturbetrachtung" „zu den Grundirrtümern, welche dem Menschen durch seine Natur selbst vorgespiegelt" werden 2 4 . Es ging i h m u m die Aufstellung einer allgemeinen Methodenlehre der Wissenschaften, mit der er die i n den experimentellen Methoden liegenden Möglichkeiten erforschen wollte, u m — nach einem eigenen Ausdruck — ein „Kolumbus der Philosophie" zu werden 2 5 .

17

Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (41); s. oben S. 32 f. Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (144); s. oben S. 33. 10 Vgl. Engelhardt, Was heißt u n d zu welchem Ende treibt m a n N a t u r forschung? (22). 20 So Heitier, Der Mensch u n d die naturwissenschaftliche Erkenntnis (60). 21 Vgl. Hennemann, Geschichte der Naturphilosophie (35). 22 Heitier, Der Mensch u n d die naturwissenschaftliche Erkenntnis (60). 23 Vgl. Blaschke, A n m . 5, in: Comte, Soziologie (521). 24 Nach Hennemann, Geschichte der Naturphilosophie (47). 25 Vgl. zu dem Vorstehenden Mason, Geschichte der Naturwissenschaft, I I I , 13, (170). 18

46

1. Kap.: Der naturwissenschaftliche Positivismus

Bacons Bedeutung gründet allerdings weniger auf diesem zweiten, dem „wiederaufbauenden" Teil seines „Neuen Organon". Hier scheiterte er an dem Versuch, „ewige und unveränderliche", damit aber notwendig metaphysische „Formen" als „zugleich innerhalb der Mater i e " 2 6 begrenzte mittels der Methode der Induktion zu „erkennen". Wesentlich wichtiger für die weitere Entwicklung der Naturphilosophie und von dort aus wiederum der Naturwissenschaft ist der erste, der „zerstörende" 27 Teil des „Neuen Organon", der gegen die Scholastik gerichtet ist: „Das Verderbnis der Philosophie durch den Aberglauben und die Beimischungen der Theologie" reiche „weit und" bringe „bald dem ganzen Systeme, bald einzelnen Teilen großen Schaden". „Aus der ungesunden Vermischung des Göttlichen und Menschlichen" komme „nicht bloß eine phantastische Philosophie, sondern auch eine ketzerische Religion heraus. Es" sei „deshalb sehr heilsam, wenn mit nüchternem Verstände dem Glauben nur gegeben" werde, „was des Glaubens" sei 28 . Und gegen die spekulative „dialektische Methode" wendet er — 200 Jahre vor ihrer Vollendung durch Hegel — ein, daß sie „von den Sinnen und dem Einzelnen gleich zu den allgemeinsten Sätzen" hinauffliege und daß sie „aus diesen obersten Sätzen, als der unerschütterlichen Wahrheit, die mittleren Sätze" bilde und ermittele. „Diesen Weg" betrete 2 9 „der sich selbst überlassene Geist" und tue „es nach den Regeln der Dialektik. Er" dränge „nach dem Allgemeinsten hinauf, u m da auszuruhen und der Erfahrung" werde „er i n kurzer Zeit überdrüssig". 3 0 „Jene Weise des Erfindens und Beweisens, welche zuerst die obersten Prinzipien" aufstelle „und dann die mittleren Sätze nach ihnen" einrichte und beweise, sei „die Mutter des Irrtums und das Unglück aller Wissenschaften" 51 . Als „wahren, aber unbetretenen Weg" „zur Erforschung und Entdeckung der Wahrheit" bezeichnete Bacon denjenigen, der „aus dem Sinnlichen und Einzelnen Sätze" ziehe, „stetig und allmählich i n die Höhe" steige „und erst zuletzt zu dem Allgemeinsten gelange 52 . A n die Stelle des „Vorgreifens des Geistes" („anticipatio mentis") soll die „interpretatio naturae", die „Erklärung der N a t u r " 3 3 treten. Die i n den zitierten Sätzen zum Ausdruck gebrachte realistische Auffassung, daß jede Erkenntnis auf Erfahrung beruht, folglich jeder Be26 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. Bacon, De augmentis I I I , 4; zit. nach Heussler, Bacon (90, Fn. 151). Vgl. Kirchmann, A n m . 149, i n Bacon, Neues Organon (182). Bacon, Neues Organon, Β. I, A r t . 65 (112). Bacon, Neues Organon, Β . I, A r t . 19 (88). Bacon, Neues Organon, Β. I, A r t . 20 (88). Bacon, Neues Organon, Β. I, A r t . 69 (119). Bacon, Neues Organon, Β. I, A r t . 19 (88). Vgl. Bacon, Neues Organon, Vorrede (78); vgl. auch Β . I, A r t . 26 (90).

Logischer Empirismus in den Naturwissenschaften

47

griff ein Erfahrungsbegriff, jedes Urteil ein Erfahrungsurteil, jeder Beweis ein Erfahrungsbeweis sei, und nur methodisch beweisendes Erkennnen zu gesicherten Ergebnissen führt, enthält die Grundlagen jeder Erfahrungwissenschaft und folglich, da es Erkennen ohne Erfahren nicht gibt, jeder Wissenschaft 34 . Nach diesen Grundsätzen verfuhr uneingeschränkt i n dem folgenden Jahrhundert nicht die Philosophie — i m 17. Jahrhundert erlangte in ihr der Rationalismus Descartes' überragende Bedeutung —, sondern wiederum die mechanischphysikalische Forschung, deren führender Vertreter Newton war. I m Gegensatz zu Descartes, der Experimente als bloße Veranschaulichung der Vorstellungen ansah, die aus den durch Intuition gegebenen Prinzipien hergeleitet waren 3 5 , lehnte Newton es ab, wissenschaftliche Aussagen auf Ideen und intuitive Vorstellungen zu gründen. Derartige Vorstellungen waren für ihn bloße Hypothesen — und solche wollte er nicht gebrauchen: „Wie i n der Mathematik, so" sollte nach ihm „auch i n der Naturforschung bei Erforschung schwieriger Dinge die analytische Methode der synthetischen vorausgehen. Diese Analysis" bestehe „darin, daß man aus Experimenten und Beobachtungen durch Induktion allgemeine Schlüsse" ziehe „und gegen diese keine Einwendungen" zulasse, „die nicht aus Experimenten oder aus anderen gewissen Wahrheiten entnommen" seien. „Denn Hypothesen" werden „ i n der experimentellen Naturforschung nicht beachtet" 36 . Naturgesetze waren für Newton folglich keine „Gewißheiten der Innenschau", sondern „Gewißheiten", die man aus mathematischer Beweisführung ableitete 3 7 . Es ist zutreffend darauf hingewiesen worden, daß sich bei Newton auch spekulative naturphilosophische Auffassungen finden. So ζ. B. wenn er schreibt, daß die „Vollkommenheit der Gesetze" „einen Gesetzgeber" voraussetze, „wie die Vollkommenheit der Architektur des Universums einen kosmischen Plan" voraussetze 38 . Doch werden derartige Ausführungen sachlich und räumlich von der Experimentallehre selbst unterschieden, wie es ζ. B. durch Gliederung i n verschiedene Abschnitte i n Newtons „Optik" geschieht 39 . Die Trennung der „physica 84 Z u den Begriffen Wissenschaft u n d wissenschaftliches Erkennen vgl. insbesondere Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (25 ff.). 35 Vgl. Mason, Geschichte der Naturwissenschaft I I I , 15 (201). 36 Newton, Optik, I I I . Buch (146). 37 Vgl. Hall, Die Geburt der naturwissenschaftlichen Methode (351). 38 Newton, Principia, zit. n. Hall, Die Geburt der naturwissenschaftlichen Methode (359 m. Nachw.). 39 Vgl. die ausgezeichnete Charakterisierung der Einstellung Newtons zur naturwissenschaftlichen Forschung durch Mach (Die Mechanik i n ihrer E n t wicklung (430)): „Nie hat Newton trotz seiner tiefen Religiosität die Theologie i n naturwissenschaftliche Fragen eingemengt. Z w a r schließt auch er seine

1 Kap.: Der naturwissenschaftliche Positivismus speculativa" von der die Tatsachenforschung betreibenden „physica empirica" war i m 18. Jahrhundert überhaupt die Weise, das wissenschaftliche Naturerkennen von jeder Spekulation befreit zu betreiben. Die weitere „gründliche Ausbildung des experimentellen Forschungsverfahrens" 4 0 i n diesem Jahrhundert führte u. a. zu bedeutenden technischen Erfindungen, so z.B. zu der Erfindung des Erdbebenmessers und des Blitzableiters, aber erst das 19. Jahrhunderts brachte die bereits geschilderten „bahnbrechenden Erfolge" 4 1 der Naturwissenschaften und damit die völlige Durchsetzung einer wissenschaftlichen Grundhaltung, die die Wissenschaft als Tatsachenwissenschaft begriff und für die das wissenschaftliche Erkennen, insbesondere das Erkennen der naturwissenschaftlichen Kausalgesetze, allein auf Erfahrung zu gründen und unter Anerkennung und Anwendung logischer Gesetze bewiesen zu sein hatte 4 2 , die zu Recht als Positivismus bezeichnet w i r d 4 3 . Der „Sieg des Positivismus" i n den Naturwissenschaften als Sachwissenschaften ist damit der Sieg der Erfahrungswissenschaften über die falsche Metaphysik, des begrifflichen Denkens über Spekulation und Weltanschauung, der Logik über den Irrationalismus, des Realismus über den Idealismus 44 . Der Erfolg des naturwissenschaftlichen Positivismus fand große Beachtung auch außerhalb der naturwissenschaftlichen Sachgebiete. Ein eindrucksvoller Beleg hierfür ist den „Antimetaphysischen Vorbemerkungen" zu Ernst Machs Hauptwerk „Analyse der Empfindungen" 4 5 entnommen, wo es gleich zu Beginn heißt: „Die großen Erfolge, welche die physikalische Forschung i n den verflossenen Jahrhunderten nicht nur auf eigenem Gebiet, sondern auch durch Hilfeleistung i n dem Be,Optik', während noch auf den letzten Seiten der helle klare Geist leuchtet, m i t dem Ausdruck der Zerknirschung über die Nichtigkeit alles Irdischen. A l l e i n seine optischen Untersuchungen selbst (Hervorhebung von Mach, D. T.) enthalten i m Gegensatz zu jenen Leibnizens nicht die Spur v o n Theologie. Ähnliches k a n n man v o n Galilei u n d Huygens sagen". 40 Vgl. Hennemann, Geschichte der Naturphilosophie, I I I (54). 41 So Hippel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken I, 9 (111). 42 Vgl. z. B. Helmholtz, Die Tatsachen i n der Wahrnehmung (62): M a n bleibe „ganz i m Gebiete des Objektiven u n d des realistischen Standpunktes des Naturforschers, wobei die begriffliche Fassung der Naturgesetze der Endzweck" sei. 43 „Naturwissenschaftlicher Empirismus" u n d „logischer Positivismus" w e r den zutreffend ineinsgesetzt v o n Bergmann, Eine empirische Philosophie der Physik i m Umriß in: Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften, herausgegeben v o n Krüger. 44 Wie vernichtend die Niederlage insbesondere der idealistischen Philosophie gewesen ist, zeigt auch folgender Satz des Mediziners Robert Julius Mayer: „Die Faseleien der Naturphilosophie stehen m i t erbärmlicher Nacktheit am Pranger"; zit. nach Lange, Grundlagen der Physik I I (326). 45 Erstmals veröffentlicht als „Beiträge zur Analyse der Empfindungen" 1885.

Logischer Empirismus in den Naturwissenschaften

49

reiche anderer Wissenschaften errungen" habe, bringen „es m i t sich, daß Physikalische Anschauungen und Methoden überall i n den Vordergrund" treten „und daß an die Anwendung derselben die höchsten Erwartungen geknüpft" werden. Dieses überragende Ansehen, welches die naturwissenschaftliche Forschung genoß, hatte einen „Einbruch des naturwissenschaftlichen Denkens" nicht nur „ i n die Historik" 4 6 , sondern vor allem i n die Philosophie, insbesondere i n die Wissenschafts-, Erkenntnis- und Methodenlehre und schließlich auch i n die Rechtswissenschaft zur Folge. So sehr dem Versuch, auf Grundlage der Erfolge der Naturwissenschaften auch alle übrigen Wissenschaften als Tatsachenwissenschaften bzw. Erfahrungswissenschaften zu begründen, zuzustimmen ist — denn dies ist nichts anderes als der Versuch, sie als Wissenschaften zu begründen — so sehr gibt die nähere Analyse der A r t und Weise, wie sich „der Einbruch des naturwissenschaftlichen Denkens" vor allem i n die Philosophie und Geschichtslehre vollzog, Anlaß zu einer Grundsatzkritik des Positivismus vom Standpunkt des i n der Einleitung vorgestellten empirischen Realismus 47 . Diese soll i n den folgenden Kapiteln durchgeführt werden.

46

Vgl. Windelband-Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, § 45,5 (565). 47 Siehe oben S. 23 ff. 4 Tripp

2. Kapitel

Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus A . Einleitung

Der philosophische Positivismus, der sich in seinem Ausgangspunkt ausdrücklich auf die Naturwissenschaften beruft — dies vor allem hat ihm die Bezeichnung „naturwissenschaftliche Philosophie" 1 eingetragen — versteht sich gemäß einem Wort Mills als „Denkart", die die „Generalisierung" der „Forschungsmethoden der Physik" vollziehe 2 . Dieses Anliegen der philosophischen Positivisten, alle Wissenschaften, die nicht Naturwissenschaften sind, dadurch als realistische Wissenschaften zu begründen, daß sie dieselben Forschungs- und damit auch Erkenntnismethoden wie die Naturwissenschaften anwenden sollen, ist allerdings dem Ansatz nach zum Scheitern verurteilt. Dies ergibt sich bereits aus folgendem: Eine Erkenntnismethode ist eine Methode, gegebene Kenntnisse gemäß den allgemeinen Bedingungen des Erkennens von Gegenständen einer bestimmten A r t zur Erlangung einer gesuchten Erkenntnis über einen solchen Gegenstand so miteinander zu verknüpfen, daß die gesuchte Erkenntnis daraus folgt. Eine Methode ist ein Verfahren zur Herbeiführung eines Erfolgs 3 . Der Erfolg der Anwendung einer Erkenntnismethode ist die Erkenntnis eines Gegenstandes. Erkennen ist begründet wahres Beurteilen eines Gegenstandes4. Ein Gegenstand kann nur als das erkannt werden, was er ist und er kann nur so erkannt werden, wie er ist. Dieser Sachverhalt bedingt die Objektivität einer Erkenntnis. Objektivität des Erkennens ist die ausschließliche Gegenstandsbedingtheit der Wahrheit eines Urteils. Sie ist bedingt durch die Objektivität der Begriffe. Objektivität bedeutet den Ausschluß jeder Ichhaftigkeit 5 . Die notwen1

Vgl. dazu Marcuse, Die Geschichtsphilosophie Comtes (1). M i l l , zit. nach Hennemann, Geschichte der Naturphilosophie (81); vgl. auch Fetscher, Einleitung zu Comte, Rede ( X X I ) , nach dem der Positivismus den „naturwissenschaftlichen Geist auch auf die Lösung politisch-sozialer Fragen anwenden" w i l l . 3 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (34) m i t Erläuterungen. 4 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26); vgl. auch oben S. 24. 5 Vgl. zu dem Vorstehenden Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (37 ff.) m. w. Ausführungen. 2

Α. Einleitung

51

dige Objektivität des Erkennens bedingt die notwendige Objektivität der Erkenntnismethode. D . h . daß ein Erkennen nur dann objektiv ist, wenn die angewandte Erkenntnismethode ebenfalls ausschließlich durch den Erkenntnisgegenstand bedingt ist. Die Bedingtheit einer Erkenntnismethode durch den zu erkennenden Gegenstand bedeutet, daß es so viele Arten von Erkenntnismethoden gibt, wie es Arten von Gegenständen gibt. Ein Gegenstand ist ein Seiendes oder ein Moment an einem Seienden, auf das sich ein Begriff bezieht. Ein Gegenstand ist entweder ein körperlicher oder ein geistiger Gegenstand 6 . Ein körperliches Seiendes ist ein räumlich ausgedehntes Seiendes mit stofflichem Inhalt. Ein geistiges Seiendes ist ein Seiendes mit begrifflichem Inhalt 7 . Nur räumlich ausgedehnte Seiende mit stofflichem Inhalt können sinnlich wahrgenommen werden. Sinnliche Wahrnehmung ist die Entstehung einer einem körperlichem Seienden inhaltlich gleichenden Erscheinung i n einem Gehirnzentrum infolge Einwirkung dieses körperlichen Seienden auf Nerven, Erregung dieser Nerven und Weiterleitung dieser Erregung an das Gehirnzentrum. Geistige Seiende erscheinen nicht 5 , sind also sinnlich nicht wahrnehmbar. Nur eine Wissenschaft, deren Gegenstände körperliche Seiende sind, wie dies bei den Naturwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie etc.) immer der Fall ist, kann daher Erkenntnismethoden anwenden, die unmittelbar auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen. Beobachtung und Experiment sind daher allein für die Erlangung von Erkenntnissen, die körperliche Seiende betreffen, brauchbare Verfahren. Dies bedeutet nicht, daß diejenigen Wissenschaften, deren Gegenstände vollständig oder teilweise geistige Gegenstände sind (ζ. B. die Rechtswissenschaft) deswegen, weil diese Gegenstände nicht „beobachtet" werden können, nicht auf Erfahrung beruhende Wissenschaften sind. Erfahrung ist nach dem dieser Arbeit zugrundeliegenden empirischen Realismus nicht nur die unmittelbare, sondern auch die mittelbare Bedingtheit aller Begriffe und damit allen Denkens und Erkennens durch sinnliche Wahrnehmung 9 . Entsprechend dieser Unterscheidung von unmittelbar und mittelbar sinnlich wahrnehmungsbedingten Begriffen ist zwischen unmittelbarem und mittelbarem Erkennen zu unterscheiden. Erkennen durch unmittelbar wahrnehmungsbedingte 6 7 8 9

4*

Wolf, Gibt Vgl. Wolf, Wolf, Gibt Wolf, Gibt

es eine marxistische Wissenschaft (26). Gibt es eine marxistische Wissenschaft (40). es eine marxistische Wissenschaft (26). es eine marxistische Wissenschaft (204).

52

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

Urteile (Wahrnehmungsurteile) ist unmittelbares Erkennen. Erkennen durch logisches Schließen ist mittelbares Erkennen 1 0 . Als Schließen von Wahrnehmungsbegriffen bzw. -urteilen nach Gesetzen der Logik, die ebenfalls empirische Gesetze sind, ist es mittelbar durch sinnliche Wahrnehmungen bedingt. Werden diese dargestellten Zusammenhänge verkannt und w i r d insbesondere Erfahrung m i t unmittelbarer sinnlicher Wahrnehmungsbedingtheit, wie dies allein für die Erkenntnis körperlicher Gegenstände zutrifft, ineinsgesetzt, führt der Versuch, auch diejenigen Wissenschaften, deren Gegenstände geistig sind, als Erfahrungswissenschaften zu begründen, notwendig dazu, daß geistige Seiende als i n Wahrheit körperliche behauptet und damit die geistigen Seienden der Sache nach verneint werden. Eine Philosophie, die die geistigen Seienden erkennen w i l l — die damit deren Existenz behauptet — und die zugleich die geistigen Seienden durch ihren methodischen Ansatz verneint, ist nicht durchführbar. Jeder Versuch, unter diesen widersprüchlichen Voraussetzungen eine empirische Wissenschaft zu begründen, ist notwendig zum Scheitern verurteilt. Daß m i t den vorstehenden Ausführungen ein Kernproblem insbesondere des philosophischen Positivismus bezeichnet wird, soll als These den folgenden Untersuchungen vorangestellt werden. Der Nachweis der Richtigkeit dieser These, die für das Verständnis des Positivismus von grundlegender Bedeutung ist, ist nur i n der Auseinandersetzung mit den allgemeinsten wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen des Positivismus zu führen. Diese finden sich, als geschlossene Theorie ausgearbeitet, i n der Lehre David Humes. Daß Hume insofern zu Recht als „wahrer und einziger Vater des Positivismus" 1 1 bezeichnet w i r d und daß es zutrifft, daß der Positivismus „als Weiterbildung Hume'scher Gedanken anzusehen" i s t 1 2 — der Positivismus also auf den Voraussetzungen der Lehre Humes beruht — muß i m Interesse der Erarbeitung einer zusammenhängenden K r i t i k , die das Verständnis des Positivismus erst ermöglichen soll, zunächst unterstellt werden. Der Nachweis dessen, daß der Positivismus des 19. Jahrhunderts i n seinen allgemeinen wissenschaftlichen Grundlagen i n entscheidendem Maße beeinflußt ist durch den „Empirismus" Humes, kann demgemäß erst erbracht werden, wenn die führenden positivistischen Philosophen selbst Gegenstand der Analyse sind.

10 11 12

Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (220). Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. I, § 34 (349). So Reininger, Locke/Berkeley/Hume (206 f.).

Β. Die Lehre David Humes

53

B. Die Grundlagen des philosophischen Positivismus in der Lehre David Humes I . Die „Untersuchung über den menschlichen Verstand"

Humes Vorwurf gegen die traditionelle Metaphysik und den Rationalismus besteht — zusammengefaßt — darin, daß sie keine Erfahrungswissenschaft und damit überhaupt keine Wissenschaft seien: „ein beträchtlicher Teil der Metaphysik" sei „eigentlich keine Wissenschaft", „sondern" entspringe „entweder aus den fruchtlosen Anstrengungen der menschlichen Eitelkeit", „welche i n Dinge eindringen möchte, die dem Verstände durchaus unzugänglich" seien, „oder aus den Ränken gemeinen Aberglaubens" 1 3 . Gegen die „unechte und verfälschte Metaphysik" stellt Hume „ein vollständiges System der Wissenschaften i n Aussicht, das auf einer fast vollständig neuen Grundlage errichtet" sei, nämlich der „Lehre vom Menschen". Wie diese „die einzig feste Grundlage für die anderen Wissenschaften" sei, so liege „die einzig sichere Grundlage, die" man „dieser Wissenschaft geben" könne, „ i n der Erfahrung und Beobachtung" 14 . Wie auf die Naturgegenstände seit mehr als einem Jahrhundert soll nach Hume die „Methode der Erfahrung auf geistige Objekte" angewandt werden 1 5 . „Das einzige Mittel" gegen „die dunkle Philosophie und jenes metaphysische Kauderwelsch", das Hume „ausrotten" w i l l , sei „dies, die Natur des menschlichen Verstandes ernstlich zu untersuchen und mittels einer genauen Darlegung seiner Kräfte und seiner Fähigkeiten zu zeigen, daß er solchen fernliegenden und dunklen Gegenständen keineswegs angepaßt" sei 1 6 . Humes „Enquiry Concerning Human Understanding" 1 7 , 1758 erstmals veröffentlicht, ist so einerseits als Kampfschrift gegen die überkommene Metaphysik und gegen jedes spekulative Denken gedacht 18 18

Hume, Untersuchung, 1. Abschn. (4). Vgl. Hume, T r a k t a t , Einleitung (4). 15 Vgl. den U n t e r t i t e l v o n Humes Treatise on H u m a n Nature: „ A n attempt to introduce the experimental method of reasoning into moral subject"; vgl. Reininger, Locke/Berkeley/Hume (132). 16 Hume, Untersuchung, 1. Abschn. (4 f.). 17 I m folgenden w i r d vorwiegend auf dieses Werk, i n der Übersetzung v o n Vogl, Bezug genommen. Es ist die Neubearbeitung des ersten Teils des 1739 erschienenen „ T r a k t a t über die menschliche N a t u r " u n d stellt nach Humes eigenem Bekunden die allgemeine Darstellung seiner philosophischen Ansichten dar; vgl. Freundlich, J. St. M i l l s Kausaltheorie (6) m. Nachw. 18 Vgl. hierzu insbes. auch die berühmten Schlußsätze der „Untersuchungen", 12. Abschn. (91, r. Sp.): „Nehmen w i r irgendeinen Band i n die Hand, beispielsweise aus dem Gebiet der Gottesgelehrtheit oder Schulmetaphysik, so brauchen w i r n u r zu fragen: Enthält er irgendein abstraktes U r t e i l über Größe oder Zahl? Nein. Enthält er ein erfahrungsmäßiges U r t e i l über eine Tatsache oder Existenz? Nein. Dann ins Feuer damit: denn er k a n n nichts anderes enthalten als Spitzfindigkeit u n d Täuschung." 14

54

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

und andererseits „das letzte große Wort, das der Empirismus i n dem Kampfe der modernen Erkenntnistheorie gesprochen h a t " 1 9 . 1. Die Lehre vom „Ursprung

der Ideen"

Humes „Untersuchung über den menschlichen Verstand" beginnt mit seiner Lehre vom „Ursprung der Ideen". a) Danach sind die „Vorstellungen des Geistes („perceptions of the mind" i. Orig., D. T.) i n zwei Klassen oder Arten" einzuteilen, „die durch ihre verschiedenen Grade der Stärke und Lebhaftigkeit unterschieden" seien. Die „weniger starken oder lebhaften" „Vorstellungen des Geistes" seien „die Gedanken oder Ideen" („ideas" i. Orig., D. T.), die anderen die „Eindrücke" („impressions" i. Orig., D. T.) 2 0 . Zwischen diesen beiden Klassen existiere selbst wieder ein Zusammenhang: „Alle unsere Ideen oder schwächeren Vorstellungen" seien „Abbilder („copies" i. Orig., D. T.) unserer Eindrücke oder lebhaften Vorstellungen" 2 1 . Die Eindrücke seien „verschieden von Ideen, den weniger lebhaften Vorstellungen, deren w i r uns bewußt" seien, „wenn w i r über irgendeine jener eben erwähnten Empfindungen oder Erregungen" nachdenken. „Sobald w i r an unsere vergangenen Gefühle und Gemütserregungen" denken, sei „unser Gedanke zwar ein getreuer Spiegel, der die Dinge zuverlässig" wiedergebe; „die Farben jedoch, die er" anwende, seien „matt und schwach i m Vergleich mit denjenigen, i n welche unsere ursprünglichen Empfindungen gekleidet" waren 2 2 . b) Nach Hume kommt den „Eindrücken" als Inhalten der Wahrnehmung und den „Gedanken oder Ideen", also dem Denken, das gleiche Gattungsmerkmal 2 3 zu, nämlich der Begriff „Vorstellung". Diese Auffassung unterstellt, daß der gedankliche Inhalt i m wesentlichen der gleiche ist wie der Inhalt der sinnlichen Wahrnehmung, deren „Abbild" bzw. „Spiegel" er sei. Das Denken wäre damit nichts anderes als die Erinnerung an Wahrgenommenes, das Wahrnehmen des Gegenstandes folglich schon seine Erkenntnis, was jede wissenschaftliche Beschäftigung mit i h m ad absurdum führen würde. Daß der Inhalt des Denkens dem Eindruck nicht einfach entspricht, w i r d der Sache darin nach zugestanden, daß die „Farben", die „unser Gedanke" bei der Wiedergabe der Dinge anwende, „matt und schwach" 19

Vgl. Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, 1. Bd., V. K a p , § 34

(334). 20

21 22 23

Hume, Untersuchung, Hume, Untersuchung, Hume, Untersuchung, Z u Gattungsmerkmal

2. Abschn. (8, Ii. Sp.). 2. Abschn. (8, r. S.). 2. Abschn. (8, Ii. Sp.). vgl. Wolf, B G B A l l g . Τ , § 1 A V I b 9 (24 f.).

Β. Die Lehre David Humes

55

seien „ i m Vergleich mit denjenigen, i n welche unsere ursprünglichen Empfindungen gekleidet" waren. Wäre Denken tatsächlich bloße Wiedergabe sinnlicher Eindrücke, bloße Vorstellung also, würde es gleiche „Farben" „anwenden": wer sich eine saftige Wiese vorstellen w i l l , kann sich den dazugehörigen farblichen Eindruck durchaus vor Augen führen. Daß eine derartige „lebhafte" „Vorstellung" gerade nicht zum Inhalt des Denkens gehört, was Hume einräumt, bedeutet aber, daß das Denken einen von Vorstellungen grundlegend verschiedenen Inhalt haben muß, der zu untersuchen wäre. Hinzu kommt folgendes: die Auffassung, daß das Denken „Abbild", also Wiedergabe sinnlicher „Eindrücke" sei (Sensualismus), müßte konsequent zu der Annahme führen, daß es nur ein Denken über körperliche Gegenstände gibt, denn nur solche sind sinnlich wahrnehmbar. Jedes Denken, das Urteile, Begriffe, logische Zusammenhänge, überhaupt geistige Seiende zum Gegenstand hat, wäre danach ausgeschlossen, d. h. denkunmöglich. Die Konsequenz hiervon wäre insbesondere die Verneinung der „geistigen Objekte", auf die Hume gerade die „Methode der Erfahrung" anwenden w i l l . Diese Folgerungen zieht Hume nicht, da dies das Eingeständnis des Scheiterns dieses Vorhabens wäre. Jedoch zeigt sich bereits hier am Ausgangspunkt des von Hume vertretenen „Empirismus" ein grundlegender Mangel, den auch der spätere philosophische und historische Positivismus des 19. Jahrhunderts nie hat beseitigen können und an dem er letztlich gescheitert ist: was der Inhalt des Denkens ist, was Begriffe sind, was eine Abstraktion ist, was ein Erkennen ist, was ein auf Erfahrung beruhendes Ekennen ist — diese Grundfragen jeder wissenschaftlichen Erkenntnislehre hat er nie zutreffend beantworten können. Die Begriffe sinnliche Wahrnehmung, Vorstellung und Denken sind streng voneinander zu unterscheiden. Dies ergibt sich insbesondere auch aus den folgenden Definitionen der dieser Arbeit zugrundeliegenden empirischen realistischen Ontologie: Eine sinnliche Wahrnehmung ist die Entstehung einer einem körperlichen Seienden inhaltlich gleichenden Erscheinung i n einem Gehirnzentrum infolge Einwirkung dieses körperlichen Seienden auf Nerven, Erregung dieser Nerven und Weiterleitung dieser Erregung an das Gehirnzentrum. Eine Erscheinung ist der nervliche Inhalt einer sinnlichen Wahrnehmung, der dem m i t dieser Erscheinung wahrgenommenen körperlichen Seienden inhaltlich gleicht. Eine Vorstellung ist ein seiner A r t nach dem Inhalt einer Erscheinung gleichender, erinnerter oder eingebildeter nervlicher Inhalt. Denken ist Urteilen. Ein körperliches Seiendes ist ein räumlich ausgedehntes Seiendes mit stofflichem I n h a l t 2 4 . Eine Erscheinung gleicht dem 24

Z u den vorstehenden Definitionen vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (25).

56

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

körperlichen Seienden, durch das sie verursacht ist, ζ. B. i n der Gestalt und i n der Farbe; sie ist also bildhaft. Die Entstehung einer solchen Erscheinung meint Hume offenbar, wenn er von „Eindrücken der Sinneswahrnehmung" spricht. Zutreffend ist, daß — ebenso wie eine Erscheinung — eine Vorstellung bildhaft ist. Von einer Erscheinung unterscheidet sich eine Vorstellung dadurch, daß sie entweder überhaupt nicht — dann handelt es sich u m eine Einbildung — oder nicht unmittelbar durch einen körperlichen Gegenstand bewirkt ist. I n letzterem Fall ist sie als Erinnerung einer Erscheinung mittelbar durch einen körperlichen Gegenstand bewirkt, während die entsprechende Erscheinung unmittelbar durch i h n bewirkt ist. Denken als Urteilen geschieht notwendig m i t Begriffen 2 5 . Ein Begriff ist eine mit einem Wort oder sonstigen Zeichen bezeichnete Einheit von Merkmalen, die sich auf einen oder auf mehrere Gegenstände bezieht 2 6 . Ein Merkmal ist ein Teilinhalt eines Gehirnzentrums, der Bestandteilen oder Momenten, die i n bzw. an mehreren Seienden vorkommen, inhaltlich entspricht 2 7 . Ein Begriff entsteht entweder durch Abstraktion von sinnlichen Wahrnehmungen oder durch Reduktion, d. h. durch verallgemeinernde Ableitung aus weniger allgemeinen Begriffen. I m ersteren Fall handelt es sich u m einen Wahrnehmungs-, i m letzteren u m einen Reduktionsbegriff. Da ein Reduktionsbegriff das Vorhandensein von Wahrnehmungsbegriffen voraussetzt, ist der Unterschied zwischen Vorstellungen und Begriffen anhand der Wahrnehmungsbegriffe zu erörtern. Die Entstehung eines Begriffs durch Abstraktion geschieht auf folgende Weise: 28 Aus einem Bündel von Erscheinungen als Inhalt einer sinnlichen Wahrnehmung w i r d ein Teilinhalt herausgelöst (isoliert) und i h m eine Benennung gegeben. Es entsteht dabei i m Gehirn des betreffenden Menschen ein Bezug auf denjenigen Bestandteil des die sinnliche Wahrnehmung bewirkenden Seienden oder auf dasjenige Moment an diesem, dem die herausgelöste Teilerscheinung inhaltlich gleicht. Dieser Bezug kann gemerkt und durch Zerlegung i n die i n i h m enthaltenen Merkmale inhaltlich bestimmt werden. Er ist von dem Seienden, das die Wahrnehmung bewirkt hat, ablösbar, er kann unabhängig von diesem identisch wieder vergegenwärtigt (erinnert), von anderen Bezügen unterschieden, m i t ihnen verglichen und verknüpft werden.

25 Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I V b 3 (15). Hierzu u n d zum folgenden vgl. auch oben S. 27 ff. 26 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 5 (21). 27 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 5 (22). 28 Vgl. zum folgenden Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (29).

Β. Die Lehre David Humes

57

Er kann gegebenenfalls auf andere Seiende angewandt werden, die gleiche oder ähnliche Wahrnehmungen bewirken. Ein konkretes Seiendes als ein Seiendes, das kein Merkmal ist und nicht aus Merkmalen besteht, ist aus unzähligen, verschiedenartigen, i n vielfältig verschiedener Weise miteinander verknüpften Bestandteilen und Momenten zusammengesetzt 29 . I m Unterschied hierzu enthält ein Begriff als geistiges Seiendes nur wenige, gleichartige, i n einfacher Weise verknüpfte Merkmale 3 0 . Hierin besteht seine Abstrakheit. Ein Begriff gleicht damit nicht wie eine Vorstellung bzw. eine Erscheinung dem körperlichen Seienden, auf das er sich bezieht. M i t der Behauptung Humes: „Alle unsere Ideen oder schwächeren Vorstellungen" seien „Abbilder unserer Eindrücke oder lebhaften Vorstellungen", diesem zu Recht als solchen bezeichneten „Fundamentalsatz der Humeschen Philosophie" 3 1 , werden die dargestellten Zusammenhänge verkannt. Eine einfache Verknüpfung von Wenigem und Gleichartigem, wie dies bei einem Begriff der Fall ist, kann unmöglich das „Abbild" oder der „Spiegel" von Unzähligem, Verschiedenartigem, i n vielfältiger Weise miteinander Verknüpftem sein. Da Unzähliges, Verschiedenartiges, i n vielfältiger Weise miteinander Verknüpftes nicht als Einheit gedacht werden kann, kann ein Begriff seinem Inhalt nach weder das wahrgenommene Seiende, noch die Vorstellung eines Menschen darüber „abbilden". Hume verkennt den wesentlichen Unterschied zwischen Begriffen als geistigen Seienden und Vorstellungen, die als bildhafte nervliche Inhalte selbst räumlich ausgedehnte Seiende mit stofflichem Inhalt, also körperliche Seiende sind. So enthält ζ. B. der Begriff Mensch die Merkmale „Lebewesen" (als Gattungsmerkmal) und „Anlage zur Entschließungsfähigkeit" (als Artmerkmal) 3 2 . M i t dem Erkennen dieser Merkmale ist der Begriff Mensch erkannt. Durch seine Anwendung auf ein konkretes Seiendes w i r d erkannt, ob diesem die Merkmale des Begriffs „Mensch" zukommen, w i r d also erkannt, ob es sich bei diesem Seienden u m einen Menschen handelt. Dieses Erkennen kann nicht Vorstellung sein 3 3 . Da eine Vorstellung bildhaft ist, kann sie sich — außer i n dem hier nicht interessierenden Fall der Einbildung — nur auf ein konkretes Seiendes beziehen und 29

Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 5 (22). Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 5 (22). 81 Metz, Hume (107). 82 Wolf, B G B A l l g . T., § 3 A I (174). 88 Gegen die Vermengung v o n Vorstellungen u n d Urteilen auch Stegmüller, Hauptströmungen, Bd. I (5). 80

58

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

zwar so, wie es wahrgenommen wurde, also i n der Einmaligkeit der i n oder an i h m insgesamt vorhandenen Eigenschaften, Zuständen oder Geschehen (Individualität) 3 4 . Diese Individualität eines Seienden gehört zu seiner Identität als Unterschiedenheit eines Seienden von jedem anderen 3 5 . Die Individualität eines Seienden kann nicht zugleich die Individualität eines anderen Seienden sein; die Vorstellung eines bestimmten konkreten Seienden kann folglich nicht zugleich die Vorstellung eines bestimmten anderen konkreten Seienden sein. Gegenstand der Vorstellung kann nicht das Seiende i n dem, was es von anderen Seienden unterscheidet, und zugleich seine Gleichheit m i t anderen Seienden sein. Also kann durch eine Vorstellung nicht erkannt werden, zu welcher Gattung oder A r t ein bestimmtes Seiendes gehört. Diese Erkenntnis erfordert vielmehr eine geistige Tätigkeit, die die wesentlichen Eigenschaften eines Gegenstands von den unwesentlichen unterscheidet, die Tätigkeit der Abstraktion, die zur Bildung von Merkmalen und deren Zusammensetzung zu Begriffen führt. Die Existenz einer derartigen geistigen Tätigkeit, die sich von dem körperlichen Geschehen der Wahrnehmung unterscheidet, w i r d von Hume verkannt. Statt dessen w i r d i n seinem „Fundamentalsatz" und den Ausführungen dazu versucht, die menschliche Verstandestätigkeit als „natürliches", d.h. als körperliches Geschehen zu begründen 3 5 a . Die Auffassung des Denkens als körperlicher Vorgang ist eine verfehlte Konsequenz der Anerkennung der Naturwissenschaft als der Wissenschaft überhaupt, weil dies dazu geführt hat, die geistigen Gegenstände als natürliche zu behandeln. Diese Auffassung bedeutet die Verneinung des Geistes i m Denken und damit des Geistigen überhaupt. Diese Lehre hat zugleich eine unzutreffende Psychologie zum Inhalt, die sich erst i m Positivismus voll ausgewirkt und zu einer verfehlten „Biologisierung des menschlichen Erkenntnisprozesses" 3515 geführt hat. Daß das „Erfahrungsurteil" nach Hume nichts „anderes als eine A r t von Instinkt oder mechanischer K r a f t " ist und er umgekehrt den Tieren „Vernunft" zuspricht 3 6 , ist eine Konsequenz dieser Auffassung und zeigt drastisch die V e r w i r r u n g auf, die über das Denken und damit auch über das vernünftige Denken i n der Lehre Humes herrscht 3 7 . 34

Vgl. Wolf, unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript. Zu Identität vgl. Wolf, unveröffentlichtes Vorlesungsmanuskript. 35 a v g l . auch die von Hume vielfach gebrauchte Wendung „Natur des menschlichen Verstandes", z.B. Untersuchung, 1. Abschn. (4, r. Sp.). 35 b So auch Narski, Positivismus i n Vergangenheit und Gegenwart (67). 36 Hume, Untersuchung (57 ff.). 37 Diese verfehlte Verstandespsychologie Humes ist die Wurzel der i n der 35

Β. Die Lehre David Humes 2. Die Lehre von den „abstrakten

59

Vorstellungen"

Der offenkundige Sachverhalt, daß eine bloße Vorstellung als Wiedervergegenwärtigung von Wahrnehmungsinhalten kein Erkennen und damit auch kein wissenschaftliches Erkennen ist und das gleichzeitige Festhalten an der Auffassung, das Denken sei eine besondere Art der Vorstellung, hat zu dem Versuch geführt, die Existenz „abstrakter Vorstellungen" nachzuweisen. Dieser Nachweis ist, schon weil er auf der gleichzeitigen Annahme einer Unterschiedenheit des Denkens von den Vorstellungen und seiner Ineinssetzung mit den Vorstellungen beruht, nicht zu erbringen. a) I m „Traktat über die menschliche Natur" w i r d von Hume grundsätzlich anerkannt, daß sich eine Vorstellung auf „Einzeldinge" richtet, „ i n sich individuell" ist 3 8 . Dennoch behauptet er die Existenz von „Vorstellungen", die „ihrer Natur nach individuell, hinsichtlich dessen aber, was sie repräsentieren, allgemein" 3 9 seien, also „abstrakte Vorstellungen" 4 0 . I n starker Anlehnung an den Nominalismus Berkeleys 4 1 führt er dazu aus, daß eine „Einzelvorstellung" „allgemein" werde, „indem ein allgemeiner Name mit ihr verknüpft" werde, d. h. „ein Name, welcher zugleich gewohnheitsmäßig mit vielen anderen einzelnen Vorstellungen verbunden worden und dadurch m i t ihnen i n (assoziative) Beziehungen getreten" sei, „so daß er diese bereitwillig der Einbildungskraft" zuführe 4 2 . b) Die Auffassung, es gebe „abstrakte Vorstellungen", ist außer aus den bereits erwähnten aus folgenden Gründen unhaltbar: aa) Dadurch, daß eine Vorstellung „ m i t einem Namen verknüpft" wird, also mit einem Wort bezeichnet wird, soll sich nach i h r der individuelle Inhalt einer solchen Vorstellung ändern. Dann wäre ein individuelles Seiendes kein individuelles Seiendes mehr, wenn es als ein solches — also als das, was es ist — bezeichnet wird. Daß sich die Eigenschaften der Gegenstände durch eine Denktätigkeit verändern positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts vertretenen Auffassung, den Menschen i n allen seinen Handlungen u n d nicht n u r i n seiner Denktätigkeit als Kausalgesetzen unterworfen anzusehen. Diese Ansicht einer kausalen Determiniertheit der Menschen liegt insbesondere der Geschichtsteleologie des Positivismus zugrunde; vgl. dazu unten S. 122 ff. 38 Vgl. Hume, Traktat, I. Teil, 7. Abschn. (34, s. a. 37). 39 Hume, Traktat, I. Teil, 7. Abschn. (37). 40 Hume, Traktat, I. Teil, 7. Abschn. (30 ff.). 41 Vgl. Hume, Traktat, I. Teil, 7. Abschn. (30, m i t Hinweis Brandts); nach Meinong (Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1, Z u r Psychologie, Leipzig 1914 (35)) verdient Hume sogar „weit mehr als Berkeley den Namen des eigentlichen Begründers des modernen Nominalismus". Vgl. dazu auch Metz, Hume (125). 42 Hume, Traktat, I. Teil, 7. Abschn. (37).

60

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

sollen, die sich auf sie bezieht — und die Bezeichnung eines Gegenstandes mit einem Namen ist eine Denktätigkeit — entspricht hingegen idealistischer Auffassung. Hinzu kommt, daß individuell und allgemein sowie konkret und abstrakt kontradiktorische Artbegriffe sind, das Vorliegen des einen hinsichtlich eines Gegenstandes das Vorliegen des anderen folglich ausschließt. Daß eine Vorstellung zugleich individuell und allgemein, zugleich konkret und abstrakt sein soll, ist danach i n der Tat — wie Hume selbst sagt — ein „Paradoxon", das nicht dadurch ausgeräumt wird, daß sich Hume zu i h m bekennt 4 3 . bb) Wenn der Inhalt einer Vorstellung, ζ. B. eines Hauses, m i t einem „allgemeinen Namen", also dem Wort Haus, bezeichnet wird, geschieht i n Wahrheit folgendes: Der Gegenstand Haus weist bestimmte Bestandteile oder Momente auf, denen eine von dem Menschen i n Bezug auf den Gegenstand gedachte Einheit von Merkmalen inhaltlich entspricht. Diese Einheit von Merkmalen, die notwendig abstrakt i s t 4 4 und das sie bezeichnende Wort hat der betreffende Mensch, der sich ein Haus vorstellt und dies sprachlich ausdrückt, erkannt: er kennt damit den Begriff Haus. A m individuellen Inhalt seiner Vorstellung hat sich dabei nichts geändert: dieser w i r d nicht allgemein dadurch, daß der Gegenstand, durch den die Vorstellung bewirkt war, m i t einem Namen bezeichnet wurde. Vielmehr ist die Kenntnis des Begriffs Haus vorausgesetzt, u m einen Gegenstand, der Bestandteile oder Momente aufweist, denen die mit dem Wort Haus bezeichnete Einheit von Merkmalen inhaltlich entsprechen, als Haus zu erkennen. Wenn Hume ausführt, daß „ein Name" mit einer „Einzelvorstellung" „verknüpft" werde, „welcher zugleich gewohnheitsmäßig m i t vielen anderen einzelnen Vorstellungen verbunden worden" sei, so ist dies lediglich eine Scheinerklärung des oben behandelten Sachverhalts. Als Grund dafür, daß es eine „Verbindung" zwischen „individueller Vorstellung" und dem „Namen" gibt, w i r d nämlich angegeben, daß es diese „Verbindung" immer schon gegeben hat, was inhaltlich nichts anderes heißt, als daß auf Analyse und damit auf Erklärung verzichtet wird. cc) Wie wenig Hume daran hätte vorbeigehen dürfen, daß das Denken einen anderen Inhalt hat als die Vorstellung, zeigt sich auch daran, daß er eine „Unterscheidung" der Vorstellungen „durch die Vern u n f t " 4 5 („distinction of reason" i. Orig., D. T.) kennt. Denn eine solche 43 44 45

Vgl. Hume, Traktat, I. Teil, 7. Abschn. (37). Siehe o. S. 27. Hume, Traktat, I. Teil, 7. Abschn. (39).

Β. Die Lehre David Humes

61

„Unterscheidung durch die Vernunft" muß notwendig unterschieden sein von dem, was unterschieden wird. Sie muß damit eine geistige Tätigkeit sein, die nicht selbst Vorstellung sein kann. Der Hume'sche „Fundamentalsatz" w i r d damit durch Hume selbst widerlegt. Seine Lehre vom „Ursprung der Ideen" ist der gescheiterte Versuch, eine Erkenntnislehre ohne die Erkenntnis dessen, daß es auf Erfahrung beruhende abstrakte Begriffe gibt, zu begründen. M i t der Ablehnung der spekulativen Metaphysik und des Rationalismus werden die abstrakten Begriffe, ohne die es kein Denken, folglich kein Urteilen, folglich kein Erkennen und folglich kein wissenschaftliches Erkennen gibt, aber nicht nur abgelehnt, sondern bekämpft — die „Entdeckung Berkeleys von der Unmöglichkeit abstrakter Begriffe" w i r d so „für eine der größten wissenschaftlichen Taten" erklärt, „die je geschehen" seien 46 . dd) Aus dem bisher Ausgeführten ergibt sich eine weitere wichtige Konsequenz der Hume'schen Philosophie: es gibt Vorstellungen, die — was auch Hume weiß — 4 7 nicht durch einen körperlichen Gegenstand bewirkt, also Einbildungen sind 4 8 . Eine Vorstellung ist ihrem Inhalt nach daher nicht notwendig gegenstandsbedingt (objektiv), sondern sie kann ichhaft (subjektiv) sein. Demgegenüber ist ein Begriff objektiv, d. h. er ist ausschließlich durch das Seiende oder die Seienden bedingt, denen er inhaltlich entspricht und auf die er sich daher bezieht 4 9 . Denken ist Urteilen und geschieht als solches notwendig mit Begriffen. Die Identifizierung von Vorstellungen und Denken führt dazu, daß die notwendige Objektivität der Begriffe nicht als vom Inhalt einer Vorstellung unterschieden erkannt wird. Subjektivität und Objektivität werden statt dessen miteinander vermengt. Dem entspricht, daß Hume die Wörter „Gedanken oder Ideen" synonym verwendet. Während das Denken als Urteilen real existierende Seiende zum Gegenstand hat, beziehen sich „Ideen" auf Gegenstände eines absolut philosophischen Glaubens 50 . Es ist gerade ein zentraler Fehler der von Hume bekämpften, sich als Wissenschaft begreifenden spekulativen Metaphysik, die „Ideen" m i t Inhalten des Erkennens gleichzusetzen. Die terminologische Nichtunterscheidung von Gedanken und Ideen verweist darauf, daß dieser Fehler der falschen Metaphysik, philosophischen Glauben mit Wissenschaft zu 48 Vgl. Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, 1. Band, V. Kap., § 34 (336); vgl. auch Meinong, Ges. A b h a n d l , 1. Band (33 ff.). 47 Hume, Untersuchung, 2. Abschn. (8, r. Sp.). 48 Siehe o. S. 55 f. 49 Vgl. ζ. B. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (27). 50 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (125).

62

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

identifizieren, von Hume wie auch später von den Positivisten nicht durchgreifend analysiert wird. ee) Ohne das Wissen darüber, was Objektivität ist, kann auch der Begriff der Wahrheit nicht erkannt werden. Wahrheit besteht darin, daß ein Urteil dem Gegenstand entspricht, auf den es sich bezieht. Diese Entsprechung ist gegeben, wenn die i n dem Urteil als dem Gegenstand zukommend gedachten Begriffe dem Gegenstand zukommen. Die Wahrheit eines Urteils ist somit allein durch dessen Gegenstand bedingt (objektiv) 5 1 . Da der Begriff Wahrheit ein Merkmal des Begriffs Erkennen als begründet wahres Beurteilen eines Gegenstandes und folglich auch des Begriffs wissenschaftliches Erkennen ist, konnten auch diese Begriffe von Hume nicht erkannt werden. ff) Humes Lehre vom menschlichen Verstand, m i t der die Grundlage jeder zukünftigen auf Erfahrung beruhenden Wissenschaft geschaffen werden sollte, verfügt damit nicht über die Grundbegriffe einer realistischen Wissenschaftslehre. Die Bemühung Humes, ohne die Kenntnis dieser Begriffe die Fähigkeiten des Verstandes nachzuweisen, „genau und richtig" urteilen, logische Schlüsse ziehen und gesetzmäßige Zusammenhänge erkennen, mit anderen Worten: Wissenschaft treiben zu können, mußte schon aus diesem Grund scheitern. 3. Die Lehre von den

„Ideenassoziationen"

Humes Lehre von den „Ideenassoziationen", die für die Analyse des Positivismus von zentraler Bedeutung ist 5 2 , ist dem objektiven Inhalt nach das widersprüchliche Unterfangen, die i m Denken vorhandenen Zusammenhänge empirisch zu begründen bei gleichzeitiger Verneinung abstrakter Begriffe, m i t denen das Denken und damit das Urteilen geschieht. Sie stellt damit den unmöglichen Versuch dar, auf Basis der — sachlich gegebenen — Verneinung objektiven Erkennens ein wissenschaftliches System zu gründen 5 3 . 51

Vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 13 (26 f.). Vgl. Apelt, Die Theorie der I n d u k t i o n (158): „Humes psychologische U n tersuchungen über die Gesetze der Assoziation" seien „ f ü r die Franzosen u n d Engländer die Grundlage ihrer Theorie der Inductionen geworden." 53 Vgl. dazu G r i m m , E., Z u r Geschichte des Erkenntnisproblems (592): „ I n diesem Gegensatze, daß nach Humes Grundanschauung gar nichts anderes existiert als einzelne, zusammenhanglose Dinge oder Vorstellungen, u n d daß, w e n n w i r folgerichtig vorgehen, alles i n solche zusammenhanglose Stücke sich auflösen muß, während er auf der anderen Seite, u m unser Denken, u n ser Urteilen zu verstehen, doch gar nicht anders k a n n als nach irgend einer Einheit gebenden, die zusammenhanglosen Stücke verbindenden Macht zu suchen, obwohl doch nach jener Grundanschauung die Existenz einer solchen von vornherein ausgeschlossen ist, darin liegt der Grundwiderspruch seines Systems." 52

Β. Die Lehre David Humes

63

a) Nach dieser Lehre gibt es „eine Regel der Verknüpfung" „zwischen den verschiedenen Gedanken oder Ideen des Geistes", die „bei ihrem Auftreten i m Gedächtnis oder der Einbildung einander" einführen „mit einem gewissen Grade der Methode oder Regelmäßigk e i t " 0 4 . „Die i n den zusammengesetzten enthaltenen einfachen Ideen" werden „durch ein allgemeingültiges Prinzip, das auf alle Menschen den gleichen Einfluß" übe, „miteinander verbunden" 5 5 . „Die drei verknüpfenden Prinzipien aller Ideen" seien „die Prinzipien der Ähnlichkeit, der Angrenzung und der Verursachung" 56 . „Diese Prinzipien" dienen „dazu, Ideen zu verknüpfen" 5 7 . b) Die Lehre von den „Ideenassoziationen", deren Grundzüge bereits von Locke und Malebranche vertreten wurden 5 8 , erscheint insbesondere aus folgenden Gründen nicht haltbar. aa) Die Aussage, nach der die „allgemeingültigen Prinzipien" dazu „dienen", „Ideen zu verknüpfen", bedeutet zunächst einmal negativ, daß die „Verknüpfung der Ideen" und damit — da Hume dies als Inhalt des Denkens behauptet — die Zusammenhänge i m Denken nicht ihren Grund i n den Gegenständen haben, auf die sich das Denken bezieht. Der inhaltliche Zusammenhang zwischen Merkmalen, Begriffen und Urteilen ergibt sich danach nicht aus einer Entsprechung mit existierenden Gegenständen und Zusammenhängen. Er hat damit keinen Grund, der i n der Erfahrung liegt. Daß Hume die von i h m angenommenen „allgemeingültigen Prinzipien" als empirisch zu beobachtende „Regel" i n der Verstandestätigkeit des Menschen ansieht, ändert daran nichts, weil diese „Regel" ausschließlich subjektiv gedeutet, die Denktätigkeit damit von ihren realen Grundlagen getrennt w i r d 5 9 . 54

Hume, Untersuchung, 3. Abschn. (10). Hume, Untersuchung, 3. Abschn. (11, Ii. Sp.). 56 Hume, Untersuchung, 3. Abschn. (15, r. Sp.). 57 Hume, Untersuchung, 3. Abschn. (11, Ii. Sp.). 58 Vgl. Brandt, Einführung, I I I B, i n : Hume, T r a k t a t ( X X I X ) m. w . N. 59 Zutreffend i m wesentlichen Hirschberger, Geschichte der Philosophie, I I . Teil (227): „Nicht mehr der objektive Seinsgehalt der Dinge, ihre Gestalt, i h r Wesen, i h r Sinngefüge entscheidet über die Zusammengehörigkeit der Merkmale, die w i r zusammendenken, w e n n w i r einen Gegenstand definieren, sondern die psychischen Verhaltungsweisen des vorstellenden Subjekts". — Verkannt w i r d dieser Sachverhalt v o n Reininger, Locke/Berkeley/Hume: „Was so auch immer Gegenstand unseres Denkens sein" mag, „so" stehe „doch von vorneherein fest, daß w i r es immer u n d überall n u r m i t den I n h a l t e n unseres Bewußtseins zu t u n haben. Die strengste Immanenz der Erfahrung" bilde „so die erste Voraussetzung Humes. Sie" sei „das wesentliche Ergebnis der E r fahrungsphilosophie vor ihm, m i t dem er n u n v ö l l i g ernst" mache. — „Die strengste Immanenz der Erfahrung", die Reininger bei Hume annimmt, ist die Verabsolutierung des Denkens (bzw. des Bewußtseins) i n der Weise, daß eine Entsprechung der Denkinhalte m i t realen Seienden nicht begründet werden kann. Ohne den Nachweis, daß die gedachten Begriffe Gegenständen entspre55

64

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

Die nichtempirische Auffassung des Denkens ergibt sich auch daraus, daß nach Hume das Denken nach „Prinzipien" verfährt, die dem menschlichen Verstand immanent sind. Der zirkuläre „Schluß", daß sich das Denken nach „Prinzipien" seiner selbst richtet, gründet sich allerdings nicht originär auf Humes empirischen Ansatz — etwa i n seiner Lehre von den „copies" — sondern zeigt den Einfluß einer Philosophie, die er eigentlich hatte überwinden wollen: den des Rationalismus. Denn die Lehre von den „Ideenassoziationen" ist der Sache nach nichts anderes als die Übernahme der Lehre Descartes' von den i n sich selbst begründeten, den „eingeborenen" „Ideen" 6 0 . bb) Als nicht in der Erfahrung begründete, damit notwendig vor aller Erfahrung vorhandene, daher apriorische „Prinzipien", können m i t diesen keine objektiven Erkenntnismethoden und keine Gesetze der Logik gemeint sein. M i t der Annahme, daß die Denkzusammenhänge ihren Grund i n apriorischen „Prinzipien" haben, kann eine Entsprechung der Gedanken m i t realen Zusammenhängen — das sind solche, die unabhängig von einer sich darauf beziehenden Bewußtheit existieren 6 1 — nicht mehr dargelegt werden 6 2 . A n die Stelle des Nachweises, daß i m Denken reale Zusammenhänge erkannt werden 6 3 , t r i t t notwendig die Auffassung, daß diese durch das Denken hergestellt, chen, auf die sie sich beziehen, k a n n aber auch die Erfahrung als Bedingung der Erkenntnis nicht behauptet werden, w e i l es eine Erfahrung ohne erfahrenen Gegenstand nicht gibt. 60 Vgl. dazu Windelband/Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, §30,5 m . w . N . ; Ritter/Halbfass, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, unter Idee (Sp. 109 f.) m. w. N. 61 Z u real vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (219). 62 Besonders deutlich k o m m t diese Tatsache noch an anderer Stelle zum Ausdruck, w e n n Hume (Untersuchung, 3. Abschn. (11, Ii. Sp.)) folgenden V e r gleich zwischen Träumen u n d Denken zieht: „Selbst i n unseren wildesten u n d unstätesten Träumereien, j a selbst i n unseren w i r k l i c h e n Träumen werden w i r durch Nachdenken finden, daß die Einbildung nicht durchaus i n Abenteuern sich bewegte, sondern daß hier immer noch eine Verknüpfung bestand zwischen den verschiedenen Ideen, die einander folgten". — M i t diesen Ausführungen w i r d der Sache nach behauptet, daß das Denken i m wesentlichen den gleichen „Prinzipien" unterworfen sei w i e „wildeste u n d u n stäteste Träumereien". Beiden kommen damit gleiche Merkmale zu, was Hume damit ausdrückt, daß das Denken (wie das Träumen) aus Assoziieren bestehe. M i t logischer Gesetzmäßigkeit hat ein solches notwendig freies Assoziieren nichts zu tun. A n dieser Stelle t r i t t außerdem der Zusammenhang zwischen der Grundauffassung Humes, daß die Inhalte des Denkens b i l d haft seien (wie es i n den Trauminhalten tatsächlich der F a l l ist) u n d seiner verfehlten Lehre von der „Ideenassoziation" k l a r hervor. 63 Vgl. auch Hasse, Das Problem der Gültigkeit i n der Philosophie Humes, 2. Abschn., 2. Kap. (144): „Hume" isoliere „das bewußte, vergleichende u n d unterscheidende Denken i m Prinzip vollständig v o n aller Einsicht i n die Z u sammenhänge des tatsächlichen Geschehens, so daß es zu einer fruchtbaren Betätigung i m Reiche der Erfahrung u n d i m Bunde m i t dieser nicht" gelange.

65

Β. Die Lehre David Humes

folglich gemäß den vermeintlichen „Prinzipien" konstruiert werden. Entgegen seinem Ausgangspunkt, wonach nur Erfahrung und Beobachtung Grundlage des Denkens sind, gelangt Hume an dieser Stelle zur Anerkennung eines Denkens, das nicht auf Erfahrung und Beobachtung beruht, und somit der Sache nach zur Anerkennung eines Denkens aus der „Vernunft" i m Sinne der rationalistischen Philosophie. 4. Die Lehre von der „Idee der notwendigen

Verknüpfung"

Die Ausführung dieser genannten Konsequenzen stellt Humes Lehre von der „Idee der notwendigen Verknüpfung" 6 4 dar, die die „Bestimmung" des „Verhältnisses von Ursache und Wirkung" zum Gegenstand hat. Als die Lehre Humes, die die Erkenntnis gesetzmäßiger Zusammenhänge betrifft, hat sie ebenfalls entscheidend auf den Positivismus eingewirkt. a) Nach Hume „scheinen sich" „alle Schlüsse über Tatsachen" „zu gründen auf die Beziehung von Ursache und Wirkung. Mittelst dieser Beziehung allein" können „ w i r über den Augenschein unseres Gedächtnisses und unserer Sinne hinauskommen" 6 5 . Hume behauptet „als allgemeinen, keine Ausnahme zulassenden Satz", „daß die Kenntnis dieser Beziehung i n keinem Fall durch Schlüsse a priori gewonnen" werde, „sondern lediglich aus der Erfahrung" hervorgehe, „indem w i r " finden, „daß einzelne Gegenstände miteinander verbunden" seien 66 . „Dieser Erfahrung gemäß" können „ w i r eine Ursache bestimmen als einen Gegenstand, dem ein anderer" folge 6 7 . b) Die Auffassung Humes, daß eine „Ursache" zu „bestimmen" sei „als ein Gegenstand, dem ein anderer" folge, w i r d gewöhnlich mit der klassischen Formel „post hoc, ergo propter hoc" ausgedrückt 68 . Sie ist verfehlt aus folgenden Gründen: aa) Eine Ursache sind die Bedingungen, bei deren Vorliegen eine Wirkung eintritt. Eine Wirkung ist ein Geschehen, das vollständig durch andere Seiende bedingt ist, das also bei Vorliegen von Bedingungen notwendig eintritt. Ein Geschehen ist ein Anfangen, Ändern (Verhalten) oder Enden eines Seienden. Der Zusammenhang zwischen einer Wirkung und deren Ursache ist ein Kausalzusammenhang. Ein Kausalzusammenhang besteht aus meh64

Hume, Untersuchung, 7. Abschn. (34 ff.). Hume, Untersuchung, 4. Abschn. (16, Ii. Sp.). 66 Hume, Untersuchung, 4. Abschn. (16, r. Sp.). 67 Hume, Untersuchung, 7. Abschn. (43, Ii. Sp.). 88 Diese Formel geht auf den englischen Geistlichen G l a n v i l u n d sein 1665 erschienenes Werk „Scepsis scientifica" zurück; vgl. hierzu Reininger, Locke/ Berkeley/Hume (176) m . w . N. 65

5 Tripp

66

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

reren Bedingungszusammenhängen, die einzeln ebenfalls als Kausalzusammenhänge bezeichnet werden 6 9 . Zutreffend ist die Formel „post hoc, ergo propter hoc" darin, daß die Wirkung der Ursache notwendig zeitlich nachfolgt. Eine Wirkung t r i t t erst dann ein, wenn sämtliche Bedingungen als Elemente der Ursache dieser Wirkung vorliegen. Die Erkenntnis jedoch, ob zwischen zwei Geschehen, die „aufeinander folgen", ein Zusammenhang von Ursache und Wirkung (Kausalzusammenhang) besteht, setzt die Kenntnis aller Bedingungen des späteren Geschehens voraus. Eine Bedingung ist ein Seiendes, von dem ein anderes abhängt. Ein Bedingungszusammenhang ist ein Zusammenhang zwischen einem Bedingten und einer seiner Bedingungen 7 0 . Die Methode, zu erkennen, ob ein bestimmtes früheres Seiendes Bedingung eines bestimmten anderen späteren Seienden ist, besteht i n der Prüfung, ob das spätere Seiende auch dann existieren würde, wenn das frühere nicht existiert hätte. Nur wenn dies nicht der Fall ist, entspricht das Urteil, daß das frühere Seiende Bedingung des späteren ist, einem ontischen Bedingungszusammenhang und ist folglich wahr. Entsprechendes gilt für die Untersuchung, ob ein bestimmtes früheres Seiendes zusammen mit anderen als Element einer Ursache den Inhalt hat, eine Wirkung hervorzubringen 7 1 . Dagegen ist es sachlich verfehlt, aus der bloßen Tatsache, daß ein Geschehen immer wieder auf ein anderes folgt, aus der bloßen Wiederholung eines zeitlichen Nacheinander der Existenz zweier Sachverhalte, auf einen zwischen ihnen bestehenden Notwendigkeitzusammenhang zu schließen. Für einen derartigen Schluß gibt es, entgegen der Behauptung Humes, seine Schlüsse gingen „lediglich aus der Erfahrung" hervor, i n der Erfahrung keinen Grund: ein Mensch, der 20 Jahre lang eine halbe Stunde nach dem Aufstehen eine Tasse Tee trinkt, tut dies aufgrund eines Entschlusses, den er jeden Tag neu faßt 7 2 . Durch die Regelmäßigkeit des Teetrinkens nach dem Aufstehen w i r d zwischen beiden Sachverhalten kein Notwendigkeitzusammenhang begründet. Auch i n Hinsicht auf natürliche Zusammenhänge gibt es keinen erfahrungsmäßigen Grund für die Formel „post hoc, ergo propter hoc":

69

Z u den Definitionen s. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I V b 1 (14). Siehe Wolf, B G B A l l g . T., § 4 C (220 ff.). 71 Die i m folgenden sich auf die einfachen Bedingungszusammenhänge beziehenden Ausführungen gelten entsprechend für den Zusammenhang v o n Ursache u n d Wirkung. 72 Z u r Entschließungsfreiheit vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (122,256 f.). 70

Β. Die Lehre David Humes

67

der Tag, der auf die Nacht folgt, ist genausowenig die Ursache für die Nacht wie der Frühling die Ursache des Sommers ist 7 3 . bb) Hinzu kommt folgendes: I n Humes Lehre werden die Begriffe Ursache und Wirkung sowie Grund und Folge i n gleicher Bedeutung gebraucht und folglich miteinander vermengt. Ein Grund ist eine Bedingung besonderer A r t und ist als solche wie jede andere Bedingung Teilelement der Ursache. Die Besonderheit besteht darin, daß ein Grund für den Inhalt des Bedingten wesentlich ist. Das einem Grund inhaltlich entsprechende Bedingte, das Begründete, ist dessen Folge. Die Folge hängt nicht nur als Bedingtes vom Existieren des Grundes als Bedingendem ab und folgt diesem nicht nur zeitlich nach, sondern sie folgt auch sachlich aus i h m 7 4 . Bei der Vermengung der Begriffe Ursache und Grund sowie Wirkung und Folge sind weder Bedingungs- noch Begründungszusammenhänge zu erkennen. Ohne die Kenntnis dessen, welches die Bedingungen eines Geschehens sind, kann nicht begründet werden, warum ein Geschehen notwendig eingetreten ist. Und ohne die Kenntnis des Grundes eines Seienden kann nicht begründet werden, warum es so, also mit diesem Inhalt, existiert. cc) Daß es für die Formel „post hoc, ergo propter hoc" einen sachlichen Grund nicht gibt, gesteht Hume dem Inhalt nach zu, wenn er ausführt, daß die „beiden Sätze" „,Ich habe gefunden, daß solch ein Gegenstand immer begleitet gewesen ist von solch einer Wirkung' und ,ich sehe voraus, daß andere Gegenstände, die ihrer Erscheinung nach gleichartig sind, von gleichartigen Wirkungen begleitet sein werden'", „weit entfernt" davon seien, „gleichbedeutend zu sein". „Es" sei „ein Mittelglied erforderlich, das den Geist befähigen" möge, „eine solche Folgerung zu ziehen, falls sie tatsächlich durch Vernunftschluß und Beweisführung gezogen" werde. „Welches dieses Mittelglied" sei, das übersteige — „wie" er „gestehen" müsse — „seine Fassungskraft" 75 . Die Suche Humes nach dem „Mittelglied" ist dem Inhalt nach die Frage nach der Darlegung des Erkennens, i n dem die Wahrheit des Schlußsatzes „post hoc, ergo propter hoc" begründet ist, also die Frage nach dessen Beweis 7 6 . Da dieser „Schluß", wie ausgeführt, sachlich nicht haltbar ist, kann er auch nicht bewiesen werden. Hinzu kommt folgendes: Der Beweis, daß ein Seiendes einer bestimmten Gattung oder A r t vorliegen wird, wenn andere Seiende einer 73 74 75 76

5*

Insoweit zutreffend M i l l , Logik I, 3. Buch, 5. Kap. § 5 (400 f.). Vgl. Wolf, BGB Allg. T., § 4 C I I d (222). Hume, Untersuchung, 4. Abschn. (20, r. Sp.). Z u Beweis vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27).

68

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

bestimmten Gattung oder A r t als seine Bedingungen existieren, kann nur durch die Darlegung geführt werden, daß ein existierendes Seiendes notwendig aufgrund des Existierens anderer bestimmter Seiender existiert. Das Urteil, daß ein Geschehen aufgrund bestimmter Bedingungen notwendig eingetreten ist, entspricht dem Urteil, daß immer dann, wenn diese bestimmten Bedingungen vorliegen, diese bestimmte Wirkung eintritt. Ein derartiges erkenntnismethodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Erkenntniszusammenhänge ist ein Gesetz 77 . Ein Gesetz, das Notwendigkeitszusammenhänge zwischen Wirkungen einer A r t und deren Ursachen zum Gegenstand hat, ist ein Kausalgesetz 78 . Da Hume keine Notwendigkeitszusammenhänge erkennt, erkennt er keine sich darauf beziehenden Gesetze. Ohne das Erkennen von Gesetzen kann aber nicht dargetan werden, ob ein Geschehen von „gleichartigen Wirkungen begleitet sein" werde. dd) Es hat sich gezeigt, daß die Leugnung der Objektivität von Begriffen und Urteilen sowie die damit zusammenhängende Unmöglichkeit, die Denkzusammenhänge als realen Zusammenhängen entsprechende zu begreifen, weiter daraus folgend die Unfähigkeit, das Denken als auf Erfahrung beruhend nachzuweisen, zum völligen Scheitern des Versuchs führt, gesetzmäßige Zusammenhänge zu erkennen. Dieses Scheitern führt bei Hume nicht zur Überprüfung einer Wissenschaf ts- bzw. Erkenntnislehre, die sich die Aufgabe gestellt hat, die Grundlage dafür zu schaffen, „die Methode der Erfahrung auf geistige Objekte" anzuwenden. Vielmehr führt die Unmöglichkeit, die Wahrheit der „Kenntnis" „der Beziehung" „von Ursache und Wirkung" zu beweisen, zu zwei weiteren, insbesondere auch für den Positivismus bedeutsamen Konsequenzen: da dennoch eine derartige „Kenntnis" behauptet wird, führt dies zur Verfälschung des Begriffs Erfahrung, und da diese „Kenntnis" nicht bewiesen werden kann, führt dies zur Behauptung der Nichtbeweisbarkeit wissenschaftlicher Aussagen überhaupt: beides geschieht i n dem Humeschen „Skeptizismus". 5. Der „Skeptizismus"

Humes

a) Jede skeptische Lehre geht davon aus, daß nur die Erfahrung allein Grundlage jeden Erkennens sein kann. Verneint w i r d i n ihr hingegen, daß man den Nachweis führen könne, daß es Erfahrung gibt. Daß es Erfahrung gibt, ist nachweisbar 79 . Daß Hume diesen Nachweis

77 78 79

Siehe Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27). Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27). Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (33 f.).

Β. Die Lehre David Humes

69

nicht führen konnte, ergibt sich aus seiner Auffassung vom „erfahrungsmäßigen Schließen": aa) „Alle Beweisgründe aus Erfahrung", behauptet er, seien „ i n Wahrheit" „auf die Ähnlichkeit gegründet, die w i r unter den Naturgegenständen" entdecken „und durch welche w i r veranlaßt" werden, „Wirkungen zu erwarten ähnlich denjenigen, die w i r als aus solchen Gegenständen folgend erfunden" haben. „Von Ursachen, die ähnlich" erscheinen, erwarten „ w i r ähnliche Wirkungen. Dies" sei „der Inbegriff alles unseres erfahrungsmäßigen Schließens" 80 . bb) Dafür, daß man „von Ursachen, die ähnlich" erscheinen, „ähnliche Wirkungen" erwartet, gibt es ontologisch keinen Grund. Die Erkenntnis eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung hat den Inhalt, daß bestimmte Bedingungen eine bestimmte Wirkung notwendig hervorbringen. Der Inhalt eines sich auf derartige Zusammenhänge beziehenden allgemeinen Gesetzes lautet, daß aufgrund bestimmter Bedingungen als Elemente einer Ursache a eine bestimmte Wirkung b eintritt. Das diesem Gesetz zugrundeliegende allgemeine Gesetz lautet, daß aufgrund gleicher Bedingungen als Elemente einer Ursache gleiche Wirkungen eintreten. „Ähnliche Ursachen" (entsprechendes gilt für „ähnliche Wirkungen") sind aber nicht gleich, sondern ungleich. Für die Annahme dessen, daß eine ungleiche Ursache notwendig eine gleiche oder „ähnliche Wirkung" hervorbringt, gibt es nach der Erfahrung keinen Grund. Mangels eines Grundes für die „Erwartung ähnlicher Wirkungen" w i r d bei Hume umgekehrt die Erwartung zum Grund für die „Kenntnis von Ursache und W i r k u n g " 8 1 . Diese „Kenntnis" beruht folglich nicht auf dem Erkennen objektiver Merkmale und auf der Erfahrung realer Seiender. Sondern sie w i r d als ausschließlich auf einem psychischen Vorgang i n dem „Erkennenden" selbst beruhend behauptet: Erkennen ist demnach nicht Erfahrung, sondern subjektive Eingebung, Intuition. Wenn Hume i n einem späteren Abschnitt seiner „Untersuchungen über den menschlichen Verstand" nicht von einer „Kenntnis" des „Verhältnisses von Ursache und Wirkung" redet, entspricht dies der dargestellten Auffassung. Gegenstand des Erkennens sind damit statt realer 80

Hume, Untersuchung, 4. Abschn. (21, r. Sp.). Zutreffend Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung, Bd. 1 (443): Nach Humes „psychologischer Hypothese" „ist der sogenannte »Kausalschluß' von der Ursache auf die W i r k u n g k e i n Fall rationalen Schließens, sondern bloß das Ergebnis einer gewohnheitsmäßigen Erwartung". — Der Versuch Stegmüllers, Humes Lehre i n Teilen dadurch zu retten, daß er ausdrücklich „von der spezifisch Humeschen Assoziationstheorie" abstrahiert, verfehlt die Spezifik Humes, für den sich „das Bestehen deterministischer Gesetzmäßigkeiten" (a. a. O. 452) i n einen absoluten Glauben an sie auflöst. 81

70

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

Zusammenhänge ontologisch nicht begründbare Vorgänge i m H i r n eines Menschen. A n die Stelle der Erfahrung realer Seiender t r i t t damit die Selbstbeobachtung eines vermeintlich Erkennenden — das Erkennen ist nicht gegenstandsbedingt, sondern es ist ausschließlich ichbedingt, es ist subjektiv. b) Die Verabsolutierung des Ich i m „Erkennen" ist das wesentliche Merkmal der Philosophie des Rationalismus. Wie sehr Hume von einem völlig verschiedenen Ansatz aus, dessen Verfehltheit dargelegt wurde, schließlich i n zentralen Fragen zur Übereinstimmung mit Descartes, der die Erfahrung als Grundlage der Erkenntnis verneint hat, gelangt, zeigt sich insbesondere an folgenden Ausführungen, die der Auffassung Descartes', wie ein Vergleich mit einer entsprechenden Belegstelle bei diesem ergibt, fast wörtlich entsprechen. aa) Nach Hume können „alle Gegenstände der menschlichen Vernunft oder Untersuchung" „naturgemäß eingeteilt werden" „ i n Beziehungen von Ideen und Tatsachen" 82 . „Zur ersten Gattung" gehören nach dieser Lehre „die Wissenschaften der Geometrie, Algebra und Arithmetik." „Daß das Quadrat über der Hypothenuse gleich" sei „den Quadraten über beiden Seiten," sei „ein Satz, der eine Beziehung zwischen diesen Figuren" ausdrücke. „Daß dreimal fünf gleich" sei „der Hälfte von dreißig," drücke „eine Beziehung aus zwischen diesen Zahlen. Sätze dieser A r t " seien „durch bloße Denktätigkeit zu entdecken ohne Abhängigkeit von irgend etwas i m Weltall Existierenden". Hätte „es auch niemals i n der Natur einen Kreis oder ein Dreieck gegeben, so" würden „dennoch die von Euklid dargelegten Wahrheiten für immer ihre einleuchtende Gewißheit (Evidenz) behalten." „Tatsachen" seien „weder i n derselben Weise sichergestellt, noch auch" sei „unsere Überzeugung von ihrer Wahrheit, wie stark sie auch sein" möge, „von gleicher Natur wie die der vorhergehenden. Von jeder Tatsache" sei „stets ihr Gegenteil möglich, weil es niemals einen Widerspruch enthalten" könne und „vom Geiste mit der nämlichen Leichtigkeit und Deutlichkeit vorgestellt werden" könne, „als ob es immer so mit der Wirklichkeit" übereinstimmte. Wäre „es beweisbar falsch, so" würde „es einen Widerspruch i n sich schließen und könnte nimmer vom Geiste deutlich vorgestellt" werden. „Es" möge „daher ein der Wißbegierde würdiges Unternehmen sein, zu erforschen, welches die Natur jener einleuchtenden Gewißheit" sei, „die uns, über das gegenwärtige Zeugnis unserer Sinne oder die Erinnerungen unseres Gedächtnisses hinaus, einer w i r k lichen Existenz und Tatsache sicher" mache 83 . 82 Diese Lehre hat u. a. zur späteren Unterscheidung v o n „subjektiven" u n d „objektiven Tatsachen" i m philosophischen Positivismus geführt; dazu näher u. S. 79 ff. 88 Hume, Untersuchung, 4. Abschn. (15 f.).

Β. Die Lehre David Humes

71

bb) Die entsprechenden Ausführungen Descartes' i n seinen bereits 1641 erschienenen „Meditationes de prima philosophia" lauten wie folgt: „Die Physik, die Astronomie, die Medizin und alle anderen Wissenschaften, die von der Betrachtung der zusammengesetzten Dinge" ausgehen, seien „zweifelhaft", „dagegen" enthalten „die Arithmetik, die Geometrie und andere Wissenschaften dieser A r t , die nur von den allereinfachsten und allgemeinsten Gegenständen" handeln, „und sich wenig darum kümmern, ob diese in der Wirklichkeit vorhanden" seien „oder nicht (Hervorhebung von mir, D. T.), etwas von zweifelloser Gewißheit". „Denn ich" möge „schlafen oder wachen, so" seien „doch stets 3 + 2 = 5, das Quadrat" habe „nie mehr als vier Seiten, und es" scheine „unmöglich, daß so augenscheinliche Wahrheiten i n den Verdacht der Falschheit geraten" können 8 4 . Die Behauptung der „Sicherheit und Evidenz" der „Beweisgründe" der „mathematischen Disziplinen" 8 5 , die sie vor allen anderen auszeichne 86 , führte zu der Auffassung, daß „alles, was w i r klar und deutlich" einsehen, „wahr" sei 8 7 und zur rationalistischen Grundthese, daß „alles wahre philosophische Wissen" „ i n eingeborenen Ideen" (ideae natae) bestehe 88 . cc) Die Auffassung Humes, daß mathematische Gesetze der dargestellten A r t „durch bloße Denktätigkeit zu entdecken" seien „ohne Abhängigkeit von irgendetwas i m Weltall Existierenden" t r i f f t nicht zu. aaa) Mathematik ist die Wissenschaft vom erkenntnismethodisch richtigen Denken i n Mengenbegriffen. Die Mengenbegriffe (oder Zahlenbegriffe) der Mathematik sind — wie alle Begriffe — Erfahrungsbegriffe 8 9 . So sind Gegenstände des Zahlbegriffs Eins alle Seienden, denen dieser Zahlbegriff zukommt, nämlich jedes Seiende, das ein Für die Gesetze der Logik gilt entsprechend, daß sie Erfahrungsgesetze sind. So beruht zum Beispiel die Erkenntnis, daß ein „Satz beweisbar falsch" sei, „wenn er einen Widerspruch i n sich" schließe, auf dem allgemeinsten Gesetz der klassischen Logik, nach dem Merkmale, die einander inhaltlich ausschließen (widersprüchliche Merkmale) 84 Descartes, Meditationen über die Grundlage der Philosophie, Ziff. 8 (17 f.). 85 Descartes, Discours de la Methode, 1. Teil, Ziff. 10 (13). 86 Vgl. dazu Descartes, Discours de la Methode, 2. Teil, Ziff. 11 (33). 87 Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Übersicht (13). 88 Vgl. dazu Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 1, § 24 (187). Diese Lehre hat K a n t später übernommen, vgl. Prolegomena, § 4: „Das Wesentliche u n d Unterscheidende der reinen mathematischen Erkenntnis v o n aller anderen Erkenntnis a p r i o r i " sei, „daß sie durchaus nicht aus Begriffen, sondern jederzeit n u r durch die Construction der Begriffe vor sich gehen" müsse. 89 Siehe Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (139).

72

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

nicht demselben Gegenstand zukommen können. Der Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch enthält die Erfahrung, daß Tatsachen, über die inhaltlich Widersprüchliches ausgesagt wird, nicht existieren, ein solches einen Widerspruch enthaltenes Urteil nicht wahr sein kann. Insofern sind i n den Gesetzen der Logik „Schlüsse über Tatsachen" enthalten 9 0 . Die Unterscheidung zwischen den Gegenständen der menschlichen Vernunft nach „Beziehungen von Ideen" und „Tatsachen" ist nicht haltbar. Die gegenteilige Auffassung Humes beruht auf der bereits behandelten Lehre, nach der es „Prinzipien" der „Ideenverknüpfung" gebe. Die Gesetze der klassischen Logik werden damit der Sache nach — bei scheinbarer Berufung auf sie — aufgegeben. bbb) Erkennen ist begründet wahres Beurteilen eines Gegenstandes 91 . Ein Gegenstand ist ein Seiendes, auf das sich ein Begriff bezieht 9 2 . Die Behauptung Humes, daß es Erkennen „durch bloße Denktätigkeit" „ohne Abhängigkeit von irgend etwas i m Weltall Existierendem" gebe, bedeutet ihrem Inhalt nach, daß es ein Erkennen ohne Gegenstand und damit ein Erkennen von Nichts gibt. Ein solches „Erkennen", das sich auf Nichts bezieht, enthält keine objektiven Merkmale und keine Begriffe, ist also kein Denken. Da ein Verhältnis zwischen Urteilsinhalt und Urteilsgegenstand bei einem solchen „Erkennen" nicht existiert, gibt es bei diesem keine Wahrheit. Wenn Hume der Auffassung ist, es gebe Erkennen „durch bloße Denktätigkeit" „ohne Abhängigkeit von irgend etwas i m Weltall Existierendem", wenn er annimmt, daß es „Wahrheiten" gebe, die unabhängig von jeder Erfahrung „für immer ihre einleuchtende Gewißheit (Evidenz)" behalten, so bedeutet das dem Inhalt nach entgegen der These, daß es keine „Schlüsse a priori" gebe, die Anerkennung der Existenz „eingeborener Ideen". Der Rationalismus mit seiner Verneinung der sinnlichen Wahrnehmung und damit jeder Erfahrung als Bedingung des Erkennens und der Behauptung, daß „die Denktätigkeit des Verstandes, solange sie rein i n sich sich selbst" bleibe, „eo ipso nur klare und deutliche Vorstellungen" entwickle 9 3 und der damit gesetzten Propagierung „einer unmittelbaren und unbedingten", nur dem Denken „innewohnenden" „Selbstgewißtheit" 9 4 , w i r d i n diesen seinen 90 Daß zum Beweis der Wahrheit eines Urteils neben der Darlegung, daß es den logischen Gesetzen entspricht, die Darlegung erforderlich ist, daß es sachlich fehlerfrei ist (vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27 ff.)), begründet nicht den von Hume behaupteten Unterschied zwischen „Beziehungen von Ideen" u n d „Tatsachen". 91 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 1 (21). 92 Wolf, B G B Allg. T., § 1 A V I b 2 (21). 93 Vgl. Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, § 24 (186). 94 Vgl. Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, § 24 (181).

Β. Die Lehre David Humes

73

Grundlagen nicht nur nicht angegriffen, sondern den gedanklichen Inhalten nach bestätigt. Daß es nur dort „Wahrheit" geben soll, wo sich das Denken — angeblich — nicht auf Gegenstände bezieht, also nicht Erfahren ist, während es eine „Gewißheit" für eine „wirkliche Existenz oder Tatsache", „die über das gegenwärtige Zeugnis unserer Sinne oder die Erinnerungen unseres Gedächtnisses" hinausgehen, nicht gebe, steht i n krassem Gegensatz zu jeder Erfahrungswissenschaft. Dies hat nicht nur m i t empirischer Wissenschaftslehre nichts zu tun, sondern ist rationalistischer erkenntnistheoretischer Nihilismus. c) Die Auffassung, daß es nur dort eine „Gewißheit" bezüglich der Wahrheit eines Urteils gebe, wo sich das Denken nicht auf Gegenstände der Erfahrung beziehe, enthält bereits als Umkehrschluß den Skeptizismus, nach dem es eine „Gewißheit" „über eine Tatsache, die über das gegenwärtige Zeugnis unserer Sinne oder die Erinnerungen unseres Gedächtnisses" hinausgehe, nicht gibt. Da es weder Denken noch Erkennen ohne Erfahren gibt, bezieht sich der Skeptizismus der Sache nach auf jedes Denken und Erkennen. Dieser Skeptizismus ist die Konsequenz einer falschen Erkenntnis- bzw. Wissenschaftslehre, nach der es nur „Ideen" als Inhalte des Denkens gibt, womit dem Denken®5 faktisch jeder Bezug zur Realität abgesprochen wird. Und da nur durch das Denken erkannt werden kann, daß es unabhängig von einer sich darauf beziehenden Bewußtheit existierende Seiende gibt, kann auf der Grundlage des „Empirismus", der auch darin mit dem Rationalismus übereinstimmt, nicht mehr behauptet werden, daß es eine Realität gibt. Wenn unter dieser Voraussetzung nach der „Natur jener einleuchtenden Gewißheit" des Erkennens gefragt wird, entspricht diese Frage einerseits einer „Erkenntnislehre", die daran gescheitert ist, die „Methode der Erfahrung auf geistige Objekte" anzuwenden 96 , und ist sie andererseits i n sich widersprüchlich. Denn nachdem Hume das Denken dem Inhalt nach als nicht auf Erfahrung beruhend bestimmt hat, stellt er die Frage, wie man begründen kann, daß dieses Denken, das nichts als „Idee" ist, dennoch auf der Erfahrung beruht. Die Prämisse dieser Frage enthält also die Unmöglichkeit, diesen Zusammenhang nachzuweisen: die versuchte „Lösung" seiner „skeptischen Bedenken hinsichtlich der Tätigkeit des Verstandes" kann selbst nur wieder eine „skeptische" sein 9 7 . 95

F ü r das Erkennen g i l t entsprechendes. Insofern ist es ungenau, w e n n Windelband, Geschichte der neueren P h i losophie, § 24 (173), meint, daß „das abschließende Denken v o n David Hume" „seine skeptischen Konsequenzen aus der Auffassung der Mathematik als des sonst unerreichten Ideals der Wissenschaftlichkeit" ziehe. Der G r u n d für beides ist vielmehr die Verkennung dessen, wie die Erfahrung Grundlage der Wissenschaft ist. 97 Vgl. Untersuchung, 4. Abschn. (15 ff.), 5. Abschn. (23 ff.). 96

74

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

6. Die „skeptische Lösung" des Skeptizismus Die „skeptische Lösung" des Skeptizismus ist das aussichtslose Unterfangen, die Wissenschaft dort noch zu retten, wo sie der Sache nach bereits aufgegeben wurde. Der Versuch der Rettung enthält konsequent ihre endgültige Preisgabe. a) Die „skeptische Lösung" des Skeptizismus besteht i n der Befestigung seiner Grundthesen und stellt das endgültige Fiasko des Humeschen „Empirismus" dar. Nach der Behauptung, „alle Folgerungen aus Erfahrung" seien „Wirkungen der Gewohnheit, nicht des vernünftigen Schließens" 98 , führt Hume aus: „Die Gewohnheit" sei „die große Führer i n des menschlichen Lebens. Dieses Prinzip allein" mache „die Erfahrung uns nützlich und" lasse „uns für die Zukunft eine ähnliche Reihe von Vorgängen erwarten wie diejenigen, die i n der Vergangenheit sich gezeigt" haben 9 9 . „Aller Glaube an Tatsachen oder wirkliche Existenz" sei „hergeleitet lediglich von einem dem Gedächtnis oder den Sinnen gegenwärtigen Gegenstande und einer gewohnheitsmäßigen Verknüpfung zwischen diesem und einem anderen Gegenstande" 100 . „Immer wenn dem Gedächtnis oder den Sinnen ein Gegenstand dargeboten" werde, treibe „er die Einbildungskraft durch die Macht der Gewohnheit unmittelbar dazu, denjenigen Gegenstand vorzustellen, der mit ihm gewöhnlich verbunden" sei, „und diese Vorstellung" sei „begleitet von einem Fühlen oder Empfinden" 1 0 1 . Treten „viele gleichförmige Fälle ein, wobei auf denselben Gegenstand stets derselbe Vorgang" folge, „dann" beginnen „ w i r den Begriff von Ursache und Verknüpfung zu bilden. W i r " fühlen „dann eine neue Empfindung oder einen neuen Eindruck, nämlich eine gewohnheitsmäßige Verknüpfung i m Denken oder i n der Einbildung zwischen einem Gegenstand und seinem Begleiter; und eben diese Empfindung" sei „das Vorbild einer Idee, nach der w i r " suchen 102 . Sollten „ w i r eine Begriffsbestimmung (Definition) dieses Empfindens versuchen" so sei „Glaube" „das wahre und eigentliche Wort für dieses F ü h l e n " 1 0 3 . b) Nach diesen Ausführungen Humes sind die Merkmale wissenschaftlichen Erkennens: Gewohnheit, Erwartung, Glaube, Einbildung, Empfindung, Gefühl. M i t diesen Merkmalen die Wissenschaft von Religion oder falscher Metaphysik unterscheiden zu wollen, ist unmöglich. Das, was als Wissenschaft, Denken oder Erkennen bezeichnet wird, 98

Hume, Untersuchung, 5. Abschn. (25, r. Sp.). Hume, Untersuchung, 5. Abschn., 1. T e i l (26, Ii. Sp.). 100 Hume, Untersuchung, 5. Abschn., 1. T e i l (27, Ii. Sp.). 101 Hume, Untersuchung, 5. Abschn., 2. T e i l (28, Ii. Sp.). 102 Hume, Untersuchung, 7. Abschn. (44, Ii. Sp.). 103 Hume, Untersuchung, 5. Abschn., 2. T e i l (28, r. Sp.). 99

Β. Die Lehre David Humes

75

sind i n Wahrheit freie, willkürliche Behauptungen eines jeder Realität und damit jeder Erfahrung enthobenen Subjekts, das souverän darüber entscheiden kann, welche Aussage es als wahre anerkennen w i l l — je nachdem, wie sie i n sein Gefühlsleben paßt 1 0 4 . Wenn Hume sagt, „alle Folgerungen aus Erfahrung" seien „ W i r k u n gen der Gewohnheit, nicht des vernünftigen Schließens", bedeutet dies ein weiteres Mal die Verkennung des Begriffs Erfahrung, da nach dem Zitierten diese „Folgerungen" ihren Grund nicht i m Erkennen realer Seiender haben und ihnen deshalb nicht entsprechen. Vielmehr hängen die i n den „Folgerungen" behaupteten Zusammenhänge von einem Subjekt ab, das als einzigen „Beleg" für ihre Behauptung darauf verweisen kann, daß es diese Zusammenhänge schon immer für solche gehalten hat, es deshalb daran gewöhnt ist, ihre Existenz zu behaupten. Diese „Folgerungen" sind daher kein Erkennen von Zusammenhängen, kein Erkennen von Gesetzen, sondern sie können nur frei konstruierte Thesen — eben „Ideen" — sein 1 0 5 . Das „vernünftige Schließen" bedeutet danach i n Wahrheit die Verbannung der Vernunft aus der Wissenschaft zugunsten der Vertretung eines absoluten Irrationalismus. I I . Zusammenfassung

Eine Wissenschafts- und Erkenntnislehre, die die Grundlage einer Wissenschaft schaffen wollte, i n der die „Methode der Erfahrung" „auf geistige Objekte" angewandt wird, ist zuguterletzt bei der Behauptung des absoluten Glaubens als Grundlage alles Erkennens angelangt. Es ist dies das Fiasko einer Lehre, die an der Erklärung des Geistigen i m Denken und damit insbesondere an der Erklärung der Begriffe gescheitert ist, weil i n ihr der Verstand als natürlicher Gegenstand, das Denken als körperliches Seiendes, als Vorstellung aufgefaßt und eine Entsprechung von Denkzusammenhängen mit realen Zusammenhängen nicht dargelegt werden konnte. Was als Denken behauptet wurde, waren „Ideenassoziationen", die nach apriorischen „Prinzipien" kon104 Z u dieser falschen Souveränität des „Erkennenden" vgl. Metz, Hume (186 f.): „Wenn w i r also zwei Vorgänge kausal v e r k n ü p f t " nennen, „dann" meinen „ w i r nicht, daß i n der objektiven Gegebenheit u n d Tatsächlichkeit der Dinge irgend ein kausaler Faktor oder ein verknüpfendes Band vorhanden" wäre, „sondern w i r " w o l l e n „damit n u r sagen, daß w i r i n unserem Denken eine solche Verbindung vollzogen" haben, „die uns" veranlasse, „die Dinge selbst i n kausaler Verknüpfung zu sehen. Die Notwendigkeit" liege „also i n unserem Geiste, nicht i n den Gegenständen". — M i t einer solchen Auffassung w i r d jeder Unsinn unwiderlegbar, da sich jeder eine Behauptung Aussprechende damit lediglich auf die Tatsache bezieht, daß er diese Behauptung gedacht hat — was außer Zweifel ist. 105 Der Sache nach zutreffend Metz, Hume (196): bei Hume sei „die subjektive Gewohnheit" „nicht ein Niederschlag der objektiven Kausalgesetzlichkeit, sondern diese vielmehr ein Niederschlag jener."

76

2. Kap.: Allgemeine Grundlagen des philosophischen Positivismus

struiert werden und folglich nicht auf Erfahrung beruhen. Das Festhalten daran, daß es nur Erfahrungswissenschaft geben kann, und die gleichzeitige Verneinung jedes Zusammenhanges zwischen dem Denken und damit dem wissenschaftlichen Erkennen m i t Gegenständen der Erfahrung hat zu einer Verfälschung des Begriffs Erfahrung zugunsten der Verabsolutierung des Ich bei gleichzeitiger Bezweiflung der Sicherheit und damit der Möglichkeit wissenschaftlichen Erkennens geführt. Statt der künftigen Wissenschaft eine feste Grundlage zu verschaffen, hat die Hume'sche Lehre ihr jede Grundlage, die einzig i m Nachweis der Erfahrung als Bedingung jedes Erkennens liegt, entzogen. Dieser absolute Psychologismus, der völlig verfehlt als „Empirismus" bezeichnet wird, kennt weder Erfahrung noch ist er Erfahrungswissenschaft 106 . Der Sache nach ist Humes Lehre die Verneinung der Wissenschaft i m Namen angeblicher Erfahrung 1 0 7 . Dies nicht erkannt zu haben, sondern ihre Grundauffassung zu teilen, ist vor allem dem philosophischen Positivismus zum Verhängnis geworden.

106 Unzutreffend insoweit Windelband, Geschichte der neueren Philosophie, 1. Bd., § 34 (347), der behauptet, nach Hume gebe es „ f ü r den Menschen zwar Erfahrung, aber keine Erfahrungswissenschaft" : es gibt deshalb keine Erfahrungswissenschaft, w e i l das, was als Erfahrung ausgegeben w i r d , falsche E r fahrungen sind. 107 Dies w i r d insbesondere v o n G r i m m , Z u r Geschichte des Erkenntnisproblems (594) verkannt. Z w a r stellt er zutreffend fest, daß damit, daß es „ f ü r uns keine Außendinge" gebe, „es" „ f ü r uns keinen Geist" gebe, „es" „nichts als einzelne zusammenhanglose Vorstellungen" gebe, „das Ende, die Vernichtung aller Erkenntnis ausgesprochen" werde. Wenn er jedoch als E r k l ä r u n g dieser „Selbstzersetzung" „der Erkenntnis" anführt: „ j e näher . . . man" dem „Grundsatze" „der Erfahrung" trat, „ j e mehr man v o n der auf Erfahrung beruhenden Erkenntnis sich Rechenschaft zu geben" suchte (Hervorhebungen v o n m i r , D. T.), „umsomehr" schrumpfte „dieses endlose Reich zusammen auf den engen Kreis unserer Vorstellungen, umso schwankender u n d i n sich u n begründeter" erwies „sich diese Erkenntnis", w i r d v o n G r i m m i n Wahrheit der Versuch, überhaupt eine Erfahrungswissenschaft zu begründen, zum Grund ihres Scheiterns gemacht. Derartige falsche Erklärungen, die der Sache nach die Unmöglichkeit einer Erfahrungswissenschaft behaupten, sind — beabsichtigt oder nicht — die Vorbereitung einer offenen Wiederkehr der falschen Metaphysik i n die Wissenschaft.

3. Kapitel

Der philosophische Positivismus des 19. Jahrhunderts A . Das Selbstverständnis des philosophischen Positivismus

Nach d'Alembert, einem Vorläufer des französischen Positivismus, ist die Wissenschaft entweder die „der Tatsachen oder die der Chimären" 1 . Der philosophische Positivismus und die sich als positivistisch bezeichnenden Wissenschaften haben sich ihrem Selbstverständnis nach für die „Tatsachen" als dem „Positiven, Gegebenen, Erfaßbaren" 2 und damit gegen die „Chimären", also gegen „apriorische Denkformen", gegen Spekulation als Wissenschaft und damit gegen die falsche Metaphysik entschieden. Diese Entscheidung formuliert Comte, durch den das Wort Positivismus „zum Kennzeichen einer ganzen philosophischen Richtung" wurde 3 und durch dessen Werk „Cours de philosophie posit i v e " 4 sich die „Soziologie als Wissenschaft konstituierte" 5 , als Grundsatz des Positivismus folgendermaßen: „Das Wort ,positiv'", das „ i n seinen verschiedenen Bedeutungen" „die Eigenschaften des wahren philosophischen Geistes" zusammenfasse, bezeichne „ i n seiner ältesten und verbreitetsten Bedeutung betrachtet" „das Tatsächliche (le réal) i m Gegensatz zum Eingebildeten: i n dieser Hinsicht" komme „es voll und ganz dem neuen philosophischen Geiste zu, der aufgrund der ständigen Hingabe unserer Intelligenz an wirklich erreichbare Forschungsobjekte unter dauerndem Ausschluß der unergründlichen Mysterien" „so bezeichnet" werde 6 . Daß die Hinwendung zu den Tatsachen als Grundlage der Wissenschaft die selbstverständliche Ablehnung der Metaphysik bedeutet, diese Auffassung hat der philosophische Positivismus von den Naturwissenschaften übernommen und es ist sicher kein Zufall, daß der 1 d'Alembert, Die. prel., Elem. de philos. (27), zit. nach Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Stichw. Positivismus (474 f.). 2 Vgl. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 2. Bd., Stichw. Positivismus (474). 3 Vgl. Fetscher, Einleitung zu Comte, Rede (XV). 4 Der „Cours de philosophie positive" erschien i n 6 Bänden zwischen den Jahren 1830 u n d 1846. 5 So Blaschke, V o r w o r t zu Comte, Soziologie (VII). 6 Comte, Rede, 1. Teil, 3. Kap., I , 31 (85).

78

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

Positivismus i n Frankreich nicht von der Sorbonne, die damals kaum naturwissenschaftliche Bedeutung besaß, sondern von der Ecole polytechnique ausgegangen ist, deren Schüler Comte war und an der er später als Examinator und Repetitor arbeitete 7 . Der Positivismus versteht sich jedoch nicht nur als Gegenrichtung gegen die falsche Metaphysik, sondern er lehnt nach Comte auch den Empirismus, unter dem er das bloße Sammeln von Tatsachen versteht, ab: „Eine fehlerhafte Interpretation" habe „oft dazu geführt", das „große Denkprinzip", „die ständige Unterordnung der Einbildungskraft unter die Beobachtung" „zu mißbrauchen, u m die wirkliche Wissenschaft zu einer A r t unfruchtbaren Anhäufung zusammenhangsloser Fakten entarten zu lassen, die kein anderes Verdienst haben" könne „als das der Genauigkeit i m Detail. Es" sei „also wichtig, recht zu verstehen, daß der echte positive Geist i m Grunde vom Empirismus ebensoweit entfernt" sei „wie vom Mystizismus; zwischen diesen beiden gleich verhängnisvollen Abirrungen" müsse „er stets seinen Weg suchen" 8 . Comte behauptet vom Positivismus, daß er „die Systeme beseitigt" habe, „welche die Wissenschaft auf eine Anhäufung unzusammenhängender Fakten zurückbringen" wollen 9 . „ I n den Gesetzen der Erscheinungen" bestehe „ i n Wirklichkeit die Wissenschaft, der die eigentlichen Tatsachen, so exakt und zahlreich sie auch sein" mögen, „stets nur die unentbehrlichen Rohstoffe" liefern 1 0 . Die für den Positivismus damit als grundlegend behaupteten Begriffe sind nach diesen Ausführungen Comtes: „das Tatsächliche", also Tatsachen; „wirklich erreichbare", also erfahrbare „Forschungsobjekte", daher Erfahrung; außerdem die Begriffe „Gesetz" und „Wissenschaft". Es sind dies Grundbegriffe jeder Wissenschafts- und Erkenntnislehre, die Wissenschaft zu sein beansprucht, wie dies beim philosophischen Positivismus geschieht. Eine grundlegende Untersuchung des philosophischen Positivismus erscheint angesichts des verbreiteten Mißverständnisses, bei i h m handele es sich u m eine durchgeführte „Tatsachen-" oder „Gesetzeswissenschaft", unerläßlich. Sie kann nur erfolgen anhand der zentralen Ausführungen seiner bedeutendsten Vertreter — das sind J. St. M i l l und A. Comte (Hauptwerke beider erschienen ab etwa 1840), H. Spencer (Hauptwerke ab etwa 1860) sowie E. Laas (Hauptwerke u m 1880) — zu den oben genannten Begriffen. 7

Vgl. zum Vorstehenden Marcuse, Die Geschichtsphilosophie A. Comtes (1). Comte, Rede, 1. Teil, 1. Kap., 3 (33). 9 Comte, Soziologie, 15. Kap. (463). 10 Comte, Rede, 1. Teil, 3. Kap. (35). 8

Β. I. Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

79

B. D e r philosophische Positivismus als „Tatsachen-" und „Erfahrungswissenschaft" I. Das Tatsachenverständnis des philosophischen Positivismus

1. Die Lehre von den „subjektiven"

und den „objektiven

Tatsachen"

Grundlegend für das „Tatsachenverständnis" des philosophischen Positivismus ist Mills Unterscheidung der „Tatsachen" i n „subjektive" und „objektive Tatsachen" 11 : a) „Der Unterscheidung wegen" werde „eine jede Tatsache, welche nur aus Gefühlen oder aus als solchen betrachteten Zuständen des Bewußtseins zusammengesetzt" sei, „häufig eine psychologische oder subjektive Tatsache genannt, während eine jede Tatsache, welche entweder ganz oder zum Teil aus etwas davon verschiedenem, d. i. aus Substanzen und Attributen zusammengesetzt" sei, „eine objektive Tatsache" heiße 12 . Unter „Substanzen" versteht M i l l Körper und Geist 1 3 . Körper „definiert" M i l l „als die äußerliche Ursache, und zwar" „als die verborgene äußerliche Ursache, auf welche w i r unsere Empfindungen" beziehen 14 . „Der Geist" könne „als das empfindende Subjekt aller Gefühle bezeichnet" werden, „als das Subjekt, welches sie" habe oder fühle 1 5 . „Unsere Vorstellung von einem Geist" sei „die eines unbekannten Recipienten dieser Empfindungen, und nicht bloß ihrer allein, sondern aller anderen Gefühle von uns" 1 6 . „Ein Körper" sei „das geheimnisvolle Etwas, das den Geist zu fühlen" anrege, „der Geist das mysteriöse Etwas, das" fühle und denke. „ I n Beziehung auf die innere Natur der Materie" seien „ w i r gänzlich i m dunkeln" und müssen „es bei unseren Fähigkeiten" „immer bleiben". „Alles, was w i r sogar von unserem eigenen Geist" erkennen, sei „,ein gewisser Faden von Bewußtsein', eine mehr oder weniger zahlreiche und verwickelte Reihe von Gefühlen, d. h. von Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Willenstätigkeiten" 1 7 .

11 Diese Unterscheidung entspricht der von „objektiver u n d subjektiver Existenz" bei Spencer (vgl. Gaupp (21) m. N.) u n d der von „Subjekt" u n d „ O b j e k t " bei Laas, Idealismus u n d Positivismus, 1. Band, 1. Buch, 17. (179); zu Comte s. u. S. 77 ff., 102. 12 M i l l , Logik I, 3. Kap., § 15 (92). 18 Vgl. M i l l , Logik I, 3. Kap., § 6 (67). 14 M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., § 3 (74). 15 M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., §8 (75 f.). 10 M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., § 8 (74 f.). 17 M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., §8 (74 f.).

80

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts b) Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. aa) Zu „objektive Tatsachen":

Die „objektiven Tatsachen" unterscheiden sich nach M i l l von den „subjektiven Tatsachen" dadurch, daß sie „aus Substanzen und A t t r i buten zusammengesetzt sind". Diese Behauptung sowie die Bezeichnung Mills der „Substanz" „Körper" als die „verborgene äußerliche Ursache", die er eine „Definition" nennt, seine Auffassung, „Körper" sei das „geheimnisvolle Etwas, das den Geist zu fühlen" anrege, „der Geist" sei „der unbekannte Recipient dieser Empfindung," und die weitere Behauptung, daß „ w i r i n Beziehung auf die innere Natur der Materie" „gänzlich i m dunkeln" seien und es „bei unseren Fähigkeiten immer bleiben" müssen, die „Empfindungen alles" seien, „was uns von den Körpern bekannt" sei, enthalten Fehler, die für den gesamten philosophischen Positivismus von grundlegender Bedeutung sind. aaa) Die „Definitionen" der „Körper" als „geheimnisvolles Etwas" oder als „verborgene äußerliche Ursache", des „Geistes" als „unbekannten Recipienten" enthalten weder für den Begriff Körper noch für den Begriff Geist irgendein objektives Merkmal; diese Ausführungen enthalten i m Gegenteil die Aussage, daß Merkmale dieser Begriffe nicht bekannt sind. Da es Definitionen, die nicht das Angeben begrifflicher Merkmale i n einem Urteil sind, nicht gibt 1 8 , handelt es sich bei diesen Ausführungen entgegen der Behauptung Mills nicht um Definitionen. Mills Aussagen „Körper s i n d . . . " , „Geist i s t . . . " sind Seinsbehauptungen i n Bezug auf körperliche und geistige Seiende. Das Urteil, daß ein bestimmter Gegenstand existiere, kann als wahres Urteil aber nur ausgesprochen werden, wenn objektive Merkmale dieses Gegenstandes bekannt sind, er insoweit also erkannt ist. Die gleichzeitigen Behauptungen, „Körper" und „Geist" existieren, man wisse aber nichts über sie, sind logisch unmöglich. Hinzu kommt folgendes: Wenn M i l l die „Körper" „bestimmt" als „geheimnisvoll" oder „verborgen", den „Geist" als „unbekannt", so meint er damit nicht nur, daß man keine Merkmale von körperlichen und geistigen Seienden kennt, sondern daß solche nicht erkennbar sind. Da Erkennen Erfahren ist, bedeutet die Behauptung der Nichterkennbarkeit eines Seienden die seiner Nichterfahrbarkeit. Die Nichterfahrbarkeit eines Seienden schließt aber ebenfalls die gleichzeitige Behauptung seiner Existenz aus. W i r d dies verkannt, ist es nicht mehr möglich, 18 Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 9 (24 f.). Gemeint sind die Definitionen i m Sinn der traditionellen Logik. Z u Definitionen i m Sinn der modernen Wissenschaftstheorie vgl. Speck/Suppes, Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. 1, unter Definition (124 ff.) m. w. N.

Β. I. Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

81

zwischen erfahrbaren Seienden und Gegenständen der Metaphysik, die als überweltliche der Erfahrung entzogen sind, zu unterscheiden. Bereits mit diesem Ausgangspunkt i n der Lehre Mills ist infolgedessen jeder Unterschied zwischen einer „Tatsachenwissenschaft" und der Metaphysik der Sache nach aufgegeben. bbb) Ebenso widersprüchlich ist Mills Annahme, es gebe eine nicht erkennbare „innere Natur" der Körper. Sich wechselseitig logisch ausschließend sind auch die Aussagen, daß w i r über die „innere Natur der Materie" „bei unseren Fähigkeiten immer" „gänzlich i m dunkeln" „bleiben" müssen, und daß dasselbe gelte „ i n Beziehung auf die innere Natur des denkenden Prinzips". Denn die erste Aussage unterstellt die Kenntnis „unserer" „geistigen Fähigkeiten", weil ohne das erschöpfende Wissen über sie nicht behauptet werden kann, daß w i r mit ihnen nicht die „innere Natur der Materie" erkennen können. Und zugleich w i r d jede Kenntnis über die menschlichen Erkenntnisfähigkeiten verneint, wenn M i l l die Auffassung vertritt, daß w i r „ i n Beziehung auf die innere Natur des denkenden Prinzips" „gänzlich i m dunkeln" „bleiben" müssen — denn damit w i r d gesagt, daß man von dem Denken nichts weiter wisse, außer daß es dieses gebe. ccc) Widersprüchlich ist auch die Behauptung, daß „uns" „von den Körpern nichts bekannt" sei als die „Empfindungen" über sie. Denn entweder sind die „Empfindungen" solche „von den Körpern": dann werden die „Körper" als das, was sie sind, „empfunden", dann ist folglich ein Urteil über den Inhalt der „Empfindungen" zugleich ein solches über die Körper, die „empfunden" werden, gibt es damit ein Wissen über die „Körper". Oder man kennt nur „Empfindungen" — dann kann man nicht gleichzeitig behaupten, daß sie solche von Körpern seien. ddd) Logisch nicht nachvollziehbar ist es auch, wenn M i l l einerseits sagt, man kenne nur „Empfindungen", andererseits ausführt, es gebe ein Verhältnis von Ursache und Wirkung zwischen „Empfindungen" und „Körpern". Da nach der letzten Aussage die Empfindungen als Bestandteile eines (Kausal-)Verhältnisses angesehen werden, enthält diese Aussage notwendig die Behauptung der Kenntnis von etwas außer den Empfindungen Existierendem. Eine Theorie, die gleichzeitig von dem Gegenteil ausgeht, ist notwendig u n w a h r 1 9 . 19

Gegen dieses Gesetz der klassischen Logik können nicht die sog. Heisenbergschen „Unbestimmtheitsrelationen" (bzw. „Unschärferelationen") angeführt werden als Beleg dafür, daß es zu jeder Größe (Observablen) andere zu i h r inkommensurable Größen gebe, so daß i n keiner „Zustandsbeschreibung" beide vollständig bekannt seien (vgl. dazu Speck/Scheibe, Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. 2, unter Physik (478 f.) m. w. N.). Zwar mögen sich die Messungen v o n Ort u n d Größe eines Elementarteilchens ζ. B. wechselseitig ausschließen; damit ist aber nicht bestritten, sondern vorausgesetzt, daß die gemessenen Zustände u n d Eigenschaften nicht i n einem inhaltlichen Gegensatz zueinander stehen. Z u r verfehlten Deutung der Hei6 Tripp

82

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

eee) Hinzu kommt, daß M i l l mit „objektiven Tatsachen" neben geistigen auch körperliche Seiende bezeichnet. Das ist nicht haltbar. Körperlich ist ein räumlich ausgedehntes Seiendes m i t stofflichem Inhalt. Geistig ist ein Seiendes mit begrifflichem I n h a l t 2 0 . Objektivität ist die ausschließliche Gegenstandsbedingtheit eines Begriffs oder einer Verknüpfung von Begriffen 2 1 . Ein Gegenstand ist ein Seiendes oder ein Moment an einem Seienden, auf das sich ein Begriff bezieht. Er ist entweder ein körperlicher oder ein geistiger Gegenstand 22 . Körperliche und geistige Seiende können danach zwar Gegenstand eines sich auf sie beziehenden Urteils sein. Dann sind aber nicht jene, sondern ist das Urteil, das dem Seienden, auf das es sich bezieht, inhaltlich entspricht, deshalb objektiv. Ein Seiendes, das kein Begriff ist und nicht aus solchen besteht, kann aus den dargelegten Gründen nicht objektiv sein. Außerhalb des menschlichen Denkens gibt es daher keine Objektivität 2 3 . Werden diese Zusammenhänge verkannt, werden Urteil und Urteilsgegenstand, entsprechend auch Begriffe bzw. Merkmale und die wesentlichen Eigenschaften der zu erkennenden Seienden miteinander identifiziert. Dann aber gibt es i n einer derartigen Lehre auch keine Unterscheidung zwischen körperlichen und geistigen Seienden, gibt es keine Realität 2 4 , folglich keine Erfahrung und kein Erkennen realer Seiender. Da die untersuchten „Merkmale", die zur Behauptung der Existenz „objektiver Tatsachen" angegeben werden, i n sich widersinnig sind bzw. jeder Erfahrung widersprechen, etwas Widersinniges ontologisch nicht existieren kann, gibt es diese „objektiven Tatsachen" nicht. bb) Zu „subjektive Tatsachen": aaa) Die „subjektiven Tatsachen" kann es schon aus dem Grund nicht geben, weil die „objektiven Tatsachen" sich dadurch von den „subjektiven Tatsachen" unterscheiden sollen, daß jene entweder „Körper" oder „Geist", also entweder körperliche oder geistige Seiende sein sollen. Da körperlich und geistig kontradiktorische Artbegriffe des Begriffs Seiendes sind, eine dritte A r t Seiender nicht existiert, was von M i l l auch nicht behauptet wird, die „subjektiven Tatsachen" aber weder körperliche noch geistige Seiende sein sollen, gibt es für diese senbergschen Unbestimmtheitsrelationen vgl. die K r i t i k v o n Stegmüller, Theorie u n d Erfahrung (438 ff., insbes. 441—443) m. w. N. 20 Z u körperlich u n d geistig Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (40). 21 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (219). 22 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26). 23 Vgl. dazu die Ausführungen Wolfs, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (219) zu objektive Realität. 24 Z u r Definition von Realität bzw. reale Seiende s. o. S. 26.

Β. I. Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

83

keine möglichen Merkmale und folglich keinen denkbaren Bezug auf einen Gegenstand. bbb) Die „subjektiven Tatsachen" können aus dem weiteren Grund nicht existieren, weil sie als Wirkungen einer „verborgenen äußerlichen Ursache, auf welche w i r unsere Empfindungen" beziehen, also als W i r kung der nicht existierenden „objektiven Tatsachen", aufgefaßt werden. Da es eine Wirkung von etwas Nichtexistierendem nicht gibt, gibt es auch aus diesem Grund die behaupteten „subjektiven Tatsachen" nicht. ccc) Die „subjektiven Tatsachen" existieren drittens nicht, weil sie aus als „Gefühlen" „betrachteten Zuständen des Bewußtseins zusammengesetzt" sein sollen. Näher führt M i l l dazu aus: „Ein Gefühl" „und ein Zustand des Bewußtseins" seien „ i n der Sprache der Philosophie gleichbedeutende Ausdrücke; alles" sei „Gefühl, dessen sich der Geist bewußt" sei, „alles, was er" fühle, „oder m i t anderen Worten, was einen Teil seiner empfindenden Existenz" bilde 2 5 . „Die gewöhnliche Einteilung der Gefühle i n körperliche und geistige" sei „eine der Quellen der Verwirrung bezüglich dieses Gegenstandes. Für eine solche Unterscheidung" sei, „philosophisch gesprochen, gar kein Grund vorhanden" 2 6 . Dieser Auffassung entspricht es, wenn M i l l den „Geist" definiert als „ein gewisser Faden von Bewußtsein, eine mehr oder weniger zahlreiche und verwickelte Reihe von Gefühlen, d. h. von Empfindungen, Gedanken, Emotionen, Willenstätigkeiten" 2 7 . Subjektiv (oder ichbedingt) ist ein Inhalt einer be wußten oder unbewußten geistigen Tätigkeit oder des Gedächtnisses eines Menschen, der nicht ausschließlich durch einen Gegenstand bedingt (objektiv) ist. Ichbedingte (subjektive) geistige Inhalte sind zum Beispiel ein I r r t u m oder ein Entschluß. Da Erkennen als begründet wahres Beurteilen eines Gegenstandes 28 , ebenso wie die Begriffe und Merkmale als Bestandteile eines wahren Urteils ausschließlich gegenstandsbedingt ist, während dies ζ. B. bei einem Irrtum, einer Lüge oder einem freien Phantasieren nicht der Fall ist, w i r d mit der Aufgabe der Unterscheidung objektiver und subjektiver geistiger Inhalte jede Unterscheidung dieser Inhalte i n wahre und unwahre unmöglich. Die Lehre von den „subjektiven" und den „objektiven" Tatsachen ist folglich eine vom Ansatz her verfehlte Lehre. c) Der Einfluß Humes auf M i l l (und damit auf den philosophischen Positivismus) kommt bereits i n dem Tatsachenverständnis Mills deut25 26 27 28

6*

M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., § 3 (60). M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., § 3 (60). M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., § 4 (62). Wolf, Schuldrecht Band 1, A l l g . T., § 4 G I I a 2 cc (176, Fn. 119).

84

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

lieh zum Ausdruck. Der romantische, mystische Satz „Alles ist Gefühl" 2 9 und die diesem gemäßen weiteren Ausführungen entsprechen der Lehre Humes, wonach Begriffe mit „Empfindungen", die „Bildung" von „Begriffen" mit „Fühlen" gleichgesetzt werden 3 0 . Die Erkenntnis der Abstraktheit und der Objektivität von Begriffen, von Denken und damit von Urteilen war für den philosophischen Positivismus m i t dieser Voraussetzung, die ihrerseits wiederum auf der falschen Identifizierung von sinnlicher Wahrnehmung und Erfahren beruht, nicht zu leisten. d) I n der Lehre Mills enthält die Identifikation von „geistig" und „körperlich", von „Gefühl" und Bewußtsein den weiteren Widersinn, daß die „subjektiven Tatsachen" „Teil" „der empfindenden Existenz" des „Geistes" seien, der zugleich zu den „objektiven Tatsachen" gehören soll. „Subjektive" und „objektive Tatsachen", „Körper" und „Geist" werden damit zugleich als unterschieden und als identisch behauptet. Wenn M i l l die Auffassung vertritt, daß „die gewöhnliche Einteilung der Gefühle i n körperliche und geistige" „eine der Quellen der Verwirrung bezüglich dieses Gegenstandes", sie also aufzugeben sei, so beschreibt er damit i n Wahrheit die Verworrenheit, wie sie i n seiner eigenen Lehre hinsichtlich ihrer Grundlagen besteht. Eine verheerende Folge des Sachverhalts, daß die Begriffe „Körper" und „Geist", „Denken" und „Fühlen", „Denken" und „Gegenstand", „Empfindungen" und „Gegenstand" miteinander identifiziert werden, ist zunächst die Ineinssetzung von „Eigenschaften der Dinge" und den „Empfindungen" i n Mills Lehre von den „Attributen". aa) M i l l führt dazu aus: „Wenn uns von den Körpern nichts bekannt" sei „und nichts bekannt sein" könne „als die Erregungen, welche sie i n uns oder i n anderen" erregen, „so" müssen „diese Empfindungen alles sein, was w i r zuletzt unter Attributen der Körper verstehen" können; „und die wörtliche Unterscheidung, welche w i r zwischen den Eigenschaften der Dinge und von ihnen erhaltenen Empfindungen" machen, müsse „eher aus der Bequemlichkeit der Rede entspringen, als aus der Natur von dem, was der Name" bezeichne 31 . bb) Die Auffassung, daß es keine „Unterscheidung" „zwischen den Eigenschaften der Dinge und den von ihnen erhaltenen Empfindungen" gebe, hat bereits ein Vertreter der idealistischen Philosophie, nämlich George Berkeley (1684—1753) ein knappes Jahrhundert vor M i l l ver29

Z u M y s t i k vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (83 f.). Vgl. auch die „Definition" von Erkenntnis durch Laas, Idealismus u n d Positivismus, Bd. I I I , 2. Kap., 30 (687 f.): „Erkenntnis" sei „erleben, w a h r nehmen, sich erinnern; vergleichen, messen, analysieren, summieren, von Ähnlichem auf Ähnliches schließen, Wesentliches von Unwesentlichem sondern u. d g l " . 31 M i l l , Logik, 1. Buch, 3. Kap., § 9 (76). 30

Β. I. Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

85

treten. Berkeley hatte behauptet, daß „das Sein" der „Dinge" das „Percipiert-werden" sei (esse est percipi). „Es" sei „nicht möglich, daß sie irgendeine Existenz außerhalb der Geister oder denkenden Wesen" haben, „von welchen sie percipiert" werden 3 2 . Diese Auffassung Berkeleys, daß „Sein" und „Empfindung" identisch seien, bildet die Vorstufe zur fehlerhaften Ineinssetzung von „Sein" und „Denken" (vor allem i m „Begriff" der „Idee") i n der deutschen idealistischen Philosophie. M i l l übernimmt damit die Grundthese einer Lehre, die die reale Existenz von Seienden ausschließt. Da jede Erfahrung von Seienden diese als existierend voraussetzt, kann auf diese Lehre eine Erfahrungswissenschaft nicht gegründet werden. M i l l hat dieser Konsequenz zu entgehen versucht, indem er — entgegen dem Inhalt der zitierten Ausführungen — sich von der „extremen Lehre der idealistischen Metaphysik, die Gegenstände" seien „nichts als unsere Empfindungen und die sie verknüpfenden Gesetze" 33 , zu unterscheiden behauptet. Dies erklärt sich allein daraus, daß auch M i l l gewußt hat, daß die Aussage, es gebe keine Seienden außerhalb des Bewußtseins (bzw. außerhalb der „Empfindungen") jeder Behauptung ihrer Erfahrbarkeit unmittelbar widerspricht. Damit hätte M i l l nicht nur zu einem Skeptizismus bezüglich der Möglichkeit von Wissenschaft kommen, sondern darüber hinaus die Unmöglichkeit, zu wissenschaftlichen, auf Erfahrung beruhenden Erkenntnissen gelangen zu können, behaupten müssen. Daß er dies gerade nicht wollte, beweist der häufige Gebrauch des Wortes Erfahrung. Das den Positivismus als Erkenntnislehre — und nicht etwa nur die Lehre Mills — kennzeichnende „Außenwelts- und Ich-Problem" 3 4 sollte durch eine Lehre „gelöst" werden, i n der einerseits die Identifikation von „subjektiven und objektiven" Tatsachen beibehalten und gleichzeitig deren Unterschied behauptet wird, i n der Lehre von der „Correlativität von Subjekt und Objekt". 2. Die Lehre von der „Correlativität

von Subjekt und Objekt"

a) M i l l behauptet folgendes: „ W i r " können „sagen, daß eine jede objektive Tatsache auf eine entsprechende subjektive gegründet" sei „und (außer der ihr entsprechenden subjektiven Tatsache) für uns keine Bedeutung" habe, es sei „denn als ein Name für den unbekannten und 32 Berkeley, A b h a n d l u n g über die Principien der menschlichen E r k e n n t nis (22). 33 M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., § 7 (71). 34 So Wentscher, Das Außenwelts- u n d Ich-Problem bei John Stuart M i l l , in: A r c h i v für Psychologie, Bd. 32 (321 ff.).

86

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

unerklärlichen Vorgang, durch welchen jene subjektive oder psychologische Tatsache herbeigeführt" werde 3 5 . M i t der Behauptung, „jede objektive Tatsache" sei „auf eine entsprechende subjektive gegründet" und der gleichzeitig vertretenen A u f fassung, die „subjektive oder psychologische Tatsache" werde durch die „objektiven Tatsachen" „herbeigeführt", w i r d eine wechselseitige Bedingtheit der „objektiven" und der „subjektiven" „Tatsachen" angenommen. Diese Auffassung w i r d von Laas als „positivistischer Gedanke" „der Correlativität von Subjekt und Objekt" bezeichnet 36 — zu Recht i n dem Sinne, daß er von den führenden philosophischen Positivisten vertreten wird. So behauptet Laas es als „einen für jeden Einzelnen völlig zugänglichen und von jedem kontrollierbaren Sachverhalt", als „Tatsache", „daß Objekte unmittelbar nur bekannt" seien „als Gegenstände, Inhalte eines Bewußtseins, cui objecta sunt, und Subjekte nur als Beziehungszentren, als der Schauplatz und die Unterlage von Wahrnehmungs(und Vorstellungs-)Inhalten, quibus subjecta sunt; daß die uns unmittelbar bekannten Objekte und Subjekte keine ,Wesen an sich 4 " seien; „daß sie beide nur miteinander" existieren, „miteinander entstehen" und „bestehen, aneinander gebunden" seien 37 . Und bei Spencer heißt es: Es gibt „eine gewisse objektive Existenz, die sich unter gewissen Bedingungen kundgibt; . . . diese Existenz und diese Bedingungen" seien „für uns nichts weiter" „als die unbekannten Correlativa unserer Gefühle und der Beziehungen zwischen unseren Gefühlen" 3 8 . b) Dieser „positivistische" „Hauptgedanke" 3 9 der „Correlativität von Subjekt und Objekt" ist verfehlt aus folgenden Gründen: aa) Eine Bedingung ist ein Seiendes, von dem ein anderes, das Bedingte, abhängt 4 0 . Voraussetzung für das Existieren des Bedingten ist das Existieren der Bedingung, die deshalb notwendig zeitlich vor dem Bedingten existieren muß. Wenn nach positivistischer Lehre das „Subj e k t " bzw. die „subjektiven Tatsachen" durch das „Objekt" bzw. die „objektiven Tatsachen" „herbeigeführt" werden sollen — Voraussetzung für das Existieren der „subjektiven Tatsachen" danach die Existenz „objektiver Tatsachen" ist — gleichzeitig aber behauptet wird, 35 36 37 38 39 40

M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap., § 15 (92). Vgl. Laas, Idealismus u n d Positivismus, 1. Bd. 1. Buch, 18. (183 f., Fn. 2). Laas, Idealismus u n d Positivismus, 1. Band, 1. Buch, 18. (183). Spencer, Principien der Psychologie, Bd. I I , §472 (511). So Kohn, Der Positivismus v o n Ernst Laas (5). Vgl. z. B. Wolf, B G B A l l g . T., § 12 A I I a (537).

Β. I. Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

87

daß „jede objektive Tatsache" auf eine „subjektive" gegründet sei — Voraussetzung für das Existieren der „objektiven Tatsachen" danach das Existieren der „subjektiven" ist — ist dies dem Inhalt nach i n Wahrheit die Auffassung, daß die „objektiven" und die „subjektiven" „Tatsachen" jeweils die Bedingung ihrer selbst seien. Ein „Subjekt" oder „Objekt", das sich selbst bedingt, ist i n Wahrheit unbedingt (absolut). Da es außer „subjektiven Tatsachen" bzw. „Subjekten" und „objektiven Tatsachen" bzw. „Objekten" nach der genannten positivistischen Lehre nichts gibt, hat der Satz der „Correlativität von Subjekt und Objekt" erstens den Inhalt: Alles ist absolut. Und da ein „Subjekt" oder „Objekt", dessen Existenz von seinem eigenen Existieren abhängt, das also vor seiner eigenen Existenz existieren müßte, i n Wahrheit niemals existieren kann, enthält dieser „positivistische" Grundgedanke die der obigen ersten Aussage inhaltlich entsprechende weitere Aussage: Nichts existiert. bb) Zu derselben Folgerung gelangt man bei der Untersuchung von Laas' Ausführungen. Wenn danach die „Objekte" nur als „Gegenstände" des „Bewußtseins" „Objekte" sind, also „Objekte nur durch die Subjekte" sind, umgekehrt die „Subjekte" nur durch die „Objekte" „Subjekte" sind, die Bestimmtheit von „Subjekt" und „Objekt" sich aus dem jeweils anderen ergibt, sind sie beide nicht bestimmbar, inhaltlich nicht faßbar, ist ihre Existenz folglich nicht behauptbar. Das gleiche bedeutet die Behauptung, „Objekte" und „Subjekte" seien „,keine Wesen an sich'". Damit ist nicht etwa gemeint, daß sie keine „Dinge an sich" i m Sinne der Philosophie Kants seien. Sondern diese Wendung bedeutet, daß sie keine unabhängig voneinander existierenden Seienden sind, daß es nicht das eine gibt, wenn es das andere nicht gibt, daß sie kein von dem anderen unabhängiges Wesen haben. Seiende, die als Seiendes kein von anderen Seienden unabhängiges Wesen, also keine unabhängig von anderen Seienden vorhandenen wesentlichen Eigenschaften haben, gibt es nicht. Da die wesentlichen Eigenschaften eines Seienden diejenigen sind, denen die Merkmale eines sich auf es beziehenden Allgemeinbegriffs entsprechen, ist ein Etwas, das kein „Wesen an sich" ist, nicht erkennbar. Dann kann nicht von i h m behauptet werden, daß es existiert 4 1 .

41 Daß „Subjekt" u n d „ O b j e k t " nach Laas begrifflich nicht faßbar sind, w i r d auch an folgenden mystischen Wendungen bei Laas, Idealismus u n d Positivismus, Bd. 3, 2. Kap., 30 (687) deutlich: „Beide, Weltwahrnehmung u n d Subjekt" treten „zugleich empor; beide jeweils i n d i v i d u e l l modifiziert; beide zu allgemeinen Gestaltungen zu läutern: jene zur objektiven Natur, dieses zu einem ,Bewußtsein' überhaupt."

88

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts 3. Der Einfluß

Humes

Der philosophische Positivismus ist die radikal fortgeführte Lehre des Humeschen sog. „Empirismus", dessen sämtliche wesentlichen Grundlagen, so ζ. B. die Bezeichnung der „Zustände des Bewußtseins" als „Gefühle", die Ineinssetzung von Gedanken mit „Vorstellungen" und „Empfindungen" und die Behauptung der Existenz einer „inneren Natur des denkenden Prinzips", er übernommen hat. Die oben ausgeführte K r i t i k an Hume t r i f f t insofern auf den philosophischen Positivismus ebenfalls zu. Die Konsequenz des Humeschen „Empirismus" aus den fehlerhaften Identifikationen war, daß die i m Bewußtsein eines Menschen existierenden Zusammenhänge nicht mit der Entsprechung zur Existenz realer Zusammenhänge erklärt, ihre Objektivität folglich nicht nachgewiesen werden konnte, sondern umgekehrt, die realen Zusammenhänge der Sache nach als durch das Denken erst hergestellt angenommen wurden. Allerdings hatte Hume daraus nicht den Schluß gezogen, die Existenz realer Seiender i n Frage zu stellen, sondern die „Sicherheit" hinsichtlich der „wirklichen Existenz und Tatsache" behauptet, sofern sie nicht „über das gegenwärtige Zeugnis unserer Sinne oder die Erinnerungen unseres Gedächtnisses" hinausgehen 42 . Doch war dies von Humes Lehre her inkonsequent, weil nach i h m „das gegenwärtige Zeugnis unserer Sinne oder die Erinnerungen unseres Gedächtnisses" identisch sind mit „Vorstellungen", diese identisch sind mit „Empfindungen", diese mit „Fühlen" und folglich „Glauben" ineinsgesetzt werden. Damit ist es aber unmöglich, eine Begründung für die „Sicherheit" über die „wirkliche Existenz und Tatsachen" zu geben — und Hume hat diese „Sicherheit" allein auf das „Beweismittel" der rationalistischen Philosophie, nämlich der „einleuchtenden Gewißheit" gestützt, also das Gegenteil eines empirischen Beweises dafür angeführt. M i l l formuliert folglich nur die Konsequenz des „Empirismus", wenn er ausführt: „ W i r " können „es als eine Wahrheit aussprechen, die sowohl an und für sich einleuchtend, als auch von allen denjenigen zugegeben" sei, „welche w i r für jetzt zu berücksichtigen" haben: „daß w i r von der Außenwelt absolut nichts erkennen" können „als die Empfindungen, die w i r von ihr" erfahren 4 3 . 4. Entsprechung

zur Lehre Kants vom „Ding an sich selbst"

M i t dieser Auffassung, daß es eine nicht erkennbare „Außenwelt" gebe, die dennoch durch die „Empfindungen" „erfahren" werden soll, gelangt M i l l und damit der philosophische Positivismus von der fal42 43

Siehe o. S. 70. M i l l , Logik I, 3. Kap., § 7 (34).

Β. I. Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

89

sehen Lehre zur Unterscheidung „objektiver" und „subjektiver Tatsachen" über die Lehre von der „Correlativität von Subjekt und Obj e k t " zur Übernahme der idealistischen Lehre Kants vom „Ding an sich selbst". a) Kant, auf den sich M i l l ausdrücklich beruft 4 4 , hatte i n seinen 1783 erschienenen „Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft w i r d auftreten können", folgendes ausgeführt: Während „der Idealismus" „ i n der Behauptung" bestehe, „daß es keine anderen als denkende Wesen" gebe, „die übrigen Dinge, die w i r i n der Anschauung wahrzunehmen" glauben, „nur Vorstellungen i n den denkenden Wesen" wären, „denen i n der Tat kein außerhalb diesen befindlicher Gegenstand" korrespondierte, sagte er (Kant) dagegen: „es" seien „uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein" mögen, „wissen w i r nichts, sondern" kennen „nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie i n uns" bewirken, „indem sie unsere Sinne" affizieren. „Demnach" gestehe er (Kant) „allerdings, daß es außer uns Körper" gebe, „d. i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein" mögen, „uns gänzlich unbekannt, w i r durch die Vorstellungen" kennen, „welche ihr Einfluß auf unsere Sinnlichkeit uns" verschaffe, „und denen w i r die Benennung eines Körpers" geben; „welches Wort also bloß die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger w i r k lichen Gegenstandes" bedeute. Könne „man dies wohl Idealismus nennen? Es" sei „ja gerade das Gegenteil davon" 4 5 . „ I n der Tat, wenn w i r die Gegenstände der Sinne wie billig als bloße Erscheinungen" ansehen, „so" gestehen „ w i r hierdurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde" liege, „ob w i r dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen" sei, „sondern nur seine Erscheinung, d. i. die A r t , wie unsere Sinne von diesem unbekannten Etwas afficirt" werden, kennen 4 6 . b) M i t den zitierten Ausführungen behauptet Kant, sich von der idealistischen Philosophie und deren Auffassung einer Identität von Sein und Denken dadurch zu unterscheiden, daß er das Gegebensein von „Dinge(n) als außer uns befindlichen Gegenständen unserer Sinne", als „wirkliche Gegenstände" anerkenne. Wenn er aber zugleich ausführt, daß w i r von diesen „Dingen an sich selbst" nichts wissen, sondern nur ihre Erscheinungen" kennen, „d. i. die Vorstellungen, die sie i n uns" wirken, so enthält diese Aussage den bereits behandelten 47 Widerspruch, die Existenz eines Seienden bei gleichzeitiger Behauptung 44 45 48 47

Vgl. ζ. B. M i l l , Logik I, 1. Buch, 3. Kap. § 7 (71). K a n t , Prolegomena, § 13 A n m . I I (288 f.). Kant, Prolegomena, §32 (314 f.). Siehe o. S. 75 f.

90

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

seiner Nichterkennbarkeit, was die Nichtbegründbarkeit dieser Existenz einschließt, anzunehmen. Die als außerhalb der „Vorstellungen i n den denkenden Wesen" jenen als „korrespondierend" aufgefaßten Gegenstände werden nicht als außerhalb einer sich auf sie beziehenden Bewußtheit existierend, damit als reale Seiende nachgewiesen, sondern als jeder Erfahrung ihrer Existenz unzugänglich angenommen. Nicht erkennbar und nicht erfahrbar sind nur die „Gegenstände", die außerhalb (über) der Welt liegen. Derartige „Gegenstände" sind solche der Metaphysik als Lehre vom Überweltlichen. Dementsprechend gehört nach Kant das „Ding an sich selbst" zur Metaphysik. I n Bezug auf Überweltliches gibt es aber keine Begriffe, keine Merkmale, keine Urteile, keine Beweise, folglich weder Erkennen noch Wissenschaft. Dies folgt aus der notwendigen Gegenstandsbedingtheit (Objektivität) der Begriffe, Merkmale, Urteile usw., die nur bei Seienden gegeben ist. Da die Welt alle Seienden sind, gibt es i n Bezug auf Überweltliches keine Gegenstandsbedingtheit der sich darauf „beziehenden" Aussagen. Diese haben keinen logisch bestimmbaren Inhalt, sondern gleichnishafte Bedeutung. Da der Mensch nur über eine Sprache verfügt, haben die Wörter, die sich auf „Gegenstände" der Metaphysik beziehen, insoweit ebenfalls neben ihrer ontologischen metaphysische Bedeutung. So verhält es sich zum Beispiel mit dem soeben gebrauchten Wort „Gegenstand" 4 8 . Wenn M i l l mit seiner Lehre von den „subjektiven" und den „objektiven Tatsachen" die Unterscheidung Kants von „Noumena" und „Phänomena" übernimmt 4 9 , übernimmt er eine Lehre, mit der alle außerhalb der Vorstellungen existierenden Gegenstände der Sache nach als metaphysische behauptet werden. I n dieser Lehre werden nicht nur Seiende und Sein verneint und der Begriff der Realität verfehlt. Sondern, da es die „Dinge an sich" i n Wahrheit nicht gibt, folglich auch nicht deren Entsprechungen mit „Vorstellungen" und „Erscheinungen" existieren, bedeutet die Behauptung ihrer Existenz der Sache nach, daß es „Vorstellungen" ohne Vorgestelltes, „Erscheinungen" ohne Erscheinendes, „Erfahrung" ohne Erfahrenes, Gegenstände, die nicht erfahrbar und erkennbar sind, Erkennen ohne Gegenstand und Erkennen ohne Erfahrung geben soll. Alle genannten Begriffe werden damit inhaltlich völlig aufgelöst. Da nach Kant die Gegenstände als „Erscheinungen" nur i n den „Vorstellungen" 48 Vgl. zu dem Vorstehenden Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (41). 49 Vgl. dazu auch Grunicke, Begriff der Tatsache (20); die Übernahme der Kantschen Lehre von dem „ D i n g an sich" hat umgekehrt dazu geführt, daß K a n t selbst fehlerhaft häufig als Positivist bezeichnet wurde: vgl. ζ. B. Kohn, Der Positivismus von Ernst Laas (17).

Β. . Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

91

existieren, entfallen mit der Existenz der „Dinge an sich selbst" alle Unterschiede zwischen Gegenständen und „Vorstellungen", unterscheidet sich die Philosophie Kants von der idealistischen Philosophie nur durch die falsche Behauptung eines Unterschieds 50 . 5. Der Versuch der Rettung des philosophischen Positivismus als Tatsachenwissenschaft: der „begründete" „Glaube" an „Tatsachen" a) Wie Kant es unternimmt, idealistische Grundauffassungen durch eine scheinbare Abgrenzung vom Idealismus zu retten, versucht M i l l die Rettung des Positivismus als Erfahrungswissenschaft dadurch, daß er ihn vor seinen idealistischen Konsequenzen zu bewahren sucht. I n seinem 1865 erschienenen Werk „Eine Prüfung der Philosophie Sir W i l l i a m Hamiltons" stellt er eine „psychologische Theorie des Glaubens an eine Außenwelt" m i t dem widersprüchlichen Ziel auf, diesen „Glauben" als i n der „Erfahrung begründet" nachzuweisen 61 . I n dem genannten Buch definiert er den Begriff „Materie" „als eine permanente Möglichkeit von Wahrnehmungen" 5 2 . „Die permanenten Möglichkeiten" seien „uns und unseren Mitmenschen gemeinsam; die wirklichen Wahrnehmungen" seien „es nicht. Das, was andere Menschen ebenso wie ich und aus denselben Gründen wie ich" erkennen, scheine „ m i r realer zu sein als das, was sie nicht" erkennen, „wenn ich es ihnen nicht" sage. „Die Welt gesetzmäßig aufeinander folgender möglicher Wahrnehmungen" sei „ i n anderen Wesen ebenso vorhanden wie i n mir: sie" habe „also eine Existenz außer mir, sie" sei „eine Außenwelt" 5 3 . b) Mills Definition von Materie „als eine permanente Möglichkeit von Wahrnehmungen" ist verfehlt, weil i n ihr die Materie mit den Möglichkeiten der Wahrnehmung von ihr, die folglich von der Materie selbst zu unterscheiden sind, identifiziert wird. Auch der Verweis auf die „Mitmenschen" beweist nicht die Existenz einer „Außenwelt", sondern enthält weitere Widersprüche. So enthält 50 Z u dem Vorstehenden u n d insges. zu Kants Philosophie eingehend Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (196 ff., 200 ff.). 51 Dasselbe bei Spencer, System der synthet. Philosophie, 1. Band, §27 (Deutsch v. Vetter): „obgleich n u n das Absolute i n keiner Weise erkannt w e r den" könne, finden „ w i r , daß seine positive Existenz ein notwendiger Bestandteil des Bewußtseins" sei, „der zugleich m i t dem Bewußtsein" existiere „und" erlösche, „daß also der Glaube an diese positive Existenz des Absoluten h i n t e r der Erscheinungswelt den höchsten u n d berechtigsten Anspruch auf Wahrheit" habe. 52 M i l l , Philosophie Hamiltons, 11. Kap. (259). 53 M i l l , Philosophie Hamiltons, 11. Kap. (258).

92

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

das Urteil darüber, „was andere Menschen" „erkennen", bereits das allgemeine Urteil, daß diese Menschen existieren. Da diese Menschen als außerhalb von Mills sich auf sie beziehenden Bewußtheit aufgefaßt, damit als reale Seiende, folglich als Teil der „Außenwelt" erkannt werden, enthält die Mill'sche Beweisführung bereits i m Ausgangspunkt das zu beweisende Resultat, stellt damit eine petitio principii dar. Ebenso unterstellt die Behauptung, Wahrnehmungen geschehen „gesetzmäßig", das Bestehen eines Notwendigkeitszusammenhangs zwischen „Außenwelt" und Wahrnehmung, dessen einer Bestandteil, die „Außenwelt", als existierend erst nachgewiesen werden sollte. Und schließlich ist es widersinnig, wenn der Beweis, daß es eine „Außenwelt" gibt, nicht aufgrund des eigenen Bewußtseins oder der eigenen Erfahrung erbracht werden kann, die Urteile anderer Menschen, die i n Bezug auf das Urteil, daß es reale Seiende gibt, keine anderen Erfahrungen als man selbst haben können, und die Richtigkeit ihres Urteils wiederum nur aufgrund eigener Erkenntnisse nachgewiesen werden könnte, als Beleg der eigenen Auffassung anzuerkennen. Es t r i f f t daher die Feststellung Wentschers zu, daß „mehr als eine psychologische Hypothese über die Entstehung der AuRenweltsvorstellung (Hervorhebung von mir, D. T.) i n unserem Geiste" „diese von M i l l entwickelte Theorie nicht" gebe, so daß „die Definition der Materie als ,einer permanenten Möglichkeit von Wahrnehmungen' nur den Sinn einer subjektiv-psychologischen Geltung beanspruchen" dürfe, „die eine objektive Ergänzung" verlange 5 4 . c) Diese „objektive Ergänzung", d.h. den ontologischen Beweis der Existenz einer „Außenwelt", konnte M i l l i n seiner Theorie mit der i n ihr enthaltenen Identifikation von Sein und Denken nicht erbringen: „Ich glaube nicht, daß das wirkliche Außerunssein eines Dinges, mit Ausnahme der Seele anderer, des Beweises fähig" sei. „Die permanenten Möglichkeiten" seien „jedoch außer uns i n dem einzigen Sinne, um den w i r uns zu kümmern" brauchen; „sie" werden „nicht durch die Seele selbst konstruiert, sondern nur von ihr erkannt", werden „uns, u m m i t Kant zu reden, gegeben, und anderen Wesen ebenso wie uns" 5 5 . d) Das „wirkliche Außerunssein eines Dings" könne nicht bewiesen, aber es könne erkannt werden, weil es uns „durch die Seele" „gegeben" sei — damit w i r d die Kantsche Auffassung, nach der es ein „Erkennen" gibt, welches nicht auf Erfahrung beruht („Erkenntnis a priori"), von M i l l inhaltlich vollständig übernommen. Was damit auch von M i l l als Erkennen behauptet wird, kann, da es ohne einen erfahrbaren Gegenstand keinen Gegenstand hat, auf den es sich bezieht und folglich 54 55

Wentscher, Das Außenwelts- u n d das Ich-Problem bei J. St. M i l l (327). M i l l , Philosophie Hamiltons (265, Fn. 1).

Β. I. Philosophischer Positivismus als „ a h n w i s s e n s c h a f t "

93

auch keinen objektiven Inhalt hat, nichts anderes als Intuition, freies Konstruieren eines als absolut unterstellten „Subjekts" sein. e) Wenn M i l l widersprüchlich eine Ausnahme von der nach i h m nicht „des Beweises" „fähigen" „Außenwelt" annimmt, nämlich die Seele anderer, so hat dies seinen Grund darin, daß der Nachweis, daß es reale Seiende gibt, von M i l l durch seine „psychologische Theorie des Glaubens an eine Außenwelt" 5 6 ersetzt wird. Dieser „Glaube" sei darin begründet, daß es die „Idee einer äußeren Substanz" 57 , ein „Vertrauen der Menschen auf die reale Existenz sichtbarer und fühlbarer Gegenstände" gebe, das das „Vertrauen der Menschen auf die Realität und Permanenz von Gesichts- und Tastwahrnehmungen" 5 8 bedeute. Nach M i l l „erwerben" „ w i r durch einen und denselben Prozeß die Gewohnheit, die Wahrnehmungen überhaupt, wie alle unsere individuellen Wahrnehmungen als eine Wirkung zu betrachten" 6 9 . „Der Glaube an solche permanenten Möglichkeiten" scheine M i l l „alles einzuschließen, was für den Glauben an die Substanz wesentlich oder charakteristisch" sei 60 . f) Eine Lehre, die die Existenz einer „Außenwelt", die allein die Grundlage der Erfahrung sein kann, nicht nachzuweisen vermag, vermag damit nicht einmal mehr — was allerdings konsequent ist — den Inhalt sinnlicher Wahrnehmungen zu begreifen. Daß diese der Beweis für etwas außerhalb ihnen Existierendem sind, weil das Wahrgenommene notwendig vor der Wahrnehmung existieren muß, w i r d nicht anerkannt. Dennoch den Begriff „Wahrnehmung" zu verwenden, ist eine Verfälschung dieses Begriffs — weil eine „Wahrnehmung" ohne Wahrgenommenes i n Wahrheit Halluzination ist. Und i n der Tat unterscheidet die von M i l l als solche behaupteten Wahrnehmungen von Halluzinationen nichts als der Glaube, daß es sich u m Wahrnehmungen handelt — diesen Glauben besitzt aber auch jeder, der Halluzinationen hat. Sinnliche Wahrnehmungen von Hirngespinsten zu unterscheiden, ist nach dieser Auffassung folglich i n Wahrheit nicht möglich 6 1 . A n Stelle 56

M i l l , Philosophie Hamiltons (211 f.). M i l l , Philosophie Hamiltons (253). 58 M i l l , Philosophie Hamiltons (259). 59 M i l l , Philosophie Hamiltons (264). 60 M i l l , Philosophie Hamiltons (281). 61 Dem entspricht es, w e n n M i l l an anderer Stelle, Logik I (5), den Begriff „Anschauung" für „sinnliche Wahrnehmung" verwendet u n d i h n synon y m m i t „ I n t u i t i o n " gebraucht. Die gleiche K r i t i k t r i f f t auf Laas, Idealismus u n d Positivismus, 3. Bd., 1. Kap. 4. (46) zu, der den Begriff „positive T a t sachen" m i t „äußeren u n d inneren Wahrnehmungen" identifiziert. Neben der dargestellten Verfälschung des Begriffs „sinnliche Wahrnehmung" enthält diese Auffassung zugleich die Verfälschung des Begriffs „positive Tatsache", w e i l eine Tatsache n u r dann als positiv, als gegeben behauptet werden kann, w e n n sie als unabhängig v o n der sinnlichen Wahrnehmung existierend nachgewiesen w i r d , damit aber gerade nicht m i t i h r identisch sein kann. 57

94

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

des Erkennens gibt es „Ideen", die Annahme der Existenz realer Seiender beruht auf „Glauben", der „Glauben" entsteht durch die „Gewohnheit" — man „erkennt", was man „glaubt" und glaubt an das, was man zu erkennen meint — die Parallelen zur Hume'schen Lehre, i n der die „Gewohnheit" als „Führerin des Lebens" bezeichnet wird, sind offenkundig. Wie Hume übernimmt M i l l schließlich die Grundthese des Rationalismus, „cogito ergo sum": „ W i r " können „nicht zweifeln, daß w i r von dem, dessen w i r uns bewußt" seien, „auch wirklich Bewußtsein" haben. „Das, was ein Zweifel" zulasse, sei „die Offenbarung, die, wie angenommen" werde, „das Bewußtsein von einer äußerlichen Realität" gebe 62 . Die Annahme eines absolut gesetzten Ich, die daraus folgende Konsequenz, reale Seiende als nicht erkennbar zu behaupten, und sie statt dessen als Gegenstände der Metaphysik zu behandeln, die folgerichtig nicht erkannt werden, sondern die sich „offenbaren" — dies ist das Scheitern einer Lehre, die die „Forschungsmethoden der Physik" auf die anderen Wissenschaften übertragen, sie als realistische Wissenschaften begründen wollte. Daß der Begriff Realismus i m Positivismus schließlich nur durch Konstruktionen beibehalten wurde, die seine Bedeutung i n das Gegenteil verkehrten, darf nach dem Ausgeführten nicht mehr verwundern: Nach Spencer ist „der Realismus, dem w i r uns nicht mehr entziehen können," „so beschaffen, daß er objective Existenz einfach behauptet als gesondert von subjectiver Existenz und unabhängig von derselben. A l l e i n er behauptet weder, daß irgendwelche Form dieser objectiven Existenz i n Wirklichkeit das sei, als was sie uns erscheint, noch daß die Zusammenhänge zwischen ihren Formen oder Modifikationen objectiv so beschaffen seien, wie sie erscheinen. Somit unterscheidet er sich ganz vom rohen Realismus, und u m diesen Unterschied deutlich hervorzuheben, könnte man ihn wohl passend »Verklärten Realismus' nennen" 6 3 . 6. Folgerungen Der Positivismus als Wissenschafts- oder Erkenntnislehre, der philosophische Positivismus, ist weder „Tatsachenwissenschaft" noch „Gegebenheitsstandpunkt", wie er sich selbst versteht und wofür er von anderen gehalten wird. Tatsache ist ein entstandenes Seiendes oder Moment an einem Seienden. Gegeben ist die bewiesene Voraussetzung eines Erkennens 64 . 62 63 64

M i l l , Philosophie Hamiltons, 9. Kap. (184). Spencer, Principien der Psychologie, Bd. I I , §472 (511). Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (108).

Β. II. Philosophischer Positivismus als „Erfahrungswissenschaft"

95

Die auf Hume zurückgehende Identifizierung von „Vorstellungen", „Gefühlen", Empfindungen", „Ideen", „Glauben" und „Erkennen" hat zur Ineinssetzung von körperlichen und geistigen Seienden, von „Subjekt" und „Objekt", von Gegenständen und Wahrnehmung geführt. Dies hatte zur Konsequenz, daß Seiende als vor ihrer Wahrnehmung und vor jedem Denken, folglich als von beiden unabhängig existierende, reale Seiende nicht erkannt werden konnten. Ein Seiendes als entstandenes Seiendes oder Moment, eine Tatsache, gibt es damit i n Wahrheit nach positivistischer Erkenntnislehre nicht. Da es anstelle des Erkennens von Tatsachen für die positivistische Lehre nur „Empfindungen" gibt, die zugleich als „Erscheinungen" mit den angeblich „empfundenen" „Gegenständen" identisch sein sollen, konnte es weder Voraussetzungen des Erkennen noch deren Beweis, m i t h i n keine Gegebenheit geben. Der philosophische Positivismus verfügt damit über keinerlei erkenntniswissenschaftliche Grundlagen einer „Tatsachenwissenschaft". I m Gegenteil besteht seine wahre Grundlage i n der Verneinung von Tatsachen. Der philosophische Positivismus ist damit keine positive Wissenschafts- und Erkenntnislehre, sondern i n Wahrheit ist er eine Verneinung beider: Negativismus 65 . Daß er trotz inhaltlicher Verneinung die Existenz von „Tatsachen" behauptet, bedeutet, daß der Begriff „Tatsache" verfälscht wird. A n die Stelle erfahrbarer Tatsachen treten bei i h m metaphysische absolute „Tatsachen". Statt Tatsachen Wissenschaft zu sein, ist damit der philosophische Positivismus eine metaphysische Glaubenslehre an notwendig falsche Tatsachen — an „Chimären". I I . Die Lehre von der Relativität der Erkenntnis

Es gibt ein Wort Dinglers, nach dem sich „die Philosophie" „soweit i n die Resignation hineingedacht" habe, „daß sie aus dieser Resignation selbst ein philosophisches System gemacht" habe 6 6 . Zumindest auf den philosophischen Positivismus t r i f f t dieser Satz zu: er hat aus seinem Scheitern als realistischer Tatsachenwissenschaft „ein philosophisches System" dadurch „gemacht", daß bei i h m aus allen wesentlichen Gründen seines Scheiterns falsche Merkmale von als existierend behaupteten 65 Wenn Schönfeld u n d andere A u t o r e n (Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft (63) m. w . N.) den Positivismus wegen dessen Auffassung, „alle Metaphysik" sei „ v o m Übel", ebenfalls als „Negativismus" bezeichnet, geschieht dies aufgrund der verfehlten Annahme, die Metaphysik sei eine Wissenschaft u n d i n völliger Verkennung der m i t dem philosophischen Positivismus inhaltlich vertretenen Lehre. 66 Dingler, Der Zusammenbruch der Wissenschaft (144).

96

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

Gegenständen wurden. So ist ζ. B. bereits aufgezeigt worden, daß daraus, daß in der positivistischen Lehre körperliche und geistige Seiende begrifflich nicht unterschieden werden konnten, die Behauptung ihrer Identität wurde; daß in ihr „Empfindungen" und Gegenstände nicht unterschieden werden konnten und so die Existenz realer Seiender nicht bewiesen werden konnte, die Behauptung ihrer Nichtbeweisbarkeit wurde; daß daraus, daß in ihr die Begriffe „Subjektivität" und „Objektivität" nicht erkannt wurden, die Lehre der „Correlativität von Subjekt und Objekt" entstand. Diese Fehler des philosophischen Positivismus finden ihre ausdrückliche Formulierung als praktiziertes und zu praktizierendes Verfahren i n der Lehre von der „Relativität der Erkenntnis". Diese Lehre steht i n unmittelbarem Zusammenhang mit dem „positivistischen Hauptgedanken" der „Correlativität und Subjekt und Objekt" und w i r d von allen führenden Autoren des philosophischen Positivismus vertreten. 1. Zur Begründung der „Relativität der Erkenntnis" führt M i l l zunächst aus, es sei „klar, daß das, was über die Unerkennbarkeit der ,Dinge an sich4 gesagt worden" sei, „kein Hindernis für uns" biete, „ihnen Attribute und Eigenschaften" beizulegen, „vorausgesetzt, daß diese stets relativ zu uns gedacht" werden 6 7 . „Unsere Erkenntnisse" hängen „nicht allein von der Natur der zu erkennenden Dinge ab, sondern auch von denjenigen des Erkenntnisvermögens; wie unser Sehen nicht allein von dem gesehenen Gegenstand, sondern von diesem und dem Bau des Auges" abhänge 68 . Die „Erkenntnis" der „Dinge" sei „lediglich phänomenal. Der Gegenstand" sei „uns nur i n einer speziellen Relation bekannt, nämlich als das, was gewisse Eindrücke auf unsere Sinne" hervorbringe „und hervorzubringen fähig" sei. „Diese negative Bedeutung" sei „alles, was unter der Bedeutung verstanden werden" sollte, „daß w i r das Ding an sich nicht erkennen" können, „daß w i r seine innere Natur oder Wesenheit nicht erkennen" können 6 9 . Nach Laas stehen „alle Wahrnehmungsobjekte i n unauflöslicher Relation zu Wahrnehmungssubjekten und ihren Sinnesorganen und" wandeln „ m i t Veränderung der subjektiven Empfänglichkeit und Position unablässig Qualität und Intensität, wie Gestalt und Größe" 7 0 . „ W i r " vindizieren „den Wahrnehmungseinheiten, die w i r Dinge" nennen, „Eigenschaften, als ob sie jenen" inhärierten. „Aber diese Eigenschaften" seien „von percipierenden Subjekten abhängig" 7 1 . 67 88 69 70 71

M i l l , Philosophie Hamiltons (24). M i l l , Philosophie Hamiltons (26). M i l l , Philosophie Hamiltons (24). Laas, Idealismus u n d Positivismus, 3. Bd., 1. Kap., 2. (9). Laas, Idealismus u n d Positivismus, 3. Bd., 1. Kap., 2. (10).

Β. II. Philosophischer Positivismus als „Erfahrungswissenschaft"

97

Comte formuliert den Gedanken der „Relativität der Erkenntnis" wie folgt: „ A u f der einen Seite" müsse „jede positive Theorie sich auf Beobachtungen stützen, und auf der andern Seite" bedürfe „unser Geist einer Theorie, u m sich der Beobachtung hingeben zu können. Wenn w i r die Erscheinungen nicht an ein Prinzip heften" können, „so" können „ w i r unsere Beobachtungen nicht miteinander verbinden, ja, sie nicht einmal festhalten. So" fand „sich das Erkennen an seinem Beginn i n einem fehlerhaften Zirkel eingeschlossen, aus dem es nur durch die Entwicklung theologischer Begriffe herauskommen" konnte 7 2 . „Derartige Versuche" (im sog. „theologischen oder fiktiven Stadium") stellten, „so kindlich sie uns heute auch zu Recht erscheinen" mögen, „sicher das einzige einfache Mittel dar, den beständigen Aufschwung der menschlichen Forschungen zu veranlassen, indem sie unseren Intellekt aus dem zutiefst unheilvollen Zirkel von selbst befreiten, i n den er zunächst durch den radikalen Gegensatz zweier gleich unabweislicher Bedingungen notwendig verstrickt worden" sei. „Denn, wenn die Denker der Neuzeit auch verkünden" mußten, „daß es unmöglich" sei, „eine Theorie anders als durch Mithilfe geeigneter Beobachtungen zu begründen", sei „es doch nicht weniger unbestreitbar, daß der menschliche Geist niemals diese unentbehrlichen Materialien miteinander verknüpfen oder auch nur sammeln" konnte, „ohne stets von irgendwelchen vorher aufgestellten theoretischen Ansichten geleitet zu sein" 7 3 . „Die einzige wesentliche Eigenschaft des neuen philosophischen Geistes, die noch nicht unmittelbar durch das Wort positiv angegeben worden" sei, sei, „ i n seiner notwendigen Tendenz, überall das Relative an die Stelle des Absoluten zu setzen" 74 . „Nicht nur" müssen „sich unsere positiven Forschungen überall i m wesentlichen auf die systematische Beurteilung dessen, was ist, beschränken, indem sie darauf" verzichten, „seinen ersten Ursprung und seine letztliche Bestimmung zu entdecken; sondern es" sei „auch wichtig einzusehen, daß dieses Studium der Phänomene, statt irgendwie absolut werden zu können, (im Gegenteil) stets auf unsere Organisation und auf unsere Lage relativ bleiben" müsse. „Wenn man unter diesem doppelten Gesichtspunkt die notwendige Unvollkommenheit unserer verschiedenen theoretischen Mittel" erkenne, sehe „man, daß w i r , weit davon entfernt, irgendeine wirkliche Existenz vollständig erforschen zu können, keinesfalls für die Möglichkeit garantieren" können, „auch nur sehr oberflächlich alle wirklichen Existenzen, deren größter Teil uns vielleicht ganz" entgehe, „festzustell e n " 7 5 . Es sei „die tiefe Abhängigkeit zu würdigen, i n der jede positive 72 73 74 75

Comte, Comte, Comte, Comte,

7 Tripp

Soziologie, 1. Kap. (3 f.). Rede, l . T e i l , 1. Kapitel, I (13). Rede, 1. Teil, 3. Kap., I, 33 (91). Rede, 1. Teil, 1. Kap., I I I , 2, 13. (29).

98

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

Forschung durch die Gesamtheit unserer inneren wie äußeren Bedingungen gehalten" werde™. 2. Diese Ausführungen sind verfehlt. a) Erkennen ist begründet wahres Beurteilen eines Gegenstandes. Urteilen geschieht mit Begriffen, deren Inhalte Merkmale sind, die sich auf Eigenschaften und Momente an Seienden beziehen. Daß sich ζ. B. ein Artmerkmal auf wesentliche Eigenschaften eines Seienden bezieht, bedeutet, daß ein Seiendes als das einer bestimmten A r t erkannt ist. Zu sagen, ein „,Ding an sich'" sei unerkennbar, seine „Attribute oder Eigenschaften" hingegen seien es, ist danach widersinnig. b) Wenn weiter behauptet wird, daß man den „,Dingen an sich'" „Attribute und Eigenschaften" „beilegen" könne unter der Voraussetzung, „daß diese stets relativ zu uns gedacht werden", weil „unsere Erkenntnisse" „nicht allein von der Natur der zu erkennenden Dinge, sondern auch von derjenigen des Erkenntnisvermögens" abhängen, ist dies ebenfalls nicht haltbar. Zwar t r i f f t es zu, daß es keine Erkenntnis ohne „Dinge" und ohne ein erkennendes Subjekt gibt, das einen Begriff, der auf einen bestimmten Gegenstand bezogen ist, denkt. Ein Begriff entsteht und existiert nur i m Gehirnzentrum eines Menschen; der Gegenstand, sofern er nicht i m Gehirnzentrum selbst enthalten ist, existiert außerhalb davon. Daß beim Erkennen ein Begriff und folglich ein Mensch, der diesen Begriff denkt, sowie ein Gegenstand existieren müssen, daß ein Erkennen vom Existieren beider abhängt, kann folglich nicht bestritten werden, ohne das Erkennen zu verneinen. Das meint aber die positivistische Erkenntnislehre i n den zitierten Ausführungen nicht. Sondern i n ihr w i r d die Auffassung vertreten, daß der Inhalt „unserer Erkenntnisse" nicht allein durch den Erkenntnisgegenstand (bei Laas: „Wahrnehmungsobjekt"), sondern auch durch das erkennende Subjekt (bei Laas: „Wahrnehmungssubjekt") bedingt sei. Behauptet w i r d damit, daß das Erkennen sowohl gegenstandsbedingt als auch ichbedingt sei. Dies ist allein deshalb unhaltbar, weil es ein Erkennen, das nicht allein vom Gegenstand der Erkenntnis abhängt und deshalb objektiv ist, nicht gibt. Von einem „Erkennen", das auch als vom „Erkenntnisvermögen" und damit von einem „erkennenden Subjekt" „abhängig" angenommen wird, kann nicht behauptet werden, daß es dem Gegenstand entspricht, auf den es sich bezieht. Entspricht aber eine „Erkenntnis" nicht dem Gegenstand, auf den sie Bezug nimmt, handelt es sich dabei nicht u m wahres Urteilen und folglich nicht u m Erkennen.

76

Comte, Rede, 1. Teil, 1. Kap., I I I , 2, 13. (31).

Β. II. Philosophischer Positivismus als „Erfahrungswissenschaft"

99

c) Nach der zitierten Auffassung Comtes bedingt die Beobachtung die Theorie und zugleich die Theorie die Beobachtung. aa) Daß die „Theorie", d.h. wissenschaftliches Erkennen, eine Beobachtung, d. h. eine sinnliche Wahrnehmung, bedingt, ist ausgeschlossen. Eine sinnliche Wahrnehmung ist die Entstehung einer einem lichen Seienden inhaltlich gleichenden Erscheinung i n einem zentrum infolge Einwirkung dieses körperlichen Seienden auf Erregung dieser Nerven und Weiterleitung dieser Erregung Gehirnzentrum 7 7 .

körperGehirnNerven, an das

Eine Beobachtung hängt damit allein vom Existieren eines körperlichen Seienden und von der Einwirkung dieses Seienden auf Nerven als Bestandteilen von menschlichen Sinnesorganen ab. Der ganze Vorgang einer sinnlichen Wahrnehmung bis h i n zur und einschließlich der Entstehung einer dem körperlichen Seienden gleichenden Erscheinung i m Gehirnzentrum eines Menschen ist ein ausschließlich körperliches Geschehen. Da eine wissenschaftliche Theorie aus wissenschaftlichen Erkenntnissen besteht und Erkennen mit Begriffen geschieht, diese Begriffe geistige Seiende sind und eine sinnliche Wahrnehmung keine geistigen Elemente enthält, ist es begrifflich und sachlich ausgeschlossen, daß eine Beobachtung durch eine Theorie bedingt ist. W i r d das Gegenteil hiervon vertreten, handelt es sich u m eine Verfälschung des Begriffs sinnliche Wahrnehmung. Es enstehen damit scheinbar die Möglichkeiten, daß der Inhalt einer sinnlichen Wahrnehmung nach Maßgabe einer „Theorie" entweder als solcher akzeptiert, verneint oder ein nicht vorhandener derartiger Inhalt w i l l k ü r l i c h als existierend behauptet wird. bb) Diese Konsequenz ergibt sich auch aus folgendem. Nach der Auffassung Comtes, nach der die Beobachtung die Theorie und die Theorie die Beobachtung bedingt, w i r d die Beobachtung als Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie damit als solche zugleich behauptet und verneint. Daß sich danach das wissenschaftliche Erkennen auf „beobachtete Tatsachen" stützen muß, die von eben diesen „wirklichen Kenntnissen" abhängen, heißt, daß das wissenschaftliche Erkennen m i t telbar durch sich selbst bedingt ist. Damit w i r d das Gegenteil von dem behauptet, was der formulierte Ausgangspunkt der Comteschen Philosophie war, daß sich „jede wissenschaftliche Erkenntnis auf beobachtete Tatsachen stützen" müsse. Die Behauptung der Abhängigkeit des Denkens von sich selbst setzt den Denkenden, damit das Ich, absolut; folglich gibt es keine Objektivität des wissenschaftlichen Denkens, die darin besteht, daß es ausschließlich gegenstandsbedingt, damit gerade nicht ichhaft geschieht. 77

*

Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26).

10Ö

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 10. Jahrhunderts

cc) Comte erkennt diese von i h m behauptete wechselseitige Abhängikeit als „fehlerhaften Zirkel", behauptet ihn aber gleichzeitig als ein für die Wissenschaft notwendigen 7 8 — so, als gäbe es wissenschaftliches Erkennen oder eine Wissenschaft, die auf einer widersprüchlichen Grundlage beruht. Wenn weiter von Comte gesagt wird, daß das „Erkennen" aus diesem „fehlerhaften Zirkel" „nur durch die Entwicklung theologischer Begriffe herauskommen" konnte, werden Theologie und entsprechend die Metaphysik mit (wenn auch mangelhafter) Wissenschaft identifiziert und außerdem behauptet, daß die „Entwicklung theologischer Begriffe" eine notwendige Voraussetzung der heutigen („positivistischen") Wissenschaft gewesen sei. dd) Weder sind theologische (bzw. metaphysische) „Begriffe" als solche, deren Inhalt absolut ist, Erkennen, noch folgt aus theologischen Aussagen jemals ein solches. Wenn aus dem Glauben an eine Sache ein Wissen über die Sache wird, dann liegt das nicht darin begründet, daß man vorher einen entsprechenden Glauben gehabt hat, sondern daß an die Stelle des Glaubens Erkennen getreten ist, indem ein Mensch einen Entschluß gefaßt hat, nicht mehr glauben, sondern wissen zu wollen und die diesem Zweck entsprechenden Tätigkeiten, insbes. Denktätigkeiten, vorgenommen hat. Hinzu kommt, daß Gegenstände der Religion bzw. der Metaphysik absolute Gegenstände sind. Während Metaphysik die allgemeine Lehre vom Überweltlichen ist, ist Religion Glaube an ein bestimmtes überweltliches Wesen oder an mehrere zueinander gehörende überweltliche Wesen 79 . Derartige absolute Gegenstände sind nicht erfahrbar und nicht erkennbar 8 0 , sich auf diese beziehende Begriffe gibt es wegen deren notwendiger Gegenstandsbedingtheit und inhaltlichen Begrenztheit nicht. Ein „Erkennen", das auf „theologischen Begriffen" beruht, gibt es daher nicht. W i r d das Gegenteil behauptet, w i r d damit die Voraussetzungslosigkeit des Erkennens als dessen Freiheit von nicht bewiesenen Voraussetzungen, insbesondere absoluten Voraussetzungen, verneint. Auf „theologischen Begriffen" beruht gemäß dem Inhalt dieser Begriffe nur ein religiöser Glaube 8 1 . W i r d Erkennen mit Glauben in78

Comte, Soziologie (4). Vgl. dazu ausführlich Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (41). 80 Siehe o. S. 32 f. 81 „Vermittelnde Begriffe", „die durch ihren bastardartigen Charakter den Ubergang" von der Religion u n d Metaphysik zur positiven Wissenschaft „erleichtern konnten", so Comte, Soziologie, 1. Kap. (5), gibt es nicht, w e i l ein Begriff nicht zugleich gegenstandsbedingt u n d nichtgegenstandsbedingt, realistisch und spekulativ, absolut u n d nichtabsolut sein kann. Aus diesen Gründen existiert insbes. das „Dreistadiengesetz" Comtes nicht, nach dem es „ i n der Natur des menschlichen Geistes" „begründet" sei, „daß jeder Zweig 79

Β. II. Philosophischer Positivismus als „Erfahrungswissenschaft"

101

einsgesetzt, w i r d damit nicht nur das Erkennen, sondern auch der religiöse Glaube verneint 8 " 2 . ee) Aus dem von Comte behaupteten „zutiefst unheilvollen Zirkel", i n den „unser Intellekt" „durch den radikalen Gegensatz zweier gleich unabweislicher Bedingungen notwendig verstrickt worden" sei, gibt es i n Wahrheit keine „Befreiung" 3 2 , sondern als Konsequenz nur die Leugnung dessen, daß die sinnliche Wahrnehmung als Erfahrung (mittelbar oder unmittelbar) die alleinige Grundlage wissenschaftlichen Erkennens ist. Die vor der Beobachtung oder Erfahrung „aufgestellten theoretischen Ansichten" können als nicht erfahrungsbedingte nur spekulativ sein. d) Wenn zur Begründung der notwendigen „Relativität der Erkenntnis" angeführt wird, daß alle „Wahrnehmungsobjekte" „mit Veränderung der subjektiven Empfänglichkeit und Position unablässig Qualität und Intensität, wie Gestalt und Größe" wandeln, ist dazu folgendes zu bemerken: aa) Es ist unbestreitbar, daß ein Mensch einen Baum aus größerer Entfernung anders wahrnimmt als wenn er ζ. B. direkt vor i h m steht. Daß deshalb sich irgendeine Eigenschaft des Baumes ändern würde, je nachdem ein Mensch nähere oder fernere Position zu dem Baum einnimmt, t r i f f t nicht zu. Glaubte dies jemand ernsthaft, bestünde ein möglicher Gegenbeweis darin, den Baum durch einen zweiten Menschen messen und dem „Wahrnehmungssubjekt" jeweils mitteilen zu lassen, ob sich an der „Qualität und Intensität", an „Gestalt und Größe" des Baumes m i t „Veränderung der subjektiven Empfänglichkeit und Position" irgendetwas geändert habe. des Wissens notwendig drei aufeinanderfolgende Stadien zu durchlaufen" habe: „das theologische oder fiktive, das metaphysische oder abstrakte u n d das wissenschaftliche oder positive Stadium" (zit. nach Fetscher, Einleitung, X X I V f.); nach Fetschers Ansicht hat Comte die „Eigenbedeutung v o n Theologie u n d Metaphysik" „nicht erkannt, sondern n u r das i n ihnen, was als V o r stufe der positiv-wissenschaftlichen Erkenntnis angesehen werden kann". Daß Comte die „Eigenbedeutung von Theologie u n d Metaphysik" nicht erkannt hat, t r i f f t zu. 82 Dies verkennt auch Kempski, Z u m Selbstverständnis des Positivismus, in: Positivismus i m 19. Jahrhundert (17), w e n n er zur Unterstützung Comtes ausführt: „ A b e r wie krude die theologischen oder die metaphysischen Begriffe auch zunächst sein mochten, so ermöglichten sie es dem Menschen, zusammenhängende Beobachtungen zu machen u n d zu beginnen, diese zu analysieren, so daß i h m unter der Hand positive Begriffe u n d Theorien i m Sinne der neuzeitlichen Wissenschaft zuwuchsen u n d die Erkenntnis der Nat u r damit auf eine Bahn gebracht wurde, auf der sich zielstrebig fortschreiten ließ". — Die sich hier stellende entscheidende Frage, wie es denn begründbar ist, daß „krude" „theologische" oder „metaphysische Begriffe" Bedingung für „positive Begriffe u n d Theorien" seien, umgeht Kempski offenbar bewußt, indem er sie als „unter der Hand" „zugewachsen" bezeichnet. So aber k a n n eine Erkenntnis v o n Begriffen oder die Erstellung einer Theorie nicht bestimmt werden.

102

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

bb) Jeder Mensch lernt durch Erfahrung, daß, wenn er einen Baum von bestimmter Größe aus der Entfernung anders wahrnimmt als aus der Nähe, dies nicht daran liegt, daß der Baum seine Eigenschaften geändert hat, sondern daß es gleiche Eigenschaften sind, die man verschieden wahrnimmt. Je nach der Entfernung zum Gegenstand vermag er m i t einiger Übung mehr oder weniger exakt die tatsächliche Größe dieses Gegenstandes zu schätzen. Die Relation oder Stellung zum Gegenstand, die er dabei zu berücksichtigen hat, läßt i h n damit die tatsächlichen Eigenschaften eines Gegenstandes bestimmen. Der von Laas angeführte „Beleg" für die „Relativität der Erkenntnis" beweist damit das genaue Gegenteil dessen, was m i t i h m belegt werden sollte: von den Wahrnehmungen eines Gegenstandes vermag ein Mensch unter Berücksichtigung seiner Stellung zum Gegenstand dessen tatsächliche Eigenschaften zu erschließen. Nicht aber setzt er seine Wahrnehmungen mit den Eigenschaften des Gegenstandes identisch — genau dies w i r d aber mit der Lehre der „Relativität der Erkenntnis", die sich als Konsequenz der ebenso verfehlten Lehre der „Correlativität von Subjekt und Objekt" erweist, unterstellt. e) Die Lehre von der „Relativität der Erkenntnis" und die darin enthaltene Auffassung, die „Eigenschaften der Dinge" seien „von den percipierenden Subjekten abhängig", hat i n Wahrheit den widersinnigen Inhalt, die Möglichkeit der Erkenntnis als relative — und damit, wie ausgeführt — gleichzeitig die Unmöglichkeit der Erkenntnis zu behaupten. Anders formuliert: der Satz, „die Erkenntnis ist relativ", enthält das Urteil, daß es Erkennen gibt; der i n diesem Urteil enthaltene Prädikatsbegriff („relativ") schließt dieses gleichzeitig aus, da eine „relative" Erkenntnis keine Erkenntnis ist. M i t der gegenteiligen Auffassung w i r d die Unmöglichkeit des Erkennens als Eigenschaft des Erkennens behauptet: dies ist das „positivistische" Verfahren, aus der „Resignation" ein „philosophisches System" zu machen. f) Die Aussagen, die „Erkenntnis" der „Dinge" sei „lediglieli phänomenal", „der Gegenstand" sei „uns nur i n einer speziellen Relation bekannt", Erkennen sei „Studium der Phänomene", „unsere verschiedenen theoretischen Mittel" seien „unvollkommen", „ w i r " seien „weit davon entfernt, irgendeine wirkliche Existenz vollständig erforschen zu können", der „größte Teil" der „wirklichen Existenzen" entgehe „uns vielleicht ganz", sind verschiedene Formulierungen der Auffassung, daß das Erkennen dem Erkenntnisgegenstand nicht oder teilweise entspreche bzw. entsprechen könne. Der damit ausgesprochene „Vergleich" zwischen Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisfähigkeit ist jedoch verfehlt. Denn die Aussagen, der Gegenstand sei verschieden von dem, als was er erkannt werde bzw. erkannt werden könne, seine „wirkliche

Β. II. Philosophischer Positivismus als „Erfahrungswissenschaft"

103

Existenz" werde nicht erkannt, w i r seien „weit davon entfernt", sie erforschen zu können, unterstellen ein Wissen über den Gegenstand, eine Erkenntnis seiner „wirklichen Existenz", die über die Erkenntnis und sogar jede mögliche Erkenntnis des Gegenstandes hinausgehen — was offensichtlich widersprüchlich ist. Eine „Erkenntnis", die über die Erkenntnisse und die Erkennbarkeit der Gegenstände hinausgeht, ein „Wissen", das es jenseits des Wissens geben soll, ist i n Wahrheit eine „Erkenntnis" bzw. ein „Wissen", das weder auf Erkennen noch auf Wissen beruht, das damit auch notwendig jenseits aller Erfahrung „existiert": es handelt sich dabei folglich u m ein metaphysisches „Wissen" und u m metaphysische „Erkenntnisse". Die Lehre von der „Relativität der Erkenntnis" beruht damit auf dem Gegenteil des mit ihr dem Wortlaut nach Ausgesagten, nämlich auf absolutem Glauben. g) Dieser grundlegende Widerspruch der Lehre von der „Relativität der Erkenntnis" ist darauf zurückzuführen, daß i n der positivistischen Philosophie widersinnig die Existenz unerkennbarer „Dinge an sich" i m Sinn der Philosophie Kants behauptet wird. I n der Lehre von der „Relativität der Erkenntnis" werden die Begriffe „wirkliche Existenzen" und „Gegenstände" m i t dem Wort „Ding an sich" ineinsgesetzt. Da unter „wirklichen Existenzen" und „Gegenständen" die Seienden verstanden werden, w i r d damit i n Bezug auf diese die absolute Aussage getroffen, sie seien „Dinge an sich" und deshalb unerkennbar. Damit w i r d mit dem Satz, „daß w i r das Ding an sich nicht erkennen" können, der dem Wortlaut nach gegen jedes spekulative Denken i n der Wissenschaft gerichtet ist und den philosophischen Positivismus als realistische Wissenschaft auszuweisen scheint, genau die dem entgegengesetzte Bedeutung ausgedrückt. Weil er auf der Grundlage formuliert wird, daß die Seienden „unerkennbare" „Dinge an sich" seien, enthält er damit i n Bezug auf Seiende absolute Aussagen, ist also falsche Metaphysik. Statt metaphysische Aussagen „aus der Wissenschaft zu verbannen" 8 3 , gelangt er selbst zu spekulativen Urteilen, mit denen er der Sache nach das wissenschaftliche Erkennen aus der Wissenschaft verbannt. I n Umkehrung seiner i m Ausgangspunkt und i n seinem Selbstverständnis gegebenen radikalen Gegnerschaft gegen die falsche Metaphysik w i r d i m Ergebnis infolge der dargestellten fehlerhaften wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Grundlagen, die den philosophischen Positivismus zur Übernahme idealistischer Anschauungen verleiten, ein schwerer Schlag gegen die Wissenschaft überhaupt geführt. h) Wieweit sich der philosophische Positivismus i n seiner Verneinung bzw. Verunmöglichung wissenschaftlichen Erkennens verfangen 88

Vgl. Larenz, Methodenlehre (39).

104

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

hat, zeigen insbesondere zwei weitere, die Entstehung einer emprischen Wissenschaft hindernde Auffassungen: die Verneinung von Wesenserkenntnissen und die Ablehnung der Ontologie als Wissenschaft. Daß beides für den philosophischen Positivismus miteinander verknüpft ist, zeigt ein Zitat von M i l l : „Diejenigen aber, welche die Ontologie noch immer als eine mögliche Wissenschaft" betrachten, „und nicht allein" glauben, „daß die Körper eine ihnen eigene und tiefer als unsere Wahrnehmungen liegende essentielle Beschaffenheit" haben, „sondern auch, daß diese Essenz oder Natur der menschlichen Forschung zugänglich" sei, können „nicht erwarten, hier widerlegt zu werden. Die Frage" sei „von den Gesetzen der intuitiven Erkenntnis abhängig und" gehöre „nicht i n den Bereich der L o g i k " 8 4 . aa) Wesen (Essenz, Substanz) sind die wesentlichen Eigenschaften eines Seienden 85 . Eine Eigenschaft ist eine ihrem Inhalt nach dauernde Beständigkeit. Wesentlich sind die für das Existieren eines Seienden einer Gattung oder A r t notwendigen Eigenschaften i m Unterschied zu den nicht wesentlichen (akzidentiellen, zufälligen) Eigenschaften, Zuständen und Geschehen. M i t dem Enden wesentlicher Eigenschaften endet das Seiende daher notwendig selbst 86 . Das Wesen eines Seienden hat mit metaphysischen „Wesenheiten", deren Behauptung i n der scholastischen und idealistischen Philosophie auf die platonische und aristotelische Metaphysik zurückgeht, nichts zu tun. Die Vermengung von Wesen und „Wesenheiten" i n der positivistischen Lehre als Konsequenz davon, daß die Seienden als „Dinge an sich" behauptet werden, führt dazu, daß die „Untersuchungen über die Wesensursachen" 87 , die Erforschung der „essentiellen Beschaffenheit" „der K ö r p e r " 8 8 , die Erkenntnis des „Wesens der erfahrbaren Tatsachen und ihrer Gesetze" 89 abgelehnt werden. Da den wesentlichen Eigenschaften die Merkmale eines sich auf das Seiende beziehenden Gattungs- oder Artbegriffs entsprechen, ist die Ablehnung von Wesenserkenntnissen ein weiterer wichtiger Grund dafür, daß die Bildung von sich auf die Seienden beziehenden abstrakten Allgemeinbegriffen selbst für Metaphysik gehalten und daher abgelehnt wird* 0 . * 4 M i l l , Logik, 1. Bd., l . B u c h , 3. Kap., §8 (74). 85 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (69, 78). 86 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (69). 87 So Comte, Soziologie, 17. Kap. (504). 88 So M i l l , Logik, 1. Bd. 1. Buch, 3. Kap., § 8 (74). 89 So Laas, Idealismus u n d Positivismus, Bd. I I I , 2. Kap., 30. (687 f.), wo er die Begriffe „Wesen der erfahrbaren Tatsachen u n d ihrer Gesetze" u n d „absolutes Sein" fehlerhaft ineinssetzt.

Β. II. Philosophischer Positivismus als „Erfahrungswissenschaft"

105

Weil es ohne Begriffe kein Denken, folglich kein Erkennen und keine Wissenschaft gibt, stellt die Verneinung von Begriffen i n einer „Erkenntnislehre" eine weitere antiwissenschaftliche contradictio i n adjecto dar. bb) Wie bei M i l l bereits ausgeführt, hängt mit der Verneinung von Wesenserkenntnissen und daraus folgend der von Allgemeinbegriffen die Verneinung der Ontologie als Wissenschaft zusammen 91 . Die daraus folgende Konsequenz für die SpezialWissenschaften war, daß diese aufgrund der Verwerfung der Ontologie ihre Gegenstände nicht vollständig definieren, folglich nicht vollständig erkennen konnte 9 2 . Ontologie ist die Wissenschaft von den Seienden als Seienden oder die Wissenschaft vom Sein der Seienden 93 . Ohne die Erkenntnis des Begriffs Seiendes (Sein) ist kein Begriff vollständig definierbar. Dies folgt daraus, daß i n jedem Begriff als allgemeinstes Merkmal das Merkmal Seiendes (Sein) enthalten ist 9 4 . Hinzu kommt, daß der Begriff des Gegenstandes einer SpezialWissenschaft notwendig ein Gattungsmerkmal enthält, das allgemeiner ist als dieser Begriff. U m ihren Gegenstand zu definieren und damit zu erkennen, ist daher jede Speziai Wissenschaft auf Erkenntnisse einer allgemeinen Wissenschaft angewiesen. Begriffe, die wegen ihrer Allgemeinheit, wie dies z. B. bei den Begriffen Seiendes, Gesetz, Bedingung der Fall ist, von keiner Spezialwissenschaft erkannt werden können, sind die, die sich auf Gegenstände der Ontologie beziehen. Solange die Ontologie als Wissenschaft verworfen wurde, konnte insbes. der Begriff Tatsache nicht erkannt werden, weil der Gattungsbegriff des Begriffs entstandenes Seiendes, nämlich der Begriff Seiendes, ein Gegenstand der Ontologie ist. i) Wenn der Sache nach i n der Lehre von der „Relativität der Erkenntnis" die Auffassung vertreten wird, daß es ein Merkmal des Be90 So geschieht es z. B., w e n n Comte, Rede, 1. Teil, 1. Kap., I I (17 ff.) das „Stadium der Metaphysik" als das „metaphysische oder abstrakte" „Stadium" bezeichnet; wo die Verwerfung abstrakter Begriffe nicht ausdrücklich stattfand, wurde der Begriff „Abstraktion" als ein „ H a u p t m i t t e l " , „Vorstellungen zu machen", so Laas, zit. n. K o h n (55), bezeichnet u n d folglich verfehlt. 91 Vgl. insbes. auch Comte, Rede, 1. Teil, I I (19), nach dem der „Gebrauch" von „Wesenheiten oder personifizierten Abstraktionen" i n der Metaphysik es „erlaubte", „sie m i t dem Namen Ontologie zu bezeichnen". A n anderer Stelle, Systeme, Band I I I (38), zit. nach Fetscher in: Comte, Rede, A n m . 7 zum 1. T e i l (227), behauptet Comte: „ A u f ihre Weise" sei „die Ontologie nicht weniger allgemein w i e die Theologie, aus welcher sie" hervorgehe. 92 Z u m methodischen Erfordernis wissenschaftlichen Erkennens durch Definieren der Begriffe einer Wissenschaft sowie zur Definitionsmethode vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (31 f.). 93 Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (39). 94 Vgl. Wolf, BGB Allg. T., § 1 A I I a 1 (1).

106

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 19. Jahrhunderts

griffs Erkennen sei, daß dieses nicht objektiv sei; daß es ein Merkmal der Seienden sei, daß sie „Dinge an sich" und folglich „unerkennbar" seien, aber dennoch erkannt werden könnten; wenn mit der Ablehnung von Wesenserkenntnissen und der Ontologie als Wissenschaft der Begründung einer „empirischen" Erkenntnislehre weitere wesentliche Grundlagen entzogen werden, dann bleibt als das behauptete „Studium der Phänomene" nur übrig: das angeblich erkennende Subjekt kann nach dieser Lehre w i l l k ü r l i c h darüber entscheiden, was es als „Eigenschaften" und „Attribute" der „Dinge" anerkennen w i l l . Wenn die „Eigenschaften" der „Dinge" als „von percipierenden Subjekten abhängig" behauptet werden; wenn als Erkennen das „Beilegen" von „Attributen und Eigenschaften" ausgegeben wird; wenn den „Wahrnehmungseinheiten" „Eigenschaften" „vindiziert" werden, „als ob (Unterste von mir, D. T.) sie jenen" „inhärierten" ; wenn die „Würdigung" der „tiefen Abhängigkeiten, i n der die positive Forschung durch die Gesamtheit unserer inneren wie äußeren Bedingungen gehalten" werde, gefordert wird, so ist dies nur eine Auswahl der zahlreichen Formulierungen, i n der nicht die Gegenstände, die „Dinge", das Maß der menschlichen Erkenntnis sind, weil sie diese bedingen, sondern umgekehrt der Mensch zum Maß aller Dinge w i r d 9 5 . M i t objektiver Erkenntnis oder einem „mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken" 9 6 hat das alles nichts mehr zu tun. C. Der philosophische Positivismus als „Gesetzes Wissenschaft" I. Dem Wort „Gesetz" w i r d i m philosophischen Positivismus eine hohe Wissenschafts- und erkenntnistheoretische Bedeutung zugemessen. Wie bereits erwähnt, vertritt Comte die Auffassung, daß „die Wissenschaft" „aus Gesetzen", die er auch als „allgemeine Tatsachen" 97 bezeichnet, bestehe; er nimmt sogar für sich i n Anspruch, mit dieser A n sicht „die Systeme beseitigt" zu haben, „welche die Wissenschaft auf eine Anhäufung unzusammenhängender Tatsachen bringen" wollen 9 8 . 85 Den Zusammenhang der Grundthesen „Wahrnehmung ist subjektive Vorstellung"; „das Wahrnehmungsobjekt ist Erscheinung"; „ w a h r ist, was j e dem jedesmal erscheint" u n d „Maß ist der Mensch" gibt es schon bei Protagoras; Laas (Idealismus u n d Positivismus, 1. Bd., 1. Buch, 2. (28 f.)) zitiert Protagoras als Vorläufer des philosophischen Positivismus zustimmend. 96 Vgl. dagegen Windelb and/Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der P h i losophie, § 45 (561), die nicht bezweifeln, daß der philosophische Positivismus ein solches „mathematisch-naturwissenschaftliches Denken" wissenschaftlich v e r t r i t t , sondern sich kritisch allein zu dem „universalistischen Anspruch" des Positivismus hinsichtlich dieses Denkens äußern. 97 Vgl. Comte, Rede, 1. Teil, 1. Kap., I I I 1. (27 ff.); s. dazu auch die Hinweise bei Windelband/Heimsoeth, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, §45 (561).

98

Comte, Soziologie (463).

. Philosophischer Positivismus als „ s w i s s e n s c h a f t "

107

Der „wahre positive Geist" bestehe „darin, zu sehen u m vorauszusehen" 99 . Der Ausdruck „à voir pour prévoir" bzw. „savoir pour prév o i r " 1 0 0 wurde zu einem Hauptschlagwort der positivistischen Philosophie. Anhand der Ausführungen Comtes und Mills, auf den sich Comte gerade i m Zusammenhang m i t seinen Darlegungen zur Wendung „à voir pour prévoir" b e r u f t 1 0 1 , ist i m folgenden zu klären, inwieweit es zutrifft, daß der Positivismus m i t seinem Bekenntnis zum wissenschaftlichen Erkennen von Gesetzen sich vom „Empirismus" Humes „entfernt" h a t , 1 0 2 ob er tatsächlich „Gesetzeswissenschaft" ist. II. Daß der philosophische Positivismus keine Gesetzeswissenschaft begründen konnte, ergibt sich bereits aus folgendem: Ein Gesetz ist nach der hier zugrundegelegten empirischen Ontologie ein erkenntnismethodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Notwendigkeitszusammenhänge einer bestimmten A r t , ζ. B. über Kausalzusammenhänge. Ein Beweis ist die Darlegung des Erkennens, i n dem die Wahrheit eines Urteils begründet ist. Eine Erkenntnismethode ist ein Verfahren, also eine Ordnung von Handlungen gemäß den Bedingungen der Herbeiführung eine Erfolgs, das den Bedingungen des Erkennens eines Gegenstands bestimmter A r t entspricht. Ein Kausalgesetz ist ein Gesetz des Notwendigkeitszusammenhangs zwischen Wirkungen einer A r t und deren Ursachen 103 . I n der positivistischen „Wissenschafts- und Erkenntnislehre" gibt es keine Tatsachen und keine Seienden, folglich keine realen Gegenstände der Erkenntnis, wie dargelegt wurde. Statt Wesenserkenntnissen gibt es ein metaphysisches Glauben an „Phänomene" bzw. „Erscheinungen", ein Glauben an w i l l k ü r l i c h behauptbare „Eigenschaften" bzw. „ A t t r i bute" der Dinge. Die Objektivität der Erkenntnis w i r d verneint, m i t ihr entfällt die alleinige Bedingtheit eines Urteils durch einen oder mehrere Gegenstände, auf die es sich bezieht, gibt es folglich keine Wahrheit und keine Möglichkeit eines Beweises, gibt es auch keine Objektivität der Erkenntnismethode. Es kann damit keine erkenntnis99

Comte, Rede, 1. Teil, 1. Kap., I I I . 3. (34 f.). Comte, Soziologie (407); vgl. dazu die A n m e r k u n g 271 v o n Blaschke, der „savoir pour prévoir" als Grundidee der Wissenschaftslehre Comtes bezeichnet. 101 Vgl. Comte, Rede, 1. Teil, 1. Kap., I I I , 3. (35, Fn.). 102 Vgl. Comte, Rede, 1. Teil, 1. Kap., I I I , 3. (33). 103 Z u den Definitionen vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (35); ders., B G B A l l g . T., § l A V I b l 4 (27 f.). Z u Kausalgesetzen i. S. d. modernen Wissenschaftstheorie vgl. Kutschera, Wissenschaftstheorie I I (348 ff.) m. w. N. 100

108

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

methodisch bewiesenen allgemeinen Urteile über Notwendigkeitszusammenhänge, keine Gesetze geben. Zwar ist es der Wortbedeutung nach zutreffend, wenn Comte ausführt, daß „ i n den Gesetzen der Erscheinungen" („les lois des phénomènes") „ i n Wirklichkeit die Wissenschaft" bestehe, „der die eigentlichen Tatsachen, so exakt und zahlreich sie auch sein" mögen, „stets nur die unentbehrlichen Rohstoffe" liefern 1 0 4 . Für wissenschaftliches Erkennen als nach Gesetzen oder gesetzesähnlichen Regeln methodisch beweisendem Erkennen ist „Sammeln" von „Tatsachen" nur eine notwendige Vorbereitung hierzu. Berücksichtigt man jedoch die Bedeutungen, m i t denen die Worte Tatsachen und Erscheinungen i m philosophischen Positivismus verknüpft sind, ist dieses Zitat ein weiterer Beleg dafür, daß es eine Gesetzeserkenntnis i m Positivismus nicht geben konnte. Denn wenn die „Tatsachen" als ichhaft gesetzt aufgefaßt werden, wenn es außerdem die „Erscheinungen" nicht gibt, weil das ihnen zugrundeliegende „Ding an sich" nicht existiert, gibt es auch keine „Gesetze" dieser „Erscheinungen", die i n den auf der Verabsolutierung des Ich beruhenden „Tatsachen" angeblich gründen. III. Was i m philosophischen Positivismus zu Gesetzen bzw. Erkennen von Gesetzen ausgeführt wird, entspricht ein weiteres Mal der Lehre, von der dieser Positivismus auch i n Hinsicht seines Tatsachenverständnisses die wesentlichen Grundlagen übernommen hat, der Lehre Humes. 1. So w i r d Humes Lehre von den „Ideenassoziationen" i n der Lehre Mills wiederholt, wenn er als „Grundlage aller Gesetzmäßigkeit" „folgendes Gesetz unserer N a t u r " 1 0 5 behauptet: „Wenn w i r i m Laufe langer Erfahrung häufig eine besondere Wahrnehmung oder einen besonderen geistigen Eindruck gehabt" haben, „und dies nie ohne eine bestimmte andere Wahrnehmung oder einen anderen Eindruck, der jene unmittelbar" begleite, „so" entstehe „zwischen unseren Ideen jener beiden Wahrnehmungen eine so feste Verbindung, daß w i r unfähig" seien, „an die erste zu denken, ohne i m engen Zusammenhang mit ihr an die zweite zu denken" 1 0 6 . „ W i r " erkennen „eine feste Ordnung i n unseren Wahrnehmungen", „eine Ordnung der Aufeinanderfolge, die, wenn sie durch Beobachtung ermittelt" sei, „den Ideen von Ursache und Wirkung den Ursprung" gebe, „entsprechend demjenigen, was ich für die richtige Theorie dieser Relation" halte, „und was i n jeder Theorie die Quelle aller unserer Erkenntnis der Ursachen und Wirkungen" sei, 104

Comte, Rede, l . T e i l , l . K a p . , 3. (33 ff.). los Vgl. Finkelstein, Comte u n d M i l l (21). 106

M i l l , Philosophie Hamiltons, 6. Kap. (97).

C. Philosophischer Positivismus als „Gesetzeswissenschaft"

109

„die sie" hervorrufen. „Von welcher Natur nun" sei „die feste Ordnung i n unseren Wahrnehmungen? Es" sei „eine Beständigkeit von Antecedenz und Konsequenz" 1 0 7 . Comte definiert entsprechend Gesetze als „konstante zwischen den Erscheinungen" 1 0 8 .

Relationen

2. Wie die erfahrbaren „Tatsachen" mit „Erscheinungen", diese wiederum m i t „Gefühl" und „Bewußtsein" identifiziert wurden und folglich keine Entsprechung zwischen den behaupteten „Bewußtseinsinhalten" und den „Gegenständen" nachgewiesen werden konnte, so kann auch i n Bezug auf reale Zusammenhänge zwischen Seienden nicht dargelegt werden, daß sie existieren. Daß die „Beständigkeit von Antecedenz und Konsequenz" der „Ursprung" der „Ideen von Ursache und Wirkung" sei, ist eine psychologische Scheinerklärung für die Annahme, daß ein Kausalverhältnis vorliege, weil ein sachlicher Grund hierfür nicht angegeben w i r d und auch nicht angegeben werden kann, weil es ihn den Voraussetzungen nach nicht gibt. Diese psychologische „Erklärung" ist ihrem Inhalt nach nichts anderes als die Übernahme des Hume'schen Glaubenssatzes: Post hoc, ergo propter hoc 1 0 9 . Wenn M i l l den Versuch unternimmt, sich von dieser Lehre zu unterscheiden, indem er zugesteht, es gebe „Sequenzen, die i n der vergangenen Erfahrung so gleichförmig" seien, „als nur irgend andere, und die w i r doch nicht als Fälle der Verursachung, sondern als gewissermaßen zufällige Verbindungen (Conjunktionen)" ansehen „wie i n dem Falle von Tag und Nacht", und den Schluß hieraus zieht: „Unveränderliche Sequenz" sei „daher nicht synonym mit Ursache, wenn die Folge nicht auch unbedingt" sei, so verwickelt er sich damit nur i n weitere Widersprüche 1 1 0 . Denn entweder entstehen die „Ideen von Ursache und Wirkung" durch „eine feste Ordnung in unseren Wahrnehmungen", dann folgt daraus notwendig, daß, solange man die Nacht auf den Tag folgen sieht, daraus die „Idee von Ursache und Wirkung" „entstehen" muß. Oder es gibt die Erkenntnis, daß jede „unveränderliche" Folge nicht dadurch schon eine „unbedingte" Folge sei. Dann w i r d damit ausgesagt, daß der Inhalt des realen Zusammenhangs, der untersucht wird, als ein Notwendigkeitszusammenhang ζ. B. von Ursache und W i r kung erkannt wird, was die Erkenntnis der Gesamtheit der Seienden, der Bedingungen als Elemente einer Ursache, woraus eine Wirkung 107

M i l l , Philosophie Hamiltons, 11. Kap. (256). Comte, Rede, l . T e i l , l . K a p . , I I I , 3, 15. (35). 109 Siehe o. S. 65 ff.; vgl. auch M i l l , Comte u n d der Positivismus (5), wo er sich bei seinem Gebrauch der Wendung „unwandelbare Antecedentien" u n d der dies vertretenden Lehre ausdrücklich auf Hume beruft. 108

11

Mill, Logik, Bd.

5. Kap., §

)

110

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 19. Jahrhunderts

folgt, voraussetzt. W i r d dies als für das Erkennen einer Ursache erforderlich angenommen, bedeutet dies zugleich die Widerlegung der Assoziationslehre, nach der eine Unterscheidung innerhalb „fester", „gleichförmiger", „unveränderlicher" Relationen nicht existieren kann. 3. M i l l zeichnet sich i n Hinsicht der Erkenntnis kausaler Zusammenhänge durch einige wichtige zutreffende Einsichten aus, so ζ. B., daß die „wahre Ursache" „das Ganze" „der Bedingungen" sei und „ w i r " „philosophisch gesprochen" „kein Recht" haben, „den Namen Ursache einer einzigen von ihnen ausschließlich der anderen zu geben" 1 1 1 . Daß M i l l m i t derartigen Erkenntnissen dennoch nicht den Positivismus als „Gesetzeswissenschaft" begründet hat, liegt an seinem Festhalten an der Lehre von der „Ideenassociation", die, wie dargelegt, eine notwendige Konsequenz der Tatsachenauffassung des philosophischen Positivismus darstellt. Entsprechend dieser Tatsachenauffassung als falscher „Phänomenologie" können auch die Gesetze i n letzter Konsequenz nur als ichhaft konstruiert „begründet" werden: a) „Diese Relationen, wenngleich nicht auf Zustände des Bewußtseins gegründet," sind nach M i l l „selbst Zustände des Bewußtseins, Ähnlichkeit" sei „nichts anderes als das Gefühl von Ähnlichkeit, Aufeinanderfolge nichts als unser Gefühl von Aufeinanderfolge". „Ähnlichkeit, Folge oder Gleichzeitigkeit schreiben" „ w i r " „den Gegenständen oder Attributen" z u 1 1 2 . „Diese Relationen, wenn sie auch als zwischen anderen Dingen bestehend betrachtet" werden, bestehen „ i n Wirklichkeit nur zwischen Zuständen des Bewußtseins, welche diese Dinge, wenn sie Körper" seien, erregen, „und wenn sie Geist" seien, „entweder" erregen „oder" erfahren 1 1 3 . b) Wie die Objektivität eines Begriffs darin besteht, daß er dem Gegenstand entspricht, auf den er sich bezieht, besteht die Objektivität eines Gesetzes darin, daß es sich auf Notwendigkeitszusammenhänge einer bestimmten A r t , die eines Kausalgesetzes, daß es sich auf reale Notwendigkeitszusammenhänge zwischen Wirkungen einer bestimmten A r t und ihrer Ursache bezieht. Da für M i l l Gesetze nichts als „durch die Assoziation für unser Bewußtsein festgewordene Relationen", die „Relationen" nichts als „Zustände des Bewußtseins" sind, gibt es damit — wie i n der Lehre Humes — keine Entsprechung von Gesetzen mit realen Notwendigkeitszusam-

111 M i l l , Logik, Bd. 1,. 5. Kap., §3 (388); vgl. auch Wolf, B G B A l l g . T., § 4 C I I c (221, Fn. 35). 112 M i l l , Logik, 1. Bd., 3. Kap., § 13 (88).

113

Mill, Logik, 1. Bd., 3. Kap., §15 (91).

C. Philosophischer Positivismus als „Gesetzeswissenschaft"

111

menhängen 1 1 4 . Die behaupteten Gesetze beziehen sich folglich auf nichts. Solche „Gesetze" gibt es nicht. IV. Daß es reale Tatsachen i n der positivistischen Lehre nicht gibt, diese vielmehr der Sache nach absolut gesetzt werden, ist ein weiterer, m i t den soeben dargelegten fehlerhaften Grundlagen allerdings eng zusammenhängender Grund dafür, daß der für jede Gesetzeswissenschaft wichtige Begriff der Ursache von M i l l verkannt und von Comte schließlich ganz aus der Wissenschaft verbannt wird. 1. Zur Ursache führt M i l l folgendes aus: „Wenn" er (Mill, D. T.) i m Verlauf unserer Untersuchung von der Ursache einer Naturerscheinung" spreche, meine er „nicht eine Ursache", „die nicht selbst eine Naturerscheinung" sei. Er suche „nicht die letzte oder ontologische Ursache der Dinge". „Die Ursachen, u m welche er sich" bekümmere, seien „nicht urwirkende, sondern physikalische Ursachen." (Hervorhebungen von M i l l , D.T.). Er fühle „sich nicht berufen, über die urwirkenden Ursachen (causae efficientes) oder deren Existenz eine Meinung abzugeben. Der Begriff von Ursache" schließe „nach den gegenwärtig am meisten i n Ruf stehenden metaphysischen Schulen ein geheimnisvolles, höchst wirksames Band i n sich, wie es zwischen einer physikalischen Tatsache, wovon sie eine unveränderliche Folge" sei, „und welche i n populärer Sprache ihre Ursache" heiße, „nicht existiere". „Man" leite „hieraus die supponierte Notwendigkeit ab, höher zu steigen, bis zu dem Wesen (der Essenz) und der inwohnenden Beschaffenheit der Dinge zu gelangen, die wahre Ursache zu finden, die Ursache nämlich, welcher die Wirkungen nicht allein" folgen, „sondern welche die W i r kungen wirklich" erzeuge (Hervorhebung v. Mill, D. T.). „Der Begriff von Ursache, wie ihn die Theorie der Induktion" verlange, sei „einzig ein Begriff, der aus der Erfahrung gewonnen werden" könne. „Das Kausalgesetz, dessen Erkenntnis der Grundpfeiler der induktiven Philosophie" sei, bestehe „bloß i n der allbekannten Wahrheit, daß, unabhängig von einer jeden Betrachtung bezüglich der letzten Erzeugungsweise von Naturerscheinungen und von jeder Frage nach den ,Dingen an sich', die Beobachtung einer Unveränderlichkeit der Sukzession zwischen einer Tatsache i n der Natur und einer anderen, die ihr vorhergegangen" sei, nachweise 115 . 2. Zwar t r i f f t es zu, daß „urwirkende Ursachen" als metaphysische Ursachen nur geglaubt, nicht erkannt werden können i m Unterschied zu „physikalischen Ursachen". Nicht zutreffend ist die Bezeichnung der 114 Insoweit zutreffend Finkelstein, Comte u n d M i l l (20): den „Relationen" trete „ k e i n spezieller I n h a l t i n der W i r k l i c h k e i t gegenüber, sie" gehören „ n u r zur F u n k t i o n des Bewußtseins."

115

Mill, Logik, 1. Bd., 5. Kap., §2 (386 f.).

112

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

metaphysischen als ontologische Ursachen. Ontologie ist die Wissenschaft von den Seienden als Seienden 116 . Ein Seiendes ist ein änderbares, einzelnes, inhaltlich ausgefülltes, begrenzt zeitlich ausgedehntes Beständiges 117 . Seiende sind erfahrbar und daher erkennbar. Die Frage nach der „letzten" „Ursache der Dinge" ist als Frage nach dem Grund alles Seins (bzw. aller Seienden) nowendig auf jenseits alles Seins (bzw. aller Seienden) „existierende", folglich metaphysische „Ursachen" gerichtet. Daß die „letzten" „Ursachen" m i t „ontologischen" Ursachen ineinsgesetzt werden, beruht auf der Tatsachenlehre des philosophischen Positivismus, nach der die Existenz außerhalb der „Empfindungen" existierender Seiender nicht bewiesen werden kann und als der Erfahrung nicht zugänglich behauptet w i r d 1 1 8 . a) M i t dieser Ineinssetzung von metaphysischen und ontologischen Gegenständen hängt es zusammen, daß das Wesen der Seienden fehlerhaft als metaphysisches Wesen und damit als ebenfalls nicht erkennbar ausgegeben w i r d 1 1 9 . Für die hier allein interessierende Erkenntnis des Begriffs Ursache ist von Bedeutung der falsche Gegensatz, der zwischen den Wirkungen, welche der Ursache „folgen", und denjenigen, die die Wirkung „erzeugen", behauptet wird. Ursache sind die Bedingungen, bei deren Vorliegen eine Wirkung eintritt. Eine Wirkung ist ein Geschehen, das bei Vorliegen von Bedingungen notwendig stattfindet 1 2 0 . Die Auffassung, die Wirkung sei durch eine Ursache nicht „erzeugt", bedeutet, daß der Grund für die Existenz des durch die Ursache bew i r k t e n Geschehens als außerhalb des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung existierend angenommen wird. Da eine Ursache die Gesamtheit der Bedingungen für ein bestimmtes Geschehen ist und damit alle Bedingungen seiner Existenz enthält, „erzeugt" sie die Wirkung. Da Bedingungen für das Existieren eines Seienden, die es außerhalb seiner Ursachen geben soll, notwendig metaphysische „Bedingungen" sind, kann bei Vertretung der Gegenauffassung als Ursache für die Existenz eines Seienden nur eine metaphysische „Ursache", wissenschaftlich also überhaupt keine Ursache angegeben werden. b) Daß eine bestimmte Ursache nicht als die ihr entsprechenden Wirkungen „erzeugend" erkannt werden konnte, hängt weiter mit dem ne w o l f , Gibt es eine marxistische Wissenschaft (39). Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (40). 118 Z u r Ablehnung der Ontologie als Wissenschaft s. oben S. 104 f. 119 Z u r Ablehnung von Wesenserkenntnissen u n d den Folgen s. auch oben S. 104 f. 120 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (256). 117

. Philosophischer Positivismus als „ s w i s s e n s c h a f t "

113

Scheitern des Humeschen „Empirismus" 1 2 1 wie des philosophischen Positivismus zusammen, Begründungszusammenhänge zu erkennen. Ein Begründungszusammenhang ist ein Zusammenhang zwischen einer Folge und deren Grund. Ein Grund ist eine Bedingung besonderer A r t , die zwar jeder anderen Bedingung darin gleicht, für das Eintreten des Bedingten notwendig zu sein, die aber die Besonderheit hat, darüber hinaus für deren Inhalt wesentlich zu sein. Eine Folge ist das einem Grund inhaltlich entsprechende Bedingte (Begründete) 122 . Da eine Folge nicht nur als Bedingtes vom Existieren des Grundes als Bedingendem abhängt und diesem nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich aus ihm folgt, sind Grund und Folge i n einer Lehre, für die sich die Erkenntnis des Kausalgesetzes aus der „Beobachtung" der Unveränderlichkeit der Succession zwischen einer Tatsache i n der Natur und einer anderen, die ihr „vorhergegangen" sei, also aus der „Beobachtung" eines bloßen Nacheinander zweier „Tatsachen" ergibt, nicht zu erkennen. c) Nach dem bisher Ausgeführten läßt sich der Widerspruch i n Mills Verständnis des Begriffs Ursache dahingehend zusammenfassen, daß er das Existieren eines Zusammenhangs zwischen Ursache und W i r kung und damit das Existieren eines Wirklichkeitszusammenhangs behauptet, und gleichzeitig alle Merkmale, die zur Darlegung für die Existenz eines Wirklichkeitszusammenhangs erforderlich sind, der Sache nach oder ausdrücklich ablehnt, indem er sie als zur Metaphysik gehörig e r k l ä r t 1 2 3 . Was übrig bleibt, ist eine falsche Bezeichnung von lediglich aufeinanderfolgenden Geschehen als Ursache und Wirkung und die daraus hervorgehende Verfälschung des Begriffs Ursache i n einen Gegenstand der Metaphysik. 3. Die dem Inhalt nach gleiche Auffassung von „Gesetzen", die als „konstante Beziehungen" „zwischen den beobachteten Phänomenen" bezeichnet werden, und die Konsequenz dieser Auffassung, die Ursachen als „eigentliche", und das heißt i n der positivistischen Lehre: als „metaphysische" zu begreifen, hat bei Comte dazu geführt, das Wort Ursache überhaupt abzulehnen: „Das Wort »Ursache' (cause)" solle „aus der philosophischen Fachsprache verschwinden, weil es »irrational und sophistisch4 " sei. Und Fetscher führt dazu weiter aus: „Die Erforschung der Entstehungsursachen" erscheine „dem Positivismus als müßig und allein die Aufstellung von Ablaufgesetzen der Erscheinungen als wis121

Siehe O.S. 67. Vgl. Wolf, BGB A l l g . T., § 4 C I I d (222). 123 v g l . auch M i l l , Comte u n d der Positivismus (4), wo er „ w i r k e n d e " „ U r sachen" als „unbekannt u n d unerforschlich" behauptet. 122

8 Tripp

114

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

senschaftlich erreichbar" 1 2 4 . Gegen Comtes Entscheidung, das Wort Ursache aus der „wissenschaftlichen Fachsprache" „verschwinden" zu lassen, hat M i l l i n seinen Büchern mehrfach heftigen Einwand erhoben und sie als „bloße" „Sache der Nomenclatur" bezeichnet 125 . Die Konsequenzen, die eine Verneinung des Begriffs Ursache als ein Grundbegriff jeder Wissenschafts- und Erkenntnislehre für die Wissenschaft insgesamt hat, hat M i l l zumindest zum Teil gesehen, zumal für ihn selbst dieser „Begriff" „die Wurzel der gesamten Theorie der Induktion" w a r 1 2 6 . Was er hingegen nicht erkannt hat, ist der Sachverhalt, daß die Verneinung des Begriffs Ursache einer Gesetzesauffassung entspringt, nach der es nur „Ablaufgesetze der Erscheinungen" oder „konstante Relationen zwischen den Erscheinungen" gibt, aufgrund der, wie dargestellt, jede „Entstehungsursache" abgelehnt wird. Und dies entspricht der Auffassung Mills. Da aber jede Ursache eine „Entstehungsursache" ist, w i r d mit der Ablehnung dieses Begriffs zugleich der Begriff Ursache verneint. Der Unterschied in der Auffassung dieses Begriffs besteht daher allein darin, daß Comte eine Konsequenz der Lehre Mills, die auch die eigene ist, zieht, die M i l l aus den dargelegten Gründen zu ziehen sich weigert. Daß es der Sache nach Gesetze und Ursachen als Gegenstand der Kausalgesetze nicht gibt, darin besteht i n beiden Lehren, die die Hauptlehren des philosophischen Positivismus sind, Ubereinstimmung. V. Wenn behauptet wird, daß bestimmte „Relationen" als „Zustände des Bewußtseins" den „Ideen von Ursache und Wirkung den Ursprung" gebe und „die Quellen aller unserer Erkenntnis der Ursache und W i r kung" seien, „die sie" hervorrufen 1 2 7 , und i n dieser Aussage unterstellt wird, daß die „Relationen" der „Aufeinanderfolge" und der „Ähnlichkeit" selbst nicht zufällig, sondern gesetzmäßig entstehen, so bedeutet dies, da die Entsprechung der „Gesetze" m i t ontischen Notwendigkeitszusammenhängen nicht dargelegt werden kann, daß das Existieren gesetzmäßiger Zusammenhänge selbst nur unterstellt, also an solche geglaubt w i r d 1 2 8 . So geschieht es ζ. B., wenn M i l l zur Begründung der Annahme, daß zwischen zwei zeitlich aufeinander folgenden Tatsachen ein gesetzmäßiger Zusammenhang besteht, sagt: „Gewisse Tatsachen 124

Comte, Systeme, Bd. I I I (22); zit. nach Fetscher, in: Comte, Rede, A n m .

11 (228).

125 M i l l , Logik, 1. Bd., 3. Buch, 5. Kap., § 5 (403); vgl. auch M i l l , Comte u n d der Positivismus (40). 120 Vgl. M i l l , Logik, 1. Bd., 3. Buch, 5. Kap., § 2 (385). 127 M i l l , Philosophie Hamiltons (256). 128 Insoweit zutreffend Finkelstein, Comte u n d M i l l (65): „Die Gesetzmäßigkeit i m allgemeinen aus der Assoziation zu erklären" sei „auch deshalb unmöglich, w e i l die Möglichkeit der Assoziation eine Gesetzmäßigkeit schon" voraussetze.

C. Philosophischer Positivismus als „Gesetzeswissenschaft" folgen gewissen Tatsachen, und werden ihnen, wie w i r immer folgen" 1 **.

115

glauben, 120

Da es auf Erfahrung gegründete Merkmale einer Gesetzmäßigkeit, an die geglaubt wird, nicht gibt, glauben die Vertreter der positivistischen Philosophie an eine notwendig unbestimmte, daher alles umfassende, eine absolute Gesetzmäßigkeit. Dazu führt M i l l folgendes aus: „Obgleich sich die Dinge nicht i n diesem ewigen Kreise" bewegen, „so" hätte „doch die ganze Reihe der vergangenen und zukünftigen Ereignisse i n der Geschichte des Weltalls durch jemand, der mit der ursprünglichen Verteilung aller natürlichen Agentien und m i t dem Ganzen ihrer Eigenschaften, d. h. mit den Gesetzen der Folge, die zwischen ihnen und ihren Wirkungen" bestehen, „bekannt gewesen" wäre, „a priori konstruiert werden" können, „die unendlich mehr als menschliche Kombinationsgaben und Berechnungen, die sogar beim Besitze der Data zur wirklichen Vollendung der Aufgabe erforderlich" wären, voraussetze 131 . Und an einer anderen Stelle heißt es: „Die Philosophie" beschränke den „Ausdruck" „Naturgesetz" „auf die allgemeinsten und einfachsten Voraussetzungen", „mit denen die ganze bestehende Weltordnung gegeben" sei 1 3 2 . Der Widerspruch besteht i n diesen Ausführungen i n der Behauptung, daß eine „Konstruktion" „a priori" aller „vergangenen und zukünftigen Ereignisse i n der Geschichte des Weltalls" möglich wäre, wenn es einen Jemand gäbe, der „über unendlich mehr als menschliche Kombinationsgaben", also ein Überhirn verfüge — denn da M i l l über derartige übermenschliche Eigenschaften zur Erkenntnis einer derartigen absoluten Gesetzmäßigkeit nicht verfügt, kann er nicht die Behauptung aufstellen, daß es sie gibt. Tut er dies dennoch, betreibt er nicht wissenschaftliches Erkennen, sondern metaphysische „Weltanschauung" 1 3 3 . Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß er von einer „Geschichte des Weltalls" spricht, deren sämtliche i n ihr stattgefundenen Ereignisse nur 129

Hervorhebungen v o n m i r , D. T. M i l l , Logik, 1. Bd., 3. Buch, 5. Kap., § 2 (387); vgl. auch Finkelstein, Comte u n d M i l l (61), nach der M i l l „die Notwendigkeit der Gesetze, ihre Geltung für alle Z u k u n f t auf das Gefühl des Glaubens (belief) zurückführen" versuche. Verfehlt ist allerdings der V o r w u r f Finkelsteins an M i l l , er hätte eine „ S t ü t ze" des „Glaubens i n der O b j e k t i v i t ä t " (gemeint ist Realität, D. T.) darlegen müssen, w e i l „auf einem solchen unbegründeten Glauben" „die Wissenschaft nicht errichtet werden" dürfe. E i n „begründeter Glaube" ist jedoch eine contradictio i n adjecto, w e i l eine Begründung Wissen ist, der Glaube jedoch erst „jenseits des Wissens beginnt". 131 M i l l , Logik, 1. Bd., 3. Buch, 5. Kap., § 7 (410). 132 M i l l , zit. n. Finkelstein (40) m. w. N. 133 Z u „Weltanschauung" vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (141 ff.). 130



116

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 10. Jahrhunderts

ein Gott „wissen" kann. Und wenn er „Naturgesetze" bezeichnet als „die allgemeinsten Voraussetzungen", „ m i t denen die ganze bestehende Weltordnung gegeben" sei, so werden die „Naturgesetze" ebenfalls als metaphysische Gesetze aufgefaßt, weil die „Voraussetzungen" „der bestehenden Weltordnung" notwendig nur außerhalb dieser, also jenseits der Welt, „existieren" können. Indem so die Naturgesetze als absolute Gesetze aufgefaßt werden, werden sie i n Wahrheit verneint. VI. I n Bezug auf die „Gesetzesauffassung des philosophischen Positivismus ergeben sich hieraus zwei wesentliche Folgerungen: 1. Es w i r d eine allem Geschehen innewohnende Gesetzmäßigkeit behauptet; 2. es w i r d die Existenz absoluter Entwicklungsgesetze angenommen. Zu 1.: Der diese Auffassung enthaltende berühmte, von den Positivisten häufig zitierte Satz Mills lautet: „Jedes Ding, das einen Anfang", habe „auch eine Ursache" 1 3 4 . Bei Comte findet sich folgende Grundsatzausführung: „Die positive Philosophie" unterwerfe „alle Vorgänge, die organischen wie die unorganischen, die physischen wie die moralischen, unveränderlichen Gesetzen, ohne die jedes Voraussehen unmöglich" sei, „und ohne welche die Wissenschaft eine bloße trockene Gelehrsamkeit sein" müßte 1 3 5 . Diese Ausführungen sind methodisch und sachlich fehlerhaft. a) Methodisch sind die zitierten Ausführungen Comtes deshalb falsch, weil Gesetze erst erkennbar und folglich als existierend behauptbar sind, wenn die Notwendigkeitszusammenhänge zwischen bestimmten Seienden oder Geschehen, die Gegenstand eines Gesetzes sind, als solche erkannt sind. I m philosophischen Positivismus w i r d umgekehrt verfahren: alle Gegenstände werden „Gesetzen" „unterworfen", was bedeutet, daß die Gesetze als existierend behauptet werden, bevor die Seienden, zwischen denen Notwendigkeitzusammenhänge bestehen sollen, erkannt sind. Damit w i r d die Existenz von „Gesetzen" unterstellt, die sich nicht auf bestimmte Gegenstände beziehen, die infolgedessen keinen Inhalt haben. Außerdem werden alle „Gesetze" a priori geglaubt. Auch i n der methodischen Ausführung Comtes wiederholt sich damit der Glaube an eine absolute, inhaltsleere, alles regierende Gesetzmäßigkeit. b) Sachlich sind jene Ausführungen falsch, weil es eine A r t von Seienden gibt, die nicht verursacht, sondern die veranlaßt sind, nämlich die Entschlüsse. 134 135

M i l l , Logik, 1. Bd., 3. Buch, 5. Kap., § 2 (385). Comte, Soziologie, 16. Kap. (465).

. Philosophischer Positivismus als „ s w i s s e n s c h a f t "

117

Ein Entschluß ist eine Gehirntätigkeit eines Menschen mit dem begrifflichen Inhalt, zwischen Bewirken oder Herbeiführen eine Erfolgs durch eine körperliche Tätigkeit oder Denktätigkeit und Nichtvornahme einer solchen Tätigkeit zu wählen 1 3 6 . Ein Entschluß, einen Erfolg zu bewirken oder herbeizuführen oder dies nicht zu tun, hat notwendig zugleich den Inhalt, entweder eine Tätigkeit des Entschließenden als Bedingung dieses Erfolgs durch Wollen zu bewirken oder diese Tätigkeit nicht zu wollen. Entschließen bedeutet folglich, zwischen einem Wollen und einem Nichtwollen zu wählen. Ein Entschließen kann bei Vorliegen bestimmter Bedingungen — ζ. B. der Entschließungsfähigkeit eines Menschen, oder dem Wissen, mit einer bestimmten Tätigkeit einen bestimmten Erfolg bewirken oder herbeiführen zu können u. a. — mit jedem diesem entsprechend wählbaren Inhalt geschehen oder nicht. Es geschieht daher nicht notwendig, sondern nur der Möglichkeit nach; es ist daher nicht verursacht, sondern durch die Bedingungen seiner Möglichkeit veranlaßt. I n seiner Freiheit von ursächlicher Notwendigkeit geschieht ein Entschluß frei. Entschließungsfreiheit ist daher zu definieren als die Freiheit, zwischen der Vornahme einer Tätigkeit und deren Nichtvornahme gemäß einem Wissen wählen zu können 1 3 1 . Da die individuellen Bedingungszusammenhänge zwischen einem Entschluß eines Menschen und den Bedingungen dieses Entschlusses i n seinem Gehirn kein Notwendigkeitszusammenhang, sondern ein Zusammenhang der ontischen Möglichkeit (Veranlassungszusammenhang) ist, war die Erkenntnis dessen, daß der Entschluß eines Menschen nicht notwendig, nicht kausal, sondern frei geschieht, i n einer Lehre, i n der von einer alles umfassenden Gesetzmäßigkeit ausgegangen wird, bereits i m methodischen Ansatz ausgeschlossen. Aus diesem Grunde war es auch nicht möglich zu erkennen, daß das allgemeinste Kausalgesetz, welches es gibt, nicht lautet: „Jedes Ding, das einen Anfang", habe „eine Ursache", sondern daß es folgendermaßen heißt: Jedes Anfangen, Ändern oder Enden (Geschehen) eines Seienden, das kein Entschluß ist, ist die Wirkung einer Ursache 138 . Die Verkennung dieses Sachverhalts hat zu grundlegenden Fehlern insbesondere i n denjenigen Wissenschaften geführt, deren Gegenstände entweder Entschlüsse sind oder die auf Entschlüssen beruhen, wie die menschlichen Handlungen. Diese Wissenschaften sind insbesondere die Soziologie und die Geschichtswissenschaft.

136 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (121). 137 Vgl, Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (122). iss v g l . Wolf, BGB A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27).

118

3. Kap.: Der philosophische Positivismus des 1 . Jahrhunderts

Zu 2.: Wenn die „positive Philosophie" „alle Vorgänge" „unveränderlichen Gesetzen" unterwirft — eine Auffassung, die auch der Formel „post hoc — propter hoc" zugrundeliegt, und damit an metaphysische „Gesetze" glaubt, so haben diese „Gesetze", die als existierend angenommen werden unabhängig von Seienden, die man diesen „Gesetzen" noch „unterwerfen" muß, damit keinen gegenständlichen Bezug und sind daher inhaltlich nicht begrenzt. Der Glaube an derartige „Gesetze an sich" ist gleichbedeutend mit dem Glauben an ein absolutes, vorherbestimmtes Aufeinanderfolgen aller Geschehen, ist damit der Glaube an eine absolute Bewegung, eine absolute „Entwicklung". Dies ist der Inhalt der von den philosophischen Positivisten als existierend behaupteten „Entwicklungsgesetze", deren Annahme das Resultat aller wesentlichen falschen Grundlagen der positivistischen Wissenschafts- und Erkenntnislehre darstellt. So ist ζ. B. Spencer der Auffassung, daß „das ganze sichtbare Universum sich entwickelt" habe, daß „unser Sonnensystem als Ganzes, die Erde als ein Teil desselben, das Leben i m allgemeinen, welches die Erde" trage, „wie auch das Leben jedes individuellen Organismus", daß „die bei allen Geschöpfen bis hinauf zu den höchsten sich kundgebenden geistigen Erscheinungen wie nicht minder diejenigen, welche die Aggregate dieser höchsten Geschöpfe" darbieten, „insgesamt den Gesetzen der Entwicklung unterworfen" seien 139 . Diese Ausführungen scheitern daran, daß es ein „Gesetz der Entwicklung" nicht gibt. Eine Entwicklung ist das Aufeinanderfolgen mehrerer je teilweise ungleichartiger Geschehen i n einem Seienden (individuelle Entwicklung) oder i n mehreren Seienden (überindividuelle Entwicklung) i n der Weise, daß die Ungleichheit des je früheren die Ungleichheit des je späteren bedingt und die Geschehen zusammen ein ihrer A r t und der A r t ihrer Ungleichheiten sowie den Bedingungszusammenhängen zwischen diesen entsprechendes Ergebnis bedingen 1 4 0 . Entwickeln können sich jeweils nur ein bestimmtes Seiendes oder mehrere bestimmte Seiende. Eine Entwicklung, die keine von Seienden ist, eine Entwicklung als solche, gibt es nicht. Folglich gibt es auch keine sich darauf beziehenden Gesetze. Werden derartige „Gesetze der Entwicklung" als existierend behauptet, handelt es sich dabei u m ein mangels jeder bestimmten Merkmale unbestimmtes absolutes, vorherbestimmtes Werden, ein absolutes Flie139 Spencer, System der synthetischen Philosophie, Bd. 10, 1. Halbbd., § 24 (69). wo Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (90f.).

. Philosophischer Positivismus als „ s w i s s e n s c h a f t "

119

ßen i m Sinne des heraklitischen Idealismus 1 4 1 . I n einer derartigen absoluten Bewegung gibt es nichts Beständiges und Begrenztes, nichts Inhaltliches, nichts Einzelnes, damit keine Seienden, kein Bedingtes, keine Ursache, keine Wirkung, keine Folge und kein Grund. Es gibt i n ihr weder Begriffe noch Urteile und erst recht keine Gesetze 142 . Eine Lehre, i n der ein solcher absoluter Dynamismus vertreten wird, ist daher notwendig nihilistisch und irrationalistisch 1 4 3 — dies ist das vernichtende Ergebnis der Untersuchung des philosophischen Positivismus als „Gesetzeswissenschaft". Der philosophische Positivismus ist nach allem keine „Wissenschaft" der „Tatsachen" oder der „Gesetze", die er zu sein behauptet, er hat die Spekulation nicht beseitigt, sondern er verfährt infolge seiner wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die auf Hume zurückgehen, selbst spekulativ; er ist weder ein konsequenter Empirismus noch ein Realismus, sondern er stellt i m Ergebnis ihre völlige Verfälschung dar.

141 Vgl. dazu Windelband/Heimsoeth, Geschichte der Philosophie, §6, 1 (50 ff.) m. w . N. 142 Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (51). 148 w i e sehr dies v o n den Positivisten verkannt w i r d , zeigt sich ζ. B. auch bei Laas, Idealismus u n d Positivismus, l . B d . , l . B u c h , 20. (197 ff.): Laas stellt die Frage: „Wäre die Flußlehre w i r k l i c h so wissensfeindlich, als sie Piaton erschienen ist?" u n d beantwortet sie folgendermaßen: „Selbst i n der radikalen Nuancierung, nach welcher m a n auch nicht einmal i n denselben Strom steigen kann, w i r d nichts vorausgesetzt, was wissenschaftlich absolut undisziplinierbar wäre."

4. Kapitel

Der Historische Positivism us Α . D i e Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" auf den historischen Positivismus I . Die Naturwissenschaften als „Vorbild" der Geschichtswissenschaft

1. Ausgangspunkt der positivistischen Geschichtslehre ist — wie i n den anderen sich als positivistisch verstehenden Lehren — das Ziel, die „metaphysischen Konstruktionen", die „willkürlichen Hypothesen" i n der Geschichtswissenschaft zu überwinden, „die um so weniger haltbar" werden, „je mehr sie auf das Detail der Tatsachen" eingehen, „und deren angeblichen Notwendigkeiten nur i n der Phantasie ihrer Urheber" bestehen. Hegels Philosophie der Geschichte wurde von den Positivisten als „metaphysische Systemmacher ei" abgelehnt 1 . Die „positive Methode" richtet sich laut Twesten, der nach Riedel „den Positivismus i n Deutschland durch einen Aufsatz über Comte literarisch bekannt gemacht und vertreten hatte" 2 , gegen „theologische und metaphysische Betrachtungen". Diese können sich „an einzelne Klassen von Erscheinungen halten; sie" brauchen „nicht einmal den Tatsachen" (hier zitiert Twesten Plato) „,die Knochen zu brechen', u m sie ihren Systemen einzureihen, sie" können „sich einfach auswählen, was ihre absolute Wahrheit zu bestätigen" scheine, „und durch Konfrontation mit dieser alles Übrige" beseitigen, „indem sie es für unwesentlich, bedeutungslos, nichtig" erklären. Die „positive Methode" suche dagegen „den allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen", sie sei „durch ihr Prinzip" zur „allseitigsten Beachtung und Würdigung jeglicher A r t von Tatsachen genötigt" 3 . 2. Die Begründung der Geschichtswissenschaft als Tatsachenwissenschaft wurde jedoch ineinsgesetzt mit ihrer Begründung als „Natur1

So Twesten, Auguste Comte (294). Riedel, Positivismuskritik u n d Historismus in: B l ü h d o r n / R i t t e r (Hrsg.), Positivismus i m 19. Jahrhundert; zum Einfluß Comtes auf die deutsche Geschichtswissenschaft vgl. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5. Kap., § 5,1. (710), nach dem man hier vielfach die Auffassung Comtes übernommen hat, ohne sich ihres Ursprungs bewußt zu sein. 3 Twesten, Auguste Comte (294). 2

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" Wissenschaft 4. Bereits M i l l wollte die „Geschichte zu einer Naturwissenschaft erhoben" sehen und hatte behauptet, daß „die Gesellschaftswissenschaft" „eine deduktive Wissenschaft" sei, „nicht i n der Tat nach dem Vorbilde der Geometrie, sondern nach dem Vorbilde der verwickeiteren physikalischen Wissenschaften" 5 . Fridegar Mone hatte 1858 i n Deutschland gefordert, daß „die Geschichte" „eine Wissenschaft werden" müsse, „sonst" habe „sie kein Recht mehr, neben der Naturwissenschaft zu stehen. Sie" müsse „die Spitze der Naturwissenschaft — die höchste Stufe der Anthropologie, die Fortsetzung der Physiologie und Psychologie werden" 6 . Die Forderung, die Geschichtswissenschaft als Naturwissenschaft aufzufassen 7 , hat ihren Vorläufer bei dem Wegbereiter des französischen Positivismus, Condorcet. Dieser hatte i n seinem Hauptwerk „Esquisse d'un taubleau historique des progrès de l'esprit humain", das 1795 und damit erst nach seinem Tod erschien, folgende Frage gestellt: „Weshalb" sollte „das Prinzip der Naturwissenschaften, daß die allgemeinen Gesetze, welche die Erscheinungen des Weltalls" bedingen, „notwendig und konstant" seien, „weniger gültig sein für die Entwicklung der intellektuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen als für die anderen Betätigungen der Natur?" 8 3. Die Antwort auf die Frage, ob „Prinzipien" der Naturwissenschaften auf die Geschichtswissenschaft übertragbar sind, ergibt sich, da eine Erkenntnismethode vom Erkenntnisgegenstand abhängt, durch i h n bedingt ist, aus dem Begriff Geschichte als Gegenstand dieser Wissenschaft 9. a) Geschichte sind die das Sein eines entstandenen Seienden oder mehrerer miteinander zusammenhängender entstandener Seiender bedingenden Tatsachen. Ein Tatsache ist ein entstandenes Seiendes oder ein Moment an einem Seienden. Entstanden ist ein gegenwärtig existierendes oder vergangenes Seiendes sowie ein gegenwärtig vorhandenes oder vergangenes Moment an einem Seienden. Die mehreren m i t einander zusammenhängenden Seienden sind notwendig Seiende einer Gattung oder A r t . 4 Vgl. auch Scherer, zit. nach Wagner (243): „Die Naturwissenschaft zieht als T r i u m p h a t o r auf dem Siegeswagen einher, an den w i r alle gefesselt sind." 5 M i l l , Logik, 2. Bd., 6. Buch, 9. Kap., § 1 (512). 6 Mone, zit. n. Riedel, Positivismuskritik und Historismus (82 f.). 7 Vgl. auch die Bezeichnung der Soziologie durch Comte als „soziale Physik", die der Geschichtswissenschaft als „Mechanik der Gesellschaft" durch Scherer. 8 Condorcet, Esquisse d'un tableau, zit. η. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5.Kap., § 5 (701). 9 Z u m folgenden vgl. insbesondere Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (108 f.).

122

4. Kap.: Der Historische Positivismus

Gegenstand der Menschheitsgeschichte sind die Tatsachen, die das Sein aller Menschen betreffen. Solche Tatsachen sind ζ. B. diejenigen, die sich auf die biologische Entwicklung der Menschen beziehen. „Intellektuelle", also geistige Zusammenhänge zwischen allen Menschen, die existieren, gibt es nicht. Folglich gibt es auch keine sich darauf beziehende wissenschaftliche Menschheitsgeschichte. M i t objektiven Methoden wissenschaftlichen Erkennens kann nur festgestellt werden, daß ein bestimmtes Ereignis tatsächlich stattgefunden hat. Auch können einzelne Bedingungen dieses Ereignisses erkannt werden. Die vollständige Ermittlung aller Bedingungen ist i m allgemeinen ausgeschlossen. Daraus folgt, daß der Beweis, daß ein bestimmtes geschichtliches Ereignis eintreten mußte, nicht zu führen ist. Methodisch bewiesene allgemeine Urteile über geschichtliche Notwendigkeitszusammenhänge (geschichtliche Gesetze) kann es daher nicht geben. Naturwissenschaft ist das wissenschaftliche Erkennen natürlicher Seiender. Als Erkenntnis der zwischen diesen bestehenden kausalen Zusammenhänge ist sie wesentlich Gesetzeserkenntnis. Dieses „Prinzip" der Naturwissenschaft ist aus den dargelegten Gründen auf die Geschichtswissenschaft nicht übertragbar. b) Hinzu kommt für Ereignisse der Menschengeschichte, daß ihre Ereignisse überwiegend Handlungen oder Unterlassungen von Menschen oder durch solche bedingt sind. Der Versuch, diese Handlungen und Unterlassungen nach „Prinzipien" der „Naturwissenschaft" zu erkennen, hat dazu geführt, daß sie als natürliche Seiende aufgefaßt und als Kausalgesetzen unterworfen behauptet wurden. Das letztere geschah auch i n Bezug auf die „moralischen Fähigkeiten" der Menschen — die „Übertragung" der „Prinzipien der Naturwissenschaft" i n die Geschichtslehre hatte damit eine falsche Anthropologie zur Folge. c) A n der Verkennung dieser Zusammenhänge ist — wie i m folgenden nachgewiesen w i r d — der historische Positivismus, der auf den Grundlagen des philosophischen Positivismus eine Geschichtswissenschaft begründen wollte, gescheitert. I I . Die falsche Anthropologie in der positivistischen Geschichtsauffassung

1. Zur Erkenntnis der menschlichen Handlungen w i r d folgendes ausgeführt: a) Nach Twesten gilt es, „ i n den Handlungen und Geschicken der Menschen lediglich denselben und keinen anderen Zusammenhang wie

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" i n den Erscheinungen der Natur zu suchen" 10 . Nach M i l l ist „richtig aufgefaßt" „die Philosophische Notwendigkeit genannte Lehre einfach die folgende: wenn die i n dem Geiste eines Individuums vorhandenen Motive und der Charakter und die Neigungen des Individuums gegeben" seien, so könne „seine Handlungsweise unfehlbar gefolgert werden; d. h. wenn w i r m i t dem Individuum durch und durch bekannt" wären, „und wenn w i r alle Beweggründe" wüßten, „welche auf dieselben" einwirken, „so" könnten „ w i r seine Handlungsweise mit derselben Sicherheit voraussagen wie einen physikalischen Vorgang" 1 1 . Henry Thomas Buckle (1821—1862), dessen „History of civilization i n England" 1857—61 i n zwei Bänden erschienen war, hat nicht nur dem Positivismus i n England zusammen mit J. St. M i l l und Herbert Spencer maßgeblich zum Durchbruch verholfen, sondern er erlangte sehr schnell starken Einfluß auf die deutsche Geschichtwissenschaft 12 . Er führt folgendes aus: „Wenn ich ζ. B. genau mit dem Charakter eines Menschen bekannt" sei, kann „ich oft sagen, wie er unter gewissen Umständen handeln" werde. Sollte „meine Vorhersage i r r i g ausfallen, so" müsse „ich meinen I r r t u m nicht der W i l l k ü r und Laune seiner Willensfreiheit zuschreiben, eben so wenig einer übernatürlichen Vorherbestimmung, denn für keins von Beiden" haben „ w i r den geringsten Beweis, sondern ich" müsse „mich damit begnügen anzunehmen, entweder daß ich über einige von den Umständen, i n denen er sich" befunden habe, „falsch berichtet worden, oder daß ich seine gewöhnliche Geistestätigkeit nicht hinlänglich" studiert hatte. Wäre „ich hingegen richtig zu urteilen i m Stande und" hätte „zugleich eine vollständige Kenntnis seiner Gemütsverfassung und aller Vorgänge, i n deren Mitte er sich" befunden, so würde „ich sein Betragen als eine Folge dieser Vorgänge vorhersehen können" 1 3 . „Glücklicherweise" brauche „jedoch, wer an die Möglichkeit einer Wissenschaft der Geschichte" glaube, „weder die A n sicht von der Vorherbestimmtheit, noch die von der Willensfreiheit zu teilen; und alle Zugeständnisse, die ich hier von ihm erwarte," seien: „daß, wenn w i r eine Handlung" vollbringen, „dies aus einem Beweggrunde oder Beweggründen" geschehe; „daß diese wieder die Folgen aus etwas Vorhergegangenem" seien; „und daß w i r folglich, wenn w i r mit Allem, was vorhergegangen und mit allen Gesetzen, nach denen es" erfolge, „bekannt" wären, „mit unfehlbarer Gewißheit alle unmittelbaren Ergebnisse davon vorhersagen" könnten 1 4 . 10

Τwesten, Auguste Comte (294). M i l l , Logik, 2. Bd., 6. Buch, 2. Kap., § 2 (440). 12 Vgl. dazu Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5. Kap., § 5, 1. (708 f.). 13 Buckle, Geschichte der Zivilisation, l.Bd., 1. A b t l g . (17). 14 Buckle, Geschichte der Zivilisation, l . B d . , 1.Abtlg. (16). 11

124

4. Kap.: Der Historische Positivismus

Wilhelm Scherer (1841—1886), ein von Comte und Buckle beeinflußter namhafter deutscher Literaturhistoriker, vertritt folgende Auffassung: „ W i r glauben m i t Buckle, daß der Determinismus, das demokritische Dogma vom unfreien Willen, diese Zentrallehre des Protestantismus, der Eckstein aller wahren Erfassung der Geschichte" ist 1 5 . Und Hippolyte Taine (1828—1893), ein einflußreicher französischer Historiker, Literaturwissenschaftler und Soziologe, behauptet schließlich: „Ebenso wie i m Grunde die Astronomie ein Problem der Mechanik und die Physiologie ein Problem der Chemie" sei, „ebenso" sei „ i m Grunde die Geschichte ein Problem der Psychologie" 16 . b) Zur Erleichterung des Verständnisses der i m folgenden vorgetragenen K r i t i k vom Standpunkt der dieser Arbeit zugrundeliegenden realistischen Ontologie werden zunächst die wichtigsten Begriffe der von Ernst Wolf begründeten empirischen Handlungslehre 17 kurz dargelegt. aa) Eine Handlung ist eine Tätigkeit, deren Inhalt darin besteht, daß durch Wollen entsprechend einem Entschluß eine körperliche Tätigkeit oder Denktätigkeit bewirkt wird. Eine Tätigkeit ist ein Ändern, das von einem Lebewesen i n sich selbst zentral bewirkt wird. Die Artmerkmale des Begriffs Handlung sind danach: körperliche Tätigkeit oder Denktätigkeit; Wollen dieser Tätigkeit; Entschluß, diese Tätigkeit vorzunehmen, d. h. sie zu wollen 1 8 . Ein Kausalzusammenhang besteht allein zwischen körperlicher Tätigkeit oder Denktätigkeit einerseits und Wollen andererseits. So ist die körperliche Tätigkeit oder Denktätigkeit als Bestandteil einer Handlung die Wirkung einer Ursache, deren Elemente das Wollen dieser Tätigkeit und die für deren Verursachung notwendigen sonstigen Bedingungen sind (ζ. B. die für eine Körperbewegung erforderliche Bewegbarkeit eines Körperteils). Wollen ist eine Gehirntätigkeit m i t dem Inhalt, i n dem Tätigen selbst eine körperliche Tätigkeit oder eine Denktätigkeit zu bewirken. Wollen ist die Folge von Bedingungen, zu denen notwendig der Entschluß gehört, dieses Wollen zu wählen. Die anderen Bedingungen bestehen in den für die Entstehung des Wollens außer dem Entschluß notwendigen Gehirntätigkeiten 1 9 . 15

Scherer, Die Geschichte der deutschen Sprache, V o r w o r t . Taine, Histoire, zit. n. Wagner, Geschichtswissenschaft (240). 17 Vgl. zu dieser insgesamt Wolf, B G B A l l g . T., § 4 A (202 ff.). Z u der dieser zugrundeliegenden Ontologie s. ο. S. 23 ff. 18 Vgl. zum Vorstehenden Wolf, BGB A l l g . T., § 4 I I b 1, 2 (203 f.). 19 Z u Wollen vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 4 A I I b 3 (204 f.). 16

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft"

ί 25

Da das Wollen notwendig geschieht, hat die positivistische Geschichtslehre darin recht, insoweit eine „Willensfreiheit" zu verneinen. Insoweit, als zwischen körperlicher Tätigkeit oder Denktätigkeit und Wollen ein Kausalzusammenhang besteht, ist auch eine Handlung ein i n einem Menschen geschehender Kausalvorgang und geschieht nicht frei. bb) Der Fehler der Positivismus beginnt dort, wo die Handlung als vollständig kausal bedingt behauptet wird. Bestandteil der Handlung ist ein Entschluß. Ein Entschluß ist eine Gehirntätigkeit m i t dem begrifflichen Inhalt, zwischen Bewirken und Herbeiführen eines Erfolgs durch eine körperliche Tätigkeit oder Denktätigkeit und Nichtvornahme einer solchen Tätigkeit zu wählen. Ein Handlungsentschluß hat den Inhalt, das Wollen einer Tätigkeit zu wählen. M i t einem derartigen positiven Entschluß beginnt die Handlung, deren Bestandteil er ist. Da Entschließen als Wählen frei von ursächlicher Notwendigkeit geschieht, nicht verursacht, sondern veranlaßt ist, geschieht auch eine Handlung frei. Eine „philosophische Notwendigkeit" der „Handlungsweise" gibt es daher sowenig wie „Gesetze" von „Handlungen" 2 0 . cc) Eine Handlung ist auch nicht deshalb kausal bewirkt, weil sie „aus einem Beweggrunde oder aus Beweggründen" geschehe. Ein Beweggrund (oder Motiv) ist die i m Inhalt eines Handlungsentschlusses zwischen dem gewählten Erfolg und der gewählten Tätigkeit hergestellte Beziehung von Zweck und Mittel. Ein Zweck ist der i m Inhalt eines Handlungsentschlusses als Tätigkeitsziel gewählte Erfolg. Ein Mittel ist die zur Verfolgung eines Ziels gewählte Tätigkeit 2 1 . Ein Motiv als Bestandteil des Entschlusses w i r d mit diesem gewählt. Ebenso wie der Entschluß ist auch das Motiv Bestandteil der Handlung. Als Bestandteil des Entschlusses und der Handlung ist das Motiv mit beiden teilidentisch, also frei. Daß ein Motiv als Beweggrund bezeichnet wird, darf über diesen Sachverhalt nicht hinwegtäuschen. Ein Motiv „ w i r k t " daher nicht auf ein Individuum „ein", wie M i l l behauptet, sondern es w i r d von diesem als Bestandteil eines Handlungsentschlusses gewählt. Es ist daher auch nicht vor dem Beginn der Handlung „ i n dem Geiste eines Individuums" vorhanden, kann daher nicht vor dem Beginn der Handlung erkannt, die „Handlungsweise" daraus „nicht unfehlbar gefolgert" oder mit „derselben Sicherheit vorausgesagt" werden „wie ein physikalischer Vorgang". Alle diese und die weiteren Aussagen, i n denen nach Twesten „ i n den Handlungen und Geschicken der Menschen" „lediglich derselbe und kein anderer Zusammenhang wie i n den Erscheinungen der Natur" „gesucht" wird, 20 21

Vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § 4 A I I b 4 (205 ff.). Vgl. dazu näher Wolf, B G B A l l g . T., § 4 A I I b 4 bb (207 f.).

126

4. Kap.: Der Historische Positivismus

sind verfehlt, weil i n ihnen die Freiheit des Handlungsentschlusses und damit zusammenhängend die Freiheit der Wahl des Motivs als Bestandteil dieses Entschlusses verneint wird. dd) Daß der Grund dieser Auffassung über menschliche Handlungen der sich i n der positivistischen Geschichtsauffassung wiederholende absolute Glaube der positivistischen Wissenschafts- und Erkenntnislehre an eine Gesetzmäßigkeit aller Geschehen ist, ergibt sich aus folgendem. aaa) Indem M i l l die Auffassung vertritt, „wenn die i n dem Geiste eines Individuums vorhandenen Motive und der Charakter und die Neigungen des Individuums gegeben" seien, „wenn w i r m i t dem Individuum durch und durch bekannt" wären, „wenn w i r alle Beweggründe" wüßten, „welche auf dieselben" einwirken, „so könnten w i r seine Handlungsweise unfehlbar" folgern, behauptet er damit einen Notwendigkeitszusammenhang zwischen „Motiven", „Charakter" und „Neigungen" einerseits und „Handlungsweise" andererseits, ohne daß er jene weiß, ohne „daß er mit dem Individuum durch und durch bekannt" ist. Ein Notwendigkeitszusammenhang und ein darauf sich beziehendes Kausalgesetz sind jedoch nur erkennbar, wenn die Seienden, i n Bezug auf die das Existieren von Notwendigkeitszusammenhängen behauptet wird, einzeln erkannt sind. Dies folgt daraus, daß ein Notwendigkeitszusammenhang wie jeder Zusammenhang mit den Seienden oder Geschehen, i n Bezug auf die er erkannt wird, teilidentisch ist und daß jeder Notwendigkeitzusammenhang ein Einzelzusammenhang ist. W i r d das Existieren eines Zusammenhangs behauptet, ohne daß die Seienden oder Geschehen, zwischen denen er bestehen soll, erkannt sind, w i r d eine inhaltlich unbestimmte, folglich absolute Gesetzmäßigkeit behauptet. Diese Behauptung entspricht dem Glauben Mills an eine apriorisch konstruierbare „Geschichte" des „Weltalls" durch einen übermenschlichen „Jemand" 2 2 . bbb) Dasselbe geschieht bei Buckle, ζ. B. wenn er ausführt: „alle Zugeständnisse, die ich hier" erwarte, seien, „daß" „eine Handlung" „aus einem Beweggrunde oder Beweggründen" geschehe; „daß diese wieder die Folge aus etwas Vorhergegangenem" seien, „und daß w i r folglich, wenn w i r m i t Allem, was vorhergegangen und mit allen Gesetzen, nach denen es" erfolge, „bekannt" wären, „ m i t unfehlbarer Gewißheit alle unmittelbaren Ergebnisse davon vorhersagen" könnten. Buckles Behauptung, es sei nach i h m nicht notwendig, die Ansicht von der Vorherbestimmtheit zu teilen 2 3 , ist hiernach falsch. 22 23

Siehe o. S. 115 f. Siehe o. S. 123.

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" ccc) Daß eine bloße Aufeinanderfolge zweier Geschehen nicht notwendig ein Verhältnis von Grund und Folge darstellt, daß zwei Geschehen, die sich zeitlich nacheinander ereignen, nicht notwendig gesetzmäßig geschehen, wurde dargelegt. Der der Formel „Post hoc ergo propter hoc" zugrundeliegende Glaube an eine vorausgesetzte, unbestimmte inhaltslose absolute Gesetzmäßigkeit ist es aber, der i n den zitierten Ausführungen Mills und Buckles sowie den entsprechenden Auffassungen aller anderen historischen Positivisten übernommen wird24. ddd) Schließlich zeigt sich an den zitierten positivistischen Ausführungen der Einfluß eines ebenfalls auf Hume zurückgehenden Grunddogmas der positivistischen Lehre, die Identifizierung von Körper und Geist, die zu seiner unzutreffenden „naturwissenschaftlichen" „Psychologie" geführt hat 2 5 . Nur auf Grundlage dieser „Psychologie" konnte die falsche Auffassung entstehen, daß die geistigen Geschehen i m Geh i r n eines Menschen kausal bedingt seien. 2. Der „positivistische" Glaube an die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens ist auch der Grund für die Auffassung der Gesetzmäßigkeit sittlicher Entscheidungen und damit des sittlichen Handelns. Hierzu w i r d ζ. B. gesagt: a) „Ehe noch ein Jahrhundert" verstreiche, werde „die Reihe der Beweise vollständig und ebenso selten ein Historiker zu finden sein, der die stete Regelmäßigkeit der sittlichen Welt" leugne, „als jetzt ein Philosoph zu finden" sei, „der den gesetzmäßigen Gang der natürlichen Welt i n Abrede" stelle 2 6 . „Die sittliche wie die physikalische Welt" sei „festen Gesetzen unterworfen". „Eine Seele" habe „wie eine Pflanze ihren Mechanismus," sie sei „ein Stoff der Wissenschaft". „Wenn man die Kraft kennen würde, welche sie" schaffe, könnte „man sie" „durch reines Denken rekonstruieren", „ohne ihre Werke zu zerlegen" 2 7 . „Ob die Tatsachen physisch oder sittlich" seien, „das" mache „nichts aus, sie" haben „immer Ursachen; es" gebe „deren für den Ehrgeiz, für den Mut, für die Wahrhaftigkeit, wie für die Verdauung, die Muskelbewegung, die Körperwärme. Das Laster und die Tugend" seien „Produkte wie das V i t r i o l und der Zucker" 2 8 . 24 Z u Comte vgl. z.B. Eucken, Z u r Würdigung Comtes, in: Philosophische Aufsätze f. Eduard Zeller (65 f.), der zutreffend die Auffassung v e r t r i t t , daß die „Behauptung der Gesetzlichkeit alles Geschehens" bzw. die einer „ u n wandelbaren Gesetzlichkeit der Erfahrung" die Vertretung Comtes „eigener Metaphysik" sei. 25 Siehe o. S. 58 f. 26 Buckle, Geschichte der Zivilisation, l.Bd., 1. A b t l g . (30). 27 Taine, zit. n. Wagner, Geschichtswissenschaft (240). 28 Taine, Histoire, l . B d . (XV).

128

4. Kap.: Der Historische Positivismus

b) Das sittliche Verhalten eines Menschen ist ein Verhalten gemäß einem sittlichen Wertverhältnis. Dieses sittliche Wertverhältnis ist ein metaphysisches Ordnungsverhältnis zwischen einem Menschen und einem metaphysischen Gut dieses Menschen. Metaphysische Güter können wie jeder Gegenstand der Metaphysik nicht wissenschaftlich erkannt werden, weil es i n diesem Bereich keine Begrenztheit gibt und daher ein notwendig gegenständlich beschränkter und damit inhaltlich begrenzter Begriff i n Bezug auf diesen nicht gedacht werden kann. A n sittliche Güter kann nur geglaubt werden. Dieser Glaube umfaßt letzte Entscheidungen des Menschen über ihn selbst betreffende Inhalte. Diese letzten Entscheidungen, die sich auf das gesamte Leben des Entscheidenden beziehen, erfordern Entscheidungen des Menschen über sein Verhältnis zum Grund der Welt, und damit zugleich über den letzten Grund des eigenen Existierens. Diese Entscheidungen sind notwendig individuell und subjektiv. Sich darauf beziehende Gesetze, die ihrem Inhalt nach objektiv sind, zu denken, ist nicht möglich 2 9 . Einen „gesetzmäßigen Gang" der „sittlichen Welt" gibt es daher nicht. Eine „sittliche Welt", wie sie außer von Buckle auch von Taine behauptet wird, gibt es i m übrigen schon deshalb nicht, weil die Welt alle Seienden sind, der letzte Grund der Welt, zu dem die Stellung des die sittliche Entscheidung treffenden Menschen Inhalt dieser Entscheidung ist, aber notwendig außerhalb der Welt liegt. M i t der „sittlichen Welt" entfällt auch die von Taine behauptete „ K r a f t " , die sie schaffe; dies u m so mehr, als Taine selbst sie nicht einmal zu kennen behauptet. Eine Lehre, i n der die Auffassung vertreten wird, „das Laster und die Tugend" seien „Produkte wie das V i t r i o l und der Zucker", behandelt die moralischen Wertentscheidungen eines Menschen wie chemische Vorgänge und verneint sie damit als freie Entscheidungen, weil jede Wahlmöglichkeit dessen, woran ein Mensch glauben kann, ausgeschlossen ist. Moral und Sittlichkeit werden damit i n Wahrheit verneint. c) Wie bereits mehrfach nachgewiesen, zeigt sich, daß auch und gerade i n der positivistischen Geschichtswissenschaft der Versuch einer Übernahme naturwissenschaftlicher „Prinzipien", die soweit ging, daß nach einem Wort Wagners die „Naturwissenschaft" „triumphalen Einzug" „auch i m Reich der Geschichte" gehalten hat 3 0 , schwerwiegende fehlerhafte Konsequenzen nach sich zog. Insbesondere als Methodenlehre ist die positivistische Geschichtslehre verfehlt. Die völlige Verkennung des Sachverhalts, daß eine Erkenntnismethode ihrem Erkenntnisgegenstand entspricht, hat i n Zusammenhang mit den eben dargelegten wei29 80

Vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β I b 1 (41 ff.). So Wagner, Geschichtswissenschaft (237).

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" teren Fehlern des philosophischen Positivismus eine falsche Gesetzesgläubigkeit hervorgerufen, die, auf den Gegenstand Mensch angewandt, zu einer falschen Anthropologie geführt hat. I n dieser w i r d der Mensch i n seiner Entschließungsfreiheit und — da Persönlichkeit ein entschließungsfähiger Mensch ist — als Persönlichkeit verneint 3 1 . Eine realistische Geschichtslehre konnte mit diesen Grundlagen nicht begründet werden. III. Die positivistischen Auffassungen zur Menschheitsgeschichte 1. Die vertretenen

Lehren

Auf der Grundlage dieser Gesetzesgläubigkeit und Anthropologie führt Comte zur „positiven Methode" insbesondere i n Hinsicht der Soziologie 32 folgendes aus: „Die Tatsachen" haben „an sich keinen Sinn, wenn sie nicht, sei es auch nur durch eine Hypothese, an Gesetze über die soziale Entwicklung angeknüpft" werden. „Sodann" bedürfe „es eines auf das Ganze gerichteten Geistes, u m die wissenschaftlichen Fragen zu erfassen und zu stellen; er" müsse „die Entwicklung auch leiten, u m sie vernunftgemäß zu gestalten." „Die eigentliche Beobachtung" müsse „sich den positiven Erörterungen über die Gesetze der Solidarität oder der Folge zusammengehöriger Vorgänge unterordnen. Jede soziale Tatsache" erlange „erst dann wissenschaftliche Bedeutung, wenn sie einer anderen sozialen Tatsache angefügt" werde. „Diese Forderung" vervollständige „die schon aufgestellte Notwendigkeit, den auf das Ganze gerichteten Geist bei den soziologischen Studien überwiegen zu lassen" 33 . „Der allgemeine Geist der dynamischen Soziologie" bestehe „darin, daß man jeden der aufeinander folgenden sozialen Zustände als das Ergebnis des vorangehenden und die Ursache des nachfolgenden Zustandes" auffasse „gemäß des Axioms von Leibniz: Das Gegenwärtige geht schwanger mit dem Kommenden. Dann" sei „die Aufgabe der Wissenschaft die, die Gesetze zu entdecken, deren Gesamtheit den Gang der sozialen Entwicklung" bestimme 3 4 . I m sechsten Buch des 2. Bandes der Logik der Geisteswissenschaften, von der Taine nach Marcuse behauptet hat, er kenne „keine 31

Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (118). Unter Soziologie verstand Comte das, was „nach heutiger Auffassung Soziologie u n d Geschichtswissenschaft" ist; vgl. Marcuse, Geschichtsphilosophie A . Comtes (49). 33 Comte, Soziologie, 5. Kap. (104). 34 Comte, Soziologie, 5. Kap. (91). 32

9 Tripp

130

4. Kap.: Der Historische Positivismus

bessere Behandlung dieses Gegenstandes" 35 , behauptet M i l l folgendes: „Die fundamentale Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft" bestehe „darin, die Gesetze zu finden, nach denen ein gesellschaftlicher Zustand den i h m nachfolgenden und seine Stelle einnehmenden Zustand" erzeuge. „Dies" eröffne „die schwierige Frage i n Betreff des Fortschreitens der Menschen und der Gesellschaft, eine i n einer jeden richtigen Vorstellung von den sozialen Erscheinungen als Gegenstand einer Wissenschaft inbegriffene Idee" 3 6 . Nach Buckle ist es „ein eigentümlich unglücklicher Umstand, daß die Geschichte des Menschengeschlechts wohl i n ihren gesonderten Teilen m i t bedeutendem Talent untersucht worden" sei, „daß aber kaum irgendwer es unternommen" habe, „sie zu einem Ganzen zusammenzufügen, und ausfindig zu machen, wie sie miteinander verbunden" seien 37 . 2. Kritik

der dargestellten

Auffassungen

a) Die Lehre von der Geschichte als Ganzes Einen „auf das Ganze gerichteten Geist" i n der Geschichtswissenschaft gibt es nicht, die „Zusammenfügung" der „gesonderten Teile" der „Geschichte des Menschengeschlechts" „zu einem Ganzen" ist nicht möglich. Dies ergibt sich aus folgendem: aa) Entsprechend der sprachlichen Bedeutung des Wortes Geschehen ist geschichtlich alles Entstandene. Ein entstandenes Seiendes ist eine Tatsache. Geschichtlich sind daher alle Tatsachen, die es gibt. Die „Geschichte des Menschengeschlechts" sind entsprechend alle Tatsachen, die das Sein der Menschen betreffen 3 8 . Alle diese Tatsachen zu kennen, ist für Menschen unmöglich und w i r d von den Positivisten nicht gefordert. Wenn aber mit dem Postulat eines „auf das Ganze gerichteten Geistes" nicht die Kenntnis aller jemals entstandenen Tatsachen gemeint ist, werden notwendig als „Ganzes der Geschichte" einzelne Tatsachen und deren Zusammenhänge behauptet. Dies ist logisch ausgegeschlossen. bb) Ein Ganzes ist ein Seiendes, welches kein Bestandteil ist. Ein solches Seiendes ist selbständig. Ein Bestandteil ist ein Seiendes, das zusammen m i t anderen ein Seiendes ist, das zusammen m i t anderen die Einheit eines Seienden bildet 3 9 . 85

Vgl. Marcuse, Geschichtsphilosophie A . Comtes (21, m. Nachw.). M i l l , Logik, 2. Bd., 6. Buch, 10. Kap., § 2 (535). 87 Buckle, Geschichte der Zivilisation, l . B d . , l . A b t l g . (3). 88 Vgl. dazu Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (108 ff.); zu geschichtliche Verhältnisse vgl. ders., BGB A l l g . T., § 1 Β V (66 f.). 89

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft"

131

Daß alle die das Sein der Menschen betreffenden Tatsachen ein Ganzes sind, ist bereits dadurch ausgeschlossen, daß viele selbständige Seiende, die es gibt, nicht ein einziges Seiendes sein können. Jede andere Auffassung käme sonst zu dem Ergebnis, den Satz 1 + 1 + 1 . . . (usw.) = 1 für wahr zu halten 4 0 . Folgt aus dem Bisherigen schon, daß nicht alle geschichtlichen Tatsachen ein Geschichtsganzes sein können, so gilt dies erst recht für einen Teil dieser Tatsachen. Die gegenteilige Auffassung hat den Satz zum Inhalt, daß der Teil eines Ganzen mit dem Ganzen nicht teilidentisch, sondern identisch ist. Das Ganze wäre dann ein Teil seiner selbst. Das ist nicht nachvollziehbar. cc) Wenn sich methodisch die Erkenntnis des behaupteten Geschichtsganzen nicht als Resultat der Erkenntnis aller Tatsachen ergibt, sondern schon bekannt ist, bevor alle Tatsachen erkannt sind, dann beruht seine Erkenntnis auch aus diesem Grund auf überhaupt keinen Tatsachen. Das „Geschichtsganze" ist dann m i t beliebigem Inhalt frei als solches behauptbar, die Tatsachen, die es „belegen" sollen, sind einer willkürlichen Idee untergeordnet. A n die Stelle von Geschichtserkenntnis t r i t t eine „Weltanschauung" 41 . Es geschieht damit i n diesem methodisch falschen Geschichts- und Tatsachendenken genau dasselbe, was Twesten zu Recht an den „theologischen und metaphysischen Betrachtungen" kritisiert hat, nämlich daß diese „nicht einmal den Tatsachen ,die Knochen zu brechen' brauchen, „ u m sie ihrem System einzureihen," „sie" können „sich einfach auswählen, was ihre absolute Wahrheit zu bestätigen" scheine, „und durch Konfrontation m i t dieser alles Übrige" beseitigen, „was ihre absolute Wahrheit" — hier: das „Geschichtsganze" — „zu bestätigen" scheine 42 . 89 Vgl. Wolf, Sachenrecht, § 3 A I I m (100 f.); § 1 D I V d (18 ff.); ders., B G B A l l g . T. § 2 H I b 1 cc (165). 40 Vgl. dazu Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (108 ff.). — Da es i m vorliegenden Zusammenhang u m die Widerlegung dessen geht, daß viele selbständige Seiende ein Ganzes sein sollen, bleiben mengentheoretische Lehren, sofern sie die Verhältnisse von unselbständigen Seienden (Bestandteilen) u n d Ganzen betreffen, unberührt. Dies gilt zum Beispiel für die Erläuterung des Begriffs Menge i. S. d. Mengenlehre v o n Cantor (Gesammelte Abhandlungen mathematischen u n d philosophischen Inhalts (282)): „ U n t e r einer Menge verstehen w i r jede Zusammenfasung M von bestimmten w o h l unterschiedenen Objekten m unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente (Hervorhebungen von m i r , D. T.) von M genannt w e r den) zu einem Ganzen". 41 Z u r „Weltanschauung" vgl. insbes. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (274 ff.). 42 Dazu, daß die Auffassung eines „Geschichtsganzen" idealistischer W e l t anschauung entspricht, vgl. Dittmann, Die Geschichtsphilosophie Comtes u n d Hegels, in: Vierteljahresschr. f. wiss. Phil, u n d Soziologie, N. F. 13, 3. Heft (282): „Comte u n d Hegel" seien „sich beide einig darüber, daß die Geschichte die ganze Menschheit zur Grundlage" habe: „Geschichte" sei „die Entwick-

9*

132

4. Kap.: Der Historische Positivismus

Bereits der methodische Ausgangspunkt der positivistischen Geschichtslehre entspricht nach dem Ausgeführten der mit den Lehren von der „Correlativität von Subjekt und Objekt" und.der „Relativität der Erkenntnis" behaupteten Abhängigkeit der Tatsachen und ihrer Erkenntnis von dem subjektiven Standpunkt eines vermeintlich erkennenden Menschen. Der W i l l k ü r der „Tatsachenerkenntnis" i m philosophischen Positivismus entspricht damit die W i l l k ü r der „Geschichtserkenntnis" i m historischen Positivismus. dd) Die falsche positivistische Gesetzesgläubigkeit hat i n Verbindung mit der ebenfalls darauf beruhenden „naturwissenschaftlichen" Psychologie und der Auffassung der „Geschichte des Menschengeschlechts" als „Ganzes" gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zu einer falschen „Sozial-" bzw. „Völkerpsychologie" geführt, die insbes. durch K. Lamprecht und seiner „neuen kulturhistorischen Methode" i n der deutschen Geschichtswissenschaft bedeutenden Einfluß gewonnen hat 4 3 . So behauptet Lamprecht: „Die Summe aller sozialpsychischen Fatoren" bilde „ i n sich zu jeder Zeit eine Einheit" 4 4 . „Das Sozialpsychologische" sei „immer nur eine Folgeerscheinung des Individualpsychischen" 45 . „Gesetzesmäßig kausal erkennbar" seien „nur die kollektiven Erscheinungen 4 6 , das singular Individuelle" sei „irrational", könne „nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein" 4 7 , es werde „von dem Sozialpsychologischen mit Notwendigkeit umgrenzt", 4 8 „die persönliche Initiative auch des gewaltigsten Einzelmenschen" sei „ i n die Wirkung der nationalen Entwicklungsstufe, i n der er" lebe, „als i n unübersteigbare Notwendigkeiten eingeschlossen" 49 . Neben der bereits kritisierten, jeder Auffassung eines „Geschichts-", „Gesellschafts-" oder „Volksganzen" zugrundeliegenden antilogischen und damit auch antinaturwissenschaftlichen Behauptung, die „Summe aller" „Faktoren" (also 1 + 1 + 1 . . . usw.) sei eine Einheit (also 1), enthalten diese Darlegungen l u n g der Menschheit als eines Ganzen, das" sei „ihre Grundanschauung u n d zugleich ihre Grundvoraussetzung, die sie nicht weiter" begründen, „ w e i l sie i n ihrer ganzen Zeit allgemein w a r " . — Bereits nach dem bisher Ausgeführten ist es v ö l l i g verfehlt, die positivistische Geschichtslehre als „ e m p i r i sche" zu bezeichnen; so aber ζ. B. Marcuse, Geschichtsphilosophie Comtes (z.B. 177). 43 Dazu, daß Lamprechts Ansichten dem Lehrstoff sämtlicher Schulgattungen zugrundelagen u n d daß sie bis „ i n die Feuilletons der populären Zeitschriften und der Tageszeitungen stets von neuem W i d e r h a l l " fanden, vgl. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5. Kap., § 5 (716). 44 Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte (126). 45 Lamp recht, Was ist Kulturgeschichte (120). 46 Zit. n. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5. Kap., § 5 (713). 47 Lamprecht, Die historische Methode des H e r r n von Below (15). 48 Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte (145). 49 Lamprecht, Individualität, Idee und sozialpsychische K r a f t (885).

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" weitere wesentliche Widersprüche. Wenn „das Sozialpsychologische" „immer eine Folgeerscheinung des Individualpsychischen" ist, dieses „singular Individuelle" aber „irrational" ist, kann aus dem „Irrationalen", „gesetzesmäßig kausal" nicht „erkennbaren", also offensichtlich nicht „gesetzesmäßig kausal" Geschehenden niemals ein „gesetzesmäßig kausales" Geschehen folgen. Denn daß das „Individualpsychische" als einzelnes angeblich „irrationell" verlaufe, als Ganzes aber zugleich gesetzesmäßig kausal geschieht, ist unmöglich, sein Behauptung widersinnig. Das „Sozialpsychologische" ist danach denkunmöglich eine „Folgeerscheinung" des „Individualpsychischen". Dies w i r d i n den weiteren Zitaten bestätigt, wenn die „persönliche Initiative" — die offensichtlich als „individualpsychisches" Geschehen aufgefaßt wird, i m Widerspruch zum oben Behaupteten eine „Wirkung" des „Sozialpsychologischen" sein soll. Wenn das „singular Individuelle" als „irrational", „wissenschaftlicher Erkenntnis nicht zugänglich" bezeichnet wird, w i r d damit der Sache nach ausgesagt, daß die behauptete „Sozialpsychologie" i n Wahrheit m i t dem Handeln, Denken, Fühlen, Wollen usw. der Menschen und damit mit geschichtlichen Tatsachen nicht das geringste zu t u n h a t 5 0 . ee) Die Behauptung eines „Geschichtsganzen" oder „Menschheitsganzen" bedeutet notwendig die Auffassung des Menschen als Teil dieses Ganzen, also als Bestandteil. Wenn Comte sagt, „der Mensch" sei „ i n statischer wie dynamischer Auffassung" „eigentlich nur eine Abstraktion", „nur die Menschheit" sei „wirklich, namentlich auf geistigem und moralischem Gebiet" 5 1 , so ist dies nur eine sprachliche Umschreibung des menschenverneinenden ideologischen Satzes, daß das Ganze alles, der Mensch hingegen nichts sei. Denn andere den Menschen als Persönlichkeit betreffenden „Gebiete" als die „geistigen und moralischen" gibt es nicht 5 2 . 60 Welchen Grad von V e r w i r r u n g die Auffassung einer „Völkerpsychologie" als gesetzmäßiges Geschehen zum Teil b e w i r k t hat, zeigt ein erschrekkendes Beispiel aus der P u b l i k a t i o n v o n E. Saase „Das Zahlengesetz i n der Völkerreizbarkeit, eine Anregung zur mathematischen Behandlung der W e l t geschichte" (Brandenburg 1877). Hier werden die „ A u f w a l l u n g e n " „der v e r schiedensten organischen u n d unorganischen Tätigkeiten i m Völkerleben, Kriege, Erfindungen, Seuchen" etc. als Symptome „gesteigerter Regsamk e i t " auf die „durch die periodischen A u f w a l l u n g e n der Sonne variierenden Anziehungsverhältnisse", „ u n d also auf die Spektren der Spektralanalyse" zurückgeführt, „welche m i t den auf Metermaß reduzierten Zeitabständen geschichtlicher Krisen tabellarisch verglichen werden" könne. Bernheim, Geschichtsforschung u n d Geschichtsphilosophie (130 f.), hat Recht m i t der Bemerkung: „Das steht an der Grenze des Pathologischen, aber es ist doch n u r ein konsequenter Ausdruck jenes weitverbreiteten Wahns." 51 Comte, Soziologie, 15. Kap. (460). 52 Z u welchen weiteren Konsequenzen dieser Kollektivismus teilweise ge-

134

4. Kap.: Der Historische Positivismus b) Die Lehre von den „Entwicklungsgesetzen der Menschheit"

aa) Der „positivistische Standpunkt", von dem aus der „auf das Ganze gerichtete Geist" seine „soziologischen Studien" betreiben solle, und der, wie gezeigt, notwendig spekulativ ist, findet seine kürzeste Formulierung bei Comte, wenn er befindet, daß „die Tatsachen" „an sich keinen Sinn" haben, „wenn sie nicht", sei „es auch nur durch eine Hypothese, an Gesetze über die soziale Entwicklung angeknüpft" werden. — Dieser Satz enthält den bereits dargestellten allgemeinen methodischen Fehler, die „Tatsachenerkenntnis" von vorher aufgestellten absoluten theoretischen Ansichten „leiten" zu lassen und damit die „Tatsachenerkenntnis" apriorischem „Denken" zu unterwerfen, wie dies außerdem i n der Lehre von dem „Geschichtsganzen" geschieht. Dem absoluten Glauben, dem damit die Geschichtslehre des Positivismus von vornherein methodisch akkomodiert wird, entspricht sachlich ein absoluter Glaube an „soziale Entwicklungsgesetze". Daß auch diese „Gesetze" wie alle „Gesetze" i m philosophischen und historischen Positivismus konstruiert werden, ergibt sich aus Darlegungen der Positivisten. So geschieht es, wenn Comte sagt, daß „der allgemeine Geist der dynamischen Soziologie" „darin" bestehe, „daß man jeden der aufeinander folgenden sozialen Zustände als das Ergebnis des vorangehenden und die Ursache des nachfolgenden" auffasse „gemäß des Axioms von Leibniz: ,Das Gegenwärtige 4 geht schwanger mit dem Kommenden". Die einzige „Begründung" dafür, daß „aufeinander folgende soziale Zustände" einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung beinhalten sollen, besteht darin, daß man diese Zustände als das „Ergebnis" von Ursache und Wirkung „auffaßt", was nichts anderes heißt, als daß man diesen Zusammenhang nicht erkennt, sondern subjektiv setzt. Dasselbe ist der Fall bei der Berufung auf das durch nichts begründete „Axiom" Leibnizens, das „Gegenwärtige" gehe „schwanger mit dem Kommenden" und der oben zitierten Auffassung Mills, nach der „die fundamentale Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft" „darin" bestehe, „die Gesetze zu finden, nach denen ein gesellschaftlicher Zustand den ihn nachfolgenden und seine Stelle einnehmenden Zustand" erzeuge. Alle diese Ausführungen, i n denen ohne weitere f ü h r t hat, vgl. z.B. Gumplowicz, Grundriß der Soziologie (167): „Was i m Menschen" denke, „das" sei „gar nicht er, sondern seine soziale Gemeinschaft". — Daß diese Auffassung menschenverneinende Ideologie ist, ergibt sich aus folgendem Zitat desselben Autors, Soziologie u n d P o l i t i k (54): „ A u f dem A l t a r ihrer Erkenntnis" opfere „die Soziologie — den Menschen, . . . er" sinke „ i n der Soziologie zu einer bedeutungslosen N u l l herab", „auch der mächtigste Staatsmann" sei „ f ü r die Betrachtungsweise des Soziologen n u r ein blindes Werkzeug, i n der unsichtbaren, aber übermächtigen Hand seiner sozialen Gruppe, die selber wieder n u r einem unwiderstehlichen sozialen Naturgesetze" folge.

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" Darlegung davon ausgegangen wird, daß zwei zeitlich aufeinanderfolgende Geschehen einen Kausalzusammenhang beinhalten, sind nichts anderes als sprachliche Einkleidungen der falschen Humeschen Formel „Post hoc ergo propter hoc" 5 3 . bb) Zum Inhalt der als existierend behaupteten „Entwicklungsgesetze" „der Menschheit" führt Comte folgendes aus: „Die Entwicklung der Menschheit" könne „als eine Vervollkommnung innerhalb angemessener Grenzen betrachtet" werden. „Die Bezeichnung als »Entwicklung'" habe „den Vorteil", „daß sie zugleich" festlege, „worin die Vervollkommnung der Menschheit" bestehe. „Sie" bezeichne „ i n der Tat den einfachen, durch eine angemessene K u l t u r unterstützten Aufschwung der Fähigkeiten, welche die menschliche Natur" ausmachen, „ohne daß man neue Fähigkeiten einzuführen" brauche 54 . „ I n dem Begriff der menschlichen Vervollkommnung" zeige „sich" „nur der Gedanke einer steten Entfaltung der menschlichen Natur, indem sie i n ihren verschiedenen Richtungen eine stete Harmonie nach den Gesetzen der Entwicklung" einhalte. „Diese Auffassung, ohne die es keine Sozialwissenschaft geben" könne, sei „ohne Zweifel die richtige und wahrhafte" 5 5 . cc) Die von den Positivisten als existierend behaupteten „sozialen Entwicklungsgesetze" gibt es nicht. aaa) Dies folgt bereits daraus, daß die Ereignisse der menschlichen Geschichte überwiegend Handlungen oder Unterlassungen von Menschen oder durch solche bedingt sind, deren Bestandteil, wie dargelegt, Entschlüsse sind, und die daher insoweit nicht kausal verursacht sind, sondern frei geschehen. Damit ist die Möglichkeit von Gesetzen des menschlichen Handelns und Unterlassens und damit von Gesetzen der Menschheitsgeschichte, folglich auch von „sozialen Entwicklungsgesetzen" ausgeschlossen56. bbb) Auch die von Comte als „Entwicklung der Menschheit" bezeichnete „Vervollkommnung der Menschheit", der „Aufschwung der Fähigkeiten, welche die menschliche Natur" ausmachen, deren „stete Entfaltung", gibt es nicht. Unter der Bezeichnung Menschheit können nur entweder alle existierenden Menschen oder die Gattung Mensch verstanden werden. Die Be53 Vgl. auch Rümelin, Über Gesetze der Geschichte, 1878, i n : ders., Reden u n d Aufsätze, N. F. (143): „So" sei „denn auch dies Gesetz des Fortschritts schließlich doch mehr Sache des Glaubens als eine beweisbare Erkenntnis". 54 Comte, Soziologie, 5. Kap. (95). 55 Comte, Soziologie, 5. Kap., (94). 58 Vgl. o. S. 116 f.

136

4. Kap.: Der Historische Positivismus

hauptung, daß sich alle Menschen „entwickeln" bzw. „vervollkommnen", setzt die Kenntnis aller Menschen, die existieren, voraus, was völlig ausgeschlossen ist. W i r d unter Menschheit die Gattung Mensch verstanden, müßte diese „Vervollkommnung" und „Aufschwung der Fähigkeiten" „der menschlichen Natur" ebenfalls jeden einzelnen Menschen betreffen. Denn sonst würde i n Bezug auf die Gattung Mensch das Existieren von Eigenschaften behauptet, die der einzelne Mensch, dem als solchen aber notwendig alle Gattungsmerkmale zukommen, nicht aufweist — was widersinnig wäre. Die Behauptung einer stetigen „Vervollkommnung" der menschlichen Gattung, ein „Aufschwung der Fähigkeiten", würde bedeuten, daß jeder Mensch, der später existiert, mehr und bessere Fähigkeiten als jeder vor i h m lebende Mensch besitzen würde. Daß dies nicht der Fall ist entspricht der Erfahrung und braucht nicht besonders belegt zu werden. Es t r i f f t auch nicht zu, wenn man auf die statistische Häufigkeit und auf längere Zeiträume abstellt. ccc) Daß die von Comte behauptete „Entwicklung der Menschheit" nicht existiert, ergibt sich auch aus den weiteren, oben zitierten Ausführungen Comtes, wonach „sich" „ i n dem Begriff der menschlichen Vervollkommnung" „nur der Gedanke einer steten Entfaltung der menschlichen Natur" zeige, „indem sie i n ihren verschiedenen Richtungen eine stete Harmonie nach den Gesetzen der Entwicklung" darstelle. Grundlage einer allgemeinen Entwicklung ist das Existieren sich entwickelnder Seiender. Eine Entwicklung ist also nur zu erkennen durch die Erkenntnis aller an der Entwicklung beteiligten Seienden. Diese Erkenntnis müßte auf bewiesene Tatsachen gestützt werden. Eine Entwicklung als solche gibt es ebensowenig wie sich darauf beziehende Gesetze, wie dies mit der Annahme von „Gesetzen der Entwicklung" unterstellt wird. Wenn Comte behauptet, daß „sich" „die menschliche Natur" „nach Gesetzen der Entwicklung" entfalte, so ist dies die A n wendung der oben 5 7 dargestellten falschen Gesetzesauffassung des philosophischen Positivismus, bei der es nur absolute Entwicklungsgesetze gibt, i n der positivistischen Geschichtslehre 58 . Damit w i r d „die menschliche Natur" i n Wahrheit als einer absoluten Bewegung unterworfen, als permanent fließend behauptet. Der Mensch ist i n einer derartigen Lehre Teil eines stetig fließenden „Menschheitsganzen". Er w i r d infolgedessen als „Organ" der „ungeheuren Einheit" der „menschlichen Gattung", der mit anderen „Organen" „gemeinsam die allgemeine Entwicklung" fortführe 5 9 , oder ent57

Siehe o. S. 116 ff. Dasselbe gilt für die Behauptung „sozialer Entwicklungsgesetze" oder eines unbestimmten „gesellschaftlichen Fortschritts". 59 Vgl. Comte, Soziologie, 5. Kap. (101). 58

Α. Übertragung der „Prinzipien der Naturwissenschaft" sprechend als „unentbehrlicher Mitarbeiter an derselben grundlegenden, intellektuellen oder materiellen, moralischen oder politischen Evolution" bezeichnet 60 . Der Mensch bestimmt danach nicht die Ziele seines Handelns aufgrund freier Entschlüsse selbst, sondern sie sind ihm vorausgesetzt bzw. werden als i h m vorausgesetzt behauptet. Da die als solche bezeichnete ganzheitliche „Evolution" wissenschaftlich nicht möglich ist und daher nicht existiert, kann dies nur bedeuten, daß dem einzelnen Menschen i m Namen der „Wissenschaft" autoritär Handlungsziele auferlegt werden. Die positivistische Geschichtslehre nimmt damit Partei für eine absolute Beherrschung des Menschen 61 . Sie ist Herrschaftsideologie. dd) Daß die positivistische Geschichtsauffassung i n der Propaganda ihrer Herrschaftsideologie sogar teilweise zu offener Geschichtsverfälschung geraten hat, belegen folgende Ausführungen Comtes: Man habe „den elementaren Begriff der sozialen Dynamik zu betrachten, d.h. die Stufenfolge zu studieren, wie sie sich dem Ganzen der Menschheit" darlege. „ U m hier die Ideen scharf zu fassen", müsse „man von der Hypothese eines einzigen Volkes ausgehen" „und alle sozialen Veränderungen auf ein solches beziehen" 62 . Um den „elementaren Begriff der sozialen Dynamik" (oder, was dasselbe ist, die „Entwicklung der Menschheit") „zu betrachten", muß man danach die Tatsache, daß es viele Völker gibt, deren Geschichte völlig verschieden voneinander ist — bei denen es unter Anwendung der Voraussetzung des Positivismus also entsprechend unterschiedliche „Entwicklungen" gibt —, deren Anführung bereits die Widerlegung der Auffassung einer einheitlichen „Entwicklung der Menschheit" wäre, einfach ignorieren und das Gegenteil fingieren. M i t einer derartigen Voraussetzung kann keine Geschichtserkenntnis Zustandekommen. Stattdessen w i r d sie durch Geschichtskonstruktion ersetzt. Die angeblichen „Tatsachen" werden ins Gegenteil verfälscht. Wenn M i l l „die schwierige Frage i n Betreff des Fortschreitens der Menschheit und der Gesellschaft", als „eine i n einer jeden richtigen Vorstellung von den sozialen Erscheinungen als Gegenstand einer Wissenschaft inbegriffene" „Idee" (Hervorhebung von mir, D. T.) bezeichnet, hat er diese Zusammenhänge zwar nicht erkannt — weil er die verfehlte Entwicklungslehre des Positivismus nicht kritisiert, sondern die Grundlagen dazu wesentlich mitgeschaffen hat — sie aber sehr (50).

Comte, Phil. pos. I V (414); zit. n. Marcuse, Geschichtsphilosophie Comtes

61 Vgl. auch Eucken, Z u r Würdigung Comtes (68): Comte hypostasiere „das Ganze zu einer dem Einzelnen überlegenen Macht". 62 Comte, Soziologie, 5. Kap. (91).

138

4. Kap.: Der Historische Positivismus

wohl richtig benannt. Denn i n der Tat zeigt es sich, daß der historische Positivismus keine Überwindung der idealistischen Philosophie und dem i n ihr vertretenen Historismus, der i m wesentlichen durch die Verfechtung des „Entwicklungsgedankens" bzw. „Entwicklungsbegriffs" i n der Geschichte gekennzeichnet ist, darstellt 6 3 . I m Gegenteil zeigt ein i m folgenden Abschnitt vorgenommener näherer Vergleich zwischen idealistischer und positivistischer Geschichtslehre, daß der historische Positivismus nicht zuletzt wegen der bereits i m philosophischen Positivismus enthaltenen zahlreichen Einbruchsteilen für idealistische Grundauffassungen i n einem bisher nicht erkannten Ausmaß durch den Historismus beeinflußt ist, so daß man nur die vollständige Kapitulation des historischen Positivismus vor der Spekulation konstatieren kann. B. Die Übereinstimmung zwischen positivistischer und idealistischer Geschichtsauffassung I. Daß die mit den Lehren vom „Geschichtsganzen", vom „Menschheitsganzen", von den „Entwicklungsgesetzen der Menschheit" vertretenen Auffassungen den wichtigsten Grundlagen der idealistischen Philosophie entsprechen, hat der Sache nach schon Twesten und damit ein Vertreter der positivistischen Geschichtslehre festgestellt, als er auf die diesbezügliche Übereinstimmung zwischen positivistischer und idealistischer Geschichtsauffassung hinwies, ohne damit allerdings zu erkennen, daß der Positivismus deswegen als realistische Geschichtswissenschaft ausscheidet. Nach Twesten hat Comte nämlich zwar „einigermaßen Recht, wenn er" behaupte, „den Gedanken eines fortschreitenden Zusammenhangs, einer geschichtlichen Kontinuität i n dem Ganzen der menschlichen Entwicklung zuerst durchgeführt zu haben; für uns freilich" habe „dieser Anspruch etwas Befremdendes, da i n Deutschland die einheitliche Betrachtung des Menschengeschlechts und seiner Geschichte schon durch Herders Ideen völlig populär geworden, und seit Hegel so vollkommen i n der Wissenschaft eingebürgert" sei, „daß weder i n philosophischer Beurteilung noch i n tatsächlicher Darstellung historischer Gegenstände dieser Gesichtspunkt leicht vermißt" werde 6 4 .

63 Z u r „Geschichte des Wortes" „Historismus" vgl. Meinecke, Die E n t stehung des Historismus, Vorbemerkung (1 ff.). Zur K r i t i k der Behauptung v o n „Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft" u n d zur K r i t i k des v o n i h m so genannten „Historizismus" vgl. auch Popper, Das Elend des Historizismus (83 ff.). 04 Twesten, A . Comte (294 f.).

Β. Übereinstimmungen zwischen Idealismus und Positivismus

139

1. I n der Tat finden sich alle Grundlagen der idealistischen Geschichtsauffassung bei Herder, der weithin als „der eigentliche Begründer der Geschichtsphilosophie i n Deutschland" 6 5 gilt. Sowohl die Natur als auch die Geschichte faßt Herder auf als göttliche „Offenbarung" 6 6 : Geschichtsphilosophie und -Wissenschaft sollen den „Plan Gottes i n der Geschichte" aufzeigen 67 . Dabei sei die „ganze Natur" als „große Analogie der Schöpfung" 68 , die Geschichte „als Analogie der Natur" zu „betrachten" 6 9 . „Die ganze Menschengeschichte" sei „eine reine Naturgeschichte menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe nach Ort und Z e i t " 7 0 . „ I n der physischen Natur" zählen „ w i r nie auf Wunder: w i r " bemerken „Gesetze, die w i r allenthalben gleich w i r k sam, unwandelbar und regelmäßig" finden; „wie? und das Reich der Menschheit mit seinen Kräften, Veränderungen und Leidenschaften" sollte „sich dieser Naturkette entwinden?" 7 1 . „Die Natur" habe „ m i t den Bergreihen, die sie zog, wie mit den Strömen, die sie herunter rinnen ließ, gleichsam den rohen festen Grundriß aller Menschen und ihrer Revolutionen entworfen" 7 2 . I n der „lebendigen Harmonie der Natur" sei „jedes Ding das vollkommenste Eins und doch Jedes mit Jedem mannichfaltig verwebt." „Überhaupt" sei „ i n der Natur nicht geschieden, alles" fließe „durch unmerkliche Übergänge auf- und ineinander; und gewiß, was Leben i n der Schöpfung" sei, sei „ i n allen Gestalten, Formen und Kanälen nur Ein Geist, Eine Flamme" 7 3 . „Die Geschichte der Menschheit" sei „notwendig ein Ganzes" 74 . „Der Mensch" sei „nur ein kleiner Teil des Ganzen und seine Geschichte" sei „wie die Geschichte des Wurms m i t dem Gewebe, das er" bewohne, „innig verwebet" 7 5 . „Der Bau des Weltgebäudes" sichere „den Kern meines Daseins, mein inneres Leben, auf Ewigkeiten hin. Wo und wer

65 Vgl. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5. Kap., § 5, 1 (693); a. A . Mayr, Die philosophische Geschichtsauffassung der Neuzeit (209). 86 Vgl. Herder, Gottgespräche, SWS 16 (451, 569). 67 Vgl. Herder, Ideen, Vorrede, SWS 13 (7). 68 Herder, V o m Erkennen u. Empfinden der menschlichen Seele, SWS 8

(200). 69 70 71 72 73

(178). 74 75

Herder, Herder, Herder, Herder, Herder,

Ideen, SWS 13 (177). Ideen, SWS 14 (145). Ideen, SWS 14 (144). Ideen, SWS 13 (17). V o m Erkennen u n d Empfinden der menschlichen Seele, SWS 8

Herder, Ideen, SWS 13 (16). Herder, Ideen, SWS 14 (244).

140

4. Kap.: Der Historische Positivismus

ich sein" werde, werde „ich sein, der ich jetzt" sei, „eine Kraft i m System aller Kräfte, ein Wesen i n der unabsehlichen Harmonie einer Welt Gottes" 7 6 . „Ich" sei „Nichts, das Ganze aber alles" 7 7 . „Allenthalben" sehe man „ein Fortrücken aus dem Chaos zur Ordnung, eine innige Vermehrung und Verschönerung der Kräfte i n neu-erweiterten Schranken nach immer mehr beobachteten Regeln der Harmonie und Ordnung". Es müsse „also Fortgang sein i m Reich Gottes, da i n ihm kein Stillstand, noch weniger ein Rückgang sein" könne 7 8 . „Der Zweck unseres jetzigen Daseins" sei „auf Bildung der Humanität gerichtet" 7 9 . 2. Kant führt i n seinem 1784 erschienenen Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte i n weltbürgerlicher Absicht", von dem nach Bernheim „die Anschauung der ganzen Idealphilosophie einschließlich Hegels beherrscht" ist, folgendes aus 80 : M i t der „Idee einer Weltgeschichte" habe man „gewissermaßen einen Leitfaden a priori". Es werde „eine tröstende Aussicht in die Zukunft eröffnet werden, in welcher die Menschengattung i n weiter Ferne vorgestellt" werde, „wie sie sich endlich doch zu einem Zustande" emporarbeite, „ i n welchem alle Keime, die die Natur i n sie" legte, „völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden" könne „erfüllt werden." „Eine solche Rechtfertigung der Natur — oder besser der Vorsehung —" sei „kein unwichter Bewegungsgrund, einen besonderen Gesichtspunkt der Weltbetrachtung zu wählen. Denn was" helfe es, „der Herrlichkeit und Weisheit der Schöpfung i m vernunftlosen Naturreiche zu preisen und der Betrachtung zu empfehlen, wenn der Teil des großen Schauplatzes der obersten Weisheit, der von allem diesen den Zweck" enthalte, „— die Geschichte des menschlichen Geschlechts — ein unaufhörlicher Einwurf dagegen bleiben" solle, „dessen Anblick uns" nötige, „unsere Augen von i h m mit Unwillen wegzuwenden, und, indem w i r " verzweifeln, „jemals darin eine vollendete vernünftige Absicht anzutreffen, uns dahin" bringe, „sie nur i n einer anderen Welt zu hoffen?" 8 1 Es sei „hier keine Auskunft für den Philosophen, als daß, da er bei Menschen und ihrem Spiele i m Großen gar keine vernünftige eigene Absicht voraussetzen" könne, er versuche, „ob er nicht eine Naturabsicht i n diesem widersinnigen Gange menschlicher Dinge entdecken" könne; „aus welcher von Geschöpfen, die ohne eigenen Plan"

76 77 78 79 80 81

Herder, Ideen, SWS 13 (16). Herder, Auch eine Philosophie, SWS 5 (585). Herder, Gottgespräche, SWS 16 (548). Herder, Ideen, SWS 13 (188). Vgl. Bernheim, Lehrbuch der historischen Methode, 5. Kap., § 5, 1 (694 f.). Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Werke V I I I (30).

Β. Übereinstimmungen zwischen Idealismus und P o s i t i v i s m u s 1 4 1 verfahren, „dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plan der Natur möglich" sei 8 2 . „Ein philosophischer Versuch, die allgemeine Weltgeschichte nach einem Plan der Natur, der auf die vollkommene bürgerliche Vereinigung i n der Menschengattung abziele, zu bearbeiten", müsse „als möglich und selbst für diese Naturabsicht als förderlich angesehen werden. Es" sei „zwar ein befremdlicher und dem Anscheine nach ungereimter Anschlag, nach einer Idee, wie der Weltlauf gehen müßte," „wenn er gewissen vernünftigen Zwecken angemessen sein" sollte, „eine Geschichte abfassen zu wollen; es" scheine, „ i n einer solchen Absicht" könne „nur ein Roman Zustandekommen. Wenn man indessen annehmen" dürfe: „daß die Natur selbst i m Spiele der menschlichen Freiheit nicht ohne Plan und Endabsicht" verfahre, „so" könnte „diese Idee doch wohl brauchbar werden; und ob w i r gleich zu kurzsichtig" seien, „den geheimen Mechanismus ihrer Veranstaltung durchzuschauen, so dürfte diese Idee uns doch zum Leitfaden dienen, ein sonst planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens i m Großen als ein System darzustellen" 8 3 . 3. Nach Schelling ist „die Geschichte als Ganzes" „eine fortgehende, allmählich sich enthüllende Offenbarung des Absoluten. Also man" könne „ i n der Geschichte nie die einzelne Stelle bezeichnen, wo die Spur der Vorsehung oder Gott selbst gleichsam sichtbar" sei. „Denn Gott" sei „nie, wenn Sein das" sei, „was i n der objektiven Welt sich darstelle;" wäre „er, so" wären „ w i r nicht: aber er" offenbare „sich fortwährend. Der Mensch" führe „durch seine Geschichte einen fortgehenden Beweis von dem Dasein Gottes, einen Beweis, der aber nur durch die ganze Geschichte vollendet sein" könne 8 4 . „ I m Begriff der Geschichte" liege „der Begriff einer unendlichen Progressivität" 8 5 . 4. I n den „Grundzügen des gegenenwärtigen Zeitalters" formulierte Fichte 1804 folgendes: Das „Verstehen der ganzen Zeit" setze, „so wie alles philosophische Verstehen, wiederum einen Einheitsbegriff dieser Zeit voraus, einen Begriff einer vorher bestimmten, obschon allmählich sich entwickelnden Erfüllung dieser Zeit, i n welcher jedes folgende Glied bedingt sei durch sein vorhergehendes"; es setze „voraus einen Weltplan, der i n seiner Einheit sich klärlich begreifen, und aus welchem die Hauptepochen des 82 83 84 85

Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Werke V I I I (18). Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, Werke V I I I (29). Schelling, System des transzendentalen Idealismus, I I I (603). Schelling, System des transzendentalen Idealismus, I I I (592).

142

4. Kap.: Der Historische Positivismus

menschlichen Erdenlebens sich vollständig ableiten, und i n ihrem Ursprünge sowie i n ihrem Zusammenhange untereinander sich deutlich einsehen" lassen 86 . „Der Zweck des Erdenlebens der Menschheit" sei „der, daß sie i n demselben alle ihre Verhältnisse m i t Freiheit nach der Vernunft" einrichte 8 7 , „daß die Gattung i n diesem Leben mit Freiheit sich zum reinen Abdruck der Vernunft" ausbilde 88 . 5. Nach Hegel schließlich ist die „Weltgeschichte" „überhaupt die Auslegung des Geistes i n der Zeit, wie die Idee als Natur sich i m Räume" auslege 89 . „Die Weltgeschichte" sei „der Fortschritt i m Bewußtsein der Freiheit, — ein Fortschritt, den w i r i n seiner Notwendigkeit zu erkennen" haben 9 0 . „Die Weltgeschichte" sei „die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes i n seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich", erlange 9 1 . „Die Vernunft" regiere „die Welt" „und so auch die Weltgeschichte" 92 . „Die Frage, was die Bestimmung (Hervorheb. Hegels) der Vernunft an ihr selbst" sei, falle, „insofern die Vernunft i n Beziehung auf die Welt genommen" werde, „ m i t der Frage zusammen, was der Endzweck der Welt" (Hervorhebung Hegels) sei; „näher" liege „ i n diesem Ausdruck, daß derselbe realisiert, verwirklicht werden" solle 9 3 . II. Die wesentlichen Einwände gegen die idealistische Geschichtsauffassung sind die folgenden: 1. Es ist unhaltbar, daß sie die Geschichte als göttliche „Offenbarung" des „Planes Gottes" (Herder), als „fortgehende, sich enthüllende Offenbarung des Absoluten" (Schelling), als „Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes i n seinen höchsten Gestalten" (Hegel) auffaßt. — Offenbarung ist die „Enthüllung des Wesens und Willens Gottes" 9 4 durch Gott selbst, entweder „als religiöses Erlebnis" oder „als Kundgabe einer Lehre" 9 5 . Der Gegenstand der Offenbarung, „Wesen 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95

Fichte, Grundzüge, S. W. 7 (6). Fichte, Grundzüge, S. W. 7 (7). Fichte, Grundzüge, S. W. 7 (17). Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke X I (111). Hegel, Werke X I (46). Hegel, Werke X I (88). Hegel, Werke X I (54). Hegel, Werke X I (43). Vgl. Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Bd. 2 (334). Vgl. Brockhaus, Enzyklopädie, Bd. 13 (674).

Β. Übereinstimmungen zwischen Idealismus und P o s i t i v i s m u s 1 4 3 und Wille Gottes", gehört nicht dem ontischen und innerweltlichen, sondern einem überweltlichen, dem metaphysischen Bereich an. Weil es i n diesem Bereich keine Begrenztheit gibt, kann i n Bezug auf ihn ein notwendig gegenständlich beschränkter und damit ein i n seinen Merkmalen vollständig bestimmter Begriff nicht gedacht werden. Wissenschaftlich beweisbare Urteile sind deshalb hier ausgeschlossen96. W i r d dennoch i m Zusammenhang mit Offenbarung i n der Bibel von „Erkenntnis Gottes" gesprochen 97 , ist damit nicht wissenschaftliche Erkenntnis gemeint, sondern w i r d das Wort Erkennen gleichnishaft für Glauben gebraucht. I m Neuen Testament ist die Offenbarung Gottes stets auf den Glauben ausgerichtet, die „Erkenntnis" ihrer „Wahrheit" nur von i h m abhängig 98 . Wenn demgegenüber von der Geschichtswissenschaft gefordert wird, sie solle „den Plan Gottes" i n der Geschichte aufzeigen, w i r d damit begrifflich nicht Faßbares, wissenschaftlich nicht Erkennbares zum Gegenstand des „Erkennens" gemacht. Damit ist nicht nur jede Wissenschaft vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt, sondern wird, da der Inhalt des Glaubens seinem Wesen nach nicht objektiv begründbar ist, m i t der Behauptung des Gegenteils auch jede Glaubensfreiheit i m Ergebnis verneint. Damit entfällt auch die Auffassung Schellings, „der Mensch" führe „durch seine Geschichte einen fortgehenden Beweis von dem Dasein Gottes", weil ein Beweis die Darlegung des Erkennens ist, i n dem die Wahrheit eines Urteils begründet wird, es i n Bezug auf das Dasein Gottes weder Erkennen, noch Wahrheit, noch Urteile gibt. Daß der von Schelling behauptete Beweis nie zu führen ist, ergibt sich auch aus seinen Darlegungen selbst: ein „Beweis", der erst „durch die ganze Geschichte" „vollendet" wird, existiert danach erst dann, wenn es kein weiteres Geschehen mehr gibt. Dies ist dann der Fall, wenn es keine Seienden und damit auch keine Menschen mehr gibt. Folglich existiert niemand mehr, der ihn denken kann. Ohne daß er gedacht wird, existiert aber auch kein Beweis. Da der Beweis des Daseins Gottes danach nie geführt werden kann, ist die gleichzeitige Behauptung, „Geschichte" sei „die Offenbarung Gottes", zirkulär, weil sie den Beweis des Daseins Gottes voraussetzt. 2. Die Natur ist kein Gegenstand der Metaphysik. „Die Natur" sind alle natürlichen Seienden. Das sind solche, die nicht durch Menschen hergestellt und keine Handlung oder Unterlassung sind 9 9 . 90

Vgl. zu dem Vorstehenden Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β I b 2 (30). So z . B . i m Brief des Apostels Paulus an die Römer, Kap. 11, 33. 98 Vgl. Brief des Apostels Paulus an die Galater, 3. Kap., 23; s. auch 1. Brief an die Korinther, 1. Kap., 21; 2. Kap., 14; 1. Brief an die Thessaloniker, 4. Kap., 5. 99 Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (280). 97

144

4. Kap.: Der Historische Positivismus

Es gibt nicht die „ganze Natur" als „große Analogie der Schöpfung", es gibt keinen „Entwurf" der Natur (Herder), es gibt sie nicht als „Vorsehung", es gibt keinen „Plan", keine „Endabsicht" (Kant) der Natur, es gibt sie nicht als „Idee" (Hegel). Die Behauptung, die Natur sei „Analogie der Schöpfung", setzt die Kenntnis einer von der Natur unabhängigen Schöpfung voraus. Diese kann lediglich Gegenstand des Glaubens, nicht der Wissenschaft sein. Eine darauf sich gründende „Naturbetrachtung" ist infolgedessen, sofern diese als „Wissenschaft" geschieht, falsche Metaphysik. Dasselbe ist der Fall mit ihrer Ineinssetzung mit Vorsehung. Eine Natur kann nicht planen, entwerfen oder eine Absicht haben. Dies können nach der Erfahrung nur Menschen. W i r d dies i n Bezug auf die Natur angenommen, w i r d sie damit als Übersubjekt, als Gott aufgefaßt oder mit seinem Wirken ineinsgesetzt. Dasselbe geschieht i n ihrer Ineinssetzung mit absoluter „Idee" durch Hegel. W i r d die Natur absolut aufgefaßt, wie dies i n der idealistischen Naturphilosophie geschieht, werden die natürlichen Seienden als Seiende i n Wahrheit verneint, w i r d damit die Natur verneint. 3. Daß alles „Leben i n der Schöpfung" „ i n allen Gestalten, Formen und Kanälen nur Ein Geist, Eine Flamme", daß i n der „lebendigen Harmonie der Natur" „jedes Ding das vollkommene Eins und doch Jedes mit Jedem mannichfaltig verwebt" sei, „daß i n der Natur nichts geschieden" werde, „alles" „durch unmerkliche Übergänge auf und ineinander" fließe, t r i f f t nicht zu. Daß alle Dinge, die es gibt, zugleich Eins sein sollen, ist logisch unmögliche All-Einheitslehre (Mystik). Daß die Annahme eines permanenten absoluten Fließens die Verneinung jedes Beständigen, jedes Begrenzten, jedes Inhaltlichen, jedes einzelnen ist, kommt i n den zitierten Wendungen deutlich zum Ausdruck. Diese Lehre verneint damit alles Sein; sie ist sprachlich verdeckter Nihilismus 1 0 0 . Weil es die i n der Mystik behauptete absolute Einheit allen Seins nicht gibt, gibt es auch keine diese voraussetzende „lebendige Harmonie", gibt es nicht die „unabsehliche Harmonie einer Welt Gottes" (Herder). Deren Behauptung ist kein Erkennen, sondern romantischer Glaube 1 0 1 . wo v g l . auch Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (51). Eine ähnliche mystische Auffassung der „Weltgeschichte" v e r t r i t t L. v. Ranke, Sämtl. Werke, Bd. 24 (40): „Es" seien „Kräfte, u n d zwar geistige, Leben hervorbringende, schöpferische Kräfte, selber Leben, es" seien „moralische Energien, die w i r i n ihrer Entwicklung" erblicken. „ Z u definieren, unter Abstraktionen zu bringen" seien „sie nicht; wahrnehmen" könne „ m a n sie; ein Mitgefühl ihres Daseins" könne „ m a n sich erzeugen. Sie" blühen „auf", nehmen „die Welt ein", treten „heraus i n den mannigfaltigsten Aus101

Β. Übereinstimmungen zwischen Idealismus und P o s i t i v i s m u s 1 4 5 4. Es gibt keine „Weltgeschichte" als „Einheit" oder „Ganzes" (Kant, Hegel) und keine „Geschichte als Ganzes" (Schelling). Geschichte ist notwendig Geschichte eines Seienden oder mehrerer miteinander zusammenhängender Seiender. Die mehreren miteinander zusammenhängenden Seienden sind notwendig Seiende einer Gattung oder A r t . Die Welt sind alle Seienden. Eine Geschichte aller Seienden kann es nicht geben, weil nicht alle Seienden miteinander zusammenhängen und weil es keine alle Seienden bedingenden Tatsachen geben kann. Daß es keine alle Seienden bedingenden Tatsachen gibt, folgt daraus, daß Tatsachen selbst Seiende oder Momente von ihnen sind, die alle Seienden bedingenden Tatsachen sich daher selbst bedingen müßten 1 0 2 . Die Auffassung, daß es eine Weltgeschichte gibt, bedeutet notwendig, daß man von metaphysischen „Tatsachen" i n der Geschichtslehre ausgeht, die insgesamt eine Einheit bilden. Daß es ein „Geschichtsganzes" nicht gibt, wurde oben dargelegt. Die Auffassungen einer „Weltgeschichte" und eines „Geschichtsganzen", i n dem alles mit allem zusammenhängend behauptet wird, beruhen auf der Lehre Herders vor der All-Einheit der Dinge und entfallen damit auch aus diesem Grund. 5. „Gesetze, die" „allenthalben gleich wirksam" sind (Herder), gibt es nicht. Wirksamkeit (Wirklichkeit) ist eine Eigenschaft von Seienden besonderer A r t , den wirklichen Seienden. Wirklich ist ein Seiendes, das den Inhalt hat, bei Vorliegen anderer Bedingungen mit diesen zusammen eine Wirkung zu bewirken, das also den Inhalt hat, zu wirken. Eine Wirkung ist ein Geschehen, das vollständig durch andere Seiende bedingt i s t 1 0 3 . Ein Gesetz ist ein erkenntnistheoretisch bewiesenes allgemeines Urteil über Notwendigkeitszusammenhänge 104 . Ein von einem Menschen gedachtes Urteil hat nicht den Inhalt, eine bei Vorliegen anderer Bedingungen notwendig eintretende Wirkung zu bedingen. Ein Gesetz als ein Urteil besonderer A r t ist also nicht wirklich. Daß es die Möglichkeit eines Entschlusses bedingen kann, ändert daran nichts 1 0 5 . W i r d dieser Sachverhalt verkannt, werden insbesondere Gesetze mit Notwendigkeitszusammenhängen ineinsgesetzt, auf die sie sich beziedruck," bestreiten, beschränken, überwältigen „einander: i n ihrer Wechselw i r k u n g u n d Aufeinanderfolge, i n ihrem Leben, i h r e m Vergehen oder Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutung, weiteren Umfang i n sich" schließe, liege „das Geheimnis der Weltgeschichte." loa v g l . dazu Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (108). los v g l . Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 1 (14). 104 Wolf, BGB, A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27). los v g l . Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 3 (15). 10 Tripp

146

4. Kap.: Der Historische Positivismus

hen, werden Urteil und Urteilsgegenstand miteinander vermengt. Aber selbst wenn man Notwendigkeitszusammenhänge der Wirklichkeit (Kausalzusammenhänge) unzutreffend als Gesetze bezeichnet, gibt es keine „allenthalben gleich wirksamen" Gesetze. Das folgt schon daraus, daß Entschlüsse nicht verursacht sind und somit nicht unter das Kausalgesetz fallen. Notwendigkeitszusammenhänge als Zusammenhänge besonderer A r t existieren zu je einem Teil i n bestimmten Seienden, „zwischen" denen sie bestehen. Entsprechend gibt es Wirkungszusammenhänge nur zwischen bestimmten Geschehen, sind sie also nicht „allenthalben gleich wirksam". W i r d dieses behauptet, w i r d jede inhaltliche Bestimmtheit der Notwendigkeitszusammenhänge, damit diese und die sich darauf beziehenden Gesetze geleugnet. 6. Weder gibt es ein absolutes Fließen i n der Natur, noch ein solches i n der Geschichte. Also gibt es keinen steten, alles umfassenden „Fortgang i m Reich Gottes" (Herder), liegt nicht „ i m Begriff der Geschichte" „der Begriff einer unendlichen Progressivität" (Schelling), ist sie nicht „absoluter Prozeß", gibt es keine „allmählich sich entwickelnde Erfüllung dieser Zeit" (Fichte), gibt es die „Weltgeschichte" nicht als „Fortschritt i m Bewußtsein der Freiheit" (Hegel). Die gegenteiligen Behauptungen sind nicht nur unwissenschaftlich, sondern müssen angesichts der tatsächlichen Zufälligkeiten und Katastrophen Erstaunen erregen. Da die genannten Wendungen die Alleinheit der Welt, das „Welt"und „Geschichtsganze" voraussetzen, entfällt auch aus diesem Grund die Auffassung der Geschichte als „absoluter Prozeß" oder „unendliche Progressivität". W i r d diese als ihr „Begriff" behauptet, bedeutet dies die Annahme von Begriffen, die wegen ihrer inhaltlichen Unbestimmtheit nicht denkbar sind. Der „Begriff der Geschichte" ist vielmehr ein Leerwort, das deshalb mit willkürlichen „Inhalten" gefüllt werden kann. 7. Daß die Auffassung eines „Geschichtsganzen" und eines absoluten Entwicklungsprozesses der Geschichte notwendig die Verneinung des Menschen als selbständiges Seiendes bedeutet, wurde dargelegt und w i r d von Herder bestätigt. Die Widersprüche i n einer Lehre, i n der mit der Behauptung eines absoluten Fließens jedes Sein, damit auch jedes Mensch-Sein geleugnet wird, i n der es weder empirische Urteile, noch empirische Begriffe, noch empirische Gesetze gibt, sind kaum zu zählen. Daß zum Beispiel ein „Ich", das „Nichts" sei, zugleich als existierend behauptet wird; daß ein Ganzes aus Teilen bestehen soll, die für sich Nichts sein sollen, womit aber auch das Ganze Nichts wäre; daß ein „Nichts" ein „Wesen" haben soll; daß ein „Leben" von Menschen, die sterblich sind, „auf Ewigkeiten hin" durch „den Bau des Weltgebäudes" gesichert wird; daß der „Zweck unseres" „Daseins", i n dem der Mensch

Β. Übereinstimmungen zwischen Idealismus und Positivismus

147

„Nichts" ist, „auf Bildung der Humanität gerichtet" sei: auf diesen jede Logik verneinenden Aussagen beruht die idealistische Geschichtsphilosophie i m wesentlichen. 8. Es gibt keine Geschichte „als Analogie zur Natur", als „Entwurf" der Natur (Herder), es gibt keine „Keime", die „die Natur" „ i n die Menschengattung" legt, es gibt keine Geschichte, die nach einem „bestimmten Plan der Natur" verfährt (Kant). Es gibt keine Identität von „Naturgeschichte" und „Menschengeschichte", folglich auch keine „Naturgeschichte" menschlicher Kräfte, Handlungen und Triebe" (Herder). Abgesehen davon, daß die zitierten Wendungen auf einer falschen metaphysischen Auffassung der Natur beruhen, sind sie darin nicht haltbar, daß Bestandteile der menschlichen Handlungen Entschlüsse sind, und da diese i m Unterschied zu natürlichen Seienden nicht verursacht, sondern veranlaßt sind, insoweit die Freiheit der menschlichen Handlungen bedeuten. 9. Es gibt keinen „Zweck unseres Daseins" (Herder), keinen „Zweck des Erdenlebens der Menschheit" (Fichte), es gibt keine „vernünftigen Zwecke" „des Weltlaufs" (Kant), es gibt keinen „Endzweck der Welt", es gibt keine „Vernunft, die die Welt regiert" (Hegel). Ein Zweck ist der i m Inhalt eines Handlungsentschlusses als Tätigkeitsziel gewählte Erfolg. Er ist damit ein Bestandteil eines Handlungsentschlusses und damit einer Handlung. Eine Handlung und deren Bestandteile Entschluß und Zweck existieren als ichhafte Bestandteile eines einzelnen Menschen i n diesem 1 0 6 . Die Welt als alle Seienden und „die Menschheit" sind keine Handlung eines einzelnen Menschen und haben deshalb keine Zwecke. Daß die Annahme eines „vernünftigen Zwecks" „des Weltlaufs" nichts als eine fehlerhafte Fiktion ist, geht insbesondere aus den Ausführungen Kants hervor. Es ist widersinnig, ein „planloses Aggregat menschlicher Handlungen wenigstens i m Großen als ein System darzustellen" — denn daß die menschlichen Handlungen als das, was sie sind, nämlich als einzelne Handlungen „planlos", i m „Großen" das Gegenteil, nämlich planvoll sein sollen, ist logisch nicht nachvollziehbar. Es w i r d damit zugleich ein „Plan", „ein Zweck", eine Endabsicht" i m Handeln der Menschen behauptet, der i n den „einzelnen Handlungen", also i m Handeln der Menschen, nicht auffindbar ist. Dies kann nur bedeuten, daß „Plan" und „Endabsicht" i n die menschlichen Handlungen durch Kant hineinkonstruiert worden sind. Das gilt auch für den „Leitfaden", u m etwas „als System herzustellen", dessen „geheimen Mechanismus" „durchzuschauen" „ w i r " „zu kurzsichtig" sind. 108

10*

Vgl. dazu Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (235 ff.).

148

4. Kap.: Der Historische Positivismus

Daß der Kantsche „Leitfaden a priori" mit Erkennen nichts zu tun hat, w i r d ebenfalls i n der oben zitierten Stelle deutlich: Wenn Kant für eine „Abfassung" der „Geschichte" die Darstellung einer „Idee" hält, „wie der Weltlauf gehen müßte, wenn er gewissen vernünftigen Zwekken angemessen sein sollte", interessiert nach ihm nicht, was ist, sondern w i r d die „Geschichte" danach, wie man sie gerne hätte, zurechtkonstruiert und die Konstruktion und Fiktion anschließend als dem Sein der Dinge entsprechend ausgegeben. Insofern hat Kant recht, daß eine derartige „Abfassung" der „Geschichte" kein Roman ist — denn in diesem w i r d die Dichtung nicht als Wahrheit behauptet. Ebensowenig wie es einen „Plan" oder „Zweck" oder eine „Absicht" i n der Geschichte gibt, gibt es eine „Vernunft", „die die Welt regiert" (Hegel). Vernunft ist Denken, Entschließen und Wollen i n Übereinstimmung mit den Gesetzen der Logik 1 0 ' 7 . Eine „Vernunft", „die die Welt" regiert, muß notwendig zeitlich vor und außerhalb der Seienden „existieren", da sie sich sonst selbst regieren würde, sie kann also selbst kein Seiendes sein. Die Behauptung einer die „Welt" „regierenden" „Vernunft" in dieser ist unhaltbar. Hinzu kommt folgendes: eine „Vernunft" anzunehmen, die existiert, bevor es Seiende gibt, i n Bezug auf die vernünftig gedacht werden kann, ist ebenfalls widersinnig und damit widervernünftig. Das gleiche Urteil trifft auf die Auffassung zu, „Weltgeschichte" sei die „Auslegung" des Geistes i n der Z e i t " 1 0 8 . Ein derartiger „Weltgeist", der bei Hegel auch mit „Idee", die sich i n der Geschichte „realisiert", gleichgesetzt wird, existiert insbesondere deshalb nicht, weil mit seiner Annahme eine innerweltliche Identität von Seienden und Absoluten behauptet wird. I I I . Zwischen der Geschichtsauffassung der deutschen idealistischen Philosophie und der „positivistischen" Geschichtslehre besteht Übereinstimmung i n fast allen bisher untersuchten wesentlichen Grundlagen 1 0 9 : — i n der Auffassung der Geschichte als Ganzes; — i n der Auffassung der Menschheit als Ganzes; — dementsprechend i n der kollektivistischen Auffassung des einzelnen Menschen; 107 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (37). 108 Ä h n l i c h Ranke, Weltgeschichte 9, 2, (2 f.): es gebe eine „große historische Entwicklung", „eine von Stufe zu Stufe sich entwickelnde geistige Macht", eine „gleichsam historische Macht des menschlichen Geistes", die „eine i n der Urzeit gegründete Bewegung, die sich m i t einer gewissen Stetigkeit" fortsetze, sei. 109 Z u m Vergleich Comtes m i t Hegel vgl. die ausgezeichnete Übersicht bei Dittmann, Geschichtsphilosophie Comtes u n d Hegels, in: Vierteljahresschrift für wiss. Philosophie, Bd. 13, N. F. (281 ff.) u n d Bd. 14, N. F. (38 ff.).

Β. Übereinstimmungen zwischen Idealismus und P o s i t i v i s m u s 1 4 9 — i n der Behauptung einer Analogie von Naturgesetzen und der Aufeinanderfolge von Geschehen i n der Menschengeschichte; — i n der Behauptung absoluter Entwicklungsgesetze i n Bezug auf die Natur und die Geschichte (absoluter Dynamismus); — i n der Auffassung der Vorherbestimmtheit menschlicher Geschichte (Geschichtsdeterminismus). Der Hauptunterschied zwischen beiden Lehren besteht darin, daß die idealistische Philosophie ihre Lehren mit „göttlicher Vorsehung", mit dem Vorhandensein einer göttlichen oder natürlichen „Absicht", einer „Idee" oder einer „Weltvernunft" begründet, der historische Positivismus hingegen, unter wörtlicher Ablehnung der Anwendung „theologischer Künste einer Vorsehung" öder der „Kraft metaphysischer Wesenheiten" 1 1 0 , zu inhaltlich denselben Lehren durch eine angeblich streng naturwissenschaftlich-kausal verfahrende Forschung gelangt 1 1 1 . Anders ausgedrückt: er besteht i m wesentlichen i m Gebrauch anderer Vokabeln für dieselben Sachverhalte. Daß es sich bei der sog. „natürlichkausalen" und einer teleologischen Geschichtsauffassung nicht etwa u m entgegengesetzte Geschichtslehren handelt, liegt schon daran, daß der Glaube an ein Endziel der Geschichte 112 die notwendige Konsequenz jedes Geschichtsdeterminismus ist. Ausdrücklich ausgesprochen findet sich der teleologische Geschichtsglaube als Glaube an ein „terme final" nur bei Comte, der die Fehler des philosophischen und historischen Positivismus noch bis zu weiteren absurden Konsequenzen verlängert. So redet er davon, daß „nur die positive Philosophie" „die eigentliche Natur des sozialen Fortschritts enthüllen" könne, „d. h. das niemals völlig realisierbare Endziel kennzeichnen, dem sie die Menschheit zuzuführen" strebe, „und gleichzeitig den allgemeinen Gang dieser allmählichen Entwicklung zu erkennen geben". „So" werde „ i h m die positive Philosophie wie der positive Zustand der Menschheit überhaupt zu dem Endziel, dem die ganze Ent110

Vgl. Comte, Soziologie, 5. Kap. (91 f.). Da dies auf einer Verkennung der Naturgesetze beruht, ist die Auffassung Dittmanns, Die Geschichtsphilosophie Comtes u n d Hegels in: Viertelj. f. wiss. Phil. Bd. X I V N. F. (80) abzulehnen, die er wie folgt ausführt: „ i m m e r h i n " könne „ m a n doch niòht verkennen, daß gerade die Anwendung v o n Naturgesetzen gegenüber den metaphysischen Prinzipien Hegels einen wesentlichen Fortschritt" bedeute. 112 Z u r K r i t i k (kriminal-) soziologischer Theorien, die „auf der Beobachtung einer »Endursache' sozialer Systeme" basieren u n d zur kritischen A n a lyse „funktionaler Erklärungen" die auf „Theorien über Endursachen" beruhen, „denen bestimmte Aufgaben, Zwecke oder Funktionen für ein übergeordnetes Ganzes zugeschrieben werden", i n s t r u k t i v Meurer, Gehalt u n d Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien, in: Festschrift für R i chard Lange (555 ff.) m. zahlr. Nachw. 111

150

4. Kap.: Der Historische Positivismus

Wicklung" zustrebe, „der positive Zustand" sei „ i h m der Wertmaßstab der Geschichte" 113 . M i t der neben dem Wort Entwicklung gebrauchten neuen Vokabel „Natur des sozialen Fortschritts" greift Comte damit ein Hauptschlagwort der ungefähr gleichzeitig m i t dem Positivismus entstandenen und die unmittelbare Fortsetzung der idealistischen Philosophie darstellenden Ideologie des Marxismus auf 1 1 4 . Dem marxistischen Endziel der Geschichte, der absoluten weltanschaulichen Herrschaft einer Partei i m Staat, entspricht deckungsgleich die Vorstellung Comtes von einem „positiven Zustand", der nach ihm dann erreicht ist, wenn der Positivismus Staatsphilosophie geworden ist und sich dadurch auf eine „feste gesellschaftliche Ordnung" stützen k a n n 1 1 5 — m. a. W., wenn die dargelegte Parteinahme für die absolute Beherrschung des Menschen ihre Erfüllung darin erlangen kann, daß ein notwendig totalitärer Staat die „Ansprüche" Comtes „auf geistlich und moralisch unbedingte Autorit ä t " 1 1 6 durchsetzt. Versuche, dies bereits zu Lebzeiten Comtes zu erreichen, sind durchaus zutreffend als Folgen „pathogener Gedankengänge" bezeichnet worden — so könne „man sich des Eindrucks von Größenwahn nicht erwehren", wenn man „die Briefe" lese, „die der neue Papst der Menschheit an den Zaren", „dem er zur Übernahme der Weltregierung nach positivistischen Grundsätzen" rate, oder „an den ehemaligen Groß-Wesir Reschud-Pascha, dem er die Einführung des Positivismus durch die türkische Regierung" vorschlage, schrieb 1 1 7 — nur darf nicht vergessen werden, daß alle Grundlagen, die zu diesem Ansinnen führten, i n den Lehren des philosophischen und historischen Positivismus, der nach allem nichts weniger als Positivismus ist, enthalten sind.

118 Comte, zit. n. Dittmann, Geschichtsphilosophie Comtes u n d Hegels, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 13 N. F. (295). 114 Z u den Grundlagen des Marxismus vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft. 115 Vgl. Comte, Soziologie, 1. Kap. (15). 116 So Marcuse, Comtes Geschichtsphilosophie, Einleitung (17). 117 Vgl. Marcuse, Geschichtsphilosophie Comtes (17).

5. Kapitel

Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus A. Einleitung Die überragende Stellung der Naturwissenschaften als Sachwissenschaften, die sich ihrer konsequenten Durchführung als Erfahrungswissenschaften einerseits, der Krise der idealistischen Philosophie — die nicht zuletzt durch den bereits dargestellten Zusammenbruch der idealistischen Naturphilosophie hervorgerufen wurde — andererseits verdankt, hat führende Naturwissenschaftler insbesondere i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Versuchen veranlaßt, nicht nur ihrer Sachwissenschaft, sondern allen Wissenschaften eine allgemeine philosophische Grundlage zu verschaffen 1 . I n diesem Bemühen um eine erklärtermaßen empirische, realistische Philosophie ging es darum, der Wissenschaft die entscheidende geistige Waffe gegen die falsche Metaphysik 2 an die Hand zu geben und zugleich die verhängnisvolle Spaltung der sog. Geistes- und Naturwissenschaften zu verhindern bzw. aufzuheben 3 . Aber auch dieser naturwissenschaftliche Positivismus konnte sich von dem mächtigen Einfluß Humes auf jede erfahrungswissenschaftliche Grundlegung der Wissenschaften i m 19. Jahrhundert nicht befreien; i m Gegenteil: dieser Einfluß t r i t t bei den naturwissenschaftlichen Positivisten, kaum, daß sie sich philosophisch äußern, sogar besonders kraß zutage. A u f die teilweise bewußt vorgenommene Anwendung der Lehren Humes bei nahezu allen Grundproblemen, denen sich der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus zuwandte, ist es i n erster Linie zurückzuführen, daß auch der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus daran gescheitert ist, das wissenschaftliche Erkennen 1 Vgl. z.B. Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen (21, Fn. 14): „ I c h wünsche n u r i n der Physik einen Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort zu wechseln braucht, w e n n man i n das Gebiet einer anderen Wissenschaft hinüberblickt . . . " . 2 Die Einleitung v o n Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, trägt die Überschrift „Antimetaphysische Vorbemerkungen." 3 Das ist gemeint, w e n n Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, i n der bereits erwähnten Fn. 14 (21) die Auffassung v e r t r i t t , daß „doch alle" Wissenschaften „ e i n Ganzes bilden sollen."

152

5. Kap.: Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

der „sinnlichen Tatsachen", die zutreffend als „Ausgangspunkt" 4 der Wissenschaft aufgefaßt wurden, als notwendig unabhängig von jeder Ichhaftigkeit des Wissenschaftlers zu begründen. Wie i n den i n dieser Arbeit bereits behandelten anderen Gebieten, i n denen die Grundlegung einer positivistischen Wissenschaft versucht wurde, hat dies auch i m Bereich der Naturwissenschaften dazu geführt, daß zentrale idealistische Grundthesen nicht nur nicht widerlegt, sondern scheinbar bestätigt wurden. I n den folgenden Ausführungen w i r d der Beweis für das Paradoxon erbracht, daß dieselben Naturwissenschaftler, die als Sachwissenschaftler maßgeblich daran beteiligt waren, daß die idealistische Philosophie zumindest aus der Naturwissenschaft verbannt wurde, ihr als naturwissenschaftliche Philosophie Wege zur Wiederanerkennung als „Wissenschaft" öffneten. B. Ernst Machs Tatsachen- und Erkenntnislehre Ernst Mach gilt als „Begründer des physikalischen Positivismus und als bedeutendster naturwissenschaftlicher Philosoph der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" 5 . Seine Aufsehen erregenden Hauptwerke 6 w u r den zwischen 1880 und 1890 bekannt. I n seinen 1886 erschienenen „Beiträgen zur Analyse der Empfindungen" — das „klassische Werk des neuzeitlichen Positivismus" 7 —, die praktisch die erste Auflage seines grundlegenden Werks „Analyse der Empfindungen" darstellen, führt er folgendes aus: „Ein Begriff" sei „nicht eine fertige (Hervorhebung von Mach, D. T.) Vorstellung." Gebrauche man „ein Wort zur Bezeichnung eines Begriffs, so" liege „ i n demselben ein einfacher Impuls zu einer geläufigen sinnlichen Tätigkeit, als deren Resultat ein sinnliches Element (das Merkmal des Begriffs) sich" ergebe. „Wenn w i r also abstrakte Begriffe auf eine Tatsache" anwenden, „so" wirke „dieselbe auf uns als einfacher Impuls zu einer sinnlichen Tätigkeit, welche neue sinnliche Elemente" herbeischaffe, „die unseren ferneren Gedankenlauf der Tatsache entsprechend bestimmen" können. „ W i r " bereichern „und erweitern durch unsere Tätigkeit die für uns zu arme Tatsache". „Der Begriff des Physikers" sei „eine bestimmte Reaktionstätigkeit, welche eine Tatsache mit neuen sinnlichen Elementen" bereichere. „Die Tatsachen" werden „also durch die begriffliche Behandlung erweitert und bereichert, und schließlich wieder vereinfacht" 8 . 4 6 6 7 8

Vgl. Mach, Beiträge (153).. Vgl. ζ. B. Hennemann, Grundzüge (84). Siehe Lange, Geschichte der Grundlagen der Physik, 2. Bd. (320). So Hennemann, Grundzüge (85). Mach, Beiträge (151 f.).

Β. Ernst Machs „Tatsachen-" und „Erkenntnislehre"

153

Die bereits i n der Humeschen Philosophie enthaltenen Fehler werden i n der Machschen Lehre fortgeschrieben. So verhält es sich, wenn Begriffe als (unfertige) „Vorstellungen" und daraus folgend die begrifflichen „Merkmale" als „sinnliche Elemente" aufgefaßt, das Wesen der Abstraktheit der Begriffe trotz ihrer vermeintlichen „Anwendung" auf die „Tatsachen" also verkannt wird. M i t der Behauptung, ein Wort, das als Zeichen für eine Einheit von Merkmalen, als Bezeichnung eines begrifflichen Inhalts also, verwendet wird, wirke „auf uns als einfacher Impuls zu einer sinnlichen Tätigkeit, welche neue sinnliche Elemente" herbeischaffe, „die unseren ferneren Gedankenlauf der Tatsache entsprechend bestimmen" können, w i r d der Sache nach die auf Berkeleys Nominalismus zurückgehende verfehlte Humesche Lehre von der „Assoziation der Ideen" übernommen. Von dieser Grundlage her ist es nur konsequent, wenn Mach mit der weiteren unrichtigen A n sicht, die „für uns zu armen Tatsachen" werden „durch die begriffliche Behandlung erweitert und bereichert, und schließlich wieder vereinfacht", eine Veränderung der Tatsachen durch ihre „Behandlung" i n der wissenschaftlichen Tätigkeit behauptet. Damit w i r d das Gegenteil der ausschließlichen Gegenstandsbedingtheit (Objektivität) wissenschaftlichen Erkennens vertreten. Statt dessen übernimmt Mach der Sache nach die verfehlte Auffassung einer „Relation" von „Ich" und „Tatsachen", identifiziert und vermengt also wie die historischen und philosophischen Positivisten Erkenntnistätigkeit und Gegenstand des Erkennens. Die für eine realistische Wissenschaftsauffassung unerläßliche Erkenntnis, daß Tatsachen unabhängig von den sie erkennenden Menschen existieren, folglich von ihnen nur als das, was sie sind und so wie sie sind, erkannt werden können, konnte somit auch der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus nicht leisten. Besonders deutlich t r i t t der Zusammenhang zwischen der „Abbildlehre" und einer notwendig subjektiven Auffassung des Denkens i n folgendem Zitat hervor, das dem 1896 erschienenen Buch Machs „Die Prinzipien der Wärmelehre" entnommen ist: „Wenn w i r Tatsachen i n Gedanken" nachbilden, „so" bilden „ w i r " nach Mach „niemals die Tatsachen überhaupt nach, sondern nur nach jener Seite, welche für uns wichtig" sei, „ w i r " haben „hierbei ein Ziel, welches unmittelbar oder mittelbar aus einem praktischen Interesse hervorgewachsen" sei 9 . Diese Ausführungen enthalten zunächst den Widerspruch, daß eine „Nachbildung", also eine bildhafte Wiedergabe eines Gegenstands i m Bewußtsein, gemäß einem „praktischen Interesse" erfolgen soll, eine durch etwas anderes als aus der Konkretheit eines Gegenstands „hervorgewachsene", i h m darin entsprechende „Wiedergabe" aber gerade ® Mach, Mechanik (454).

154

5. Kap.: Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

keine Wiedergabe und damit keine „Nachbildung" ist. Mit der gegenteiligen Behauptung sind subjektiv bedingte Einbildungen und „Nachbildungen" begrifflich nicht mehr zu unterscheiden, ist insbesondere die sinnliche Wahrnehmung, wie dies auch beim historischen und philosophischen Positivismus der Fall ist, nicht mehr bestimmbar. Hinzu kommt, daß diese Ausführungen Machs eine Darstellung der Erkenntnistätigkeit sein sollen. Dies bedeutet, daß i m naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus als Grundlage des wissenschaftlichen Erkennens ein „praktisches Interesse", also ein ausdrücklich als außerhalb der Wissenschaft existierend bestimmter, an sie äußerlich herangetragener, folglich notwendig willkürlicher Standpunkt behauptet wird. Das wissenschaftliche Erkennen w i r d damit, wie bereits näher dargelegt, der Sache nach aufgegeben. M i t diesen Grundvoraussetzungen mußte auch i m naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus der Versuch scheitern, einen realistischen „Standpunkt einzunehmen, den man nicht sofort zu wechseln" brauche, „wenn man i n das Gebiet einer anderen Wissenschaft" hinüberblicke 1 0 , bei dem man über das Wissen verfügt, „gegen Übergriffe der spekulativen Methode entschiedene Opposition" 1 1 zu machen. So findet sich auch i n Machs Lehre nicht die konsequente Verneinung von „Ideen" i n der Wissenschaft, sondern — wiederum genau entsprechend dem philosophischen und dem historischen Positivismus — der Versuch eines „Kompromisses" zwischen „Beobachtungen" und „Ideen", dargestellt als „Gedankenentwicklung": „Der englische Forscher Whewall" hat nach Mach „mit Recht behauptet, daß zur Entwicklung der Naturwissenschaft zwei Faktoren zusammenwirken" müßten: „Ideen und Beobachtungen. Ideen allein" verflüchtigen „sich zu unfruchtbarer Spekulation, Beobachtungen allein" liefern „kein organisches Wissen. I n der Tat" sehen „ w i r , wie es auf die Fähigkeit" ankomme, „schon vorhandene Vorstellungen neuen Beobachtungen anzupassen (Hervorhebung von Mach, D. T.). Zu große Nachgiebigkeit gegen jede neue Tatsache" lasse „gar keine feste Denkgewohnheit aufkommen. Zu starre Denkgewohnheiten" werden „der freien Beobachtung hinderlich. I m Kampfe, i m Kompromiß des Urteils m i t dem Vorurteil, wenn man so sagen" dürfe, wachse „unsere Einsicht. Unser ganzes psychisches Leben, so insbesondere auch das wissenschaftliche," bestehe „ i n einer fortwährenden Korrektur unserer Vorstellungen. Jenen, die der Darwinschen Theorie zweifelnd" gegenüberstehen, könne „die Beobachtung der eigenen Gedankenentwicklung nicht genug empfohlen werden. Gedanken" seien „organische Prozesse" . . . „ . . . un10 11

So Mach, Beiträge, Fn. 14 (21). Mach, Mechanik, V o r w o r t (VII).

Β. Ernst Machs „Tatsachen-" und „Erkenntnislehre"

155

ser ganzes wissenschaftliches Leben" erscheine „uns" „lediglich als eine Seite unserer organischen Entwicklung" 1 2 . Diese Behauptung eines beständigen „Prozesses" der „Anpassung" 1 3 der „Vorstellungen" an „neue Beobachtungen", der als „Kompromiß des Urteils mit dem Vorurteil" vor sich gehe, ist keine zutreffende Auffassung vom wissenschaftlichen Erkennen. Denn damit ist nicht gemeint, daß die gedachten begrifflichen Merkmale einem beobachteten, also sinnlich wahrgenommenen, Gegenstand entsprechen, auf den sie sich beziehen. Mach warnt gerade vor „zu großer Nachgiebigkeit gegen jede neue Tatsache", weil diese „keine festen Denkgewohnheiten aufkommen" lasse. Die sinnliche Wahrnehmung und damit die Tatsachen sind folglich nur bedingt als Kriterien des wissenschaftlichen Erkennens anerkannt. Daß damit der Wissenschaft ihre Grundlage entzogen wird, zeigt sich auch daran, daß es für „feste Denkgewohnheiten" einerseits und für „zu starre Denkgewohnheiten" andererseits kein mögliches objektives Unterscheidungsmerkmal gibt. Dasselbe gilt folglich für den behaupteten „Kompromiß des Urteils mit dem Vorurteil" und damit für die „Einsicht", also das Wissen. Daß es nach Mach i n Wahrheit kein Wissen gibt, zeigt sich zusätzlich daran, daß es „einer fortwährenden Korrektur" unterliegt: ein „Wissen", welches durch beständige „Korrekturalso Widerlegbarkeit, gekennzeichnet sein soll, schließt die Möglichkeit bewiesener Erkenntnisse, ohne die Wissen nicht existiert 1 4 , aus. Daß Mach nicht i n der Lage ist, auch nur ein objektives Merkmal für das Denken, das wissenschaftliche Erkennen und damit für die Wissenschaft anzugeben, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß er die „Gedanken" i n der Ausdrucksweise der Romantik bestimmt als „organische Prozesse", daß er das „wissenschaftliche Leben" als „Ganzes" auffaßt, das — widersprüchlich — zugleich „eine Seite" — also nur ein Bestandteil — „unserer organischen Entwicklung" sein soll. M i t derartigen Ausführungen ist eine idealistische Philosophie nicht nur nicht zu erschüttern, sondern es w i r d ihr — i m Fall Machs sicherlich unerkannt und ungewollt — dem Ansatz nach wieder ein Platz i n der Wissenschaft eingeräumt. Nur i n einer noch nicht gefestigten, lediglich i n ihrer Einstellung realistischen Wissenschaft ist es denkbar, daß die „Entwicklungslehre" Darwins, die Mach ausdrücklich 12

Mach, Wärmelehre (390). Vgl. auch Mach, Beiträge (153): „Die sinnliche Tatsache" sei „also dei Ausgangspunkt u n d auch das Ziel aller Gedankenanpassungen des Physikers." 14 Das Dogma Poppers (Objektive Erkenntnis (42) u. ö.), „alles Wissen" ist „hypothetisch", „alle Theorien sind Hypothesen", steht i m Gegensatz zu der hier zugrundegelegten empirischen Erkenntnislehre. Es enthält eine contradictio i n adjecto: träfe das Dogma zu, wäre es dadurch widerlegt. 13

156

5. Kap.: Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

auf die „Gedankenentwicklung" anzuwenden versucht 15 , einen derart großen Einfluß erlangen konnten. Um die Tragweite dieses Sachverhaltes für die gesamte naturwissenschaftliche positivistische Philosophie darlegen zu können, sind die Grundthesen Darwins i n der gebotenen Kürze darzulegen. C. Exkurs: Die Naturteleologie Darwins Nach Darwin sind die „Arten", „Gruppen von Arten" usw. „Resultat aus dem Kampf ums Dasein. Zufolge dieses Kampfes" werden „Veränderungen, wie gering und aus welchen Ursachen immer sie auch entstanden sein mögen, wenn sie nur i n irgend einem Grade vorteilhaft für das Individuum einer A r t " seien, „ i n dessen unendlich verwickelten Beziehungen zu anderen organischen Wesen und zu seinen äußeren Lebensbedingungen, zur Erhaltung dieses Individuums beitragen und sich gewöhnlich auf die Nachkommenschaft vererben. Diese" werde „daher mehr Aussicht haben, am Leben zu bleiben; denn von den vielen Einzelwesen einer A r t , die von Zeit zu Zeit geboren" werden, könne „nur eine geringe Zahl am Leben bleiben". Er (Darwin) habe „diesem Prinzip" „die Bezeichnung »Natürliche Zuchtwahr gegeben.. , " 1 6 . Diese Lehre Darwins ist nicht haltbar aus folgenden Gründen: Den „Kampf ums Dasein" gibt es nach Darwin deswegen, weil „von den vielen Einzelwesen einer A r t , die von Zeit zu Zeit geboren" werden, „nur eine geringe Anzahl am Leben bleiben" können. Bei dieser A n nahme eines „Kampfes ums Dasein" ist folglich vorausgesetzt, daß es 1. verschiedene Arten von Lebewesen gibt; 2. daß der „Kampf ums Dasein" zwischen Lebewesen einerArt vor sich geht, mit anderen Worten zwischen Lebewesen stattfindet, denen die gleichen Artmerkmale zukommen. Der „Kampf ums Dasein" findet zum einen unter der Voraussetzung entstandener Arten statt, deren Entstehung nach Darwin aber zugleich umgekehrt den „Kampf ums Dasein" voraussetzt. Zum anderen findet er nach Darwin zwischen Lebewesen statt, die alle die gleichen Artmerkmale aufweisen: die Sieger besitzen keine anderen als die Unterlegenen, sie können also auch keine anderen weitervererben. Die gegenteilige Behauptung enthält die widersinnige Aussage, daß sich eine A r t bzw. die Artmerkmale von Lebewesen dadurch ändern sollen, daß sich Lebewesen mit diesen Artmerkmalen gegen andere durchgesetzt haben. Oder, umgekehrt formuliert: daß der Sieger i m „Kampf ums Dasein" andere Arteigenschaften vererbt als der Besiegte, setzt 15 Z u m Vorhaben Machs, „die Entwicklungslehre" Darwins „auf die Psychologie überhaupt, anzuwenden" vgl. ausdrücklich Mach, Beiträge, Fn. 21 (34 f.). Z u m Einfluß Darwins auf Mach vgl. auch Kaulbach, Das anthropologische Interesse i n Ernst Machs Positivismus (42 f.). 16 Darwin, Die Entstehung der A r t e n (95).

C. Naturteleologie Darwins

157

voraus, daß er diese verschiedenen Arteigenschaften schon vor dem „Kampf ums Dasein" besitzt, obwohl er ein Lebewesen derselben A r t sein soll wie der Besiegte. Aus dem Dargelegten ergibt sich, daß Darwins Lehre von der „Entstehung der Arten" ontologisch und logisch unter Zugrundelegung des Begriffs „ A r t " nicht durchführbar ist. Genau diesen Begriff erklärt Darwin denn auch der Sache nach für die Naturwissenschaft entbehrlich, wenn er gegen Ende seines Hauptwerks sagt, es möge „keine fröhliche Aussicht sein, aber w i r " werden „wenigstens von dem vergeblichen Forschen nach dem unentdeckten und unentdeckbaren Wesen der Bezeichnung ,Art' befreit sein" 1 7 . Diese „Befreiung" der Wissenschaft vom „Wesen der Bezeichnung ,Art' " ist die „Befreiung" der Wissenschaft von dem Begriff A r t und damit von der Begriffspyramide, m. a. W. von den Begriffen. Da jeder Allgemeinbegriff — außer dem an der Spitze der Begriffspyramide stehenden Begriff Seiendes (Sein) — notwendig ein Artbegriff ist, bedeutet die Verneinung des Begriffs A r t die der Begriffe überhaupt, damit des Denkens und des wissenschaftlichen Erkennens. Der Irrationalismus der Lehre Darwins zeigt sich auch an allen wesentlichen Ausführungen zur „natürlichen Zuchtwahl", die nach Darwin für jedes Individuum „vorteilhafte" „Veränderungen" hervorbringen soll. Näher führt Darwin hierzu folgendes aus: „Die Natürliche Zuchtwahl" wirke „ausschließlich durch die Erhaltung und Ansammlung von Veränderungen, die dem Geschöpf unter den organischen und unorganischen Lebensverhältnissen, welchen es zu jeder Lebenszeit ausgesetzt" sei, „nützlich" seien. „Das Endergebnis" sei, „daß jedes Geschöpf hinsichtlich seiner Lebensbedingungen stets mehr und mehr verbessert zu werden" strebe. „Diese Verbesserung" führe „unvermeidlich zu einem stufenweisen Fortschritt der Organisation der Mehrheit aller auf Erden vorhandenen Wesen. Indes" treten „ w i r hier einem sehr verwickelten Gegenstand näher, denn kein Naturforscher" konnte „bisher eine allgemein befriedigende Definition dessen geben, was unter Fortschritt der Organisation gemeint" sei 1 8 . Die Behauptung Darwins, das „Endergebnis" der „natürlichen Zuchtwahl" sei, „daß jedes Geschöpf hinsichtlich seiner Lebensbedingungen mehr und mehr verbessert zu werden" strebe und „diese Verbesserung" „unverzüglich zu einem stufenweisen Fortschritt der Organisation der Mehrheit aller auf Erden vorhandenen Wesen" führe, erweist sich schon allein dadurch als Fiktion, daß Darwin selbst an der „Defini17 18

Darwin, Die Entstehung der A r t e n (655). Darwin, Die Entstehung der A r t e n (168 f.).

158

5. Kap.: Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

tion dessen" scheitert, „was unter Fortschritt der Organisation gemeint" sei. Darwins Lehre von der „natürlichen Zuchtwahl" besteht einzig i n dem Glauben i n einen permanenten inhaltslosen, absoluten Fortschritt — den Darwin auch das „große Prinzip der Evolution" 1 9 nennt — aller „organischer Wesen", die „von einem gemeinschaftlichen Ursprung" ausgegangen 20 , also ursprünglich ein ununterschiedenes Seiendes gewesen sind, sich gemäß dem „Zweck der natürlichen Zuchtwahl" 2 1 zielund zweckhaft (teleologisch) zu einer nicht definierbaren absoluten „Vollkommenheit" hinentwickeln. Ein solcher Glaube ist nur möglich unter der Annahme eines absoluten, überweltlichen, infolgedessen aber auch jeder wissenschaftlichen Erkenntnis sich entziehenden Bewußtseins. Ein solches i n der Natur insgeheim wirkendes, allmächtiges Bewußtsein setzt i m übrigen bereits der Ausdruck „natürliche Zuchtwahl", der eine contradictio i n adiecto enthält — Wählen ist ein geistiges Seiendes, das i n einem Entschluß entsteht und damit nichtnatürlich ist — voraus. Wenn Darwin auf von i h m als „überflüssig" bezeichnete Einwände, die i n dieser Hinsicht gegen seine Lehre bereits sehr früh erhoben wurden, antwortet, es handele sich bei der Bezeichnung „natürliche Zuchtwahl" u m einen „metaphorischen Ausdruck" und darauf hinweist, daß er nicht von „einer tätigen Kraft oder Gottheit" spreche 22 , so enthält diese Antwort nicht die geringste Entkräftung dessen, daß seine gesamte Naturteleologie falscher mataphyscher Glauben ist 2 3 . Darwins Lehre von der „natürlichen Zuchtwahl" ist nichts anderes als die Einkleidung der dialektischen Weltgeistlehre Hegels, nach der der Geist (d. i. die absolute Idee i n der Geschichte) zunächst identisch mit sich selbst ist, dann über seine „Unmittelbarkeit" hinausgeht, diese „negiert" und, als „Endzweck seines Fortschreitens" sich zu einer „sich erfassenden Totalität erhebt und abschließt" 24 , i n Vokabeln, die teils der Naturwissenschaft entnommen sind, teils naturwissenschaftlichen Anklang, der ihren idealistischen Inhalt kaum notdürftig verdeckt, besitzt.

19

Darwin, Die Entstehung der A r t e n (651). Darwin, Die Entstehung der A r t e n (653). 21 Darwin, Die Entstehung der A r t e n (653). 22 Vgl. zu dem Vorstehenden Darwin, Die Entstehung der A r t e n (116). 23 Wenn unter Berufung auf T. H. H u x l e y Heberer, (Charles Darwin, Sein Leben u n d sein W e r k (9)), die Ansicht v e r t r i t t , D a r w i n habe „der Teleologie den Todesstoß versetzt", ist dies unhaltbar. 24 Vgl. Hegel, Philosophie der Geschichte, Sämtliche Werke Bd. 11, Einleit u n g (119). 20

D. Ernst Machs Kausallehre

159

D. Ernst Machs Kausallehre M i t der Übernahme der wichtigsten Thesen des Humeschen „Empirismus", i n denen, wie dargelegt, Einbruchsteilen für idealistische Grundauffassungen zur Genüge vorhanden sind, und dem sich über diese Einbruchstellen vollziehenden Einfluß der spekulativen Naturlehre Darwins auf Mach 2 5 , insbesondere auf seine Lehre von der „Gedankenentwicklung", ist auch der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus durch die Übernahme einer absoluten „Entwicklungslehre" — diese Übernahme wurde zudem noch durch den philosophischen und historischen Positivismus wesentlich begünstigt — gescheitert. Die Begründung einer realistischen Philosophie war damit auch dem naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus vom Ansatz her unmöglich. Mehr noch: die dargelegten Einflüsse haben dazu geführt, daß die naturwissenschaftlichen philosophischen Positivisten die Errungenschaften ihrer Sachwissenschaften i n Frage stellten, die diese zu einer exakten Wissenschaft gemacht hatten: die Erkenntnis naturwissenschaftlicher Kausalgesetze. Mach führt zu Ursache und Wirkung und zu der Erkenntnis von Kausalgesetzen folgendes aus: „Wenn w i r von Ursache und Wirkung" sprechen, „so" heben „ w i r w i l l k ü r l i c h jene Momente heraus, auf deren Zusammenhang w i r bei der Nachbildung einer Tatsache i n der für uns wichtigen Richtung zu achten" haben. „ I n der Natur" gebe „es keine Ursache und Wirkung. Die Natur" sei „nur einmal (Hervorhebung v. Mach, D. T.) da. Wiederholungen gleicher Fälle, i n welchen A immer mit Β verknüpft" wäre, „also gleiche Erfolge unter gleichen Umständen, also das Wesentliche des Zusammenhangs von Ursache und W i r kung," existieren „nur i n der Abstraktion, die w i r zum Zweck der Nachbildung der Tatsachen" vornehmen. „Hume" habe „sich zuerst die Frage vorgelegt: Wie" könne „ein Ding A auf ein anderes Β wirken? Er" erkenne „auch keine Kausalität, sondern nur eine uns gewöhnlich und geläufig gewordene Zeitfolge a n " 2 6 . „Wichtig" sei „es für die Autorität der Begriffe Ursache und Wirkung, daß sich dieselben instinktiv und unwillkürlich" entwickeln, „daß w i r deutlich fühlen, persönlich nichts zur Bildung derselben beigetragen zu haben. Ja, w i r " können „sogar sagen, daß das Gefühl für Kausalität nicht vom Individuum erworben, sondern durch die Entwicklung der A r t vorgebildet" sei 27 . 25 A u f diesen Einfluß ist es auch zurückzuführen, w e n n Mach (Beiträge (34 ff.)) die Auffassung v e r t r i t t , daß „ w i r " „auch teleologische Betrachtungen" „als H i l f s m i t t e l der Forschung keineswegs zu scheuen haben" — obwohl er selbst sagt, daß „uns das Tatsächliche nicht verständlicher" werde „durch Zurückführung desselben auf einen selbst problematischen unbekannten 'Weltzweck'", w o m i t er zumindest der Sache nach erkennt, daß eine teleologische „Wissenschaft" auf Spekulation beruht. 26 Mach, Mechanik (455).

160

5. Kap.: Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

Die Auffassung, „ i n der Natur" gebe „es keine Ursache und W i r kung", weil „die Natur" „nur einmal" da sei und die dem entsprechenden Ausführungen, „Wiederholungen gleicher Fälle, i n welchen A immer mit Β verknüpft" wäre, „das Wesentliche des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung" existiere „nur in der Abstraktion, die w i r zum Zweck der Nachbildung der Tatsachen" „vornehmen", sind nicht haltbar. Zwar ist nicht bestreitbar, daß jedes Seiende nur einmal existiert. Dies gilt folglich auch für jedes einzelne Seiende, das als Bedingung zu einer bestimmten Ursache gehört. Daraus, daß jede einzelne Ursache und jede einzelne Wirkung nur einmal existiert, zu schließen, daß sie deshalb nicht existieren, enthält den unmittelbaren Widerspruch der gleichzeitigen Behauptung eines Seins und eines Nichtseins von Ursache und Wirkung. Die obigen Ausführungen enthalten den weiteren Fehler, daß Ursache und Wirkung mit den sich darauf beziehenden Kausalgesetzen ineinsgesetzt werden. Ein Kausalgesetz ist ein Gesetz des Notwendigkeitszusammenhangs zwischen Wirkungen einer A r t und deren Ursachen. Ein Gesetz ist ein erkenntnismethodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Notwendigkeitszusammenhänge 28 . Als Urteile bestehen Gesetze aus Begriffen; infolgedessen sind sie abstrakt. Sie sind als i m Gehirn eines sie denkenden Menschen existierende Seiende nicht identisch mit den Ursachen und Wirkungen, die ihr Gegenstand sind. Daß insbesondere Kausalgesetze wahr gedacht werden können, beruht darauf, daß es Wirkungen bestimmter Art gibt. Daß es gleichartige W i r kungen und entsprechende gleichartige Ursachen gibt, kann nicht damit „widerlegt" werden, daß jede einzelne Bedingung, die zusammen mit anderen eine Wirkung bewirkt, nur einmal existiert: denn das w i r d mit der Erkenntnis der Artgleichheit nicht nur nicht verneint, sondern positiv vorausgesetzt. M i t der weiteren Behauptung, „das Wesentliche des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung" existiere „nur i n der Abstraktion" und der darin enthaltenen Verneinung des realen Existierens von Ursache und Wirkung w i r d i n dieser Machschen Lehre den den überragenden Erfolg der Naturwissenschaften i m 19. Jahrhundert ausmachenden Erkenntnissen naturwissenschaftlicher Gesetze ihre Objektivität bestritten. I n ausdrücklicher Anlehnung an die Assoziationspsychologie Humes 2 9 27

Mach, Mechanik (456 f.). Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27). 29 Vgl. auch Mach, Wärmelehre (383): „Die Macht, welche zur Vervollständigung der halb beobachteten Tatsache i n Gedanken treibt, ist die Assoziation. Dieselbe w i r d k r ä f t i g verstärkt durch Wiederholung. Sie erscheint uns dann als eine fremde, v o n unserem W i l l e n u n d der einzelnen Tatsache unabhängige Gewalt, welche Gedanken u n d Tatsachen treibt, beide i n Übereinstimmung hält, als ein beide beherrschendes Gesetz". — Z u r Entsprechung 28

E. Heinrich Helmholtz

161

werden sie als ausschließlich durch das menschliche Bewußtsein bedingte, damit der Sache nach als gegenstandslose, „willkürliche" Konstruktionen behauptet. Der Versuch, dieser Konsequenz einer Annahme absoluter Subjektivität des Denkens von Gesetzen zu entgehen, endet wie bereits bei Hume i n weiteren, schon i n sich unhaltbaren Aussagen, mit denen der Sache nach das begriffliche Denken i n seinen Grundlagen aufgelöst wird. Daß „ w i r " „persönlich nichts zur Bildung" „der Begriffe Ursache und Wirkung" „beigetragen" haben — diese also demnach nicht ichbedingt (subjektiv) sind — soll sich widersprüchlich daraus ergeben, daß sich diese „Begriffe" „instinktiv" und „unwillkürlich" als „Gefühl" „entwickeln", was, wie mehrfach dargelegt, die Behauptung ihrer Subjektivität der Sache nach ist. Zur Übernahme der Lehre Humes t r i t t bei Mach hinzu, daß er zusätzlich den Einfluß Darwins erkennen läßt, wenn er behauptet, „das Gefühl für Kausalität" sei „nicht vom Individuum erworben, sondern durch die Entwicklung der A r t vorgebildet": da es das behauptete „Gefühl für Kausalität" nicht gibt, kann ein solches nicht durch die „Entwicklung der A r t vorgebildet" sein. E. Heinrich Helmholtz Noch deutlicher treten die unüberwindlichen Schwierigkeiten der über die Grundlagen der Lehre Humes nicht hinaus gelangenden Positivisten, die Objektivität von Kausalgesetzen zu begründen, bei dem neben Mach ebenfalls führenden naturwissenschaftlichen philosophischen Positivisten Heinrich Helmholtz zutage 30 . Dieser führt i n seiner 1879 gehaltenen Rede „Die Tatsachen in der Wahrnehmung" folgendes aus: „Jeder Induktionsschluß" stütze „sich auf das Vertrauen, daß ein bisher beobachtetes gesetzliches Verhalten sich auch i n allen noch nicht zur Beobachtung gekommenen Fällen bewähren" werde. „Es" sei „dies ein Vertrauen auf die Gesetzmäßigkeit alles Geschehens. Die Gesetzmäßigkeit aber" sei „die Bedingung der Begreifbarkeit. Vertrauen i n die Gesetzmäßigkeit" sei „also zugleich Vertrauen auf die Begreifbarkeit der Naturerscheinungen." Setzen „ w i r aber voraus, daß das Begreifen zu vollenden sein" werde, „daß w i r ein letztes Unveränderliches als Ursache der beobachteten Veränderungen werden hinstellen können, so" nennen „ w i r das regulative Prinzip unseres Denkens, was uns dazu" treibe, „das Kausalgesetz. W i r " können „sagen, es" spreche „das Vertrauen auf die vollkommene Begreifbarkeit der Welt aus. Das Begreifen, i n dem Sinne, wie" er (Helmholtz, D. T.) „es beschrieben" habe, der Auffassung Machs u n d Humes hinsichtlich des „Kausalproblems" vgl. auch Bavink, Was ist Wahrheit i n den Naturwissenschaften (39 f.). 30 Helmholtz (Die Tatsachen i n der Wahrnehmung (61)) selbst bezeichnet sich „als Anhänger der empiristischen Theorie der Wahrnehmung". 11 Tripp

162

5. Kap.: Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

sei „die Methode, mittels deren unser Denken die Welt sich" unterwerfe, „die Tatsachen" ordne, „die Zukunft voraus" bestimme. „Es" sei „sein Recht und seine Pflicht, die Anwendung dieser Methode auf alles Vorkommende auszudehnen, und wirklich" habe „es auf diesem Wege schon große Ergebnisse geerntet. Für die Anwendbarkeit des Kausalgesetzes" haben „ w i r aber keine weitere Bürgschaft, als seinen Erfolg. W i r " könnten „ i n einer Welt leben, i n der jedes Atom von jedem anderen verschieden" wäre, „und wo es nichts Ruhendes" gäbe. „Da" würde „keinerlei Regelmäßigkeit zu finden sein, und unsere Denktätigkeit" müßte „ruhen. Das Kausalgesetz" sei „wirklich ein a priori gegebenes, ein transzendentales Gesetz. Ein Beweis desselben aus der Erfahrung" sei „nicht möglich, denn die ersten Schritte der Erfahrung" seien „nicht möglich, wie w i r gesehen" haben, „ohne die Anwendung von Induktionsschlüssen, d.h. ohne das Kausalgesetz; und aus der vollendeten Erfahrung, wenn sie auch" lehrte, „daß Alles bisher Beobachtete gesetzmäßig verlaufen" sei, „— was zu versichern w i r doch lange noch nicht berechtigt" seien, „— würde immer nur erst durch einen Induktionsschluß, d. h. unter der Voraussetzung eines Kausalgesetzes folgen können, daß nun auch i n Zukunft das Kausalgesetz gültig sein würde. Hier" gelte „nur der eine Rat: Vertraue und handle!" 3 1 . Alle Grundfehler, die i m von Humes Empirismus beeinflußten philosophischen und historischen Positivismus i n Bezug auf die Erkenntnis von Kausalgesetzen enthalten sind, finden sich bei Helmholtz wieder und werden von i h m auf die Spitze getrieben: die widersprüchliche Behauptung eines „Induktionsschlusses", der sich auf ein „Vertrauen" stützt, und die darin enthaltene fehlerhafte Ineinssetzung von Fühlen und Denken, von Glauben und Wissen; die Behauptung der Existenz von Kausalgesetzen, die nicht als Ergebnis methodisch richtigen Denkens erkannt, sondern die umgekehrt „regulatives Prinzip unseres Denkens" sein sollen, womit die Existenz von „Kausalgesetzen" nicht nachgewiesen, sondern geglaubt wird; die m i t dieser Auffassung wie dargelegt verbundene Annahme inhaltsloser, absoluter „Kausalgesetze", die Helmholtz i m Unterschied zu Hume von vornherein als „a priori gegebene", „transzendentale Gesetze" bezeichnet — jede der zitierten Ausführungen belegt das restlose Versagen des Positivismus als Wissenschafts- und Erkenntnislehre, die selbstgestellte Aufgabe der Verbannung der falschen Metaphysik aus der Wissenschaft auch nur i n A n sätzen zu lösen. Dieser Umstand ist zumindest Helmholtz nicht verborgen geblieben und hat ihn zu Ausführungen i n seiner bereits erwähnten Rede veranlaßt, die man durchaus als — zeitlich vorweggenommenes — Manifest der Kapitulation des philosophischen und histo31

Helmholtz, Die Tatsachen i n der Wahrnehmung (41 f.).

E. Heinrich Helmholtz

163

rischen Positivismus vor den idealistischen „Systemen" bezeichnen kann: Er (Helmholtz) sehe „nicht, wie man ein System selbst des extremsten Idealismus widerlegen" könnte, „welches das Leben als Traum betrachten" wollte. „Man" könnte „es für so unwahrscheinlich, so unbefriedigend wie möglich erklären —" er „würde i n dieser Beziehung den härtesten Ausdrücken der Verwerfung zustimmen — aber konsequent durchführbar wäre es; und es" scheine i h m „sehr wichtig, dies i m Auge zu behalten". „Die realistische Hypothese" traue „der Aussage der gewöhnlichen Selbstbeobachtung, wonach die einer Handlung folgenden Veränderungen der Wahrnehmung gar keinen psychischen Zusammenhang mit dem vorausgegangenen Willensimpuls haben. Sie" sehe „als unabhängig von unseren Vorstellungen bestehend an, was sich i n täglicher Wahrnehmung so zu bewähren" scheine, „die materielle Welt außer uns. Unzweifelhaft" sei „die realistische Hypothese die einfachste, die w i r bilden" können, „geprüft und bestätigt i n außerordentlich weiten Kreisen der Anwendung, scharf definiert in allen Einzelbestimmungen und deshalb außerordentlich brauchbar und fruchtbar als Grundlage für das Handeln. Das Gesetzliche i n unseren Empfindungen w ü r den w i r sogar i n idealistischer Anschauungsweise kaum anders auszusprechen wissen, als indem w i r " sagen: „Die m i t dem Charakter der Wahrnehmung auftretenden Bewußtseinsakte verlaufen so, also ob die von der realistischen Hypothese angenommene Welt der stofflichen Dinge wirklich bestände4. Aber über dieses ,Als ob'" kommen „ w i r nicht hinweg; für mehr als eine ausgezeichnet brauchbare und präzise Hypothese" können „ w i r die realistische Meinung nicht anerkennen; notwendige Wahrheit" dürfen „ w i r ihr nicht zuschreiben, da neben ihr noch andere unwiderlegbare idealistische Hypothesen möglich" seien 32 . Diese Ausführungen sind das Eingeständnis dessen, daß der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus die realistische Einstellung, denen die Naturwissenschaften ihre Erfolge i m 19. Jahrhundert verdankt, nicht als allein wissenschaftlich mögliche Einstellung hat begründen können mit der ebenfalls zugestandenen Folge, daß man „Systeme" „selbst des extremsten Idealismus" als Wissenschaft gelten lassen muß und die realistische Wissenschaft ebenso wie jedes idealistische System als „Hypothese", die man weder beweisen noch widerlegen kann, an die man folglich nur glauben kann oder auch nicht, behandelt. Die zitierten Ausführungen haben damit zusammengefaßt den Inhalt, daß die „realistische Meinung" sich ebenso einem subjektiven Standpunkt verdanke wie der „Idealismus" — daß sie über ein „Als-Ob" nicht hinauskomme, folglich niemals den Beweis erbringen könne, daß sie nichtidealistisch sei. Eine wissenschaftliche Unterscheidung zwischen 32

11*

Helmholtz, Die Tatsachen i n der Wahrnehmung (34 f.).

164

5. Kap.: Der naturwissenschaftliche philosophische Positivismus

Idealismus und Realismus ist nach all dem nicht mehr möglich — so werden i m naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus Begriffe, Denken und wissenschaftliches Erkennen, folglich die Wissenschaft überhaupt, aufgegeben. F. Konsequenzen der fehlerhaften Wissenschafts- und Erkenntnislehre Die unmittelbare Folge, die dieser Sachverhalt noch bei den naturwissenschaftlichen philosophischen Positivisten hatte, bestand darin, daß als nichtspekulativ nur noch die Auflistung und die „Beschreibung" von Tatsachen aufgefaßt wurde. So führt Mach aus: „Das Ideal aber, dem jede wissenschaftliche Darstellung, wenn auch sozusagen asymptotisch" zustrebe, enthalte „ i n der vollständigen Beschreibung der Tatsachen mehr als alle Spekulationen zu geben" vermögen, „und es" fehle „demselben dafür das Fremde, Überflüssige, Irreführende, das jede Spekulation" einführe. „Dieses Ideal" sei „ein vollständiges, übersichtliches Inventar der Tatsachen eines Gebietes. Dasselbe" solle „für den Gebrauch einfach, handlich, ökonomisch geordnet und i n der Anlage so durchsichtig sein, daß es womöglich ohne weitere Hilfsmittel i m Kopfe behalten werden" könne 3 3 . „ W i r " haben „allein die Beziehung des Tatsächlichen zu Tatsächlichem, und dies" werde „durch die Beschreibung erschöpft" 34 . „Die werdende Wissenschaft" bewege „sich i n Vermutungen und Gleichnissen — das" lasse „sich nicht i n Abrede stellen. Je mehr sie sich der Vollendung" nähere, „desto mehr" gehe „sie i n bloße direkte Beschreibung des Tatsächlichen ü b e r " 3 5 . Wären die Naturwissenschaftler den Anweisungen ihrer Philosophen gefolgt, die ihr wie Mach bloß noch die „direkte Beschreibung des Tatsächlichen", wie Hertz die „Abbildung der Gegenstände" 36 , wie Kirchhoff die Beschreibung der „ i n der Natur vor sich gehenden Bewegung vollständig und auf die einfachste Weise" 3 7 als Wissenschaft zugestehen wollten, sie wäre zur bloßen „Naturbetrachtung" oder „Naturbeschreib u n g " 3 8 geworden, ohne auch nur noch ein einziges abstraktes Urteil zu 83

Mach, Wärmelehre (459). Hervorhebungen v o n Mach. Mach, Wärmelehre (435). 35 Mach, zit. n. Kaulbach, Das anthropologische Interesse i n Ernst Machs Positivismus (50) m. N. 36 Zit. nach Engelhardt, Was heißt u n d zu welchem Ende treibt man Naturforschung? (39). 37 Zit. nach Rickert, Kulturwissenschaft u n d Naturwissenschaft (86). 38 Vgl. Engelhardt, Was heißt und zu welchem Ende treibt man Naturforschung (39): „kontemplative Deskription". Gegen das i n der modernen Wissenschaftstheorie vertretene Deskriptionsargument v o n T o u l m i n (Foresight and Understanding (24 f.)) wendet Hempel (Aspects of Scientific Explanation (170)) zutreffend ein, daß i n i h m die rein beschreibende Geschichte der Evol u t i o n m i t der Theorie der Evolution verwechselt w i r d (vgl. Stegmüller, Wissenschaftliche E r k l ä r u n g u n d Begründung (178 ff.)). 34

F. Konsequenzen der fehlerhaften Wissenschafts- und Erkenntnislehre 165 formulieren oder ein Gesetz zu erkennen 3 9 . Nun haben sich zwar die Naturwissenschaftler i n ihrer Arbeit als Biologen, Chemiker, Physiker, Mathematiker usw. von den idealistischen Verirrungen der naturwissenschaftlichen Philosophen i m 19. Jahrhundert nicht beeindrucken lassen. Der Einfluß des naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus des 19. Jahrhunderts ist aber dort kaum zu hoch zu veranschlagen, wo die Philosophie Antworten auf ihre Grundfragen i n Bezug auf eine realistische Wissenschafts- und Erkenntnislehre von Seiten der Naturwissenschaften erhielt, die i n Wahrheit nur die Wiederholung der eigenen falschen Antworten darstellten — nunmehr allerdings versehen mit der Anerkennung der höchsten wissenschaftlichen Autorität jener Zeit, mit denen das letzte Wort i n Hinsicht erfahrungswissenschaftlichen Erkennens gesprochen zu sein schien.

30 Wenn Hennemann (Grundzüge einer Geschichte der Naturphilosophie (95)) die Auffassung v e r t r i t t , daß der Positivismus „allgemeingültige Urteile" verneint u n d bei „konsequenter Durchführung alle Wissenschaft vernichten" würde, so t r i f f t dies auf den Positivismus des 19. Jahrhunderts zu. Keineswegs ist dies jedoch darin begründet, daß der Positivismus eine Tatsachenphilosophie gewesen ist, sondern daß er eine solche — wie dargelegt — gerade nicht hatte begründen können. Den Positivismus des 19. Jahrhunderts als Beleg dafür zu verwenden, daß der „reine Empirismus (mit allen seinen Schattierungen, wie vor allem dem Positivismus)" „allein Naturwissenschaft nicht begründen" könne, (94) entbehrt jeder Grundlage. Diese Auffassung beruht auf der Verkennung der Gründe des Scheiterns der positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, die als konsequent durchgeführter Empirismus bzw. Positivismus behauptet w i r d u n d deren Fehler infolgedessen als Scheitern der Erfahrungswissenschaft als solcher dargelegt werden. Daß Hennemann (93) unter Berufung auf K a n t die Auffassung v e r t r i t t , „ i n dem »Apriorischen 4 " liege „der Ansatzpunkt der Naturerkenntnis", ist danach nur konsequent.

Zweiter

Teil

Die Hinwendung der Rechtswissenschaft zum Positivismus Die Problematik Die bisherige Untersuchung hat erbracht, daß allein der naturwissenschaftliche Positivismus den Merkmalen entspricht, die dem Positivismus, also auch dem philosophischen, historischen und naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus, allgemein zugeschrieben werden. Denn nur die Naturwissenschaften als Sachwissenschaften sind „Tatsachenwissenschaften", nur i n ihnen gibt es den „Gegebenheitsstandpunkt", gibt es die Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft, werden das begriffliche Denken sowie die logischen und mathematischen Gesetze uneingeschränkt anerkannt und angewandt, werden infolgedessen die „apriorischen Denkformen" 1 und mit ihnen die falsche Metaphysik aus der Wissenschaft „eliminiert". Diese grundlegenden Unterschiede zwischen den als positivistisch bezeichneten Lehren sind bei der Analyse des rechtswissenschaftlichen Positivismus bisher nicht, zumindest nicht hinreichend beachtet worden. Dies geschieht ζ. B., wenn i m rechtsphilosophischen bzw. rechtshistorischen Schrifttum behauptet wird, daß „der (Hervorhebung von mir, D. T.) Positivismus des 19. Jahrhunderts" „einen strengen Determinismus i m Sinne des kausalmechanischen Weltbildes" annahm 2 . Damit w i r d die oben 3 dargelegte verfehlte Auffassung absoluter „Entwicklungsgesetze" für eine dem Begriff Positivismus als Tatsachen- oder Gesetzeswissenschaft entsprechende kausalgesetzliche Ansicht gehalten. Nicht haltbar ist auch die Bezeichnung des Positivismus als „Monismus, Naturalismus und Relativismus" 4 . Hierbei w i r d verkannt, daß der 1

Die Ansicht, daß sich der Positivismus „für die Naturwissenschaften" „bis zu einem gewissen Grade auf die Erkenntnistheorie Kants berufen konnte" (so Larenz, Methodenlehre (39)), ist nicht haltbar, w e i l es K a n t ( K r i t i k der reinen Vernunft (84)) war, der i n seiner Erkenntnislehre eine „transzendentale L o g i k " als „Wissenschaft des reinen Verstandes u n d Vernunfterkenntnisses, wodurch w i r Gegenstände v ö l l i g a p r i o r i denken" behauptet u n d dam i t ein v o m naturwissenschaftlichen Positivismus massiv u n d erfolgreich bekämpftes „Denken" vertreten hat. 2 Larenz, Methodenlehre (40), Fn. 10. 3 Siehe oben S. 116 ff. 4 Schönfeld, Grundlegung der Rechtswissenschaft, §8 (83).

Die Problematik

167

naturwissenschaftliche (Gesetzes-)Positivismus und der Relativismus einander begrifflich unmittelbar ausschließen. Verstellt man sich eine Untersuchung des rechtswissenschaftlichen Positivismus dadurch, daß man fehlerhaft von einer einheitlich durchgeführten Wissenschaftsauffassung sowohl des naturwissenschaftlichen wie des philosophischen (einschließlich des naturwissenschaftlichen philosophischen) und historischen Positivismus ungeprüft ausgeht, führt dies dazu, daß diejenigen Methoden und Rechtsauffassungen, die allein i n den als Rechtspositivismus bezeichneten Lehren dem Positivismus als „Tatsachenwissenschaft" bzw. „Gegebenheitsstandpunkt" begrifflich entsprechen, von denjenigen, die auf die Einflüsse des i m Ansatz verfehlten Humeschen „Empirismus" bzw. des philosophischen und historischen Positivismus zurückgehen, nicht voneinander geschieden werden. Setzt man aber die auf den philosophischen und historischen Positivismus zurückgehenden und infolgedessen auf idealistische Geleise geratenen Lehren 6 ineins mit der Rechtswissenschaft als Tatsachen- und Gesetzeswissenschaft, für die „das Vorbild der exakten Naturwissenschaften" „maßgebend" ist 6 und hält man infolgedessen jene Lehren für gleichsam das letzte Wort, welches eine allein auf „Tatsachen" und „unbezweifelbare Fakten" sich gründende Rechtslehre gesprochen hat 7 , muß dies notwendig Fehlbeurteilungen und Verfälschungen des Rechtspositivismus und damit der Rechtswissenschaft als empirisch-realistischer Wissenschaft überhaupt nach sich ziehen. I n der folgenden Untersuchung w i r d — aufbauend auf den Ergebnissen der Analyse des ersten Hauptteils — versucht, die Grundzüge des rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts, die tatsächlich dem „Vorbild der exakten Wissenschaften" entsprechen und denen das Bürgerliche Gesetzbuch seine Entstehung verdankt, herauszuarbeiten. Einerseits sollen wesentliche Fehler, die hierbei unterlaufen sind, ebenso kenntlich gemacht, andererseits soll aber vor allem der zentrale Unterschied zu anderen, nur sogenannten positivistischen Lehren herausgearbeitet werden, die i n Wahrheit die Verneinung der dem Rechtspositivismus zukommenden Merkmale zum Inhalt haben.

5 Dies ist insbesondere der F a l l bei der „psychologischen Rechtstheorie" Bierlings (s. dazu unten S. 282 ff.). β Dies geschieht ζ. B. bei Larenz, Methodenlehre (40 f.); Dahm, Deutsches Recht, §17 (131); Vgl. auch Henkel, Rechtsphilosophie, §39 (489) u n d Germann, Grundlagen der Rechtswissenschaft (127), die „Naturalismus" u n d „ Rechtssoziologie" ineinssetzen. 7 Vgl. z.B. Larenz, Methodenlehre (40 f.).

6. Kapitel

Die Vorbereitung des rechtswissenschaftlichen Positivismus in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts Diejenige Richtung i n der Rechtswissenschaft, die als ihre „Aufgabe" „zunächst die Durchdringung des Gesetzes mit reinen Mitteln der Log i k " 1 ansah und die sich damit bewußt „sowohl gegen das rational-deduktive Naturrecht wie gegen die metaphysische Grundeinstellung der idealistischen deutschen Philosophie, aber auch gegen die Romantik und die ältere ,Historische Schule'" 2 stellte, entsteht nicht erst unter dem Einfluß des naturwissenschaftlichen Positivismus, unter dem sie dann allerdings zur „herrschenden Richtung" 3 i n der Jurisprudenz wird. Der Kampf gegen jene Lehren unter Berufung auf die „reinen Mittel der Logik" beginnt mit dem 19. Jahrhundert unter dem Eindruck eines verheerenden Zustands der staatlichen Gesetze und der Rechtswissenschaft. Es ist kein Zufall, daß die Anfänge dieses logischen bzw. dogmatischen Positivismus zugleich die Anfänge der fast ein Jahrhundert währenden „Kodifikationsbewegung" sind. Für beide Anfänge steht der Name eines Mannes, dessen Bedeutung für die Rechtswissenschaft heute fast völlig verkannt w i r d 4 , nämlich von Anton Fr. J. Thibaut 5 . A. Thibaut als Vorläufer des dogmatischen Positivismus I . Thibauts Kampf gegen die „Axiomatiker"

1. Einen wichtigen Programmsatz gegen jede idealistische Rechtsauffassung hat Thibaut 1798 i n seinen „Versuchen über einzelne Teile der Theorie des Rechts" formuliert: „ . . . Lange genug" sei das „positive Recht" „durch widernatürliches Zusammenpressen unter eine seinsol1

So Herrfahrdt, Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft (90 f.). So zutreffend Larenz, Methodenlehre (39). 8 So Herrfahrdt, Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft (87). 4 So gehört Thibaut nach E r i k W o l f offensichtlich nicht zu den „Großen Rechtsdenkern der deutschen Geistesgeschichte". 5 Zutreffend i n dem hier vertretenen Sinn w i r d Thibaut als Positivist bezeichnet insbesondere v o n Stintzing/Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft I I I , 2 (69 ff., 587 ff.) u n d v o n Herrfahrdt, Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft (87), vgl. auch Wolf, Der K a m p f gegen das BGB, in: Festschrift für Gerhard M ü l l e r (863 ff.). 2

Α. I. Thibaut gegen die „Axiomatiker"

169

lende philosophische Form gemißhandelt" worden 6 . „Interpretation oder Auslegung" des „positiven Rechts" habe „das Auffinden der Gründe und Grundsätze, von welchen die Urheber des Rechts ausgingen, nicht von welchen sie hätten ausgehen können oder sollen", zu sein 7 . M i t dieser Aussage wendet sich Thibaut unmittelbar gegen die sog. „Axiomatiker", die Anhänger der auf Chr. Wolff zurückgehenden „Demonstrationsmethode", mit der dieser das von Grotius begründete und von Pufendorf weitergeführte rationalistische Naturrecht eingekleidet hatte: Es sei „unglaublich, wie man sich . . . von jeher an den Gesetzen versündigt" habe, „besonders seit der Periode der Axiomatiker, welche überall auf erträumte Grundsätze zu bauen pflegten, und dadurch dem Geist des Rechts mehr geschadet" haben, „als demselben eine gesunde Philosophie i n der Folge" werde „nutzen können." „Der Hang zu Vermutungen und Voraussetzungen sei bei vielen so weit gegangen, daß man sich gar nicht einmal die Mühe" gegeben habe, „die i n den Gesetzen selbst angegebenen Gründe zu Rate zu ziehen, und gegen diese die erträumten Hypothesen aufzugeben" 8 . 2. Chr. Wolff, der die mittelalterliche Naturrechtslehre und Philosophie auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen wollte — „Et enim lus Naturae scientia esse debet" 9 ; „Philosophia practica universalis scientia esse debet." 1 0 —, sah seine Forderung nach „unumstößlichen Erkenntnisgründen und einem Beweisgang, der bis zu diesen Erkenntnisgründen" hinführe, dann als erfüllt an, wenn alle Sätze der Wissenschaft, soweit sie nicht selbst zu den sog. „Axiomen" gehören, durch „Schlußketten" auf „Axiome" zurückgeführt werden können 1 1 . Die „Axiome" werden i n dieser Lehre als nicht beweisbare „Grundsätze" behauptet, eine Auffassung, die auf die aristotelische Philosophie zurückgeht. Aristoteles hatte gerade für die sog. „beweisenden" (apodiktischen) Wissenschaften angenommen, daß sie „auf wahren, u r sprünglichen, unvermittelten und ranghöheren Vordersätzen beruhen, die zudem den Grund des Schlußsatzes enthalten". „ A u f ursprünglichen und unbeweisbaren Vordersätzen" müsse „das Wissen beruhen .. . " 1 2 . Diese Auffassung wurde insbesondere von Descartes i n seiner Lehre von der „Evidenz" als der Behauptung einer „unmittelbaren Selbst6

Thibaut, Versuche, l . B d . , 2.Auflage 1817 (151). Thibaut, Versuche, l . B d . , 2. Auflage 1817 (133). 8 Thibaut, Theorie d. log. Ausleg. des Rom. R., 2. A u f l . (37). 9 Chr. Wolff, lus Naturae, § 2 (2). 10 Chr. Wolff, zit. nach Stupp, Mos geometricus (27). 11 Vgl. Stupp, Mos geometricus (22). 12 Aristoteles, Zweite A n a l y t i k , I, 2 (16 f.). Vgl. auch Becker, Grundlagen der Mathematik (96 ff.) m. w . N. 7

170

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

gewißheit" des „Denkens" wiederaufgenommen 13 . A u f i h n geht auch die bis i n dieses Jahrhundert hinein insbes. i n der Mathematik vertretene Definition eines Axioms „als ein Satz, der eines Beweises weder fähig noch bedürftig" sei, zurück 1 4 . a) Träfe es tatsächlich zu, daß die Mathematik auf „Sätzen" — die von W u n d t 1 5 auch als „Grundgesetze" bezeichnet w e r d e n — die „eines Beweises weder fähig noch bedürftig" seien, beruhte, wäre sie keine Wissenschaft. Denn Sätze, die nicht beweisbar sind, sind notwendig Glaubenssätze. Glauben ist aber nicht wissenschaftliches Erkennen als nach Gesetzen oder gesetzesähnlichen Regeln methodisch beweisendes Erkennen 1 6 . Beweisen ist die Darlegung des Erkennens, i n dem die Wahrheit eines Urteils begründet ist 1 7 . Da behauptet wird, daß alle Sätze der Mathematik aus diesen obersten „Grundsätzen" oder „Prinzipien" „erwiesen" werden 1 8 , diese „Prinzipien" selbst aber als nicht bewiesen aufgefaßt werden, w i r d damit der Sache nach die Auffassung vertreten, i n der Mathematik sei nichts bewiesen. Daß die Mathematik oder auch die Geometrie auf nicht beweisbaren „Prinzipien" beruhen, ist nicht der Fall. So sind ζ. B. die ersten „Grundsätze i n dem ersten Buch der Euklidischen Elemente", die als „Axiome der Geometrie" aufgefaßt werden, folgende Gesetze: „1. Was einem und ebendemselben gleich ist, ist selbst gleich; 2. zu Gleichem Gleiches hinzugetan, bringt Gleiches; 3. von Gleichem Gleiches hinweggenommen, läßt Gleiches" 19 . 18

Siehe oben S. 71. Vgl. Wundt, Logik, l . B a n d (548). — I n der „modernen Wissenschaftstheorie" w i r d der Ausdruck „ A x i o m " überwiegend i n anderem Sinne gebraucht. Insbesondere w i r d der „antike Anspruch, daß A x i o m e unmittelbar evident zu sein hätten, heute nicht mehr erhoben" (vgl. Speck/Spohn, Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. 1, unter A x i o m m. w . N.). Der Anspruch Hilberts, v ö l l i g voraussetzungslos mittels der „ A x i o m e " zugleich die i n ihnen verwendeten Begriffe definieren zu können, wurde grundlegend bereits von Frege (Uber die Grundlagen der Geometrie I I I , 1, zit. nach Ritter/Oeing/Hanhoff, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, unter A x i o m , Sp. 747 f. m. w . N.) kritisiert. Nach Popper (Logik der Forschung (42)) „ k a n n man die A x i o m e als Festsetzungen betrachten oder als empirisch-wissenschaftliche Hypothesen". Zur „mengentheoretischen Axiomatisierung" vgl. insbes. Stegmüller, Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie I I (469 ff.) m. w . N. 15 Logik, 1. Bd. (548). 16 Z u wissenschaftliches Erkennen vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (34). 17 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I I b 14 (27). 18 Vgl. dazu Chr. Wolff, Nachricht, § 25 (59). 19 Zit. n. R e i n w a r t h in: Allgemeine Encyklopädie der Wissenschaften u n d Künste, 1. Sektion, 95. Teil, hrsg. v. Ersch u n d Gruber, Leipzig 1875 (225). 14

Α. . Thibaut gegen die „Axiomatiker"

171

Ebenso wie die Zahlenbegriffe der Mathematik Erfahrungsbegriffe sind 2 0 , handelt es sich bei den oben formulierten Gesetzen u m allgemeinste mathematische (oder geometrische), aufgrund von Abstraktionen aus der Erfahrung realer Verhältnisse erkannte Gesetze. Dies konnte und kann solange nicht erkannt werden, wie die wissenschaftlichen Abstraktionen mit falschen metaphysischen Sätzen ineinsgesetzt wurden, wie dies gerade auch i n den der Metaphysik gegenüber negat i v eingestellten Lehren des sog. „Empirismus" und des falschen philosophischen, historischen und naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus der Fall war. Die fehlerhafte Auffassung auch der Mathematiker i n Hinsicht der i n ihrer Wissenschaft erkannten allgemeinsten Gesetze, daß es sich bei diesen u m „Axiome" handelt, hat auf ihren Inhalt und damit auf ihre Richtigkeit keinen Einfluß, weil die Wahrheit eines Urteils allein i n seiner Übereinstimmung mit dem Gegenstand, auf den es sich bezieht, besteht. Das weitverbreitete Selbstmißverständnis der Naturwissenschaftler hinsichtlich ihrer Grundlagen hat sie wegen deren Wahrheit und methodischen Richtigkeit nicht daran gehindert, zu zahllosen richtigen Erkenntnissen zu gelangen. b) Etwas anderes bedeutet es für eine als wissenschaftlich behauptete Methodenlehre, wenn i n ihr die Auffassung vertreten wird, die sog. „deduktive Methode der Mathematiker", i n der man „am schärfsten" demonstriere 21 , sei „eine Exemplifizierung einer allgemeinen wissenschaftlichen Methode", wie dies bei den „Axiomatikern" der Fall ist 2 2 . Denn da danach jede Wissenschaft auf nicht beweisbaren „Grundgesetzen" oder „Prinzipien" beruht 2 3 , w i r d die Wissenschaft überhaupt verneint. Die praktische Konsequenz für die von den „Axiomatikern" beeinflußte Rechtslehre i m 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestand darin, daß m i t der Behauptung, „mathematische" — und dieser Ausdruck war schon i m 18. Jahrhundert durch die Leistungen ζ. B. eines Galilei oder eines Kopernikus 2 4 i n Bezug auf das wissenschaftliche Erkennen gleichbedeutend m i t dem Wort „exakte" — „Methoden" anzuwenden, die metaphysische Naturrechtslehre mit einer scheinwissenschaftlichen Begründung versehen wurde. c) Die grundlegenden Fehler jeder Naturrechtslehre, an denen auch jede idealistische Rechtslehre scheitert, sind die Ineinssetzungen von 20

Vgl. dazu Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (139). So Chr. Wolff, Nachricht, § 30 (86), § 34 (108). 22 Vgl. Stupp, Mos geometricus (31). 23 Vgl. auch Chr. Wolff, Neuer Auszug aus den Anfangsgründen aller m a thematischen Wissenschaften, § 16 (4). 24 Siehe o. S. 43 ff. 21

172

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

Recht und Moral, von Gesetz und Gebot, von Sein und Sollen, von Gesetz und Recht. aa) Das Naturrecht, als dessen „Gesetzgeber" „Gott" „anzusehen" sei 2 5 , w i r d von Chr. Wolff aus der „moralischen Natur des Menschen" 26 „abgeleitet". „Kein Recht ohne eine moralische Verpflichtung, die" vorhergehe, „ i n der es" wurzele „und aus der es" entspringe 27 . „Das natürliche Gesetz" verpflichte „uns zu den Handlungen, welche unsere Vervollkommnung bezwecken, und zur Unterlassung der Handlungen, welche das Gegenteil" herbeiführen 2 8 . Die allgemeine Regel des Handelns, das oberste „Axiom" lautet nach Wolff: „Thue, was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet: unterlaß, was ihn unvollkommener machet" 2 9 . Diejenigen Handlungen seien „gut", die „den inneren und äußeren Zustand vervollkommnen", „böse" „diejenigen Handlungen, die ihn unvollkommener" machen 30 . „Da nun die Einsicht i n den Zusammenhang der Dinge die Vernunft" sei, werde „das Gute und Böse durch die Vernunft erkannt. Und demnach" lehre „uns die Vernunft, was w i r tun und lassen" sollen, das sei, „die Vernunft" sei „die Lehrmeisterin des Gesetzes der Natur"31. I n Bezug auf das „positive Recht" behauptet Chr. Wolff folgendes: „Auch das positive Recht" habe „seine Gründe", „durch welche es aus dem Naturrecht hergeleitet werden" könne und müsse. „Diese Gründe" seien „entweder moralische oder politische oder historische. Moralische: welche von der Billigkeit" herstammen, „daher innerlich" seien, „bei welchen das Prädikat durch den Begriff des Subjekts bestimmt" werde; „solche Gründe" seien „es, welche das positive Recht" veranlassen, „Sätze des Naturrechts unverändert herüber zu nehmen. Politische: welche von den für das Zusammenleben der Menschen i m Staat (in jedem oder i n diesem besonderen Staat) maßgebenden Rücksichten" herstammen, „daher von außen" hinzutreten, „aber i n philosophisch berechtigter Weise; solche Gründe" seien „es, welche das positive Recht i n philosophisch berechtigter Weise" bestimmen, „vom Naturrecht abzuweichen. Historische: zufällige äußere Gründe des Gesetzgebers, welche ebenfalls zu Abweichungen vom Naturrecht" führen; „aber nur als thatsächliche Voraussetzungen hinzunehmen" seien, „ohne ihrerseits wieder Begründung i m System zu finden" 32. 25 28 27 28 29 30 31

Vgl. Chr. Wolff, Nachricht (398). Vgl. Bluntschli, Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts (215). Chr. Wolff, De Jus Ν., I cap., § 2 (2 f.). Chr. Wolff, De Jus Ν., I cap., § 170 (101). Chr. Wolff, T h u n u n d Lassen, § 12 (12). Chr. Wolff, Gott, Welt, Seele, §§ 422, 426; vgl. auch Nachricht, § 137 (394). Chr. Wolff, T h u n u n d Lassen, § 23 (18).

Α. I. Thibaut gegen die „Axiomatiker"

173

bb) Diese Auffassung scheitert an folgendem: aaa) Ein „Naturrecht", das i n einer „moralischen Verpflichtung" w u r zelt oder ihr „entspringt", moralische „Gründe" des „positiven Rechts", die „von der Billigkeit" „herstammen", gibt es nicht. Recht sind die rechtlichen Verhältnisse. Ein rechtliches Verhältnis ist ein personhaftes Ordnungsverhältnis zwischen Menschen 33 . Ein personhaftes Ordnungsverhältnis ist ein Ordnungsverhältnis zwischen Menschen mit dem Inhalt, daß ein daran Beteiligter gemäß den Möglichkeiten des Erhaltens, Entfaltens und Vermehrens eines anderen Beteiligten als Person nur bestimmte Entscheidungen treffen kann 3 4 . Es gibt natürliche rechtliche Verhältnisse. Das sind solche, die nicht einem Entschluß entsprechend bewirkt, also nicht durch eine Handlung hergestellt worden sind. Ein natürliches rechtliches Verhältnis entsteht allein dadurch, daß ein Mensch die objektive Möglichkeit hat, durch Handeln i n einem anderen oder i n äußeren Bedingungen dessen Existierens einen Erfolg zu bewirken oder herbeizuführen. Denn dann kann er die Bedingungen der Möglichkeiten personhaften Erhaltens, Entfaltens und Vermehrens des anderen verändern und diese Möglichkeiten damit beeinträchtigen. Damit besteht zwischen diesen Menschen ein Verhältnis des Inhalts, daß ein Verhalten des einen, mit dem die Möglichkeiten personhaften Erhaltens, Entfaltens und Vermehrens des anderen nicht beeinträchtigt werden, der personhaften Ordnung zwischen diesen Menschen entspricht, während ein Verhalten, m i t dem sie beeinträchtigt werden, dieser Ordnung nicht entspricht. Ein personhaftes Ordnungsverhältnis entsteht zwischen zwei Menschen demnach allein dadurch, daß es einem von beiden möglich ist, i n dem anderen oder i n äußeren Bedingungen dessen Erhaltens, Entfaltens und Vermehrens durch eine Handlung einen Erfolg zu bewirken oder herbeizuführen. Es entsteht allein aufgrund der natürlichen Eigenschaften der Menschen als Personen, aufgrund ihrer natürlichen Anlage zur Entschließungsfähigkeit, und damit natürlich 3 5 . Das Existieren dieser Verhältnisse ist objektiv erkennbar. Dasselbe gilt für die sich auf die rechtlichen Verhältnisse beziehenden rechtlichen Gesetze. Ein Rechtsgesetz ist ein Kausalgesetz mit dem Inhalt, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten A r t vorliegt, eine Rechtswirkung einer bestimmten A r t eintritt. Das allgemeinste rechtliche Gesetz 32

Chr. Wolff, zit. n. Stintzing/Landsberg 3, 1 (199) m . w . N . Vgl. Wolf, BGB A l l g . T., § 1 A I (1). Z u den Grundlagen der i n dieser A r beit vertretenen Rechtsauffassung s. o. S. 33 ff. 34 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I I b (5 ff.). 35 Vgl. zu dem Vorstehenden näher Wolf, insbes. B G B A l l g . T., § 1 A I I I (9 ff.). 33

174

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

heißt, daß jedes Anfangen, Ändern oder Enden eines rechtlichen Verhältnisses die Rechtswirkung eines Tatbestands ist 3 6 . Rechtliche Gesetze beziehen sich danach auf rechtliche Verhältnisse, die als ontische Verhältnisse erfahrbar und infolgedessen wissenschaftlich erkennbar sind. Ein „Sittengesetz" bezieht sich auf sittliche Wertverhältnisse. Diese sind zwar ebenfalls Ordnungsverhältnisse. Aber i m Unterschied zu rechtlichen Verhältnissen als ontischen Verhältnissen zwischen mehreren Menschen bestehen diese zwischen einem Menschen und einem metaphysischen Gut dieses Menschen. Als metaphysischer Gegenstand ist es wissenschaftlich nicht erkennbar. Das Gleiche gilt für Gebote. Ein Gebot ist eine Aufforderung einer Gottheit an einen oder mehrere Menschen zu einer bestimmten Handlung oder Unterlassung (individuelles Gebot) oder an mehrere Menschen zu Handlungen oder Unterlassungen einer bestimmten A r t (allgemeines Gebot) 37 . Während das Erkennen des Inhalts rechtlicher Verhältnisse — das gilt für die natürlichen ebenso wie für die hergestellten — nicht auf einer subjektiven Entscheidung beruht, die rechtlichen Gesetze daher für alle sie betreffenden Menschen verbindlich sind, ist dies bei den Geboten nicht der Fall. Als auf Offenbarung beruhende Glaubensinhalte sind sie nicht nach Erfahrungsgesetzen beweisbar und für Andersgläubige oder Atheisten nicht verbindlich. Ob ein Mensch an eine religiöse Botschaft glaubt oder nicht, ist allein Gegenstand einer notwendig subjektiven Entscheidung. bbb) Alle Versuche, die Sittlichkeit aus der „moralischen Natur des Menschen" oder aus einer „Vernunft" herzuleiten, sind notwendig zum Scheitern verurteilt. Eine „moralische Natur des Menschen" gibt es nicht, weil es moralische Entscheidungen nur als persönlichkeitliche Glaubensentscheidungen gibt, diese aber nicht natürlich entstehen, sondern von jedem einzelnen Menschen als subjektive geistige Inhalte hergestellt werden. M i t der Behauptung einer „moralischen Natur" des Menschen w i r d eine mit einem bestimmten Inhalt für alle Menschen existierende Moral, die nicht von ihrer notwendig individuellen Wertentscheidung i n Bezug auf metaphysische Güter abhängt, behauptet. Eine solche „überindividuelle" Moral gibt es nicht. ccc) Die für jedes moralische Verhalten unerläßliche Glaubensfreiheit w i r d verneint mit der Auffassung, daß das, „was w i r tun und lassen" sollen, „uns die Vernunft" lehre.

88 37

Näheres dazu vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 15 (29). Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (260).

Α. I. Thibaut gegen die „Axiomatiker"

175

Eine derartige „Vernunft", die sich auf Gegenstände der Metaphysik bezieht, gibt es nicht. Vernunft ist Denken, Entschließen und Wollen i n Übereinstimmung m i t den Gesetzen der Logik 3 8 . Gegenstände der Logik sind Begriffe, die durch die i n ihnen enthaltenen ausschließlich gegenstandsbedingten (objektiven) empirischen Merkmale inhaltlich beschränkt sind und infolgedessen nicht absolut sein können. M i t der Annahme einer absoluten Vernunft w i r d damit i n Wahrheit begriffliches Denken verneint. M i t ihr ist nichts erkennbar, von einer solchen Vernunft kann man nichts „lernen", aus ihr ist insbesondere kein „positives Recht" herleitbar 3 9 . ddd) Wenn das Gegenteil dessen unter Verwendung der Leerwörter „moralische Natur des Menschen" und „Vernunft" behauptet wird, wenn rechtliche Gesetze aus göttlichen „Gesetzen", also Geboten, „abgeleitet" werden, treten an die Stelle wissenschaftlichen Erkennens falsche Metaphysik und falsches Moralisieren, mit dem sowohl Religion und Sittlichkeit als auch das Recht verneint werden. W i r d das, was nur Gegenstand eines individuellen Glaubens sein kann, als Recht behauptet, t r i t t an die Stelle des individuellen Glaubens eine ebenfalls notwendig subjektive Glaubensentscheidung, die den widersprüchlichen Inhalt hat, nicht auf das sie treffende Individuum beschränkt zu sein, sondern allgemeine Verbindlichkeit i n Bezug auf alle Menschen zu beanspruchen, gegenüber denen sie als Rechtspflicht behauptet wird. Eine religiöse Glaubensentscheidung zur Rechtspflicht für alle zu erklären und durchzusetzen, vermag nur ein göttliche Autorität beanspruchender absoluter Herrscher, unter dessen religiöses und sittliches Diktat der einzelne gestellt wird. eee) M i t einer derartigen Auffassung w i r d zugleich das Recht verneint. Zum Inhalt eines rechtlichen Verhältnisses als personhaftes Ordnungsverhältnis gehört es, die Möglichkeit des Erhaltens, Entfaltens und Vermehrens eines daran beteiligten Menschen als Person zu bedingen. Dieses personhafte Existieren eines Menschen ist gegeben, wenn er bei bestehender Entschließungsfähigkeit die Möglichkeit hat, über sich selbst zu entscheiden. Ist ein Mensch entschließungsfähig, ist er eine Persönlichkeit. Er existiert als solche, soweit i n i h m oder i n äußeren Bedingungen seines Erhaltens, Entfaltens und Vermehrens nur Wirkungen eintreten, über die er selbst entschieden hat 4 0 . 88

Vgl. Wolf, BGB A l l g . T., § 1 C I I I g 7 (98 f.). Das Scheitern dessen, „ i n allen Fällen" zu urteilen, „was gut oder böse" sei, gesteht Chr. Wolff, T h u n u n d Lassen, § 97 (58 f.) (vgl. auch Stupp, Mos geometricus (26) m. η . N.) zu, w e n n er sagt: es sei „freilich wahr, daß es k e i n Mensch bis dahin bringen" werde „ . . . sondern man" werde „sich u n terweilen n u r m i t einem wahrscheinlichen Urteile begnügen müssen". 49 Vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I I b (5 ff.). 39

176

6. Kap.: Die Vorbereitung des echtspositivismus

Ein sittliches Verhalten ist wegen der damit verbundenen Wertentscheidungen notwendig ein persönlichkeitliches Verhalten. Ein Mensch kann sich persönlichkeitlich und damit sittlich nur verhalten, soweit i h m nicht ein anderer durch ein unrechtmäßiges Verhalten die dazu erforderliche Entscheidungsmöglichkeit entzieht. Daß Recht existiert, ist folglich die Bedingung der Sittlichkeit. Und da ein Bedingtes nicht zugleich das es Bedingende bedingen kann, kann die Sittlichkeit nicht Bedingung oder Voraussetzung des Rechts sein 41 . W i r d ein persönlichkeitliches Verhalten insbesondere dadurch verneint, daß ein Mensch keine individuellen Glaubensentscheidungen treffen kann, sondern diese i h m vorgeschrieben werden, widerspricht dies dem Begriff personhaftes ΟrdnungsVerhältnis und damit dem Begriff Recht. Was als Recht behauptet wird, ist i n Wahrheit Unrecht 4 2 . fff) „Politische Gründe" für das „politische Recht" gibt es ebenfalls nicht. Ein politisches Verhältnis ist ein persönlichkeitrechtliches Verhältnis, das eine organschaftliche staatliche Entscheidung oder die Gründung oder Auflösung eines Staates betrifft 4 3 . Wegen ihrer möglichen Unrechtmäßigkeit können politische Verhältnisse nicht Grundlage rechtlicher Verhältnisse sein. Das Recht kann daher nicht als politisch bedingt oder begründet aufgefaßt werden. Das politische Handeln ist an das Recht gebunden, nicht das Recht vom politischen Handeln abhängig. Die gegenteilige Auffassung ist notwendig eine Ideologie des totalen Staats 44 . ggg) Die von Chr. Wolff behaupteten „historischen Gründe" des Rechts, die er als „zufällige, äußere Gründe des Gesetzgebers" bezeich41

Vgl. dazu Wolf, BGB A l l g . T., § 1 Β I c (48 ff.). Die Verneinung des Menschen als Persönlichkeit hat dazu geführt, daß Chr. Wolff den „Sklavereivertrag zwischen Privaten" als rechtlich möglich u n d zulässig anerkannt hat; vgl. Stintzing/Landsberg 3, 1 (203). 43 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β I V a (62). 44 Was Chr. W o l f f als „ f ü r das Zusammenleben der Menschen i m Staat maßgebenden Rücksichten", die „ v o n außen" hinzutreten, „aber i n philosophisch berechtigter Weise" anerkannt u n d zu dessen v o n i h m behaupteter „Befugnis, für das W o h l seiner Untertanen" bzw. für das „gemeine W o h l " zu sorgen, gezählt hat, w a r ζ. B. folgendes: obrigkeitliches Taxieren v o n A r beitslohn u n d Preisen der Waren; Sorge „nicht bloß für eine allgemeine Schulbildung", sondern auch das „Wachen darüber", „daß die erwachsenen Untertanen sich der Tugend u n d der Frömmigkeit befleißigen, zu Kirchen gehen u n d an dem öffentlichen Gottesdienst teilnehmen"; auch die Folter hat Chr. W o l f f als rechtmäßig anerkannt „als das unter manchen Umständen einzige M i t t e l , u m ein Geständnis eines Verbrechers zu erzwingen." Sämtl. Nachw. bei Bluntschli, Geschichte des A l l g . Staatsrechts (221). — Neben dem Aufweis dessen, welche Staatsauffassung zu einer die Identität von Recht u n d Moral bzw. B i l l i g k e i t behauptenden u n d die politische Begründung des „positiven Rechts" vertretenden Lehre gehört, belegt diese Stelle außerdem, welche staatlichen Maßnahmen durch das Leerwort „gemeines W o h l " oder „Gemeinwohl" scheinbar gerechtfertigt werden können. 42

Α. I. Thibaut gegen die „Axiomatiker"

177

net, sind i n Wahrheit — wie sich aus dem Dargelegten ergibt — kein zusätzliches drittes Merkmal neben den moralischen und politischen Gründen, da diese ebenfalls w i l l k ü r l i c h und daher zufällig sind und auf politischen Machtentscheidungen beruhen. Daß Wolff aber aus „historischen Gründen" ebenso wie aus „politischen" dem Gesetzgeber ein Abweichen vom Naturrecht zugesteht, ist zwar unzutreffend, aber auf der Grundlage der Wolffschen Lehre konsequent. Unzutreffend ist es, weil, wenn das Naturrecht der „moralischen Natur" des Menschen entspricht, eine Abweichung vom Naturrecht als Verneinung der „moralischen Natur", und, infolge der Ineinssetzung von Recht und Moral bei Wolff, als widerrechtlich bezeichnet werden müßte. Konsequent ist die zugestandene Rechtmäßigkeit der Abweichung aber gerade darin, daß das behauptete „Naturrecht" ohnehin nichts als ein Instrument des absolutistischen Staates ist, mit dem seine W i l l k ü r eine scheinbare moralische Legitimation erhält. hhh) Die Wolffsche „axiomatische Methode" besteht demgemäß i n der Behauptung absoluter inhaltsleerer „Axiome", die — weil beliebig ausfüllbar —, jede Gesetzgebung des absolutistischen Staates Friedrich II. zu „deduzieren" erlaubten. Daß dies mit objektiver Analyse von Gesetzesinhalten nichts zu t u n hat, ergibt sich aus dem vorstehend Ausgeführten und aus den Bezeichnungen, die Chr. Wolff für sein „Beweisverfahren" verwendet: „ars demonstrandi" bzw. „ars inveniendi". „Ars demonstrandi" ist die Bezeichnung der mathematischen Methode der rationalistischen Naturrechtslehre (more geometrico), deren logische Unmöglichkeit zum Zusammenbruch der Naturrechtslehren, zur Kodifikationsbewegung, zum Positivismus und zur spekulativen „historischen Rechtsauffassung" führte. „Ars inveniendi" bedeutet freie Erfindung und willkürliche Setzung. 3. Die W i l l k ü r , mit der die „Axiomatiker" die absolutistische Gesetzgebung gerechtfertigt haben 4 5 , hat Thibaut als solche erkannt und angegriffen. Als das Kampfmittel gegen eine spekulative Rechtslehre, die „a priori nach dem" hinziele, „was sie sich a posteriori aufgesteckt" habe, „ i n der alles zu rechtfertigen und beschönigen gesucht" werde, was sich zufällig so oder so gemacht" habe 4 6 , sah er eine ihrem Inhalt nach realistische Philosophie, insbesondere eine realistische Logik an, in der es auf exakte Begriffe und Definitionen ankommen sollte: „Unter den 45 Vgl. dazu die Glossierung Hugos, der m i t Nettelbladt einen zeitgenössischen führenden Vertreter der „axiomatischen Methode" angreift: „ e i n Nettelbladtianer müßte nicht i m mindesten i n Verlegenheit sein, nicht n u r die neue französische Konstitution, sondern auch die Verfassung des H e i l i gen Römischen Reichs aus seinem Naturrecht zu deduzieren" (zit. nach Stintzing/Landsberg, 3,1 (291)). 46 Vgl. Thibaut, Heidelberg. Jahrb. d. Literatur, 1814, in: Hattenhauer, Thibaut u n d Savigny (203).

12 Tripp

178

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

philosophischen Wissenschaften" verdiene „die Vernunftlehre (Logik), sowohl die reine, als die angewandte, die vorzügliche Aufmerksamkeit der Rechtsgelehrten. I n jeder juristischen Vorlesung, selbst i n der Enzyklopädie", müsse „der Zuhörer beurteilen" können, „ob ein Begriff richtig und vollständig gefaßt, ein Schlußfolgerecht, eine Definition, eine Einteilung den Vernunftgesetzen gemäß sei oder nicht. Der gesunde natürliche Verstand" leite „zwar i n diesen Fällen oft eben so sicher als die wissenschaftlich erlernten Regeln des Denkens, aber doch nur so lange, als es nicht auf die Gründe des Urteils" ankomme, „die, wenn sie erkannt werden" sollen, „nur durch ein wissenschaftliches Raisonnement aufgesucht werden" können. „Der natürliche Verstand" könne „sich verirren, nur über das Gemeine und Gewöhnliche urteilen. Ohne strenge Regeln, nach denen ein Urteil geprüft, eine verwickelte Frage entschieden werden" könne, sei „selbst der hellste Kopf dem I r r t u m und den Trugschlüssen geübter Dialektiker preisgegeben, und selbst dann, wenn er der wahren Meinung" beitrete, „unfähig, die gegenteilige falsche Meinung durch wahre Gründe zu widerlegen" 4 7 . Die Anwendung der Gesetze der Logik sollten zunächst dazu dienen, insbesondere das überlieferte römische Recht wissenschaftlich auszulegen, d.h. die i n den Rechtsgesetzen enthaltenen Begriffe nach objektiven Merkmalen zu erkennen. Der „Kampf um das Recht" begann daher mit dem Kampf gegen die Willkür der Gesetzesinterpretation: „es" gebe „Werke", sagt Thibaut gegen die „Axiomatiker", „ i n denen es auf jeder Seite von w i l l k ü r l i c h ersonnenen Conjekturen über die Gründe der Gesetze" wimmele, „und der Hang zu Vermutungen und Voraussetzungen" sei „bei vielen so weit gegangen, daß man sich gar nicht einmal die Mühe" gab, „die in den Gesetzen selbst angegebenen Gründe (Hervorhebung von mir, D. T.) zu Rate zu ziehen, und gegen diese die erträumten H y pothesen aufzugeben" 48 . Dementsprechend versteht Thibaut unter dem „Ausdruck Interpretation oder Auslegung des positiven Rechts i m eigentlichsten, strengsten Sinne": „das Auffinden der Gründe und Grundsätze, von welchen die Urheber des Rechts" ausgingen, „nicht von welchen sie hätten ausgehen können oder sollen" 4 0 . M i t der Verpflichtung des Auslegers der Gesetze auf den Inhalt dieser Gesetze verbunden war der Kampf u m die Beseitigung der richterlichen Willkür. „Fast sollte man glauben", schreibt Thibaut i n seiner „Theorie der logischen Auslegung des Römischen Rechts", „das Verhältnis des Richters zum positiven Gesetz" sei „ein wahrer status belli und der Grundsatz: du wirst siegen, wenn deine Feinde sich schlagen, 47 48 49

Thibaut, Jurist. Enzyklopädie u n d Methodologie, § 144 (234 f.). Thibaut, Theorie der logischen Auslegung (37). Thibaut, Versuche (133).

Α. I. Thibaut gegen die „Axiomatiker"

179

gleichfalls ein Grundsatz der juristischen Hermeneutik" 5 0 , und er besteht darauf, daß „der Richter" „vermöge des Begriffs der richterlichen Gewalt unbedingt verpflichtet" sei, „die Gesetze genau ihrem Inhalt zufolge anzuwenden" 5 1 . Und der Behauptung einer den Gesetzen vorausgesetzten absoluten „ B i l l i g k e i t " 5 2 oder „höheren Gerechtigkeit" hält er schlicht entgegen: „Gerechtigkeit" heiße „die vorhandenen Gesetzen nicht widerstreitende Handlungsweise" 53 . M i t Thibauts Forderungen nach einer „logischen Auslegung" der Gesetze und der Bindung der Richter an deren Inhalt sind die Grundlagen einer willkürlichen Auffassung dessen, was unter Recht zu verstehen ist, nicht beseitigt. Denn ob ein staatliches Gesetz dem Begriff Recht entspricht oder nicht, setzt die Kenntnis dieses Begriffs voraus, und diese Kenntnis kann es ohne eine realistische Ontologie und Anthropologie, auf Grund deren das Recht als personhaftes Ordnungsverhältnis zwischen Menschen erkannt werden kann, nicht geben. Die Gefahr der Ineinssetzung von Recht und staatlichem Gesetz, die i n der Behauptung des Staats als „Urheber des Rechts" und der Verpflichtung der Richter auf den Inhalt der bestehenden staatlichen „Gesetze", die man nicht als Rechtsgesetz nachzuweisen vermag, besteht, hat Thibaut durchaus erkannt. Als „positive" „Gründe der Gesetze" wollte er nur solche anerkennen, welche „nicht willkürlich" seien, „sondern reine Aussprüche der gesunden Vernunft" enthalten 5 4 . Was darunter zu verstehen sei, sollte eine künftige „Philosophie" „entwickeln". Daß die „philosophierende Vernunft" nicht m i t der absoluten „Vernunft" des Rationalismus zu verwechseln ist, sondern daß es sich bei der künftigen Philosophie u m eine die logischen Gesetze anwendende, realistische Wissenschaft handeln sollte, ergibt sich ζ. B. aus folgender Aussage: Die „philosophierende Vernunft" solle „Einheit und systematische Verbindung schaffen". „Das System" solle „dem gesunden Verstand zur Stütze dienen, darüber wachen, daß die Aussprüche desselben nicht durch Leidenschaften, Gewohnheiten, Unwissenheit verfälscht werden" 5 5 . Daß die dazu erforderlichen wissenschaftlichen Voraussetzungen fehlten — „gegenwärtig", führt Thibaut aus, seien „ w i r zu einer vollständigen philosophischen Interpretation, d. h. einer solchen, welche auch die verborgenen Gründe einer positiven Gesetzgebung auszufor50 51 52 53 54 55

12*

Thibaut, Theorie der logischen Auslegung (57). Thibaut, Theorie der logischen Auslegung (60). Dazu vgl. auch Thibaut, Versuche (297). Thibaut, System des Pandektenrechts, 1. Bd., § 5 (5). Thibaut, Versuche (139). Thibaut, Versuche (157 f.).

180

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

sehen" suche, „schlechterdings unfähig" 5 6 — hat Thibaut dazu veranlaßt, noch an die Möglichkeit eines Naturrechts zu glauben und die überkommene scholastische Einteilung i n „Naturrecht" und „positives Recht", i n „ius naturale" und „ius positivum" 5 7 beizubehalten. Dies ändert jedoch nichts daran, daß m i t Thibaut erstmals ein logischer Positivismus i n der Rechtswissenschaft vertreten wurde, noch bevor das Wort Positivismus i n Deutschland bekannt wurde, und daß m i t i h m der Kampf gegen den Irrationalismus i n der Rechtswissenschaft begann, den die großen Dogmatiker ab der Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem offenkundigen Scheitern aller apriorischen „Rechtsbegründungen", insbes. dem Scheitern der „Historischen Rechtsschule", fortgesetzt haben. Daß auch dieser Kampf gegen die „Historische Rechtsauffassung" von Thibaut ausging, zeigt die Bedeutung dieses Mannes für die gesamte Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. I I . Thibauts Kampf gegen die „Historische Rechtsschule"

Von der Auseinandersetzung Thibauts mit Savigny hat der sogenannte „Kodifikationsstreit" aus dem Jahre 1814 bleibende Berühmtheit erlangt. Untersucht und dargestellt wurde dieser bisher ausschließlich i n seiner rechtsgeschichtlichen Bedeutung, während seine wissenschaftstheoretischen Implikate noch nicht grundlegend erforscht worden sind. Daß der Streit zwischen Thibaut und Savigny weit mehr ist als ein „personales Problem" und seine Bedeutung auch nicht allein i n einer „hochpolitischen" oder „grundlegenden verfassungsrechtlichen Problematik" liegt 5 8 , sondern es sich dabei u m eine geradezu „klassische" Auseinandersetzung zwischen einer idealistischen und einer sich empirisch verstehenden Rechtslehre handelt, bleibt gänzlich außer Betracht. W i dersprüche i m rechtshistorischen und rechtsphilosophischen Schrifttum, wonach Thibaut einerseits als Vertreter eines „wissenschaftlichen Positivismus", der i m „Gegensatz" stehe „zur neueren historischen Auffassung", angesehen w i r d 5 9 , andererseits unter dem Titel „Wegbereiter und Anführer der historischen Rechtsschule" abgehandelt w i r d 6 0 und infolgedessen der „rechtswissenschaftliche Positivismus" des 19. Jahrhunderts auf die „Historische Rechtsschule" als „positiver Rechtswissenschaft" beziehungsweise „Wissenschaft des positiven Rechts" we56

Thibaut, Versuche (172). Vgl. dazu Gagner, Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung (210 ff.) m i t Belegen zur Entstehung dieser Einteilung. 58 Vgl. Hattenhauer, Thibaut u n d Savigny (9). 59 Vgl. ζ. B. Stintzing/Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3,2 (72). 60 So Wieacker (Privatrechtsgeschichte, §21 (377 ff.)), der Thibaut unter diesem T i t e l behandelt. 57

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

181

sentlich zurückgeführt 6 1 oder mit ihr geistesgeschichtlich unmittelbar ineinsgesetzt w i r d 6 2 , bleiben unaufgeklärt. Ohne den Nachweis dessen, daß die „Historische Rechtsschule" i n grundlegendem Gegensatz steht zu jeder mit Recht als solche bezeichneten rechtspositivistischen Lehre, kann die geistesgeschichtliche Bedeutung des rechtswissenschaftlichen Positivismus, können seine Leistungen als Tatsachen- und Gesetzeswissenschaft i m Verhältnis zu Lehren, die idealistische Grundauffassungen vertreten, nicht erkannt werden. Werden Historismus und Positivismus miteinander vermengt, führt dies notwendig zur Verfälschung des rechtswissenschaftlichen Positivismus und zu einer Fehlbeurteilung der Rechtswissenschaft als logisch-empirischer Wissenschaft. Diesem Nachweis dient zunächst die Analyse der Lehre Savignys vom „positiven Recht" und seiner Auffassung von der „Rechtswissenschaft" als „geschichtlicher" Wissenschaft und die i m Anschluß daran erfolgende Gegenüberstellung wesentlicher wissenschafts- und erkenntnistheoretischer Aussagen Thibauts, die ihn als Vorläufer des dogmatischen Rechtspositivismus i n Deutschland ausweisen. 1. Die Grundlagen der „Historischen Rechtsauffassung" Savignys in seiner Lehre vom „positiven Recht" Noch vor seiner berühmten Programmschrift von 1814 „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" hat Friedrich Carl von Savigny, der Begründer der sog. „Historischen Rechtsschule", i n einer Rezension von Hugos „Lehrbuch der Geschichte des Römischen Rechts" 1806 die „Wende der Rechtswissenschaft" 63 , die zugleich als A b wendung vom überkommenen Naturrecht verstanden wurde, folgendermaßen angekündigt: „Die würdigste Auffassung der Rechtswissenschaft" sei „jene höhere Idee", „nach welcher die ganze Rechtswissenschaft selbst nichts anderes" sei „als Rechtsgeschichte, so daß eine abgesonderte Bearbeitung der Rechtsgeschichte von jeder anderen Bearbeitung der Rechtswissenschaft nur durch die verschiedene Vertheilung von Licht und Schatten unterschieden sein" könne 6 4 . a) Die Auffassung, daß die „ganze Rechtswissenschaft selbst nichts" sei „als Rechtsgeschichte," hängt mit Savignys Lehre von der „Entste81 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 20 I I (353), I V 3 (373), § 23 I (430 ff.); Lieb, (Römisches Recht (116)) bezeichnet Savigny als „Neubegründer" „des rechtswissenschaftlichen Positivismus". 82 So insbesondere bei W i l h e l m , Z u r juristischen Methodenlehre i m 19. Jahrhundert (88 ff.), der die „Historische Rechtsschule" als „rechtswissenschaftlichen Positivismus" bezeichnet. 83 Wilhelm, Methodenlehre (17). 84 Savigny, Rezension: Hugo, Lehrbuch der Geschichte des Rom. Rechts, zit. nach Wilhelm, Methodenlehre (17) m. w. N.

182

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

hung des positiven Rechts" zusammen. Savigny führt hierzu folgendes aus: „Welches" seien „nun die Entstehungsgründe des allgemeinen Rechts, oder worin bestehen die Rechtsquellen?" „Hierüber" könnte „man annehmen wollen, das Recht" habe „eine ganz verschiedene Entstehung, je nach dem Einfluß des Zufalls, oder auch menschlicher W i l l kür, Überlegung und Weisheit. A l l e i n dieser Annahme" widerspreche „die unzweifelhafte Tatsache, daß überall, wo ein Rechtsverhältnis zur Frage und zum Bewußtsein" komme, „eine Regel für dasselbe längst vorhanden, also jetzt erst zu erfinden weder nötig noch möglich" sei. „ I n Beziehung auf diese Beschaffenheit des allgemeinen Rechts, nach welcher es i n jedem gegebenen Zustand, i n welchem es gesucht werden" könne, „als ein gegebenes schon wirkliches Dasein" habe, nennen „ w i r es positives Recht" 6 5 . „Fragen w i r ferner nach dem Subjekt, i n welchem und für welches das positive Recht sein Dasein" habe, „so" finden „ w i r als solches das Volk. I n dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes" lebe „das positive Recht, und w i r " haben „es daher auch Volksrecht zu nennen. Es" sei „dieses aber keineswegs so zu denken, als ob es die einzelnen Glieder des Volkes" wären, „durch deren W i l l k ü r das Recht hervorgebracht" würde; „denn diese W i l l k ü r der Einzelnen" könnte „vielleicht zufällig dasselbe Recht, vielleicht aber, und wahrscheinlicher, ein sehr mannichfaltiges erwählen. Vielmehr" sei „es der i n allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht" erzeuge, „das also für das Bewußtsein jedes Einzelnen, nicht zufällig, sondern notwendig, ein und dasselbe Recht" sei. „Indem w i r also eine unsichtbare Entstehung des positiven Rechts" anehmen, müssen „ w i r schon deshalb auf jeden urkundlichen Beweis desselben verzichten." „ A l lein an Beweisen anderer A r t , wie sie der besonderen A r t des Gegenstandes angemessen" seien, fehle „es nicht. Ein solcher Beweis" liege „ i n der allgemeinen gleichförmigen Anerkennung des positiven Rechts, und i n dem Gefühl innerer Notwendigkeit, wovon die Vorstellung desselben begleitet" sei. „Dieses Gefühl" spreche „sich am bestimmtesten aus i n der uralten Behauptung eines göttlichen Ursprungs des Rechts oder der Gesetze; denn ein entschiedenerer Gegensatz gegen die Entstehung durch Zufall oder menschliche W i l l k ü r " lasse „sich nicht denken. Ein zweiter Beweis" liege „ i n der Analogie anderer Eigentümlichkeiten der Völker, die eine eben so unsichtbare, über die urkundliche Geschichte hinaufreichende Entstehung" haben, „wie ζ. B. die Sitte des geselligen Lebens, vor allem aber die Sprache" 66 . Savigny betrachtet das „Volk als eine natürliche Einheit" „und insofern als" „Träger des positiven Rechts" 67 . 65 68

Savigny, System, 1. Bd., § 7 (13 f.). Savigny, System, 1. Bd., § 7 (14 f.).

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

183

„Das individuelle Volk als Erzeuger und Träger des positiven oder wirklichen Rechts" 68 sei „ein unsichtbares Naturganzes mit unbestimmten Grenzen". Es sei „das ideale Volk", das „auch die ganze Zukunft i n sich" schließe, „also ein unvergängliches Dasein" habe. „Das positive Recht" sei „das ideale Recht des Volks als Naturganzen" 6 9 . „ I n dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes" lebe „das positive Recht" als „Volksrecht" 7 0 . „Die Gestalt aber, i n welcher das Recht i n dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes" lebe, sei „nicht die der abstrakten Regel, sondern die lebendige Anschauung der Rechtsinstitute i n ihrem organischen Zusammenhang, so daß, wo das Bedürfnis" entstehe, „sich der Regel i n ihrer logischen Form bewußt zu werden, diese erst durch einen künstlichen Prozeß aus jener Totalanschauung gebildet werden" müsse. „Jene Gestalt" offenbare „sich durch die symbolischen Handlungen, die das Wesen des Rechtsverhältnisses bildlich" darstellen, „und i n welchen sich die ursprünglichen Volksrechte meist deutlicher und gründlicher" aussprechen „als i n den Gesetzen" 71 . „Das Recht" habe ..sein Dasein i n dem gemeinsamen Volksgeist, also i n dem Gesamtwillen, der insofern auch der Wille jedes einzelnen" sei, möge sich der einzelne auch „vermöge seiner Freiheit durch das, was er für sich" wolle, „gegen das auflehnen" „können", „was er als Glied des Ganzen" denke und wolle. Dieser „Widerspruch" sei „das Unrecht oder die Rechtsverletzung, welche vernichtet werden" müsse, „wenn das Recht bestehen oder herrschen" solle. I m „Staat" erscheine „die des Unrechts fähige individuelle Freiheit als von dem Gesamtwillen gebunden und i n i h m untergehend" 7 2 . Es sei des Staates „unabweislichste Aufgabe, die Idee des Rechts i n der sichtbaren Welt herrschend zu machen" 7 3 . „Diese Ansicht, welche das individuelle Volk als Erzeuger und Träger des positiven oder wirklichen Rechts" anerkenne, dürfte „Manchen zu beschränkt erscheinen, welche geneigt sein" möchten, „vielmehr dem gemeinsamen Menschengeist, als dem individuellen Volksgeist, jene Erzeugung zuzuschreiben. I n genauerer Betrachtung aber" erscheinen „beide Ansichten gar nicht als widerstreitend. Was i n dem einzelnen Volk" wirke, sei „nur der allgemeine Menschengeist, der sich i n i h m auf individuelle Weise" offenbare. „ A l l e i n die Erzeugung des Rechts" sei „eine Tat, und eine gemeinschaftliche T a t " 7 4 . „Das Recht" habe 87

Savigny, System, 1. Bd., § 8 (20). Savigny, System, 1. Bd., § 8 (20). 8 ® Savigny, System, 1. Bd., § 10 (30). 70 Savigny, System, 1. Bd., § 7 (14). 71 Savigny, System, 1. Bd., § 7 (16). 72 Savigny, System, 1. Bd., § 9 (24). 73 Savigny, System, 1. Bd., § 9 (25). 74 Savigny, System, 1. Bd., § 9 (20 f.). 88

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

184

„kein Dasein für sich, sein Wesen vielmehr" sei „das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite angesehen" 75 . „Dieser organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und dem Charakter des Volkes" bewähre „sich auch i m Fortgang der Zeiten, und auch hierin" sei „es der Sprache zu vergleichen. So wie für diese," gebe „es auch für das Recht keinen Augenblick eines absoluten Stillstandes, es" sei „derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen, wie jede andere Richtung des Volkes, und auch diese Entwicklung" stehe „unter demselben Gesetz innerer Notwendigkeit, wie jene früheste Erscheinung. Das Recht" wachse „also mit dem Volke fort," bilde „sich aus mit diesem und" sterbe „endlich ab, so wie das Volk seine Eigentümlichkeit" verliere 7 6 . „Was ursprünglich Gewalt und Macht war", könne „allmählich durch die dem Rechtszustand innewohnende Anziehungskraft dergestalt umgebildet werden", „daß es i n denselben als neuer rechtmäßiger Bestandteil" übergehe 77 . „Bei steigender K u l t u r " nehme „das Recht" „eine wissenschaftliche Richtung, und wie es vorher i m Bewußtsein des gesamten Volkes" lebte, „so" falle „es jetzt dem Bewußtsein der Juristen anheim, von welchen das Volk nunmehr i n dieser Funktion repräsentiert" werde. „Das Dasein des Rechts" sei „von nun an künstlicher und verwickelter, indem es ein doppeltes Leben" habe, „einmal als Teil des ganzen Volkslebens, was es zu sein nicht" aufhöre, „dann als besondere Wissenschaft i n den Händen der Juristen". „Den Zusammenhang des Rechts mit dem allgemeinen Volksleben" nennt Savigny „das politische Element, das abgesonderte wissenschaftliche Leben des Rechts aber das technische Element desselben" 78 . „Die Summe dieser Ansicht also" sei, „daß alles Recht auf die Weise" entstehe, „welche der herrschende, nicht ganz passende, Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht" bezeichne, „d. h. daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt" werde, „überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die W i l l k ü r eines Gesetzgebers" 79 . b) Die Lehre Savignys vom „positiven Recht" ist verfehlt aus folgenden Gründen: aa) Das von Savigny als „Erzeuger und Träger des positiven oder wirklichen Rechts" behauptete „Volk" gibt es nicht. Weder ist das Volk eine „natürliche Einheit", noch gibt es ein „individuelles Volk", noch ist ein Volk „ein unsichtbares Naturganzes mit unbestimmten Grenzen", 75 76 77 78 79

Savigny, Savigny, Savigny, Savigny, Savigny,

Beruf (30). Beruf (11). System, l . B d . , § 10 (32). Beruf (11 f.). Beruf (13 f.).

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

185

noch gibt es ein „ideales Volk" mit einem „unvergänglichen Dasein", noch gibt es die Menschen als „einzelne Glieder" des „Volkes". aaa) Die Behauptung, das Volk sei ein Individuum, der Einzelne dagegen nicht, sondern als „Glied" „ein Bestandteil des individuellen Volks", widerspricht jeder Erfahrung. Der Gebrauch des Wortes „ein Volk" als singulare tantum für alle Angehörigen eines Staates darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich dabei u m viele Menschen, also viele Individuen handelt, die zusammen nicht gleich eins sind. Daß es sich bei der von Savigny als existierend behaupteten überindividuellen, transpersonalen Einheit u m eine Konstruktion bzw. Fiktion handelt, geht i m übrigen aus den „Bestimmungen" „unsichtbares Naturganzes", „unbestimmte Grenzen", „ideales Volk", „unvergängliches Dasein" hervor. Ein real existierendes Volk ist nicht unsichtbar, weil die Menschen, die es sind, nicht unsichtbar sind. Es ist kein „Naturganzes", weil es, wie dargelegt, keine Einheit, folglich kein Ganzes ist, und es ist kein „Nafurganzes", weil die Menschen einen Staat, dessen Angehörige sie sind, herstellen, dieser also nicht von Natur gegeben ist, und sie daher auch nicht von Natur aus Volk sind. bbb) Ein Volk hat keine „unbestimmten Grenzen", weil die Zahl der Angehörigen eines Staates bestimmt, mindestens aber bestimmbar ist. Daß das von Savigny als „Volk" behauptete Etwas „unbestimmte Grenzen" haben soll, kann danach nur bedeuten, daß es nach Merkmalen nicht bestimmt oder bestimmbar ist. Das Volk ist danach ein nicht bestimmbares, nicht „sichtbares" mystisches „Naturganzes", das nicht real nachgewiesen werden, sondern das lediglich i n der Einbildung eines sich dieses vorstellenden Menschen „existieren" kann. Dies ergibt sich auch daraus, daß es nach der Erfahrung kein unvergängliches Sein oder „Dasein" gibt und auch die Menschen sowohl als Individuum als auch als Gattung sterblich sind, es folglich kein „unvergängliches Dasein" eines Volkes gibt. Ein „unvergängliches Dasein" „gibt" es nur bei metaphysischen Gegenständen, die der Erfahrung nicht zugänglich sind. Das von Savigny als existierend behauptete „Volk" ist damit nichts als die metaphysische „Idee" eines Volkes, was audi durch die Wendung „ideales", also i n einer Idee vorgestelltes „Volk" bestätigt wird. bb) Wie das „Volk" keine Einheit ist, gibt es kein „gemeinsames Bewußtsein des Volkes", keinen „Volksgeist" „oder" „Gesamtwillen", i n denen das Recht sein „Dasein" habe. aaa) Bewußtheit ist das gegenwärtige ichhafte Wissen eines Menschen, mit bestimmtem Inhalt unter bestimmten Umständen zu existieren. Dieses Wissen existiert als solches nur, während ein Mensch ein Ur-

186

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

teil dieses Inhalts denkt 8 0 . Mehrere Menschen können Bewußtheiten ähnlichen Inhalts haben. Daß mehrere oder gar alle Menschen, die A n gehörige eines Staates sind, eine identische Bewußtheit haben, kann es nicht geben, weil mehrere Menschen nicht dasselbe Ich sind. Weder existieren damit das transpersonale „Volksbewußtsein", noch ein „gemeinsamer Volksgeist". Noch existiert folglich ein „Recht", welches i n diesem sein „Dasein" hat. Daß das als existierend behauptete transpersonale „gemeinsame Bewußtsein des Volkes" nichts m i t den tatsächlichen Bewußtheiten der einzelnen Menschen zu t u n hat, ergibt sich aus den Ausführungen Savignys selbst. Wenn er sagt, daß das Recht nicht durch die „ W i l l k ü r " der „einzelnen Glieder des Volkes" „hervorgebracht" werde, sind damit i n Bezug auf das „Volksrecht" verschiedene „Bewußtheiten" i m „Denken" „der einzelnen Glieder des Volkes" unterstellt, w i r d also deren Nichtidentität mit dem „Volksgeist" behauptet. Wenn aber zugleich ein „ i n allen einzelnen gemeinschaftlich lebender und wirkender Volksgeist" angenommen wird, w i r d eine Identität der soeben noch als „ w i l l k ü r lich" aufgefaßten „Bewußtheiten der einzelnen Glieder" i n Bezug auf einen „wirkenden Volksgeist" behauptet. Diese Behauptungen widersprechen sich. Den Bewußtheiten der einzelnen werden i n der Lehre Savignys damit jeweils entgegengesetzte, folglich w i l l k ü r l i c h konstruierte Inhalte unterschoben. bbb) Ebensowenig wie es einen „Volksgeist" gibt, gibt es einen „Gesamtwillen". Wollen ist eine Gehirntätigkeit m i t dem Inhalt, i n dem Tätigen selbst eine körperliche Tätigkeit oder eine Denktätigkeit zu bewirken 8 1 . Da es Gehirntätigkeiten nur bei einem einzelnen Menschen gibt, und Wollen aufgrund von Entschließen entsteht, jeder Mensch aber i n seinen Entschlüssen frei ist und infolgedessen insoweit auch das Wollen frei geschieht, existiert ein „Gesamtwille" nicht. Wollen ist wie Entschließen eine ichhafte Tätigkeit. Daher kann nur jeder Mensch für sich selbst, nicht für einen anderen wollen. Dies ergibt sich außerdem daraus, daß Savigny als „Widerspruch", der „das Unrecht oder die Rechtsverletzung" sei, eine „Auflehnung" zwischen dem, was der einzelne „vermöge seiner Freiheit" „für sich" wolle und dem, was er als „Glied des Ganzen" denke und wolle, für möglich hält. Er behauptet damit die mögliche Existenz eines i n dem Menschen vorhandenen inhaltlich entgegengesetzten Wollens: das Wollen, sich rechtmäßig zu verhalten, und das gleichzeitige Wollen, dieses Wollen nicht zu wollen. Dies mag es allenfalls bei einem Schizophrenen 80 81

Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (120 f.). Wolf, B G B A l l g . T., § 4 A I I b 3 (204).

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

187

geben — daß ein Mensch, der sich unrechtmäßig verhält, deswegen schizophren sei, w i r d niemand ernsthaft vertreten können. ccc) Die Behauptungen eines „individuellen Volkes", die der Menschen als „einzelne Glieder des Volkes", eines „Volksbewußtseins" und eines „Gesamtwillens" enthalten die Verneinung des Menschen als Individuum und damit seine Verneinung als entschließungsfähiger Mensch, als Persönlichkeit. Daß ein „Widerspruch" gegen das „höhere Volksganze", eine „Auflehnung" gegen den „Gesamtwillen" als „Unrecht" oder „Rechtsverletzung", welche „vernichtet werden" müsse, bezeichnet wird, bedeutet, daß eine „Rechtsverletzung" identisch sei damit, daß sich ein Mensch gegen seine Behandlung als Teil eines Kollektivs zur Wehr setzt. Jede Betätigung der individuellen Freiheit des Menschen w i r d m i t Machtmitteln bekämpft: hinter den idealistischen Leerwörtern „Volksgeist", „Gesamtwille" steht die reale Gewalt, die die m i t diesen Wörtern frei behauptbaren „Inhalte" nicht nur setzt, sondern sie gegenüber der „ W i l l k ü r der einzelnen" unter Bekämpfung ihrer „des Unrechts fähigen individuellen Freiheit", die sich nicht vom „Gesamtwillen" „binden" läßt und „ i n i h m untergeht", durchsetzt. Diese reale Gewalt übt allein ein totalitärer Staat aus — zu den Zeiten Savignys war dies der absolute Fürstenstaat. cc) Dem als Totalität aufgefaßten Staat, dem die kollektive Persönlichkeitsvernichtung zugestanden wird, entspricht eine „Rechtsauffassung", bei der das „Recht" scheinbar zu einem frei, also w i l l k ü r l i c h handhabbaren Instrument absoluter Herrschaft wird. aaa) Diesen „Erfordernissen" entspricht es, wenn Savigny behauptet, „das Recht" habe „kein Dasein für sich, sein Wesen vielmehr" sei „das Leben der Menschen selbst, von einer besonderen Seite angesehen", wenn er die Auffassung vertritt, der „organische Zusammenhang des Rechts mit dem Wesen und dem Charakter des Volkes" bewähre „sich auch i m Fortschritt der Zeiten", es sei „derselben Bewegung und Entwicklung unterworfen, wie jede andere Richtung des Volkes", es wachse „also mit dem Volke fort", bilde „sich aus diesem und" sterbe „endlich ab, so wie das Volk seine Eigentümlichkeit" verliere. bbb) I n Bezug auf ein „Recht", das „kein Dasein für sich" hat, dessen „Wesen" „das Leben der Menschen selbst" sei, das folglich als ununterscheidbar von diesem „Leben" behauptet wird, können begriffliche Merkmale nicht gedacht werden. Dies folgt schon daraus, daß m i t „Leben der Menschen" nicht das Gattungsmerkmal Lebewesen des Begriffs Mensch gemeint ist, sondern alles einschließt, was Menschen i n ihrem Leben tun und damit eine unzählige Menge von Handlungen und Ereignissen, die das Leben der Menschen betreffen, umfaßt — die als diese i n ihrer Gesamtheit nicht erkennbar sind. W i r d das „Recht"

188

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

als „Leben" aufgefaßt, w i r d es folglich nur scheinbar näher bestimmt: i n Wahrheit t r i t t an die Stelle eines Merkmals ein Leerwort, womit das Wort Recht selbst zum Leerwort wird. Das gleiche folgt daraus, daß bei Savigny „die Menschen" identisch sind m i t dem „Volk", das als „ideales Volk" wiederum als identisch m i t der Idee „Volk" aufgefaßt wird. Da diese „Idee" keinen denkbaren begrifflichen Inhalt hat, das gleiche für „das Volk" und „die Menschen" zutrifft, gilt dasselbe für „das Leben" der „Menschen" und folglich für den „Begriff" „Recht". dd) Die antilogische und antigesetzliche „Rechtsauffassung" Savignys folgt auch aus der Behauptung einer absoluten „Bewegung und Entwicklung" des „Volkes" und damit des „Rechts". Für ein derartiges i n Bezug auf „Volk" und „Recht" behauptetes absolutes Fließen, dessen Annahme der von Hegel angenommenen „absoluten Weltbewegung" „der Idee" entspricht, gilt das oben dazu Ausgeführte: nämlich insbesondere, daß unter der Voraussetzung eines absoluten „Prozesses" inhaltlich Bestimmtes, das notwendig inhaltlich beschränkt und damit bedingt ist, nicht existiert, daß es damit weder Begriffe, noch Gegenstände, noch Wirkungen, noch Ursachen gibt, folglich keine Rechtswirkungen und Tatbestände, keine Gesetze der Logik, kein Denken und kein wissenschaftliches Erkennen geben kann. Damit gibt es auch zwischen Recht und Unrecht nur fließende Grenzen. Die Annahme einer permanenten „Entwicklung und Bewegung" des Rechts bedeutet nämlich, daß das, was gestern Recht war, heute Unrecht, was gestern Unrecht war, heute Recht ist, zumindest sein kann. Recht und Unrecht sind begrifflich nicht mehr bestimmbar, als solche nicht mehr erkennbar: beide werden folglich verneint. Unrecht ist dann lediglich die Abweichung vom „Gesamtwillen", oder „Volksgeist", dessen Inhalt der absolute Staat diktiert. Das bedeutet es auch, wenn Savigny behauptet, „was ursprünglich Gewalt und Macht war", könne „allmählich durch die dem Rechtszustand inwohnende Anziehungskraft dergestalt umgebildet" werden, „daß es i n denselben als neuer rechtmäßiger Bestandteil" übergehe. Das entlarvende „es" i n diesem Satz bedeutet, daß „Gewalt und Macht" „neuer rechtmäßiger Bestandteil" werden, ihre „Umbildung" daher allein darin besteht, daß sie nach Savigny mit Recht ineinsgesetzt werden. ee) Der „Beweis" für die „unsichtbare Entstehung des positiven Rechts", der i n der „allgemeinen gleichförmigen Anerkennung des positiven Rechts", „ i n dem Gefühl innerer Notwendigkeit, wovon die Vorstellung desselben begleitet" sei, bestehen soll, hat mit einem wissenschaftlichen Beweis nichts zu tun.

Α.

. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

189

aaa) Ein Beweis ist die Darlegung des Erkennens, in dem die Wahrheit eines Urteils begründet ist 8 2 . Eine „gleichförmige Anerkennung", ein „Gefühl innerer Notwendigkeit" werden von Savigny identisch gesetzt mit dem vermeintlich existierenden Gegenstand „Volksrecht", auf das sich die „Anerkennung" und das „Gefühl" angeblich beziehen: das „positive Recht" und ein „Gefühl" i n Bezug auf das positive Recht werden ineinsgesetzt. Urteilsinhalt und Urteilsgegenstand, Erkennen, Beweisen, Fühlen und Anerkennen werden nach diesen Ausführungen fehlerhaft miteinander identifiziert und damit sämtlich verneint. bbb) Hinzu kommt, daß der „Beweis" für Savignys „positives Recht" als „Volksrecht" die „uralte Behauptung eines göttlichen Ursprungs des Rechts oder der Gesetze", i n der sich das „Gefühl" ausspreche, sein soll. Wenn sich das „Gefühl" des „positiven Rechts" i n der „Behauptung" eines „göttlichen Ursprungs" des „Rechts oder der Gesetze" ausspricht, das Gefühl des „positiven Rechts" mit dem eines Rechts „göttlichen Ursprungs" identisch sein soll, werden „göttliches Recht" und „positives Recht", also „Volksrecht", identisch gesetzt. Dann ist die Behauptung der Existenz eines „Volksrechts" ein religiöser Glaube, werden göttliche Gebote und rechtliche Gesetze miteinander identifiziert. Oder das „positive Recht" oder „Volksrecht" ist unterschieden von einem „göttlichen Recht" — dann w i r d i n Bezug auf das „Gefühl", das sich i n der „Behauptung eines göttlichen Ursprungs des Rechts oder der Gesetze" „ausspricht", ein in diesem nicht enthaltener Inhalt behauptet. Bei jeder dieser Möglichkeiten sind die angeblichen „Beweise" für die Existenz eines „Volksrechts" falsch. ff) Wenn Savigny schließlich als „Summe" seiner „Ansicht" darstellt, „daß alles Recht" als „Gewohnheitsrecht" entstehe, „daß es erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz erzeugt" werde, „überall also durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die W i l l k ü r eines Gesetzgebers", so faßt er damit noch einmal seine verfehlte „Rechtsauffassung" zusammen. aaa) Recht entsteht nicht als „Gewohnheitsrecht". Gewohnheitsmäßige Verhalten sind gleiche Verhalten bei gleichen Anlässen. Gewohnheitsmäßige Verhalten können keine Rechtswirkungen begründen. Dies folgt schon daraus, daß gewohnheitsmäßige Verhalten eines Menschen rechtmäßig oder unrechtmäßig sein können, ζ. B. kann die Gewohnheit darin bestehen, Verbrechen auszuüben 83 . Daß das von Savigny als existierend behauptete „Recht" als „Gewohnheitsrecht" bezeichnet wird, kann daher nur das Umgekehrte meinen, daß sich „das Volk an das von den Herrschern willkürlich gesetzte Recht, also an einen Unrechtsstaat, „ge82 83

Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 14 (27). Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β V c (69).

190

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

wohnt", sich der „fortschreitenden Entwicklung" des Rechts angepaßt und unterworfen hat. Wenn das Recht als „durch Sitte und Volksglaube" „erzeugt" aufgefaßt wird, werden Recht und Sittlichkeit, Recht und Glauben ineinsgesetzt. Eine „Rechtsauffassung", i n der das Recht als Instrument einer auf die „Vernichtung" der „Freiheit" der Individuen abzielenden absoluten Staatsmacht aufgefaßt wird, behauptet diese Persönlichkeitsverneinung damit nicht nur als rechtmäßig, sondern auch als sittlich gut. Ebenso wie die Sittlichkeit hat auch der Glaube eine überweltliche, persönlichkeitliche Bedeutung — daß beide als Beleg für die „Rechtsauffassung" Savignys benannt werden, bedeutet, daß die Sittlichkeit i m Namen der Sittlichkeit, der Glaube i m Namen des Glaubens verneint wird. bbb) Daß die „Jurisprudenz" das Recht nicht erkennt, sondern „erzeugt", ist nach dem Ausgeführten konsequent. Der Begriff Recht w i r d nach Savigny durch die Rechtswissenschaft nicht nach empirischen, dem Gegenstand Recht zukommenden Merkmalen erkannt, sondern es w i r d — offenbar den Bedürfnissen des jeweiligen Machthabers entsprechend — jederzeit frei gesetzt. Dasselbe bedeutet es, wenn Savigny „den Zusammenhang des Rechts m i t dem allgemeinen Volksleben" „das politische Element, das abgesonderte wissenschaftliche Leben des Rechts" „das technische Element desselben" nennt. Recht ist danach m i t Politik identisch, die Rechtswissenschaft als „technisches Element" w i r d als Mittel dafür behauptet, also als der Politik untergeordnet angesehen. Was nach dem Staat Recht zu sein hat, ist nach Savignys Ausführungen Recht. A n die Stelle rechtlichen Erkennens t r i t t die i n Bezug auf den Gegenstand „freie", i n Bezug auf die Herrschaft „inneren Notwendigkeiten" folgende „Rechtsschöpfung". gg) Das „positive Recht" ist nichts als durch Richter mangels begrifflicher Merkmale frei zu handhabender staatlicher Zwang. Recht, staatliche Macht und Richteramt sind identisch. Für eine derartige Auffassung stellt jede „Gesetzgebung", auch und gerade eine solche, deren Gesetze der Freiheit und Gleichheit des einzelnen entsprechen und diese erst ermöglichen, „ W i l l k ü r " dar, während die „inneren, stillwirkenden" mystischen „ K r ä f t e " 8 4 der hierarchischen „Idee" das Gegenteil davon, „innere Notwendigkeit" sind.

84 Die Wendungen „organische Entwicklung" u n d „ s t i l l w i r k e n d e K r ä f t e " gehen auf Herder zurück; vgl. z.B. Herder, Gottgespräche, SWS 16 (569): „ A l l e Kräfte w i r k e n organisch." „Jede Organisation ist nichts als ein System lebendiger Kräfte." Z u m Einfluß Herders auf Savigny vgl. Wieacker, P r i v a t rechtsgeschichte, § 20 (356 f.) m. N.

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

191

2. Savignys „Wissenschaftsauffassung": „Rechtswissenschaft" als Rechtsgeschichte a) „Die Geschichte" begreift Savigny als „einzigen Weg zur wahren Erkenntnis unseres eigenen Zustandes" 85 . Aus einer „gründlichen Rechtsgeschichte" folgen „die völlige Gewöhnung, jeden Begriff und jeden Satz sogleich von seinem geschichtlichen Standpunkte aus anzusehen" 8 6 . „Ein zweifacher Sinn" sei „dem Juristen unentbehrlich: der historische, u m das eigentümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen, und der systematische, u m jeden Begriff und jeden Satz i n lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen anzusehen, d. h. i n dem Verhältnis, welches das allein wahre und natürliche" sei 87 . „Wenn sich" „die Wissenschaft des Rechts von diesem ihrem Objekte" (gemeint ist „das Leben der Menschen selbst", D. T.) ablöse, „so" werde „die wissenschaftliche Tätigkeit ihren einseitigen Weg fortgehen können," „ohne von einer entsprechenden Anschauung der Rechtsverhältnisse selbst begleitet zu sein; die Wissenschaft" werde „alsdann einen hohen Grad formeller Ausbildung erlangen können, und doch alle eigentliche Realität entbehren" 8 8 . Die „leitenden Grundsätze" „heraus zu fühlen, und von ihnen ausgehend den inneren Zusammenhang und die A r t der Verwandtschaft aller juristischen Begriffe und Sätze zu erkennen", gehöre „zu den schwersten Aufgaben unserer Wissenschaft, ja es" sei „eigentlich dasjenige, was unsrer Arbeit den wissenschaftlichen Charakter" gebe 89 . b) Die „würdigste Auffassung der Rechtswissenschaft", „nach welcher die ganze Rechtswissenschaft selbst nichts anderes" sei „als Rechtsgeschichte", ist unrichtig aus folgenden Gründen: aa) Recht sind die rechtlichen Verhältnisse 90 . Gegenstände der Rechtsgeschichte sind die geschichtlichen, also entstandenen rechtlichen Verhältnisse, insbesondere diejenigen, die i n der Vergangenheit existiert haben. Um ein geschichtliches Verhältnis als rechtliches zu erkennen, ist die Kenntnis des Begriffs rechtliches Verhältnis notwendig vorausgesetzt. Von der Geschichtlichkeit eines Verhältnisses zwischen Menschen auf seine Eigenschaft als rechtliches Verhältnis zu schließen, ist unmöglich: jedes Verhältnis zwischen Menschen würde damit von vornherein als rechtliches behauptet. 85 Savigny, Über den Zweck dieser Zeitschrift, in: Hattenhauer, Thibaut u n d Savigny (262 f.). 8 « Savigny, Beruf (120). 87 Savigny, Beruf (48). 88 Savigny, Beruf (30). 89 Savigny, Beruf (22). 90 Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I (1).

192

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

Wenn die „Historische Rechtsauffassung" das Recht historisch bestimmen w i l l , läuft dies i n der Konsequenz darauf hinaus, daß ein Verhältnis schon deswegen für rechtmäßig gehalten wird, weil es geschichtlich, also entstanden ist. Thibaut hat i n einem 1838 veröffentlichten Aufsatz „Über die sogenannte historische und nicht-historische Rechtsschule" gegen ein „mystisches, abgespanntes, kopfhängerisches Wesen, wodurch man sogar nicht selten und dahin geführt" sei, „zu behaupten: Das historisch Entstandene" sei „eben deswegen wahr, also dem Tadel nicht ausgesetzt" (Hervorhebungen v. Thibaut) eingewandt: „Damit wäre am Ende jede Sünde gerechtfertigt" 91 . Dies t r i f f t den Sachverhalt. Denn da ein durch menschliches Handeln herzustellendes Verhältnis nur bei einer dazu notwendigen Handlungsmacht existiert, und da konstante Verhältnisse insbesondere bei entsprechender Herrschaft bestehen, führt jede historische Rechtsauffassung notwendig dazu, ein existierendes Macht- oder Herrschaftsverhältnis einem rechtlichen Verhältnis gleichzusetzen. Damit werden Macht bzw. Herrschaft und Recht untrennbar miteinander vermengt, werden infolgedessen Recht und Unrecht miteinander identifiziert 9 2 . Daß dies der Auffassung der „historischen Rechtsschule" über das „positive Recht" entspricht, bedarf nach dem Ausgeführten keiner weiteren Darlegung. bb) Der „historische Sinn" „des Juristen", mit dem das „eigentümliche jedes Zeitalters und jeder Rechtsform scharf aufzufassen" sei, besteht nach dem Ausgeführten darin, für jedes „Zeitalter" das der i n ihr existierenden Herrschaft gemäße „Recht" „scharf aufzufassen" und als solches zu behaupten. Daß Savigny das Wort „Rechtsform" verwendet, bedeutet, daß er „Form" und „Inhalt" eines „Rechts" unterscheidet. Die vom Inhalt getrennte ideale „Form" ist notwendig inhaltlos: es ist eine „Form" i m Sinne der aristotelischen Philosophie, die i n der Bedeutung einer i n den Dingen existierenden absoluten Idee verwandt wurde und von Savigny verwandt wird. Gerade wegen ihrer Inhaltlosigkeit kann sie dazu verwandt werden, sie mit jedem der „Eigentümlichkeit" des jeweiligen „Zeitalters" entsprechenden Inhalt zu füllen. cc) Was Savigny als „systematischer Sinn" des Juristen behauptet, ist das Gegenteil eines systematischen Denkens. „Jeden Begriff und jeden Satz i n lebendiger Verbindung und Wechselwirkung mit dem Ganzen" zu denken, ist unmöglich: der ernsthafte Versuch dessen würde zu einer völligen Verwirrung des Denkens, des Verstandes und der Vernunft führen. Die gegenteilige Auffassung Savignys bedeutet die Übernahme 91

Thibaut, AcP X X I (408). Vgl. zum Verhältnis zwischen Recht u n d Geschichte insgesamt Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β V c (67 ff.). 92

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

193

der Hegeischen Dialektik und damit des Irrationalismus 9 3 i n die „Historische Rechtsschule". dd) Daß Savigny systematisches Denken, mit dem die Auffassung eines absoluten „Wachsens" des „Rechts" nicht vereinbar ist, i n Wahrheit ablehnt, zeigt sich auch i n seiner Verneinung des Definierens von Begriffen: „Omnis definitio i n jure civili periculosa est" sagt er i m „Ber u f " 9 4 . Ein Begriff w i r d definiert durch Angeben der Merkmale, aus denen er besteht, i n einem Urteil. Dies geschieht bei einem Allgemeinbegriff (außer dem Begriff Seiendes) durch Angeben des darin als Gattungsmerkmal enthaltenen nächst allgemeineren Begriffs (Gattungsbegriffs) und des oder der darin enthaltenen Artmerkmale, bei einem Individualbegriff durch Angeben des darin als Artmerkmal enthaltenen Allgemeinbegriffs und des oder der darin enthaltenen Individualmerkmale 9 5 . Nur mit der in der Definitionsmethode vorausgesetzten Erkenntnis der Begriffspyramide ist systematisches Denken als ein Denken, das der logischen Ordnung der wissenschaftlich erkannten Begriffe, Gesetze und Regeln entspricht, möglich. M i t der Ablehnung des Definierens lehnt Savigny ein methodisches Grunderfordernis wissenschaftlichen Erkennens ab — und damit dieses selbst. ee) A n die Stelle des wissenschaftlichen Denkens t r i t t bei Savigny eine „Anschauung der Rechtsverhältnisse", eine „lebendige Anschauung der Rechtsinstitute", eine „Totalanschauung", aus der heraus „man sich der Regel i n ihrer logischen Form" als „künstlicher Prozeß bewußt" werde, ein „Fühlen" der „leitenden Grundsätze". Daß Begriffe nicht „Anschauung", folglich auch keine „Totalanschauung", und auch 93 Zur „ D i a l e k t i k " Hegels vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (insbes. 177 ff.). E i n aktuelles Beispiel, zu welcher V e r w i r r u n g der Versuch, die Hegeische D i a l e k t i k zu denken, führt, findet sich i n einem Buch m i t dem Titel: A k t u a l i t ä t (!) u n d Folgen der Philosophie Hegels, Hrsg. v. Oskar Negt (107 f.): Lese „ m a n den angegebenen Unterschied zwischen einer formalen u n d dialektischen Logik nicht i m Sinne der Formallogik, dann" ergebe „sich sofort das Theorem von der Fruchtbarkeit der Widersprüche: insofern der formallogische Widerspruchssatz sowohl" gelte „als auch nicht" gelte, lasse „sich sagen, Widersprüche seien nicht zu vermeiden, obwohl sie vermieden werden sollten. Die Entfaltung des Begriffs, die gleichbedeutend m i t der Entfaltung der Sache" sei, tendiere „ i n Wahrheit zu eben jener Einsicht i n das Verhältnis von dialektischem und formallogischem Widerspruch. Genauer: die Unvermeidbarkeit von Widersprüchlichem" bedeute „die logische Notwendigkeit (sie) des: ,Es gibt Widersprüche'". . . . Habe „ m a n sich diese Situation verdeutlicht, dann" frage „man zurück, was die Notwendigkeit v o n Widersprüchen" bedeute. Werden „Widersprüche anerkannt oder abgelehnt? Welche Instanz" solle „sie anerkennen oder ablehnen? Etwa das Denken?" Sei „die dialektische Logik i n dem Sinne Voraussetzung der formalen Logik, daß diese" gelte: „also wie gesagt werden" könne, „es gebe Widersprüche? Oder" ,gebe' „es doch Widersprüche, obwohl sie vermieden werden sollten?" — Dem ist nichts hinzuzufügen. 94 95

Savigny, Beruf (73). Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (31).

13 Tripp

194

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

kein „Fühlen" sind, wurde dargelegt. Hinzu kommt, daß rechtliche Verhältnisse als personhafte Ordnungsverhältnisse zwischen Menschen körperlichgeistige Seiende sind, also nicht „angeschaut" oder „gefühlt" werden können. Wie das Wort „Leben" i n der Lehre Savignys entsprechend der idealistischen Philosophie entnommen ist, wo es dasselbe wie „Idee" bedeutet, entstammt das Wort „Anschauung" der Lehre Kants, wo es in der Bedeutung eines mystischen „Schauens" an der Stelle von Erkennen gebraucht w i r d 9 6 . Wenn Savigny sowohl die rechtlichen Verhältnisse als auch die Begriffe, die als solche unsichtbar sind, zu „schauen" meint, kann es sich dabei nur u m Visionen handeln. Wenn Savigny folglich die Auffassung vertritt, ohne die „Anschauung der Rechtsverhältnisse", die er zugleich mit „Leben der Menschen" identifiziert, werde die Wissenschaft alle „eigentliche Realität entbehren", bezeichnet er eine Lehre als „realistisch", i n der das Gegenteil, der absolute Idealismus und I r rationalismus vertreten w i r d und die statt auf Erkennen auf Intuition beruht. ff) Der „Historischen Rechtsauffassung" Savignys, i n der das Recht absolutes Werden einer absoluten „Idee" und Rechtserkenntnis mystische „Anschauung" ist, entspricht die Ablehnung rechtlicher Gesetze und daher auch staatlicher Gesetzgebung. Ein Gesetz ist ein erkenntnismethodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Notwendigkeitszusammenhänge. Ein Rechtsgesetz ist ein Kausalgesetz mit dem Inhalt, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten A r t vorliegt, eine Rechtswirkung einer bestimmten A r t eintritt. Ein Staat ist eine Körperschaft mit dem Inhalt, Erfolge herbeizuführen, deren Herbeiführung als Bedingung des Erhaltene, Entfaltens und Fortpflanzens aller Einwohner eines Gebiets als Personen notwendig ist und die nur gemeinschaftlich herbeigeführt werden können. Dem Staat ist die Berechtigung übertragen, durch inhaltlich allgemeine rechtsgeschäftliche Erklärungen entsprechende allgemeine Rechts Wirkungen des Inhalts zu bewirken, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten A r t vorliegt, eine Rechtswirkung einer bestimmten A r t eintritt (staatliche Gesetzgebung). Ein staatliches Rechtsgesetz ist wie jedes Rechtsgesetz ein erkenntnismethodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Notwendigkeitszusammenhänge, die zwischen jedem einzelnen, einem allgemeinen Entstehungstatbestand entsprechenden Tatbestand und je einer Rechtswirkung bestehen. Der staatliche Gesetzgeber setzt nicht das Gesetz, sondern er stellt die Zusammenhänge her, i n Bezug auf die es wahr gedacht werden kann. Ein staatliches Rechtsgesetz ist also ein Rechtsgesetz, das durch staatliche Gesetzgebung hergestellte Kausalzusammenhänge zwischen Tatbestän-

96 Z u „Anschauung" bei K a n t vgl. näher Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (201 ff.) m. w . N.

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

195

den einer bestimmten A r t und Rechtswirkungen einer bestimmten A r t zum Gegenstand hat 9 7 . Gesetze, folglich auch Rechtsgesetze und staatliche Gesetze kann es i n einer Lehre, i n der das Recht als absoluter fortschreitender Prozeß und Rechtserkenntnis als visionäres Schauen aufgefaßt werden, nicht geben. Wenn Savigny i m Kodifikationsstreit von 1813 gegen die von Thibaut vertretene „Notwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland" u. a. eingewandt hat, „an der Möglichkeit" der Schaffung eines Gesetzbuchs müsse man „für die gegenwärtige Zeit (Hervorhebung von mir, D. T.) überhaupt verzweifeln, denn eben jenen einzelnen, den wahren Gesetzgeber zu finden," sei „ganz unmöglich, weil wegen der völligen Ungleichartigkeit der individuellen Bildung und Kenntnis unserer Juristen kein einzelner als Repräsentant der Gattung betrachtet werden" könne, so handelt es sich dabei u m einen Einwand, der den tatsächlichen Grundlagen Savignys „Historischer Rechtsauffassung", aus der die Ablehnung staatlicher Gesetzgebung erfolgt, nicht entspricht, weil i n diesen Ausführungen die grundsätzliche Möglichkeit einer Gesetzgebung zugestanden wird. gg) Noch deutlicher kommt Savignys Grundauffassung zum Ausdruck, wenn er folgendes ausführt: aaa) Das „Gesetzbuch" werde „unfehlbar durch seine Neuheit, seine Verwandtschaft mit herrschenden Begriffen der Zeit, und sein äußeres Gewicht alle Aufmerksamkeit auf sich und von der wahren Rechtsquelle ablenken, so daß diese i n dunklem, unbemerktem Dasein gerade der geistigen Kräfte der Nation entbehren" werde, „wodurch sie allein i n einen löblichen Zustand kommen" könnte 9 8 . „Das Gesetzbuch" solle, „da es einzige Rechtsquelle zu sein bestimmt" sei, „auch i n der Tat für jeden vorkommenden Fall i m voraus die Entscheidung enthalten. Dieses" habe „man häufig so gedacht, als ob es möglich und gut wäre, die einzelnen Fälle als solche durch Erfahrung vollständig kennen zu lernen, und dann jeden durch eine entsprechende Stelle des Gesetzbuchs zu entscheiden. Allein, wer mit Aufmerksamkeit Rechtsfälle beobachtet" habe, werde „leicht einsehen, daß dieses Unternehmen deshalb fruchtlos bleiben" müsse, „weil es für die Erzeugung der Verschiedenheiten wirklicher Fälle schlechthin keine Grenze" gebe 99 . Betrachten „ w i r " „die drei genannten Gesetzbücher i m Zusammenhang, (gemeint sind der Code Civil von 1804, das Österreichische Gesetzbuch von 1811 und das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794, D. T.) und i n be97 Z u Staat, staatliche Gesetzgebung u n d staatliches Rechtsgesetz Wolf, BGB A l l g . T., § 1 A V I b 16 (29 f). 98 Savigny, Beruf (23). 99 Savigny, Beruf (21 f.).

13*

vgl.

196

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

sonderer Beziehung auf das Studium des Rechts, so" sei „einleuchtend, daß ein eigentümliches wissenschaftliches Leben aus ihnen nicht entspringen" könne, „und daß sich auch neben ihnen wissenschaftlicher Geist nur i n dem Maße lebendig erhalten" werde, „als die geschichtlichen Quellen dieser Gesetzbücher selbst fortwährend Gegenstand aller juristischen Studien" bleiben. „Derselbe Fall aber" müßte „unfehlbar eintreten, wenn w i r ein Gesetzbuch für Deutschland aufstellen" wollten100. bbb) Daß als Hinderungsgrund für die Schaffung eines Gesetzbuches „seine Verwandtschaft mit herrschenden Begriffen der Zeit" und die „Ablenkung" „aller Aufmerksamkeit auf sich und von der wahren Rechtsquelle", also der idealistisch geglaubten Idee, angegeben wird, bedeutet, naß nach Savigny jede rechtsstaatliche Gesetzgebung daran scheitert, daß sie erstens Begriffe verwendet — denn alle Begriffe sind nach Savigny von ihrem „geschichtlichen Standpunkte aus anzusehen" — und zweitens, daß durch die Herstellung allgemeiner Entstehungstatbestände die ihrem Inhalt entsprechend bei Vorliegen eines individuellen Entstehungstatbestandes eintretenden Rechtswirkungen ein Hindernis für ein „Recht" sind, das als Teil „eines stets werdenden, sich entwickelnden Ganzen" aufgefaßt wird. Hinzu kommt, daß ein Gesetzbuch nicht als „einzige Rechtsquelle" „bestimmt" sein kann. Dies folgt daraus, daß es natürliche rechtliche Verhältnisse gibt. Die natürlichen rechtlichen Verhältnisse 1 0 1 , insbesondere die Menschenrechte, sind die Grundlage aller anderen rechtlichen Verhältnisse, daher auch der durch staatliche Gesetzgebung hergestellten rechtlichen Verhältnisse. Hergestellte rechtliche Verhältnisse kann es überhaupt nur geben, weil i n der natürlichen Beschaffenheit eines jeden Menschen als Person begründete natürliche rechtliche Verhältnisse existieren. Denn nur dadurch gibt es objektive, menschlicher und daher auch staatlicher W i l l k ü r entzogene Merkmale, die Inhalt des Begriffs Recht sind und denen daher auch die hergestellten rechtlichen Verhältnisse entsprechen müssen. Niemals ist ein rechtliches Verhältnis aus Nichts herstellbar, sondern es kann nur aufgrund eines bestehenden rechtlichen Verhältnisses mit einem dem Begriff Recht entsprechenden Inhalt entstehen. Für die Auffassung, daß es ex nihilo entstehende, insbesondere durch den Staat herstellbare rechtliche Verhältnisse gebe, ist der sog. „Gesetzespositivismus" berühmt geworden. Von daher ist es interessant, daß Savigny nicht eine falsche Hechisauffassung kritisiert, von der er meint, sie fordere ein „Gesetzbuch", das als „einzige Rechtsquelle zu sein" „be100 101

Savigny, Beruf (146 f.). Hierzu u n d zum folgenden vgl. Wolf, B G B A l l g . T. § 1 A I I I (9 ff.).

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

197

stimmt" sei — dies konnte er nicht, weil er selbst Begriffe und insbesondere die Erkenntnis des Begriffs Recht verneint — sondern daß er dieses von ihm als solches behauptete Vorhaben Thibauts wegen der „Verschiedenheit wirklicher Fälle" für nicht realisierbar hält. Diese K r i t i k Savignys ist abwegig. Zwar ist es i n der Tat unmöglich, „jeden einzelnen Fall" „als solchen" „durch Erfahrung vollständig kennen zu lernen" — und zwar schon deshalb, weil man „jeden einzelnen Fall" kennen müßte, bevor er überhaupt eintritt, wenn seine Kenntnis Voraussetzung der Schaffung eines Gesetzbuchs wäre. Aber gerade dieses ist zur Erstellung einer Kodifikation nicht notwendig. Notwendig ist die Kenntnis des Begriffs Recht und sind die Kenntnisse der Arten rechtlicher Verhältnisse und ihrer Begriffe. So ist die Kenntnis des Begriffs Recht die Voraussetzung, u m ein gegebenes Verhältnis zwischen Menschen als rechtliches oder nichtrechtliches, d. h. dem Begriff Recht entsprechendes oder ihm nicht entsprechendes Verhältnis zu erkennen. Daß Savigny die Tatsache der „Verschiedenheiten wirklicher Fälle" als Argument gegen die Einführung eines Gesetzbuches i n Deutschland anführt, ist daher sachlich nicht zutreffend. Nicht haltbar ist es auch, wenn Savigny gegen den Code Civil, das Österreichische Gesetzbuch und das Preußische Landrecht einwendet, „aus ihnen" entspringe „kein eigentümliches wissenschaftliches Leben", die „geschichtlichen Quellen dieser Gesetzbücher" sollten „selbst fortwährend Gegenstand aller juristischen Studien bleiben". Denn daß aus ihnen kein „wissenschaftliches Leben" „entspringt", liegt nach Savigny nicht an ihrem Inhalt, sondern daran, daß sie überhaupt Kodifikationen sind. Daß an die Stelle der Erkenntnis der i n ihnen enthaltenen gesetzlichen Bestimmungen und an die Stelle der Überprüfung, ob die i n ihnen enthaltenen Regelungen dem Begriff Recht entsprechen, die „Lebendigerhaltung" des „Geistes" durch die Erforschung der „geschichtlichen Quellen" gesetzt wird, bedeutet, daß jede Gesetzgebung für unmöglich erklärt wird. 3. Thibauts Argumente

gegen Savigny

Zu der „Historischen Rechtsschule" Savignys mit ihrer antibegrifflichen, antilogischen und antigesetzlichen Grundauffassung hatte sich Thibaut allein schon durch seine Forderung nach einem „allgemeinen bürgerlichen Recht für Deutschland", die er i n einer kleinen Schrift 1814 begründete, i n Gegensatz begeben. M i t dieser den berühmten Kodifikationsstreit mit Savigny einleitenden Abhandlung hat er nach eigener zutreffender Ansicht „jene Einteilung der Schulen" i n die „sog. historische und nicht-historische Rechtsschule hauptsächlich veranlaßt"102.

198

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

Zu seiner Auffassung der Notwendigkeit eines Gesetzbuchs für Deutschland war Thibaut, der als das „Wichtigste die Gewißheit und Festigkeit des Rechtszustandes" bezeichnete 103 , durch eine Analyse des damaligen „Rechtszustandes" und des Zustande der Rechtswissenschaft gelangt. Seine Schilderung der Krise der Rechtswissenschaft zeigt, daß der Kampf u m das Bürgerliche Gesetzbuch, den er eingeleitet hat, gleichbedeutend war mit einem Kampf für die Anerkennung des Rechts und für eine Rechtswissenschaft überhaupt, und daß dies der Kampf war, den er gegen die „Historische Rechtsschule" zu führen hatte. a) Das „ganze einheimische Recht" schildert Thibaut als einen „endlosen Wust einander widerstreitender, vernichtender, buntscheckiger Bestimmungen", ein „chaotisches Allerlei", „ganz dazu geartet," . . . „den Richtern und Anwälten die gründliche Kenntnis des Rechts unmöglich zu machen." „Das Kanonische Recht, soweit es nicht auf die Katholische Kirchenverfassung, sondern auf andre bürgerliche Einrichtungen" gehe, sei „nicht des Nennens wert; ein Haufen dunkler, verstümmelter, unvollständiger Bestimmungen, zum Teil durch schlechte Ansichten der alten Ausleger des Römischen Rechts veranlaßt", „despotisch i n Ansehung des Einflusses der geistlichen Macht auf weltliche Angelegenheiten". I n Bezug auf die „letzte und hauptsächlichste Rechtsquelle", „das Römische Gesetzbuch", führt Thibaut aus, daß das, „was man den klassischen Juristen zugestehen" könne und müsse, „eine hohe Konsequenz" sei „und eine ungemeine Leichtigkeit i n der Anwendung allgemeiner positiver Rechtssätze auf die feinsten, verwickeltsten Einzelheiten. A l l e i n zu leugnen" sei „es auch nicht, daß sie später immer mehr i n eine schwankende Billigkeit gerieten". „Das Römische Recht" werde „nie zur vollen Klarheit und Gewißheit erhoben werden. Denn die Erklärungsquellen" fehlen „uns bei jeder Gelegenheit, und der ganze Wust jämmerlich zerstückelter Fragmente" führe „ i n ein solches Labyr i n t h gewagter, schwankender Voraussetzungen, daß der Ausleger selten einen ganz festen Boden gewinnen" könne 1 0 4 . „Daß nun aber Justinians Sammlungen als Gesetzbuch ein gänzlich mißratenes Werk" seien, bleibe „unwidersprechlich, obgleich man dem Verfasser gern zugeben" könne, „daß die Römischen Klassiker große Anlagen für tiefe und umfassende Ansichten hatten. Denn das Ganze" sei „nun einmal durch schlaffe Barbaren verkrüppelt und verbildet; voll der ärgsten Widersprüche; fast nirgends auf weise legislative Grundsätze gebaut; wegen der Vielfachheit bloßer Einzelheiten ohne deutliche Gründe unendlich lückenhaft; unserem Volkscharakter nicht zusagend; und dunkel und 102

Thibaut, AcP X X I (341). Thibaut, AcP X X I (401). 104 Thibaut, Notw. eines allgem. bürgerl. Rechts (14 ff.). 103

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

199

rätselhaft an allen Enden" 1 0 5 . „Überall i n den Hauptlehren unglückliche positive Grundlagen; überall verwirrte, rätselhafte Details; überall ein willkürliches, oft rasendes Hineinfahren gelegentlicher Eigenmacht, und eine Masse von Folgesätzen des Kampfes der Billigkeit, und des Edikts mit dem strengen Rechte, ohne daß Justinianus es verstanden" habe, „das Ganze zu einer gleichartigen Masse zu b i l d e n " 1 0 6 . Für die „Gebrechen des Justinianischen Rechts" führt Thibaut folgende Beispiele an: „erbärmliche elterliche und eheliche Verhältnisse; eine elende tutela légitima; ein verkrüppeltes, unbasiertes Eigentum; ein Hypothekensystem, welches alle Sicherheit" untergrabe; „ein Erbrecht mit Unnatürlichkeiten, Subtilitäten und Inkonsequenzen überladen; ein steifes Obligationenrecht, und die wichtige Lehre vom Besitz halb vollendet, oder ganz und gar verunstaltet. Und dann noch dazu zwei fremde tote Sprachen, und eine, durch Zerhauen entstandene abscheuliche Form, welche freilich den Zänkern und Träumern Tür und Tor" öffne, „aber für den armen Bürger die Rechtspflege zu einer A r t Lotteriespiel" mache, „und ihn vielfach ganz unter die W i l l k ü r habsüchtiger Anwälte und fauler halbgebildeter Gerichte" stelle, „denen es auch bei dem besten Willen ganz unmöglich" sei, „sich i m Drange der Geschäfte des gelehrten Wustes gehörig zu bemächtigen!" 1 0 7 „Wer jetzt" sage, „daß die gelehrten Juristen kein bellum omnium contra omnes" haben, „der" bestreite „das Licht der Sonne" 1 0 8 . b) Diese Ausführungen Thibauts belegen nicht nur, i n welchem Zustand sich Gesetzgebung und Rechtswissenschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden — eine Beschreibung und Beurteilung, die auch Savigny sachlich nicht bestreiten konnte. Sie zeigen auch, worin Thibaut i m Unterschied zu Savigny die dringende unaufschiebbare Aufgabe der Rechtswissenschaft sah: i n der Ausarbeitung „vollständiger Bestimmungen"; i n der Beseitigung des „despotischen Einflusses der geistlichen Macht"; i n der Erarbeitung positiver Rechtssätze anstelle „schwankender Billigkeit"; gegen die „Allmacht der Gewohnheit" für „Klarheit und Gewißheit" der Gesetze zu sorgen; in der Beseitigung der „Eigenmacht" der Richter durch ihre Bindung an die Gesetze; in der vordringlichen Konzentration der begrifflichen Erarbeitung der sachlichen Grundlagen der wichtigsten Arten rechtlicher Verhältnisse, insbes. des Familienrechts, des Eigentums- und Besitzrechts sowie des Schuldrechts. c) Daß die als „Historische Rechtsschule" bezeichnete Lehre als solche 1 0 9 zur Erfüllung dieser Grunderfordernisse jeder Rechtswissenschaft 105 106 107 108

Thibaut, Thibaut, Thibaut, Thibaut,

Besprechung der K r i t i k Savignys, in: Hattenhauer (204). Besprechung der K r i t i k Savignys, in: Hattenhauer (204). AcP X X I (395). AcP X X I (401).

200

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

nichts beizutragen hatte, ihr i m Gegenteil i m Wege stand, hat Thibaut trotz seiner eigenen das „positive Recht" betreffenden unzureichenden theoretischen Grundlagen klar gesehen. Die „juristischen Mystiker", denen er mit Bacon zuruft: „sunt abissus, sive profunda satanae" 1 1 0 , verweist er wie dieser auf die Erfahrung als Bedingung wissenschaftlichen Erkennens. Dies geschieht, wenn er gegenüber der „Historischen Rechtsschule" den positivistischen Vorwurf erhebt, sie mache „unsere jungen Männer immer mehr dem Gelull geträumter Ideen geneigt" und entferne sie „von dem kräftigen Beobachten der Welt und der W i r k lichkeit". „Nichts" tue „so sehr not, als daß die Gewalt des regen Verstandes wieder herrschend unter uns" werde, „und wenn dies sein" werde, „so" dürfe „man mit Sicherheit erwarten", . . . „daß sie . . . den Gewohnheiten keine Allmacht" zugestehen. „Der Verstand" werde „und" müsse „immer der letzte und einzige Probierstein bleiben, und alles Warnen gegen die Änderungen gerichtet" sein 1 1 1 . Die „Historische Rechtsauffassung" kritisiert Thibaut zutreffend i n ihren Auswirkungen, die zu einer stetigen Verschlimmerung des Zustands der Rechtswissenschaft geführt haben: „Eine Rechtsauffassung, welche sich von Jahr zu Jahr durch Einwirkungen aller möglichen Zufälligkeiten" ausbilde, sinke „allmählich i n Ansehung ihrer Gründe (Hervorhebung v. Thibaut) i n den dicksten Nebel." „Die historischen Erörterungen, welche das Feine und Einzelne, also recht das Praktische" betreffen, lösen sich „ i n schwankende Voraussetzungen und Vermutungen auf; wobei denn unser, leider nicht zu verkennender Hang für das Hineinlegen unsrer Eigentümlichkeit i n das Altertum, und für künstliche Zusammenhäufung vornehmer Träumereien, so recht nach Lust und Gefallen unter das gelbe Glas bringen" könne 1 1 2 . „Jene historischen, mehrenteils noch dazu ganz ungesunden Träumereien über rechtsgeschichtliche Einzelheiten" haben „denn auch noch tief i n die Behandlung des praktischen Rechts eingewirkt. Schiefköpfe" haben „viele Dinge jetzt ganz verdreht; zum Rechtsprechen angestellt, mit willkürlicher Verachtung der alten Praxis, worauf die Römer so viel Gewicht" legten, „ihr bißchen Neues i m Leben geltend zu machen gesucht, und Alles in diesem Augenblick so i n das Schwanken und den W i r r w a r r gebracht, daß man nur ganz bitter sein oder höchstens spöttisch mit dem Asmodi de Le Sage i n dessen diable boiteux sagen" kön109 Nicht i n Abrede gestellt werden sollen hier dogmatische Leistungen Savignys (z. B. seine Lehre v o m Besitz), m i t denen er sich allerdings i n Widerspruch setzt zu seinen m i t seiner „historischen Rechtsauffassung" vertretenen irrationalistischen Ansichten. 119 Thibaut, AcP X X I (409). 111 Thibaut, Heidelberg. Jahrb. d. L i t e r a t u r 1815, Nr. 42, zit. n. Hattenhauer, Thibaut u n d Savigny (271). 112 Thibaut, Besprechung der K r i t i k Savignys, in: Hattenhauer (208).

Α. II. Thibaut gegen die „Historische Rechtsschule"

201

ne: „Ce qu'il y a d'admirable dans la science des lois, c'est, qu'elle fournit des armes pour et contre" 1 1 3 . d) Trotz dieser schwerwiegenden K r i t i k der Auswirkungen der „ H i storischen Rechtsschule", die niemals widerlegt worden ist und offensichtlich nicht widerlegt werden konnte, gilt Thibaut allgemein als Verlierer des Kodifikationsstreits mit Savigny. Der wissenschaftliche Grund liegt darin, daß Thibaut nicht die dogmatischen Grundlagen der „Historischen Rechtsauffassung" in ihrer ganzen Tiefe kritisiert hatte und die unvermeidliche Notwendigkeit, daß diese ihre Grundlagen zur Auflösung des Rechts führen, nicht hatte beweisen können. Ein schlimmer Fehler war, daß er i n der Bezeichnung seiner Lehre durch Savigny als „ungeschichtliche Schule" eine Diffamierung sah, statt dies als Ehrentitel aufzufassen. Dies zeigt, unter welch mächtigem Einfluß der „historischen Gesinnung" die damalige Zeit stand. Zwar hatte Thibaut durchaus erkannt, daß „die Geschichte" nicht die Grundlage einer Wissenschaft sein kann. So sagt er sogar übertrieben einmal, daß „die Geschichte" „nicht i n eigentlichen Verstände und für sich genommen, zu den Wissenschaften" gehöre, „da i n ihr eine systematische Ordnung völlig undenkbar" sei 1 1 4 , „weil dort, wo die systematische Ordnung (d. h. die Zurückführung auf Arten und Gattungen) und die Zusammenfassung unter einem höchsten Begriff" fehle, „keine Wissenschaft" stattfinde. Wenn er aber i n der Beantwortung der K r i t i k Savignys auf seine Flugschrift von 1814 der „historischen Rechtsschule" i n Bezug auf ihre dogmatischen Aussagen lediglich entgegenhält, daß „viel" „durch unser höchst dürftiges historisches Material nicht gewonnen werden" könne, so verkennt er in diesem Urteil völlig die antidogmatische, damit antiwissenschaftliche und antirechtliche Grundhaltung der Schule. Daß er dies verkennt, liegt i n seiner Identifikation von „positivem Recht" und staatlich gesetztem Recht, die er von der Naturrechtslehre übernommen hat, begründet. Denn dann ist alles „positive Recht" staatlich hergestelltes Recht und kann insoweit eine „geschichtliche Erforschung" des „Rechts" nicht grundsätzlich als undogmatisch abgelehnt werden. Bezogen auf die wissenschaftliche Grundlegung des Rechts kann man mit Thibaut sagen: ohne diese ist „selbst der hellste Kopf dem I r r t u m und den Trugschlüssen geübter Dialektiker preisgegeben, und selbst dann, wenn er der wahren Meinung" beitrete, „unfähig, die gegenteilige falsche Meinung durch wahre Gründe zu widerlegen" 1 1 5 .

113 114 115

Thibaut, AcP X X I (412). Thibaut, Jurist. Encyclopädie u n d Methodologie (1). Thibaut, Jurist. Encyclopädie u n d Methodologie, § 144 (234 f.).

202

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus B. Von der Krise der idealistischen Rechtslehren zum Wendepunkt in der Rechtswissenschaft I. Das Scheitern der idealistischen Rechtslehre

1. Es muß te noch der Zeitraum einer Generation seit der Veröffentlichung von Thibauts Schrift von 1814 vergehen, bevor das Scheitern jeder idealistischen und historischen Rechtsauffassung i n der Jurisprudenz, bevor die „Krise der Rechtswissenschaft" 116 voll erkannt wurde. Hegel und Kant hatten ihre idealistischen „Systeme" vollendet, i n denen das apriorische Naturrecht durch die apriorische Vernunft Kants und die absolute Idee Hegels „ersetzt" wurde. Von der Naturrechtslehre hat ζ. B. Kant die Ineinssetzung von Gesetz und Gebot übernommen. Dies geschieht, wenn er behauptet, daß das „Gesetz" „ . . . ein Satz" sei, „der einen kategorischen Imperativ (Gebot)" enthalte. „Der Gebietende (imperans) durch ein Gesetz" sei „der Gesetzgeber". „Das Gesetz, was uns a priori und unbedingt durch unsere eigene Vernunft" verbinde, könne „auch als aus dem Willen eines höchsten Gesetzgebers, d. i. eines solchen, der lauter Rechte und keine Pflichten" habe, „hervorgehend ausgedrückt werden" 1 1 7 . Auf der Grundlage dieser Lehre Kants hatte Puchta, dessen oberstes „Axiom" seines „Systems" Kants „Freiheitsbegriff" 1 1 8 bildete, und damit ein Vertreter der „Historischen Rechtsauffassung" dem falschen Wortschein nach die „Demonstrationsmethode" der „Axiomatiker" übernommen. Es w i r d unzutreffend behauptet, daß seine „Konstruktionsjurisprudenz" dem „Rationalismus des 18. Jahrhunderts, insbesondere der Denkweise Christian Wolffs" entspreche 119 . Daß Puchtas „Konstruktionsjurisprudenz" heute noch als „Begriffsjurisprudenz" bezeichn e t 1 2 0 , seine „Genealogie der Begriffe" mit der Begriffspyramide als eines „nach den Regeln der formalen Logik gebildeten Systems" ineinsgesetzt w i r d 1 2 1 , ist zumindest erstaunlich. a) Daß es sich bei der Rechtslehre Puchtas keineswegs u m eine logische oder dogmatische 122 Richtung handelt, ergibt sich bereits aus seiner „Rechtsauffassung": „Die Existenz des Rechts, welches die menschlichen 118

Vgl. Kuntze, Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft (4). Kant, Metaphysik der Sitten (27 f.). 118 Z u diesem „Freiheitsbegriff" u n d zur gesamten Lehre Kants vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (196 ff.). 119 So Larenz, Methodenlehre (25) m. N.; vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 26 (373 f.). 120 Vgl. z.B. Larenz, Methodenlehre (21 f.); Wilhelm, Methodenlehre (82); vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte, § 23 1 1 (430 f.). 121 So Larenz, Methodenlehre (22). 122 So ζ. B. W i l h e l m , Methodenlehre (70 f.). 117

Β. Von der Krise der idealistischen Rechtslehren zum Wendepunkt 203 Verhältnisse" bestimme und ordne, beruht nach Puchta „auf dem Bewußtsein der Menschen von der rechtlichen Freiheit. Dieses Bewußtsein" habe „der Mensch von Gott, das Recht" sei „eine göttliche Ordnung, die dem Menschen gegeben, die von seinem Bewußtsein aufgenommen worden" sei. „ I n dem Bewußtsein des Menschen" kommen „die Rechtssätze zum Dasein". „Das Recht selbst" sei „für die Menschen, welche der Erkenntnis seines Ursprungs noch nicht entfremdet" seien, „ein Teil der Religion". „Das Recht" gelange „ i n das menschliche Bewußtsein teils auf dem übernatürlichen Wege der Offenbarung — unsere heiligen Bücher" schreiben „den ersten Rechtsausspruch Gott zu — teils auf dem natürlichen Weg eines dem menschlichen Geist eingeborenen Sinnes und Triebs" 1 2 3 . I n diesen Ausführungen werden Erkenntnis und Offenbarung, Bewußtsein und Sein (das Recht), Gebote und Gesetz, personhafte Ordnungsverhältnisse zwischen Menschen und göttliche Ordnung ineinsgesetzt, die Identität von Religion und Recht behauptet, Nichtabsolutes und Absolutes unentwirrbar miteinander vermengt. Jedes wissenschaftliche Erkennen, jedes logische Denken mit Begriffen, die nur Nichtabsolutes zum Gegenstand haben können, ist auf dieser Grundlage ausgeschlossen. b) Dementsprechend hat Puchtas „Genealogie der Begriffe" 1 2 4 mit „formal-logischem" systematischen Denken und der Begriffspyramide nichts zu tun. aa) Die „Genealogie der Begriffe" liegt nach Puchta „darin, daß man diese Leiter nicht als ein bloßes Schema von Definitionen betrachten" dürfe. „Jeder dieser Begriffe" sei „ein lebendiges Wesen, nicht ein totes Werkzeug, das bloß das Empfangene weiter" befördere. „Jeder" sei „eine Individualität seines Erzeugers, wie sich auch aus dem Erzeugten wieder das Anerzeugte mit einem neuen Element, welches man, um i m Gleichnis zu bleiben, das mütterliche nennen" könne, „zu einer eigenen Lebenskraft" verbinde 1 2 5 . Es sei „Aufgabe der Wissenschaft, die Rechtssätze i n ihrem systematischen Zusammenhang, als einander bedingende und voneinander abstammende, zu erkennen, u m die Genealogie der einzelnen bis zu ihrem Prinzip hinauf verfolgen, und eben so von den Prinzipien bis zu ihren äußersten Sprossen herabsteigen zu können. Bei diesem Geschäft" werden „Rechtssätze zum Bewußtsein gebracht und zutage gefördert werden, die dem Geist des nationellen Rechts verborgen, weder i n der unmittelbaren Überzeugung der Volksglieder und ihren Handlungen, noch i n den Aussprüchen des Gesetzgebers zur Er123

Puchta, Institutionen, § 10 (23 f.). Dieser Ausdruck geht w o h l auf Savigny zurück; vgl. ζ. B. Savigny, Juristische Methodenlehre (38). 125 Puchta, Institutionen, § 33 (101). 124

204

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

scheinung gekommen" seien, „die also erst als Produkt einer wissenschaftlichen Deduktion sichtbar" entstehen. „So" trete „die Wissenschaft als dritte Rechtsquelle zu den ersten beiden (nämlich der „Volksüberzeugung, wie sie sich i n dem Bewußtsein der Glieder des Volkes" abdrücke, sowie der „Gesetzgebung" als „Ausspruch des allgemeinen Willens", D. T.); das Recht, welches durch sie" entstehe, sei „Recht der Wissenschaft, oder, da es es durch die Tätigkeit der Juristen ans Licht gebracht" werde, „Juristenrecht" 1 2 6 . bb) Diesen Ausführungen Puchtas kann nicht gefolgt werden. aaa) Puchtas Satz, „jeder dieser Begriffe" sei „ein lebendiges Wesen, nicht ein totes Werkzeug, das bloß das Empfangene weiter" befördere, ist nicht haltbar, auch wenn angenommen wird, es handele sich dabei nur u m eine bildliche Redeweise. Diese Bildersprache ist sachlich und methodisch falsch. M i t „das Empfangene" kann nur der Gegenstand gemeint sein, auf den sich die Begriffe beziehen. M i t diesem Satz w i r d demnach verneint, daß der Inhalt der Begriffe ausschließlich durch den Gegenstand bestimmt ist, auf den sich ein gedachter Begriff bezieht. Es werden damit deren Objektivität und, da es nicht objektive (subjektive) Begriffe nicht gibt, diese selbst verneint. Dies ergibt sich auch aus der romantischen Bezeichnung der Begriffe als „lebendige Wesen". Damit soll offenkundig ausgedrückt werden, daß es das „Wesen" der Begriffe sei, dem gedachten Gegenstand etwas hinzuzufügen, was nicht ausschließlich durch seine vorhandenen Eigenschaften, Momente oder Geschehen bedingt ist. Da der Inhalt der Begriffe aus seinen Merkmalen besteht, kann dies nur bedeuten, daß es für das „Wesen" der Begriffe gehalten wird, i n ihnen Merkmale zu denken, die nicht einem gegebenen Gegenstand zukommen. Diese Merkmale können nur durch den einen solchen „Begriff" Denkenden erfunden sein. bbb) Daß die Begriffe nach Puchta nicht objektiv sind, ergibt sich auch aus dem folgenden Satz, i n dem behauptet wird, „jeder" Begriff sei „eine Individualität seines Erzeugers, wie sich auch aus dem Erzeugten wieder das Anerzeugte mit einem neuen Element" . . . „zu einer eignen Lebenskraft" verbinde. Zwar t r i f f t es zu, daß Begriffe nur i m Gehirnzentrum eines einzelnen Menschen existieren. Das ist aber mit dem Vorstehenden nicht gemeint. Denn daß ein Begriff i m Gehirn eines Menschen existiert, bedeutet nicht, daß er deshalb individuell, also nicht allgemein ist. Ob ein Begriff ein Individual- oder ein Allgemeinbegriff ist, hängt ausschließlich von der A r t des Gegenstandes ab, auf den er sich bezieht. Ein Begriff ist eine Einheit von Merkmalen, die sich auf einen oder mehrere Gegen126

Puchta, Institutionen, §§ 12 ff., insbes. § 15 (37).

Β. Von der Krise der idealistischen Rechtslehren zum Wendepunkt 205 stände bezieht. Ein Begriff, der sich auf eine unbestimmte Menge von Gegenständen bezieht, ist ein Allgemeinbegriff. Ein Begriff, der sich nur auf einen einzigen Gegenstand bezieht, ist ein Individualbegriff 1 2 7 . Wird behauptet, jeder Begriff sei „eine Individualität seines Erzeugers", w i r d die Existenz von Allgemeinbegriffen verneint. Gerade an der Existenz von Allgemeinbegriffen aber liegt es, daß es eine Begriffspyramide gibt. Denn aus dem inhaltlichen Zusammenhang der Begriffe ergibt sich eine Stufung der Allgemeinbegriffe nach dem Grad ihrer Allgemeinheit. Von gestuften Allgemeinbegriffen, die unmittelbar m i t einander zusammenhängen, w i r d der allgemeine Begriff als Gattungsbegriff, der weniger allgemeine als Artbegriff bezeichnet. W i r d die A l l gemeinheit der Begriffe verneint, kann es ein logisch begründetes Gesamtsystem aller Begriffe, das als Pyramide graphisch darstellbar ist, an deren Spitze als allgemeinster Begriff der Begriff Seiendes steht, nicht geben 1 2 8 . ccc) Die Behauptung, jeder „Begriff" sei „eine Individualität seines Erzeugers", bedeutet, daß er i n seinem Inhalt als von einem Menschen „erzeugt", d. h. als subjektiv angesehen wird. Dies t r i f f t nicht zu. Wenn ein Mensch einen Begriff denkt, denkt er Merkmale, die einem Gegenstand zukommen, also von diesem und gerade nicht von dem denkenden Menschen abhängen. Die gegenteilige Auffassung zu vertreten heißt, daß als Erkennen ein von aller Gegenständlichkeit „befreites", daher notwendig willkürliches „Denken", ein freies Phantasieren gesetzt wird. ddd) Der grundlegende Widerspruch i n der Lehre von der „Genealogie der Begriffe" besteht darin, daß durch die Erkenntnis der gegebenen Rechtssätze neue, nicht existierende Rechtssätze allein durch das Denken „hervorgebracht" werden sollen. Denken und Gegenstand des Denkens, Jurisprudenz und Recht werden in dieser Behauptung fehlerhaft ineinsgesetzt, wie dies überhaupt ein wesentliches Merkmal der idealistischen Philosophie ist, und zusätzlich w i r d die logische Unmöglichkeit vertreten, daß sich aus der Analyse des notwendig bestimmten, feststehenden Inhalts bestehender Rechtssätze „Rechtssätze" mit ganz anderem Inhalt ergeben sollen. Die behaupteten „Prinzipien" können nur durch eine Absehung von jedem bestimmten Inhalt Zustandekommen, sie können infolgedessen nur „Leerwörter" sein, aus denen sich alles „deduzieren", also w i l l k ü r l i c h behaupten läßt. Dem entspricht es, daß „das Recht" nach Puchta „den bloßen Willen selbst, als Potenz, als 127 Vgl. zu Allgemein- u n d Individualbegriff Wolf, Gibt es eine M a r x i s t i sche Wissenschaft (26,28). 128 Z u Begriffspyramide vgl. näher Wolf, Gibt es eine Marxistische Wissenschaft (30 ff.).

206

6. Kap.: Die Vorbereitung des

echtspositivismus

Macht" fasse 129 , denn, wie bereits anhand der Lehren der „Axiomatiker" und der „Historischen Rechtsauffassung" dargelegt, bedeutet eine willkürliche Rechtsauffassung notwendig die Anerkennung der Absolutheit eines staatlichen Machthabers. eee) Die W i l l k ü r der „Deduktion" i m „System" Puchtas ergibt sich auch daraus, daß die „Freiheit" des Menschen „das Fundament des Rechts", „alle Rechtsverhältnisse" ein „Ausfiuß derselben" seien. Aus einer derart absolut gesetzten Freiheit kann sich keine Erkenntnis rechtlicher Verhältnisse ergeben, weil ein Mensch die Freiheit hat, sich für ein unrechtmäßiges Verhalten zu entscheiden. Dies gesteht auch Puchta zu, wenn er sagt: „der konkrete Begriff der menschlichen Freiheit" sei „daher: sie" sei „die Wahl (Hervorhebung von mir, D. T.) zwischen Gutem und Bösem" 1 3 0 . Wenn aber danach sowohl das Recht als auch das Unrecht, das zudem mit den moralischen Begriffen „Gut" und „Böse" fehlerhaft ineinsgesetzt wird, aus der „Freiheit" „ableitbar" sind, ist i n Wahrheit nichts aus ihr ableitbar, ist sie ein Leerwort, mit dem als „Recht" willkürlich behauptet werden kann, was der Behauptende als „gut" ansieht. Damit w i r d aus der angeblichen Anerkennung der „Freiheit" das Gegenteil, nämlich ihre Verneinung „hervorgebracht". fff) Puchtas Lehre von der „Genealogie der Begriffe" hat mit „formaler Logik", die eine Erkenntnis gegebener rechtlicher Verhältnisse aufgrund von Begriffen ist, nichts zu tun. Daß er sich dagegen verwahrt, „diese Leiter" „als ein bloßes Schema von Definitionen" zu betrachten, ist nach dem Ausgeführten konsequent. Denn Definieren ist Angeben der Merkmale, aus denen ein Begriff entsteht, i n einem U r t e i l 1 3 1 . Da ein Begriff aus den i n i h m enthaltenen Merkmalen besteht, bedeutet das Definieren eines Begriffs, daß er vollständig erkannt ist. Mehr kann zur Erkenntnis eines Begriffs nicht geleistet werden. Daß es nach Puchta ein „bloßes Schema der Definitionen" gibt, bedeutet, daß er unter „Erkennen" „mehr" und damit etwas anderes versteht als das Erkennen von Begriffen — eben das freie „Konstruieren" vorgeblicher „Begriffe". c) Puchtas Rechtslehre ist der erklärte Versuch, eine vermeintliche Synthese zwischen der idealistischen Philosophie, nach der sich das Recht aus einer absolut vorausgesetzten „Vernunft" oder „Idee" erg i b t 1 3 2 , mit der ebenfalls idealistischen „Historischen Rechtsauffassung" 129

Puchta, Institutionen, § 11. Puchta, Institutionen, § 4 (9). 131 Vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (31). 132 Vgl. auch die der Auffassung einer sich i n der Geschichte v e r w i r k lichenden, dynamistischen Idee entsprechende Formulierung Puchtas, I n s t i tutionen, §8 (17): „Entfaltung des Rechtsbegriffs i n der Geschichte". 180

Β. Von der Krise der idealistischen Rechtslehren zum Wendepunkt 207 zu leisten, einer „Schule", die sich nach Puchta „vorzugsweise der freien Seite des Rechts" „zugekehrt", „seine logische und vernünftige dagegen zwar nicht negiert, aber doch i n den Hintergrund gestellt, und ihr weniger Einfluß, als ihr" gebühre, „zuerkannt" habe 1 3 3 . Daß dies die Auflösung aller Begriffe, die Verneinung des logischen Denkens, die Unmöglichkeit jeder Rechtserkenntnis, die i n den genannten falschen Lehren enthalten ist, offenkundig werden läßt, indem Puchta, wie Schönfeld dies ausdrückt, „alle Schwächen des Meisters", d . i . Savignys, „übertrieb", hat der Lehre Savignys und damit jeder idealistischen Rechtslehre i m 19. Jahrhundert „das frühe Grab gegraben" 1 3 4 . aa) Demgegenüber w i r d i m Schrifttum behauptet, die Lehre Puchtas sei die „Wendung zur formallogischen Rechtsanschauung" gewesen 135 . Puchta habe „mit eindeutiger Bestimmtheit die Rechtswissenschaft seiner Zeit auf den Weg des logischen Systems i m Sinne einer ,Begriffspyramide' verwiesen" „und damit ihre Entwicklung zur »formalen Begriffsjurisprudenz" entschieden 136 . I m Gegensatz zu Christian Wolff und seinen juristischen Schülern, bei denen „die begriffliche Deduktion schließlich in leeren Spekulationen" endete, habe Puchta, „dieser überragende Verstand, der schärfste Kopf der historischen Rechtsschule, mit dieser Methode dem positiven Recht seiner Zeit die klassische Gestalt einer dogmatischen Wissenschaft" gegeben „und damit jenen wissenschaftlichen Formalismus vollendet, auf den die Rechtswissenschaft seit dem Beginn des Jahrhunderts zustrebte"; Puchta sei „der Begründer der klassischen Begriffsjurisprudenz des 19. Jhs." 1 3 7 . bb) M i t diesen Ausführungen w i r d nicht nur geleugnet, daß Puchtas Lehre das endgültige Scheitern des Historismus bedeutet und daß i n der Mitte des 19. Jahrhunderts die „Krise der Rechtswissenschaft" ausgerufen wurde. Sondern, was bedeutsamer ist, es werden durch die Ineinssetzung von „Begriffs"- und „Konstruktionsjurisprudenz", Rationalismus und Idealismus mit „formal-logischer Rechtsanschauung", Puchtas antilogische und irrationale spekulative Rechtslehre mit einer dogmatischen Jurisprudenz, die die Gesetze der Logik anerkennt, identifiziert. Der Sache nach ist dies eine schwere Verfälschung des logischen Denkens und damit der Wissenschaft. Hinzu kommt, daß i n Bezug auf die Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs der Historismus als dessen Vorbereiter angesehen und damit übersehen wird, daß das Bürgerliche Gesetzbuch durch die Überwindung eines idealistischen Denkens zustandegekommen ist, ohne die es nie entstanden wäre. 138

Puchta, Jahrbücher für wiss. K r i t i k , I (14). Schönfeld, Geschichte (444). 135 So Landsberg I I I / 2 (453); vgl. auch Wilhelm, Methodenlehre (84). 136 Larenz, Methodenlehre (21). 137 wieacker, Privatrechtsgeschichte (400). 134

208

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus I I . Der „Wendepunkt der Rechtswissenschaft"

1. Der „Wendepunkt der Rechtswissenschaft" 138 trat mit der Veröffentlichung eines Vortrags ein, den der Vizepräsident des Preußischen Kammergerichts, Joh. Heinr. v. Kirchmann unter dem Titel „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" 1847 gehalten hatte. Als Praktiker zeigte er schonungslos den Zustand auf, i n dem sich insbesondere unter dem Einfluß der „Historischen Rechtsauffassung" Recht, Rechtswissenschaft und Rechtspflege befanden. a) Kirchmann sagt dazu das folgende: „Was" sei „der Inhalt all· jener Commentare, Exegesen, jener Monographien, Quästionen, Meditationen, jener Abhandlungen und Rechtsfälle? Nur ein kleiner Theil davon" habe „das natürliche Recht zu seinem Gegenstande; neun Zehntel und mehr" haben „es nur mit Lücken, Zweideutigkeiten, Widersprüchen, mit dem Unwahren, Veralteten, Willkürlichen der positiven Gesetze zu tun. Die Unkenntniß, die Nachlässigkeit, die Leidenschaft des Gesetzgebers" sei „das Objekt. Selbst das Genie" weigere „sich nicht, dem Unverstände zu dienen; zu dessen Rechtfertigung all' seinen Witz, all· seine Gelehrsamkeit aufzubieten. Die Juristen" seien „durch das positive Gesetz zu Würmern geworden, die nur von dem faulen Holz" leben. „Von dem gesunden sich abwendend," sei „es nur das kranke, in dem sie" nisten „und" weben. „Indem die Wissenschaft das Zufällige zu ihrem Gegenstande" mache, werde sie „selbst zur Zufälligkeit; drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken" werden „zu M a k u l a t u r " 1 3 9 . „Welche Masse von Gesetzen, und doch wie viele Lücken! welches Heer von Beamten und doch welche Langsamkeit der Rechtspflege! welcher Aufwand von Studien, von Gelehrsamkeit, und doch welches Schwanken, welche Unsicherheit i n Theorie und Praxis!"140. b) I m Grunde wiederholt Kirchmann nur die Klage Thibauts; daß seine kleine Schrift einen ungleich größeren Erfolg hatte als die lebenslangen Bemühungen Thibauts u m eine auf sicheren Begriffen gründende Gesetzgebung, beruht i m wesentlichen auf zwei Umständen. Der erste Umstand war, daß die „Historische Rechtsauffassung" und die sie maßgeblich beeinflussende deutsche idealistische Philosophie i n ihren „Systemen" voll ausgebildet vorlagen und erst an ihren Konsequenzen das offenkundig wurde, was man infolge der fehlenden dogmatischen iss v g l . den gleichnamigen T i t e l des Buches von Kuntze, das 1857 veröffentlicht wurde. 139 Kirchmann, Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (17). 140 Kirchmann, Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft

(6).

Β. Von der Krise der idealistischen Rechtslehren zum Wendepunkt 209 K r i t i k ihrer „Anfangsgründe" nicht früher hatte nachweisen können: daß sie irrationalistisch ist und notwendig zur Auflösung des Rechts und der Rechtswissenschaft führt. Und der zweite Umstand lag darin, daß die Krise der idealistischen Philosophie umso deutlicher wurde, je erfolgreicher die Naturwissenschaften aufgrund ihrer positivistischen Grundeinstellung waren — ganz abgesehen davon, daß diese es gewesen waren, die — wie dargelegt — der „Hegelei" damals eine mehr als deutliche Absage erteilt hatten. 2. Es ist ein äußerst bemerkenswerter, bislang vollkommen unberücksichtigt gebliebener Umstand, daß die zitierten Ausführungen Kirchmanns, die die Abrechnung eines Praktikers mit den Resultaten der „Historischen Rechtsschule" sind, — zutreffende — Argumente gegen diese Rechtsauffassung und ihre Folgen beinhalten, wie sie heute ausschließlich — unzutreffend — gegen den Positivismus eingewandt werden. Die „dezisionistische" „Unterwerfung" der Wissenschaft „der Entscheidung des jeweilig i m Besitz der staatlichen Macht befindlichen Gesetzgebers, weil dieser allein die tatsächliche Erzwingbarkeit verschaffen" könne, wie dies Carl Schmitt „den Positivisten" vorwerfen zu können glaubt, ist die Folge einer idealistischen Einstellung i n der i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Rechtslehre gewesen. Historisch widerlegt ist damit auch die Meinung Erik Wolfs 1 4 1 , der i n der „bewußten Abkehr von allen älteren" idealistischen »„philosophischen4 Gedanken" und des damit gegebenen „Zurückweichens der ethisch begründeten Rechtsidee" ein „Zurückweichen" „vor dem Idol des Nutzens und der Macht erblickt": das gerade Gegenteil, nämlich das Bemühen, von diesen — wenn auch mit wohlklingenden Vokabeln verbrämten — „Idolen" der idealistischen Lehren und ihrem Herrschaftsdenken wegzukommen, war das Anliegen, das zur Durchsetzung des Positivismus i n der Rechtswissenschaft führte. Wie wenig manche Autoren rechtsphilosophischen Schrifttums diese Wahrheit wahrhaben wollen, daß nämlich — noch bevor man das Wort „Positivismus" auch nur kannte — der idealistische Historismus aus den dargelegten Gründen dazu geführt hat, die Rechtslehre zur „ancilla imp e r i i " 1 4 2 verkommen zu lassen, zeigt sich ζ. B. bei Welzel, der den auf die „Historische Rechtsschule" und ihre Folgen bezogenen Satz Kirchmanns „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur" auf den Rechtspositivismus bezieht 1 4 3 . 141

Große Rechtsdenker, 15. Kap. (624 f.). Diese Bezeichnung stammt v o n Welzel, Naturrecht u n d Rechtspositivismus (291). 143 welzel, Naturrecht u n d Rechtspositivismus (291). 142

14 Tripp

210

6. Kap.: Die Vorbereitung des Rechtspositivismus

Daß das historische Scheitern des Idealismus „vergessen" wird, entspricht einem Verfahren, alles, was m i t „Positivismus" i n Verbindung gebracht wird, insbesondere die Rechtswissenschaft als Tatsachenwissenschaft und — damit verbunden — das „formal-logische" Denken, zu verwerfen, um damit die „Notwendigkeit" einer moralischen „Begründung" des Rechts, i n der „Recht" und „ r e c h t " 1 4 4 (also Recht und Moral) ineins zu setzen seien, zu „belegen". Kirchmann dient so zum Kronzeugen für das genaue Gegenteil dessen, wogegen er sich der Sache nach gerichtet h a t 1 4 5 . 3. Daß Kirchmanns Vergleich der Jurisprudenz mit den Naturwissenschaften für die erstere vernichtend ausfiel, darf nach dem bisher Dargelegten nicht überraschen: „ I n welcher Hoheit" stehen „dagegen die Naturwissenschaften da. Nur das Natürliche, das Ewige, das Notwendige" sei „ i h r Gegenstand; der kleinste Grashalm" trage „diesen Stempel; jedes Geschöpf" sei „Wahr, stimme m i t sich selbst, und die W i l l k ü r " vermag „es der Wissenschaft nicht zu verfälschen". „Irrthum, falsche Gesetze" haben „auch diese Wissenschaften, aber ein leuchtender Blick des Genies und der I r r t h u m " verschwinde, „wie die Nacht vor der Sonne. Nur die Rechtswissenschaft" trage „die Schmach, trotz besserer Einsicht, noch Jahrhunderte lang dem I r r t h u m zu dienen, den Unverstand ehren zu müssen" 1 4 6 . Der starke „ W i d e r h a l l " 1 4 7 dieser Rede Kirchmanns zeigt, daß die Naturwissenschaften mit der Exaktheit ihrer Methoden, der Logik ihres Denkens und der Eindeutigkeit ihrer Beweise auch bei Juristen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Angesichts des Scheiterns 148 des deutschen Idealismus, angesichts des damit verbundenen „Zweifeins" „an der wissenschaftlichen Beweisbarkeit von W e r t e n " 1 4 9 , führte die durch den naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus gemeinsam propagierte Hinwendung zu dem „Tatsächlichen" fast zwangsläufig zur „Umwandlung der Jurisprudenz i n eine ,Tatsachenwissenschaft'", zur „Forderung nach ,exakter Beweisbarkeif auch rechtswissenschaftlicher Aussagen" 1 5 0 und der nach 144

Welzel, Natur recht u n d Rechtspositivismus (294). Dazu, daß sich der zitierte Satz Kirchmanns gegen die „historische Schule" richtet, vgl. zutreffend Koschaker, Europa u n d das römische Recht (257 f.), Fn. 5; vgl. auch zutreffend Lange, Die Wandlungen Jherings (8): Die Rede Kirchmanns w a r „recht eigentlich die Grabrede der historischen Schule." 146 Kirchmann, Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft 145

(22).

147

So Larenz, Methodenlehre (47). Dieses als „ A b k l i n g e n " zu bezeichnen (so Herrfahrdt, Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft (89)), stellt einer Verharmlosung des Sachverhalts dar. 149 So zutreffend Herrfahrdt, Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft (89). 150 Vgl. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 15. Kap. (625). 148

Β. Von der Krise der idealistischen Rechtslehren zum Wendepunkt 211 „logischer Durchdringung des tatsächlich vorhandenen Rechtes" 151 . Es ist daher kein Zufall, wenn Kirchmann die Worte Bacons und Comtes übernimmt, indem er für die Rechtswissenschaft die Anwendung des „Prinzips der Beobachtung, die Unterordnung der Spekulation unter die Erfahrung" fordert, „der i m Grunde genommen auch die Jurisprudenz der römischen Klassiker ihre Vortrefflichkeit" verdanke 1 5 2 . Und zur „Aufgabe der Jurisprudenz" führt Kirchmann aus: sie sei „dieselbe, wie die aller anderen Wissenschaften; sie" habe „ihren Gegenstand zu verstehen, seine Gesetze zu finden, zu dem Ende die Begriffe zu entwickeln, die Verwandtschaft und den Zusammenhang der einzelnen Bildungen zu erkennen und endlich ihr Wissen i n ein einfaches System zusammenzufassen" 153 . 4. Kirchmann hat damit der künftigen Jurisprudenz den Weg gewiesen als einer von Beobachtungen und Erfahrungen ausgehenden, Begriffe und Gesetze anwendenden, also auf logischem Denken beruhenden realistischen Wissenschaft. Diesen Weg ist der dogmatische Positivismus i m wesentlichen gegangen. M i t seiner Durchsetzung i n der Rechtswissenschaft brach eine — u m nicht zu sagen die — große Zeit der deutschen Rechtswissenschaft an.

151 152

(8). 158

(9).

14»

So Herrfahrdt, Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft (89). Kirchmann, Über die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft Kirchmann, Uber die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft

7. Kapitel

Der rechtswissenschaftliche Positivismus A. Die Wissenschaftslehre, Erkenntnismethode und Rechtsauffassung des dogmatischen Positivismus I . Der dogmatische Positivismus in der Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts

Mit Bernhard Windscheid begann sich die von Thibaut eingeleitete analytische logisch-dogmatische Richtung in der Rechtswissenschaft durchzusetzen, erlangte die i n diesem Sinne positivistische Rechtswissenschaft überragende Bedeutung. M i t ihr begann die von Erik Wolf so bezeichnete „systematische" Beherrschung „der unübersichtlichen Masse des Stoffs", begann die Bewältigung der Krise der Rechtserkenntnis durch seine „begriffliche Bändigung" 1 . 1. „Der Traum vom Naturrecht" war „ausgeträumt" 2 und Windscheid hat auch dessen grundlegenden Fehler erkannt: Das „Naturecht" sei „ein durch apriorische Konstruktionen gefundenes Recht, dessen Inhalt i n jedem Falle doch nur dasjenige" bilde, „was der Konstruierende für wahr" halte 3 . a) Gegen überhaupt jede „Ableitung" des Rechts aus der „Vernunft" führt er folgendes aus: „Es" sei „ein alter wie ausgeträumter Traum der Menschheit, daß es ein einiges, festes, unwandelbares Recht" gebe. „Dieses Recht" sei „das Recht der Vernunft. Was der Vernunft" entspreche, sei „eben deswegen Recht, notwendig, für alle Zeiten, an allen Orten. Diese Vorstellung" drängte „sich nicht bloß dem Laien auf; es" sei „bekannt, i n welchem Maße sie zeitweilig auch die Wissenschaft beherrscht" habe. „Jetzt" sei „sie i n der Wissenschaft als i r r i g erkannt; vollständig beseitigt" sei sie nicht. „Es" sei „ i n der neueren Zeit wiederholt und mit Recht hervorgehoben worden, wie leicht auch diejenigen, welche sich der besseren Erkenntnis nicht verschließen, ja sie mit Energie vertreten, i n die alten naturrechtlichen Gedankengänge" zurückfallen. Es sei „das auch nicht zu verwundern. Denn wer" wolle 1 2 3

Vgl. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (594). So Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (9), Windscheid, Pandekten, 6. Aufl., § 23 (64).

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

213

„leugnen, daß, wenn w i r ein Organ desjenigen hätten, was die bezeichnete Vorstellung die menschliche Vernunft" nenne, „ w i r uns seinen Aussprüchen unwandelbar zu fügen hätten. Aber ein solches Organ" existiere „nicht; es" existiere „ebenso wenig, wie jene menschliche Vernunft selbst" existiere. Es gebe „nur eine Vernunft des einzelnen Menschen, der freilich schwer" verlerne, „seine Vernunft für die Vernunft zu halten. Das" gelte „für alle Zweige der menschlichen Erkenntnis, es" gelte „auch für die Rechtserkenntnis" 4 . b) Es handelt sich u m einen schweren Fehler, wenn diese klare Absage an jede A r t Rationalismus — Windscheid betont ausdrücklich, daß es „ein absolutes Recht" „nicht" gebe 5 — übersehen w i r d und die Lehre Windscheids als „rationalistischer Gesetzespositivismus" 6 bezeichnet wird. Das damit Behauptete ist i n sich widersprüchlich. Windscheids „Streben nach" einem „geschlossenen System der Begriffe" geschah nicht „ i m Sinne Puchtas" 7 , auch wenn er dessen Bezeichnung der „Konstruktion" für „rechtswissenschaftliches Erkennen" übernimmt. Daß es sich bei dem, was Windscheid unter „Konstruktion" versteht, nicht u m ein alogisches willkürliches schöpferisches „Hervorbringen" „der Rechtssätze" handelt, ergibt sich aus den Ausführungen Windscheids zu „Konstruktion": „Die Zurückführung eines Rechtsverhältnisses auf die i h m zugrunde liegenden Begriffe" nenne „man Konstruktion desselben" 8 . Das „wahre System der Rechte" w i r d nach Windscheid nicht durch eine „Ableitung" aus obersten absoluten „Prinzipien" „deduziert" —wie das bei den „Axiomatikern" der Fall war — und nicht durch blumige Wortbilder, sondern „erst aus der vollen Erfassung der Rechtsbegriffe" könne sich die „innere Zusammengehörigkeit der Rechtssätze" ergeben. Bereits diese wenigen Ausführungen belegen, daß Windscheid die notwendige Neubegründung der Rechtswissenschaft, die bereits Thibaut gefordert hatte, durch die Anwendung einer logisch-exakten, und damit einer allein dem Begriff wissenschaftliches Erkennen entsprechenden Methode der Rechtserkenntnis leisten wollte. Über den Inhalt dieser Methode führt Windscheid näher aus: Der „eigentliche Gedanke des Rechtssatzes" stelle „sich dar i n Begriffen, d.h. i n Zusammenfassungen von Denkelementen; es" komme „darauf an, die Begriffe i n ihre Bestandteile aufzulösen, die i n ihnen enthaltenen Denkelemente aufzuweisen. Man" könne „ i n dieser Operation 4 5 6 7 8

Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (105). Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (9). So Larenz, Methodenlehre (29). So aber Larenz, Methodenlehre (30). Windscheid, Pandekten, § 24 (57).

214

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

mehr oder weniger weit gehen; denn die gefundenen Elemente" können „sich selbst wieder als Zusammensetzung anderer, einfacherer Elemente ausweisen, und so fort. Die neuere Rechtswissenschaft" habe „die entschiedene Tendenz, i n der Zerlegung der Begriffe möglichst weit zu gehen. Und dies" sei „ihr Verdienst. Denn i n der Tat" hänge „von der erschöpfenden Erfassung des Inhalts der i n den Rechtssätzen enthaltenen Begriffe nicht nur das volle Verständnis des Rechts ab, sondern auch die Sicherheit seiner Anwendung" 9 . Windscheids Bemühen einer „erschöpfenden Erfassung des Inhalts der i n den Rechtssätzen enthaltenen Begriffe" entspricht der sich streng an den Inhalt der Rechtssätze des römischen Rechts haltenden Arbeit der Kompilatoren des Corpus i u r i s 1 0 und mehr noch vielleicht der der Glossatoren, der bis dahin wichtigsten „Ausleger" des römischen Rechts. Windscheid behandelte „die Rechtsbegriffe wie ein Sprachforscher", zu dem er nach eigenem Urteil „auch angelegt" w a r 1 1 . Diese Bedeutung des begrifflichen Denkens für die Rechtswissenschaft hebt Windscheid auch i n einer 1889 gehaltenen Programmrede hervor, wenn er dazu ausführt: „alle Wissenschaft des Rechts" bewege „sich i n Begriffen", „ihre Aufgabe" sei „keine andere," „als scharfe Begriffe zu fassen und den Inhalt derselben darzulegen" 12 . M i t Windscheid fand dieses „Streben nach begrifflicher Exaktheit", das die „zeitgenössische Naturwissenschaft" beherrschte 13 , endlich i n großem Stil Eingang i n die Rechtswissenschaft. Diese wurde damit als wissenschaftliche Sachlehre (Dogmatik) begründet 1 4 . Ihre den Merkmalen des rechtswissenschaftlichen Positivismus entsprechende Grundeinstellung, die der der Naturwissenschaften entspricht und sich ihrem Einfluß hauptsächlich verdankt, w i r d mit ihrer Bezeichnung als dogmatischer Positivismus 16 ausgedrückt. 9

Windscheid, Pandekten, § 24 (55 f.). Vgl. auch Wieacker, Gründer u n d Bewahrer (186): „Windscheid w a r es, der, w i e einstmals Accursius oder die Kompilatoren des Corpus iuris, zugleich eine vollständige Sichtung u n d eine straffe A u s w a h l aus" der „ F ü l l e des" „Quellenmaterials" u n d der „Anhäufung v o n Lehrmeinungen" leistete. 11 Nach E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (600). 12 Windscheid, zit. n. Festgabe der DJZ, Sp. 107. 13 So zutreffend E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (600). 14 Z u Dogmatik vgl. Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (246). 15 Die Bezeichnung „dogmatischer" oder „wissenschaftlicher Positivismus" verwendet auch Dahm, Deutsches Recht, § 17 (127 f.), rechnet jedoch auch i n folge seiner Verwechslung v o n „Begriffs-" u n d „Konstruktionsjurisprudenz" außer Windscheid auch Puchta dazu. Ä h n l i c h w i e hier Germann, Grundlagen der Rechtswissenschaft (125): „ v o m Positivismus geschaffene dogmatische Rechtswissenschaft". Als Positivist w i r d Windscheid insbesondere v o n E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (591 ff.) i n weiten Teilen zutreffend gew ü r d i g t . — Sofern damit diejenige Richtimg i n der Rechtswissenschaft gemeint ist, für die „sich das V o r b i l d der »exakten' Naturwissenschaften als maßgebend erweist" (so Larenz, Methodenlehre (40)) k a n n sie auch als „ N a 10

Α. . Der dogmatische Positivismus:

nd

Nur als solcher ist die Rechtswissenschaft wahrhafte prudenz" gewesen.

215 „Begriffsjuris-

2. Vorbild der dogmatischen Positivisten war — ganz i m Sinne Kirchmanns — das römische Recht, von dem Windscheid sagt, daß es, „ganz abgesehen von seinem Inhalt", „durch seine formale Ausbildung berufen" sei, „Muster und Schule des juristischen Denkens und juristischen Schaffens zu sein" 1 6 . Die „Schärfe" und „Präzision" seiner Begriffe 1 7 wurde auch von Savigny erkannt, der einmal meinte, daß die Römer m i t den Begriffen „rechneten" und anerkannte, daß „die Begriffe und Sätze ihrer Wissenschaft" „ihnen nicht wie durch ihre W i l l k ü r hervorgebracht" erscheinen — eine bemerkenswerte Feststellung Savignys — und daß „ i h r ganzes Verfahren eine Sicherheit" habe, „wie sie sich sonst außer der Mathematik nicht" finde 18. I n wieweit diese Beurteilungen des römischen Rechts haltbar sind und worin insbesondere die Bedeutung des römischen Rechts i n analytisch-dogmatischer und i n empirischer Hinsicht für den rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts liegt, soll i m folgenden anhand eines gestrafften Durchgangs durch die Geschichte des römischen Rechts unter Berufung auf führende Rechtshistoriker dargelegt werden. a) Die Begriffe und Rechtssätze der Römer seit der klassischen Zeit entstammen der täglichen juristischen Praxis und der i n ihr gewonnenen Erfahrungen anhand der vorkommenden Rechtsfälle. Sie dachten sich keinen platonischen „Ideenhimmel" und kein absolutes Naturrecht aus, sondern sie erteilten Gutachten (responsa) an Private, wirkten als hochangesehene Elite von Wissenschaftlern i m Consilium sowohl der Gerichtsmagistrate als auch der Geschworenen mit und beeinflußten sowohl die Fassung der Edikte wie auch die tägliche prozessuale und rechtsgeschäftliche Praxis 1 9 . aa) Das Verfahren der Römer zur Erfassung der Begriffe war indukt i v und empirisch 20 . Denkbare Lösungen wurden auf ihre Sachgemäßturalismus" bezeichnet werden. Larenz u n d Welzel (Naturalismus u n d W e r t philosophie i m Straf recht), auf den dieser Ausdruck offenbar zurückgeht, verstehen darunter allerdings falsch „rechtssoziologische" bzw. „rechtspsychologische" Lehren. 18 Vgl. Windscheid, Pandekten, § 6 (16). 17 So Windscheid, Pandekten, § 6 (16). 18 Savigny, Beruf (29). 19 Daß die „Klassische Jurisprudenz" „keine schulmäßig abstrakte Theorie betrieben, sondern eine praktische Richtung verfolgt" habe, „die, ausgehend von der Gutachtertätigkeit der Juristen, die K l ä r u n g konkreter, aus dem Leben stammender Rechtsfälle bezweckt" haben, betont Käser, Römisches Privatrecht, § 1 (3). 20 Z u r Methode des begrifflichen Denkens der Römer vgl. auch Käser, Jus 1967, 339.

216

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

h e i t 2 1 h i n überprüft, ähnliche Einzelfälle und die hierzu ergangenen Entscheidungen wurden mit zur Lösung des Falles herangezogen, hatten aber nicht etwa schon deshalb bindende Wirkung, weil sie ergangen waren. Das Erkennen erfolgte vielmehr v. a. i n einem sog. Diskurs, i n dem sowohl Gründe als auch Gegengründe für eine Lösung mit einem wirklichen oder auch nur vorgestellten Gegner verhandelt wurden 2 2 . Strenge Sachbezogenheit war oberster Grundsatz der römischen Juristen, die sie i n die Lage versetzte, „den Sachverhalt eines jeden Falles mit einer so vollendeten Beschränkung auf das juristisch Wesentliche" zu erfassen, „daß sich die Entscheidung häufig schon gleichsam von selbst aus der Darstellung des Sachverhalts" ergab 23 . bb) Die Methode der Römer bei der Erkenntnis der Begriffe hat Jhering als „Scheidekunst" bezeichnet 24 . Diesem analytischen Verfahren verdanken sich die großen wissenschaftlichen Leistungen der Römer i n allererster Linie. Die nächste Folge dieser „Scheide"- und „Isolierarbeit" 2 5 war die Trennung des Rechts „von den Normen der Sitte und Sittlichkeit" 2 6 , danach die des „geistlichen und weltlichen Rechts" und — von mindestens ebenso großer Bedeutung — die des öffentlichen Rechts (ius publicum) vom Privatrecht (ius privatum) 2 7 . Das Privatrecht und das Zivilprozeßrecht waren die eigentliche Domäne der römischen Juristen. Das Strafrecht und die Strafgerichtsbarkeit ebenso wie die gesamte Staatsverwaltung erklärten sie zur Staatsangelegenheit, „die von politischen Kräften beeinflußt und darum nicht nach ausschließlich juristischen Maßstäben berechenbar" w a r 2 8 . Hier erteilten die Juristen i m allgemeinen keine Gutachten und vernachlässigten diese Gebiete in ihrer wissenschaftlichen Behandlung. Es entsprach überhaupt der Einstellung der klassischen römischen Juristen, 21 Vgl. auch Dulckeit/Schwarz/Waldstein, Römische Rechtsgeschichte, §33 (215), die die „strenge Sachgebundenheit" der „klassischen Juristen" hervorheben u n d zu Sprache u n d Stil der römischen Juristen ausführen: Diese haben „sie vor jeder schwülstigen Weitschweifigkeit zu bewahren vermocht, w i e sie die sonstige L i t e r a t u r zu beherrschen" begann. 22 Hierzu vgl. Käser, Z u r Methode der römischen Rechtsfindung (53), der die Induktionsmethode allerdings unzutreffend als I n t u i t i o n bezeichnet. 23 So Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte, § 33 (218). 24 Jhering, Geist des römischen Rechts 2 (39); vgl. auch den schönen Satz v o n Anaxagoras, dem die Römer zu entsprechen versuchten: „Ursprünglich w a r alles beisammen, da k a m der Geist, schied und schuf Ordnung", zit. n. Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (13) m. N. 25 So Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (18). 26 Vgl. Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (14) m. N. 27 Vgl. Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (18) m. N. 28 Vgl. dazu Käser, Römisches Privatrecht, §2 (15). Nach i h m erstreckt sich „erst seit der späteren Klassik" „die römische Rechtsliteratur i n begrenztem Umfang auch auf das Strafrecht u n d manche Zweige des V e r w a l tungsrechts".

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

217

daß ein „genetischer Zusammenhang des Rechts mit der nichtrechtlichen Welt grundsätzlich" verneint und „aus der juristischen Betrachtung ausgeschieden" wurde 2 9 . cc) Diese Haltung der Römer w i r d von Schulz in seiner „Geschichte der römischen Rechtswissenschaft" von 1954, das z.T. heute noch als „grundlegende" Darstellung der „Eigenart der römischen Jurisprudenz" g i l t 3 0 , wie folgt kritisiert: aaa) „Die wirtschaftlich-politischen Verhältnisse, die die Gestaltung eines Rechtssatzes bestimmt" haben, „werden nirgends geschildert oder auch nur erwähnt. Jede wirtschaftliche Betrachtung des Rechts" fehle. „Der wirtschaftliche Sinn eines Rechtsinstituts, seine normalen w i r t schaftlichen Funktionen, die es erfüllen" solle, „die wirtschaftlichen Gründe, die seine Einführung veranlaßt" haben: „das alles werde als ,unjuristisch' vor die Tür gewiesen". Eine „Behandlung" unter „Zweckgesichtspunkten" gab es praktisch nicht 3 1 . bbb) Dieser K r i t i k ist nicht zu folgen: Wirtschaftlich ist ein Gut, dessen Wert darin besteht, vorteilhaft für die Versorgung mit Gütern zu sein, die ein Mensch zur Befriedigung körperlicher oder geistiger Bedürfnisse benötigt 3 2 . Ob ein Mensch einen Anspruch auf ein derartiges Gut hat, hängt von den bezüglich dieser Güter bestehenden rechtlichen Verhältnissen ab. Ob ein wirtschaftliches Handeln rechtmäßig ist oder nicht, ist eine Frage, die ein Rechtswissenschaftler zu beantworten hat nach Merkmalen, die sich denknotwendig nicht aus der Tatsache eines wirtschaftlichen Handelns ergeben können — denn dieses kann sowohl rechtmäßig als auch unrechtmäßig sein —, sondern die Inhalte von Rechtsbegriffen sind. Eine „wirtschaftliche Betrachtungsweise" ist von rechtlichem Erkennen demnach streng zu unterscheiden, so wie es die Römer der klassischen Zeit getan haben. Daß die Forderung an die Juristen, wirtschaftliche Zusammenhänge zu berücksichtigen, konsequent praktiziert zur Auflösung jedes rechtlichen Erkennens und damit zu einem juristischen Nihilismus führt, hat insbesondere die „Freirechtsbewegung" gezeigt 33 . ccc) Die Römer taten demnach recht daran, den behaupteten „ w i r t schaftlichen Sinn eines Rechtsinstituts", seine angeblichen „wirtschaftlichen Funktionen" sowie vermeintliche „wirtschaftliche Gründe" als „unjuristisch" „vor die Tür" zu weisen. Daß ihre Rechtsinstitute noch 29 30 31 32 33

Vgl. Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (17). Vgl. ζ. B. Käser, Z u r Methode der römischen Rechtsfindung (49). Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (17). Wolf, Schuldrecht I, § 4 D I I a (150). Vgl. dazu insbes. Wolf, Schuldrecht I, § 1 Β I c 2 (4 f.).

218

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

fast eineinhalb Jahrtausende später, i n denen die wirtschaftlichen Verhältnisse ganz andere waren, als Grundlage einer logisch ausgerichteten Rechtswissenschaft dienen konnten und Windscheid i n Bezug auf das römische Recht sagen konnte, es sei „nichts" „als der Ausdruck allgemein menschlicher Auffassungen allgemein menschlicher Verhältnisse, m i t einer Meisterschaft entwickelt, welche keine Jurisprudenz und keine Gesetzgebungskunst seitdem zu erreichen verstanden" habe — „daher unmittelbar verwertbar, wo zivilisierte Menschen" zusammenleben 34 , ist ohne die scharfe Trennung rechtlicher von ökonomischen Erwägungen nicht einmal i m Ansatz denkbar. dd) Die römische Rechtswissenschaft war Tatsachenwissenschaft. Dies ergibt sich ζ. B. aus folgenden Ausführungen Käsers: „ . . . nach römischem Privatrecht" galt „das rechtliche Handeln so, wie es vollzogen worden ist, als unabänderlich", „so daß es" nicht „völlig ungeschehen gemacht" werden konnte. „ A u f dieser Denkweise" beruhe „es insbesondere, daß den Römern die Anfechtung als rückwirkende Vernichtung unzugänglich" w a r 3 5 . Was hier von Käser den römischen Juristen als Fehler angelastet wird, ist nichts anderes als ein Angriff auf eine Auffassung, die allein m i t den ontischen Gegebenheiten übereinstimmt. Denn ein Handeln wie überhaupt jede Tatsache, die in der Vergangenheit geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden. Beseitigt werden können gegebenenfalls gegenwärtig fortbestehende Wirkungen eines vergangenen Geschehens. Käser geht i n seiner K r i t i k von den ontologisch unzutreffenden Formulierungen der §§ 119 Abs. 1, 142 Abs. 1 BGB aus, i n denen nicht die durch eine gestörte rechtsgeschäftliche Erklärung entstandene Rechtslage, sondern diese Erklärung selbst als anfechtbar bezeichnet w i r d und sowohl die gestörte rechtsgeschäftliche Erklärung als auch die dadurch entstandene Rechtslage „hinwegfingiert" werden. Ein Geschehen kann man nicht als ungeschehen erklären, ein w i r k sam gewordenes Rechtsgeschäft nicht „von Anfang an als nichtig" „ansehen". Derartige Fiktionen sind notwendig unwahr, weil in Bezug auf Geschehenes ein Nichtgeschehen behauptet wird, Tatsachen zu Nichttatsachen erklärt werden, i n Bezug auf einen i n der Vergangenheit existiert habenden Gegenstand Aussagen getroffen werden, die i h m gerade nicht entsprechen. Ein existierender Gegenstand kann wahrheitsgemäß nur als existierend „angesehen", eine eingetretene Rechtsw i r k u n g kann nur als eingetreten erkannt werden. Jede Verneinung 84 35

Windscheid, Pandektenrecht, § 6 (16). Vgl. Käser, JuS 1967, 340.

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

219

dessen hat mit Erkennen nichts zu t u n 3 6 . Eine „rückwirkende Vernichtung" eines Rechtsgeschäfts gibt es sowenig wie die „rückwirkende Vernichtung" der Eiszeit, des Dreißigjährigen Krieges oder des ersten Mondfluges. ee) Das analytische und methodische Denken der Römer hat dazu geführt, daß sie ihre „Institutionen" mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen zu erfassen versuchten und darüber zur Erkenntnis von Rechtsbegriffen kamen, die von einer „Klarheit des Inhalts, von einer Strenge der Form und von einer Folgerichtigkeit" 3 7 sind, wie sie bis zum 19. Jahrhundert i n keiner anderen Rechtswissenschaft existierten. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür ist der einheitliche 3 8 Eigentumsbegriff der Römer, der vom Besitz einerseits, von anderen sich auf eine Sache beziehenden Sonderregelungen andererseits scharf unterschieden wird. Das Eigentum w i r d als „privatrechtliche Vollherrschaft" i n Bezug auf eine Sache aufgefaßt, „die zwar auf verschiedene Arten beschränkt werden" könne, „aber nicht von vorneherein beschränkt" sei 39 . Wie der entsprechende § 903 BGB ist der „römische Eigentumsbegriff", insbesondere von „sozialistischer wie von nationalsozialistischer Seite", als „unsozial" „gescholten" worden 4 0 . Der „römische Grundsatz der A l l macht und Allzuständigkeit des Eigentümers", der die rechtliche Möglichkeit einschließt, „einzelne Befugnisse auf andere zu übertragen" 4 1 , erfaßt den Inhalt des Eigentumsrechts, i m Unterschied zur verfehlten Auffassung des Eigentums als eines „Inbegriffs von Rechten und Pflichten" oder der einer angeblichen „Sozialpflichtigkeit des Eigentums", wie sie i m heutigen Schrifttum weit verbreitet ist 4 2 . Daß dieser römische Eigentumsbegriff, i n dem das Eigentumsrecht als ein inhaltlich unbeschränktes Recht zur Sachherrschaft allein dem Eigentumsrecht als einem natürlichen Recht entspricht, die gegenteiligen Ansichten i n der sachlichen Konsequenz zur Auflösung des Eigentumsrechts führen, ist i n der Realen Rechtslehre nachgewiesen 43 . 86 Vgl. zur Anfechtbarkeit als rechtsgeschäftlicher Gestaltungsmöglichkeit Wolf, B G B A l l g . T., § 10 D (469 ff.). 87 Vgl. Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte, § 33 (218). 88 Vgl. dazu Planck/Strecker, Vorbem. 2 vor §903 (325 ff.). 89 Vgl. Käser, Römisches Privatrecht, § 22 (92); zur „schrankenlosen Sachherrschaft, die sich i m I n h a l t des römischen Eigentums etwa seit der Zeit der späten Republik" darstelle, vgl. auch Weiss, Institutionen des römischen Privatrechts, § 41 (159 ff.) m. N. 40 Vgl. dazu Liebs, Römisches Recht (148 ff.) m. N. 41 Vgl. Liebs, Römisches Recht (149). 42 Vgl. dazu Wolf, Sachenrecht, § 3 D (110 ff.). Z u r K r i t i k der zu A r t . 14 GG vertretenen Auffassungen vgl. Wolf, Sachenrecht, §3 D I I I (115 ff.) m. zahlr. N. I n s t r u k t i v auch Hass, Ist „Nutzungseigentum" noch Eigentum? 48 Dazu u n d zum Begriff Eigentumsrecht insgesamt vgl. Wolf, Sachenrecht, § 3 (90 ff.).

220

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

Der wissenschaftlichen Exaktheit der Römer bei der Erarbeitung ihres Eigentumsbegriffs wie sehr vieler anderer grundlegender Rechtsbegriffe entspricht es auch, daß man bei der Analyse der Identität und der Veränderung der Sachen, die insbesondere bei der Beurteilung der Frage, „wem i m Falle der Verbindung oder Vermischung von Sachen verschiedener Eigentümer oder bei der Verarbeitung fremder Sachen das Eigentum an dem Produkt der Verbindung oder Verarbeitung zustehen" solle, auf physikalische Lehren der Griechen, die auf naturwissenschaftlichem Gebiet den Römern überlegen waren, zurückgriff 4 4 . ff) I n der Bildung allgemeiner Begriffe aus den erkannten Rechtsbegriffen legten sich die Römer allergrößte Zurückhaltung auf, um inhaltsleere „Rechtsregeln", die aufgrund falscher Verallgemeinerungen leicht hätten entstehen können, zu vermeiden. Jahrhundertelang galt die wissenschaftliche Maxime des Paulus, einem der drei „Klassiker": „non ex régula ius summatur, sed ex iure quod est régula fiat" 45. Dieser Vorsicht in der Bildung allgemeiner Rechtssätze entsprach auf der anderen Seite eine gewisse Unfähigkeit und wohl auch ein Desinteresse 46 der römischen Juristen daran, eine Ordnung ihrer Begriffe zu einem System herbeizuführen. Dies hat zu dem bereits i n der Hochklassik der römischen Jurisprudenz erkannten Problem einer ausufernden Kasuistik geführt, die die Gesamtheit der i n den Rechtssätzen enthaltenen Erkenntnisse immer unüberschaubarer machte. Angesichts der Fülle des unbewältigten Rechtsstoffes entstanden nicht nur zahlreiche Widersprüche i n Einzelfragen, was i n der nachklassischen Zeit, i n der die juristische Wissenschaft das Niveau der Klassiker nicht mehr erreichen konnte, zu einer ersten dem römischen Recht drohenden Auflösung führte. M i t der Vulgarisierung ging die „ i n hohem Maße verfeinerte juristische Denk- und Ausdruckstechnik der klassischen Juristen", ohne die ein exaktes Erkennen von Begriffen und ihre Anwendung nicht möglich ist, verloren. A n die Stelle der wissenschaftlichen Jurisprudenz traten „die Rechtsvorstellungen juristischer Laien oder fachlich nur halbgebildeter Rechtspraktiker und Rechtslehrer, die die Substanz des klassischen Rechts vielfach" „mißdeuteten und verfälschten" 47 . 44

Vgl. dazu K u n k e l , Römische Rechtsgeschichte (95). Zit. n. Käser, Z u r Methode der römischen Rechtsfindung (61) m. N. Dort f ü h r t Käser weiter aus: die „regulae" erschienen „den Römern gefährlich, w e i l sie sinnlos" werden, „ w e n n sie nicht scharf u n d präzise gefaßt" seien. 48 Vgl. Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (28 ff.); Schulz verwechselt allerdings Verallgemeinerung u n d Abstraktion, w e n n er den Römern eine „tiefe Abneigung gegenüber aller Abstraktion" v o r w i r f t ; denn eine „ A b n e i gung gegenüber aller Abstraktion" lag nicht vor, was ihre auch v o n Schulz anerkannte Verwendung zahlreicher präziser Begriffe, die als solche notwendig abstrakt sind, beweist. 47 Vgl. Käser, Römisches Privatrecht, § 1 (4). 45

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

221

gg) Die große durchgreifende Rettung des römischen Rechts stellt das überragende Gesetzeswerk dar, das unter dem Kaiser Justinian geschaffen wurde. aaa) Die erste Etappe der Gesetzgebung Justinians bestand i n der Sammlung der Kaiserkonstitutionen, die als „Codex Iuistinianus" (529) publiziert wurden. Kurz vor der Herausgabe der Digesten wurde ein amtliches Einführungslehrbuch geschaffen und (533) unter dem Titel „Institutiones" veröffentlicht. Den umfassendsten und weitaus bedeutsamsten Teil der Gesetzgebung Justinians bilden die Digesten, durch die das römische Recht seinen „Siegeszug durch den europäischen Kont i n e n t " 4 8 antrat. Diese drei Werke erhielten i n der Gesamtausgabe des Dionysius Gothofredus (1583) die „zusammenfassende Bezeichnung als Corpus iuris civilis" 4 9 . bbb) Das wichtigste aus der römischen Rechtsliteratur ist über die Digesten (oder Pandekten) Justinians, die am 16.12. 533 i n Kraft traten, nach Deutschland gekommen. Sie wurden von den Kompilatoren erstellt, die die Fülle überlieferter Rechtssätze, die in 1500 Buchrollen vorlagen, innerhalb von drei Jahren zu der sog. Appendixmasse, i n der der vorhandene Rechtsstoff auf ein Dreißigstel gekürzt wurde, zusammengefaßt haben. I m Unterschied zum Codex Justinianus, an dem noch hohe Verwaltungsbeamte und sogar ein General mitwirkten, waren Mitglieder dieser Kommission ausschließlich Gelehrte und Praktiker aus der Justiz. Dieser wissenschaftlichen Behandlung des römischen Rechts ist es zu verdanken, daß die Digesten „einen Erfahrungsschatz juristischen Könnens" enthalten, i n dem viel „Zeitbedingtes", also historisch zufällig Entstandenes, weggelassen wurde 5 0 . ccc) Die i n diesem Werk wieder erreichte „Schärfe und Sicherheit der Begriffe" und die nicht unbegründete Angst davor, daß sie jemals wieder verfälscht werden könnten, hat zu folgender Constitutio Tanta, dem Einführungsgesetz zu den Digesten, geführt: . . . niemand weder von denen, die gegenwärtig die Rechtsgelehrsamkeit beherrschen, noch die es später tun sollten, wage, Kommentare diesen Gesetzen hinzuzufügen, ausgenommen nur, wenn er sie i n die griechische Sprache übersetzen w i l l i n derselben Ordnung (sie) und derselben Abfolge (sie), i n der auch die römischen Worte gesetzt sind, eben das was die Griechen ,Schritt für Schritt 4 nennen; oder wenn jemand es etwa vorziehen sollte, über die Struktur der Titel (per titulorum subtilitatem) Anmerkungen zu machen und das, was als Zum Titel bezeichnet wird, herzustellen. I m übrigen aber gestatten w i r nicht, mit Auslegungen der Gesetze oder 48 49 50

So Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte, §43 (267). Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte, §43 (266). Vgl. hierzu i n s t r u k t i v Liebs, Römisches Recht (96 ff.).

222

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

vielmehr deren Verdrehung zu prahlen, damit ihre Weitschweifigkeit (sie) nicht unseren Gesetzen (sie) irgendeine Unzierde aus Verwirrung zufügt. Das ist j a auch bei den alten Kommentatoren des Ständigen Edikts geschehen, die ein maßvoll vollendetes Werk, indem sie es hierh i n und dorthin zu verschiedenen Meinungen weitergeführt haben, ins Endlose fortschleppten, so daß beinahe jede römische Vorschrift durcheinander gebracht worden war. Wenn w i r solche Leute nicht geduldet haben, wie sollte eitle Zwietracht der Nachwelt hinterlassen werden" 5 1 .— Sicher war diese „geistige Diktatur", wie Liebs sie genannt h a t 5 2 , durch das m i t ihr ausgesprochene Verbot jeder Gesetzesauslegung übertrieben, weil richtig verstandene Auslegung „Darlegung des Inhalts des Rechts" 53 ist, wie Windscheid dies formuliert hat. Aber die Verpflichtung der Juristen auf den Wortlaut des Gesetzes und damit auf die wissenschaftlich erkannten Rechtsbegriffe hat auf Jahrhunderte hinaus die Zersetzung des römischen Rechts verhindert, wie dies erst unter dem Einfluß insbes. der „axiomatischen" Naturrechtslehre i n Deutschland, die Thibaut mit „römischen" Argumenten bekämpft hat, — indem er sie auf den Wortlaut der Gesetze, auf ihre exakte Anwendung verwies — geschah. hh) Die Verpflichtung auf den Inhalt der Rechtsbegriffe und Gesetze zeichnet insbesondere die auf die erkenntnismäßige Durchdringung des Corpus iuris gerichtete Arbeit der Glossatoren aus, die i m 12. und 13. Jahrhundert die großen wissenschaftlichen Bewahrer des römischen Rechts waren. Die Sorgfalt, mit der sie die römischen Rechtssätze untersuchten, zeigt sich an ihrem methodischen Vorgehen: dieses bestand zunächst i n der „Ermittlung des genauen Textes der auszulegenden Stelle", d.h. die Überprüfung der „durch private Handschriften vermittelten Texte" „auf ihre Zuverlässigkeit durch Vergleichung mehrerer Handschriften und Wahl zwischen abweichenden Lesarten", „an dessen Ende" die „prolectio (Lesung)" stand. Der nächste Arbeitsschritt war „analytisch" und unterteilte sich „ i n das scindere (aufgliedern) des Texts, casum figurare (exemplifizieren) und dare causas (Gründe angeben)". Zuletzt folgte „die Synthese", die aus „summare (verallgemeinern, Regeln bilden), connotare (mitvermerken, d. h. feststellen analoger und sonst verwandter Bestimmungen) und obicere (widerlegen" „von möglichen Einwänden", „beseitigen von Widersprüchen") „durch 51 Zit. n. Liebs, Römisches Recht (102); Nachahmung fand dieses „Verbot der Rechtsfortbildung" u n d der Auslegung „durch Präjudizien, Kommentare u n d »gelehrte Spitzfindigkeiten' " i m Preußischen Allgemeinen Landrecht „bis zur Cabinetsordre v o m 3.8.1798"; vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, §19 I I 2 a (332). 52 Liebs, Römisches Recht (102). 53 Windscheid, Pandekten, § 20 (46).

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

223

distinctio (Differenzierung)", „amplificatio (Erweiterung des Anwendungsbereichs der Gesetze)" oder limitatio (Begrenzung)" 64 bestand. Der durch die Glossatoren hergestellte umfangreiche „Anmerkungsapparat", den Accursius zu einem großen Sammelwerk, der sog. Glossa ordinaria, vereinigt hatte, wurde für die rechtswissenschaftliche Praxis i n der Folgezeit unentbehrlich 5 5 . Ihre Autorität war i n Deutschland noch i m 17. Jahrhundert ungebrochen. Der Satz „Quidquid non agnoscit glossa non agnoscit c u r i a " 5 6 stammt aus dieser Zeit. ii) Eine erste Aufweichung der realistischen Begriffe der Glossatoren geschah durch die Postglossatoren (Konsiliatoren) allerdings schon vorher. Sie erfanden i m Körperschaftsrecht die verfehlte „Fiktionstheorie": „Solus princeps fingit, quod i n veritate non est", der sich insbes. die Erfindung der „juristischen Personen" verdankt 5 7 . Der Grund für diese verfehlte Lehre liegt nicht i n einer falschen Wissenschaftsauffassung, sondern darin, daß sich die Konsiliatoren als praktische Ratgeber (Gutachter) insbesondere zugunsten derjenigen verstanden, von denen der damalige wirtschaftliche Aufschwung abhing: den Mächtigen der Finanz und des Handels, die auch i n der Polit i k zunehmend an Einfluß gewannen. b) Die Bedeutung der Methode der römischen Jurisprudenz w i r d noch vielfach verkannt. aa) So geschieht es ζ. B., wenn Schulz das römische Recht als „römisches Naturrecht" bezeichnet. Schulz führt dazu aus: „Das römische Privatrecht" erhalte „ i n der Darstellung der Klassiker eine ungemeine, fast logische Geschlossenheit." . . . „Weithin" mache „der Vortrag der Juristen einen fast mathematischen Eindruck eines Naturrechts. Freilich eines Naturrechts von geringerer Allgemeingültigkeit, als sie die Sätze des stoischen Naturrechts" beanspruchen, „eines Naturrechts i m Rahmen der römischen Gesetzgebung und unter Festhaltung gewisser überkommener Grundbegriffe und axiomatischer Sätze: eben eines römischen Naturrechts, dem die spekulative Luftigkeit des griechischen Naturrechts" fehle. „Was die römischen Juristen" erstreben, sei „— i n dem bezeichneten 64 Vgl. dazu Liebs, Römisches Recht (108) m. N.: s. auch K u n k e l , Römische Rechtsgeschichte (151 ff.); zur „spezifisch wissenschaftlichen A r b e i t " der Glossatoren, v o n denen an m a n „den Beginn einer abendländischen Rechtswissenschaft datieren" könne, vgl. Koschaker, Europa u n d das römische Recht (67 f.) Z u r wissenschaftlichen Digestenexegese vgl. Schlosser/S t ü r m / W e b e r , Die rechtsgeschichtliche Exegese. δ5 Vgl. dazu Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte, §44 (275). 56 Zit. n. Liebs, Römisches Recht (109). 57 Hierzu vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 16 Β I I I c (650 ff.).

224

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

Rahmen —, die Regel zu finden, die sich aus der Natur der Sache, aus der Natur der Lebensverhältnisse" ergebe 58 . bb) Dieser Ansicht kann nicht gefolgt werden. Daß die Logik der Mathematik, die auf als „Axiome" fehlerhaft bezeichneten Erfahrungssätzen beruht, nichts mit der „Axiomatik" eines Naturrechts zu t u n hat, wurde dargelegt. Auf der fehlerhaften Identifikation der „Methoden" beider beruht die Auffassung, das römische Recht sei ein „Naturrecht". Daß das römische Recht mit „Naturrecht" nichts zu t u n hat, ergibt sich aus den Ausführungen Schulz' selbst: ein „Naturrecht" ohne „spekulative Luftigkeit" gibt es historisch sowenig wie eine realistische Metaphysik. Zwar haben die klassischen römischen Juristen die Jurisprudenz als „ars boni et aequi" bezeichnet 59 . Aber wie dies anhand der Bildung der „regula" dargestellt wurde, bedeutet dies nicht, daß sie versucht haben — genau dies geschah i n der Naturrechtslehre und i m idealistischen Historismus — aus derartigen Leerwörtern das Recht „abzuleiten". Das folgt auch aus dem Gebrauch des Ausdrucks „ars". Daß gerade Schulz, der i m vorderen Teil seines Buches eingehend die Trennung („Scheidung"), die die klassischen Römer zwischen Recht und Ethik vollzogen haben, dargelegt und nachgewiesen hat, zu dieser verfehlten Bezeichnung des römischen Rechts als „Naturrecht" gelangt, das insbesondere auf der Identifikation von Recht und Moral, von Gesetz und Gebot beruht, zeigt, wie sehr der Charakter des Naturrechts bis i n die jüngste Zeit hinein verkannt wird. cc) Auf der bereits bei Wieacker kritisierten fehlerhaften Ineinssetzung von „historischer Rechtsauffassung" und „Positivismus" als „Begriffsjuristen" beruht es, daß die „historische Rechtsschule" als die i n der Tradition des römischen Rechts stehende, gemäß seiner strengen Logik arbeitende Jurisprudenz angesehen wird. So behauptet Kunkel, daß „auf Savigny die Grundströmungen" zurückgehen, „welche die Entwicklung vom römischen Recht i n Deutschland während des 19. Jahrhunderts" beherrschten 60 , obwohl er i m nächsten Satz sagt, daß „unter ihnen" „die systematische lange Zeit hindurch die historische Strömung" überwog und erkannt hat, daß Savigny „Klassizistik und Romantik", „lebte" 6 1 . Nach Söllner verdankt „das römische Recht seine überragende Rolle, die es als Gegenstand der

58 59 60 81

Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (23 f.). Zit. n. Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte (217) m. w. N. I n ähnlichem Sinn Dulckeit, Römische Rechtsgeschichte §44 (297). Kunkel, Römisches Recht (168 f.).

Α. I.

er dogmatische Positivismus:

nd

225

Rechtswissenschaft i m 19. Jahrhundert" spielte, „nicht zuletzt der historischen Rechtsschule, einer wissenschaftlichen Richtung . . . " e 2 . dd) Bei allen diesen Auffassungen w i r d übersehen, daß die „Volksgeistlehre" Savignys und die daraus resultierende spekulative, irrationalistische „historische Rechtsauffassung" mit Leerwörtern arbeitet, die „Recht" aus absoluten Voraussetzungen — einem permanent fortschreitenden „Prozeß" „organischen historischen Wachsens" — „schaut", „deduziert" oder „konstruiert", also eine der realistischen Einstellung der Römer diametral entgegengesetzte Wissenschafts- und Rechtslehre vert r i t t 6 3 . Die strenge Methodik und Begriffsbildung der Römer w i r d von Bernhard Windscheid wieder aufgenommen. M i t ihm beginnt die Wissenschaft, sich von dem idealistischen Historismus abzuwenden und einer strengen Dogmatik zuzuwenden. 3. Die Überwindung der „historischen Rechtsauffassung" an einem zentralen Punkt gelang Bernhard Windscheid i n seiner Abhandlung über die „actiones". I n dem römischen Begriff der „actio" waren sachlich-rechtliche und prozeßrechtliche Verhältnisse unzutreffend miteinander vermengt 6 4 . Die „actio" wurde von Windscheid nunmehr erkannt als „Anspruch" 6 5 , der nicht mit Recht identisch, sondern „Konsequenz des Rechts" sei. Er w i r d als „Befugnis, seinen Willen durch gerichtliche Verfolgung durchzusetzen", bezeichnet 66 . Entscheidend ist damit nicht mehr, was das „Gericht (der Richter), sondern was das Recht (das Gesetz)" sage 67 . Diese Erkenntnis Windscheids war ein entscheidender Schlag gegen das insbesondere durch die „historische Schule" propagierte „Juristenrecht". Nicht das, was ein Jurist, vor allem ein Richter, für Recht ausgibt, ist Recht, sondern maßgebend ist nach Windscheid der objektiv zu erkennende Inhalt der Gesetze, der Rechte," „unter" und nicht „über dem der Richter" stehe 68 . Gegen die Selbstherrlichkeit eines „Richtertums", das Thibaut bereits heftig kritisiert hatte, w i r d von Wind62

Söllner, Einführung i n die römische Rechtsgeschichte (150 f.). Die Richtigkeit zahlreicher dogmatischer Arbeiten Savignys k a n n an dem Irrationalismus seiner „Rechtsphilosophie", der „historischen Rechtsschule", nichts ändern. Vgl. dazu insges. jetzt Hammen, Die Bedeutung Friedrich Carl v. Savignys für die allgemeinen Grundlagen des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs. 64 Vgl. Käser, Römisches Privatrecht (31): „der Begriff der actio" schillere „zwischen dem prozeßrechtlichen der Klaghandlung und dem privatrechtlichen Begriff des Anspruches (Klaganspruchs), als des (privaten) Rechts das i m Prozeßweg geltend gemacht werden" könne. 65 Windscheid, Die actio (5). ββ Windscheid, Die actio (3). 87 So E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (601); vgl. Windscheid, Die actio (4). 68 Vgl. Windscheid, Die actio (4). 63

1

Tripp

226

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

scheid die strenge Bindung des Richters an Recht und Gesetz betont. Diese vielgescholtene 69 Auffassung des dogmatischen Positivismus ist die für einen Rechtsstaat einzig mögliche. Dies folgt daraus, daß Gerichte Sachverhalte, die unter ein rechtliches Gesetz fallen, nur entsprechend diesem Gesetz, Sachverhalte, die Gegenstand eines Rechtsgeschäfts sind, nur entsprechend dem Inhalt dieses Rechtsgeschäfts als rechtmäßig oder unrechtmäßig (bzw. rechtswidrig) erkennen können. Geschieht die Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit (bzw. Rechtswidrigkeit) eines Sachverhalts durch ein Gericht nicht gemäß dem objektiven Inhalt eines (natürlichen oder staatlich hergestellten) Gesetzes oder Rechtsgeschäfts, ist ein derartiges „gerichtliches Urteil" ein Urteil ohne objektive Merkmale und damit ohne einen rechtlichen Gegenstand. Ein solches widersinniges „Urteil" ist begrifflich unmöglich. Was i n derartigen Fällen als „Rechtsprechung" behauptet wird, ist i n Wahrheit — da ein derartiges Urteil mit staatlichen Machtmitteln durchgesetzt w i r d — die Ausübung absoluter staatlicher Herrschaft über die rechtlichen Verhältnisse der an dem Prozeß beteiligten Menschen (Prozeßparteien) und damit über diese selbst 70 . Eine derartige Herrschaft ist notwendig unrechtmäßig; die zu ihrer Vermeidung erforderliche Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht ist notwendiger Bestandteil des Rechtsstaats (vgl. A r t . 20 Abs. 3 Grundgesetz). 4. Zum Kampf des dogmatischen Positivismus gegen die richterliche W i l l k ü r , der eine wesentliche Konsequenz der autoritären und totalitären „historischen Rechtsschule" beseitigt, gehört auch die Durchsetzung einer strengen Auslegungslehre. Die Auslegung einer rechtsgeschäftlichen oder gesetzgeberischen Erklärung besteht i m methodischen Erkennen des Inhalts dieser Erklärung 7 1 . Wie jedes Erkennen ist auch das Erkennen des Inhalts einer gesetzgeberischen Erklärung begrifflich notwendig objektiv. Die Anwendung von Leerwörtern wie „Natur der Dinge", „Bedürfnis des Verkehrs", das „entschieden Vernünftige", m i t denen jedes beliebige „Urteil" „begründet" werden kann, w i r d als „,Quelle unserer Rechtsquellen', m. a. W. Auslegungsmittel" i m dogmatischen Positivismus entschieden abgelehnt 72 . Scharf w i r d in diesem Zu69 So haben Heck u n d Isay den nach positivistischer Auffassung verfahrenden Richter „höhnend einen Subsumtionsautomaten" genannt (zit. nach Wieacker, Privatrec±Ltsgeschichte der Neuzeit, §23 (436)). 70 A n diesen Gegebenheiten scheitern alle Lehren v o m „Richterrecht", von der „freien Rechtsschöpfung", v o n der „richterlichen Rechtsfortbildung; vgl. dazu u n d zum Vorstehenden Wolf, Das Recht zur Aussperrung (102 ff.). 71 Z u Auslegung vgl. Wolf, Das Recht zur Aussperrung (13 ff.). liehen Begriff des Anspruches (Klaganspruchs), als des (privaten) Rechts, das den Richter „höhnend einen Subsumtionsautomaten" genannt (zit. nach der „breiten Rechtsschöpfung", v o n der „richterlichen Rechtsfortbildung"; vgl. 72 Vgl. Windscheid, Pandekten, 6. Aufl., § 22 (63, Fn. 8), m. w . N.

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

227

sammenhang auch der „Begriff der Billigkeit" und mit i h m das vermeintliche „Rechtsbewußsein oder Rechtsgefühl" angegriffen: „Der Begriff der Billigkeit" sei „seiner Natur nach ein unbestimmter, er" empfange „seinen Inhalt aus dem Rechtsbewußtsein oder Rechtsgefühl des ein gegebenes Recht Betrachtenden" . . . „Der Richter" würde sich schwer verfehlen, wenn er das positive Recht seines Volkes zugunsten der Billigkeit, oder dessen, was er für Billigkeit" halte, „hintansetzen w o l l t e " 7 3 . „Billigkeit" sei „eben nicht Recht", sei „ein unbestimmter Begriff", mit dem sich „nichts anfangen" lasse 74 . Und „taktvoll", aber i n der Sache unnachgiebig, hat er allen Richtern i n der bereits erwähnten, drei Jahre vor seinem Tod gehaltenen „Programmrede" das folgende, seine Auffassung eines wissenschaftlichen Richtertums belegende Vermächtnis hinterlassen: „Ein hervorragender Praktiker, der auch als Schriftsteller bedeutendes geleistet" habe, habe „drucken lassen: ,Was der Praktiker nicht gelernt hat, ersetzt er durch seinen T a k t 4 " . Windscheid fährt fort: „Gestatten Sie mir, daß ich für diesen Takt, der das Wissen ersetzen soll, danke. Ich mißachte den Takt nicht, ich halte ihn für etwas sehr Wertvolles, ich w i l l nur nicht, daß er Quelle der richterlichen Entscheidung sei. Die Quelle der Entscheidung kann nur das juristische Denken sein. Wenn aber das Resultat des juristischen Denkens zu dem, was der Takt eingibt, nicht stimmt, so soll das dem Richter eine Warnung sein. Er soll sich zwei- und dreimal fragen, ob er richtig gedacht hat, und wer am meisten gelernt hat, w i r d am ehesten befähigt sein, mit den Mitteln des juristischen Denkens die Anforderungen des Taktes, d. h. des Gerechtigkeitsgefühls, zu befriedigen. Aber wenn trotz alledem das juristische Denken von seinem Resultat nicht ablassen w i l l , dann soll der Richter entscheiden, wie er gedacht hat, nicht wie er fühlt. Abhilfe ist dann nur von der Gesetzgebung zu erwarten — an das gesetzte Recht sind w i r alle gebunden" 7 5 . 5. Daß man begründet urteilen kann, daß das „gesetzte Recht", also das durch staatliche Gesetzgebung hergestellte „Recht", Recht ist; daß man sich dessen sicher sein kann, daß die „Auslegung", wie Windscheid sagt, „Darlegung des Inhalts des Rechts" ist, hängt allerdings von einer entscheidenden Voraussetzung ab: daß der Begriff Recht erkannt ist. a) Staatliche Gesetze sind rechtliche Gesetze besonderer Art. Ein staatliches Rechtsgesetz ist ein erkenntnismethodisch bewiesenes Urteil über Kausalzusammenhänge, die zwischen je einem bestimmten Tatbestand und je einer Rechtswirkung existieren. Hergestellt von einem 78

Windscheid, Pandekten, § 28 (62). Windscheid, Pandekten, § 28 (74); ders. zit. n. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (606) m. N. 75 Windscheid, Festgabe DJZ, Sp. 107. 74

1

228

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

Staat w i r d — exakt ausgedrückt — nicht das sich auf rechtliche Zusammenhänge beziehende Gesetz, sondern es werden die Zusammenhänge hergestellt, i n Bezug auf die ein solches Gesetz als wahr gedacht werden kann 7 6 . Um sich auf ein rechtliches Verhältnis zu beziehen, muß ein Gesetz i n seinem Inhalt das Merkmal rechtliches Verhältnis als personhaftes Ordnungsverhältnis enthalten. Ein Satz, der dieses Merkmal nicht enthält, ist kein rechtliches Gesetz — auch wenn es als solches behauptet wird. Eine Regelung w i r d nicht dadurch zum Gesetz, daß sie durch staatliche Gesetzgebungsorgane als „Gesetz" erlassen wird. Alle Regelungen, i n denen ζ. B. Menschenrechte verneint werden, sind keine rechtlichen Gesetze, weil Sachverhalte, i n Bezug auf die sie als wahr gedacht werden können, durch das Personsein der Menschen nicht existieren. b) Daß der Begriff Recht erkannt werden muß und daß zu seiner Erkenntnis allgemeinere als rechtswissenschaftliche Begriffe gehören — weil der Begriff Recht nicht der allgemeinste Begriff ist, den es gibt, enthält er Merkmale, die notwendig allgemeiner als ein Rechtsbegriff sind; diese Merkmale werden durch die Rechtsontologie erkannt 7 7 — hat Windscheid durchaus gesehen: „Eine Wissenschaft, welche darauf verzichten" wolle, „den Begriff ihres Gegenstandes zu bestimmen," würde „den Namen einer Wissenschaft nicht mehr verdienen." „Nicht selten" werden „ w i r bei der Untersuchung des speziellsten Punktes auf die höchsten und allgemeinsten Begriffe zurückgeworfen", „und ohne ihre Feststellung" sei „kein sicheres Resultat zu erzielen". „Somit" sehe „sich der Jurist allerdings vielfach genötigt, auf das Gebiet der Philosophie überzuschreiten und die Feststellung von Begriffen zu unternehmen, welche die Philosophie mit Recht auch als ihr gehörig i n Anspruch" nehme. „Er" werde das „tun, wo er i n der philosophischen Lehre feste und anerkannte Resultate" vorfinde; „wo dies nicht der Fall" sei, müsse „er den Versuch machen, sich selbst den Weg zu bahnen" 7 8 . Aber genau dieses letztere — „eine philosophische Lehre", in der es „feste und anerkannte Resultate" gibt, gab es aufgrund des für die Wissenschaft unheilvollen Wirkens der idealistischen Philosophie, deren Fehler weder der philosophische noch der historische Positivismus hatten beseitigen können, nicht. 6. I n rechtsphilosophischer Hinsicht hat dies zu einer völligen Verkennung der „Historischen Rechtsauffassung" durch Windscheid geführt. Der Wissenschaftler, der sich schon in seinen frühen Arbeiten 76

Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 16 (29 f.). Das gleiche g i l t für andere grundlegende Begriffe der Rechtswissenschaft, wie z.B. Kausalität, Verhältnis, Zusammenhang, Person. 78 Windscheid, Reden u. Abhandlungen (104). 77

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

229

durch „die bewußte Abkehr von aller rechtsgeschichtlichen Romantik" 7 9 ausgezeichnet hatte, sagt über diese „Historische Rechtsschule": „Und so" wäre „denn die geschichtliche Schule nichts als eine der vielen Formen der Romantik, und w i r " hätten „nichts Angelegentlicheres zu tun, als sie von uns abzustreifen, wie eine Entwicklungskrankheit? Ich" denke „nicht. Ich" denke, „ w i r " wollen „historische Juristen bleiben. Und zunächst was die Frage nach der Entstehung des Rechts" angehe, „so" sei „es kein Abfall von dem Grundprinzip der geschichtlichen Schule, wenn w i r i n der Theorie nicht mehr das Gesetzesrecht dem Gewohnheitsrecht" unterordnen, „und wenn w i r i n der Praxis uns nicht mehr von der Gesetzgebungstat mit kühlem Zweifel oder unverhohlener Abneigung" abwenden. „Es" seien „das Fragen nur der Ausführung, Differenzen lediglich i n der Wertschätzung der einzelnen Faktoren der geschichtlichen Entwicklung: das Prinzip der geschichtlichen Entwicklung selbst" lassen „ w i r unangetastet. W i r " lehren „mit Savigny und nach Savigny, daß alles Recht Fluß" sei, „nie rastende Evolution, daß jede Rechtsposition, wie sie aus der Vergangenheit geboren" sei, „so" hinweise „auf die Zukunft, daß jede Rechtsgegenwart zugleich Rechtsvergangenheit und zugleich Rechtszukunft" sei 80 . Damit verneint Windscheid, ohne es zu bemerken, die von i h m zur „begrifflichen Exaktheit", zur Gebundenheit der Rechtsprechung und zur Auslegung vertretenen Lehren. Die zitierten Ausführungen zeigen — ähnliches war beim naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus festzustellen — daß jeder Schritt über die Grenzen der Sachwissenschaft hinaus, der zu den Lehren der Philosophie führte, denjenigen, der i h n ging, auch und gerade nach dem Vordringen des philosophischen, historischen und naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus fast übermächtigen Einflüssen von Grundgedanken idealistischer Herkunft aussetzte; daß dazu insbesondere die Behauptung absoluter „Entwicklungsgesetze" gehört, wurde ausgeführt. Daß man i m dogmatischen Positivismus die „historische Rechtsauffassung" nicht als idealistische, irrationalistische erkannte, lag — sieht man von dem Fehlen der dazu erforderlichen realistischen Ontologie ab — daran, daß man sich selbst als „historische Juristen" verstehen wollte. Der Grund hierfür wiederum bestand darin, daß die begrifflichen und damit auch die sachlichen Grundlagen des dogmatischen Positivismus aus einem historischen Stoff stammten, der ein zu Erfahrungsbegriffen verarbeitetes juristisches Wissen von über einem Jahrtausend enthielt — dem des römischen Rechts. Analysiert man solche Begriffe und arbeitet man mit ihnen trennend und verallgemeinernd 79 So Oertmann, Windscheid als Jurist, in: Windscheid, Gesammelte Reden u n d Abhandlungen ( X X X ) . 80 Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (72 f.).

230

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

weiter unter strenger Anwendung logischer Gesetze — wie dies die Pandektistik des 19. Jahrhunderts weitgehend getan hat — erhält man Reduktionsbegriffe, die als von Erfahrungsbegriffen Abgeleitete selbst wieder (mittelbar) Erfahrungsbegriffe sind. Wenn Juristen, die auf diese Weise mit einem historischen Stoff dogmatisch arbeiten, sich deswegen als „historische Juristen" bezeichnen, ist dies — sofern man sich darin mit den Vertretern der „Historischen Rechtsschule" einig zu sein glaubt — falsch. Denn zwar haben Vertreter der „historischen Rechtsschule" auch dogmatisch i n ihrer Sachwissenschaft gearbeitet — aber gerade dies hat nichts mit ihren „philosophischen" Äußerungen über Recht und Rechtserkenntnis i n ihrer „historischen Rechtsschule" zu tun. Diese ist für eine Grundlegung einer Jurisprudenz als realistischer Wissenschaft nicht nur nicht tauglich, sondern sie ist dazu geeignet, das dogmatische Denken zu verwirren — wie dies insbesondere in der K r i t i k Kirchmanns zum Ausdruck kam —, und zwar mehr noch als bei den führenden Köpfen dieser Richtung bei den Epigonen und denjenigen, denen die „Rechtspflege" oblag. Die Verkennung dieser Sachverhalte hat dazu geführt, daß die dogmatischen Positivisten mit Windscheid an der Spitze zunächst einen „Kompromiß" mit der „historischen Rechtsschule" eingehen zu können glaubten. Denn nichts anderes bedeutet es, wenn Windscheid sagt, es sei „kein Abfall von dem Grundprinzip der geschichtlichen Schule, wenn w i r i n der Theorie nicht mehr das Gesetzesrecht dem Gewohnheitsrecht" unterordnen „und wenn w i r i n der Praxis uns nicht mehr von der Gesetzgebungstat m i t kühlem Zweifel oder unverhohlener Abneigung" abwenden. „Es" seien dies „Fragen nur der Ausführung, Differenzen lediglich i n der Wertschätzung der einzelnen Faktoren der geschichtlichen Entwicklung". — Diese Ausführungen belegen eindeutig, daß die Anerkennung der „historischen Rechtsschule" auf grundlegenden Irrtümern bezüglich ihrer Aussagen und ihres Anliegens beruht. Denn die „Unterordnung" des „Gesetzesrechts" unter das „Gewohnheitsrecht" ist — wie anhand der Ausführungen zur „historischen Rechtsschule" dargelegt — die „Unterordnung" der „Gesetze" unter die „Rechtsidee" und damit der Sache nach unter eine absolute staatliche Herrschaft. Sie bedeutet damit die Verneinung aller rechtlicher Gesetze — weswegen der Kampf der „historischen Rechtsschule" gegen die Kodifikationsbewegung eine Grundsatzfrage und nicht eine „Frage nur der Ausführung", eine grundlegende wissenschafts- und gesetzesfeindliche „Differenz" und nicht eine solche „lediglich i n der Wertschätzung" „einzelner Faktoren" gewesen ist. Daß Windscheid hinsichtlich dieser „Fragen" eine entgegengesetzte Haltung einnahm — nämlich eine Bejahung der wissenschaftlichen Gesetzeserkenntnis — hat ganz wesentlich dazu beigetragen, daß die

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

231

durch die „historische Rechtsauffassung" hervorgebrachte „Krise der Rechtserkenntnis" überwunden werden konnte. Nichts anderes als diesen Sachverhalt bezeichnet Windscheid, wenn er feststellt: blicke man „auf die Praxis des Lebens und speziell auf den Stand der Kodifikationsfrage", erscheine „hier die von Savigny vertretene Ansicht als auf allen Punkten geschlagen" 81 . Es zeigt sich damit selbst noch an Windscheids Ausführungen zur „historischen Rechtsschule", wo er für diese Partei zu ergreifen meint, daß er i n Wahrheit ein entschiedener Gegner dieser „Rechtsauffassung" war. 7. Aus den dargelegten Gründen stellt es eine Verkennung der rechtsgeschichtlichen und der rechtswissenschaftlichen Zusammenhänge dar, wenn Wieacker Windscheid i n dem folgenden Zitat als i n der Tradition der Naturrechtslehre, der „historischen Rechtsauffassung" und der „Konstruktionsjurisprudenz" stehend behauptet: „ I n Windscheids Werk" habe „diese Methode" einer systematischen Rechtswissenschaft, die sich nach Wieacker „die deutsche Rechtswissenschaft seit dem 18. Jahrhundert unter dem Einfluß des Naturrechts als Aufgabe gestellt" habe und die von „Savigny und den Seinen übernommen" wurde, „ihre wirksamste Ausprägung" erfahren 8 2 . Wieacker behauptet, daß mit Windscheid „die systematische Rechtswissenschaft" des Naturrechts und der „Historischen Rechtsschule" „ihre wirksamste Ausprägung erfahren" habe und er behauptet zugleich widersprüchlich, daß Windscheid das gerade Gegenteil dessen, was die „Historische Rechtsauffassung" unter „Rechtswissenschaft" verstanden hat, betrieben habe: „Windscheid" wandte „ s i c h . . . , wie die meisten seiner Zeitgenossen, von der geschichtlichen Erkenntnis entschlossen ab, was ihn alsbald i n Konflikte m i t echten Historikern verwickelte. Er" meinte „gerade dies, wenn er, der uns gern als weltfremder Theoretiker" gelte, „immer wieder vor einer Entfernung der Theorie von der Praxis" warnte; „denn ,Praxis 4 " sei „ i h m nicht etwa das ,Leben', sondern die Anwendung der Begriffe durch einen wissenschaftsgläubigen Richterstand" 8 3 . I n dieser Stelle bezeichnet Wieacker zutreffend den Gegensatz einer „geschichtlichen Erkenntnis", die „Recht" und „Leben" ineinssetzt, zu einer Wissenschaft, die die „Anwendung der Begriffe" praktiziert — damit widerlegt er aber seine unzutreffende Ineinssetzung von „historischer" und „systematischer Rechtswissenschaft" selbst. Alle Versuche, den rechtswissenschaftlichen Positivismus i n eine Tradition mit den Naturrechtslehren oder der „historischen Rechtsschule" 81 82 88

Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (69). Wieacker, Gründer u n d Bewahrer (188). Wieacker, Gründer u n d Bewahrer (186 f.).

232

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

zu stellen, sind verfehlte Versuche der Harmonisierung völlig entgegengesetzter Richtungen i n der Rechtslehre des 19. Jahrhunderts. Sie beruhen insbesondere auf den Ineinssetzungen der „axiomatischen Methode" bzw. der „Konstruktionsjurisprudenz" mit der von Windscheid begründeten Begriffsjurisprudenz, was dazu führt, daß der dogmatische Positivismus als die große Gegenbewegung gegen den Irrationalismus i n der Jurisprudenz, der vor seiner Entstehung i n ihr geherrscht hat, weitgehend totgeschwiegen wird. Daß der wissenschaftliche Positivismus eine Konsequenz des Scheiterns des Idealismus ist, w i l l man i n den Lehren nicht wahrhaben, die das Scheitern des falschen „Positivismus" zum Beleg für die Notwendigkeit „einer Neubegründung des Rechtsglaubens" 84 nehmen. Eine derartige Auffassung ist nicht nur sachlich und logisch verfehlt — einen wissenschaftlichen „Rechtsglauben" gibt es nicht — sie steht auch der historischen Erfahrung des 19. Jahrhunderts entgegen, die den Beweis für das Scheitern der idealistischen Rechtslehren erbracht und die gezeigt hat, daß es nur eine Alternative für die Jurisprudenz gibt: entweder sie ist eine logisch-exakt verfahrende Erfahrungswissenschaft oder sie ist keine Wissenschaft. 8. Daß der rechtswissenschaftliche (dogmatische) Positivismus i n weiten Teilen Erfahrungswissenschaft gewesen ist, heißt nicht, daß i n i h m nicht noch wesentliche Mängel enthalten sind, insbesondere, was die Erkenntnis des Begriffs Recht angeht. Das subjektive Recht w i r d von Windscheid definiert als „eine von der Rechtsordnung verliehene Willensmacht oder Willensherrschaft" 8 5 und er behauptet i n Bezug auf das „Rechtsgeschäft": „es" werde „der Wille erklärt, daß eine rechtliche Wirkung eintreten" solle „und die Rechtsordnung" lasse „diese rechtliche Wirkung deswegen eintreten, weil sie von dem Urheber des Rechtsgeschäfts gewollt" sei 8 6 . a) Dieser Ansicht ist nicht zu folgen. aa) Sie scheitert schon daran, daß eine „Rechtsordnung", die eine „rechtliche Wirkung eintreten" lasse, nicht existiert. Es w i r d damit das Gegenteil dessen vertreten, daß eine rechtsgeschäftliche Erklärung als die Erklärung eines Entschlusses®7, eine Rechtswirkung zu bewirken, unter bestimmten weiteren Vorausssetzungen, die sich aus der A r t der zu bewirkenden Rechtswirkung ergeben, das Eintreten dieser Rechtsw i r k u n g notwendig bewirkt. Daß Menschen Rechtswirkungen bewirken 84 85 86

*7

So Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (620). Windscheid, Pandekten, 6. Aufl., § 37 (99). Windscheid, Pandekten, 6. Aufl., § 69 (186 f.). Z u rechtsgeschichtliche Erklärung vgl. Wolf, B G B A l l g . T., § 7 Β (298 ff.).

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

233

können, beruht auf ihrer rechtsgeschäftlichen Freiheit, die Teil ihrer Entschließungsfreiheit ist. Die von Windscheid vorgetragene Auffassung, es werde „der Wille erklärt, daß eine rechtliche Wirkung eintreten" solle, den dann die „Rechtsordnung" eintreten lasse, erkennt diese rechtsgeschäftliche Freiheit eines Menschen nur bedingt an: ob eine Rechtswirkung eintritt oder nicht, hängt danach nicht allein von den rechtlichen Voraussetzungen (Tatbeständen) ab, sondern von der Anerkennung durch eine „Rechtsordnung", die damit dem Willen des einzelnen absolut übergeordnet ist. Diese „Ordnung" kann nur eine durch eine Person oder Personengruppe ausgeübte Macht sein bzw. eine solche verdecken, der der Wille des einzelnen Menschen untergeordnet ist. Die Annahme einer derartigen Macht widerspricht jedoch dem Begriff rechtliches Verhältnis. Denn dieser hat notwendig den Inhalt, die personhafte Ordnungsmäßigkeit des Erhaltens, Entfaltens oder Fortpflanzens der daran beteiligten Personen zu bedingen. Dies ist nur unter der Voraussetzung gegeben, daß die Menschen gemäß eigenen Entschlüssen existieren, was ausgeschlossen ist, wenn ein Mensch der Macht oder Herrschaft eines anderen untergeordnet ist. bb) Aus denselben Gründen gibt es auch kein subjektives Recht als „von der Rechtsordnung verliehene Willensmacht oder Willensherrschaft", eine Auffassung, die Savigny ebenfalls vertreten hatte: Betrachten „ w i r den Rechtszustand, so wie er uns i m wirklichen Leben" umgebe „und" durchdringe, „so" erscheine „uns darin zunächst die den einzelnen Personen zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille" herrsche. „Diese Macht" nennen „ w i r ein Recht dieser Person" 8 8 . . . . „Das Wesen des Rechts" bestehe darin, . . . „daß dem individuellen Willen ein Gebiet zugewiesen" werde, „ i n welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen" habe* 9 . Die i n der Behauptung einer Rechte, insbesondere die subjektiven Rechte „verleihenden" oder „zuweisenden" „Macht" bzw. „Rechtsordnung" enthält der Sache nach die Auffassung, daß alles Recht vom Staat hergestellt wird. Da es natürliche rechtliche Verhältnisse gibt, besteht diese Auffassung in der Konsequenz, daß der Staat natürliche Verhältnisse herstellen kann, schreibt i h m damit übernatürliche Kräfte zu und behauptet i h n folglich als metaphysisches Subjekt, als absoluten Staat 9 0 . 88

Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1. Bd. (7). Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1. Bd. (333). 90 Z u „durch die Rechtsordnung verliehene Rechte" sowie zur Auffassung „subjektiver Rechte" als „MachtVerhältnisse" vgl. Wolf, B G B A l l g . T., §2 Β I I i (109 ff.). 89

234

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

cc) Daß Windscheid dennoch durch die Übernahme des Wortes „Rechtsordnung" keine autoritäre, antidemokratische Grundauffassung hinsichtlich des Begriffs Recht vertreten hat, zeigt sich daran, daß nach Windscheid „die Rechtsordnung" die „rechtliche Wirkung eintreten" lasse, „weil sie von dem Urheber des Rechtsgeschäfts gewollt" sei. Dies bedeutet, daß Windscheid von einer Staatsauffassung und damit einer Gesetzgebung ausgeht, für die die Anerkennung der individuellen Freiheit selbstverständlich ist. Windscheid hat dieses Leerwort „Rechtsordnung" denn auch nicht dazu benutzt, wie es i n heutigen Rechtslehren wieder gang und gäbe ist 9 1 , den Inhalt der rechtlichen Verhältnisse aus dem vermeintlichen, notwendig subjektiv gesetzten „Inhalt" einer absolut vorausgesetzten „Rechtsordnung" frei zu bestimmen. Ähnlich den klassischen römischen Juristen, die ihre als Wissenschaft betriebene Jurisprudenz fehlerhaft als „ars boni et aequi" bezeichneten, diese Leerwörter aber nicht zur Grundlage ihrer Rechtsauffassung machten, wurde bei Windscheid der Inhalt der rechtlichen Verhältnisse nicht aus der „Rechtsordnung" erklärt, sondern hat er eine fehlerhafte Bezeichnung für die Gesamtheit der rechtlichen Verhältnisse beibehalten 9 2 . b) Ein zweiter, wichtiger, der idealistischen Rechtsauffassung entstammender „Begriff" ist die bereits mehrfach zitierte Behauptung eines „Gesamtwillens" des Staates. aa) Wie wenig ein strenger Logiker wie Windscheid mit diesem „Begriff" zurechtkommt, weil er nicht definierbar, also auch nicht begründbar ist, belegt folgende Stelle eindrucksvoll, wenn Windscheid sagt: „Es gibt nicht bloß Einzel w i l l e n i n der Welt", „sondern auch Gesamtwillen. W i r schreiben der Korporation, der Gemeinde, dem Staat einen Willen zu. Ich weiß sehr wohl, daß ich hiermit ein Problem berühre, mit welchem die Wissenschaft seit Jahrhunderten ringt: wie ist es möglich, daß eine Gemeinschaft, welche kein Mensch ist, einen Willen hat, welcher von dem realen Willen der die Gemeinschaft bildenden Menschen verschieden ist? Ich darf an dieser Stelle auch nicht den Versuch machen wollen, etwas zur Lösung dieses Problems beizutragen: ich beschränke mich darauf, die Anerkennung der Tatsache zu konstatieren" 9 3 . bb) Den logischen Widerspruch, der i n der Auffassung eines von dem „realen (sie) Willen der die Gemeinschaft bildenden Menschen" „verschiedenen Willen" enthalten ist, hat Windscheid also durchaus erkannt. 91 Vgl. dazu näher Wolf, B G B A l l g . T., § 8 A I I ρ (373 ff.) wo die Auffassung Lehmann/Hübners zitiert w i r d , nach dem „der Parteiwille" „ n u r solche W i r k u n g e n herbeiführen" könne, „die die Rechtsordnung" anerkenne. 02 Vgl. auch Windscheid, Die actio (3): „Rechtsordnung ist die Ordnung der Rechte." 93 Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (102).

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

235

Daß er die „Zuschreibung" eines solchen Willens dennoch nicht verneint, sondern diesen als „Anerkennung einer Tatsache konstatiert" hat — was soviel heißt wie: i h n als gegeben geglaubt hat — liegt ein weiteres Mal i m Fehlen einer realistischen Ontologie begründet, ohne die natürliche rechtliche Verhältnisse nicht erkannt werden konnten — und dies war umso mehr der Fall, weil der Begriff „natürliches Recht" durch das idealistische „Naturrecht" für einen Rechtswissenschaftler der damaligen Zeit m i t einem denkbar negativen Inhalt versehen war. Da jede „Begründung" des Rechts aus der Moral zutreffend abgelehnt wird, kann ohne die Erkenntnis natürlicher rechtlicher Verhältnisse alles Recht nur als von Menschen hergestelltes, damit als von ihrem Willen abhängiges angesehen werden. Wäre die Existenz des Rechts aber tatsächlich von dem Willen jedes einzelnen Menschen abhängig, wäre es als solches von jedem einzelnen w i l l k ü r l i c h frei behauptbar: die Folge wäre die totale Anarchie und damit die Auflösung aller rechtlichen Verhältnisse 94 . Für den dogmatischen Positivisten ergibt sich daraus, daß das Recht als hergestelltes vom Willen der Menschen abhängt, aber zugleich nicht durch die W i l l k ü r des einzelnen bestimmt sein soll, von seinem Ausgangspunkt aus, ob ausgesprochen oder nicht, der „Schluß", daß es einen vom Willen der einzelnen Menschen verschiedenen Willen, der das Recht herstellt, einen „Gesamtwillen" geben muß, auch wenn er i h n nirgends empirisch nachweisen kann. Und weil er ihn empirisch nicht nachweisen kann, fingiert er ihn, indem er i h n dem Staat „zuschreibt". Dieser Staat soll aber seinerseits ebenfalls nicht zur willkürlichen Setzung des Rechts befugt sein — es w i r d vorausgesetzt, daß er die Freiheit des einzelnen unbedingt anerkennt und sich an die von der Rechtswissenschaft erkannten Begriffe hält. So sagt Windscheid 1884 i n seiner grundlegenden Rede über „Die Aufgaben der Rechtswissenschaft", die nach Wieacker als „Epilog des wissenschaftlichen Positivismus gelten" dürfe 9 5 : „Aus der Rechtswissenschaft" entlehne „der Gesetzgeber einen guten Teil der Begriffe, i n denen er seinen Willen zum Ausdruck" bringe. . . . Habe „nun die Rechtswissenschaft den Inhalt dieser Begriffe klar und erschöpfend" bestimmt, so „werde auch seine Anordnung klar und erschöpfend" sein 9 6 . Der dogmatische Positivist kommt von seinem Ausgangspunkt konsequent immer zu dem gleichen Widerspruch, wie verschieden er auch immer formuliert wird: alles Recht ist „Befehlsrecht" 97 . Der Staat wäre 94

Vgl. Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (105): „Nicht was ich für Recht" halte, sei „Recht". 95 Wieacker, Gründer u n d Bewahrer (192). 96 Windscheid, Reden u n d Abhandlungen (112). 97 Windscheid, zit. n. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (617) Fn. 79.

236

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

danach identisch mit absoluter Herrschaft 98 . Zugleich aber w i r d der „Befehlende" als dem „Befehlsempfänger" untergeordnet behauptet: „für diesen zugunsten des Berechtigten erlassenen Befehl" habe „die Rechtsordnung den Willen des Berechtigten selbst entscheidend (sie) gemacht 99 . c) Angesichts dieser Ausführungen ist es eine Entstellung des rechtswissenschaftlichen Positivismus, wenn Carl Schmitt behauptet, daß sich „der Positivist" „— dezisionistisch — der Entscheidung des jeweilig i m Besitz der Macht stehenden Gesetzgebers" unterwerfe, „weil dieser die alleinige Erzwingbarkeit verschaffen" könne. „Darin, daß er sich auf den Willen des staatlichen Gesetzgebers oder des staatlichen Gesetzes, auf eine i n einer tatsächlich vorhandenen »Staatsgewalt' sich äußernde und sich durchsetzende Entscheidung des staatlichen Gesetzgebers" berufe, sei „er, recfotsgeschichtlich betrachtet, an die i m 17. Jahrhundert entstandene dezisionistische Staatstheorie gebunden und" müsse „mit ihr entfallen" 1 0 0 . Die Behauptung Carl Schmitts, der Positivismus habe die Auffassung „Autoritas, non Veritas facit l e g e m " 1 0 1 vertreten, t r i f f t für den dogmatischen Positivismus gerade nicht zu. Dieser hat sich, auch wenn dies widersprüchlich geschieht, dafür ausgesprochen, daß „der Gesetzgeber" sich an die wissenschaftliche Rechtserkenntnis zu halten hat und daß für i h n der „Wille des Berechtigten selbst" bei einem Rechtsgeschäft „entscheidend" sei. Daß gleichzeitig alles Recht als „Befehlsrecht" aufgefaßt wird, Recht und Macht i n dieser Bezeichnung ineinsgesetzt werden, entstammt i n der Tat autoritärer Tradition — nämlich dem noch nicht vollständig überwundenen Naturrecht und vor allem der „historischen Rechtsschule". Die Behauptung Carl Schmitts und vieler anderer 1 0 2 , auf den rechtswissenschaftlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts ginge die Ineinssetzung von Recht und Macht zurück, damit sei er i m Unterschied zu den anderen Rechtslehren zu charakterisieren, ist eine unzutreffende Auffassung. Die Ineinssetzung von Recht und Macht gibt es i n der bezeichneten Weise bei dem rechtswissenschaftlichen Positivismus nur 98 Z u dieser Konsequenz, zu der die falsche Ineinssetzung von Recht u n d Befehl führt, vgl. Wolf, Das Recht zur Aussperrung (16 ff.). 99 Windscheid, Pandekten, zit. n. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (617) Fn. 79. 100 Carl Schmitt, Uber die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens (35, 38). 101 Leviathan, zit. nach Carl Schmitt, Über die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens (27) m. w . N. 102 v g L z . β . auch Larenz, Methodenlehre (40 f.), Hippel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken (196 f.); E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 15. K a p i t e l (625); Radbruch, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 107.

Α. I. Der dogmatische Positivismus:

nd

237

deshalb, weil er hierin die falschen Lehren seiner spekulativ verfahrenden Gegner, insbesondere Savignys, nicht hatte überwinden können. Dabei zeichnet ihn vor seinen Gegnern aus, daß er die Forderung nach einer wissenschaftlichen Erkenntnis des Begriffs Recht erhoben hat. Denn nichts anderes bedeutet es, wenn Windscheid 1 0 5 sagt, „eine Wissenschaft, welche darauf verzichten" wolle, „den Begriff ihres Gegenstandes zu bestimmen", würde „den Namen einer Wissenschaft nicht mehr verdienen". Diese Aussage allein belegt i m übrigen, daß der dogmatische Positivismus nicht von der Ineinssetzung von Recht und Macht ausgegangen ist — denn dann hätte sich jede Frage nach der wissenschaftlichen „Bestimmung" „des Gegenstandes" der Rechtswissenschaft erübrigt. I n den genannten K r i t i k e n des rechtswissenschaftlichen Positivismus w i r d der entscheidende Umstand verkannt, der dazu geführt hat, daß der Positivismus den Begriff Recht nicht hatte erkennen können. Der Begriff Recht als Allgemeinbegriff enthält notwendig andere (allgemeine) Merkmale, die keine Rechtsbegriffe sind. Die Erkenntnis dieser Begriffe kommt der allgemeinsten Wissenschaft, der Wissenschaft von den Seienden als Seienden (Ontologie) zu. Diese ist der Sache nach betroffen, wenn Windscheid der zutreffenden Ansicht ist, „der Jurist" sehe sich „vielfach genötigt, auf das Gebiet der Philosophie überzuschreiten und die Feststellung von Begriffen zu unternehmen, welche die Philosophie mit Recht auch als ihr gehörig i n Anspruch" nehme. Wenn sich i n dieser keine „festen und anerkannten Resultate" vorfanden, hängt dies damit zusammen, daß die spekulativen Philosophien unter Ontologie eine metaphysische Lehre verstanden. Der philosophische Positivismus verwarf die Ontologie, weil sie notwendig Metaphysik sei 1 0 4 . Wenn die Versuche des Positivismus, den Begriff Recht wissenschaftlich zu erkennen, übersehen werden, wenn das gleiche geschieht i n Bezug auf die Gründe seines Scheiterns, führt dies zu einer Fehlbeurteilung, die mindestens das eine zum Resultat hat: Idealistische Auffassungen, bei denen die Ineinssetzung von Recht und Herrschaft geschieht, folglich alles als Recht behauptet werden kann, was ein staatlicher Machthaber durchsetzen i n der Lage ist, erscheinen als Lehren, die die Identifizierung von Recht und Herrschaft überwinden. Damit w i r d nicht nur eine historische Erfahrung i n ihr Gegenteil verkehrt, sondern jeder wissenschaftliche Ansatz, insbesondere ein solcher, der „die Durchdringung des Gesetzes mit reinen Mitteln der Logik" betreiben w i l l , gerät i n den Verdacht, totalitäres Denken zu betreiben. Dabei 103 104

Siehe oben S. 228. Dazu s. oben S. 105.

238

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

sollte der Kampf, der i n der nationalsozialistischen Rechtsideologie gegen den Positivismus geführt wurde, zu denken geben. d) Damit der Staat nicht zum Willkürstaat wird, gibt es hinsichtlich der Rechtserkenntnis nur ein Mittel: die Rechtswissenschaft hat sich — hier sei noch einmal der Satz aus der „Programmrede" von 1889 zitiert — der „alleinigen" „Aufgabe" zu widmen, „scharfe Begriffe zu fassen und den Inhalt derselben darzulegen" — und dieses Programm haben sich die Juristen, die dem dogmatischen Positivismus zuzuordnen sind, voll zu eigen gemacht. Was darunter zu verstehen sei, hat Windscheid nicht allein i n seiner strengen Auslegungslehre deutlich gemacht. Von naturwissenschaftlich-exaktem Denken geprägt ist sein gesamtes Pandektenlehrbuch 1 0 5 , bei dem „er unermüdlich von Auflage zu Auflage am Wortlaut seiner Begriffsbestimmungen gefeilt", . . . „oft m i t einem kurzen Handgriff seine Formeln zurechtgerückt und präzisiert" habe 1 0 6 . Der Einfluß Windscheids und damit des dogmatischen Positivismus auf die deutsche Rechtswissenschaft und die Praxis war überragend. Windscheids „Lehrbuch der Pandekten" „beherrschte" nach Planck „die Universitäten und die Gerichtshöfe" 107 . Näher führt Erik Wolf dazu aus: „Tausende von deutschen Juristen haben i n Windscheids Vorlesungen gelernt, die Autorität des Gesetzes hochzuachten, sauber und gründlich und klar zu begründen, sich i m eigenen Urteil über rechtspolitische Fragen zurückzuhalten. Seine Ablehnung alles Verschwommenen und oberflächlichen, der Allerweltsbilligkeit und Phrasenhaftigkeit wirkte i n seiner Zeit frappierend; sie ist heute noch vorbildlich" 1 0 8 . Wäre dem so! Man vergleiche nur Wieacker 1 0 9 , der Windscheids Aussage, nach der „ »ethische, politische, volkswirtschaftliche Erwägungen'" „ , nicht Sache der Juristen als solchen'" seien, zitiert und fortfährt: „Dies alles" sei „es, was man als wissenschaftlichen Positivismus verurteilt" habe „und wovon uns heute nicht nur ein halbes Jahrhundert" trenne. „Denn heute" scheine „es aber selbstverständlich, daß dieser Standpunkt, der dem Juristen das A m t zum sozialen und politischen Handeln" abspreche, „eine beispiellose Verengung des Begriffs vom Recht" sei. Die Folge dieses „Standpunkts" ist, daß heute statt wissenschaftlicher Rechtserkenntnis „das Gefühl aller billig und gerecht Denkenden" gefragt ist: „Allerweltsbilligkeit 105 E i n hervorragendes Beispiel für diese Einstellungen ist der folgende Satz (zit. n. Stephanitz, Exakte Wissenschaft und Recht, S. 110, Fn. 394): eine Anfechtung sei „bei dem nichtigen Rechtsgeschäft nicht n u r nicht nötig, sondern nicht einmal denkbar." 106 So Wieacker, Gründer u n d Bewahrer (188). 107 Zit. nach E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 14. Kap. (613). 108 E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 14. Kap. (619). io» Wieacker, Gründer u n d Bewahrer (193).

Α. II. Der dogmatische Positivismus: Gerber, Laband

239

und Phrasenhaftigkeit" scheinen i n der heutigen Jurisprudenz weit verbreitet. I I . Der dogmatische Positivismus in der Staatsrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts

Die Begründung der Jurisprudenz als Wissenschaft durch den dogmatischen Positivismus blieb nicht auf das Privatrecht beschränkt. 1. Für das öffentliche Recht forderte Carl Friedrich von Gerber i n seinem Buch „Über öffentliche Rechte", das 1852 in seiner ersten Auflage erschien: „Die allgemeine Summe allgemeiner juristischer Begriffe, welche i m Privatrechte i n ihrer Einfachheit und ursprünglichen Reinheit zergliedert" werden, brauche „auch das Staatsrecht, und zwar i n ganz gleicher Weise; und selbst da, wo sie durch den verschiedenen materiellen Gehalt des letztern eine andere Richtung oder eine kompliziertere Gestalt" erhalten, werde „diese Beimischung nach den gleichen Grundsätzen exakter Interpretation und Konsequenz zur Geltung gebracht, welche für das Privatrecht ausgebildet" seien 1 1 0 . a) Anders als sogar Windscheid, der methodisch und sachlich, nicht aber rechtsphilosophisch gegen die Fehler der „historischen Rechtsauffassung" angegangen war, wandte sich Gerber ausdrücklich gegen diese „Methode", indem er die Auffassung vertrat, daß diese überhaupt keine „streng wissenschaftliche" sei: „Sie" verlasse „das Prinzip der Privatrechtswissenschaft und" setze „an seine Stelle das Prinzip der geschichtlichen Darstellung, welche ihren Stoff nicht als ein System privatrechtlicher Willensrichtungen, sondern als historisch hergebrachte Zustände" auffasse. „Sie" verzichte „als eine bloße Konstatierung geschichtlich gewordener Verhältnisse auf das, was man juristische Konstruktion" nenne. Der „Gegensatz" seiner Methode „zu jener anderen Methode" sei „nur der, daß sie ein juristisches, jene nur ein geschichtliches Prinzip" habe 1 1 1 . b) Zwar benutzt Gerber, wie auch Windscheid, fehlerhaft anstelle des Begriffs Erkennen den der „Konstruktion". Doch damit war wie bei Windscheid kein freies „Konstruieren" aus apriorischen, absoluten Voraussetzungen gemeint, sondern die „juristisch-dogmatische" Behandlung des Staatsrechts war „als methodologische Antithese" gegen die überkommene idealistische, irrationalistische Rechtsauffassung zu verstehen: „Dogmatik" werde „ . . . als reine, d.h. von allen ,nicht juristischen4 Elementen gereinigte Dogmatik verstanden; von der juristischen Auffassung waren damit die Geschichte, die Philosophie und vor allem 110 111

Gerber, Über öffentliche Rechte (30). Gerber, Abhandlungen (218 f.).

240

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

die politische Betrachtung des Staatsrechts grundsätzlich ausgeschlossen" 1 1 2 . c) Schon bei Gerber kommt sehr deutlich zum Ausdruck, daß der dogmatische Positivismus nicht von seinem Ansatz her Recht und staatliche Gesetzgebung ineinssetzt, sondern, i m Gegenteil, in der Rechtswissenschaft die Grundlagen dafür schaffen w i l l , diese fehlerhaften Ineinssetzungen von Recht und Gewalt, die auf die rationalistischen und idealistischen „Konstruktionen" zurückgehen, zu beseitigen. Dies spricht Gerber deutlich genug aus: „ . . . wo politisches und staatsphilosophisches Räsonnement die Stelle der juristischen Konstruktionen vertreten" müsse, gebühre „die letzte Entscheidung immer der Gewalt, der Zufall" möge „sie von dieser oder von jener Seite kommen lassen. Ein Staat, der nicht auf Rechte, sondern auf Meinungen gegründet" sei, könne „nur eine unsichere und schwankende Existenz haben" 1 1 3 . d) Die Beseitigung der Rechtserkenntnis von historischen Zufälligkeiten, die i m Privatrecht die große wissenschaftliche Leistung insbesondere Windscheids war, wurde nun auch für die Wissenschaft vom Staatsrecht gefordert, indem man eine „systematische Einheit des Rechts" schaffen wollte, die auf „eigenen, spezifisch juristischen Prinzipien" beruhe, und nicht auf Gesichtspunkten, welche, so bedeutend sie auch an sich sein" mögen, „doch nur der historischen oder sozialpolitischen Anschauung der Verhältnisse" angehören 114 . Die Trennung von Recht und Politik wurde als die Grundvoraussetzung erkannt, den Staat auf eine rechtliche Grundlage zu stellen, statt das Recht aus staatlicher W i l l k ü r „abzuleiten". Damit begann zugleich die wissenschaftliche Herausbildung der Merkmale des Rechtsstaats i n der Wissenschaft vom öffentlichen Recht. „ . . . die rechtlichen Grenzen, i n denen sich die Staatsgewalt bewegen" müsse, seien „genau bestimmt, und die Unterwerfung jedes Einzelnen unter die öffentliche Gewalt" finde „nur statt nach Maßgabe eben dieser Grenzen" 1 1 5 . e) Die sich als eigenständige Wissenschaft vom öffentlichen Recht entwickelnde Jurisprudenz schuf mit ihrer Trennung von Privatrecht und Staatsrecht zugleich die Voraussetzungen von ihrer Seite aus für die Überwindung der ständischen Herrschaft, indem sie die Identität von „Staat" und einem absoluten Machthaber von den Grundlagen her angriff. So nannte es Gerber ein „richtiges Streben", „den Staat auf eine objektive, selbständige Basis zu stellen, und ihn aus der unnatürlichen Verbindung mit der Person des Landesherrn i n der Form des 112 113 114 115

So zutreffend Wilhelm, Juristische Methodenlehre (135) m. N. Gerber, Über öffentliche Rechte (23). Gerber, System (20 f.). Gerber, Über öffentliche Rechte (63).

Α. II. £>er dogmatische Positivismus: Gerber, Laband

241

Privatrechts zu lösen" 1 1 6 . Zwar gelang durch die Vertretung der voluntaristischen These von der „Willensmacht des Staates" nicht gleich die vollständige Begründung des Staates als Rechtsstaat. Aber der Kontrapunkt insbesondere gegen die falsche geschichtliche Auffassung des Rechts war gesetzt, einer künftigen logischen Bearbeitung der öffentlichrechtlichen Verhältnisse der Weg gewiesen. 2. Seine Fortsetzung fand dieser Weg i n den methodischen Ausführungen zum Staatsrecht durch den Staatsrechtler Paul Laband. a) I n seinem Vorwort des ersten Bandes seines „Lehrbuchs des Staatsrechts", das i n der ersten Auflage 1876 erschien, führt Laband aus: „Durch die Praxis selbst" entstehen „ i n unerschöpflicher Fülle neue Fragen und Zweifel, welche nicht nach dem politischen Wunsch oder der politischen Macht, sondern nach den Grundsätzen des bestehenden Rechts entschieden werden" müssen 11 ' 7 . „ M i t einer bloßen Zusammenstellung der A r t i k e l der Reichsverfassung und der Reichsgesetze unter gewissen Überschriften" können „sie nicht gelöst werden; ebensowenig durch die Hinzufügung von Stellen aus den Motiven der Gesetzesvorlagen und aus den Verhandlungen des Reichstages, welche meistens doch nur Erwägungen de lege ferenda" enthalten. „Es" handele „sich vielmehr u m die Analyse der neu entstandenen öffentlich-rechtlichen Verhältnisse, u m die Feststellung der juristischen Natur derselben und u m die Auffindung der allgemeinen Rechtsbegriffe, denen sie untergeordnet" seien. „ . . . die wissenschaftliche Behandlung des Rechts" bestehe „eben darin, daß sie die Erscheinungen des Rechtslebens nicht nur" beschreibe, „sondern" erkläre „und auf allgemeine Begriffe" zurückführe 1 1 8 . Gegen die Ineinssetzungen von „Erwägungen de lege ferenda" mit „Recht" hat sich Laband damit ebenso gewandt wie gegen ein unsystematisches Sammeln von vermeintlichen Rechtssätzen — wie dies ein praktisches Resultat der historischen Rechtsschule" gewesen ist. b) Bei Laband kommt ebenfalls deutlich zum Ausdruck, welche Verfälschung — gewollt oder ungewollt — die Ineinssetzung der „axiomatischen" Jurisprudenz und der alogischen „Konstruktionsjurisprudenz" mit der „Begriffsjurisprudenz" darstellt, wenn Laband gegen das „schöpferische Konstruieren" sagt: „ . . . die Schaffung eines neuen Rechtsinstituts", „welches einem höheren und allgemeineren Rechtsbegriff überhaupt nicht untergeordnet werden" könne, sei „gerade so unmöglich, wie die Erfindung einer neuen logischen Kategorie oder 116 117 118

16 Tripp

Gerber, Über öffentliche Rechte (15). Laband, Staatsrecht, Aus dem V o r w o r t zur ersten Auflage (V f.). Laband, Staatsrecht, Aus dem V o r w o r t zur ersten Auflage (VI).

242

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

die Entstehung einer neuen N a t u r k r a f t " 1 1 9 . Die „juristische Behandlung des Privatrechts" war für Laband identisch mit der Erkenntnis von Rechtsbegriffen unter Anwendung logischer Gesetze — und damit war die Methode, die die Dogmatiker i m Privatrecht angewandt hatten, für die Staatsrechtswissenschaft, wie sie Laband forderte, richtungsweisend. c) Die Erfolge, die die dogmatischen Juristen des Privatrechts erzielt hatten und die Tatsache, wie sehr sie die Rechtswissenschaft ihrer Zeit beeinfluJßten, zeigen sich sowohl an den Gegnern Labands, die seine streng logisch ausgerichtete Wissenschaft als „zivilistische Methode" zu bekämpfen versuchten, als auch an den Ausführungen Labands selbst: „ . . . unter der Verurteilung der zivilistischen Methode" verstecke „sich oft die Abneigung gegen die juristische Behandlung des Staatsrechts, und indem man die Privatrechtsbegriffe vermeiden" wolle, verstoße „man die Rechtsbegriffe überhaupt, u m sie durch philosophische und politische Betrachtungen zu ersetzen. I m allgemeinen" habe „die Wissenschaft des Privatrechts vor allen anderen Rechtsdisziplinen einen so großen Vorsprung gewonnen, daß die letzteren sich nicht zu scheuen" brauchen, „bei ihrer reiferen Schwester zu lernen, und bei dem heutigen Zustande der staatsrechtlichen und insbesondere reichsrechtlichen Literatur" sei „weit weniger zu befürchten, daß sie zu zivilistisch, als daß sie unjuristisch" werde „und auf das Niveau der politischen Tagesliteratur" herabsinke 1 2 0 . d) I n dem Vorwort zur zweiten Auflage seines „Staatsrecht", die 1887 erschien, erläutert Laband den Begriff der Dogmatik wie folgt: „Die wissenschaftliche Aufgabe der Dogmatik" liege i n der Konstruktion der Rechtsinstitute, i n der Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeine Begriffe und andererseits i n der Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen. Dies" sei, „abgesehen von der Erforschung der geltenden positiven Rechtssätze, d. h. der vollständigen Kenntnis und Beherrschung des zu bearbeitenden Stoffes, eine rein logische Denktätigkeit. Zur Lösung dieser Aufgabe" gebe „es kein anderes Mittel als die Logik; dieselbe" lasse „sich für diesen Zweck durch nichts ersetzen; alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen — so wertvoll sie an und für sich sein mögen —" seien „für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang und" dienen „häufig nur dazu, den Mangel an konstruktiver Arbeit zu verhüllen." . . . Er (Laband) verstehe es „nicht, wenn jemand einer dogmatischen Behandlung es zum Vorwurf" mache, „daß sie mit logischen Schlußfolgerungen" operiere, „statt m i t historischen Untersuchungen und politischen Erörterungen". Laband wendet sich dabei gegen den 110 120

Laband, Staatsrecht, Aus dem V o r w o r t zur 1. Auflage (VI). Laband, Staatsrecht, Aus dem V o r w o r t zur ersten Auflage (VII).

Α. II. Der dogmatische Positivismus: Gerber, Laband

243

„Dilettantismus", „welcher einerseits mit einer gedankenlosen Zusammenstellung von Gesetzen und Gesetzgebungsmaterialien sich" begnüge, „andererseits banale Erörterungen der Tagespolitik, oberflächliche Zweckmäßigkeitserwägungen und aus dem Zusammenhang gerissene historische Notizen für staatsrechtliche Untersuchungen" ausgab 121 . Die Gegenüberstellungen von „gedankenlose Zusammenstellungen von Gesetzen und Gesetzesmaterialien" und „Zurückführung der einzelnen Rechtssätze auf allgemeine Begriffe" sowie „Herleitung der aus diesen Begriffen sich ergebenden Folgerungen" ; von „banalen Erörterungen der Tagespolitik, oberflächlichen Zweckmäßigkeitserwägungen und aus dem Zusammenhang gerissenen historischen Notizen" und „vollständige Kenntnis und Beherrschung des zu bearbeitenden Stoffes" mit dem „Mittel" „rein logischer Denktätigkeit" zeigen, daß die Durchsetzung des dogmatischen Positivismus i n der staatsrechtlichen Jurisprudenz identisch war mit ihrer Begründung als Wissenschaft. Und sie zeigen ein weiteres Mal, daß eine wissenschaftliche Rechtsauffassung den Angriff auf die Ineinssetzung von Recht und staatlicher Gewalt ist — denn nichts anderes konnten jene „Untersuchungen", die aus den „gedankenlosen Zusammenstellungen von Gesetzen und Gesetzesmaterialien" bestanden und die Laband bekämpft, zum Inhalt haben. M i t einer wissenschaftlichen Rechtserkenntnis, die sich — eben weil sie Wissenschaft ist — löst von „banalen Erörterungen der Tagespolitik" und „oberflächlichen Zweckmäßigkeitserwägungen" ist mindestens der erste Schritt getan, von „politischen" „Zweckmäßigkeitserwägungen" — die, als „Recht" ausgegeben, die Ineinssetzung von „Recht" mit dem, was vom Standpunkt eines als über dem Recht stehenden, damit notwendig absolut aufgefaßten Staates als „Recht" behauptet wird, bedeuten — und damit von der fatalen Ineinssetzung von Recht und Macht fortzukommen. Daß allerdings i n diesem echt „römischen" 1 2 2 Bestreben i n einem Gebiet, welches die Römer vernachlässigt hatten 1 2 3 , mit der Verwerfung der nur als idealistische oder nur als falscher Positivismus existierenden Philosophie die Philosophie überhaupt verworfen wird, ist ein für den rechtswissenschaftlichen dogmatischen Positivismus folgenschwerer I r r t u m gewesen. 121

Laband, Staatsrecht, V o r w o r t I X f. Gerade i n Bezug auf Laband vgl. Schulz, Prinzipien des Römischen Rechts (26): „ A u f dem Gebiete des öffentlichen Rechts" habe „die römische Isolierungsmethode noch einmal einen grossen T r i u m p h gefeiert: i n Labands-Staatsrecht. I n seiner strengen Sonderung des Rechts v o n den p o l i t i schen, wirtschaftlichen u n d sozialen Lebensverhältnissen, von den ökonomisch-politischen, ethischen und religiösen Anschauungen u n d Bestrebungen" sei „dieses Werk ein echt romanistisches Buch, obwohl der Verfasser, akademisch gesprochen, Germanist" war. 123 Vgl. oben S. 216 f. 122

16*

244

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

e) Äußerst aufschlußreich ist die Gegnerschaft Labands zu Georg Jellinek. Denn dieser w i r d von Carl Schmitt 1 2 4 als „Positivist des 19. Jahrhunderts", seine „Formel" von der „normativen Kraft des Faktischen" als für den Positivismus „typische Wendung" bezeichnet. Zu dieser „Formel" führt Jellinek näher aus: „Alles Recht i n einem Volke" sei „ursprünglich nichts als faktische Übung. Die fortdauernde Übung" erzeuge „die Vorstellung des Normmäßigen dieser Übung, und es" erscheine „damit die Norm selbst als autoritäres Gebot des Gemeinwesens, also als Rechtsnorm" 1 2 5 . Die „Formel" von der „normativen Kraft des Faktischen" ist unhaltbar. Sie scheitert aus dem dogmatischen Grund, daß Rechtswirkungen nur aufgrund eines rechtlichen Tatbestandes, nicht aber aus nichtrechtlichen Tatsachen entstehen können 1 2 6 . Rechtswirkungen, die ohne das Existieren eines sie begründenden rechtlichen Tatbestands als solche behauptet werden, sind „Rechtswirkungen" ohne „Recht". Die Lehre von der „normativen Kraft des Faktischen" ist damit keine Rechtstatsachenlehre. Denn auf rechtliche Tatsachen als Grund einer Rechtswirkung kommt es i n ihr gerade nicht an. Sie ist auch keine Tatsachenlehre, weil es Tatsachen, die nichtrechtlich sind, aber Recht hervorbringen sollen, nicht gibt. Was i n dieser Lehre als Bestimmung des „Rechts" übrig bleibt, ist seine jederzeit beliebige Behauptung oder Vereinbarkeit, ist eine Macht, die diese Rechtsbehauptung oder »Verneinung durchzusetzen i n der Lage ist. Die Ausführungen Jellineks zur „Formel von der normativen Kraft des Faktischen", nach denen alles Recht aus „faktischer Übung" besteht, also Gewohnheitsrecht ist, sind ebenfalls unzutreffend. Daß es bei der Annahme eines Rechts aus „Gewohnheit" oder aus „Übung" kein Merkmal für Recht und Unrecht gibt, Recht und Unrecht also verneint werden und an die Stelle des Rechts ein „autoritäre Gebote" aussprechender Herrscher t r i t t , wurde bei den Darlegungen zur „historischen Rechtsschule" ausgeführt 1 2 7 und w i r d von Jellinek klar ausgesprochen. Und nichts anderes als die Ideologie der „historischen Rechtsschule", nach der „alles Recht auf die Weise" entsteht, „welche der herrschende, nicht ganz passende Sprachgebrauch als Gewohnheitsrecht" bezeichnet, stellt die Lehre von der „normativen Kraft des Faktischen" dar. M i t rechtswissenschaftlichem Positivismus hat dieser Irrationalismus nicht das geringste zu tun. 124

Carl Schmitt, Über die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens (36). 125 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (339). 126 Vgl. hierzu u n d zum folgenden Wolf, B G B A l l g . T., § 17 Β I I (671 ff.). 127 Siehe oben S. 189 f.

Α. II. Der dogmatische Positivismus: Gerber, Laband

245

Daß eine derartige totalitäre Rechts- und Staatsauffassung dem rechtswissenschaftlichen Positivismus vollkommen entgegensteht, läßt sich an dieser Stelle durch Laband eindeutig belegen. Dieser zitiert Jellinek wie folgt: „,Alle Vorgänge, durch welche die Schöpfung eines Staates erfolgt, entbehren der juristischen Qualifikation, es sind Fakta, welche historisch, aber nicht mit einer juristischen Formel begriffen werden können'." „ , Das wesentlichste Moment i m Begriffe des Staates ist, daß er Ordnung ist, und eine Ordnung vor der Ordnung ist ein Widerspruch i n sich selbst. Daher ist die erste Ordnung, die erste Verfassung eines Staates juristisch nicht weiter ableitbar" 1 2 8 . Nach dieser Auffassung Jellineks kann jeder Staat seine „Ordnung" frei, d.h. willkürlich, ohne Rücksicht auf real existierende rechtliche Verhältnisse setzen, ist jedes Unrecht, das mit der Staatsgewalt durchgesetzt wird, als „Ordnung" und infolgedessen scheinbar als „Recht" behauptbar. Damit wäre auch die Nichtanerkennung personhafter Ordnungsverhältnisse „Ordnung", was widersinnig ist. Die von Laband zitierten Ausführungen Jellineks entsprechen damit genau dem, was die „Formel von der normativen Kraft des Faktischen" besagt. Dieser Variante des Versuchs, das „Recht" aus dem Staat „abzuleiten", hält der dogmatische Rechtswissenschaftler Laband entgegen: „Die erste Ordnung oder Verfassung eines Staates" sei „aus der von ihm (Hervorhebung Labands, D. T.) gesetzten Rechtsordnung nicht ableitbar; die Entstehung des Staates an sich, d.h. die Entwicklung einer öffentlichen Gewalt aus einem vorstaatlichen, der Rechtsordnung überhaupt baren Zustande" sei „daher juristisch unerfaßbar." Es sei nicht „rechtlich unerheblich, und gleichgültig", „ob die Staatsgründung ein rechtmäßiger oder rechtswidriger A k t gewesen" sei. — Das heißt, daß es nach Laband widersinnig ist, den Staat aufgrund der von i h m selbst gesetzten „Ordnung" als Rechtsstaat zu bezeichnen, sondern daß dem Staat von i h m unabhängig rechtliche Verhältnisse vorausgesetzt sind, aufgrund deren seine Gründung „als Usurpation, Revolution, Gewaltakt und Rechtsbruch oder als legitime, ihre Kraft aus dem Recht herleitende Handlung erkennbar i s t " 1 2 9 . Was Recht ist, bestimmt nach dieser Ansicht nicht der Staat, sondern für diese Ansicht ist er an Gesetz und Recht gebunden und nur eine solche Verfassung kann rechtmäßig sein, die dies anerkennt — dies ist die Auffassung des rechtswissenschaftlichen Positivismus, m i t der die autoritäre und totalitäre Staatsauffassung Jellineks bekämpft wird. Die „ K r i t i k " Carl Schmitts an dem juristischen Positivismus des 19. Jahrhunderts erweist sich da128 Jellinek, Die Lehre v o n den Staatenverbindungen; zit. nach Laband, Staatsrecht, § 2 (35). 129 Vgl. zum Vorstehenden Laband, Staatsrecht, § 2 (35).

246

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

mit ein weiteres Mal als eine Verkennung, um nicht zu sagen Verfälschung, des Positivismus und der Rechtswissenschaft. Daß der dogmatische Positivismus aus der Staatslehre eine Wissenschaft gemacht hat, der sich wesentlich die Schaffung einer ersten demokratischen Verfassung verdankt — wenn sie auch nicht mehr i m 19. Jahrhundert zustandekam — konnte einem K r i t i k e r nicht passen, der eine Ideologie vertrat, die zur Zerstörung eben dieser Verfassung und darüber i n den totalen Staat führte. I I I . Der dogmatische Positivismus des Strafrechtlers Adolf Merkel

I n das Strafrecht wurde der dogmatische Positivismus durch Adolf Merkel mit seiner Programmschrift aus dem Jahre 1874 „Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur »positiven Rechtswissenschaft'" eingeführt. Schönfeld hat über ihn ausgesagt, daß „ m i t i h m nicht nur jede Naturrechtslehre, sondern auch die Historische Rechtsschule zu Grabe getragen sei, weil jede Metaphysik für unmöglich erklärt" sei, „auch die des Volksgeistes, den es nicht geben" könne 1 3 0 . Dies ist zutreffend, soweit man Merkels Ausführungen zu einer logischen, wissenschaftlich exakten Philosophie zugrundelegt, nicht zutreffend für Merkels Lehren zur „Ethik" i m Strafrecht und zu dem „Entwicklungsgedanken", den er als Verehrer J. St. Mills einen „zentralen Gedanken der modernen Wissenschaft nennt". Zwar hatte schon Windscheid die Frage nach den allgemeinen Grundlagen des Rechts gestellt, indem er die Auffassung vertrat, daß „sich der Jurist" „vielfach genötigt" sehe, „auf das Gebiet der Philosophie überzuschreiten und die Feststellung von Begriffen zu unternehmen, welche die Philosophie mit Recht auch als ihr gehörig in Anspruch" nehme 1 3 1 und hatte sich ζ. B. Gerber nur gegen die „sogenannten (Hervorhebung von mir, D. T.) philosophischen Einleitungen" gewandt, „ m i t welchen die Schriftsteller über Staatsrecht ihren Arbeiten bisher einen besonderen Schmuck zu geben" vermeinten, während „das System des Staatsrechts selbst" „dazu bestimmt" war, dasjenige i n den philosophischen Einleitungen zu ergreifen und selbständig zu entwickeln, was »wirklich juristischer Natur' w a r " 1 3 2 . Aber mangels „fester und anerkannter Resultate" i n der „philosophischen Lehre", auf denen die Juristen hätten aufbauen und zur vollständigen Erkenntnis des Begriffs Recht und anderer allgemeiner Begriffe insbesondere der Rechtsontologie hätten gelangen können, hat 130

Hierzu u n d zum folgenden vgl. Schönfeld, Grundlegung, §56 (512 f.) m. N. 131 Windscheid, Pandekten (6). 132 Vgl. W i l h e l m , Methodenlehre (138).

Α. III. Der dogmatische Positivismus: Merkel

247

es nennenswerte Ansätze der dogmatischen, realistischen Richtung i n der Rechtswissenschaft, zu einer positivistischen, empirischen Philosophie zu gelangen, i m allgemeinen nicht gegeben. Umso bemerkenswerter sind die Ausführungen Merkels zur „Rechtsphilosophie" und ihrem Verhältnis zur „,positiven' Rechtswissenschaft". Merkel sagt dazu folgendes: „Die dogmatische Arbeit" sehe „sich an zahlreichen Punkten, nicht durch die subjektive Meinung des betreffenden Gelehrten, sondern durch den objektiv begründeten Gang der Untersuchungen auf allgemeinere Fragen und auf die erneuerte und eindringendere Prüfung allgemeinerer Begriffe, mit denen w i r als gegebenen Größen zu operieren uns gewöhnt" hatten, hingeführt 1 5 3 . „Bei ernsterer Prüfung" ergebe „sich hierbei, daß w i r weder mit dem Begriff des Verbrechens, noch mit dem der Rechtsverletzung auf völlig sicherem Boden" stehen, „und das Gleiche" ergebe „sich, wenn w i r zu den höheren Begriffen" vordringen, „denen sich jene" unterordnen. „So" führe „uns die aufgeworfene Frage über die Grenzen des Sondergebiets hinaus, welchem sie i n ihrer ursprünglichen Fassung" angehöre, „und i n den Bereich von Problemen ein, welche eine Beziehung auf das Ganze der Rechtswissenschaft" haben „und hinsichtlich welcher deshalb eine Kooperation von Vertretern der juristischen Teildisziplinen eintreten" sollte 1 3 4 . Die „philosophische" „Tätigkeit" vermittele „jene Erkenntnis" „des Zusammenhangs" „unter unseren Beobachtungen und Kenntnissen", „indem sie die Elemente" bestimme, „auf welche die Erscheinungen eines betreffenden Gebietes zurückzuführen" seien, „und das allgemeine Verhalten dieser Elemente und ihrer Verbindungen zueinander" feststelle 135 . I n diesen Ausführungen w i r d die Erkenntnis ausgesprochen, daß es ohne eine allgemeinere Wissenschaft als die Rechtswissenschaft eine sichere Rechtserkenntnis nicht gibt. Es w i r d i n ihnen deutlich, daß die konsequente dogmatische Arbeit des dogmatischen Positivismus dazu geführt hat, daß die durch die einzelne Sachwissenschaft gegebenen Grenzen der durch sie erfaßbaren Begriffe erkannt wurden. Darin, daß Merkel zunächst das Eintreten „einer Kooperation von Vertretern der juristischen Teildisziplinen" verlangt und dann für die „Erkenntnis" des Zusammenhangs" „unter unseren Beobachtungen und Kenntnissen" eine „philosophische Tätigkeit" für erforderlich hält, vollzieht er nach, daß die Erkenntnis von Begriffen die allgemeinerer Begriffe voraussetzt, die wiederum nur aufgrund noch allgemeinerer Begriffe erkennbar sind usw. Wenn er also sagt, daß man bei der „Prü133 134 135

Merkel, Rechtsphilosophie (293). Merkel, Rechtsphilosophie (294). Merkel, Rechtsphilosophie (296 f.).

248

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

fung" von Rechtsbegriffen nicht „auf völlig sicherem Boden" stehe „und das Gleiche" ergebe „sich, wenn w i r zu den höheren Begriffen" „vordringen", so spricht er damit der Sache nach aus, daß es eine Begriffspyramide gibt und daß die Begriffe, die „höhere", d.h. allgemeinere sind als die Rechtsbegriffe, die auf diese allgemeineren Begriffe „zurückführbar" sind, nur von einer allgemeineren Wissenschaft als die Rechtswissenschaft es ist, „festgestellt" werden können. Schon die A r t und Weise, wie Merkel von den Begriffen ausgehend zur Notwendigkeit einer Philosophie gelangt, schließt aus, daß sie eine spekulative sein kann. Merkel läßt denn auch keinen Zweifel daran, daß er die Neubegründung einer von den ,positiven Erscheinungen 1 ausgehenden, einer wissenschaftlichen Philosophie für erforderlich hält: „Es" gab „eine Zeit, wo dem Witzworte eine gewisse Berechtigung zuzuerkennen" war: „daß der philosophierende Deutsche, u m das Wesen des Kamels zu bestimmen, nicht etwa das lebendige Tier" beobachte, „sondern, abgekehrt von der »positiven Erscheinung', aus der Tiefe seines Gemüts" schöpfe. „Gegenwärtig möchte i h m diese Berechtigung nicht mehr zuzuerkennen sein. Doch" geschehe „es i n unserem Bereiche noch immer, daß man die Erkenntnis des Wesens der rechtlichen Institutionen nicht aus deren geschichtlicher Existenz, sondern anderswoher, etwa ,aus der Idee und dem Ideale der Menschheit und der menschlich-gesellschaftlichen Lebensbestimmung' zu gewinnen" trachte, „ja an einer besonderen Disziplin" festhalte, „welche aus solchen, außerhalb der »positiven Erscheinung des Rechtes' oder, was hier dasselbe" sei, „jenseits der Grenzen des wirklichen Rechtslebens fließenden Quellen ihren Inhalt und die Erkenntnis der ,Idee des Rechts' zu schöpfen sich angewiesen" sehe 156 . „Die Aufgabe der Philosophie" sei „nicht dah i n zu bestimmen, daß sie der wirklichen Welt eine andere, von ihr konstruierte, gegenüberzustellen" habe. „Vielmehr" liege „ihr Ziel wie das der Wissenschaft überhaupt nur darin, die Welt, wie sie" sei, „zu begreifen" 1 5 7 . „Die philosophische Arbeit" sei „ein allgemeines Element der wissenschaftlichen Tätigkeit, welches i n keinem Gebiete derselben sich zurückweisen oder ausscheiden" lasse. „Die Frage, ob dieses Element i m Bereiche der Jurisprudenz Geltung" habe, sei „daher identisch mit der Frage, ob dieselbe als Wissenschaft anzuerkennen" sei. „Das Nämliche" gelte „hinsichtlich sämtlicher Teile unserer Disziplin. Die philosophische Richtung und Arbeit" haben „zu allen das gleiche prinzipielle Verhältnis" 1 5 8 .

136 137 138

Merkel, Rechtsphilosophie (313). Merkel, Rechtsphilosophie (319). Merkel, Rechtsphilosophie (297).

Β. Höhepunkt und Ende des dogmatischen Positivismus

249

Diese Bemerkungen Merkels belegen, welch geringes Ansehen die idealistische Philosophie i m letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bei den dogmatischen Positivisten genoß. Daß ein Idealismus mit der „Erkenntnis des Wesens der rechtlichen Institutionen" nichts zu t u n haben konnte, war für Wissenschaftler, die das Scheitern der idealistischen Philosophie erlebt hatten, offensichtlich so selbstverständlich, daß man sich auf diesbezügliche „Witzworte" beziehen konnte. Daß Merkel selbst idealistische Vokabeln der „historischen Rechtsschule" verwendet, wenn er von „wirklichem Rechtsleben" spricht oder wenn er die Ansicht äußert, die „Erkenntnis des Wesens der rechtlichen Institutionen" sei „aus deren geschichtlicher Existenz" zu „gewinnen", tut dem keinen Abbruch: Die genannten Vokabeln sind hier offensichtlich nicht i n idealistischer Bedeutung gemeint. Eine „Philosophie", die „die Welt, wie sie ist", begreife, vom Standpunkt wissenschaftlicher Rechtserkenntnis gefordert zu haben, ist das Verdienst Merkels; daß es zu einer solchen nicht rechtzeitig gekommen ist, ist der Grund dafür, daß der Idealismus seine Wiederkehr in die Rechtslehre betreiben konnte. B. Höhepunkt und Ende des dogmatischen Positivismus

I. „Daß sich" „die Atmosphäre" der „positivistischen Denkweise ganz allgemein" „auf dem Gebiet der Jurisprudenz ausgewirkt" h a t 1 5 9 , läßt sich allein schon an der hohen Wertschätzung der Begriffsjurisprudenz ablesen, die dieser i m letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts zukam. So schreibt Rudolf Sohm, der als Nichtständiges Mitglied der 2. Kommission an der Erarbeitung des Bürgerlichen Gesetzbuches mitgewirkt hat: „Die Begriffsjurisprudenz" sei „das erste, was die Juristen" mache. „Darum" müssen „unsere juristischen Lehrbücher an erster Stelle begriffswissenschaftlich sein. I n der Hauptsache auch unsere akademischen Vorlesungen.. ." 1 4 °. Sei „unsere Rechtswissenschaft an erster Stelle Begriffsjurisprudenz, so" müsse „auch unsere Rechtsprechung, die Rechtsprechung des gelehrten Richters, durch die Begriffsjurisprudenz bestimmt werden. Die Begriffsjurisprudenz, und nur die Begriffsjurisprudenz" vermittele „wie der Wissenschaft so dem Richter die geistige Herrschaft über den i n unzähligen Gesetzen angehäuften Stoff. Spielend" bewältige „er die Gesetzesbände. Sie" seien „ i h m federleicht. Er" gebiete „über die ihren Inhalt bändigenden Gedanken" 1 4 1 . Diese Ausführungen belegen eindrucksvoll, welches Ansehen das begriffliche und logisch exakte, i n diesem Sinn naturwissenschaftliche 139 140 141

So Tsatsos, Z u r Problematik des Rechtspositivismus (14). Sohm, Über Begriffsjurisprudenz, in: Festgabe DJZ (Sp. 175). Sohm, Über Begriffsjurisprudenz, in: Festgabe DJZ (Sp. 175).

250

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

Denken genoß, und welche Anforderungen infolgedessen an die Rechtswissenschaft und insbesondere auch an die Rechtsprechung gestellt wurden i n einer Zeit, i n der das Bürgerliche Gesetzbuch geschaffen wurde. Das Zitat Sohms belegt auch, daß sich der dogmatische Positivismus bis gegen Ende des Jahrhunderts erfolgreich behauptet hat gegen Bestrebungen, ein „richterliches Recht", das als solches nicht an Recht und Gesetz gebunden ist, an die Stelle richterlicher Rechtserkenntnis zu setzen. Daß er sich damit gegen eine gesetzes- und rechtsfeindliche Grundeinstellung durchzusetzen hatte, belegen unfreiwillig auch die Ausführungen Oskar Bülows, einem der ersten Vertreter eines angeblichen Richter rechts: „Durch das Gesetz" bestimme „die Staatsgewalt, was als Recht gelten" solle. „Aber es sei noch kein geltendes Recht, es" sei „nur ein Plan, nur der Entwurf einer zukünftigen, erwünschten Rechtsordnung, was der Gesetzgeber von sich aus fertig zu bringen" vermöge. „Das richterliche Urteil" gründe „sich zwar wie jede besonnene Willensäußerung auf eine Denktätigkeit, es" enthalte „und" bedeute „aber eine Rechtsbestimmung, eine Rechtsordnung". „Es" sei „eine Willenserklärung, und zwar, ähnlich wie das Gesetz, eine von der Staatsgewalt erlassene Willenserklärung" 1 4 2 . I n diesen Ausführungen t r i t t i n aller Klarheit zutage, auf welche Rechts- und Staatsauffassung die Behauptung eines „Richterrechts" zurückgeht. Bülow setzt fehlerhaft ineins: „Gesetz" und Staatsgewalt; „Recht" und das, „was als Recht gelten soll"; „Gesetz" und „Enwurf einer zukünftigen, vom Gesetzgeber erwünschten Rechtsordnung" (damit werden „Gesetze" ohne bestimmten Inhalt behauptet, was begrifflich unmöglich ist); „richterliches Urteil" und „Rechtsanordnung" (damit werden richterliches Urteil und „Rechtsbefehl" ineinsgesetzt); „Gesetz", „richterliches Urteil" und „Willenserklärung" des Staates. Alle diese falschen Identifikationen belegen, daß die Lehre vom „richterlichen Recht" einer verfehlten autoritären „Rechts-" und „Staatsauffassung" entspricht, der die ihrem Ansatz nach rechtsstaatlichem Denken entsprechende vom rechtswissenschaftlichen Positivismus vertretene Auffassung vom gesetzlich gebundenen wissenschaftlichen Richtert u m entgegensteht 143 . 142

Bülow, Gesetz u n d Richteramt (2, 3, 6). Zuzustimmen ist Eberhard Schmitt (Gesetz u n d Richter (21)), w e n n dieser zu dem Verhältnis v o n Gesetzgebung u n d Richteramt ausführt: „Es" gäbe „ f ü r Ansehen u n d Unabhängigkeit der Justiz k a u m eine größere Gefahr als die, daß m a n sich i m Volke an den Gedanken" gewöhne, „gerade des Richters A m t sei es, bei jeder Gelegenheit den Gesetzgeber zu korrigieren, er sei der Herr des Gesetzes und" „er versage, w e n n die A n w e n d u n g eines Gesetzes ein irgendwie unerwünschtes Ergebnis zeitige". „ B e i den zur Gesetz143

Β. Höhepunkt und Ende des dogmatischen Positivismus

251

II. Ganz der wissenschaftlichen Grundeinstellung des rechtswissenschaftlichen Positivismus entsprungen ist das Bürgerliche Gesetzbuch, das am 1.1.1900 i n Kraft getreten ist. Alle wesentlichen wissenschaftlichen Grundlagen des Bürgerlichen Gesetzbuches wurden bereits bei der Erstellung des 1887 veröffentlichten „Entwurfs eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich" (Erster Entwurf) erarbeitet. Und i n der dafür zusammengestellten Kommission war Windscheid die überragende wissenschaftliche Persönlichkeit. „Sämtliche Mitglieder" standen nach Erik W o l f 1 4 4 „unter seinem zwingenden Einfluß. So" dürfe „man sagen, daß die Lehrhaftigkeit, der viel bekämpfte ,Doktrinarismus' des Bürgerlichen Gesetzbuchs von Windscheid" stamme. Und Erik Wolf zitiert in diesem Zusammenhang Otto Bähr, der folgende Ansicht äußerte: „Der Entwurf ist ein doktrinäres Werk, er steht unter der Herrschaft eines Lehrbuchs, ist ein kleiner Windscheid. Was nicht i m Windscheid steht, fehlt auch i m Gesetzbuch" 1 4 5 . Diesem „Doktrinarismus" vedankt das Bürgerliche Gesetzbuch seine i h m auch von seinen K r i t i k e r n zugestandenen Vorzüge, die sämtlich ausschließlich zugleich die Vorzüge des dogmatischen Positivismus sind, nämlich seine „begriffliche Disziplin, pädagogische Übersichtlichkeit, Allgemeingültigkeit sowie »innere Wahrheit und Folgerichtigkeit'" 1 4 6 . Bei Otto v. Gierke kommt zutreffend zum Ausdruck, wie sehr es dem dogmatischen Positivismus darauf ankam, die Rechtswissenschaft zu einer den Naturwissenschaften ebenbürtigen Wissenschaft zu erheben: „Die Kommission" habe „offenbar dem sprachlichen Ausdruck ihre besondere Sorgfalt zugewandt. Sie" habe „sich i n erster Linie bemüht, eine feste und möglichst eindeutige Terminologie zu schaffen und festzuhalten; soweit es ausführbar war", seien „dieselben Wörter und Wortverbindungen immer i n dem gleichen Sinne und für denselben Begriff gebung berufenen P o l i t i k e r n " für die Schaffung der „unentbehrlichen positiven Gesetze" „das Gefühl der Verantwortung zu schärfen, aber auch der öffentlichen Meinung u n d ihren mehr oder weniger berufenen W o r t f ü h r e r n beizubringen, daß für Versager des Gesetzgebers nicht der Richter u n d i m mer n u r der Richter als Sündenbock herzuhalten" habe, „das" sei „bei den Interessengegensätzen der Parteien u n d bei der Skrupellosigkeit, m i t der sie verfochten" werden, „notwendiger als alles andere", solle „das richterliche A m t überhaupt noch m i t tragbarer Verantwortung verbunden sein". — Dem ist — knapp dreißig Jahre nach Veröffentlichung dieses Vortrags — nichts hinzuzufügen. 144 E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 14. Kap. (613). 145 E r i k Wolf, Große Rechtsdenker, 14. Kap. (580). Vgl. auch Wieacker, P r i vatrechtsgeschichte der Neuzeit, §25 (468), der den Ersten E n t w u r f „ein charakteristisches Dokument des n u n zu Ende gehenden rechtswissenschaftlichen Positivismus" nennt. 146 So Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, § 25 I I I 4 (477).

252

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

stets die gleichen Wörter und Wortverbindungen gebraucht. Hierbei" habe „sie regelmäßig Wörtern deutscher Herkunft vor Fremdwörtern den Vorzug gegeben. Sodann" habe „sie wenigstens insofern nach Kürze gestrebt, als sie nach Möglichkeit sich i n der Aufstellung bloß belehrender Sätze enthalten und ebenso jede eigentliche Kasuistik vermieden" habe. „ I m übrigen" habe „sie weniger auf Knappheit, als auf Genauigkeit des Ausdrucks gesehen. Sie" habe „versucht, die Rechtssätze so zu formulieren, daß sie alles Unbestimmte und Dehnbare" verlieren „und keinerlei Zweifeln mehr Raum" lassen, „insbesondere schon dem Wortlaut nach jeden denkbaren Fall, den sie mitumspannen" sollen, einschließen. Als das freilich unerreichbare Ideal" scheine „ i h r die Erhebung des Rechtssatzes auf die Stufe der mathematischen Formel vorgeschwebt zu haben 1 4 7 . Und eher schon wie eine Untertreibung klingt es, wenn man i n den „Motiven" zum Ersten Entwurf liest: „Gegenüber der Verherrlichung, welche" dem Gewohnheitsrecht „unter dem Einflüsse der historischen Schule mannigfach zuteil geworden", verschließe „man sich neuerdings der Erkenntnis nicht, daß das Recht durch seinen Übergang vom Gewohnheitsrecht zum Gesetzesrecht einen wesentlichen Fortschritt" mache 1 4 8 . Eine ins einzelne gehende Untersuchung der Auswirkungen des „Doktrinarismus" des Bürgerlichen Gesetzbuchs und der seiner „Erhebungen der Rechtssätze auf die Stufen" „mathematischer Formeln" i n sachlicher Hinsicht würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß i n der Realen Rechtslehre Ernst Wolfs 1 4 9 der Nachweis erbracht ist, daß sämtliche wissenschaftliche Grundlagen des Bürgerlichen Gesetzbuches ontischen und damit realen Gegebenheiten entsprechen, die nicht verneint werden können ohne die Verneinung der Logik und des Denkens überhaupt 1 5 0 . Und mit eben dieser Verneinung hat der Kampf gegen das Bürgerliche Gesetzbuch, der schon vor seinem Inkrafttreten m i t Vehemenz geführt wurde, historisch begonnen. Besonders deutlich läßt sich dies bei dem wichtigsten Wortführer des Kampfes gegen das Bürgerliche Gesetzbuch, Otto v. Gierke, nachweisen. „Durch und durch" strotze „der Entwurf vor Gelehrsamkeit. Juristischer Feinheiten, kunstvoller Konstruktionen, sauberer Unterscheidungen" sei „er v o l l " 1 5 1 . Der Entwurf sei „nicht deutsch, . . . nicht volkstümlich, . . . nicht schöpferisch — und der sittliche und soziale Beruf 147

Gierke, E n t w u r f (27). Mugdan, Materialien I, Motive (361). 149 Vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., Schuldrecht, Bd. I u n d I I , Sachenrecht. 150 Z u der der Realen Rechtslehre zugrundeliegenden empirisch-realistischen Ontologie s. ο. S. 23 ff. 151 Gierke, E n t w u r f (2). 148

Β. Höhepunkt und Ende des dogmatischen Positivismus

253

einer neuen Privatrechtsordnung" scheine „ i n seinem Horizont überhaupt nicht eingetreten zu sein" 1 5 2 . „ M i t jedem seiner Sätze" wende „dieses Gesetzbuch sich zu den gelehrten Juristen, aber zum deutschen Volke" spreche „es nicht — nicht zu seinen Ohren, geschweige denn zu seinem Herzen. I n kahle Abstraktionen" löse „es auf, was von urständigem und sinnfälligem Rechte noch unter uns" lebe; „starrem Formalismus und dürrem Schematismus" opfere „es den Ideenreichtum und die organische Gestaltenfülle unserer vaterländischen Rechtsbildung. Und arm, unbeschreiblich arm" erweise „es sich an schöpferischen Gedanken". „Nur aus Lebendigem" gehe „Lebendiges hervor. Wahrhaft Lebendiges" werde „kein Gesetzgeber schaffen, der sich gegen den frischen Lebensquell alles Lebens" verschließe 153 . I n diesen Ausführungen lassen sich unschwer die Grundgedanken der „historischen Rechtsauffassung" wiedererkennen. Sie sind insbesondere i n der Ineinssetzung von Recht und Sittlichkeit, Recht und „volkstümlich", also „Volksrecht", „organische Gestaltenfülle" der „Rechtsbildung", „Recht" und „Leben", sowie i n der mit der Forderung nach einem „schöpferischen" Entwurf und einem „Gesetzgeber", der sich nicht „gegen den frischen Lebensquell alles Lebens" verschließe, ausgesprochenen absoluten, permanenten Rechtsfortbildung enthalten. Von diesem Standpunkt werden begriffliches Denken als „kahle A b straktion", die Logik als „starrer Formalismus", die Systematik des Bürgerlichen Gesetzbuches als „dürrer Schematismus" bezeichnet, w i r d folglich versucht, eine antibegriffliche, antilogische, damit irrationalistische Rechtslehre dem Bürgerlichen Gesetzbuch und dem dogmatischen Positivismus entgegenzusetzen. Nicht nur hieran w i r d deutlich, daß die i m Schrifttum unternommenen Versuche, die Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs auch auf die „historische Rechtsschule" zurückzuführen, den geschichtlichen Tatsachen völlig widersprechen. Der Gegensatz der führenden Rechtswissenschaftler der damaligen Zeit zu Lehren der „historischen Rechtsschule" wurde klar erkannt. Es geht dies besonders schlagend aus einem Dokument hervor, das die von einem Mitglied der 2. Kommission, Jacubecky, entworfene ablehnende Stellungnahme des bayr. Justizministers Leonrad vom 27.11.1890 zur geplanten Wahl Gierkes i n die 2. Kommission belegt. Darin heißt es unter anderem: „Das unterfertigte K. Staatsministerium ist der Überzeugung, daß die Beratungen der Kommission einen förderlichen Verlauf und das gewünschte Ergebnis nur versprechen, wenn der i n erster Lesung fertiggestellte Entwurf als Grundlage des künftigen Gesetz152 153

Gierke, E n t w u r f (2). Gierke, E n t w u r f (3).

254

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismus

buches, wozu er nach der Ansicht der verbündeten Regierungen und der überwiegenden Mehrzahl der K r i t i k e r tauglich ist, angesehen und von dem Versuche, durch kühne Schöpfungen dem bürgerlichen Rechte eine von der jetzigen wesentlich verschiedene Gestalt zu geben oder gar mit den von der bisherigen Rechtswissenschaft geformten Rechtsbegriffen die Grundlagen der juristischen Technik i n Frage zu stellen, abgestanden w i r d " 1 6 4 . — Damit w i r d nicht mehr und nicht weniger ausgesagt, als daß die der „historischen Rechtsauffassung" entsprechenden Lehren die Zerstörung des Bürgerlichen Gesetzbuches i n seinen Grundlagen bedeutet hätten. I I I . Führend i n der Verteidigung der Grundlagen des Bürgerlichen Gesetzbuchs und damit auch des dogmatischen Positivismus gegen wissenschafts- und rechtsfeindliche Angriffe war Ernst Zitelmann. Aus der Einleitung seines 1889 veröffentlichen Werkes „Die Rechtsgeschäfte i m Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs" sind noch einmal die gegensätzlichen Auffassungen des dogmatischen Positivismus und insbesondere der „historischen Rechtsauffassung" zu entnehmen. Dieser hält er den Kerneinwand gegen ein „Volksgesetzbuch" vor: „Man" denke „ m i t jenem Volksbuch, weil es verständlich" sei, „das Volk der Macht der Juristen entziehen zu können. Kein größerer I r r t h u m als dieser! W i r " würden „durch dasselbe die Macht der Juristen erst recht begründen — ein Gesetzbuch für das Volk" schüfen „ w i r nur scheinbar." Wolle „das Gesetzbuch, wie es das Ideal des Entwurfs" sei, „genau, vollständig, W i l l k ü r ausschließend sein, so" werde „es abstrakt, schwer verständlich, undurchsichtig: der Jurist" habe „dann den abstrakten Satz i n seinen lebensvollen Konsequenzen zu entwickeln und so seine Anwendbarkeit i m einzelnen Fall klarzulegen." „Aber diese Macht" sei „doch kontrollierbar: denn die Konsequenzziehung" sei „entweder richtig oder falsch, jede W i l l k ü r " sei „ausgeschlossen" 155 . Damit spricht Zitelmann den unmittelbaren Zusammenhang zwischen einer wissenschaftlichen Rechtsauffassung — die zur Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs geführt hat und die diejenige vom wissenschaftlichen Richtertum einschließt — und einer Recht und Herrschaft eben nicht ineinssetzenden Rechtslehre aus. Die „historische Rechtsauffassung" w i r d hingegen erkannt als eine, die „die Macht der Juristen" mittels richterlicher „ W i l l k ü r " begründet — und die den falschen Schein erweckt, ihr ginge es u m das „Volk". A n den dogmatischen Versuchen, die „historische Rechtslehre" i n Bezug auf die Erkenntnis des Begriffs Recht bzw. Gesetz, die auch der 154

(349). 155

Zit. nach Schubert, Materialien zur Entstehungsgeschichte des B G B Zitelmann, Die Rechtsgeschäfte (3).

Β. Höhepunkt und Ende des dogmatischen Positivismus

255

rechtswissenschaftliche Positivismus nur als hergestellte aufgefaßt hat, zu überwinden, hat es auch bei Zitelmann nicht gefehlt. Er hat dies von einem Ansatz her versucht, der der weitestgreifende der — allerdings bescheiden ausgefallenen — rechtsphilosophischen Bemühungen des dogmatischen Positivismus ist, sich dem Begriff Gesetz zu nähern, indem er auf die „Gleichheit" des i n der „Auffassung der Natur und des Rechts" „verwendeten Wortes Gesetz" hinwies. „Naturgesetz wie Rechtsgesetz" bestehen nach i h m „aus allgemeinen hypothetischen Urt e i l e n " 1 5 6 . „ . . . richterliche Urteile" treten „als Aussagen über das gegebene, vorhandene Recht als Urteile i m Sinne der Logik," auf, „wie sie freilich nicht anders" können, „da sie die Prätension erheben" müssen, „wahr zu sein" 1 5 7 . Zutreffend hieran ist, daß es sich bei „Naturgesetzen" „wie" bei „Rechtsgesetzen" um „allgemeine Urteile" „ i m Sinne der Logik" handelt. Ein Naturgesetz ist ein methodisch bewiesenes allgemeines Urteil über Wirkungen, die als Wirkungen natürlicher Ursachen eintreten 1 5 8 . Ein Rechtsgesetz ist ein Kausalgesetz mit dem Inhalt, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten A r t vorliegt, eine Rechtswirkung einer bestimmten A r t eintritt. Ein Kausalgesetz ist ein Gesetz des Notwendigkeitszusammenhangs zwischen Wirkungen einer A r t und deren Ursachen 150 . Da es sich bei „Rechtsgesetzen" „wie" bei „Naturgesetzen" u m Urteile besonderer A r t handelt, handelt es sich damit notwendig u m Semsbehauptungen, nicht u m die Behauptung eines Sollens — auch dies hat Zitelmann erkannt 1 6 0 . Ein Gesetz existiert allerdings erst, wenn es methodisch bewiesen ist, daß es i n Bezug auf die Notwendigkeitszusammenhänge, die sein Gegenstand sind, wahr gedacht ist. Eine (wissenschaftliche) Hypothese ist kein Beweis, sondern eine wissenschaftlich mögliche, versuchsweise als wahr gesetzte Annahme 1 6 1 , die erst noch eines Beweises bedarf. Ein Gesetz ist also kein hypothetisches Urteil. Nicht jedoch hieran ist eine ontologische Begründung von Gesetz und Recht gescheitert, sondern an der Verkennung eines anderen Sachverhalts. Es gibt natürliche rechtliche Verhältnisse. Das sind solche, die allein dadurch entstehen, daß Menschen als natürliche Personen existieren. Es gibt damit methodisch bewiesene allgemeine Urteile über Rechts156

Zitelmann, I r r t u m u n d Rechtsgeschäft (203 f.). Zitelmann, I r r t u m und Rechtsgeschäft (207 f.). iss V g l > W o l f j B G B A l l g . T., V o r w o r t ( X I I f.).

157

159

Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 14, 15 (27 f.). Vgl. Zitelmann, I r r t u m u n d Rechtsgeschäft (206). iei Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (234). 180

256

7. Kap.: Der rechtswissenschaftliche Positivismu

Wirkungen, die als Wirkungen natürlicher Ursachen eintreten. Das sind natürliche Rechtsgesetze; und diese natürlichen Rechtsgesetze sind Naturgesetze i m Sinne der Naturwissenschaft 162 . Von seinem Ansatz her, „Naturgesetze" und „Rechtsgesetze" von vornherein als verschiedene Arten von Gesetzen zu begreifen, hat sich Zitelmann den Weg zu einer Erkenntnis des Rechts versperrt 1 6 3 . Bei Zitelmann kommt dies wie folgt zum Ausdruck: „Wo die Parallelisierung des Naturgesetzes mit dem Rechtsgesetz einmal nicht" zutreffe, „da" habe „das immer und lediglich seinen Grund darin, daß das letztere eine menschliche Schöpfung" sei 1 6 4 . IV. Der dogmatische Positivismus ist danach, trotz seiner überragenden Leistungen i n sachwissenschaftlicher Hinsicht, i n seiner Wissenschaftsauffassung und Erkenntnislehre an der Erkenntnis der Gegebenheit des Rechts gescheitert. Denn eine „Gegebenheit", die aus nichts entsteht, eine „freie Schöpfung des Menschen" 1 6 5 , gibt es nicht. W i r d eine solche i n Bezug auf die Entstehung des Rechts behauptet, enthält dies i n Wahrheit i n letzter Konsequenz die Verneinung allen Rechts. Der dogmatische Positivismus hat den Irrglauben an die historische Entstehung allen Rechts nicht überwinden können. Über die dargestellten Ansätze ist er nicht hinausgelangt und insofern hat er einen Hauptfehler der „historischen Rechtsschule" nicht beseitigen können. Sein Scheitern an einer ontologischen Begründung des Rechts bedeutet einerseits, daß andere, irrationalistische Lehren, die vorgaben, das Wesen des Rechts zu erkennen, an Boden gewannen; und gegen diese fehlten dem dogmatischen Positivismus, eben weil er ihnen keine realistische Ontologie des Rechts entgegenzusetzen hatte, die geistigen Waffen. Die Folge war, daß mit dem Ende seiner historischen Leistung, der Schaffung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, der dogmatische Positivismus in der Auseinandersetzung u m das Wesen des Rechts mehr und mehr beiseitegedrängt wurde. Das Feld der Rechtsphilosophie besetzten andere, die seinen Namen führten, aber das Gegenteil, nämlich den Angriff auf jede dogmatische Rechtsauf fassung und damit auf das logische Denken überhaupt zum Inhalt haben: die Positivisten des 19. Jahrhunderts, die dem hier als solchen bezeichneten falschen Positivismus zuzuordnen sind.

162 Vgl. Wolf, B G B A l l g . T., V o r w o r t ( X I I f.); § 1 A V I b 16 (29 f.). Z u dieser notwendigen Konsequenz s. oben S. 235. 164 So w ö r t l i c h Zitelmann, I r r t u m u n d Rechtsgeschäft (206). 165 Zitelmann, I r r t u m u n d Rechtsgeschäft (206).

188

8. Kapitel

Der falsche Rechtspositivismus A. Die Rechtslehre Rudolf von Jherings I. Der Ausgangspunkt für den falschen Rechtspositivismus findet sich i n den Werken Rudolf von Jherings, dessen Schrift der „Kampf ums Recht" zu den „ersten Beispielen rechtssoziologischen Schrifttums i n Deutschland" 1 zählt. Eine eingehende Auseinandersetzung m i t Jhering ist deshalb notwendig, weil er heute noch i n erster Linie für „die Fragwürdigkeit aller nur dogmatischen Arbeit" steht 2 , seine Abwendung von der „Begriffsjurisprudenz" als „wachsende Einsicht i n die Tatsachen und Ursachen der geschichtlichen Entwicklung" 3 und als Reaktion auf die „Übersteigerung des formallogischen Denkens" 4 zitiert w i r d sowie als Beleg für die „Illusion", „daß die Rechtswissenschaft ein theoretisches Verhalten", „nur Untersuchung und Feststellung eines schon bestehenden Rechtes" sei, dient 5 . Für Wieacker ist „Jherings wissenschaftlicher Weg" „das persönliche Symbol dieses Vorgangs", daß „juristischer Formalismus und Naturalimus" „notwendig aufeinanderfolgende Phasen einer Rechtsanschauung" seien, „die sich einer überpositiven Rechtsidee entschlagen" habe „und sich nun an Surrogaten orientieren" müsse 6 . Jhering dient der heutigen Rechtsphilosophie damit der Sache nach als Kronzeuge für die Unmöglichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft. II. Die i n den hier zitierten Auffassungen enthaltenen Behauptungen, i n denen man sich i m rechtsphilosophischen Schrifttum heute i m wesentlichen einig ist, sind erstens, daß Jhering i n der ersten Phase seines Schaffens „Dogmatiker" bzw. „Begriffsjurist" war und am „formallogischen Denken" gescheitert sei, zweitens, daß seine „Wendung" 1 Statt vieler E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (622 ff.). Larenz, Methodenlehre (47 ff.), bezeichnet Jherings Lehre der „zweiten Phase" als „pragmatische Jurisprudenz" u n d sieht Jhering ebenfalls als unter dem „Einfluß des positivistischen Wissenschaftsbegriffs" stehend an. 2 So E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (649). 3 So E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (642 f.). 4 So Larenz, Methodenlehre (26 f.). 5 So Ekelöf, Zur naturhistorischen Methode Jherings (28). 6 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, § 23 V 2 a (452 f.).

17 Tripp

258

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

die zu einer „pragmatischen Jurisprudenz", zu den „Tatsachen" gewesen sei. Alle diese Auffassungen sind unhaltbar. 1. Jherings „naturhistorische

Methode"

Jherings „naturhistorische Methode", die er bis etwa I860 7 vertrat, hat m i t „Dogmatismus" und „Begriffsjurisprudenz", mit einer „logischen Darstellung" „des Rechtssystems" 8 oder gar „ m i t naturwissenschaftlichem Denken" 9 nichts zu tun. a) I n dem Einleitungsaufsatz zu Jherings Jahrbüchern, der 1857 veröffentlicht wurde und den Jhering „als ein Programm, aus dem unser Streben entnommen werden" solle 1 0 , bezeichnet, führt Jhering zur „Dogmatik" folgendes aus: „Der erste Anfang aller wissenschaftlichen Bearbeitung des Rechts" charakterisiere „sich durch den unmittelbaren A n schluß an die Form, i n der dasselbe als Gesetz" erscheine, „durch ein rein rezeptives Verhalten zu den Quellen. Interpretation der Gesetze" sei „die absolut niedrigste Stufe aller wissenschaftlichen Tätigkeit, aber zugleich die notwendige Vorstufe aller höheren. Der erklärte Zweck derselben" sei „Beschränkung auf den Willen des Gesetzgebers. Alles, was sie" finde, sei „unmittelbar oder mittelbar i m Gesetz enthalten und mit dem Rechtsstoff" gehe „hier keine innere Umwandlung vor, denn er" behalte „den Charakter, den er i m Gesetz an sich" trage, „den von Rechtssätzen, Rechtsregeln, Rechtsprinzipien". „Die juristische Produktion" gehe „nun teils über diesen Stoff hinaus, indem sie einen absolut neuen Stoff" hervorbringe, („was man die Deduktion aus der Natur der Sache genannt" habe, „man" könnte „sie auch juristische Spekulation" nennen), „teils" beschränke „sie sich auf ihn," operiere „aber mit i h m i n einer Weise, der sich das Prädikat eine neugestalteten und m i t h i n produktiven Tätigkeit nicht absprechen" lasse. Jhering unterscheidet „zwischen höherer und niederer Jurisprudenz, zwischen dem höheren und niederen Aggregatzustand des Rechts." „Die reguläre Erscheinungsform, i n der das Recht i n die Wirklichkeit" trete, sei „die der Rechtsregel", möge „letztere mehr allgemein sein, i n welchem Fall man den Ausdruck Rechtsprinzip zu gebrauchen" pflege, „oder mehr speziell und beschränkt, i n welchem Falle der Ausdruck Rechtssaiz gangbarer" sei. „Ob die Regel äußerlich die impera7 Sie w i r d 1861 v o n Jhering i n seinem anonym i n der „Preußischen Gerichtszeitung" veröffentlichten Aufsatz verspottet; vgl. auch die Satire „ I m juristischen Begriffshimmel" v o n 1884. Nach Larenz, Methodenlehre (48). 8 So E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (632). 9 Vgl. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (640). 10 Dieser Aufsatz enthält zugleich eine Zusammenfassung des Kapitels „Theorie der juristischen Technik", in: Jhering, Geist des römischen Rechts, 2. Teil, 2. A b t e i l u n g l . A u f l . ; vgl. dazu Jhering, Unsere Aufgabe (8 f.) Fn. 2.

Α. Rudolf von Jhering

259

tivische Form an sich" trage, sei „hierfür vollkommen gleichgültig; das Imperativische" liege „ i m Gegenstande selbst. Alle Operationen der Jurisprudenz nun, die dem Rechtsstoff diese seine ursprüngliche und unmittelbar praktische Form" lassen, „die es also über Rechtssätze und Rechtsprinzipien nicht" hinausbringen, mögen „sie dieselben selbst gefunden haben oder nur die vom Gesetzgeber gegebenen verarbeitet" haben, rechne er (Jhering, D. T.) „zur niederen Jurisprudenz." „Der Gegensatz der höheren zur niederen Jurisprudenz" bestimme „sich durch den Gegensatz des Rechtsbegriffes zu der RechtsregeZ, und den Übergang des Rechts aus dem niederen i n den höheren Aggregatzustand" vermittele „die juristische Konstruktion, indem sie den gegebenen Rohstoff zu Begriffen" verflüchtige. „Die Umwandlung, die hierm i t " erfolge, bestehe „negativ darin, daß der Stoff seine unmittelbar praktische und Imperativische Form völlig" abstreife, „positiv darin, daß er die Gestalt eines juristischen Körpers" annehme. „Die Gesamtmasse des Rechts" erscheine „jetzt nicht mehr als ein System von Sätzen, Gedanken, sondern als ein Inbegriff von juristischer Existenz, so zu sagen, lebenden Wesen, dienenden Geistern. W i r " wollen „die Vorstellung eines juristischen Körpers beibehalten, da sie die einfachste und natürlichste" sei. „Jeder dieser Körper" habe „seine besondere A r t , Natur und Eigenschaften, vermöge derer er fähig" sei, „gewisse Wirkungen hervorzubringen". „Unsere Aufgabe i h m gegenüber" nehme „dadurch den Charakter einer naturhistorischen Untersuchung an. W i r " haben „also seine Eigenschaften und Kräfte zu ermitteln, die A r t , wie er" entstehe und untergehe, „den Einfluß, den er dadurch" erleide, „die Metamorphosen, deren er fähig" sei, „anzugeben, seine Beziehungen zu anderen juristischen Größen, die Verbindungen, die er m i t ihnen" eingehe, „die Konflikte, i n die er mit ihnen" gerate, „zu bezeichnen, sodann auf Grund aller dieser vorangegangenen Untersuchungen die Natur desselben, seine juristische Individualität wie i n einem logischen Brennpunkt i m Begriff zu erfassen, schließlich aber i n derselben Weise, wie der Naturforscher die naturhistorischen Objekte" klassifiziere, „die sämtlichen juristischen Körper i n ein System zu ordnen. Es" vereinige „sich hierbei die Aufgabe einer naturhistorischen Forschung mit der einer künstlerischen Schöpfung. Denn die Objekte, deren Natur und Wesen w i r zu bestimmen" haben, sollen „ w i r selbst erst schaffen. Allerdings" sei „uns das Material dazu gegeben, allein das, was w i r daraus" machen, sei „ i n der Tat unsere eigene Schöpfung, denn w i r " bringen „den Stoff nicht bloß i n eine andere Ordnung, sondern w i r " spezifizieren „ihn, w i r " konstruieren „aus i h m spezifisch juristische Körper" (alle Hervorhebungen von Jhering, D. T.). Bei dem römischen Recht handele es sich „ u m mehr als formale Logik und Konsequenz, es" handele „sich u m die Schöpfung einer Welt aus 17*

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus rein geistigem Stoff, eine Nachbildung der Natur i m Element des Gedankens. Diese Welt" sei „die wahre Heimat des J u r i s t e n . . . " n . b) Diese Ausführungen Jherings sind verfehlt aus folgenden Gründen: aa) Eine „Form", i n der das „Recht" „als Gesetz" „erscheint", und ein i n dieser „erscheinendes" „Recht" gibt es nicht. Ein Rechtsgesetz ist ein Kausalgesetz mit dem Inhalt, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten A r t eintritt, eine Rechtswirkung einer bestimmten A r t e i n r i t t 1 2 . Recht sind die rechtlichen Verhältnisse. Ein rechtliches Verhältnis ist ein personhaftes Ordnungsverhältnis zwischen Menschen 13 . Ein Rechtsgesetz bezieht sich auf rechtliche Verhältnisse, durch das i n diesen existierende Notwendigkeitszusammenhänge erkannt werden. Als erkenntnismethodisches bewiesenes Urteil enthält es Begriffe, ist es nichtkörperlich, „erscheint" also nicht, also „erscheint" auch nicht das „Recht" „als Gesetz". W i r d das Gegenteil behauptet, werden Recht und Gesetz ineinsgesetzt. Dies ist schon deswegen fehlerhaft, weil ein rechtliches Verhältnis zwischen Menschen, ein rechtliches Gesetz i n den Gehirnzellen eines dieses denkenden Menschen existiert. Denken und Sein werden i n der Auffassung Jherings der Sache nach ineinsgesetzt. Damit ist ein Erkennen realer, also unabhängig von einer Bewußtheit existierender rechtlicher Verhältnisse von vornherein ausgeschlossen. Denken, Sein, Gesetz und Recht werden alogisch verneint. bb) Die Auffassung, das Recht erscheine i n der „Form" des Gesetzes", enthält zudem die Ineinssetzung von Recht und staatlichem Gesetz. Danach bestimmt der Staat durch Gesetzegbung, was „Recht" sei. Auch aus diesem Grund ist ein Erkennen rechtlicher Verhältnisse ausgeschlossen. Das „rezeptive Verhalten zu den Quellen", das von vornherein von der Ineinssetzung von Recht und staatlichem Gesetz ausgeht, ist keine „Interpretation" „der Gesetze", weil diese „Gesetze" nur dann Rechtsgesetze sind, wenn sie dem Begriff Recht entsprechen, sie aber nicht schon dadurch, daß sie als staatliche Gesetze erlassen worden sind, als Gesetze behauptet werden können. Daß es sich bei der Zugrundelegung der gegenteiligen Auffassung nicht u m das Erkennen rechtlicher Verhältnisse handelt, ergibt sich auch daraus, daß der „erklärte Zweck" dieser „Interpretation" „die Beschränkung (Hervorhebung von mir, D. T.) auf den Willen des Gesetzgebers" sei. Da dieser damit als Recht setzender Wille absolut gesetzt wird, ist diese A r t der „Interpretation" nichts als die Anerkennung 11 12 13

Jhering, Unsere Aufgabe (7 ff.). Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I b 15 (29). Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A I (1).

Α. Rudolf von Jhering

261

staatlicher Gewalt, die i m Sinn der „historischen Rechtsschule" und anderer idealistischer Rechtslehren mit Recht und Gesetz ineinsgesetzt, damit — wie ausgeführt — mit absoluter Autorität ausgestattet wird. cc) Bereits an dieser Stelle ist der Unterschied zu den dogmatischen Positivisten hervorzuheben. Zwar haben auch diese das Rechtsgesetz als „Willen" des Staates bezeichnet. Aber sie haben dies unter der Voraussetzung getan, daß das, was Recht sei, unabhängig von politischen Machtverhältnissen zu erkennen sei, und daß der Gesetzgeber dieses von ihnen anerkannte Recht als seinen „Willen", daß es „Recht sein" „solle", „ausspricht". Sie haben jede Ineinssetzung von Recht und staatlicher Gewalt für die Rechtswissenschaft abgelehnt und damit das Gegenteil dessen vertreten, was Jhering als „niedrigste Stufe aller wissenschaftlichen Tätigkeit", und damit immerhin als Wissenschaft, behauptet. dd) Daß nach Jhering die „Rechtssätze, Rechtsregeln, Rechtsprinzipien" autoritär verfügte „Sätze", „Regeln" und „Prinzipien" sind, ergibt sich aus der bisherigen Analyse. Seine darauf sich beziehende weitere Aussage, „das Imperativische" liege „ i m Gegenstande" selbst, setzt außer Recht und Gesetz auch noch Recht, Gesetz und Imperativ, also Befehl ineins. Ein Befehl ist eine Aufforderung eines Menschen an einen oder mehrere andere zu einer bestimmten Handlung oder Unterlassung oder zu Handlungen oder Unterlassungen einer bestimmten A r t , zu deren Durchsetzung der Auffordernde Zwangsmittel einsetzen kann 1 4 . Einen Befehl kann man befolgen oder nicht. Insoweit besteht bezüglich der Befolgung eines Befehls eine Freiheit, wenn diese auch durch die Möglichkeit der Anwendung von Zwangsmitteln eingeschränkt ist. Ein Rechtsgesetz kann man dagegen sowenig befolgen wie ein Naturgesetz. Die rechtlichen Wirkungen, auf die es sich als Bestandteil eines Notwendigkeitszusammenhangs bezieht, treten ein, wenn die diese bewirkenden Tatbestände vorliegen. Dieses kausale Geschehen hängt nicht von dem Entschluß eines Menschen ab. Daß ein Mensch darin frei ist, sich rechtmäßig oder unrechtmäßig zu verhalten, ist kein möglicher Einwand hiergegen, sondern diese Tatsache setzt das von dem Entschluß dieses Menschen unabhängige Bestehen rechtlicher Verhältnisse, i n Bezug auf die rechtliche Gesetze als wahr gedacht werden können, voraus. Die von Jhering behauptete Identität von Recht und Befehl ist weiter dadurch ausgeschlossen, daß ein Befehl unrechtmäßig sein kann. W i r d sie behauptet, sind Recht und Unrecht nicht mehr voneinander unterscheidbar — ist Recht identisch mit Gewalt und Zwang, wie dies auch den übrigen bereits kritisierten Ausführungen Jherings entspricht. 14

Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (260).

262

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

ee) Was Jhering als „juristische Produktion" behauptet, hat nichts mit wissenschaftlichem Erkennen zu tun. Das ergibt sich schon daraus, daß er diese „Produktion" auch „juristische Spekulationen" nennt. Das gleiche gilt i n Bezug auf die „Deduktion aus der Natur der Sache", die er selbst als damit identisch auffaßt. Hinzu kommt, daß es ein „produktives Denken", das einen „neuen Stoff" hervorbringt, „eine innere Umwandlung" „des Rechtsstoffs" durch das „Denken" nicht gibt. Ein Denken als „neugestaltende" und damit „produktive Tätigkeit" gibt es nicht, weil das Denken als Erkennen Erkenntnis eines Gegenstandes ist. Dieser w i r d durch seine Erkenntnis zu keinem anderen als er voher war. Jede andere Auffassung bedeutet notwendig, daß „Erkennen" freies Phantasieren ist, daß i n i h m Merkmale behauptet werden können, die keinem Gegenstand entsprechen und daher notwendig w i l l kürlich sind. Dann ist aber schon die Behauptung eines dem Denken notwendig vorausgesetzten „Rechtsstoffs" als eines existierenden Gegenstandes widersinnig, denn dieser kann nicht gleichzeitig dem Denken vorausgesetzt sein, damit unabhängig von i h m existieren, und zugleich von i h m abhängig sein. ff) Daß die „höhere Jurisprudenz" kein rechtswissenschaftliches Erkennen ist, folgt weiter daraus, daß die „juristische Konstruktion", die den „Übergang des Rechts aus dem niederen i n den höheren Aggregatzustand" vermitteln soll, „nicht mehr als ein System von Sätzen, Gedanken, sondern als Inbegriff von juristischen Existenzen", „lebenden Wesen, dienenden Geistern aufgefaßt" wird. Eine Wissenschaft als wissenschaftliches Erkennen und darauf gegründetes Wissen ist notwendig „ein System von Sätzen, Gedanken". Eine „Wissenschaft anderer A r t " , eine „Wissenschaft", die kein Denken ist, gibt es nicht. Eine Jurisprudenz als „Inbegriff von juristischen Existenzen", „lebenden Wesen" 1 5 , „dienenden Geistern" zu bezeichnen, bedeutet, sie mit romantischen und mystischen Wesenheiten gleichzusetzen, die zu „denken" i n der Tat eine „Verflüchtigung der Begriffe" voraussetzt. gg) Rechtliche Verhältnisse enthalten notwendig geistige Elemente. Das Recht als nichtkörperliches Seiendes als „juristischen Körper" „vorzustellen", ist als Grundlage einer wissenschaftlichen „Untersuchung" unbrauchbar. Die romantische „Organologie", die den Ausführungen Jherings zugrundeliegt, mag für einen Dichter angemessen sein, für einen Wissenschaftler ist sie es nicht. Daß Jhering einerseits die Existenz von „Objekten, deren Natur und Wesen w i r zu bestimmen" haben, behauptet, die ihre „Natur" und ihr „Wesen" folglich unabhängig von dem Erkennenden besitzen, diese zugleich aber von diesem Erken15 Vgl. das oben S. 204 ff. i n Hinsicht entsprechender Ausdrücke zu Puchta Gesagte.

Α. Rudolf von Jhering

263

nen erst „geschaffen" werden soll, hat m i t „naturwissenschaftlicher Forschung" nichts, m i t „künstlerischer Schöpfung" umso mehr zu tun. Daß es sich bei dieser „Schöpfung einer Welt aus rein geistigem Stoff" um „eine Nachbildung der Natur i m Elemente des Gedankens" handeln soll, enthält durch die falschen Ineinssetzungen von „stofflich" und „geistig", von „geistig" und „bildhaft", von „Erkennen" und „Schöpfen", von „Schöpfen" und „Nachbilden" eine Fülle von Widersinnigkeiten, die eine Auflösung jedes begrifflichen Denkens und damit jedes Denkens darstellt. Daß dies mehr als „formale Logik und Konsequenz" sein soll, stellt der Sache nach das Eingeständnis Jherings dar, daß seine „naturhistorische Methode" mit „formaler Logik und Konsequenz" nichts zu tun hat, vielmehr ihre Ablehnung bedeutet — was i m übrigen, wie bereits bei Puchta 16 dargelegt, schon allein aus der Behauptung folgt, es gebe eine wissenschaftliche Tätigkeit, die über die „formale Logik" und „Konsequenz" hinausgehe. Jherings „naturhistorische Methode" hat m i t h i n auch mit wissenschaftlicher Naturerkenntnis nichts zu tun. Die naturwissenschaftlichen Termini werden i n eine phantastische Bildersprache umgewandelt. hh) Die „naturhistorische Methode" Jherings darf niemals zur „wahren Heimat des Juristen" werden, weil sie tiefsten Irrationalismus und erkenntnistheoretischen Nihilismus darstellt. Dies mit „Begriffsjurisprudenz" und den übrigen oben zitierten wissenschaftlichèm Erkennen entsprechenden Merkmalen gleichzusetzen, bedeutet, Logik m i t Antilogik, wissenschaftliches Erkennen mit Irrationalismus zu identifizieren 1 7 . Daß mit Larenz ein führender Rechtstheoretiker Jherings „Verfahren der Begriffsbildung" als „dem der exakten Naturwissenschaften gleich, ausschließlich induktiv" behauptet, w i r f t ein schlimmes Licht auf die Behandlung der Logik auch und gerade i n der heutigen Wissenschaft, die nicht auf die Rechtswissenschaft beschränkt ist 1 8 . La16 Daß i m übrigen das zu Puchta Ausgeführte auch auf Jhering zutrifft, ergibt sich aus der Aussage Jherings: „Ich habe Puchta nie gehört, durch seine Werke hat er allerdings mehr auf mich g e w i r k t als irgendein Anderer" ; zit. n. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (628) Fn. 3. 17 Dem entspricht es auch, w e n n E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (641), zur „naturhistorischen Methode" Jherings sagt: sie sei „ein unverkennbares Symptom des i m V e r f a l l der Sprache sichtbar gewordenen Verfalls der Geisteswissenschaften i m Zeitalter des Positivismus." Damit w i r d der dogmatische Positivismus m i t der Verneinung der Dogmatik als systematischer Sachwissenschaft ineinsgesetzt. 18 Daß es Ausnahmen gibt, soll damit nicht bestritten sein. So sagt zutreffend Hommes, Über Rudolf v o n Jherings „naturhistorische Methode" (107): „ M . E. ist die ganze Unterscheidung zwischen niederer u n d höherer Jurisprudenz i m Sinne Jherings unhaltbar. Jede Jurisprudenz, auch die i n terpretative, kennzeichnet sich als Wissenschaft durch systematische Begriffsbildung. Ohne diese ist keine Wissenschaft möglich, weil die theoretische Begriffsund Systembildung zum Wesen der Wissenschaft gehört" (Hervorhebung v o n m i r , D. T.).

264

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

renz fällt nicht einmal auf, daß er seine eigene Charakterisierung der „naturhistorischen Methode" Jherings widerlegt, wenn er i m Anschluß an die zitierte Stelle wie folgt fortfährt: „Nur daß noch kein Naturwissenschaftler auf den Gedanken gekommen" sei, „durch die bloße Kombination einzelner induktiv gewonnener Begriffsmerkmale, wie sie etwa das Pflanzensystem" verwende, „neue Pflanzen konstruieren zu können, deren Dasein schon dadurch bewiesen" wäre, „daß sie denkmöglich" seien 19 . 2. Jherings „Wende" a) Jherings vielbesprochene „Wende" 2 0 drückt sich i n einer der schärfsten Kampfansagen gegen das logische Denken aus, die die rechtswissenschaftliche Literatur des 19. Jahrhunderts kennt. I m dritten Band des „Geistes des römischen Rechts", dessen erste Auflage 1865 erschienen ist, greift er das wissenschaftliche Erkennen wie folgt an: „Brechen w i r den Bann, mit dem der I r r w a h n uns gefangen" halte. „Jener ganze Kultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Mathematik hinaufzuschrauben" gedenke, sei „eine Verirrung und" beruhe „auf der Verkennung des Wesens des Rechts. Das Leben" sei „nicht der Begriffe, sondern die Begriffe" seien „des Lebens wegen da. Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl" postuliere, habe „zu geschehen", möge „es logisch notwendig oder unmöglich sein" 2 1 . „Die juristischen Grundbegriffe" verändern „sich i m Lauf der Zeit ebenso gut, wie die Rechtssätze, und sie" müssen „es, denn sie" seien „ja keine bloßen logischen Kategorien, sondern die Konzentrationsform materieller Rechtssätze, die Rechtssätze aber" wechseln „mit den Verhältnissen. A n die Unveränderlichkeit der römischen Rechtsbegriffe zu glauben", sei „eine völlig unreife Vorstellung, die von einem gänzlich unkritischen Studium der Geschichte" zeuge 22 . „Der Schein der absoluten Wahrheit der juristischen Begriffe" müsse „vernichtet werden, sie selbst als das aufgedeckt werden, was sie" seien: „als bloße Formen eines gegebenen Inhalts, der unter Umständen auch anders sein" könnte 2 3 . b) Aus dem zur „naturhistorischen Methode" Ausgeführten ergibt sich, daß die „Wende" Jherings nicht i n einer dem Inhalt nach veränderten Wissenschaftsauffassung oder Methodenlehre besteht. Sie besteht allein darin, daß von nun an Jhering den Anschein aller Wissenschaftlichkeit fahren läßt; jedes begriffliche Denken — und ohne Be19

Larenz, Methodenlehre (28). Kantorowicz hat sie „Jherings Bekehrung" genannt; vgl. dazu Lange, Die Wandlungen Jherings (69 ff.) m. N. 21 Jhering, Geist 3, 1 (311 f.). 22 Jhering, Geist 3, 1 (305). 23 Jhering, Briefe, 176—177. 20

Α. Rudolf von Jhering

265

griffe gibt kein Denken — w i r d verspottet und verhöhnt, die Jurisprudenz offen der totalen W i l l k ü r überantwortet. Irrationalistisch ist es, wenn Jhering eine permanente Veränderlichkeit der „Begriffe" und der „Rechtssätze" behauptet; denn unter der Annahme eines absoluten Flusses „der Verhältnisse" existiert nichts und kann nichts erkannt werden; wenn er „Recht" und „Rechtssätze", und damit Recht und Urteile über das Recht ineinssetzt; wenn er „Rechtssätze" ohne Begriffe behauptet, die sich wiederum zu Begriffen „konzentrieren", womit eine Wesensgleichheit von nichtbegrifflichen „Rechtssätzen" und angeblich sich auf solche beziehenden „Begriffen" behauptet wird. Irrationalistisch ist es auch, wenn die Begriffe als notwendig inhaltsleere „Formen" aufgefaßt werden, die scheinbar mit jedem beliebigen, „den Umständen" entsprechenden Inhalt ausgefüllt werden können. Die seiner künftigen Lehre zugrundeliegenden Leerwörter, die nach ihm einen „logisch unmöglichen" Inhalt haben dürfen, führt er gleich mit an: „das Leben", „der Verkehr", das „Rechtsgefühl". Damit werden Wörter, die vom dogmatischen Positivismus zu Recht aus der Jurisprudenz verwiesen werden, als Grundlage der Rechtswissenschaft behauptet. Jherings Kampf gegen den Dogmatismus und damit gegen das systematische, begriffliche Denken beginnt hiernach mit einem Programm der Antilogik, das sich von dem der „historischen Rechtsauffassung" nur durch die Verwendung anderer Vokabeln sowie durch Offenheit und Radikalität unterscheidet. Und gerade weil Jhering so unverhüllt der Logik und den Begriffen, damit dem Denken und folglich der Wissenschaft seine Absage erteilt, läßt sich an seiner Lehre so außerordentlich deutlich die Notwendigkeit verfolgen, m i t der die Verneinung der Logik die verhängnisvolle „Formel" Recht = Macht und damit die Auflösung allen Rechts nach sich zieht. c) Nach Jhering ist es „eine wahrhaft romantische, d.h. auf einer falschen Idealisierung vergangener Zustände beruhende Vorstellung, daß das Recht sich schmerzlos, mühelos, tatenlos" bilde „gleich der Pflanze des Feldes; die ranke Wirklichkeit" lehre „uns das Gegenteil" 2 4 . „ I n allen solchen Fällen nun, wo das bestehende Recht diesen Rückhalt am Interesse" finde, gebe „es einen Kampf, den das Neue zu bestehen" habe, „um sich den Eingang zu erzwingen, ein Kampf, der sich oft über ganze Jahrhunderte" hinziehe. „Den höchsten Grad der Intensität" erreiche „derselbe dann, wenn die Interessen die Gestalt erworbener Rechte angenommen" haben. „Hier" stehen „sich zwei Parteien gegenüber, von denen jede die Heiligkeit des Rechts als Wahlspruch i n ihrem 24

Jhering, Der K a m p f ums Recht (11).

266

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

Programm" führe, „die eine des historischen Rechts, des Rechts der Vergangenheit, die andere die des ewig werdenden und verjüngenden Rechts, des Urrechts der Menschheit auf stets neues Werden — ein Konfliktsfall der Rechtsidee m i t sich selber . . . " . „Ein konkretes Recht, das, weil es einmal entstanden, unbegrenzte, also ewige Fortdauer" beanspruche, gleiche „dem Kinde, das seinen A r m gegen die eigene Mutter" erhebe; „es" verhöhne „die Idee des Rechts, indem es sie" anrufe, „denn die Idee des Rechts" sei „ewiges Werden .. ." 2 5 . „Jeder" habe „den Beruf und die Verpflichtung, der Hydra der W i l l k ü r und der Gesetzlosigkeit, wo sie sich" hervorwage, „den Kopf zu zertreten. Jeder, der die Segnungen des Rechts" genieße, solle „auch für seinen Teil dazu beitragen, die Macht und das Ansehen des Gesetzes aufrechtzuerhalten, kurz — Jeder" sei „ein geborner Kämpfer ums Recht i m Interesse der Gesellschaft". „ W i r " haben „hiermit den idealen Höhepunkt des Kampfs ums Recht erreicht. Aufsteigend von dem niederen Motiv des Interesses" haben „ w i r uns erhoben zu dem Gesichtspunkt der moralischen Selbsterhaltung der Person und" seien „schließlich bei dem der M i t w i r k u n g des Einzelnen an der Verwirklichung der Rechtsidee i m Interesse des Gemeinwesens angelangt" 2 6 . „Prosa i n der Region des rein Sachlichen" werde „das Recht i n der Sphäre des Persönlichen, i m Kampf ums Recht zum Zweck der Behauptung der Persönlichkeit, zur Poesie — der Kampf ums Recht" sei „die Poesie des Charakters" 2 7 . d) Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. aa) Wenn Jhering ausführt, es beruhe „auf einer falschen Idealisierung vergangener Zustände", „daß das Recht sich schmerzlos, mühelos, tatenlos" bilde, bezieht sich dies offensichtlich auf die „Rechtsauffassung" der „historischen Rechtsschule", nach der „alles Recht" „durch innere, stillwirkende Kräfte", „erzeugt" werde. Daß die Verwendung derartiger romantischer Vokabeln nichts mit der Annahme einer „schmerzlosen, mühelosen, tatenlosen", also gewaltlosen „Erzeugung" des „Rechts" zu t u n hat, vielmehr hinter diesem behaupteten „natürlichen Entwicklungsprozeß des Rechts" als „reale Grundlagen" die „Staatsgewalt" und das als ständisch aufgefaßte, an Recht und Gesetz nicht gebundene Richtertum steht, wurde dargelegt 28 . Es ist also nicht das „Gegenteil" der Lehre Savignys, wenn Jhering i m folgenden Recht m i t Gewalt ineinssetzt, sondern ihre Fortsetzung. bb) Wenn Jhering sagt, „ein konkretes Recht, das" „ . . . unbegrenzte, also ewige Fortdauer" beanspruche, „verhöhne" „die Idee des Rechts", 25 26 27 28

Jhering, Der K a m p f ums Recht (8 f.). Jhering, Der K a m p f ums Recht (52 f.). Jhering, Der K a m p f ums Recht (41). Siehe o. S. 187 ff.

Α. Rudolf von Jhering

267

und dann sagt, die „Idee des Rechts" sei „ewiges Werden", ist dies fehlerhaft. „Ein konkretes Recht", das „unbegrenzte, also ewige Fortdauer" beansprucht, wäre ein metaphysisches Etwas, weil jedes Seiende notwendig zeitlich begrenzt existiert. Ein derartiges „Recht" wäre notwendig identisch mit einer „Rechtsidee", würde also tatsächlich nicht existieren. Gegen eine falsche metaphysische Voraussetzung des Rechts hat Jhering aber überhaupt nicht einzuwenden, weil er die Auffassung vertritt, die „Idee des Rechts", die es nach Jhering also gibt, sei „ewiges Werden" — also ein permanentes Fließen i m Sinne der Heraklitischen Lehre, die von der idealistischen Philosophie i n der Behauptung eines absoluten Werdens einer metaphysischen Idee übernommen wird. Der Scheinkampf gegen die Auffassung einer „ewigen Fortdauer" des Rechts ist demnach nicht gegen die falsche Metaphysik, sondern gegen die Auffassung einer Beständigkeit des Rechts — und da dies ein Merkmal des Begriffs Sein (Seiendes) ist — gegen das Sein des Rechts, gegen seine Existenz gerichtet. Das Recht gibt es nicht — dies ist die Grundthese der „Rechtslehre" Jherings und des darauf aufbauenden falschen Positivismus. cc) Die Lehre Jherings ist eine konsequente Durchführung der der neueren idealistischen Rechtslehre zugrundeliegenden Auffassung einer absolut „werdenden" „Rechtsidee". Die damit verbundene Verneinung des Rechts bedeutet die Verneinung von zwischen den Menschen bestehenden Ordnungsverhältnissen. Daraus folgt die Auffassung, daß es einen „bellum omnium contra omnes" gibt, einen „Interessenskampf" aller gegen alle, i n dem sich der Stärkere durchsetzt, der Schwächere unterliegt. Das, was als Recht bezeichnet wird, ist das „Recht" des Stärkeren, der Schwächere, der i n diesem Kampf Unterlegene, ist infolgedessen rechtlos. Der „Kampf ums Recht" w i r d — da die Verneinung der Existenz des Rechts die Verneinung des Menschen als Persönlichkeit bedeutet, wie dargelegt wurde — zum „Kampf ums Dasein". Jhering hat damit die falsche teleologische Entwicklungslehre Darwins i n die Rechtslehre — von Rechtswissenschaft kann längst keine Rede mehr sein, weil es eine Wissenschaft ohne das Sein eines Gegenstands nicht gibt — eingeführt 2 9 . 29 Dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, §23 V 2 a (452); vgl. auch die treffende Bemerkung Diltheys i n einem Brief an den Grafen Paul Yorck von Wartenburg v o m 28.1.1878, zit. nach E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (650 f.): „Jhering ist ja, nach dem was man hört, i n die Mördergrube des deutschen Darwinismus gefallen. Aus Egoismus Gesetze, aus Anpassung derselben an die gesellschaftlichen Bedürfnisse ihre Entwicklung, aus diesen t a t sächlichen Gesetzen das Rechtsgefühl: w e n n das w i r k l i c h der darwinistischnaturrechtliche K e r n der schönen dicken Hülse ist, so ist wieder einmal ein schöner Verstand totgeschlagen."

268

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

dd) Was Jhering zum „Kampf ums Recht" ausführt, bedeutet, daß das Recht als aus einer totalen Anarchie der Interessen hervorgehend behauptet wird. Daß ein anarchischer Zustand sein Gegenteil, nämlich Recht hervorbringt, ist schon i n sich widersprüchlich, zumal er mit dem Hervorbringen des Rechts nicht etwa beseitigt ist, sondern als „Kampf u m das Recht" fortdauert. Wenn Jhering diesen Kampf als „Urrecht der Menschheit auf stets neues Werden", „als Konfliktsfall der Rechtsidee mit sich selber", bezeichnet, w i r d das „Recht" mit dem „Kampf u m das Recht", der die permanente Verneinung des Rechts voraussetzt, ineinsgesetzt. Der behauptete „Konfliktsfall der Rechtsidee mit sich selber" durch das „stets neue Werden" „des Rechts" ist eine offensichtlich alogische Konstruktion: da sich „die Idee" permanent verändert, trotzdem aber eine Idee sein soll, w i r d zugleich die Auffassung einer Identität und die einer Nichtidentität der „Rechtsidee" und — da diese m i t dem „Recht" ineinsgesetzt w i r d — damit die der gleichzeitigen Identität und Nichtidentität des Rechts vertreten. ee) Der „Konflikt der Rechtsidee" w i r d durch das „Diktat des Siegers" gegenüber dem Unterlegenen entschieden 30 . Daß dies als „Recht i m Interesse der Gesellschaft" bezeichnet wird, ist die Ineinssetzung der Macht des Stärkeren mit „Interesse der Gesellschaft", was als diesem ideologischen Ausdruck entsprechende Auffassung oben bei der Darstellung des „historischen Positivismus" nachgewiesen wurde. Daß die „Segnungen des Rechts" nur für diejenigen „Segnungen" sind, die sich i n dem absoluten Machtkampf aller gegen alle durchgesetzt haben, versteht sich nach dem Gesagten von selbst. ff) Das Gegenteil zu behaupten, ist i n der an Widersprüchen nicht gerade armen Lehre Jherings allerdings ein besonders krasses Fehlurteil. Dies geschieht, wenn er den brutalen Kampf u m die „Behauptung der Persönlichkeit" als Kampf „ums Recht i m Interesse der Gesellschaft" bezeichnet, den Kampf um die „moralische Selbsterhaltung der Person" zur „ M i t w i r k u n g des Einzelnen an der Verwirklichung der Rechtsidee i m Interesse des Gemeinwesens" hochstilisiert. Dort, wo u m die „Behauptung der Persönlichkeit", „um die moralische Selbsterhaltung der Person" gekämpft werden muß, diese also ständig bestritten werden, von „Segnungen des Rechts" zu sprechen, kommt einem Zynismus nahe. Dies als „ M i t w i r k u n g des Einzelnen", also auch des i m Interessenskampf Unterlegenen, „an der Verwirklichung der Rechtsidee" 31 zu bezeichnen, die „die Poesie des Charakters" sei, läßt sich — leicht abgewandelt — mit den Worten ausdrücken, die Jhering zur K r i t i k der historischen Rechtsschule" verwendet: sie ist eine „wahrhaft roman30

So Jhering, zit. n. E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (646) ο. N. Dazu zutreffend Schönfeld, Grundlegung, §56 (515): dies sei „echter Idealismus, an dem weder Piaton noch K a n t etwas auszusetzen" hätten. 31

. Rudolf von tische", „falsche Idealisierung" stände".

hering

chaotischer rechtsverachtender

269 „Zu-

3. Jherings Lehre vom „Zweck im Recht" a) Die „endgültige Form der Verwendung der Gewalt" für die menschlichen „Interessen", oder, wie es nunmehr i n seinem 1877 erschienenen Werk „Der Zweck i m Recht" heißt, „für die menschlichen Zwecke", ist der Staat. Er sei „die soziale Organisation der Zwangsgewalt", . . . „die Gesellschaft, welche" zwinge; „ u m zwingen zu können", nehme „sie die Gestalt des Staates an, der Staat" sei „die Form der geregelten und gesicherten Ausübung der sozialen Zwangsgewalt, kurz gesagt: die Organisation des sozialen Zwanges" 3 2 . b) Eine derartige Staatsauffassung hat mit einem Rechtsstaat nichts zu tun, sondern stellt eine autoritäre, obrigkeitsstaatliche Auffassung dar. Dies ergibt sich daraus, daß die Behauptung einer „Zwangsgewalt" des Staates ohne rechtliche Begründung und Beschränkung dessen Gebundensein an Recht und Gesetz, die diese „Gewalt" einschränken würde, ausschließt. Daß Jhering eine nicht-rechtsstaatliche Auffassung vertritt, ergibt sich aus seiner bereits dargelegten fehlerhaften Auffassung des Rechts, die er jetzt allerdings mit teilweise neuen Vokabeln vorträgt. c) Zur „Definition des Rechts" führt Jhering aus: „Die gangbare Definition des Rechts" laute: „Recht" sei „der Inbegriff der i n einem Staate geltenden Zwangsnormen und sie" habe „in" seinen (Jherings, D. T.) „Augen das Richtige vollkommen getroffen. Die beiden Momente, welche sie i n sich" schließe, seien „die der Norm und die der V e r w i r k l i chung derselben durch Zwang. Nur diejenigen von der Gesellschaft aufgestellten Normen" verdienen „den Namen des Rechts, welche den Zwang, oder, da, wie w i r gesehen" haben, „der Staat allein das Zwangsmonopol" besitze, „welche den Staatszwang hinter sich" haben, „womit denn implizite gesagt" sei, „daß nur die vom Staate mit dieser W i r kung vertretenen Normen Rechtsnormen" seien, „oder daß der Staat die alleinige Quelle des Rechts" sei. (Hervorhebung von Jhering, D. T. 3 3 ). „Der Jurist, der nicht allen festen Boden unter den Füßen verlieren" wolle, dürfe „ i n einem solchen Falle (gemeint sind die „Normen" „einer Räuberbande", D. T.) nicht von Recht sprechen, für ihn" gebe „es kein anderes K r i t e r i u m des Rechts als Anerkennung und Verwirklichung desselben durch die Staatsgewalt" 3 4 . „Das ganze Recht" stelle „sich" „dar als das durch den Staat verwirklichte System des Zwangs, als die 82 88 34

Jhering, Der Zweck i m Recht, 8. Kap. (307, 309). Jhering, Der Zweck i m Recht, 8. Kap. (320). Jhering, Der Zweck i m Recht, 8. Kap. (321 f.).

270

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

durch die Staatsgewalt organisierte und gehandhabte Zwangsmaschinerie" 35. „Das zweite Moment des Rechtsbegriffs" sei „die Norm, letztere" enthalte „die innere, der Zwang die äußere Seite des Rechts. Der Inhalt der Norm" sei „ein Gedanke, ein Satz (Rechtssatz), aber ein Satz praktischer Art, d. h. eine Anweisung für das menschliche Handeln, die Norm" sei „also eine Regel, nach der man sich richten" solle. „Unter den letzteren Begriff" fallen „auch die Regeln der Grammatik. Von den Normen" unterscheiden „sie sich dadurch, daß sie nicht das Handeln betreffen. Anweisungen zum Handeln" enthalten „auch die Erfahrungssätze über die zweckmäßige Einrichtung derselben, die Maximen. Von letzteren unterscheiden sich die Normen dadurch, daß sie bindender A r t " seien. „Maximen" seien „Anleitungen für das freie Handeln, ihre Befolgung" sei „ i n das eigene Ermessen des Handelnden gestellt, die der Norm nicht, sie" zeichne „dem fremden Willen eine Richtung vor, die er innehalten" solle, „d. h. jede Norm" sei „ein Imperativ (positiver: Gebot, negativer: Verbot). Ein Imperativ" habe „nur i m Munde desjenigen Sinn, der die Macht" habe, „einem freien Willen diese Beschränkung aufzuerlegen, es" sei „der stärkere Wille, der dem schwächeren Willen die Richtschnur des Handelns" vorzeichne 36 . „Die Norm und der Zwang" seien „rein formale Momente, die uns über den Inhalt des Rechts nichts" aussagen;... „Erst durch den Inhalt" erfahren „ w i r , wozu das Recht der Gesellschaft eigentlich" diene, „und das" bilde „die Aufgabe der folgenden Darstellung". „Der Maßstab des Rechts" sei „nicht der absolute der Wahrheit, sondern der relative des Zweckes. Darin" liege, „daß der Inhalt des Rechts ein unendlich verschiedener nicht bloß sein" könne, „sondern sein" müsse. „So wenig der Arzt allen Kranken dasselbe Mittel" verschreibe, „sondern seine Mittel dem Zustande des Patienten" anpasse, „ebenso wenig" könne „das Recht überall dieselben Bestimmungen erlassen; es" müsse „sie vielmehr ebenfalls dem Zustand des Volkes, seiner Kulturstufe, den Bedürfnissen der Zeit" anschmiegen, „oder richtiger, es" sei „dies kein bloßes Soll, sondern eine geschichtliche Tatsache, die sich stets und überall mit Notwendigkeit" vollziehe. „Die Idee, daß das Recht i m Grunde überall dasselbe sein" müsse, sei „ u m nichts besser, als daß die ärztliche Behandlung bei allen Kranken die gleiche sein" müsse 37 . „Der Zweck" sei „der Schöpfer des ganzen Rechts" 38 . „Der Grundgedanke des gegenwärtigen Werkes" bestehe „darin, daß der Zweck der 35 86 37 88

Jhering, Der Zweck i m Recht, 8. Kap. (335). Jhering, Der Zweck i m Recht (329 ff.). Jhering, Der Zweck i m Recht, 8. Kap. (439 f.). Motto zu Jherings Buch „Der Zweck i m Recht".

Α. Rudolf von Jhering

271

Schöpfer des gesamten Rechts" sei, „daß es keinen Rechtssatz" gebe, „der nicht einem Zweck, d. i. einem praktischen Motiv seinen Ursprung" verdanke 3 9 . „Was" sei „nun der Zweck der Rechts?" „Inhaltlich" definiere er (Jhering, D. T.) „das Recht" „als die Form der durch die Zwangsgewalt des Staates beschafften Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft" (Hervorhebung von Jhering, D. T.). Unter Lebensbedingungen versteht Jhering „nicht bloß die des physischen Daseins, sondern alle diejenigen Güter und Genüsse, welche nach dem Urteil des Subjekts dem Leben erst seinen wahren Wert" verleihen 4 0 . Als Beispiel für die Richtigkeit seines Begriffs führt Jhering aus, daß i n „einigen Sklavenstaaten Nordamerikas" „bis zum Bürgerkrieg bei Todesstrafe verboten" war, „Neger i m Lesen und Schreiben zu unterrichten" und fährt fort: „Wenden w i r unsern Gesichtspunkt der Lebensbedingungen darauf an, so" besage „die letzte Gestaltung der Sache vom Standpunkte jener amerikanischen Sklavenstaaten aus: unser Sklavenstaat" vertrage „sich nicht mit Bildung der Sklaven; wenn der Sklave lesen und schreiben" könne, „so" höre „er auf, Arbeitsvieh zu sein, er" werde „Mensch und" mache „seine Menschenrechte geltend und" bedrohe „damit unsere auf das Institut der Slaverei gebaute gesellschaftliche Ordnung". Nach Jhering war diese Auffassung des Staates die „zu ihrer Zeit" „richtige" 4 1 . Ebenso werden die „Auffassungen des Staates" angeführt, der einmal „das christliche Glaubensbekenntnis bei Todesstrafe verbot", es später „mit den grausamsten Mitteln erzwang; die Ansicht, daß er nicht mit denselben bestehen" könne, „war dahin umgeschlagen, daß er nicht ohne dasselbe bestehen" könne. „Damals" hieß „es: wehe den Christen! jetzt: wehe den Ketzern! — die Kerker und Scheiterhaufen" blieben, „nur die Schlachtopfer" wechselten, „die man" hineinwarf. „Ein Jahrtausend weiter, und nach schweren blutigen Kämpfen" erhob „sich die Staatsgewalt zu der Einsicht, daß das Bestehen der Gesellschaft m i t der Glaubensfreiheit nicht bloß verträglich, sondern ohne sie gar nicht möglich" sei. Und Jhering fragt: „Welche von diesen Auffassungen war die richtige? Wiederum alle drei, jede für ihre Zeit." 4 2 . d) Der „Definition", „Recht" sei „der Inbegriff der i n einem Staate geltenden Zwangsnormen", kann nicht gefolgt werden. aa) Sie ist keine Definition. Definieren ist Angeben der Merkmale, aus denen ein Begriff besteht, i n einem U r t e i l 4 3 . Ein Merkmal ist ein 89 40 41 42 43

Jhering, Der Zweck i m Jhering, Der Zweck i m Jhering, Der Zweck i m Jhering, Der Zweck i m Vgl. dazu Wolf, Gibt es

Recht, V o r w o r t (VIII). Recht, 8. Kap. (443 f.). Recht, 8. Kap. (447). Recht, 8. Kap. (448). eine marxistische Wissenschaft (31 f.).

272

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

Teilinhalt eines Gehirnzentrums, der Bestandteilen oder Momenten, die i n oder an Seienden vorkommen, inhaltlich entspricht 44 . Ein „Inbegriff" ist kein mögliches Merkmal eines Begriffs, weil ein solcher „Inbegriff" keinen Inhalt hat, also nicht definiert werden kann und damit kein denkbarer Bestandteil einer Definition ist 4 5 . Falls damit ein Begriff gemeint sein soll, ist dies ebenfalls verfehlt, weil i n diesem Recht und Begriff Recht, also Gegenstand und Begriff ineinsgesetzt werden, was widersinnig ist. Widersinniges i n einer „Definition" kann sich auf keinen existierenden Gegenstand beziehen, schließt also jede Definition inhaltlich aus. bb) Recht kann nicht als „Zwangsnorm" definiert werden, weil das Merkmal Zwang kein Merkmal des Begriffs Recht ist. W i r d das Gegenteil behauptet, werden Recht und Zwang also ineinsgesetzt, schließt dies, wie dargelegt wurde, das Existieren rechtlicher Verhältnisse, die als personhafte Ordnungsverhältnisse das Erhalten, Entfalten und Fortpflanzen der Menschen als Personen zum Inhalt haben, aus. Die Ineinssetzung von Recht und Zwang bedeutet, wie ebenfalls dargelegt wurde, die Ineinssetzung von Recht und totalitärer Herrschaft. cc) Ein Merkmal des Begriffs Recht kann Zwangsnorm auch deshalb nicht sein, weil das darin enthaltene Wort Norm keinen Begriff bezeichnet. Dies ergibt sich daraus, daß der einzige „Inhalt" dieses „Begriffs" nach Jhering darin besteht, daß er durch den Staat gesetzt, also frei, d. h. notwendig ohne Bezug auf einen existierenden Gegenstand hergestellt wird. Ein „Begriff", der jederzeit m i t anderem Inhalt versehen werden kann, ist kein Begriff, weil sich ein Begriff auf einen Gegenstand bezieht und daher inhaltlich bestimmt ist. Diese inhaltliche Bestimmtheit schließt ein permanentes Verändern des Inhalts aus. dd) Den Staat als „alleinige Quelle des Rechts zu behaupten" ist — abgesehen von der Verneinung des natürlichen Rechts — auch ontologisch nicht haltbar. Jedes Seiende ist bedingt und bedingt andere. Aus Nichts entsteht nichts. Die Lehre, der Staat stelle alles Recht her, verstößt gegen dieses allgemeinste Kausalgesetz, weil danach der Staat aus Nichts entstanden wäre und aus Nichts Seiendes, also Recht, herstellen könnte. I n Wahrheit bedeutet also der Satz: „der Staat ist die alleinige Quelle des Rechts", daß das Recht widersprüchlich als Seiendes und als Nichtseiendes aufgefaßt wird. Eine derartige Lehre ist logisch und ontologisch unhaltbar. Das folgt auch daraus, daß der Staat unzweifelhaft Unrecht begehen kann. ee) Daß Jherings „Definition" des Begriffs Recht kein Erkennen des Rechts ist, zeigt schon seine Andeutung, daß bei der Frage nach dem 44 45

Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (26). Vgl. dazu Wolf, Schuldrecht A l l g . T., § 1 C I I d (32).

Α. Rudolf von Jhering

273

Unterschied zwischen einer „Rechtsnorm" und den „Normen" einer Räuberbande „der Jurist" „allen festen Boden unter den Füßen" zu „verlieren" drohe. Wenn der Unterschied zwischen einer „Rechtsnorm" und der „Norm" bei einer „Räuberbande" darin bestehen soll, daß die eine vom Staat, die andere von den Räubern gesetzt ist, ist dies nicht nur keine Erklärung des Begriffs Recht; sondern es w i r d damit ausgesagt, daß der Staat dieselben Verhältnisse wie die bei einer Räuberbande herstellen und sie als Recht behaupten kann. Daß dies nur gewaltsam, durch eine „Zwangsmaschinerie", geschehen kann und nur etwa ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung dieser Rechtslehre mit fast jeder nur denkbaren Konsequenz geschehen ist, bedarf keiner näheren Erläuterung. ff) Daß der Behauptung einer „Form" des „Rechts" und einem von dieser getrennten „Inhalt" die Verneinung des Erkennens entspricht, drückt Jhering so aus, daß der „Maßstab des Rechts" „nicht der absolute der Wahrheit", „sondern der relative des Zwecks" sei. Diese Entgegensetzung von „absolut" und „relativ", die die beginnenden Einflüsse des falschen positivistischen Wissenschaftsbegriffs, der i m ersten Teil dieser Arbeit ausführlich analysiert wurde, auf die Rechtswissenschaft zeigt, verwirft mit der Ablehnung „absoluter Wahrheiten" die Wahrheit überhaupt, und setzt an deren Stelle die Zwecksetzung und damit das zwecksetzende Subjekt i m „Denken" absolut, das wiederum nur ein absoluter Staat, der dieses Denken vorschreibt, sein kann. Der Lehre, statt einer „absoluten Wahrheit" sei „der relative des Zwecks" „Maßstab" des „Rechts", dieser sei „Inhalt des Rechts", kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil Inhalt des Rechts ein Inhalt ist, der erkannt werden kann und der Inhalt des Begriffs Recht nur diesem entsprechende, damit objektive Merkmale enthalten", ein ständig wechselnder Zweck kein Merkmal eines Begriffs sein kann, die gegenteilige Behauptung damit die Verneinung des Inhalts des Rechts darstellt. gg) Dieselbe Verneinung eines solchen „Inhalts" stellt die Ansicht von dessen „unendlicher Verschiedenheit" dar, weil „unendliche Verschiedenheit" alles und damit nichts bestimmtes bedeutet, ein Inhalt aber denknotwendig bestimmt ist. Was Jhering, u m dieser seiner Lehre den Anschein von Begründung zu verleihen, als Vergleich zwischen dem Recht und der Medizin, die wie jenes angeblich seine „Mittel" „dem Zustande des Patienten" anpasse, anführt, ist völlig abwegig. Daß ein Arzt die zur Bekämpfung einer Krankheit die seiner Diagnose entsprechenden, zur Heilung des Patienten erforderlichen Heilmittel verabreicht, ist keine „Anpassung" dieser Mittel an den „Zustand" „des Kranken" i n dem von Jhering i n Bezug auf das Recht gemeinten Sinn, 18 Tripp

274

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

daß die Mittel sich verändern würden, je nach der A r t der Krankheit. Der „Logik" Jherings folgend müßte ein Hustensaft, der sich den „Bedürfnissen" eines „Patienten" „anschmiegen" wolle, sich inhaltlich wandeln, wenn ein Patient Kopfschmerz hat — und folglich ζ. B. zur Kopfschmerztablette werden. hh) Keine Widerlegung dieser Aussage, sondern ihre Bestätigung stellt es dar, was Jhering zum sogenannten „Inhalt des Rechts" i m Gegensatz zu seinem „formalen Moment" ausführt. Schon diese Unterscheidung zwischen „Form" und „Inhalt" des Rechts ist unrichtig. M i t der Auffassung einer von dem „Inhalt" getrennten „Form", die daher notwendig inhaltsleer ist, kann nur eine absolute „Form" i m Sinne der idealistischen Philosophie gemeint sein. I n dieser Philosophie w i r d das Wort „Form" i n der Bedeutung von akausal wirkender, metaphysischer Idee, von ursprünglichen (apriorischen) Bewußtseinsinhalten gebraucht und i n Gegensatz zu dem empirisch erfaßbaren „Stoff" „Inhalt" oder „Zweck" gesetzt 46 . Da die „Form" nicht existiert, existiert der vermeintliche Inhalt nicht. Diese Lehre scheitert zusätzlich daran, daß zwischen den bildhaften Inhalten der sinnlichen Wahrnehmung und den begrifflichen Inhalten des geistigen Denkens keine Gleichheit besteht, ein sich darauf beziehender Gattungsbegriff also nicht denkbar ist. ii) Auch Jherings nähere Ausführungen zur „inneren Seite" des Rechts bestätigen die Schlußfolgerung, daß es sich bei seiner angeblich „positivistischen Rechtslehre" u m eine idealistische Rechtslehre handelt, die notwendig eine autoritäre Staatsauffassung zur Folge hat. M i t den Aussagen, die Rechtsnorm sei ein „Imperativ (positiver: Gebot, negativer: Verbot)" und dem darauf folgenden Satz: „Ein Imperativ" habe „nur i m Munde desjenigen Sinn, der die Macht" habe, „einem fremden Willen diese Beschränkung aufzuerlegen, es" sei „der stärker Wille, der dem schwächeren Willen die Richtschnur des Handelns" vorzeichne, werden Gesetz, Befehl (Imperativ!) und Gebot ineinsgesetzt, der Staat mit absoluter, keinen rechtlichen Beschränkungen unterliegenden Autorität ausgestattet behauptet. Das Recht ist danach nicht Anerkennung des Willens des einzelnen — wovon die dogmatischen Positivisten ausgehen —, sondern dessen Nichtanerkennung. Es setzt sich durch, indem es den Willen der i m Machtkampf „um das Recht" unterlegenen Schwächeren bricht — wenn Jhering dies als „Vorzeichen" der „Richtschnur des Handelns" bezeichnet, stellt dies eine Verharmlosung des mit seiner Lehre inhaltlich Ausgesagten dar. kk) Was Jhering als „geschichtliche Tatsache" bezeichnet, ist die A n sicht, daß es „das Recht" nicht gibt, also die Verneinung der Tatsache 46 Vgl. zur Verwendung des „Begriffs" „ F o r m " i n der Philosophie Kants Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (134 ff.) m. N.

Α. Rudolf von Jhering

275

des Rechts. Die Behauptungen eines „Zustands des Volkes" und der Spruch von den „Bedürfnissen der Zeit" sind ebenso Leerwörter m i t beliebig ausfüllbarem Inhalt wie die eines „Zwecks" als „Schöpfer des ganzen Rechts". Nach der realistischen Anthropologie ist ein Zweck der i m Inhalt eines Handlungsentschlusses als Tätigkeitsziel gewählte Erfolg 4 7 . Ein Zweck ist demnach Bestandteil einer Handlung. Außerhalb der menschlichen Handlung existierende Zwecke anzunehmen, heißt, dieser vorgegebene Zwecke zu behaupten, die nur apriorische Zwecke sein können. „Einen Zweck des Rechts" gibt es schon deshalb nicht, weil das Recht keine Handlung ist. Während Zwecke von Menschen jederzeit neu aufgrund von Entschlüssen hergestellt und wieder aufgehoben werden können, ist ein rechtliches Verhältnis seinem Inhalt nach durch einen Entschluß nicht wieder aufhebbar. Hinzu kommt, daß Zwecke auch Bestandteile unrechtmäßiger Handlungen sind, das Merkmal Zweck also kein Merkmal der Rechtmäßigkeit von Handlungen sein kann. Die Auffassung, daß es „keinen Rechtssatz" gibt, „der nicht einem Zweck, d. i. einem praktischen Motiv seinen Ursprung" verdanke, enthält erstens die Verneinung aller natürlichen Rechte, ζ. B. des Eigentumsrechts als natürliches Recht und insbesondere die Verneinung der Menschenrechte. Und zweitens kann zwar ein Gesetzgeber, der einen „Rechtssatz" erläßt, ebenso wie ein Mensch, der ein Gesetz denkt, damit einen Zweck verfolgen. Ein solcher Zweck w i r d damit aber nicht zum Bestandteil des Rechtssatzes oder des Gesetzes, sondern ist ein Bestandteil der Handlung des Gesetzgebers oder der Handlung des das Gesetz denkenden Menschen. Schließlich ist die Ansicht eines „ i n dem Recht" vorhandenen „Zwecks" mit der gleichzeitigen Behauptung des „Zwecks als Schöpfer des Rechts" nicht vereinbar, weil das das Recht Bedingende nicht' zugleich Bestandteil des Rechts als Bedingtem sein kann. Die gegenteilige Auffassung entspricht allerdings der Grundlage der Lehre Jherings, nach der das Recht ex nihilo entsteht; denn zu sagen, daß etwas durch sich selbst bedingt sei, ist die Behauptung seiner Entstehung aus Unbedingtem, aus Absolutem, damit aus Nichtseiendem, also aus Nichts. A n der Inhaltlosigkeit des Begriffs „Zweck" und damit der Definition des „Rechts" ändert sich nichts, wenn als dessen „Inhalt" „die Form der durch die Zwangsgewalt des Staates beschafften Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft" bezeichnet und unter „Lebensbedingungen" „nicht bloß die des physischen Daseins, sondern alle diejenigen Güter und Genüsse, welche nach dem Urteil des Subjekts dem Leben erst seinen wahren Wert" verleihen, verstanden werden. 47

1*

Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (235 f.).

276

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

Zu den „Gütern und Genüssen, welche nach dem Urteil des Subjekts dem Leben erst seinen wahren Wert" verleihen, gehören notwendig auch metaphysische Güter, deren Werthaftigkeit für den einzelnen von individuellen Glaubensentscheidungen abhängen. Derartige Glaubensentscheidungen sind, wie dargelegt wurde, wissenschaftlich nicht erkennbar. Einen Begriff, der Metaphysisches zum Inhalt hat, ist kein Begriff, der wissenschaftlich erkannt wird. Was die „Lebensbedingungen der Gesellschaft" sind, ist nicht definierbar, sondern nur w i l l k ü r l i c h behauptbar. Hinzu kommt folgendes: Die „Lebensbedingungen", „welche nach dem Urteil des Subjekts dem Leben erst seinen wahren Wert verleihen", sind gerade wegen des subjektiven Inhalts je nach den individuellen Entscheidungen der Menschen zahlreich und verschiedenartig. M i t „Gesellschaft" werden als unzutreffende Einh e i t 4 8 viele Menschen bezeichnet. Diese vielen Menschen sind nicht ein Subjekt. Und sie können nur metaphysische Wertentscheidungen für jeweils ihr Leben treffen. Sie können keine für andere Menschen — oder gar für alle Menschen, die Angehörige eines Staates sind — verbindliche Glaubensentscheidungen herbeiführen. „Ein Urteil des Subjekts" über die „Lebensbedingungen der Gesellschaft" kann es aus diesen Gründen nicht geben. W i r d ein solches behauptet, heißt dies, daß an die Stelle der Glaubensentscheidungen der einzelnen eine autoritär verfügte Glaubensentscheidung „eines Subjekts" t r i t t , das nur der Staat sein kann. Diesem gehört damit die absolute Verfügungsgewalt auch und gerade über das metaphysische Wohl der einzelnen. E i n so aufgefaßter Staat verfügt damit — scheinbar — über eine Autorität, die nur ein Gott haben kann — mit dem Unterschied allerdings, daß die göttlichen Gebote ihrem Inhalt nach nur für denjenigen verbindlich sind, der an Gott glaubt, während ein Staat, dessen „Gesetze" inhaltlich den „Geboten" entsprechen, diese mit Gewalt durchsetzt, was nicht nur dem Begriff Rechtsgesetz, sondern auch dem des göttlichen Gebotes widerspricht. Beides — Religion und Recht — w i r d also i n der Rechtslehre Rudolf von Jherings verneint. 11) Daß die Verneinung der Logik i n der Rechtswissenschaft eine autoritäre, damit antidemokratische Staatsauffassung nach sich zieht, weil es unter dieser Voraussetzung von vorneherein unmöglich ist, einen wissenschaftlichen Beweis, der als solcher unangreifbar ist, für die Bindung des Staats an das Recht und für das Existieren von Rechten einzelner Menschen zu erbringen, sondern mit der Lehre einer absoluten Freiheit des Staates i n Bezug auf die „Herstellung" von Recht und Gesetz, metaphysische und rechtliche Verhältnisse verneint werden, zeigt sich an nahezu jedem Punkt von Jherings Rechtslehre. Dafür, daß auf dieser Grundlage jede Ungeheuerlichkeit als Recht behauptet wurde 48

Vgl. dazu Wolf, B G B A l l g . T., § 1 Β I I I c (58 ff.).

Β. Karl Bergbohm

277

und nach Jherings Lehre behauptbar ist, w i r d bei den zuletzt zitierten Beispielen augenfällig. Daß ein Staat einen Teil seiner i n i h m lebenden Menschen rechtmäßig als „Arbeitsvieh" behandelt, das nicht Lesen und Schreiben lernen darf, daß er ihnen gemäß seinen willkürlichen Zwecken einmal eine Glaubenslehre verbietet, sie ihnen zu einer anderen Zeit vorschreibt, ihnen später die Glaubensfreiheit gewährt, weil er zur Auffassung gelangt ist, „ohne sie" sei „das Bestehen der Gesellschaft nicht möglich", alle diese Gewalthandlungen sollen „Recht" sein, „jede für ihre Zeit". „Recht" sind damit alle Maßnahmen, die funktional sind für Zwecke einer totalitären Herrschaft — dieser hat die Jurisprudenz, folgt sie Jhering, nicht nur kein Wissen über den Inhalt des Rechts entgegenzusetzen, sondern sie w i r d als „pragmatische Jurisprudenz" 4 9 zu deren Erfüllungsgehilfen degradiert. 4. Zusammenfassung M i t einem Rechtspositivismus als logisch-begrifflicher empirischer Tatsachen- und Geisteswissenschaft hat keine der von Rudolph von Jhering vertretenen Lehren, sei es die „naturhistorische Methode", die erklärte „Abkehr" von ihr oder die Lehre vom „Zweck i m Recht", ihren wesentlichen Inhalten nach etwas zu tun. I n jeder seiner Phasen steht Jhering vielmehr i n grundlegendem Gegensatz zu einer wissenschaftlichen positivistischen Rechtslehre, die mit dem dogmatischen Positivismus vertreten worden ist. Die „soziologische Rechtslehre" Jherings stellt i n ihrem absoluten Relativismus und dem damit verbundenen Irrationalismus eine Fortsetzung des Historismus in der Rechtslehre dar — ein Umstand, der durch die Übernahme einiger wichtiger Grundtheoreme des falschen auf idealistische Geleise geratenen philosophischen und historischen Positivismus, ζ. B. die mit der (angeblichen) Verneinung „absoluter Wahrheiten" begründete Bejahung einer (angeblich) empirischen Teleologie sowie die damit einhergehende Ineinssetzung von Tatsachen mit Machttatsachen, weitgehend verdeckt wird. B. Die Rechtslehre Karl Bergbohms I . Die Grundlagen der „Rechtserkenntnis" in der Lehre Bergbohms

K a r l Bergbohm gilt i n der heutigen rechtsphilosophischen Literat u r als „Wortführer" des rechtswissenschaftlichen „Positivismus" 5 0 , als „,reiner Positivist'" 5 1 . Er w i r d als Vertreter eines „Gesetzespositivis49

(27). 50

So die Bezeichnung der Lehre Jherings durch Larenz, Methodenlehre Larenz, Methodenlehre (38, Fn. 40).

278

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

mus", der „die juristische Allmacht des Gesetzgebers" verkünde, bezeichnet 52 , sein Hauptwerk „Jurisprudenz und Rechtsphilosophie", das 1892 erschien, als „Hauptwerk des Positivismus betrachtet" 5 3 . Schon Carl Schmitt hatte behauptet, i n diesem Buch habe die „Denkweise" des Positivismus „ihren klaren und besten Ausdruck gefunden" 5 4 ; es sei ein „derbes Beispiel naivsten Gesetzespositivismus" 55 . A l l e n diesen Ansichten liegt die Verfälschung des Wortes Positivismus durch den philosophischen und historischen Positivismus zugrunde. Denn mit Tatsachen-, Erfahrungs-, Gesetzeswissenschaft und logischer Wissenschaft, für die das Wort Positivismus bei den genannten Auffassungen steht, hat die Rechtslehre Bergbohms, wie i m folgenden zu zeigen ist, nichts zu tun, desgleichen auch nichts mit dem dogmatischen Rechtspositivismus. 1. Bergbohm führt folgendes aus: „ U m den Begriff dessen zu finden, was da" sei, müsse „man von den Einzeldingen ausgehen, die da" seien. „ U m also den Rechtsbegriff zu erfassen", dürfe „man nur von dem Recht ausgehen, das wirklich" sei. A u f empirielosem Wege" werde „man nimmer zum Begriff des Rechts gelangen". Habe „ich nun eine provisorische Begriffsbestimmung aufgestellt, so" müsse „ich die Richtigkeit derselben an dem prüfen, was sich vor meinen Augen zweifellos als Recht geltend" mache, „und gegebenenfalls meine Hypothese dementsprechend modifizieren. Die so für mich, also bloß subjektiv, gültige Begriffsbestimmung" werde „zu einer objektiv gültigen — richtiger, wenn man es ganz präzise sagen" solle: „sie" werde „nach Möglichkeit entsubjektiviert, denn mehr" lasse „sich hinsichtlich der Begriffe von unkörperlichen Dingen überhaupt nicht erreichen — wenn gegenüber meinen bestätigenden keine widersprechenden Tatachen von Denjenigen angeführt werden" können, „auf deren zustimmendes Urteil es m i r ankommen" müsse. I n der Fußnote hierzu sagt Bergbohm: Er wisse „sehr wohl," daß er „auf diese Weise durchaus nicht dem vitiösen Zirkel" entschlüpfe, „ i n den nun einmal alle Begriffsbildung gebannt" sei. „Wenn w i r die Objekte" feststellen, „denen die ihren Begriff einzuverleibenden Merkmale" anhaften, „so" bringen „ w i r bereits diesen selben Begriff zur Beurteilung ihrer Tauglichkeit an jene Objekte heran". „Jede Conception eines Begriffes" enthalte „schlechthin und notwendig 51

Hippel, Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken (134). Ott, Der Rechtspositivismus (42 f.). 58 Olivecrona, Jherings Rechtspositivismus i m Lichte der heutigen Wissenschaft (166); vgl. auch Coing (Grundzüge der Rechtsphilosophie (75 f.)), der Bergbohm mehrfach bezüglich der „Hauptthesen des Positivismus" zitiert. 54 Carl Schmitt, Uber die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens (32). 55 Carl Schmitt, Die Lage der Europäischen Rechtswissenschaft (32). 52

Β. Karl Bergbohm

279

ein Vorurteil, das sich bei jeder Verifizierung und Verfeinerung des Begriffsinhaltes mittels Prüfung anderweitiger Objekte wiederholen" müsse, „aber auch bestätigen" könne. „Keine erkenntnistheoretischen Finessen" vermögen „uns darüber hinwegzuhelfen" „und die Zweifel, welche bis i n die Tage der griechischen Skeptiker" zurückreichen, „zu beseitigen". „Die Logiker" definieren „nach wie vor Urteil als die Beziehung von Begriffen aufeinander; aber keiner" bestreite, „daß die Begriffe selbst schon Niederschläge von Urteilen" seien 56 . 2. I n diesen Ausführungen sind die Hauptfehler schen Positivismus enthalten:

des philosophi-

a) Ausgangspunkt einer „empirischen" Erkenntnis ist nach Bergbohm eine „für mich, also bloß subjektiv, gültige Begriffsbestimmung". Das t r i f f t nicht zu, weil ein Begriff notwendig i n seinen Merkmalen einem Gegenstand entspricht, auf den er sich bezieht. Seine Bedingtheit durch den Gegenstand (Objektivität) schließt subjektive Begriffe und somit auch „subjektiv gültige Begriffsbestimmungen" aus. Die gegenteilige Auffassung Bergbohms ist die Übernahme einer Absolutsetzung des Ich i n der Erkenntnis, wie sie ein Wesensmerkmal des falschen „Empirismus" Humes und des philosophischen Positivismus darstellt. b) Von einem derart absolut gesetzten Ich aus läßt sich die Objektivität einer Erkenntnis nicht begründen. Wenn Bergbohm die Wendung gebraucht „objektiv gültig" — „richtiger" „entsubjektiviert", bedeutet dies, daß es nach i h m keine Objektivität der Erkenntnis gibt, der „Erkennende" aber auch nicht nur zu einer „bloß subjektiven" „Begriffsbestimmung" gelangen soll. Damit w i r d mit der „Entsubjektivierung" ein Drittes zwischen „Subjektivität" und „Objektivität" behauptet, was logisch nicht möglich ist; denn eine „Begriffsbestimmung", die nicht einem Gegenstand entspricht, kann nur ichhaft sein. Daß Bergbohm, obwohl er das Erkennen damit als ichbedingt behauptet, dennoch die Bezeichnung „objektiv gültig" beibehält, bedeutet, daß — wie dies ebenfalls i m philosophischen Positivismus geschehen ist — Objektivit ä t 5 7 und Subjektivität miteinander vermengt werden. c) Auch Bergbohms Behauptung eines „vitiösen Zirkels" bei der „Begriffsbildung", nach der die „Begriffe" und „Urteile" als von „Begriffen" und „Urteilen" abhängig erklärt werden, enthält i n der damit behaupteten Abhängigkeit des Denkens von sich selbst die Übernahme der Auffassung des philosophischen Positivismus, nach dem das „Erkennen" einem „fehlerhaften Zirkel" unterliegt 5 8 . 56 57 68

Bergbohm, Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie (79 f.). Siehe oben z. B. S. 85 ff., 105 ff. Siehe oben S. 100 ff.

280

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

d) Die weitere Ansicht Bergbohms, die „bloß subjektiv gültige Begriffsbestimmung" werde „zu einer objektiv gültigen", „richtiger" „entsubjektiviert", „wenn gegenüber meinen bestätigenden keine widersprechenden Tatsachen von denjenigen angeführt werden" können, „auf deren zustimmendes Urteil es m i r ankommen" müsse, enthält den Fehler des philosophischen Positivismus, in dem gesagt wird: „Das, was andere Menschen ebenso wie ich und aus denselben Gründen wie ich" erkennen, scheine „ m i r realer zu sein als das, was sie nicht" erkennen 150 . Denn aus der behaupteten „subjektiv gültigen Begriffsbestimmung" w i r d keine „objektiv gültige", wenn andere Menschen, deren „Begriffsbestimmungen" ebenfalls als „subjektiv gültig" angenommen werden müssen, diese „Begriffsbestimmungen" „zustimmend" beurteilen. Die über ein Jahrtausend existierende Ansicht, die Erde sei der Mittelpunkt der Welt, wurde nicht „entsubjektiviert" dadurch, daß dies Millionen von Menschen glaubten. e) Dem vom falschen „Empirismus" Humes beeinflußten philosophischen Positivismus entsprechen auch die weiteren „Schlußfolgerungen" Bergbohms: da er der Sache nach jede Objektivität verneint, gibt es i n Wahrheit keine Urteile, sondern nur „Vorurteile", gibt es keinen Beweis dieser „Vorurteile", sondern einen durch „keine erkenntnistheoretischen Finessen" zu beseitigenden Skeptizismus. f) Die Lehre Bergbohms stellt danach die Übernahme des erkenntnistheoretischen Nihilismus des Humeschen „Empirismus" und des philosophischen Positivismus dar. Was dennoch als Erkennen behauptet wird, ist notwendig seine Verfälschung. So geschieht es bereits i n dem oben angeführten Zitat, wenn Bergbohm — was er offenbar für einen „Weg", der nicht „empirielos" ist, hält — die „Richtigkeit" seiner „provisorischen" „Begriffsbestimmung" „an dem" zu „prüfen" vorhat, was sich vor seinen „Augen zweifellos als Recht geltend" mache. Dies scheitert schon daran, daß ein rechtliches Verhältnis sinnlich nicht wahrnehmbar ist, sich also nicht vor den „Augen" „geltend" machen kann. Vor allem aber enthält diese Aussage den Fehler — der die direkte „Anwendung" der falschen Behauptung, „Urteile" und „Begriffe" seien nicht ausschließlich gegenstandsbedingt (objektiv), auf die „Rechtserkenntnis" ist —, daß es eine „provisorische Begriffsbestimmung" gibt, die an dem überprüft werden kann, was sich „zweifellos" „als Recht geltend" mache: dieses „zweifellos" ist nichts anderes als eine begrifflich nicht begründete und auch nicht begründbare „unmittelbare Gewißheit" i m Sinne der Philosophie Descartes, die von Hume und den philosophischen Positivisten übernommen worden ist. Rechts59

Siehe oben S. 91 ff.

Β. Karl Bergbohm

281

erkenntnis w i r d damit als identisch mit einem Glauben daran aufgefaßt, daß ein Seiendes Recht ist. g) M i t der Behauptung, die „Richtigkeit" „einer provisorischen Begriffsbestimmung" sei „an dem zu prüfen, was sich vor" den „Augen zweifellos als Recht geltend" mache, w i r d als „Grund" für die „Zweifellosigkeit" die „Geltung" eines „Rechts" behauptet. Die Aussage heißt also: Recht ist, was als Recht gilt. Erstens w i r d damit wiederholt, daß es eine objektive „Begriffsbestimmung" des Rechts nicht geben kann, denn „gelten" als „Recht" kann jeder Sachverhalt. Zweitens w i r d damit die Existenz des Rechts verneint, denn als Recht „gelten" kann auch Unrecht. Drittens w i r d dadurch, daß das, was ein Machthaber als „Geltung" des „Rechts" durchsetzt, auch als Recht behauptet wird, das Recht insgesamt staatlicher W i l l k ü r überantwortet. h) Die „Tatsachen", die nach Bergbohm die „zweifellose" Gewißheit hinsichtlich der „Begriffsbestimmung" des „Rechts" begründen sollen, nach denen man „gegebenenfalls" seine „Hypothesen" „modifiziert", sind damit reine Machttatsachen. Diese „Tatsachen" sind außerdem w i l l k ü r l i c h auswählbar. M i t wissenschaftlicher Rechtserkenntnis hat das dazu von Bergbohm Ausgeführte nichts zu tun. I I . Die Rechtsbehauptungen Bergbohms

1. Sämtliche näheren „Begriffsbestimmungen" des Rechts durch Bergbohm bestätigen die Schlußfolgerungen, die sich aufgrund der Übernahme des erkenntnistheoretischen Nihilismus des philosophischen Positivismus ergeben haben. Bergbohm behauptet: „Nur was als Recht" funktioniere, „das" sei „Recht, sonst nichts; und alles das" sei „Recht ohne Ausnahme" 6 0 . „Alles Recht" sei „positiv, alles Recht" sei „»gesetzt' und nur positives Recht" sei „Recht" 6 1 . „Die Tat oder Taten aber, die" einem „Rechtssatz" „die spezifische Rechtseigenschaft oder Rechtsform" verleihen, seien „immer etwas äußerlich Wahrnehmbares, etwas Geschehendes, und dieses, das historische Ereignis oder die Reihe der historischen Ereignisse, das" sei „eben das Geschichtliche, was unter allen Umständen zum Rechtwerden erforderlich" sei. „So" denke er (Bergbohm), haben „es auch Savigny und die Historische Schule gemeint, trotz der verschwommenen Philosophie des Rechtsbewußtseins. Wenn sie es nicht so gemeint haben" sollten, wollen „ w i r es so meinen. W i r " können „gar nicht anders. Denn w i r wollen und können nur positives Recht als Recht anerkennen." „ U m es noch besonders auszusprechen, positives Recht sein und auf 60 61

Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (80). Bergbohm, Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie (52).

282

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

einem geschichtlichen Wege ins Dasein als verbindliche Regel gesetzt sein," sei „schlechthin ein und dasselbe" 62 . 2. Diese Ausführungen sind i n Bezug auf den Begriff „positives Recht" grundlegend verfehlt. Die Behauptungen, „Recht" sei, was als solches „funktioniere"; alles „Recht" sei „positiv", „alles Recht" sei „gesetzt"; alles „Recht" sei „geschichtlich"; es gebe „Taten", die einem „Rechtssatz" die spezifische „Rechtsform" „verleihen; das „Recht" werde „auf einem geschichtlichen Wege ins Dasein als verbindliche Regel gesetzt" enthalten die falsche Gleichung Recht = Macht und damit die Gleichung Recht = Unrecht. Denn auch Unrecht kann als „Recht" „funktionieren", als „Recht" „gesetzt" werden, eine „Rechtsform" „verliehen" bekommen, als „verbindliche Regel gesetzt" werden. Verstärkt w i r d diese Beurteilung der Lehre Bergbohms durch dessen ausdrücklichen Hinweis auf die „historische Rechtsschule", zu der die Parallelen nach dem i n dieser Arbeit Ausgeführten offenkundig sind. Ι Π . Zusammenfassung

Die „Philosophie des positiven Rechts" 63 von Bergbohm erweist sich als Anwendung des erkenntnistheoretischen Nihilismus des verfehlten philosophischen Positivismus auf die Rechtslehre. Eine wissenschaftliche Rechtserkenntnis, eine wissenschaftliche Gesetzeserkenntnis kann es nach dieser irrationalistischen Lehre nicht geben. Sie erweist sich als Fortsetzung der idealistischen „historischen Rechtsschule" ebenso wie die der falschen „Rechtssoziologie" Jherings. Ihre Bezeichnungen als „Rechtspositivismus" bzw. „Gesetzespositivismus" enthalten die Verfälschungen der Begriffe Recht, Gesetz, Positivismus, und damit die der Begriffe Tatsache, Erfahrung, wissenschaftliches Erkennen und Logik. Da m i t der Ablehnung dieser Lehre die des dogmatischen Positivismus verbunden wird, enthalten die genannten Bezeichnungen eine Verfälschung und Diffamierung nicht nur der wissenschaftlichen Rechtserkenntnis des 19. Jahrhunderts, sondern die der Jurisprudenz als Wissenschaft überhaupt. C. Die Rechtslehre Ernst Rudolf Bierlings I. Neben Bergbohm w i r d Bierling als führender Vertreter des Rechtspositivismus des 19. Jahrhunderts behauptet 6 4 , die von i h m vertretene Rechtslehre als „psychologischer Rechtspositivismus" bezeichnet, 62

Bergbohm, Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie (546). So nennt Bergbohm (Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie (27)) seine Rechtslehre selbst. 64 Vgl. ζ. B. Larenz, Methodenlehre (42 ff.). 68

C. Ernst Rudolf Bierling

283

„der sich an die der Rechtsnorm zugrundeliegenden inneren Tatsachen, nämlich an die faktisch bestehenden Vorstellungen und Willensrichtungen bei den Rechtsgenossen" halte 6 5 . Diesen Ansichten zu Bierling kann ebensowenig wie denen zu Bergbohm gefolgt werden. II. Bierling führt zu seiner Begriffsbestimmung des Rechts folgendes aus: „Recht i m juristischen Sinne" sei „ i m allgemeinen alles, was Menschen, die i n irgendwelcher Gemeinschaft miteinander" leben, „als Norm und Regel dieses Zusammenlebens wechselseitig" anerkennen 66 . „Was Normen-Anerkennung überhaupt" sei, „oder vorsichtiger ausgedrückt, was ich für meine Person bei allen meinen Erörterungen unter ,Normen-Anerkennung'" verstehe, werde „sich am besten klarlegen lassen, indem w i r " zurückgehen „auf den analogen Begriff, dem der zu erklärende nachgebildet" sei, „nämlich auf die »Anerkennung von Wahrheiten'". „Alle Wahrheiten" seien „oder" erscheinen, genau besehen, nur als Wahrheiten, sofern sie als Wahrheiten" wirken. „So wenig es Farben oder Töne" gebe, „welche schlechthin niemand" sähe „oder" hörte, „so wenig" gebe „es Wahrheiten, welche nicht irgendwie i n denkenden Geistern Geltung" hätten. „Das Wirken einer Wahrheit, gleichwie von Licht und Klang," sei „vielmehr zu denken" „als ein Gewirktwerden, wozu die Geister, auf welche das Genannte zu wirken" scheine, „sehr wesentlich mitwirken" (alle Hervorhebungen von Bierling, D. T.) 6 7 . 1. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. a) Die Behauptung Bierlings i n Bezug auf die „Anerkennung von Wahrheiten", „alle Wahrheiten" seien „oder" erscheinen, „genau besehen, nur als Wahrheiten, sofern sie als Wahrheiten" wirken; es gebe „keine Wahrheiten, welche nicht irgendwie i n denkenden Geistern Geltung" hätten; es gebe ein „Wirken einer Wahrheit"; es gebe „ein Gewirktwerden, wozu die Geister, auf welches das Genannte zu w i r ken" scheine, „sehr wesentlich mitwirken" sind nicht haltbar. Wahrheit ist die Entsprechung zwischen einem Urteil und dem Gegenstand, auf den es sich bezieht 6 8 . Sie existiert i n dem Zeitpunkt, i n dem ein derartiges Urteil gedacht wird. Ihre Existenz hängt damit nicht von einer „Anerkennung", „Geltung", ihrem „Wirken" als Wahrheit oder dem „ M i t w i r k e n " eines „Geistes" ab. Dies zeigt sich daran, daß es wahre Urteile gibt, deren Wahrheit niemand kennt, wie dies z. B. bei noch nicht bewiesenen Urteilen der Fall sein kann. Umgekehrt sagt der 65

So Henkel, Rechtsphilosophie, §39 (492); ähnlich Larenz, lehre (40 f.). ββ Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 1. Bd. (19). 67 Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 1. Bd. (41). 68 Wolf, Gibt es eine marxistische Wissenschaft (32).

Methoden-

284

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

Umstand, daß ein Urteil als wahr „gilt" oder als wahr „anerkannt" wird, nichts darüber aus, ob es tatsächlich wahr ist. Dies hängt alleiïi von dem Gegenstand ab, durch den die Wahrheit eines Urteils bedingt ist. Das Gleiche gilt hinsichtlich des „Wirkens" einer Wahrheit oder ihres „Gewirktwerdens". Dieses „Wirken" ist kausaltheoretisch unmöglich, weil eine Wahrheit kein wirkendes Seiendes ist. I n allen diesen Behauptungen w i r d die Bedingtheit einer Wahrheit nicht durch einen Gegenstand, sondern durch ein sich auf ein Urteil beziehendes Subjekt behauptet. Damit t r i t t an die Stelle der Objektivität der Wahrheit ihre behauptete Abhängigkeit von einem Subjekt: die Wahrheit w i r d infolgedessen als ichbedingt aufgefaßt — und damit aufgegeben. b) Damit liegt einer Lehre, von der behauptet wird, daß sie die „inneren Tatsachen" des Rechts erkenne, die Verneinung der Wahrheit und damit jeder Erkenntnis, also auch der Rechtserkenntnis zugrunde. Hinzu kommt folgendes: Die Aussage, „Recht" sei „alles, was Menschen, die i n irgendwelcher Gemeinschaft miteinander" leben, „als Norm und Regel" „wechselseitig anerkennen", ist die Aussage, „Recht" sei „alles", was diese Menschen für Recht halten, oder übereinstimmend „Recht" nennen. Damit ist das Problem, vor dem Jhering jeden Juristen, „der nicht allen festen Boden unter den Füßen verlieren" wolle, noch gewarnt hat, nämlich die „Normen" „einer Räuberbande" für Recht zu halten™, i n der Lehre Bierlings „gelöst": derartige „Normen" sind nach den zitierten Aussagen „Recht". Die i n ihnen enthaltene Ineinssetzung von Recht und Unrecht bedeutet die der Verneinung der Wahrheit entsprechende Verneinung des Rechts. c) Zur „wechselseitigen Anerkennung des Rechts" führt Bierling näher aus:,, Die Rechts-Anerkennung", d.h. die das konstituierende Merkmal des Rechts bildende Anerkennung", sei „niemals als eine schlechthinnige, sondern immer nur als eine räumliche und zeitlich bedingte (Hervorhebung von Bierling, D. T.) zu denken" 7 0 . „Es" gebe „wahre Rechtsanerkennung nur so weit und so lange, als es anerkennende Genossen" gebe, „und dies" gelte „nicht bloß dem tatsächlichen Erfolge nach, sondern es" liege „schon begrifflich i m Wesen alles Rechts i m juristischen Sinn" 7 1 . Der Behauptung der Subjektbedingtheit der Wahrheit, die ihrerseits den Auffassungen der idealistischen Philosophie und der des philosophischen Positivismus entspricht, entspricht die Ansicht, daß die „Rechtsanerkennung" eine „räumlich und zeitlich bedingte" sei: je nach dem, was die „Genossen" als Recht „anerkennen" wollen, gibt es das „Recht" 69 70 71

Siehe oben S. 269 f. Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 1. Bd. (44 f.). Bierling, Juristische Prinzipienlehre, l . B d . (44f.).

C. Ernst Rudolf Bierling

285

oder es gibt kein „Recht". Von dieser „Anerkennung" unabhängige reale rechtliche Verhältnisse gibt es danach nicht. Auch diese Ausführungen sind damit rechtsverneinend. d) Die „psychologische Rechtstheorie" Bierlings erweist sich damit i n ihrer Behauptung eines „räumlich und zeitlich bedingten Rechts" als Fortführung der „historischen Rechtsschule". Sie ist infolgedessen nur scheinbar eine Lehre, die „innere Tatsachen" des Rechts erkennt, weil sie die Verneinung der Tatsache des Rechts enthält. Daß es sich bei den behaupteten „Tatsachen" auch nicht u m „innere Tatsachen" handelt, ergibt sich aus Bierlings Ausführungen zur Gesetzgebung: aa) „Wer jemals einen etwas tieferen Einblick i n das wirkliche Getriebe gesetzgeberischer Tätigkeit empfangen" habe, „dem" werde „nicht zweifelhaft sein, daß ein Gesetz schlechterdings nicht darauf" ausgehe, „theoretische Erklärungen über an sich schon bestehende Verpflichtungen abzugeben, sondern immer und überall — selbst wo es sich dem Inhalt nach nur u m Zusammenfassung oder Wiederholung älterer Rechtsvorschriften" handele — „dahin, Forderungen irgendwelcher A r t auszusprechen oder m. a. W. einen Willen auszudrücken, der von denen, für die das Gesetz gegeben" werde, „Erfüllung" erwarte. „ I n zahllosen Gesetzen, namentlich des Altertums und des Mittelalters," gelange „dies sogar i n der Form der einzelnen Gesetzesbestimmungen zur Anschauung, indem diese regelmäßig eine streng imperativistische" sei. „Aber auch wo dies nicht der Fall" sei, „wo die Sprache der juristischen Wissenschaft oder überhaupt der Reflexion i n die Gesetzgebung selbst Eingang gefunden" habe, „wo die einzelnen Rechtssätze i n indikativischer Form nach A r t von wissenschaftlichen Lehrsätzen" auftreten, fehle „es doch niemals an deutlichen Anzeichen dafür, daß das Gesetz seinem gesamten Inhalte nach imperativistisch verstanden sein" wolle, „oder m. a. W. daß es sich nur insoweit als wahres Gesetz" darstelle, „als sein Inhalt, — d. h. dasjenige, was äußerlich, dem Buchstaben nach als solcher" erscheine — „imperativistisch aufgefaßt, also auf Normen reduziert werden" könne. „So" liege „die Sache insbesondere auch bei unserer heutigen deutschen Gesetzgebung. Die hier übliche Eingangsformel ,Wir verordnen . . . was folgt':" enthalte „den ersten Teil eines Willensurteils, das" wolle „sagen: die Bezeichnung des wollenden Subjekts und des Willensaktes, zu welchem das Folgende, also dasjenige, was man neuerdings als ,Gesetzesinhalt4 zu bezeichnen" pflege, „von Anfang bis Ende als Objekt des Willens, d. h. eben als Norm sich" darstelle. „Die Formel" umschließe „ m i t h i n das ganze Gesetz dergestalt, daß alles ,was folgt' von dem Gesichtspunkt des Verordnens, des obrigkeitlichen Gebotes beherrscht" erscheine „und danach ausgelegt, ja gewissermaßen übersetzt werden" müsse 72 . 72

Bierling, Juristische Prinzipienlehre, 1. Bd. (30 f.).

286

8. Kap.: Der falsche Rechtspositivismus

bb) Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden. „ E i n Gesetz" spricht weder „Forderungen" aus, noch „drückt" es einen „Willen" aus, noch „erwartet" es „Erfüllung". „Erwarten" kann nur ein Mensch. Ein Rechtsgesetz als Kausalgesetz mit dem Inhalt, daß, wenn ein Tatbestand einer bestimmten A r t vorliegt, eine Rechtswirkung einer bestimmten A r t e i n t r i t t 7 3 , kann insbesondere nicht auf die bezeichnete Weise „psychologisch" erfaßt werden. Das Entscheidende i n den zitierten Auffasfungen ist aber die verfehlte Ineinssetzung von „Gesetz" mit „Imperat i v " (Befehl), der auch als „Norm" bezeichnet wird, sowie mit Gebot. Diese Behauptung scheitert i m Ansatz daran, daß ein Rechtsgesetz ienknotwendig „Wenn — dann"-Sätze enthält, nicht aber Sollenssätze. I n einem Rechtsgesetz ist erkannt, welche Rechtswirkungen bei Vorliegen oder Nichtvorliegen eines bestimmten Verhaltens eines Menschen oder bei Vorliegen oder Nichtvorliegen eines bestimmten Geschehens eintreten oder nicht eintreten. Einen Imperativsatz (Du sollst!) enthält kein rechtliches Gesetz. Die Übersetzung der Gesetze i n derartige Imperative und Gebote bedeuten i n Wahrheit ihre Verfälschung. Daß die gegenteilige Annahme obrigkeitsstaatlichem Denken entspricht, ergibt sich aus Bierlings Worten selbst, wenn er von „Verordnen" und „obrigheitlichen Geboten" redet. Die angeblichen „inneren Tatsachen" sind nach allem i n Wahrheit „Willensakte", „Willensurteile" eines Machthabers, der nach eigenem Gutdünken Befehle erteilen und Gebote verkünden kann; die „inneren Tatsachen" sind — zusammengefaßt — die erzwungene „Anerkennung" eines „Obrigkeitsstaates". I I I . Auch die „psychologische Rechtslehre" Bierlings, die, ausgehend von der Verneinung der Wahrheit, konsequent zur Verneinung des Rechts und darüber zur Anerkennung eines Obrigkeitsstaats gelangt, entspricht dem Begriff Positivismus, der historisch und sachlich untrennbar mit naturwissenschaftlich-exaktem Denken verknüpft ist, i n nicht einem Merkmal. Die gegenteiligen Behauptungen enthalten ein weiteres Mal eine Verfälschung des Positivismus.

78

Wolf, B G B A l l g . T., § 1 A V I 15 (29).

9. Kapitel

Abschluß I n der vorliegenden Arbeit wurde der Nachweis dafür zu erbringen versucht, daß allein der dogmatische Rechtspositivismus — einschließlich der ihn vorbereitenden Lehren Thibauts — vom Grundsatz her und i n weiten Teilen der Durchführung empirisch-logische Tatsachen- und Gesetzeswissenschaft unter Absehung von „wertenden Stellungnahmen" i n „metaphysischem, ethischem oder politischem S i n n " 1 gewesen ist. A l l e i n der dogmatische Rechtspositivismus ist begrifflich zutreffend als Positivismus zu bezeichnen. Die unter dem Titel „Falscher Positivismus" zusammengefaßten „soziologischen" und „psychologischen" Rechtstheorien entsprechen hingegen i n keinem Merkmal einer auf empirischer Grundeinstellung beruhenden, die Gesetze, insbesondere die Gesetze der Logik, anwendenden Tatsachenwissenschaft. Sie sind Lehren, die dem Irrationalismus der idealistischen, spekulativen Lehren, gegen die sie sich dem A n schein nach wenden, nicht entgegengetreten sind. Vielmehr haben sie i h n fortgesetzt unter Übernahme von Grundaussagen des i m ersten Hauptteil dieser Arbeit ausführlich analysierten, auf idealistische Geleise geratenen philosophischen, historischen und naturwissenschaftlichen philosophischen Positivismus, deren Lehren streng vom Empirismus des naturwissenschaftlichen Positivismus zu unterscheiden sind, wie dargelegt wurde. W i r d dies verkannt und werden insbesondere die „soziologischen" und „psychologischen" Rechtstheorien von Jhering, Bergbohm und Bierling für rechtspositivistische Lehren gehalten, zieht dies Fehlbeurteilungen und Verfälschungen des Positivismus insbesondere i n folgender doppelter Hinsicht nach sich: Erstens w i r d bei dieser „Betrachtungsweise" 2 die große Leistung des rechtswissenschaftlichen Positivismus i m 19. Jahrhundert „übersehen" 3 , zumindest aber relativiert 4 . Sie be1

Vgl. oben, V o r w o r t , S. 11. Diesen Ausdruck verwendet Larenz, Methodenlehre (41). 3 Daß es einen dogmatischen Positivismus gibt, verkennen z . B . Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie (75); Carl Schmitt, Über die drei A r t e n des rechts wissenschaftlichen Denkens (29 ff.). Larenz, Methodenlehre (29 ff.) bezeichnet Windscheid, den führenden Vertreter des dogmatischen Positivis2

288 s t a n d d a r i n , gegen

9. Kap.: Abschluß die Naturrechtslehren u n d die i n i h n e n vertretene

„ a x i o m a t i s c h e M e t h o d e " 5 sowie gegen idealistische Rechtsauffassungen, insbesondere die „historische Rechtsschule" 6 , die Schaffung eines e i n h e i t l i c h e n B ü r g e r l i c h e n Gesetzbuchs f ü r ganz D e u t s c h l a n d z u

erkämp-

fen u n d die i n i h m e n t h a l t e n e n u n a n g r e i f b a r e n dogmatischen G r u n d l a g e n gegen j e n e A u f f a s s u n g e n u n d auch insbesondere gegen d e n f a l schen P o s i t i v i s m u s durchzusetzen

bzw. zu

verteidigen.

Z w e i t e n s s i n d die I n e i n s s e t z u n g e n falscher p o s i t i v i s t i s c h e r L e h r e n m i t d e m P o s i t i v i s m u s als Tatsachen- u n d Gesetzeswissenschaft d u r c h die d a m i t der Sache nach v o l l z o g e n e n I d e n t i f i z i e r u n g e n v o n Tatsachen m i t Machttatsachen, d a m i t z u s a m m e n h ä n g e n d v o n logischem D e n k e n m i t Herrschaftsdenken 7, w e i t e r h i n v o n Spekulation m i t begrifflichem Denken8, damit zusammenhängend v o n K o n s t r u k t i o n m i t Logik9, Grundl a g e n f u n d a m e n t a l e r A n g r i f f e gegen v o n E r f a h r u n g s t a t s a c h e n ausgehende, n u r m i t b e g r i f f l i c h e m D e n k e n u n t e r A n w e n d u n g logischer Gesetze m ö g l i c h e wissenschaftliche R e c h t s e r k e n n t n i s . D e r schon seit d e m E n d e des v o r i g e n J a h r h u n d e r t s (v. G i e r k e ) g e f ü h r t e u n d v o n e i n e m mus, als einem vermeintlichen „rationalistischen Gesetzespositivismus" zugehörig u n d rechnet i h n zur „Konstruktionsjurisprudenz". 4 So geschieht es ζ. B. bei Dahm, Deutsches Recht, § 18 (134), nach dem „der Verzicht dieser Zeit auf das Nachdenken über den tieferen Ursprung des Rechts, auf E t h i k u n d Metaphysik, auf philosophische Spekulation" „letztlich durch den hohen Rang der damals bestehenden Rechts- u n d Staatsordnung legitimiert" sei, zu anderen Zeiten diese „ L e g i t i m a t i o n " offensichtlich nicht besteht. Daß Dahm zu diesem U r t e i l gelangt, ist u m so erstaunlicher, als er zur „Periode etwa zwischen der M i t t e des 19. und dem Beginn des neuen" aussagt, sie sei „keineswegs eine Zeit des Niedergangs, vielmehr eine der großen Zeiten des Deutschen Rechtslebens gewesen". Denn danach scheint der dogmatische Positivismus daran, daß die „damals bestehende Rechts- u n d Staatsordnung" „hohen Rang" besaß, nicht ganz unbeteiligt gewesen zu sein. 5 Siehe dazu oben Seite 168 ff. 8 Siehe dazu oben Seite 180 ff. 7 So geschieht es, w e n n Carl Schmitt, Über die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens (32) zuerst behauptet, daß die positivistische „ D e n k weise" bei Bergbohm „ i h r e n klarsten u n d besten Ausdruck gefunden" habe, u m dann (35) „den Positivisten" zu charakterisieren als einen „Typus rechtswissenschaftlichen Denkens", der „sich — dezisionistisch — der Entscheidung des j e w e i l i g i m Besitz der staatlichen Macht stehenden Gesetzgebers" unterwerfe, „ w e i l dieser allein die tatsächliche Erzwingbarkeit verschaffen" könne; vgl. auch E r i k Wolf, Große Rechtsdenker (624 f.): „die verhängnisvollste W i r k u n g " des rechts wissenschaftlichen Positivismus sei das „Zurückweichen der ethisch begründeten Rechtsidee vor dem Idol des Nutzens u n d der Macht". 8 So setzt Dahm, Deutsches Recht, § 17 (128) „Begriffsjurisprudenz" ineins m i t der axiomatischen Methode „des älteren Naturrechts". 9 Vgl. Dahm, Deutsches Recht, § 17 (130); „Begriffsjurisprudenz" u n d „Konstruktionsjurisprudenz" werden ineinsgesetzt z.B. v o n Wieacker, P r i vatrechtsgeschichte der Neuzeit, §23 (434) u n d von Larenz, Methodenlehre (21).

Dogmatischer und falscher Rechtspositivismus

289

führenden Vertreter der nationalsozialistischen Rechtsauffassung (Carl Schmitt) fortgesetzte Kampf gegen den Positivismus und damit gegen die Wissenschaftlichkeit der Rechtserkenntnis dauert bis heute an 1 0 . Hierzu gehört insbesondere die als „ H i t l e r - A r g u m e n t " 1 1 berühmt gewordene Behauptung, die Radbruch 1 2 zuerst 13 ausgesprochen hat, daß „der Positivismus" „ i n der Tat mit seiner Überzeugung ,Gesetz ist Gesetz' den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht" habe „gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhaltes". Mit dem sogenannten „Gesetzespositivismus" w i r d hier jedes Denken, das i m „Gesetz" angeblich „innewohnende" „Werte" ablehnt, das sich weigert, notwendig subjektive „Wertungsjurisprudenz" zu sein, und damit das wissenschaftlich einzig mögliche Beharren auf der Objektivität rechtswissenschaftlichen Erkennens mit einem nicht zu überbietenden Vorwurf belegt. Bei allen diesen Angriffen auf den Positivismus handelt es sich der Sache nach darum, das zeitweise sehr erfolgreiche Bemühen des dogmatischen Positivismus, das i m Bürgerlichen Gesetzbuch seinen bis jetzt gebliebenen Ausdruck gefunden hat, nämlich die Rechtswissenschaft zur Wissenschaft zu erheben, wieder rückgängig zu machen. Der Erfolg dieser Versuche zeigt sich darin, daß Bestrebungen i m Gange sind, das Bürgerliche Gesetzbuch zu beseitigen 14 . Die K r i t i k an der Fehlbeurteilung des Rechtspositivismus bedeutet keine Verkennung dessen, daß der juristische Positivismus über die für die Begründung einer empirisch-realistischen Rechtswissenschaft uner10 Eine Auflistung der am Positivismus vollzogenen K r i t i k e n , hier: der Methodenlehre Paul Labands, die diese Zusammenhänge eindrucksvoll belegt, findet sich bei Wilhelm, Juristische Methodenlehre (13, Fn. 22) m i t zahlreichen Nachweisen. „Wesentliche Zielpunkte der K r i t i k " sind insbesondere: „der logische Formalismus" (also die A n w e n d u n g der Gesetze der Logik); „die logisch-mathematische Begriffsbildung u n d die Denaturierung der Rechtsbegriffe zu Gattungsbegriffen" (also die Erkenntnis rechtlicher V e r hältnisse unter Anwendung von Begriffen, insbesondere des Begriffs Recht); „der Verzicht auf teleologische u n d wertende Rechtsbetrachtung" (also das wissenschaftliche Erkennen ohne subjektive „Betrachtungen"). Vgl. auch Larenz (Methodenlehre (221 f.)), der den „scientistischen Wissenschaftsbegriff" für die Rechtswissenschaft ablehnt. 11 Vgl. Ott, Der Rechtspositivismus (178 ff.). 12 Radbruch, Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 107. Besonders bemerkensw e r t ist, daß die Auffassung „Gesetz ist Gesetz" der Sache nach vor 1933 führend gerade von Radbruch selbst vertreten wurde. Nach der damaligen Auffassung Radbruchs (Einführung i n die Rechtswissenschaft (14, 33 f., 36 f.); zit. nach Wolf, Das Recht zur Aussperrung (63)) „ k a n n " „der Gesetzgeber" „seinen Forderungen" „jeden I n h a l t geben, der i h m beliebt", ist „ n u r das, aber auch alles, was der zur Rechtsetzung berufene W i l l e setzt u n d durchsetzt", „geltendes Recht". Vgl. dazu näher Wolf, Das Recht zur Aussperrung (63 f.). 13 Weitere Nachweise bei Ott, Der Rechtspositivismus (179). 14 Vgl. hierzu den A r t i k e l v o n Fernando Wasner i n der F.A.Z. v o m 4. 2.1981 u n d den Leserbrief v o n W o l f i n der F.A.Z. v o m 24. 2. 1981 („Hände weg v o m Bürgerlichen Gesetzbuch").

19 Tripp

290

9. Kap.: Abschluß

läßlichen ontologischen und anthropologischen Grundlagen nicht verfügt hat. Die Überwindung der Fehler und Unzulänglichkeiten des rechtswissenschaftlichen Positivismus kann aber nicht i n der „Neubegründung eines Rechtsglaubens" 15 oder i n der Schaffung von „Methoden ,wertorientierten Denkens 4 " l ß bestehen, sondern hat zu geschehen unter Beibehaltung wesentlicher Einsichten des Positivismus. Diese und die Erfahrungen des 19. Jahrhunderts zeigen, daß die Anerkennung der Gegebenheit rechtlicher Verhältnisse, die ein Wesensmerkmal des Rechtsstaats ist, entscheidend davon abhängt, daß die Jurisprudenz eine realistische Wissenschaft, nicht eine Glaubenslehre, nicht ein Idealismus oder ein anderer Subjektivismus ist.

15 16

So ζ. B. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (620). So Larenz, Methodenlehre (7).

Literaturverzeichnis Aamio,

Aulis: Denkweisen der Rechtswissenschaft, Wien 1979.

Apelt,

Ernst Friedrich: Die Theorie der Induction, Leipzig 1854.

Aristoteles:

Zweite A n a l y t i k , hrsg. v. P. Gohlke, Paderborn 1953.

Bacon, Francis: Neues Organon, hrsg. v o n J. H. v o n Kirchmann, in: Philosophische Bibliothek, Bd. 32, Leipzig 1870 (zit.: Neues Organon). Baratta, Alessandro: Über Jherings Bedeutung für die Strafrechtswissenschaft, in: Jherings Erbe, hrsg. v o n Franz Wieacker u n d Christian W o l l schläger, Göttingen 1970. Baur, Ernst: Johann Gottfried Herder, Stuttgart 1960. Bavink, Bernhard: Was ist Wahrheit i n den Naturwissenschaften? Wiesbaden 1947. Becker, Oskar: Grundlagen der Mathematik, Freiburg, München 1954. Bergbohm,

K a r l : Jurisprudenz u n d Rechtsphilosophie, 1. Band, Leipzig 1892.

Bergmann, Gustav: Eine empirische Philosophie der Physik i m Umriß, in: Lorenz Krüger, Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften, Köln, Berl i n 1970. Berkeley, George: Abhandlung über die Principien der menschlichen E r kenntnis, übers, v o n Friedr. Ueberweg, in: Philosophische Bibliothek, Hrsg.: J. H. von Kirchmann, 12. Band, B e r l i n 1869. Bernheim, 1880.

Ernst: Geschichtsforschung u n d Geschichtsphilosophie, Göttingen

— Lehrbuch der historischen Methode, 5. u. 6. Aufl., Leipzig 1908. Bierling, Ernst Rudolf: Juristische Prinzipienlehre, Neudruck der i m Verlag M o h r erschienenen A u f l . von 1894—1917, Aalen 1961. Blau, Ulrich: Glauben u n d Wissen — Eine Untersuchung zur epistemischen Logik (Diss.), München 1969. Blühdorn, Jürgen / Ritter, Joachim: Positivismus i m 19. Jahrhundert. Beiträge zu seiner geschichtlichen u n d systematischen Bedeutung. Studien zur Philosophie u n d L i t e r a t u r des 19. Jahrhunderts, Bd. 16, F r a n k f u r t / M . 1971. Bluntschli, Johannes Caspar: Geschichte des Allgemeinen Staatsrechts u n d der Politik, München 1864. Bochenski, Innocent München 1954.

Marie

Joseph: Die zeitgenössischen

Denkmethoden,

— Formale Loigk, 2. Aufl., Freiburg, München 1962. Boehmer, Gustav: Grundlagen der bürgerlichen Rechtsordnung, 2. Buch, T ü bingen 1951. 19*

292

Literaturverzeichnis

Brandenburg, Erich: Der Begriff der Entwicklung u n d seine Anwendung auf die Geschichte, in: Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Philologisch historische Klasse, 93. Band, 4. Heft, Leipzig 1941. Buckle, Henry Thomas: Geschichte der Zivilisation Bd. I, Bd. I I , Leipzig, Heidelberg 1860, 1861. Bülow,

Oskar: Gesetz u n d Richteramt, Leipzig 1885.

Cantor, Georg: Gesammelte Abhandlungen mathematischen u n d philosophischen Inhalts, hrsg. v. E. Zermelo, B e r l i n 1932, Nachdruck Hildesheim 1962. Coing, Helmut: Grundzüge der Rechtsphilosophie, 3. Aufl., B e r l i n 1976. Comte, Auguste: Rede über den Geist des Positivismus, hrsg. v o n I r i n g Fetscher, Hamburg 1956 (zit.: Rede). — Die Soziologie, hrsg. v o n Friedrich Blaschke, Stuttgart 1974. Dahm, Georg: Deutsches Recht, Hamburg 1944. Darwin, Charles: Die Entstehung der Arten, übers, von David Haek, Leipzig u m 1891/94. Descartes, René: Discours de la Méthode. V o n der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs u n d der wissenschaftlichen Forschung (frz. u n d deutsch), hrsg. v o n Lüder Gäbe, Hamburg 1969. — Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, 3. Aufl., hrsg. von A r t h u r Buchenau, Leipzig 1904. Dilthey, W i l h e l m : Einleitung i n die Geisteswissenschaf ten, 1. Band, Leipzig 1883. Dingler,

Hugo: Die Grundgedanken der Mach'schen Philosophie, Leipzig 1924.

— Der Zusammenbruch der Wissenschaft, München 1926. Dittmann, A l e x v.: Geschichtsphilosophie Comtes u n d Hegels, in: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 13 N. F., 1914, Bd. 14 N. F., 1915. Dobbek, W i l h e l m : J. G. Herders Weltbild, K ö l n , W i e n 1969. Dulckeit, Gerhard: Naturrecht u n d positives Recht bei Kant, in: Abhandlungen der Rechts- u n d Staatswiss. Fakultät d. Universität Göttingen, Heft 14, Leipzig 1932. Dulckeit, Gerhard / Schwarz, Fritz / Waldenstein, geschichte, 6. Aufl., München 1975.

Wolf gang: Römische Rechts-

Engelhardt, Wolf v.: Was heißt u n d zu welchem Ende treibt man Naturforschung, F r a n k f u r t a. M. 1969. Enneccerus, Ludwig: Allgemeiner T e i l des Bürgerlichen Rechts, 1. Band, 2 Halbbände, neubearb. v. Carl Nipperdey, Tübingen 1959, 1960 (zit.: Enneccerus / Nipperdey). Eisler, Rudolf: Philosophenlexikon, B e r l i n 1912. Eisler, Rudolf / Roretz, K a r l : Wörterbuch 4. Aufl., 2. Band, B e r l i n 1929.

der

Philosophischen

Begriffe,

Literaturverzeichnis Ekelöf, Per O.: Zur naturhistorischen Methode Jherings, in: Jherings Erbe, hrsg. v o n Franz Wieacker u n d Christian Wollschläger, Göttingen 1970. Essler, W i l h e l m K.: I n d u k t i v e Logik, Freiburg, München 1970. — Wissenschaftstheorie I, München 1970. Eucken, Rudolf: Z u r Würdigung Comtes u n d des Positivismus, in: Philosophische Aufsätze, Leipzig 1887. Fichte, Joh. Gotti.: Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Jena u n d Leipzig 1796 (zit. Grundlage). Finkelstein, Fanja: Die allgemeinen Gesetze bei Comte u n d M i l l (Diss.), Heidelberg 1911 (zit.: Comte u n d Mill). Franssen, Everhardt: Positivismus als juristische Strategie, JZ 1969, S. 766 ff. Frege, Gottlob: Der Gedanke, in: Kleine Schriften, hrsg. v o n I. Angelelli, Darmstadt 1967. Freundlich,

Elsa: J. St. M i l l s Kausaltheorie (Diss.), Düsseldorf 1914.

Gagner, Sten: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholm 1960. Gaupp, Otto: Die Erkenntnistheorie Herbert Spencers, ihre Stellung zum Empirismus u n d Transcendentalismus (Diss.), B e r l i n 1890. Genz, W i l h e l m : Der Agnostizismus Herbert Spencers m i t Rücksicht Auguste Comte u n d A l b . Lange (Diss.), Greifswald 1902. Gerber, Carl Friedrich v.: System des Deutschen Privatrechts, Jena 1891 (zit.: System).

auf

16. Aufl.,

— Über öffentliche Rechte, unveränderter Abdruck der 1852 erschienenen 1. Auflage, Darmstadt 1968. Germann, 1975.

Oskar Adolf: Grundlagen der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Bern

Gierke , Otto v.: Der E n t w u r f eines Bürgerlichen Gesetzbuchs u n d das deutsche Recht, Leipzig 1889 (zit.: Entwurf). Goldstein, Julius: Die empiristische Geschichtsauffassung David Humes, Leipzig 1902. Grimm, Eduard: Zur Geschichte des Erkenntnisproblems. V o n Bacon zu Hume. Leipzig 1890. Grunicke, Lucia: Der Begriff der Tatsache i n der positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts (Diss.), Halle 1930 (zit.: Begriff der Tatsache). Habermas, Jürgen: Wahrheitstheorien, in: W i r k l i c h k e i t u n d Reflexion, Festschrift W. Schulz, Pfullingen 1973. Hall, A . Rupert: Die Geburt der naturwissenschaftlichen Methode, Gütersl o h 1965. Hammen, Horst: Die Bedeutung Friedrich Carl v. Savignys für die allgemeinen Grundlagen des Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, B e r l i n 1983. Hass, Torsten: Ist „Nutzungseigentum" noch Eigentum?, Diss. Marburg 1976. Hasse, Heinrich: Das Problem der Gültigkeit i n der Philosophie Humes, München 1920.

David

Literaturverzeichnis

294 Hattenhauer, Heberer,

Hans: Thibaut u n d Savigny, München 1973.

Gerhard: Charles Darwin, Stuttgart 1959.

Hegel, Georg W i l h . Friedr.: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke, hrsg. v. Hermann Glockner, Bd. 11, 3. Aufl., Stuttgart 1949. Heitier, Walter: Der Mensch u n d die naturwiss. Erkenntnis (Die Wissenschaft Band 116), Braunschweig 1961. schaft) Band 116, Braunschweig 1961. Helmholtz,

Hermann: Die Thatsachen i n der Wahrnehmung, B e r l i n 1879.

Hempel, Carl Gustav: Aspects of Scientific Explanation, New York, London 1965. Henkel, Heinrich: Einführung i n die Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1977 (zit.: Rechtsphilosophie).

München

Hennemann, Gerhard: Grundzüge einer Geschichte der Naturphilosophie u n d ihrer Hauptprobleme, B e r l i n 1975 (zit.: Grundzüge). Herder, Johann Gottfried: V o m Erkennen u n d Empfinden der menschlichen Seele (1778), i n : Herders Sämtliche Werke, hrsg. v o n Bernhard Suphan, Bd. 8, B e r l i n 1892. — Gott. Einige Gespräche (1787, 1800), in: Herders Sämtliche Werke, hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 16, B e r l i n 1887 (zit.: Gottgespräche). — Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: Herders Sämtliche Werke, hrsg. v o n Bernhard Suphan, Bd. 13, 14, B e r l i n 1887, 1909 (zit.: Ideen). — Auch eine Philosophie der Geschichte zur B i l d u n g der Menschheit (1774), in: Herders Sämtliche Werke, hrsg. v o n Bernhard Suphan, 5. Bd., B e r l i n 1891 (zit.: Auch eine Philosophie). Herrfahrdt, Heinrich: Der Positivismus i n der Rechtswissenschaft, in: Stud i u m Generale, 7. Jahrg., 2. Heft, 1954 (S. 86 ff.). Heussler, 1889.

Hans: Francis Bacon u n d seine geschichtliche Stellung, Breslau

Hippel, Ernst von: Mechanisches u n d moralisches Rechtsdenken, Meisenheim 1959. — Die positivistische Staatslehre i m Nürnberger Prozeß u n d nach dem Grundgesetz, in: Gedächtnisschrift für Rudolf Schmidt, B e r l i n 1966 (S. 35 ff.). Hirschberger, h u t 1803.

Johannes: Geschichte der Philosophie, Bd. 2, 11. Aufl., Lands-

Hume, David: E i n T r a k t a t über die menschliche Natur, in: Philosophische Bibliothek, Bd. 283, hrsg. v. Reinhard Brandt, Hamburg 1973 (zit.: Traktat). — Untersuchung über den menschlichen Verstand, übers, v o n Carl Vogl, Kröners Volksausgabe, Leipzig 1910 (zit.: Untersuchung). Jellinek, Jhering,

Georg: Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 6. Neudr., Darmstadt 1959. Rudolph von: Der Zweck i m Recht, Bd. 1, 3. Aufl., Leipzig 1893.

Literaturverzeichnis — Geist des römischen Rechts, 3. Teil, 1. Abtlg., 3. Aufl., Leipzig 1877 (zit.: Geist). — Der K a m p f um's Recht, Leipzig, o. J. Kamiah, W i l h e l m / Lorenzen, heim, Wien, Zürich 1973.

Paul: Logische Propädeutik, 2. Aufl.,

Mann-

Kant, Immanuel: Idee zu einer allgemeinen Geschichte i n weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V I I I , B e r l i n 1912. — K r i t i k der reinen Vernunft (1787), i n Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v o n der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abtlg., Bd. I I I , B e r l i n 1904. — Die Metaphysik der Sitten (1797), in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v o n der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. V I , B e r l i n 1907. — Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft w i r d auftreten können (1783), in: Kant's gesammelte Schriften, hrsg. v o n der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I V , B e r l i n 1903 (zit.: Prolegomena). Kantorowicz,

H. U.: Der K a m p f u m die Rechtswissenschaft, Heidelberg 1906.

Käser, M a x : Römisches Privatrecht, 11. Aufl., München 1979. — Zur Methode der römischen Rechtsfindung, 2. Aufl., Göttingen 1969. Kaufmann, A r t h u r : Rechtspositivismus u n d Naturrecht i n rechtstheoretischer Sicht, in: ders., Rechtsphilosophie i m Wandel, F r a n k f u r t a. M. 1972. Kaulbach, Friedrich: Das anthropologische Interesse i n Ernst Machs Positivismus, i n : B l ü h d o r n / R i t t e r , Positivismus i m 19. Jh., F r a n k f u r t a. M. 1971 (S. 39 ff.). Kelsen, Hans: Aufsätze zur Ideologiekritik, hrsg. v. Ernst Topitsch, Neuwied a. Rh., B e r l i n 1964. — Was ist juristischer Positivismus? Juristenzeitung 1965, S. 465 ff. (zit.: JZ 1965). — Was ist die Reine Rechtslehre?, in: Festgabe für Giacometti, Zürich 1953 (S. 143 ff.). Kempski, Jürgen von: Z u m Selbstverständnis des Positivismus, in: B l ü h dorn/Ritter, Positivismus i m 19. Jh., Frankfurt a. M. 1971 (S. 15 ff.). Kirchmann, Julius Hermann: „Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft", 3. Aufl., B e r l i n 1848. Klug,

Ulrich: Juristische Logik, 2. Aufl., Berlin, Göttingen, Heidelberg 1958.

Kohn, P. Jacob: Der Positivismus v o n Ernst Laas (Diss.), Bern 1907. Koschaker, 1966.

Paul: Europa u n d das römische Recht, 4. Aufl., München, B e r l i n

Krüger, Lorenz (Hrsg.): Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaften, K ö l n , B e r l i n 1970. Küchenhoff, Kunkel,

Guenter: Rechtsbesinnung, Göttingen 1973.

Wolfgang: Römische Rechtsgeschichte, 8. Aufl., Köln, W i e n 1978.

296

Literaturverzeichnis

Kuntze, Joh. E m i l : Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft; ein Beitrag zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand- u n d Zielpunkt derselben, Leipzig 1856. Kutschera,

Franz v.: Einführung i n die intensionale Semantik, B e r l i n 1976.

— Wissenschaftstheorie I, Wissenschaftstheorie I I , München 1972. Laas, Ernst: Idealismus u n d Positivismus, Bd. I — I I I , B e r l i n 1879—1884. Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 1, Neudruck der 5. Aufl., Tübingen 1911, Aalen 1964 (zit.: Staatsrecht). Lamprecht,

K a r l : Die historische Methode des H e r r n von Below, B e r l i n 1895.

— Was ist Kulturgeschichte? Beitrag zu einer empirischen Historik. Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N. F. 1, 1896, 1897 (75 ff.). Landsberg, Ernst: Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, 3. A b t e i lung, 2. Halbbd., München, B e r l i n 1910. Lange, Harry: Die Wandlungen Jherings, B e r l i n - G r u n e w a l d 1927. Lange, Heinrich: Geschichte der Grundlagen der Physik, Bd. I I , Freiburg, München 1961. Larenz, K a r l : Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 4. Aufl., Berlin, Heidelberg, New Y o r k 1979 (zit.: Methodenlehre). — Deutsche Rechtserneuerung u n d Rechtsphilosophie, Tübingen 1934. Liebs, Detlef: Römisches Recht, Göttingen 1975. Lorenzen,

Paul: Methodisches Denken, F r a n k f u r t a. M. 1974.

Mach, Ernst: Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886 (zit.: Beiträge). — Die Analyse der Empfindungen u n d das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, Jena 1900 (zit.: Analyse der Empfindungen). — Die Mechanik i n ihrer Entwicklung, Leipzig 1883 (zit.: Mechanik). — Die Prinzipien der Wärmelehre, Leipzig 1896 (zit.: Wärmelehre). Marcuse, Herbert: Die Geschichtsphilosophie A . Comtes, Stuttgart 1932. Mason, Stephen F.: Geschichte der Naturwissenschaft, Stuttgart 1961. Mayr, Richard: Die philosophische Geschichtsauffassung der Neuzeit, W i e n 1877. Meinecke, Friedrich: Die Entstehung des Historismus, 2. Aufl., München 1946. Meinong, Alexius: Abhandlungen zur Psychologie, in: Gesammelte Abhandlungen, 1. Band, Leipzig 1914 (zit.: Ges. Abhandlungen). Merkel, Adolf: Über das Verhältnis der Rechtsphilosophie zur „positiven" Rechtswissenschaft u n d zum allgemeinen Teil derselben, in: Gesammelte Abhandlungen, 1. Hälfte, Straßburg 1899 (S. 291 ff.) (zit.: Rechtsphilosophie). Metz, Rudolf: David Hume. Leben u n d Philosophie, in: Frommanns Klassiker der Philosophie, Bd. 29, Stuttgart 1929. Meurer, Dieter: Gehalt u n d Erklärungswert funktionaler Kriminalitätstheorien, in: Festschrift für Richard Lange, Berlin, New Y o r k 1976, S. 55 ff.

Literaturverzeichnis Mill,

John Stuart: Auguste Comte u n d der Positivismus, Leipzig 1874.

— Eine Prüfung der Philosophie Sir W i l l i a m Hamiltons, Halle 1908 (zit.: Philosophie Hamiltons). — System der deduktiven u n d i n d u k t i v e n Logik, übers, von J. Schiel, 2. deutsche Aufl., Bd. I, Braunschweig 1862, Bd. I I , Braunschweig 1863 (zit.: Logik). Mone, Fridegar: System der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft, der Volkswirtschaft, des Staates u n d der Cultur des Griechischen Volkes, Berl i n 1858. Mugdan: Die gesamten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, I. Band, Einführungsgesetz u n d Allgemeiner Teil, B e r l i n 1899 (zit.: Mugdan). Narski,

J. S.: Positivismus i n Vergangenheit u n d Gegenwart, B e r l i n 1967.

Negt, Oskar (Hrsg.): A k t u a l i t ä t u n d Folgen der Philosophie Hegels, F r a n k furt a. M. 1970. Neumann, U l f rid: Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: A . K a u f mann, W. Hassemer (Hrsg.), Einführung i n Rechtsphilosophie u n d Rechtstheorie der Gegenwart, Heidelberg, Karlsruhe 1977. Newton, Isaac: Optik I I . u. I I I . Buch, in: Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 97, Leipzig 1898 (zit.: Optik). Olivecrona, K a r l : Jherings Rechtspositivismus i m Lichte der heutigen Wissenschaft, in: Jherings Erbe. Herausgegeben von Franz Wieacker u n d Christian Wollschläger, Göttingen 1970. Ott, Walter: Der Rechtspositivismus, B e r l i n 1976. Popper, K a r l R.: Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965. — Objektive Erkenntnis, 2. Aufl., Hamburg 1974. Puchta, Georg Friedrich: Cursus der Institutionen, 1. Bd., 3. Aufl., Leipzig 1850 (zit.: Institutionen). Radbruch,

Gustav: Rechtsphilosophie, 8. Aufl., Stuttgart 1973.

Ranke, Leopold v.: Z u r K r i t i k neuerer Geschichtsschreiber, Leipzig u. B e r l i n 1824. — Weltgeschichte, Bd. 9, 2. Halbbd., Leipzig 1888. Reininger, Robert: Locke, Berkeley, Hume. Geschichte der Philosophie i n Einzeldarstellungen, Bd. 22/23, München 1922. Rickert, Heinrich: Kulturwissenschaft u n d Naturwissenschaft, 2. Aufl., T ü bingen 1910. Ricoeur, Paul: Hermeneutik u n d Strukturalismus, München 1973. Riedel, Manfred: Positivismuskritik u n d Historismus, in: Positivismus i m 19. Jahrh., F r a n k f u r t a. M. 1971.

Blühdorn/Ritter,

Riezler, E r w i n : Der totgesagte Positivismus, in: Festschrift 2. Band, Weimar 1951, S. 330 ff.

Fritz

Schulz,

Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1—5, Darmstadt 1971—1980.

298

Literaturverzeichnis

Rommen: Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 2. Aufl., München 1947. Rosenbaum, Wolf: Naturrecht u n d positives Recht. Rechtssoziologische U n tersuchungen zum Einfluß der Naturrechtslehre auf die Rechtspraxis i n Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Neuwied, Darmstadt 1972. Rüthers,

Bernd: Die unbegrenzte Auslegung, Tübingen 1968.

Sachsse, Hans: Naturerkenntnis u n d Wirklichkeit, Braunschweig 1967. Savigny, Eike v.: Die Philosophie der normalen Sprache, F r a n k f u r t 1974.

a. M.

Savigny, Friedrich Carl v.: V o m Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung u n d Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814 (zit.: Beruf). — System des heutigen römischen Rechts, Band 1, B e r l i n 1840 (zit.: System). Schelling, Friedr. W. J.: Ideen zu einer Philosophie der Natur, Erster Theil, 2. Aufl., Landshut 1803 (zit.: Ideen). — System des transzendentalen Idealismus, Tübingen 1800. — Vorlesungen über die Methode des academischen Studium, Tübingen 1803. Scherer, W i l h e l m : Zur Geschichte der deutschen Sprache, B e r l i n 1868. Schlosser, Hans / Sturm, Fritz / Weber, Exegese, München 1972.

Hermann: Die

rechtsgeschichtliche

Schmidt, Eberhard: Gesetz und Richter — Wert u n d U n w e r t des Positivismus, Karlsruhe 1952. Schmitt, Carl: Über die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Hamburg 1934 (zit.: Über die drei Arten).

Denkens,

— Die Lage der Europäischen Rechtswissenschaft, Tübingen 1950. — Staat, Bewegung, V o l k , Hamburg 1933. Schönfeld, Walther: Die Geschichte der Rechtswissenschaft i m Spiegel der Metaphysik, B e r l i n 1943. — Grundlegung der Rechtswissenschaft, Stuttgart, K ö l n 1951 (zit.: Grundlegung). Schubert, 1978.

Werner: Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, B e r l i n

Schulz, Fritz: Prinzipien des Römischen Rechts, B e r l i n 1954. Söllner, Alfred: Einführung i n die römische Rechtsgeschichte, 2. Aufl., M ü n chen 1980. Speck, Josef (Hrsg.): Handbuch wissenschaftstheoretischer Begriffe, Bd. 1—3, Göttingen 1981. Spencer, Herbert: System der synthetischen Philosophie, I. Bd., Grundlagen der Philosophie, Deutsch von Vetter, Stuttgart 1875. — System der synthetischen Philosophie, V. Bd., Die Principien der Psychologie, I I . Bd., nach der 3. engl. A u f l . übers, v o n Vetter, Stuttgart o. J. — System der synthetischen Philosophie, X . Bd., Die Principien der E t h i k , 1. Bd., 1. Abtig., übers, v o n Vetter, Stuttgart 1879. Stegmüller, Wolfgang: Haupt Strömungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. I, Bd. I I , 6. Aufl., Stuttgart 1979.

Literaturverzeichnis — Probleme u n d Resultate der Wissenschaftstheorie u n d Analytischen Philosophie, Bd. I, Wissenschaftliche Erklärung u n d Begründung, Berlin, Heidelberg, New Y o r k 1969; Bd. I I , 1. Halbbd., Theorie u n d Erfahrung, Heidelberg, New Y o r k 1970; 2. Halbbd., Theorienstrukturen u n d Theoriendynamik, Berlin, Heidelberg, New Y o r k 1973. Stephanitz,

Dieter v.:Exakte Wissenschaft u n d Recht, B e r l i n 1970.

Stintzing, Roderich v. / Landsberg, Ernst: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 3. Abtlg., 1. Halbbd., München, Leipzig 1898; 2. Halbbd., M ü n chen, B e r l i n 1910 (zit.: Stintzing/Landsberg, 3,1, 3,2). Stupp, Herbert: Mos geometricus oder Prudentia als Denkform der Jurisprudenz (Diss.), K ö l n 1970. Taine, Hippolyte: Histoire de la littérature anglaise, Bd. I, 2. Aufl., Paris 1869. Tarski, Alfred: Der Wahrheitsbegriff i n der formalisierten Sprache, in: K . Berka, L. Kreiser (Hrsg.), Logik, Texte, B e r l i n 1973. Thibaut, Α . F. J.: System des Pandektenrechts — l . B d . , 6.Aufl., Jena 1823, 2., 3. Band, Jena 1823. — Juristische Encyclopédie und Methodologie, A l t o n a 1797. — Theorie der logischen Auslegung des Römischen Rechts, 2. Aufl., A l t o n a 1806. — Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, Bd. 1, 2, Jena 1798, 1801 (zit.: Versuche). Toulmin, 1963.

Stephen E. Foresight and Understanding, London 1961, New Y o r k

Tsatsos, Themistokles: Peri Politeias, F r a n k f u r t a. M. 1972. Tugendhat, Ernst: Vorlesungen zur Einführung i n die sprachanalytische P h i losophie, 2. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1976. Twesten, K a r l : Lehre u n d Schriften Auguste Comtes, in: Preußische Jahrbücher Bd. 4, Heft 3, B e r l i n 1859 (zit.: Auguste Comte). Viehweg, Theodor: Topik u n d Jurisprudenz, 5. Aufl., München 1974. — Positivismus u n d Jurisprudenz, in: Blühdorn, Ritter (Hrsg.), Positivismus i m 19. Jahrhundert, F r a n k f u r t a. M. 1971. Wagner, Fritz: Geschichtswissenschaft, Freiburg, München 1951. Weinberger, Weingartner, 1978.

Ota: Rechtslogik, W i e n 1970. Paul: Wissenschaftstheorie I, 2. Aufl., Stuttgart-Bad Cannstadt

Welzel, Hans: Naturalismus u n d Wertphilosophie i m Straf recht, Mannheim, Berlin, Leipzig 1935. — Naturrecht u n d Rechtspositivismus, in: Festschrift für Hans Niedermeyer, Göttingen 1953, S. 279 ff. Wentscher, Else: Das Außenwelts- u n d Ich-Problem bei John Stuart M i l l , in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 32, Leipzig, B e r l i n 1914. Wieacker, Franz: Gründer u n d Bewahrer, Göttingen 1959. — Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967 (zit.: P r i v a t rechtsgeschichte).

300

Literaturverzeichnis

Wilhelm, Walter: Z u r juristischen Methodenlehre i m 19. Jahrhundert, F r a n k furt a. M 1958 (zit.: Methodenlehre i m 19. Jahrhundert). Windelband, W i l h e l m : Geschichte der neueren Philosophie, Bd. 1, 4. Aufl., Leipzig 1907. Windelband, W i l h e l m / Heimsoeth, Heinz: Lehrbuch der Geschichte der P h i losophie, 15. Aufl., Tübingen 1957. Windscheid, Bernhard: Die Actio des römischen Zivilrechts v o m Standpunkt des heutigen Rechts, Düsseldorf 1856 (zit.: Die actio). — Gesammelte Reden u n d Abhandlungen, hrsg. v. Paul Oertmann, Leipzig 1904 (zit.: Reden u n d Abhandlungen). — Lehrbuch des Pandektenrechts, 1. Band, 1. Aufl., Düsseldorf 1862, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1887 (zit.: Pandekten). Wittgenstein, L u d w i g : Philosophische Grammatik, 2. Aufl., F r a n k f u r t a. M. 1978. — Philosophische Untersuchungen, F r a n k f u r t a. M. 1977. Wolf, E r i k : Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963. — Grotius, Pufendorf, Thomasius — Drei Kapitel zur Gestaltgeschichte der Rechtswissenschaft, Tübingen 1927. Wolf, Ernst: Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 3. Aufl., K ö l n , Berlin, Bonn, München 1982 (zit.: B G B A l l g . T.). — Der Begriff Gesetz, in: Sein u n d Werden i m Recht, Festgabe für Ulrich v. Lübtow, B e r l i n 1970, S. 109 ff. (zit.: Der Begriff Gesetz). — Der K a m p f gegen das BGB, in: Arbeitsleben u n d Rechtspflege, Festschrift für Gerhard Müller, B e r l i n 1981. — Lehrbuch des Sachenrechts, 2. Aufl., K ö l n , Bonn, Berlin, München 1979 (zit.: Sachenrecht). — Lehrbuch des Schuldrechts, 1. Band, Allgemeiner Teil, 2. Band, Besonderer Teil, Köln, Berlin, Bonn, München 1978 (zit.: Schuldrecht I, I I ) . — Der freie Raum der Wissenschaft u n d seine Grenzen, herausgegeben von Werner Barthold, München 1974. — Das Recht zur Aussperrung, München 1981. — Gibt es eine marxistische Wissenschaft?, München 1980. Wolff, Christian: Ausführliche Nachricht v o n seinen eigenen Schriften, die er i n deutscher Sprache von den verschiedenen Theilen der Welt-Weißheit herausgegeben, auf Verlangen ans Licht gestellet. F r a n k f u r t a. M . 1726 (zit.: Nachricht). — De Jus naturae methodo scientifica pertractatum, 1. Teil, F r a n k f u r t a. M . 1740 (zit.: De Jus N.). — Neuer Auszug aus den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaften, Marburg 1797. — Vernünfftige Gedanken v o n Gott, der Welt und der Seele des Menschen auch allen Dingen überhaupt, Neue Aufl., Halle 1751 (zit.: Gott, Welt, Seele). — Vernünfftige Gedanken v o n der Menschen T h u n u n d Lassen, zu Beförder u n g ihrer Glückseligkeit mitgetheilet, 4. Aufl., Frankfurt, Leipzig 1733 (zit.: T h u n u n d Lassen).

Literaturverzeichnis Wuchterl, Wundt,

K u r t : Methoden der Gegenwartsphilosophie, Bern, Stuttgart 1977.

Max: Logik, 1. Band, 4. Auflage, Stuttgart 1919.

Zitelmann,

Ernst: I r r t u m u n d Rechtsgeschäft, Leipzig 1879.

— Die Rechtsgeschäfte i m E n t w u r f eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, Bd. I, I I , B e r l i n 1889, 1890 (zit.: Die Rechtsgeschäfte).