Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert: Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder [2 ed.] 9783428485895, 9783428085897

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Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert: Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder [2 ed.]
 9783428485895, 9783428085897

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ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE

Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert

Schriften zur Verfassungsgeschichte Band 1

Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder

Von Ernst-Wolfgang Böckenförde

Zweite, um eine Vorbemerkung und Nachträge ergänzte Auflage

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Böckenförde, Ernst-Wolfgang:

Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert : zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder I von Ernst-Wolfgang Böckenförde.- 2., um eine Vorbemerkung und Nachtr. erg. Aufl. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Schriften zur Verfassungsgeschichte ; Bd. 1) ISBN 3-428-08589-2 NE:GT

I. Auflage 1961

Alle Rechte vorbehalten

© 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0553 ISBN 3-428-08589-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 @

Den TJerehrten Lehrern Professor Dr. Franz Schnabel Professor Dr. Otto Brunner

Vorbemerkung zur zweiten Auflage Das Bedürfnis nach dem Neudruck einer Dissertation, deren Entstehung über 35 Jahre zurückliegt, legt die Vermutung nahe, daß die ihr zugrundeliegende Fragestellung an Aktualität nichts eingebüßt, vielleicht sogar noch dazugewonnen hat. Die Arbeit ist seinerzeit als wissenschaftsgeschichtliche, nicht als wissenschaftsmethodische entstanden. Ihr Thema war die Auseinandersetzung mit der Wissenschaftsgeschichte der Verfassungshistorie des 19. Jahrhunderts, näherhin die Frage, wieweit wechselnde zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder in dieser verfassungsgeschichtlichen Forschung wirksam waren und deren Ergebnisse bestimmten. Der Reiz des Themas lag darin, mehreren Generationen von Verfassungshistorikern, die alle echte Historiker sein wollten und sich dem Gebot historischer Wahrheitserkenntnis verpflichtet wußten, sozusagen über die Schulter zu schauen und festzustellen, wieweit und in welcher Weise sie in ihrer Forschung und deren Ergebnissen gleichwohl zeitverfangen und zeitgebunden waren. Ein solches Thema lag seit den Arbeiten Otto Brunners und den dadurch aufgeworfenen Fragen gleichsam in der Luft, war aber bis dahin noch nicht eigens aufgegriffen worden. Seine Bearbeitung wurde allerdings bewußt nicht als eine Aufgabe wissenschaftsmethodischer und -theoretischer Reflexion in Angriff genommen, sondern als Arbeit am historischen Material. Deshalb wurde, wie in der Einleitung erwähnt1, stets in zweifacher Richtung gefragt: einmal nach den aus der historisch-politischen Situation, in der eine Forschergeneration steht, sich ergebenden Fragestellungen, Leitbildern und Idealen, zum anderen nach deren Niederschlag in den Forschungsergebnissen und dem gezeichneten Bild der früheren Verfassungsverhältnisse. Das führte zu einer Verbindung von Wissenschafts- und "Sach"-geschichte insofern, als die Antwort auf die gestellte Frage nicht ohne den Bezug auf die wirkliche Natur der früheren Verfassungsverhältnisse und ihrer einzelnen Faktoren gegeben werden konnte. Indem die Untersuchung die Wirksamkeit zeitgebundener - politischer, sozialökonomischer und auch sozialphilosophischer - Leitbilder und davon geprägter Fragestellungen in der verfassungsgeschichtlichen Forschung konkret aufwies, setzte sie notwendigerweise weitere Fragen aus sich heraus, und zwar solche methodischer wie wissenI

Siehe unten S. 20.

II

Vorbemerkung zur zweiten Auflage

schafts- und erkenntnistheoretischer Art: Ist der Einfluß zeitgenössischer Fragestellungen und Leitbilder überhaupt vermeidbar, da doch jeder Forscher in seiner Zeit und ihren geistig-politischen Strömungen steht? Was bedeutet unter diesen Umständen ,objektive' historische Erkenntnis, kann es sie - Zeitbindungen enthoben - überhaupt geben? Und wenn nicht, sind dann noch - und in welcher Form - Fortschritte historischer und speziell verfassungsgeschichtlicher Erkenntnis denkbar, so etwas wie fortschreitende Annäherung an die historische Wahrheit? Welcher Art kann und muß eine verfassungsgeschichtliche Hermeneutik sein?- Die Kritik, die das Buch recht freundlich aufnahm2 , hat denn auch vermerkt oder kritisiert, daß die Arbeit das hermeneutische Problem bewußt ausklammere3 ; sie ermangele einer theoretisch gesicherten Begründung des eigenen Vorgehens aus der wissenschaftlichen Situation der Gegenwart und huldige eher der These von einem wiedergewonnenen Realismus der verfassungsgeschichtlichen Forschung4. In der Tat sind Fragen dieser Art nicht behandelt oder reflektiert worden, und insofern eignet der Arbeit methodentheoretisch und hermeneutisch, zumal von heute her gesehen, eine "Naivität". Dafür waren seinerzeit zwei Gründe bestimmend. Zum einen sollte der Horizont einer geschichtswissenschaftliehen Untersuchung, die für weitergreifende methoden- und wissenschaftstheoretische Reflexionen zwar Material bereitstellt, aber diese nicht selbst vornimmt, nicht überschritten werden. Vielleicht hat sie gerade deshalb den herausfordernden Charakter, von dem Karl Kroeschell 5 spricht, angenommen oder behalten. Zum anderen steckte die wissenschaftsmethodische und hermeneutische Diskussion, als die Dissertation 1958 bis 1960 geschrieben wurde, noch in den Anfängen; sie hatte ihr Feld noch keineswegs ausgeschritten und noch nicht die Erkenntnisschübe bereitgestellt, von denen wir heute profitieren. So schien es geraten, nicht vorschnell Optionen oder Festlegungen in einem Bereich vorzunehmen, für den einem historisch interessierten Juristen, auch wenn er Mitglied des legendären Collegium Philosophicum von Joachim Ritter war, das notwendige wissenschaftliche Rüstzeug nicht hinreichend zu eigen war. Man muß sich erinnern: H .G. Gadamers Werk "Wahrheit und Methode", von dem eine Signalwirkung für die hermeneutische Diskussion 2 K. Dülfer, in: HZ 197 (1963), S. 611-16; Reinhart Koselleck, in: Das historisch-politische Buch 10 (1962), S. 10f.; Karl Kroeschell, in: ZRG GA 184 (1967), S . 451-53; Heinrich Muth, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 14 (1963), S. 655 f.; Fritz Werner, in: Dt. Verwaltungsblatt 1962, S. 38. 3 Kaselleck (FN 2), S. 11. 4 Kroeschell (FN 2), S . 452 f. 5 A.a.O., S . 452.

Vorbemerkung zur zweiten Auflage

III

in allen Wissenschaftszweigen ausging, erschien 1960, und die Vorarbeiten für das "Historische Wörterbuch der Philosophie" sowie das Lexikon "Geschichtliche Grundbegriffe", die beide einer begriffsgeschichtlichen Hermeneutik auf der Grundlage methodentheoretischer Reflexion folgten, begannen Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre. Begriffsgeschichtliche Arbeit im Bereich der Geschichtsforschung war zwar bereits von Otto Brunner begonnen worden6, aber mehr geschichtswissenschaftlich-immanent, in Kritik an und Absetzung von einer älteren Forschergeneration, weniger als wissenschaftstheoretisches und hermeneutisches Programm. Daß Begriffsgeschichte als Geschichte des Gebrauchs der Worte verstanden und erforscht werden müsse, Wort und Begriff zu trennen und Begriffe nicht als zeitlose Größe zu verstehen seien, wie es Hermann Lübbe formulierte7, wirkte wie ein Aufbruch zu neuen Wegen. Ahnlieh ausgreifend war das Programm des Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe; es transponierte die begriffsgeschichtliche Fragestellung, die es für tragende politisch-soziale Begriffe umfassend verfolgte, zugleich auf eine wissenschaftstheoretische Ebene8 und setzte so den Überschritt in eine - fällige - Selbstreflexion der Historie ins Werk9 • Seither hat sich in der Geschichtswissenschaft, aber auch in der Rechtswissenschaft, sofern sie Rechts- oder Verfassungsgeschichte betreibt, eine in ihrer Intensität erstaunliche, wenn nicht gar einmalige Entwicklung der Methodendiskussion und -reflexion vollzogen. Sie hat diesachbezogene Forschung nachhaltig angeregt, wurde aber auch ihrerseits von dieser befruchtet. Diese Entwicklung kann hier nicht im einzelnen nachgezeichnet, es können jedoch einige Richtpunkte hervorgehoben werden, die auch für die Bestimmung des wissenschaftsgeschichtlichen Orts dieser Arbeit von Bedeutung sind. Zunächst muß festgehalten werden, daß der Ansatzpunkt für diese Entwicklung in der verfassungsgeschichtlichen Forschung, wie erwähnt, nicht ein methoden-und wissenschaftstheoretischer war, sondern sich aus der Arbeit an und mit den Quellen ergab. Diese Arbeit 6 Vgl. Otto Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: MIÖG Erg.Bd. 14 (1939), S. 513 ff.; ders., Land und Herrschaft, 3. Aufl. 1943, Kap. II, S. 124-88; ders., Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte (Akd.d.Wiss.u.Lit., Geistes- und sozialwiss. Kl. Nr. 10), Wiesbaden 1959. 7 Im Collegium Philosophicum von J. Ritter, anläßtich von Referaten zur Vorbereitung des Historischen Worterbuchs der Philosophie, etwa 1961/62 s Siehe Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1 (1972), S. XII - XIV. 9 Im Sinne der Zielsetzung des Lexikons war es nur folgerichtig, daß Otto Brunner zu den Mitbegründern und Herausgebern gehörte.

IV

Vorbemerkung zur zweiten Auflage

teilweise von Fragestellungen getragen, die durch den politischen Umbruch der Jahre 1933 ff. hervorgerufen wurden10 - führte zu der Erkenntnis, daß die überkommene Beschreibung und Darstellung der älteren Verfassungsverhältnisse auf Begriffe und Unterscheidungen fußte, die- zeitbezogen-an den staatlichen und staatsrechtlichen Verhältnissen vorwiegend des 19. Jahrhunderts orientiert waren und diese mehr oder weniger deutlich in die frühere Zeit hineinprojizierten. Demgegenüber wurde die Forderung nach einer "quellengemäßen Begriffssprache" erhobenu, die nicht der eigenen Zeit verhaftet sei. Beides, der Aufweis zeitgebunden rückprojizierender Fragestellung und Begriffsverwendung wie die Forderung nach quellengemäßer Begriffssprache, führten alsbald über sich selbst hinaus in eine allgemeine hermeneutische und methodentheoretische Diskussion hinein. Kritische Vorbehalte, die sich an den zeitgebunden-politischen Anstößen zur Infragestellung des überkommenen Bildes der älteren Verfassungsverhältnisse entzünden mochten, konnten die quellengebunden erzielten Ergebnisse dieser Arbeit- G. Oexle spricht später von einem "Durchbruch" 12 - nicht ernstlich erschüttern. Es zeigte sich, daß ein zeitbedingtes, auch politisches Erkenntnisinteresse nicht ohne weiteres die auf seiner Grundlage gewonnenen Erkenntnisse und Ergebnisse disqualifiziert. Allgemein aber ergab sich die Frage, ob denn die neuen Erkenntnisse nicht ihrerseits auf zeitgebundenen Fragestellun10 Dies ist in der Nachkriegszeit zunächst übergangen oder verdrängt worden, inzwischen aber bekannt und anerkannt; die Rezeption der für die Verfassungsgeschichte epochemachenden kritischen Einsichten wurde dadurch freilich erschwert und eine Zeitlang hintangehalten. Vgl. Robert Jü.tte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung, in: Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Bd. 13 (Tel Aviv 1984), S. 237 (250-62); Otto Gerhard Oexle, Sozialgeschichte - Begriffsgeschichte - Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners: VSWG 71 (1984), S. 305 (316 ff.); Hans Boldt, Zur Theorie der Verfassungsgeschichte, in: Annali dell' Istituto storico italo-germanico in Trento, Bd. 13 (1987), S. 39 (49-51); Jürgen Kocka, Ideological Regression and Methodological Innovation, in: History and Memory 2 (1990), S. 130-38; Howard Kaminskif James van Horn Melton, Translators Introduction, in: Otto Brunner, Land und Lordship. Structures of Governance in Medieval Austria, Philadelphia 1992, p.

XIII (XX -XXVII).

n Vor allem durch Otto Brunner, vgl. die in FN 6 angeführten Schriften Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte sowie Land und Herrschaft (dort insb. S. 187 f. und 504 f.); ferner Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft, 1941, S. 12. Zu früheren Ansätzen begriffsgeschichtlicher Fbrschung und Reflexion vgl. die Hinweise bei Otto Gerhard Oexle (FN 10), S. 327-33. 12 Otto Gerhard Oexle, Rechtsgeschichte und Geschichtswissenschaft, in: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages (hg. v. D. Simon), Frankfurt 1987, s. 88.

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genberuhten und woher dann die Gewißheit zu nehmen sei, daß gerade sie die historische Wirklichkeit besser oder gar richtig erfaßten. Ein Schritt weiter, war damit die Frage nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten objektiver historischer Kenntnis überhaupt gestellt. Wenn historische Forschung und die Interpretation historischer Quellen jeweils von Fragestellungen abhängig sind, die Quellen nur auf Fragen hin sprechen können, diese Fragestellungen aber notwendig zeitgebundene sind, die in ihrem Fragehorizont und Erkenntnisinteresse der eigenen Gegenwart entstammen, kann es dann andere als von der jeweiligen Gegenwart inspirierte, insofern zeitgebundene und -bedingte historische Erkenntnis überhaupt geben? Muß sich damit nicht die Frage nach der historischen Wahrheit verflüchtigen? Das führte mitten in die allgemeine, durch Gadamers Werk auf eine neue Reflexionsstufe gehobene hermeneutische Diskussion hinein. Die Verfassungsgeschichte wurde davon früher, die Rechtsgeschichte mit einer gewissen Zeitverzögerung, aber dann- nach 1968 - eher noch heftiger ergriffen. Gadamers Thesen, daß am Anfang aller historischen Hermeneutik die Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen Geschichte und dem Wissen von ihr stehen müsse; daß wir ständig in Überlieferungen stehen, die nicht etwas vergegenständlichtes Fremdes, sondern immer schon Eigenes sind; es ein unmittelbares Zugehen auf den historischen Gegenstand, das seinen Stellenwert objektiv ermittele, nicht geben könne und ein solcher ,Gegenstand an sich' nie existiere13, trafen einen Nerv der überkommenen verfassungs- und rechtsgeschichtlichen Forschung. Für diese hatte die Subjekt-ObjektGegenüberstellung eher kategorialen Charakter, und dies um so mehr, als sie es in ihrem Arbeitsbereich nicht mit der Verknüpfung von Ereignissen, deren Deutung sowie der Ergründung von Handelszusammenhängen zu tun hat, sondern mit der Erfassung objektiver Gegenstände, der Verfassungsstrukturen und-institutionenund dem geltenden und praktizierten Recht früherer Zeiten. Die so in Gang gesetzte hermeneutisch-theoretische Reflexion machte nicht bei Einzelfragen halt. Sie ergriff auch den Gegenstand der eigenen Forschung selbst, nämlich "Verfassung" und "Recht", von dem Erkenntnisziel und Fragestellungen ihren Ausgang nehmen und geprägt werden. Kann die Verfassungsgeschichte von einem konstanten Begriff der Verfassung ausgehen- jenseits der Staatsverfassung konstitutioneller oder demokratischer Art des 19. und 20. Jahrhunderts, oder resultiert dieser notwendig jeweils aus den Gegebenheiten und Fragestellungen der Gegenwart? Und worin hätte ein solcher allgemei13 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 4. Aufl. Tübingen 1975, S. 266/67, 269, 310.

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Vorbemerkung zur zweiten Auflage

ner Verfassungsbegriff sein Spezifikum gegenüber einer historischen Sozialwissenschaft? Frantisek Graus hat eindrucksvoll dargelegt14 , wie die "Verfassungsgeschichte des Mittelalters" als Gegenstand der historischen Forschung mehrfach von einem Paradigmenwechsel hinsichtlich des Verfassungsbegriffs geleitet wurde und dabei der je neue, dem bisherigen - zeitgebundenen - entgegensetzte Verfassungsbegriff seinerseits zeitgebundene Gegebenheiten und Fragestellungen aufnahm15 . Nach wie vor im Fluß ist auch die Vergewisserung über die Eigenständigkeit einer Verfassungsgeschichte einerseits gegenüber historischer Sozialwissenschaft und allgemeiner Strukturgeschichte, andererseits gegenüber der Rechtsgeschichte 16. Für die Rechtsgeschichte hat insbesondere Kroeschell 17 nachdrücklich die hermeneutische Kernfrage nach dem Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte gestellt und auf die Notwendigkeit hingewiesen, nicht länger dem an genereller Narrnativität orientierten Rechtsbegriff des 19. Jahrhunderts verhaftet zu bleiben.

14 Frantisek Graus, Verfassungsgeschichte des Mittelalters: HZ 243 (1986), S. 529-89. 15 Dies ist vor allem für den bei 0. Brunner grundlegenden, eine übergreifende Kontinuität ausdrückenden Begriff einer 'politischen Volksgeschichte' geltend gemacht worden, der von politischen Zeitvorstellungen nach 1933 geprägt sei, aber auch gegen sein Konzept von Alteuropa, das statisch sei und einer undifferenzierten Ganzheitsbetrachtung huldige, im wesentlichen nur aus dem Gegensatz zur Moderne lebe; vgl. Hans Boldt (FN 10), S. 45 ff.; 51f., 56 ff. und Christoph Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, in: Annali dell' Istituto storico italo-germanico in Trento, Bd. 13 (1987), S. 78-87. Dipper hält Brunner vor, daß er seine begriffsgeschichtliche Ideologiekritik nur gegenüber anderen, nicht aber gegenüber sich selbst angewandt habe (a.a.O., S. 89, 95). Ferner Hans-Erich Bödeker /Ernst Hinrichs, Alteuropa - Frühe Neuzeit - Moderne Welt? Perspektiven der Forschung, in: H.-E. Bödeker I E. Hinrichs (Hg.), Alteuropa- Ancien Regime- Frühe Neuzeit, Stuttgart 1991, S. 11 (24-30). Siehe demgegenüber Oexle (FN 10), S. 323 ff. und Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung (Der Staat, Beiheft 6), Berlin 1983, S. 16, Anm. 3. 16 Siehe Reinhart Kaselleck (FN 15), S. 7-22 und die anschließende Diskussion; Peter Landau, Rechtsgeschichte und Soziologie: VSWG 61 (1974), S. 145-64; Christoph Dipper, Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte. Zur Europäischen Verfassungsgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, in: R. Schulze (Hg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte. Ergebnisse und Perspektiven der Forschung, Berlin 1991, S. 173-98; Otto Gerhard Oexle (FN 10), s. 305-41. 17 Karl Kroeschell, Verfassungsgeschichte und Rechtsgeschichte des Mittelalters, in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung (Der Staat, Beiheft 6), Berlin 1983, S . 47 (74ff.); ders., Der Rechtsbegriff der Rechtsgeschichte: ZRG GA 111 (1994), S. 310-29.

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Auf der allgemeinen Ebene wurden Infragestellung und Suche nach neuer Vergewisserung noch prinzipieller. Marcel Senn18 und Otto Gerhard Oexle19 haben in Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis der Rechtshistorie für die historische Forschung generell das SubjektObjekt-Schema und die Prämisse des Historismus grundlegend in Zweifel gezogen, daß in der Historie ein vorgegebener Gegenstand als objektive Wirklichkeit erkannt werden könne. Dabei wurden Erkenntnisse der modernen Wissenschaftstheorie ebenso verwendet wie auf die Einsicht Kants, daß die Vernunft "nur das einsieht, was sie selbst hervorbringt" 20 , sowie die These Max Webers zurückgegriffen wurde, den Arbeitsgebieten der historischen Wissenschaften lägen nicht die sachlichen Zusammenhänge der Dinge, sondern "die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme" zugrunde21 • Die eigene These ging dahin, die als Erkenntnisgegenstand postulierte (historische) Wirklichkeit bestehe nicht als objektiver Sachbereich, der vom Forscher, eliminiere er seine Standortgebundenheit, im Wege eines kontemplativ-hermeneutischen Sich-hinein-Versetzens in ein Gegenüberstehendes objektiv erkannt und zur Darstellung gebracht werden könne. Historische Erkenntnis werde nicht dem Stoff selbst entnommen, sie ergebe sich durch Fragestellungen und Wertideen, mit denen der Forscher an den Stoff herantrete und aus der Unendlichkeit des Stromes von Geschehnissen einzelne Bestandteile als das heraushebt, auf das es ihm allein ankommf-2. Mithin erscheint die erkannte historische Wirklichkeit selbst als Verstandesleistung und Verstandesprodukt, perspektivischer Ausschnitt einer Integrationsleistung von denkbarer Möglichkeit, eigenem oder kollektivem Erfahrungshorizont und vorbereitetem Neuinformationsstand23. Die Radikalität dieser These, soviel Richtiges ihr innewohnt, birgt freilich die Gefahr in sich, daß über dem Aufweis der Bedingtheit, der wechselnden Zeit- und Reflexionsgebundenheit und -abhängigkeit der historischen Erkenntnis schließlich das Erkenntnisziel: vergangene Gegebenheiten, Reflexionen, Lebens- und Ordnungsformen als bloßer "Stoff" marginal wird oder letzlieh überhaupt verschwindet. Der Prozeß historischer wie auch rechts- und verfassungsgeschichtlicher Er1a Marcel Senn, Rechtshistorisches Selbstverständnis im Wandel. Ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte, Zürich 1982. 19 Otto Gerhard Oexle (FN 12), S. 77-107. 2o Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur 2. Aufl., angeführt bei Oexle (FN 12), S. 78. 21 Oexle (FN 12), S. 78. 22 Oexle (FN 12), S. 80; Marcel Senn (FN 18), S . 181 f. 23 Marcel Senn (FN 18), S . 182.

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kenntnis wird dann eine Folge sich ablösender und voneinander abhebender je zeitgebundener Fragestellungen, Sichtweisen und Erfahrungshorizonte, ein hermeneutisches In-sich-Geschäft, dem die Sache, auf die doch erkenntnismäßig zugegriffen werden soll, schließlich entgleitet. Begriffsgeschichtliche Forschung etwa erscheint dann nur noch als eine Nachwirkung "historistischer Objektforschung", die im Grunde überholt ist24 . Das kann ein Resultat, das Bestand hat, schwerlich sein. Vielmehr geht es darum, daß die Befreiung vom Anspruch 'objektivistischer Erkenntnis' den Blick für die gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen historischer Erkenntnis freimacht und diese in begriffs- und wissenschaftsgeschichtlicher Reflexion in die geschichtswissenschaftliche Arbeit einbezogen, zu Bestandteilen des Forschungs- und Erkenntnisprozesses selbst werden25 • Eben dies entspricht dem Anliegen der Hermeneutik. Bestätigt wird dies durch die andere Linie der methodentheoretischen Reflexion, die von der Forderung nach quellengemäßer Begriffssprache ihren Ausgangspunkt nahm. Diese Reflexion sah sich alsbald mit dem Problem konfrontiert, daß die Verwendung der in den Quellen vorfindliehen Worte- und zunächst nur Worte sind in den Quellen auffindbar - nicht schon die damit verbundene sachliche Bedeutung, die quellengemäßen Begriffe, klärt. Wie läßt sich aber von den Worten auf Begriffe rückschließen, wenn Begriffsgeschichte nicht anders denn als Wortgebrauchsgeschichte zu betreiben ist und - wie die moderne Sprachtheorie weiß - ein Wort kontextbezogen und zeitversetzt durchaus verschiedene Begriffe (als sachliche Bedeutungsgehalte) tragen kann?26 Schon früh ist darauf hingewiesen worden, daß eine quellenadäquate Begriffsbildung nicht dadurch erreicht werden kann, daß man die mittelalterlichen Quellen statt auf die Begriffe des 19. Jahrhunderts auf moderne Allgemeinbegriffe vom menschlichen Zusammenleben hin interpretiert. Man müsse sich vielmehr auf die Begriffswelt der Quellen soweit einlassen, daß die eigenen Vorstellungshorizonte dadurch aufgebrochen und verwandelt werden27 • Das führt auf das zentrale hermeneutische Problem. Der Zugang zu den quellengemäßen Begriffen und den in ihnen erfaßten Sachen, auf den es ankommt, kann nur über die Worte, nicht an ihnen vorbei gewonnen werden. Sprache ist mithin nicht Objekt und Gegenstand, son24 In diese Richtung Marcel Senn (FN 18), S. 116; das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe ist für ihn noch geistesgeschichtlichen Traditionen verhaftet. 25 So ausdrücklich Oexle (FN 19), S. 82. 26 Zum letzteren Otto Depenheuer, Der Wortlaut als Gr enze. Thesen zu einem Topos der Verfassungsinterpretation, Heidelberg 1988, S. 38 ff. 27 Karl Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht, Göttingen 1968, S. 50.

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dern eigentliches Medium des historischen Verstehens 28 • Die Worte sind aber in ihrem Verständnis zumeist nicht eindeutig, können nach Kontext und Verwendung einen unterschiedlichen Bedeutungsgehalt aufweisen, Bezeichnungsfunktion für verschiedene Begriffe haben. Und bei der Suche nach dem richtigen Verstehen, der eigentlich gemeinten Bedeutung, spielt wiederum die eigene Fragestellung, der eigene Erkenntnis- und Erfahrungshorizont, aber auch die von der Bedeutung ausgehende Wirkung eine Rolle. Dies ist aber nicht ein Grund zur Resignation. Gerade eine entfaltete Hermeneutik, welche die Verschiedenheit und die Bedingtheiten der Wege zur Vergewisserung reflektiert, beschränkt sich nicht auf die Erfassung bloß äußerer Wortkörper und an sich möglicher Wortbedeutungen, behält vielmehr - als historische Vernunft - die Frage nach Sinn und Bedeutung in einem konkreten Sach- und Lebenszusammenhang als Ziel des Erkenntnisbemühens stets im Auge29 . Damit behält auch die begriffsgeschichtliche Fragestellung ihren Sinn. Wie dabei für den Bereich der Rechtsgeschichte- und wohl auch der Verfassungsgeschichte - vorangegangen werden kann, hat Karl Kroeschell eindrucksvoll aufgezeigt 30 • Linguistische Fragestellungen aufnehmend, aber nicht einfach rezipierend, gibt er dem Dreieck von Wort-Sache-Begriff eine neue hermeneutische Bedeutung, die die der Linguistik geläufige Spannung von Wort und Sache und die hermeneutische Spannung von Wort und Begriff (Bezeichnung und Bedeutung) miteinander verbindet. Das ist deshalb einleuchtend, weil im Bereich der Rechts- und Verfassungsgeschichte, wo die "Sache" weithin nicht etwas Faktisches, sondern Gedachtes ist (etwa Urteil, Erbe, Feudum, Privileg, consuetudo), Begriff und Sache miteinander verschränkt sind. Den Zugang zur Sache gewährt nicht das Wort unmittelbar, sondern erst der mit dem Wort bezeichnete Begriff (die Bedeutung), der seinerseits ein Stück gedanklich erfaßter sozialer Realität ist31 . Geht aber 2s Karl Kroeschell (FN 27), S. 51: "Das Wort ist also der einzige methodisch gesicherte Zugang zum Sinn und damit zur Sache"; anders Hanna Vollrath, Das Mittelalter in der 'IYPik oraler Gesellschaften, HZ 233 (1981), S. 589-94. 29 Das ist auch bei Gadamer ganz deutlich. Es geht ihm um die Auflösung des abstrakten Gegensatzes von Geschichte und dem Wissen von ihr; die Frage nach der ,Sache' und den Wegen, sich ihr verstehend zu nähern, bleibt bestimmend. Nur so erklärt sich auch die von ihm angenommene exemplarische Bedeutung der juristischen Hermeneutik, die es gerade mit dem Verständnis und der Interpretation von etwas Festgelegtem, dem Gesetz, zu tun hat, vgl. Wahrheit und Methode, 4. Aufl. 1975, S. 261 ff., 307 ff. 3o Karl Kroeschell (FN 17}, S. 66-74; ferner Hans K. Schulze, Mediävistik und Begriffsgeschichte, in: Festschrift für H. Beumann zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1977, S. 388-405. 31 Siehe dazu näher Kroeschell (FN 17), S. 67-72

X

Vorbemerkung zur zweiten Auflage

solchermaßen in Rechts- und Verfassungsbegriffe ein Stück sozialer Realität ein, die in ihnen gedanklich erfaßt wird, so sind sie ihrerseits geschichtlich, können ihren Gehalt, der historisch entsteht, auch verlieren, als Begriffe obsolet werden32 • Das schließt kategoriale Begriffe nicht aus, mahnt ihnen gegenüber aber zur Vorsicht. Die vorstehenden Bemerkungen mögen den wissenschaftsgeschichtlichen Ort der hier wieder vorgelegten Arbeit deutlich machen und erklären helfen, warum eine Untersuchung über zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder der verfassungsgeschichtlichen Forschung, die vor so vielen Jahren entstanden ist, nach wie vor eine gewisse Aktualität beanspruchen kann. Sie kann dies, so meine ich, nicht zuletzt deshalb, weil sie in Verfolg ihrer - wissenschaftsgeschichtlichen- Fragestellung die ,Sache', nämlich die wirklichen Verfassungsverhältnisse, nicht draußen vor gelassen, sondern als einen Bezugspunkt mit im Blick gehabt hat. So wird in ihr, wenngleich methodentheoretisch unreflektiert, doch das Verhältnis von Wort-Sache-Begriff als methodisches Problem präsent, und ebenso die notwendige historische Bedingtheit historischer Forschung. Um die Benutzbarkeit der Arbeit für den heutigen Leser zu erleichtern, ist in Nachträgen auf inzwischen erschienene einschlägige Literatur hingewiesen, und zwar sowohl zu den behandelten Forschern und ihren Fragestellungen als auch zu der ,Sache', den älteren Verfassungsverhältnissen, die den Gegenstand dieser Forschung bildeten.

* Herzlich zu danken habe ich Herrn stud. iur. Johannes Liebrecht. Seine, von außergewöhnlicher Sachkenntnis getragene, tatkräftige und einsatzbereite Hilfe bezog sich nicht nur auf das Zusammenstellen der einschlägigen Literatur, sondern ebenso auf die Aufbereitung der hermeneutischen, wissenschaftsgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Diskussion. Ohne sie wäre es für mich angesichts der Arbeitslast des Karlsruher Richteramts unmöglich gewesen, die Neuauflage in dieser Form vorzulegen. Freiburg, im September 1995

Ernst-Wolfgang Böckenförde

32

Siehe dazu die Diskussion bei Koselleck (FN 16), S. 32-37.

Vorwort Die Frage nach Geschichte und Geschichtlichkeit ist heute über den Bereich der Einzelwissenschaften hinaus neu gestellt. So wird eine Untersuchung, die den zeitgebundenen Fragestellungen und Leitbildern in der deutschen verfaJSSu:ngsgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts nachgeht und dadurch die jeweilige konkrete geschichtliche Gebundenheit dieser Forschung aufzuweisen sucht, vielleicht einiges Interesse finden. Sie kommt zudem, wie es scheint, einem besonderen wissenschaftlichen Bedürfnis entgegen, das sich aus dem gegenwärtigen Stand der verfassungsgeschichtlichen und verfassungstheoretischen Forschung in Deutschland ergiht. Die AI1beit hat der Philosophischen Falrultät der Universität München im Sommer 1960 als Dissertation vorgelegen. Die Aillregung zu ihr verdanke ich meinem verehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Franz Schnabel, München. Er hat dem angehenden Juristen die Augen für die VerfaJSSungsgeschichte und ihre Probleme geöffnet und die Bearbeitung des Themas mit nie ermüdender innerer Anteilnahme und mit manchem hclfendc.n Rat unterstützt. Den vielfachen Dank, den ich ihm und auch Herrn Pro:. Dr. Otto Brunner, Hamburg, schulde, dessen Schriften den Bereich der hier gestellten Fragen allererst erschlossen haben und mir bei der Bearbeitung des Themas zum Leitstem wurden, möchte die voranstehende Widmung zum Ausdruck bringen. Besonders zu danken habe ich auch Herrn Prof. Dr. Carl Schmitt, Plettenberg, für wiederholte klärende Gespräche, aUIS denen ich nachhaltige Anregungen empfing; ebenso dem von Herrn Prof. Dr. Joachim Ritter geleiteten Collegium philosophicum an der Univ.e rsität Münster, dessen besondere Aufgeschlossenheit für die Fragen von Geschdchrte und Geschichtlichkeit der Erstellung dieser Arbeit sehr zugute gekommen ist; schließlich Herrn Ministerialrat a. D. Dr. Broermann, der auch diese Abhandlung bereitwillig und mit großem Entgegenkommen in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Münster/Westf., Januar 1961 Ernst-Wolfgang Böckenförde

Inhalt Einleitung: Zum Thema

15

Erstes Kapitel Der Ausgangspunkt verfassungsgeschichtlicher Forschung in Deutschland: Justos Möser I. Mösers Weg zum geschichtlichen Denken - Die Wendung zur konkreten Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

II. Das Bild der altsächsischen Verfassung - Hausherrschaft und Herrschaftsfreiheit- Genossenschaftliche Gemeinwesen/Staat der Landeigentümer - Ständische Gliederung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

III. Voraussetzungen seines Verfassungsbildes - Organische Naturtheorie von Gesellschaft und Staat- Der geschichtliche Vorgang der Trennung von Staat und Gesellschaft - Mösers Ubergangssituation in der Endphase der altständischen Ordnung . . . . . . . . . .

30

IV. Das karolingische Reich: ständestaatliche Züge - Der Übergang zur Landesherrschaft - Das Gesamtbild der deutschen Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

Zweites Kapitel Die verfassungsgeschichtliche Forschung im Rahmen des sündestaatlieben Verfassungsbildes, insbes. Karl Friedrich Eichhorn I. Die Verfassungssituation des späten ständischen Staates - Entwicklungsgeschichtliche Herleitung - Verfassungsgeschichte als Geschich~e einer staatsbürgerlichen St ändegesellschaft: Eugen Montag - Karl Dietrich Hüllmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

42

II. K. F. Eichhorn: Herkunft und Werdegang - Geschichtlich-organisches Denken - Geschichtlichkeit als Modus des Geschehens Staatspolitische Anschauungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

III. Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte : Gliederung und Anlage Staatlich-genossenschaftlicher Charakter der germanischen Verfassung - Königsherrschaft und Gefolgschaft - Ständestaatliche Interpretation des karolingischen Reiches - Staatliche Rechtsquellenlehre - Die Stände als Sozialstände - Das sozialständische Dilemma - Freiheitsbegriff und Verfassungsstruktur -VogteiAusbildung und Ausbau der Landeshoheit: Gefüge von Amtsgewalten und Herrschaftssphär en - Ver einheitlichungsstreben Kein ständestaatlicher Dualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

IV. Würdigung- Ständestaatliches Verfassungsbild als vor ausgesetzte Rahmenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

72

10

Inhalt Drittes Kapitel Die verfassungsgeschichtliche Forschung im Zeichen der nationalen Bewegung und des ,organischen' Liberalismus Erster Abschnitt Geschichtsverhältnis und politisches Denken der Germanisten

74

I. Deutscher und französischer Nationbegriff - Staatliche und staatlose Nationen - Geschichte als Erkenntnisquelle des nationalen Wesens - Politisch-nationaler Antrieb zur geschichtlichen Forsdmng - Germanistenversammlungen - Bruch der geschichtlichen Kontinuität - Geschichte als Maßstab für die Gestaltung der Gegenwart - Germanisten und Historische Rechtsschule ... , . . . .

75

II. Befragung und Interpretation der Geschichte vom Verfassungsideal her - Wechselbeziehung von geschichtlicher Forschung und politischem Programm - ,Germanische Freiheit' als staatsbürgerlichfreiheitliche Ordnung - Feudalsystem als Gegenbild - Verfas'sungsgeschichte als Entwicklungsgeschichte der nationalen Verfas .. sungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

·a4

III. Verfassungsideal der Germanisten- Organischer StaatsbegriffVerbindung von Königsturn und Volksfreiheit - Staatspersönlichkeit - Monarch als Staatsorgan - Position der ,Mitte' - Organischer Liberalismus - Geschichtlich bestimmtes Wirklichkeitsverhältnis - Keine Erkenntnis des Dualismus von Staat und Gesellschaft - J. Möser als Vorbild und Quelle . . . . . . .

92

Zweiter Abschnitt Die Verfassungsgeschichte im Blickpunkt des nationalpolitischkonstitutionellen Verfassungsideals : Georg Waitz

99

I. Waitz' Stellung in der nationalen und liberalen Bewegung Quellengebundene historische Forschung - Theorie der geschichtlichen Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

II. Die altgermanische Verfassung als Urbild des Verfassungsstaates - ,principes' als erwählte Beamte - Staatsbürgerliche Freiheit Adel als sozialer Vorzug - Konstitutionelles Königtum - Organisches Sozialmodell - Vorausgesetzter Rechts- und Friedensverband- Fehde "wider das Recht" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1:02

III. Merovingische Verfassung im Rahmen konstitutioneller Fragestellungen - König als Staatsoberhaupt - Verwaltungsorganisation - Staatsverwaltung/Selbstverwaltung- Privatherrschaftliche Elemente - Karolingisches Reich als konstitutionelle Monarchie Mittelalterliche Ordnung als deren Auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

108

IV. Einzelne Begriffe und Institutionen: Immunität - Freiheit, Munt, Friede- Finanzverfassung- Heeresverfassung: Wehrpflicht aller Eigentümer - Stände als Sozialstände-Kein Adelsstand -Dingliche und persönliche Abhängigkeit als Kriterium - Mischformen 118 V. Nationalpolitische Interpretationen: Deutschheit aller staatlichkonstitutionell geseh enen Einrichtungen - Fränkische Reichsbildung und-teilungals Paradigma d er nationalen Einigung . . . . . . . .

130

Inhalt VI. Würdigung: Durchgehende Gebundenheit an das nationalpolitischkonstitutionelle Verfassungsideal -Philologische Behandlung der Verfassungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

133

Dritter Abschnitt Die Verfassungsgeschichte als Anwendungsfall einer organisch-liberalen Sozialtheorie: Georg Ludwig v. Maurer

134

I. Maurers Ausgangspunkt: Erforschung des Ganges der Geschichte - Universales organisches Entwicklungsschema - Staatlich befriedete Gesellschaft als Voraussetzung - Daran orientierte abstrakt-einheitliche Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 II. Tragende Elemente des Verfassungsbaues: Markgenossenschaften als Ursprungsordnung - Genossenschaftlich-gleichheitliehe Verbände - Agrarkommunismus - Herrschaft als Ausfluß vollen Eigentums Herrschaftsbildungen durch Akkumulation von Grundbesitz- Offentliehe Gewalt aus Friedenswahrung - Dualismus im Sinne des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 III. Konstruktive Geschichtsbetrachtung Fragestellung aus der Sozialtheorie- Rückschlußverfahren-Quellen als Belegmittel . . 145

Vierter Abschnitt Die Verfassungsgeschichte als vorbestimmter Entwicklungsgang zum monarchisch-liberaten Verfassungsstaat: Otto v. Gierke

147

I. Verbindung von nationalpolitisch-konstitutionellem und entwicklungsgeschichtlich-sozialtheoretischem Denken - Das Erbe Beselers - Genossenschaftliche Staatslehre: Versöhnung von Herrschaft und Freiheit - Allgemeine Consoziationstheorie - Abgrenzung gegen Assoziationsdenken und Pluralismus - Gierke als Zu-spät-Gekommener nach 1866 - Der liberal-konstitutionelle Staat als Ergebnis einer weltgeschichtlichen Entwicklung - Prinzipielle Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 II. Betrachtung der Verfassungsgeschichte auf den liberal-konstitutionellen Staat hin und von ihm her - Herrschaft/Genossenschaft, persönlicher und dinglicher Verband als tragende Formkräfte Der Entwicklungsgang der Verfassungsgeschichte im allgemeinen - Aussagekraft dieser Geschichtskonzeption - ,Staatlicher' Char akter der Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 III. Einzelinterpretationen: Die politischen Verbände der germanischen Zeit - ,Verdinglichung' der genossenschaftlichen Verbände Ständeverhältnisse: Sozialständische und herrschaftlich-politische Betrachtung- Ausbau der Landesherrschaft: Strukturelle Einsicht - Städteentwicklung und Stadtfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 IV. Die Verwendung moderner Rechtsbegriffe als methodisches Problem für Gierke - Assimilierung an die Fragestellung der neukantianischen Methodendiskussion - Weg zur wissenschaftlichen Neutralität und Abstraktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

12

Inhalt Viertes Kapitel

Der tJbergang von einer politisch-orientierten Verfassungsgeschichte zur ,juristischen' Rechtsgeschichte: Roth, Sohm, H. Brunner, Below I. Die Auseinandersetzung zwischen organischem und Aufklärungs-

liberalismus - Die Wendung zum französisch-orientierten, monistischen Staatsbegriff - Auswirkung auf die Fragestellung der verfassungsgeschichtlichen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Paul v. Roth: Verbindung der Tradition der Historischen Schule mit dem französisch-orientierten Staatsdenken - Nationalpolitische Frontstellung gegen die französischen Historiker - Feudalordnung kein Ausfluß germanischen Wesens - Juristische Betrachtung und Quellenbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

II. Die Verallgemeinerung der modernen staatsrechtlichen Begriffe zu allgemeinen Kategorien der Erkenntnis menschlichen Soziallebens - Hegel, Lorenz v. Stein, Karl Marx - Neue Art der Geschichtsbetrachtung - Verfassungsgeschichte als retrospektives Staatsrecht- Einfluß des jw-istischen Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Rudolf Sohm: Das Erbe P. v . Roths- Wendung gegen Gierke und Maurer - Rechtsgeschichte als juristisch-begriffliche Darstellung vergangeneo Rechts - Grundlage nicht im Positivismus - Sohms Rechtsbegriff - Recht als staatliches Recht - Rechtsbegriff des Rechts - Staatsbegriff mit dem Rechtsbegriff gegeben - Verfassungsgeschichte als Entfaltungsgeschichte von Recht und Staat Rein staatliche Interpretation der germanischen und fränkischen Verfassung- Quellen nicht Erkenntnis-, sondern Belegmittel . . . . 191 Heinrich Brunner: Verfassungsgeschichte als Rechtsgeschichte und Rechtsdisziplin - Die allgemeinen Rechtsbegriffe als methodische Basis - Die "Deutsche Rechtsgeschichte" als symptomatisches Beispiel - Staatsrechtliche Begriffe als allgemeine Ordnungsmittel Anlage und Thesen des Werks - Gleichwohl Bemühen um historisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 111. Verborgene politische Substanz der ,juristischen' Rechtsgeschichte - Darstellung des Feudalstaates als Beispiel (K. v. Amira) - Unwerturteil über die Anfänge der historischen Monarchie - Opposition G. v . Belows- Sein Kampf für ,Staatlichkeit' der mittelalterlichen Ordnung - Keine methodische Abkehr, sondern nur Gegenposition -Methodische Rechtfertigung der Verwendung moderner Begriffe - Entleerung der Geschichte zum Bereich historischer Tatsachen -Verlust der Geschichtlichkeit zur Theorie erhoben Parallele zu Max Weber - Praktische Anwendung in den Thesen über die staatliche Ordnung des Mittelalters und die landständische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 210

Schlußbemerkung Literaturver~:eichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Sachregister .. .. . . . .. . .. . .. .. .. .. . .. .. . .. . .. .. .. .. . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..

221

Corrigenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Nachträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

Abkürzungen ALR

Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten

AöR

Archiv des öffentlichen Rechts

DA

Deutsches Archiv für Geschichte des Mittelalters

HJB

Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft

HZ

Historische Zeitschrift

Jahrb.

Jahrbuch

MIOG

Mitteilungen des Instituts für Osterreichische Geschidltsforschung

Sav. Zs. =

Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte

Vjschr.

Vierteljahresschrift

Zs.

Zeitschrift

Einleitung: Zum Thema Die verfassungsgeschichtliche Forschung ist in Bewegung geraten. Als Fritz Kern im Jahre 1919 feststellte, die "wahre Staatsnatur des mittelalterlichen Staates" sei von Georg v. Below endültig nachgewiesen worden\ schien ein jahrzehntelanger Streit beendet und das Bild von den älteren deutschen Verfassungsverhältnisen in seinen Grundzügen abschließend geklärt zu sein. Richard Schröders Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte erschien 1922 in 6. Auflage2 , unbestritten in seiner wissenschaftlichen Geltung, und 1928 erlebte der 2. Band von Heinrich Brunners Deutscher Rechtsgeschichte, die grundlegende Darstellung für die Verhältnisse der ,Fränkischen Zeit', se.ine 2. Auflage in der Bearbeitung von Claudius v. Schwerin3 • Inzwischen, nach knapp vierzig Jahren, ist dieses ,staatliche' Bild der älteren deutschen Verfassungsgeschichte in einer Weise in Frage gestellt, die nicht nur Einzelergebnisse überholt, sondern die Grundlagen selbst ins Wanken gebracht hat. Dies ist nicht durch einen plötzlichen Einbruch geschehen, sondern hat sich aus dem Gang der Foi1Schung selbst ergeben. Bereits 1910 war Aloys Schulte in seinen ganz aus den Quellen herausgewachsenen Untersuchungen über Adel und Kirche tm :Mittelalter auf einem Einzelgebiet zu Ergebnissen gelangt, die für die sich eben durchsetzende ,staatliche' Auffassung der Verhältnisse mancherlei Fragen aufgeben mußten4 • Otto v. Dungern hatte dann, weiter ausgreifend, die eigenberechtigte Herrschaftsstellung des Adels behauptet und das 1 Recht und Verfassung im Mittelalter: HZ 120 (1919), S. 9 Anm. 1; jetzt Neudruck Darmstadt 1954, S. 19. 2 Richard Schröder, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 6. Aufi., bearb. v. E. v. Künßberg, 1922. 3 H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2: Die fränkische Zeit, 2. Aufi., bearb. von Cl. v. Schwerin, 1928; die 2. Aufi. des 1. Bandes war bereits 1906, noch aus der Feder H. Brunners, erschienen. Zur Würdigung vgl. die Besprechung von Ulrich Stutz, Sav. Zs., Germ. Abt., Bd. 48 (1928), S. 456 ff. 4 Aloys Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter, 1910 (Heft 63/64 der Kirchenrecht!. Abhandlungen, hrsg. von Ulrich Stutz). Die wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, die diesem Werk zukommt, hat Theodor Mayer in der Besprechung des Neudrucks 1958 zutreffend hervorgehoben, vgl. Das historisch-politische Buch, Bd. VII (1959), S. 298. - Schulte stand im übrigen selbst noch ganz innerhalb der ,staatlichen' Betrachtung der deutschen Verfassungsgeschichte, vgl. Fürstentum und Einheitsstaat in der deutschen Geschichte, 1921, und Der deutsche Staat, Verfassung, Macht und Grenzen

919-1914, 1933.

16

Einleitung: Zum Thema

eigentliche Problem der mittelalterlichen Ordnung nicht mehr im Niedergang der staatlichen Gewalt und der Auflösung eines geschlossenen Staatsbaus gesehen, sondern in der allmählichen Einfügung des autogenen Adels in eine übergreifende staatsartige Ordnung5 • Auch Adolf Waas gesellte sich der Opposition zu, indem er durch seine Untersuchung über Vogtei und Bede die staatsrechtlichen Begriffe und Unterscheidungen, mit denen man die mittelalterliche Ordnung zu erfassen suchte, für ein konkretes Problem in Frage stellte8 • Daneben brachte die Arbeit des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, das sich in besonderer Weise die Erschließung und Auswertung der Urkunden als eines eigenberechtigten Quellenbereichs zur Aufgabe machte7 , neue Bewegung in die scheinbar festgefügten Grundlinien. Alfons Dopsch wuchs im Fortgang seiner Studien mehr und mehr aus dem ,staatlichen' Bild der älteren Verhältnisse, von dem er ausgegangen war, heraus und zeigte dann sehr entschieden neue Grundlinien der Verfassungsentwicklung auf8• Hans Hirsch stellte die Bedeutung der adligen hohen Gerichtsbarkeit für den Ausbau der Landeshoheit fest und wies damit ebenfalls auf neue Strukturlinien hin, und Otto H . Stowasser fragte 1925 ganz bewußt nach der eigenen, quellenmäßigen Bedeutung von Land, Landrecht und Herzog in den Österreichischen und bayerischen Quellen°. In Deutschland wurde die Forschung nach 1933 nicht zuletzt auf das Problem der ,Freiheit' und den ,Stand der Freien' in der altdeutschen 5 0. v. Dungern, Der Herrenstand im Mittelalter, 1908; ders., Die Entstehung der Landeshoheit in Österreich, 1910; ders., Adelsherrschaft im Mittelalter, 1927. 8 Adolf Waas, Vogtei und Bede in der deutschen Kaiserzeit, Bd. 1, 1922; Bd. 2, 1923. Waas lehnte u. a. die Bede als staatlich-hoheitliche Abgabe und Ursprung der Steuer ab und leitete sie stattdessen aus der Munt als der Herrschafts- und Schutzgewalt her. Für Below bedeutete das sogleich die Behauptung des privatherrschaftlichen Charakters derselben, vgl. seine ablehnende Stellungnahme in Vjschr. f. Sozial- und Wirtsch,geschichte, Bd. 18, S. 240 f. 7 H. Rosenmund, Die Fortschritte der Diplomatik seit Mabillon, 1897,

s. 99 ff., 117.

8 Vgl. die ausführliche Würdigung von Belows Deutschem Staat des Mittelalters im Jahre 1915: Der deutsche Staat des Mittelalters: MIÖG Bd. 36, S. 1 ff.; ferner "Wirtschaftliche und soziale GI1Ulldlagen der europäischen Kulturentwicklung ...", 2 Bde., 2. Aufi., 1923, wo vor allem von der Wirtschaftsgeschichte her größere Modifikationen an dem überkommenen Bild vorgenommen werden; entschiedener dann in "Benefizialwesen und Feudalität": MIÖG Bd. 46 (1932), S. 1-36, vor allem gegen Paul v. Roth und Heinrich Brunner, und "Die freien Marken in Deutschland", 1933, wo die Bezogenheit von Herrschaft und Freiheit herausgestellt und die alte Markgenossenschaftstheorie (gegen Gierke) erschüttert wird; endlich "Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit", 1939, und "Die Grundherrschaft im Mittelalter": Festschrift für A. Zycha, 1941. 9 Hans Hirsch, Die hohe Gerichtsbarkeit im deutschen Mittelalter, 1922, 2. Auflage (Neudruck) 1958; Otto H. Stowasser, Das Land und der Herzog. Untersuchungen zur bayer. u. österr. Verfassungsgeschichte, 1925, dazu auch Otto Brunner, Land und Herrschaft, 3. Aufl., 1943, S. 194 f.

Einleitung: Zum Thema

17

und mittelalterlichen Verfassung hingewiesen. Die Abkehr vom liberalen Freiheits- und Staatsbegriff, die die Errichtung der NS-Herrschaft mit sich brachte, ließ diesen in seiner geschichtlichen Gebundenheit erkennen und gab dadurch zahlreiche neue Fragen auf10• Stück um Stück haben sich daraus, bei stets festgehaltener Quellengebundenheit der Forschung, bis in die Gegenwart hinein neue Aufschlüsse ergeben: die Gemeinfreien der karolingischen Quellen, die ,Wehrpflicht aller Freien', die ,freien Bauern', die Beziehung von Herrschaft und Freiheit und der Begriff der Freiheit überhaupt, die Stellung des Adels und der Stände, die Ausbildung der Landesherrschaft, all das erschien und erscheint in sehr verändertem Licht11• Auch die geschichtliche Gebundenheit des Staatsbegriffs und der darauf bezogenen Begriffe und Unterscheidungen ist seit dieser Zeit zunehmend bewußt geworden. Während Heinrich Mitteis noch an der Beziehung von ,Lehnrecht und Staatsgewalt' und am ,Staat des Mittelalters', wenn auch in etwas modifizierter Form, festhielt12, hat Otto Brunner, aus der Schule des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung hervorgegangen, anhand seiner grundlegenden Untersuchungen 10 Die Feststellung dieses Zusammenhangs diskreditiert die Forschungen und Fragestellungen, die darin ihren Ausgangspunkt haben, in keiner Weise. Daß sich aus einer derartigen politischen Umwälzung für die Geschichtsforschung neue Fragen ergeben mußten, ist ganz selbstverständlich, auch wenn es außerhalb Deutschlands, wo dieser Bruch nicht stattfand und noch heute, wie etwa in der Schweiz, eine ungebrochene staatlich-liberale Kontinuität besteht, nicht immer leicht einzusehen ist. Wie fruchtbar diese Fragestellungen waren, hat der weitere Gang der Forschung erwiesen. 11 Vor allem Theodor Mayer, Heinrich Dannenbauer und Walter Schlesinger gingen auf diesem Weg voran. Aus der Vielzahl der Arbeiten seien (nach der Zeitfolge) erwähnt: Theodor Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im Mittelalter: HZ 159 (1939); ders., Königtum und Gemeinfreiheit im Mittelalter: DA 1943; Adolf Waas, Herrschaft und Staat im deutschen Frühmittelalter, 1938; ders., Die alte deutsche Freiheit, 1939; Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft, 1941 ; H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den Germanen: HJB Bd. 61 (1941); ders., Hundertschaft, Centena, Huntari: HJB Bd. 62 (1949); der von Theodor Mayer herausgegebene Sammelband: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, 1943; ferner H. Mitteis, Adelsherrschaft im Mittelalter: Festschr. für Fritz Schultz, Bd. 2, 1952; K. S. Bader, Volk, Stamm, Territorium: HZ 176 (1953); W. Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte: HZ 176 (1953); H. Dannenbauer, Die Freien im karolingischen Heer: Festschr. für Theodor Mayer, Bd. 1, 1954; Otto Brunner, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft, ebd.; schließlich die zahlreichen Abhandlungen in den von Theodor Mayer herausgg. Bänden "Vorträge und Forschungen", insbes. Bd. 2: Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte, 1955, und Bd. 3: Das Königtum, 1956. 12 Vgl. Lehnrecht und Staatsgewalt, 1933, wo die überkommenen Fragestellungen noch stark lebendig sind und versucht wird, das Lehnrecht als ,funktionell öffentliches Recht' zu erweisen (Einl. S. 1-19, insbes. S. 7--8); ferner Der Staat des hohen Mittelalters, 1. Aufl. 1940, wo es S. 3 heißt: "Für die Geschichte ist Staat jede Ordnung eines Volkes zur Erreichung seiner politischen Hochziele" und das Modell einer staatlichen Ordnung im wesentlichen noch festgehalten wird. Auch in den späteren Auflagen ha t Mitteis insoweit grundsätzliche Änderungen nicht vorgenommen .

'l

ßöckeuförde

18

Einleitung: Zum Thema

über die Verfassungsverhältnisse des späteren Mittelalters die Unanwendbarkeit des Staatsbegriffs und der daran gebildeten weiteren Begriffe und Unterscheidungen für die sachgerechte Erkenntnis der mittelalterlichen politischen Ordnung dargetan13• So wurde, nach Ausgangspunkt und Methodik verschieden14, Schritt für Schritt das überkommene, durch die Arbeit mehrerer Forschergenerationen gefestigt scheinende Bild der älteren deutschen Verfassungsgeschichte in Frage gestellt. Inwieweit die neuen Linien, die sich abzeichnen, allgemeine Anerkennung finden, muß der weitere Gang der Forschung erweisen. Die Auseinandersetzung ist noch in vollem Fluß, und auch für die älteren Ansichten fehlt es nicht an Verteidigern. Aber die Umstrittenheit der neuen vermag keinesfalls mehr über die Brüchigkeit der alten Linien hinwegzutäuschen. Diese läßt sich heute unabhängig davon feststellen, ob und inwieweit die Thesen der neueren Forschung sich endgültig bewahrheiten werden. Was Paul v. Roth 1874 gegenüber Savigny und Eichhorn geltend machte, läßt sich, etwas abgeschwächt, auch heute sagen: "Das Gebäude, welches diese Männer mühsam errichtet, ist vollständig abgebrochen15." Vor diesem Hintergrund erhält die Frage nach der Zeitgebundenheit in der verfassungsgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts ihren 11 Land und Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 1939. Eine Zusammenfassung der diesbezüglichen Ergebnisse findet sich in dem Aufsatz: Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte: MIÖG, Erg. Bd. 14, 1939. Brunner seinerseits ist nicht zuletzt durch das verfassungstheoretische Schrifttum in Deutschland, das die geschichtliche Gebundenheit und spezifische Eigenart der modernen staatsrechtlichen Begriffe herausarbeitete, insbesondere durch die Schriften Carl Schmitts, angeregt worden. Vgl. etwa Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1928, und "Der Begriff des Politischen", 2. Aufl. 1931, ferner "Staatliche Souveränität und freies Meer", in: Das Reich und Europa, Leipzig 1941 (der 1. Teil jetzt unter dem Titel: Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff, als Nr. 16 in den "Verfassungsrechtlichen Aufsätzen", Berlin 1958). "Land und Herrschaft" erlebtetrotz der Kriegsverhältnisse bereits 1943 die 3. Aufl. Wie schnell es sich durchsetzte, zeigt u. a. die Besprechung der 3. Auft. durch H. Mitteis: Sav. Zs., Germ. Abt., Bd. 64 (1944), S. 410-418. u Für die Arbeiten Th. Mayers und H. Dannenbauers ist es kennzeichnend, daß sie ohne jede Prätention, ganz aus der Arbeit an den Quellen heraus zu ihren Ergebnissen gelangen und deshalb erst allmählich, Schritt für Schritt, aus dem staatlichen Modell und Urteilsmaßstab herauswachsen. Vgl. etwa die Abhandlung "Königtum und Gemeinfreiheit im Mittelalter" von Theodor Mayer aus dem Jahre 1943, und seinen Aufsatz "Die Königfreien und der Staat des frühen Mittelalters" von 1955; bei H. Dannenbauer läßt es sich in dem Sammelband: Grundlagen der mittelalterlichen Welt, 1958, von Aufsatz zu Aufsatz verfolgen. 15 Paul v. Roth, Besprechung von Sohm, Die fränkische Reichs- u. Gerichtsverfassung: Krit. Vjschr. f. Gesetzgebung u. Rechtswissenschaft, Bd. 16 (1874),

s. 192.

Einleitung: Zum Thema

19

Sinn und ihre eigentliche Aktualität. Denn die Tatsache, daß das Gebäude, welches die Verfassungshistoriker des 19. Jahrhunderts aufgerichtet haben, bis in seine Grundfesten hinein wankend geworden ist, kann aus sich heraus leicht dazu führen, daß man entweder aus der uneingestandenen Sorge, für sicher gehaltenen Boden unter den Füßen zu verlieren, an den dadurch aufgeworfenen Fragen vorbeigeht bzw. sie als unwesentlich abtut, oder aber die ganze verfassungsgeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts in den Sog der Ideologiekritik und ideologiekritischen Entlarvung hineinzieht. Beides wären Antworten, die dem entstandenen Problem nicht gerecht würden. Gegen die Unterstellung, sie seien bürgerliche Ideologen gewesen und hätten die Geschichte als Mittel ideologischen Kampfes verwendet, sind die Forscher des 19. Jahrhunderts entschieden in Schutz zu nehmen; das gewaltige wissenschaftliche Werk, insbesondere die Quelleneditionen, die sie geschaffen haben, und das wissenschaftliche Ethos, welches dahintersteht, zeigen das zur Genüge. Jeder, der sich heute kritisch gegen ihre Ergebnisse wendet, steht doch zugleich auf ihren Schultern. Ebensowenig aber ist es angebracht, der Frage nach der Zeitgebundenheit ihres Forschens und Fragens auszuweichen; das würde die Situation nur verschlimmern und diesen Forschern wenig Ehre antun; es ließe letztlich doch die Angst erkennen, daß schließlich alles bei einer ideologischen Entlarvung enden würde. Auch würde man sich möglicherweise gerade dadurch um die bessere geschichtliche Einsicht bringen, die uns vielleicht heute möglich ist. So will die nachfolgende Untersuchung die Frage nach dem zeitgebundenen Denken in der verfassungsgeschichtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts als wirkliche Frage aufnehmen und sich ihr stellen. Sie hat dabei weder die Absicht, diese verfassungsgeschichtliche Forschung zu entlarven, noch sie zu rehabilitieren, sondern sie womöglich an ihren eigenen geschichtlichen Ort zu stellen. Nach dem Wissen, das wir heute über Geschichte und Geschichtlichkeit haben, kann es nicht mehr unberechtigt erscheinen, zu versuchen, auch die Entwicklung der verfassungsgeschichtlichen Forschung als einen geschichtlich gebundenen Vorgang zu begreifen. Ihre Leistung wird damit nicht verkleinert, sondern nur, in ihrer Größe wie m ihren Grenzen, in das richtige Licht gestellt. Daß versucht werden kann, Fragen dieser Art zu behandeln, ist in erster Linie den Forschungen Otto Brunners zu verdanken. Im Unterschied zu mehr beiläufigen Bemerkungen, die sich sonst in der Literatur zu dem Problem finden, dem hier nachgegangen werden soll'8, hat Otto Brunner im Rahmen konkreter verfassungsgeschichtlicher Untersuchungen dieses 18 Vgl. Heinrich Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft, S. 81 f. (zu Georg Waitz); Karl Siegfried Bader, Volk, Stamm, Territorium, S. 243-245.

,.

20

Einleitung: Zum Thema

Problem zuerst als solches thematisch gemacht11• Auch wenn die Unter· suchung nun in mehrfacher Hinsicht weiter auszugreifen sucht, ist sie doch durch die von dorther empfangenen Anregungen nachhaltig bestimmt. Ein Thema wie das hier gestellte bedarf allerdings klarer Eingrenzungen, wenn es nicht von vornherein in die Gefahr der Uferlosigkeit geraten will. Die Art des Themas bringt es mit sich, daß stets nach zwei Richtungen hin gefragt werden muß: einmal nach der geschichtlich-politischen Situation, in der eine Forschergeneration oder einzelne Forscher stehen, nach den Fragestellungen, Leitbildern und Idealen, die sich daraus ergeben, zum andern nach dem Niederschlag, den diese Situation und die zugehörigen Fragestellungen, Leitbilder und Ideale in den Forschungsergebnissen gefunden haben. Da sich die verfassungsgeschichtliche Forschung des 19. Jahrhunderts vorwiegend mit den altdeutschen und den mittelalterlichen, kaum mit den neuzeitlichen Verhältnissen befaßt hat, ergibt sich eine verstärkte Ausrichtung auf die ältere Verfassungsgeschichte. Diese Ausrichtung kann und soll aber nur eine indirekte sein. Die Frage, wie es eigentlich gewesen ist, wird als solche in dieser Arbeit nicht gestellt. Das schließt nicht aus, daß sich dazu einige Aufschlüsse, die weiterführen, ergeben mögen. Die Erkenntnisse und Thesen der gegenwärtigen verfassungsgeschichtlichen Forschung bilden zwar den Hintergrund für die Behandlung des vorliegenden Themas, aber sie interessieren immer nur insoweit, als durch sie zeitgebundene Elemente der früheren Forschung sichtbar werden. Ob sie selbst das letzte Wort darstellen oder nur eine Zeitgebundenheit durch eine andere ersetzen, wie manche Kritiker meinen, ist hier nicht zu entscheiden18• Zur Aufhellung der Ergebnisse der älteren Forschung können sie unabhängig davon herangezogen werden. Es kann auch nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, eine Detailkritik der bedeutenden verfassungsgeschichtlichen Werke des 19. Jahrhunderts zu liefern. Es geht nicht um eine kritische Nachlese, die das noch oder wieder Brauchbare von dem endgültig Überholten sondert, sondern um das Aufsuchen der grundlegenden Fragestellungen und Interpretationslinien, der tragenden Begriffe und Vorstellungen, von denen das jeweilige Bild der älteren Verfassungsverhältnisse geformt ist. Diese gilt es allerdings 11 Land und Herrschaft, insbesondere Abschnitt II, S. 124-188, daneben auch S. 21--46, 119-123, 451--463, 473--484. Diese Gedanken werden fortgeführt in der Abhandlung Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte: Neue Wege der Sozialgeschichte, S. 7-33. 18 Die persönliche Ansicht des Verfassers geht dahin, daß die neuere Forschung das Wesen der altdeutschen und mittelalterlichen politischen Ordnung in ihrem un-staatlichen Charakter weit richtiger sieht als die ältere.

Einleitung: Zum Thema

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nicht nur im allgemeinen festzustellen, sondern auch an konkreten Ergebnissen aufzuweisen. Insofern kommen immer wieder auch Einzelprobleme der altdeutschen und mittelalterlichen Verfassungsgeschichte zur Sprache, nicht um ihrer selbst willen, sondern um ihre jeweilige Darstellung und Beurteilung im Hinblick auf die Fragen des Themas zu durchleuchten. Die Arbeit beschränkt sich bei alledem auf die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung und auf die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung. So reizvoll es wäre, auch die französische Forschung mit einzubeziehen, zumal sie eine zeitlang der herausfordernde Widerpart der deutschen Forschung war 9 , so würde dadurch die Aufgabe doch ins Unermeßhlche wachsen. Um so mehr, als die Probleme des Themas für Deutschland, durch den Gang der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert bedingt, sehr anders liegen als für Frankreich, wie aus der nachfolgenden Darstellung ersichtlich werden wird. Die Beschränkung auf die deutsche Forschung geschieht in zweifacher Richtung: einmal wird nur die von Deutschen getragene Forschung berücksichtigt, zum andern nur die Forschung, die sich auf die eigene, deutsche Geschichte bezieht. Das der englischen Verfassungsgeschichte gewidmete Werk Rudolf v. Gneists etwa bleibt von vornherein außer Betracht. Daß aruch im übrigen nur eine nach Rang, symptomatischer Bedeutung und geschichtlicher Wirkung getroffene Auswahl in Frage kommen kann, versteht sich bei dem Umfang des Themas von selbst. Der Begrenzung auf die verfassungsgeschichtliche Forschung ist nicht der Begriff der ,Verbssung' im Sinne des 19. Jahrhunderts zugrunde gelegt, sondern der Begriff der Verfassung als der konkreten politischen Bauform einer ZeW0• Bestimmend dafür sind sachliche Gründe, die im Thema selbst liegen und im Verlauf der Arbeit aus sich deutlich werden dürften. Die privat- und strafrechtsgeschichtliche Forschung als solche wie auch die wirtschaftsgeschichtliche Forschung sind somit bewußt ausgeschlossen; zum Gegenstandsbereich der ,Rechtsgeschichte' im Sinne der traditionellen Lehrbücher ergibt sich das Verhältnis zweier sich schneidender Kreise21 • Auch können einzelne Forscher im Rahmen dieser Untersuchung immer nur insoweit behandelt werden, als ihr Werk in den Kreis der verfassungsgeschichtlichen Forschung in diesem Sinne fällt. Oft wird 10 Insbesondere für P. v. Roth und indirekt - auch Rudolf Sohm, vgl. unten Kap. 4, I u. II. zo Dazu Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 187. 11 Damit ergibt sich in gewisser Hinsicht eine andere Eingrenzung des Begriffs Verfassungsgeschichte als bei Fritz Hartung, Zur Entwicklung der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland (1956), der auch die von der (wirtschaftlich orientierten) Staatswissenschaft ausgehende Geschichtsforschung, die durch Namen wie Roseher und Schmoller repräsentiert wird, darunter begreift.

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Einleitung: Zum Thema

damit nur ein Ausschnitt. ihres Gesamtwerkes ergriffen. Für Otto v. Gierke und Rudolf Sohm sei dies ausdrücklich betont. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, daß es sich bei dieser Darstellung um eine geschichtswissenschaftliehe Arbeit handelt und sie in den dadurch gezogenen Grenzen verbleibt. Philosophische, insbesondere erkenntnistheoretische oder wissenssoziologische Fragen, so sehr das Thema sie nahelegen mag, will die Arbeit weder beantworten noch über sie reflektieren. Für solche Fragen, die selbstverständlich ihre Bedeutung und ihr Gewicht haben, vermag sie vielleicht einiges geschichtliche Material bereitzustellen und dadurch zu einigen Überlegungen Anlaß zu geben. Aber eben dies setzt voraus, daß sie selbst diese Fragen von sich weist, bei der Schilderung des geschichtlichen Vorganges verbleibt und sich von dem sicheren Boden, den die strenge Gebundenheit an das geschichtliche Material verleiht, nicht fortlocken läßt. Historia facta docent.

Erstes Kapitel

Der Ausgangspunkt verfassungsgeschichtlicher Forschung in Deutschland: Justus Möser L Die Hinwendung zur geschichtlichen Welt und zum geschichtlichen Denken, die wir dem 18. Jh. verdanken1 und aus der die moderne historische Wissenschaft erwachsen ist, hat für den Bereich von Verfassung und Recht in Deutschland als erster Justus Möser vollzogen. Angeregt und gefördert wurde sie für ihn neben dem Einfluß, den in früheren Jahren die französische Aufklärung und dann Montesquieu auf ihn übtenz, durch das bewußte Erfassen der Welt, in der er stand, und die Wirksamkeit, zu der er darin gelangte3 • Sein Leben entfaltete sich in den überschaubaren Verhältnissen und geschichtlich geformten Ordnungen des westfälischen Raumes, vornehmlich des Osnabrücker Stifts, und seine dreifache Stellung als ,Geheimer Referendar' der landesherrlichen Regierung, als Syndikus der landständischen Ritterschaft und als freier Advokat' brachte ihn immer wieder in Berührung mit Land und Leuten, Sitten und Gebräuchen und den mannigfachen rechtlichen Ordnungen des Landes5 • Hier war die Geschichte in ungestörter Wirksamkeit gewesen, Schicht auf Schicht hatte sich in Verfassung und Recht aneinander gefügt, die Jahrhunderte lebten miteinander, ohne daß die scharfe Hand eines zweckhaft ordnenden Geistes störend dazwischen gefahren wäre. Die Ordnung dieser territorialen Welt ließ sich, gleich der des Reiches selbst8 , überhaupt nur aus ihrer Geschichte begreifen und mußte in einem "Mann 1 Für den Zusammenhang: Wilhelm Dilthey, Das 18. Jahrhundert und die geschichtliche Welt: Gesammelte Schriften, Bd. 3, 1927, und Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, Neuausg. 1959. % Vgl. dazu die Hinweise bei Kar! Brandi, Einleitung zu: Justus Möser, Gesellschaft und Staat, 1921, S. XX f. 1 Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1, 3. Auft.,

s. 189 f. 4

Vgl. Otto Hatzig, Justus Möser als Staatsmann und Publizist, 1909,

S. 14--21.

:; Zur Würdigung von Mösers Persönlichkeit und Tätigkeit neuerdings Hans Ulrich Scu.pin, Justus Möser als Westfale und Staatsmann: Westfälische Zeitschrift, Jhg. 1957, S. 135-152. 8 Über den Schichtenbau der alten Reichsverfassung gibt H. E. Feine, Das Werden des deutschen Staates ... , 1936, S. 9-24, ein gutes Bild.

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der Geschäfte", wie Möser es war, den Sinn für das Werden und Wachsen, für die Kontinuität der Verhältnisse und den konkreten Zusammenhang des einmal Gewordenen wachrufen7• "Alle Elemente des historischen Denkens sind bei ihm bereits vorhanden", urteilt Franz Schnabel8 • So vollzog Möser die folgenreiche Wendung von der bis dahin üblichen pragmatischen Geschichtsbetrachtung der diplomatischen Reichs- und und Staatshistorie0 zur konkreten politischen Volksgeschichte. "Die Geschichte von Deutschland hat meines Ermessens eine ganz andere Wendung zu hoffen, wenn wir die gemeinen Landeigentümer, als die wahren Bestandteile der Nation, durch alle ihre Veränderungen verfolgen, aus ihnen den Körper bilden, und die großen und kleinen Bedienten dieser Nation als böse oder gute Zufälle des Körpers betrachten10." Was bisher geschah, so fährt er fort, war nur eine Beschreibung des Lebens und der Bemühungen der Ärzte, ohne des kranken Körpers zu gedenken, nun wird dieser Körper selbst in den Mittelpunkt gerückt und die Geschichte erhält die "Einheit, den Gang und die Macht der Epopee" 11 • In diesen Sätzen ist zweierlei ausgesprochen: Einmal die Wendung zu einem geschichtlichen Denken, das selbst Ausdruck einer ungebrochenen historischen Kontinuität ist, das darum die Geschichtlichkeit als den Modus des Geschehens zu begreifen vermag und nicht die Geschichte, wie später die nationale Bewegung, zum politischen Postulat und Maßstab umdeutet. Zum andern die Wendung zu einer echten Verfassungsgeschichte, sofern man darunter nicht lediglich ein am Begriff der ,Konstitution' des 19. Jh. orientiertes vergangenes Staatsrecht, sondern mit Otto Brunner12 - die Darstellung der inneren Bauform konkreter politischer Ordnungen versteht13• Indem aus der Hinwendung zur geschichtlichen Welt ein konkretes Programm wie dieses entsteht, wird aber auch unsere Themafrage unabweisbar. Woraus wird das Bild der Vergangenheit und des Ganges der Geschichte gewonnen? Quellen bieten Material, abstrakt und isoliert, aber nicht die ,Form' und den konkreten Zusammenhang, aus dem sich 7 Es wäre überhaupt die Frage zu stellen, inwieweit nicht der Sinn für das Geschichtliche, der gerade im Deutschland des 18. Jh. aufbrach, aus dieser ganz und gar geschichtsbestimmten und nur geschichtlich zu begreifenden Wirklichkeit und der damit verbundenen Lebenswelt des alten Reiches zu erklären ist, statt daß er, wie es etwa bei Dilthey, a. a. 0 ., S. 247 geschieht, recht ablltrakt in den Tiefen des deutschen Geistes gesucht wird. s Schnabel, Bd. 1, S. 190. Dilthey sieht, a. a. 0., S. 256, in Möser den Anfang der historischen Schule überhaupt. • Dazu Schnabel, Bd. 1, S. 189 f. 10 Justus Möser, Osnabrückische Geschichte, Vorrede S. IX f. n Ebendort, s. IX/X. 12 Vgl. Land und Herrschaft, 3. Aufl., S. 187 f. 13 Dilthey, a. a. 0., S. 256, sagt von dieser Idee einer deutschen Geschichte, sie sei "so groß und so tief, daß sie bis h eute noch nicht ausgeführt ist."

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ihre eigentliche Aussage erst ergibt. Sie wollen befragt sein und antworten nur so, wie sie befragt werden. Von woher aber werden siebefragt? Aus der ,reinen' Freiheit des von seiner Umwelt und Herkunft isolierten Geistes oder aus der Eingebundenheit in eine bestimmte geschichtliche Situation, d. h. aus den konkreten Frage- und Frontstellungen, den Blickwinkeln und Begriffsbildungen, welche die Zeit bestimmen, in der der Fragende steht? In seiner "Osnabrückischen Geschichte" gibt Möser ein Gesamtbild der Verfassungsentwicklung des Osnabrücker Landes von den Anfängen bis ins beginnende 14. Jh. 14• Er steht in der reichsterritorialen Welt des 18. Jh., in dieser durch mannigfache Herrschaften, deren größere seit dem Westfälischen Frieden allmählich zu Staaten erstarkten, und ein ständisches Ordnungsgefüge bestimmten Spätform der "altständischen Gesellschaft" 15• Der Übergang zur Trennung von Staat und Gesellschaft war hier erst in Anfängen verwirklicht1e, während die geistigen Frageund Fronstellungen im Zeichen der französischen Aufklärung schon weit mehr auf diese neue, sich ankündigende Ordnung bezogen und von ihr her bestimmt waren17• Wie wirkt nun diese Ordnung und wie wirken diese Frage- und Frontstellungen auf das Bild, das Möser von der Verfassungsentwicklung des Osnabrücker Landes gibt, ein? Das hat uns zu beschäftigen. II. 1. Die Quellengrundlage, auf der Mösers Schilderung der altsächsischen Verfassung aufbaut, ist naturgemäß noch beschränkt. Im wesentlichen handelt es sich um die "Germania" des Tacitus und Cäsars "De bello gallico", auch um Gregor von Tours' Geschichte der Franken, ferner um die Volksrechte, soweit sie damals bekannt waren, und die frän14 Zuerst erschienen 1765 (1. Bd.) und 1778 (2. Bd.), der Rest erst aus dem Nachlaß; vgl. Brandi, a. a. 0., S. XIX. 15 Der Begriff "altständische Gesellschaft" hier und im folgenden i. S. Otto Brunners; vgl. Die Freiheitsrechte in der altständischen ~sellschaft, a. a. 0 .,

s. 293/94.

18 Vgl. Werner Conze, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands: HZ 186, S. 6 f. 17 Das läßt sich insbesondere an der französischen Enzyklopädie zeigen, deren Staatsauffassung und GeschichtsbildE. Weis eingehend untersucht hat. Die Erörterungen über den Charakter und die Entwicklung des Feudalismus sowie den Ursprung der französischen Verfassung sind dort schon ganz vom Denken in den Kategorien von Staat und Gesellschaft bestimmt; in Fragestellung und Konstruktion bewegen sie sich auf dem Boden dieses Ordnungsbildes. Vgl. im einzelnen die bei E. Weis, Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie, S. 38 f., 40, 41 (Boucher d'Argis), S. 27-29, 47/48,49 f. behandelten Äußerungen.

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kischen Capitularien. Tacitus und Cäsar waren seit den Tagen der Humanisten die eigentlichen Autoritäten für die Verfassung der altgermanischen Zeit, an ihnen hatte der Gedanke der "germanischen Freiheit" sich immer wieder entzündet18, und die Verhältnisse, die sie schilderten, waren in den Augen der Zeit diejenigen der Germanen schlechthin. Zu den Volksrechten und Capitularien ergab sich die ungebrochene Kontinuität ohne weiteres19, denn auch sie sprachen von Freien (ingenui, homines liberi), von Volks- und Gerichtstagen, von teils erwählten, teils bestellten Richtern und Vorstehern (principes, iudices) und Heerführern (duces), von ständischen Unterschieden u. a. m . Für Möser kamen als weitere, Einheit und Kontinuität verbürgende Quelle die in selbständigen Mark- und Gerichtsgemeinden verbundenen freien Bauern seiner Landschaft und die Freigerichte Westfalens hinzu, die er aus eigener Anschauung kannte. Sie hatten ihre Freiheit und Selbständigkeit und ihre genossenschaftliche Ordnung seit dem Mittelalter zu bewahren vermocht, und ihre Ursprünge lassen sich tatsächlich auf jene Verhältnisse zurückführen, von denen die Capitularien uns Kunde geben20 • Nur daß es sich bei ihnen, wie in den Capitularien, nicht um die Nachfolger freier germanischer Wehrbauern und die Fortwirkung taciteischer und volksrechtlicher Institutionen handelt, sondern um die Ansiedlung königsfreier Leute in geschlossenen Genossenschaften und Gerichtsgemeinden auf königseigenem (Fiskal)Land zu erblichem Besitz gegen die Verpflichtung zu Kriegsdienst (Heerfolge) und Königszins, d. h. um karolingische Militärkolonisation in eroberten und Grenzlanden, die eine bestimmt geartete Freiheit aus unmittelbarer Königsuntertänigkeit begründete 21 • 18 Vgl. dazu Erwin Hölzle, Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu, S. 6 f. u. 39 (Conring), ferner für die französische Enzyklopädie E. Weis, a. a. 0 ., S. 26--28 f ., 35-37, 47 f . 19 Schon Montesquieu geht in seiner Betrachtung über das Lehnrecht der Franken von einem vollen Einklang zwischen den Leges barbarorum und Cäsar bzw. Tacitus aus; vgl. De l'Esprit des lois, Buch 30, cap. 2, a. a. 0., S. 374. 20 Zum letzteren die Nachweise bei H. Dannenbauer, Freigrafschaften und Freigerichte, a. a. 0., S. 57-76, insbesondere S. 71. 21 Die Lehre von den "Freien" im fränkischen und karolingischen Reim ist durch die Forschungen Theodor Mayers und H. Dannenbauers auf eine ganz neue Grundlage gestellt worden, wodurch der sog. ,Stand der Gemeinfreien' als eine Fiktion der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Lehrbücher erwiesen worden ist. Im Verlauf der Arbeit wird darauf noch mehrfach zurückzukommen sein. Vgl. im einzelnen Theodor Mayer, Königtum und Gemeinfreiheit im frühen Mittelalter, a. a. 0., S. 329 ff., insbes. 348-55; ders., Die Königsfreien und der Staat des frühen Mittelalters, a. a. 0., S. 7-56; Heinrich Dannenbauer, Die Freien im karolingischen Heer, a. a. 0., S. 49---64; ders., Freigrafschaften und Freigerichte, a. a. 0., S. 57-76; ders., Königsfreie und Ministerialen, 1958, a. a. 0 ., S. 332 ff. Zur Ergänzung und Korrektur zu weitreichender Schlußfolgerungen vgl. auch Herbert Grundmann, Freiheit als r eligiöses, persönliches und politisches Postulat im Mittelalter: HZ 183, S. 23-53.

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2. Welches Bild gibt Möser nun von der altsächsischen Verfassung und ihrer Entwicklung? Grundlegend ist das Haus und seine vom Hausherrn bestimmte Ordnung. Hausherren und Häuser stehen unverbunden nebeneinander, sie sind weder herrschaftlich noch genossenschaftlich miteinander verbunden. Jedes Haus ist für sich Friedens-, Rechtsund Verteidigungsgemeinschaft und der Hausherr König, Richter und Priester in einer Person22 • Sippenzusammenhang, Gefolgschaftswesen, Kriegszüge als Ausdruck eines übergreifenden sozialen Zusammenhangs kommen nicht vor, auch Fehden werden nicht eigens erwähnt. Jeder Hausherr lebt in der vollen "alten Freiheit": in einer Welt ohne obrigkeitliche Gewalt. Möser hat hier das Haus, den "oikos", als die ursprüngliche Ordnungsform der alteuropäischen Welt28 , in deren zur Auflösung führender Spätphase er lebte, richtig erkannt, und es entbehrt insofern nicht einer gewissen Berechtigung, wenn er an einer Stelle auf die Politik des Aristoteles als Beleg verweist24 • Auch die neuere Forschung ist geneigt, die Entstehung einer übergreifenden politischen und sozialen Ordnung, wie etwa die Königsherrschaft, aus einer Ausdehnung und Steigerung der Hausherrschaft zu erklären25 • Aber bei Möser geschieht nun etwas weiteres. Aus der haUISherrschaftlichen Struktur, die er zugrunde legt, zieht er nicht die naheliegende und notwendige Konsequenz, daß es sich in jenen Zeiten um eine adelsherrschaftliche Ordnung gehandelt habe, sondern er nimmt die Hausherren-Stellung und Hausherren-Freiheit für alle "Freien" an26 • Jeder "Freie", d. h. jeder Landeigentümer, die ingenui der Volksrechte und die homines liberi der Capitularien, ist Hausherr und der vollen, durch Selbstherrschaft und die Abwesenheit obrigkeitlicher Gewalt bestimmten Freiheit teilhaftig. Von Abhängigen und Unfreien ist zunächst noch keine Rede27 • Damit wird diese Freiheit aber selbst problematisch, denn sie kann, sofern man auf geschichtlichem Boden verbleibt, sinnvoll nur als (adlige) Herrschafts-Freiheit gedacht werden, die einen eigenen Herrschaftsraum und abhängige Leute voraussetzt. Hier liegt die Vorstellung eines ursprünglichen herrschaftslosen Nebeneinanderlebens Freier und in ihrer Freiheit Gleicher zugrunde, dessen Bauform an dem staatlosen Naturzustand der vernunftrechtlichen Staatstheorie orientiert ist. Haus und Hausgewalt sind auf die verMöser, Osnabrückische Geschichte, Ein!.§ 8 mit Anm., S. 9-11. rs Dazu Otto Brunner, Das ganze Haus und die alteuropäische Ökonomik, a. a. 0., S. 33-61, insbes. 38 ff., und Altständische Gesellschaft, S. 299 f. u Osnabrück. Geschichte, Einl. § 8, S. 10. rs Vgl. Walter Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft in der germanischdeutschen Verfassungsgeschichte, a. a. 0 ., S. 135-90; ähnlich H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft bei den G ermanen, a. a. 0., S. 60-134. 26 Osnabrück. Geschichte, Einl. §§ 9-10, S. 11-14. ' 7 Vgl. Möser, Osnabrück. Geschichte, Einl. §§ 9-10, S. 11-14. 22

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engte Klein- bzw. Privatfamilie bezogen, die als solche erst aus der Auflösung des oikos, der alten Hausstruktur, entstanden ist28, und werden in dieser Isolierung und Reduzierung als das Ursprüngliche und der Ausgangspunkt weitergreifender Ordnungen gesetzt. Daß bei Möser das Modell des staatlosen Naturzustandes in dieser Weise wirksam ist, wird weiter dadurch bestätigt, daß er die Existenz übergreifender sozialer und politischer Ordnungen aus einer Stufenfolge von Genossenschaftsbildungen der Landeigentümer herleitet. Die isoliert und in ihrer vollen Freiheit lebenden Landeigentümer vereinigen sich zunächst zu Markgenossenschaften, wirtschaftlichen Vereinigungen, in deren Aufgabenkreis nur die Regelung von Allmende-, Holz- und Weidenutzung u. ä. fälW 8• Daran schließt sich die Vereinigung zu "Mannien", Genossenschaften zur Rechtspflege und Verteidigung mit erwählten Richter-Vorstehern, welche für die Rechtspflege auf dem Prinzip der Gesamtbürgschaft beruhen, ohne Zugriff auf Leib und Leben, für die Verteidigung auf Heerbannpflicht und Selbstausrüstung30• Das Genossenrecht ist darum an das freie Wehrgut, den "Mansus", gebunden, als dem realen Substrat der Freiheit und der Garantie für die Erfüllung der Genossenpflichten31. Die "Mannien" endlich vereinigen sich ihrer Sicherheit wegen zu "Staaten" mit erwählten Königen32, die aber keine eigene Herrschaftsgewalt mit Zugriff auf Leib und Leben, sondern nur die Funktion eines "director societatis" haben33• So entsteht der "Staat der freien Landeigentümer" als ein demokratisch-genossenschaftliches Gemeinwesen auf der Grundlage der durch das Landeigentum vermittelten Freiheit und Gleichheit. Alle gemeinsamen Maßregeln beruhen auf dem Prinzip der Selbstregierung, sie bedürfen der Bewilligung der "Nationalversammlung" der freien Wehren34• Offensichtlich bieten die bäuerlich-genossenschaftlichen Ordnungen zu Mösers Zeit den Hintergrund für diese innere Verfassung der verschiedenen genossenschaftlichen Gemeinwesen35• 36• Dazu Otto Brunner, Ökonomik, S. 42. Möser, Osnabrück. Geschichte, Einl. §§ 9-10, S. 11-14. 30 Ebendort,§§ 13-14, 20--22, S. 18-20, 29-34. 31 Vgl. Möser, Osnabrück. Geschichte, Einl. §§ 20--23, wo es schon vorausgesetzt, und § 24, wo das Wehrgut noch eigens erwähnt wird. 32 Ebendort, § 25, S. 37/38. 33 e. c., f-erner ebendort S. 164. Die Entstehung wirklicher königlicher Gewalt 28

111

mit Straf- und Zwangsrecht erklärt Möser aus dem Einfluß des Christentums, das durch die Königsalbung eine religiös begründete Gewalt über die freien Wehren und dadurch erst ein eigentliches regnum geschaffen habe. 34 Osnabrück. Geschichte, Einl. § 27, S. 40--42. as Vgl. ebendort,§§ 10 u. 11, § 22, S. 12-16 u. 32-34. 38 Im ganzen ist es auffallend, wie oft die Germania des Tacitus als Beleg der geschilderten Verhältnisse herangezogen wird, vgl. etwa § 14 Anm. c u. d, § 21 Anm. e u. f, § 22 Anm. a, § 23 Anm. c u. f, § 26 Anm. a--c, § 27 Anm. a, b, f, g, h. Cäsar: § 25 Anm. a, § 27 Anm. b; Angelsächs. Leges:§ 15 Anm. a u. b, § 17 Anm. a u. b, § 19 Anm. a.

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3. Für dieses Verfassungsbild gibt das Bestehen von Adel und ständischer Gliederung ein besonderes Problem auf. Beide können nicht von vornherein da sein, sondern müssen als ein Produkt der Geschichte, der Fortentwicklung von den ursprünglichen Verhältnissen der Freiheit und Gleichheit, entstehen. Für Möser bildet sich der Adel erst nach der Vereinigung zu "Staaten", und zwar durch das Erblichwerden der Offiziersstellen im Heerbann. Diese Erblichkeit überträgt sich allmählich auch auf die Güter, und so entstehen besondere Hauptmannsgüter, die dann zu Adelsgütern werden37• Der Offiziersadel hält sich auch Gefolge und begründet damit besondere Dienst- und Schutzverhältnisse neben und außerhalb des allgemeinen Heerbanns. Auf die politischen Rechte wirkt sich die Entstehung des Adels allerdings nicht aus; für die "Nationalversammlung" wird gleiche Berechtigung von "Edlen" und "Wehren" festgehalten38• Neben den Adel und die freien Wehren stellt Möser die "Leute". Unterscheidungskriterium ist, daß sie unter irgendeiner besonderen Gewalt oder sonstwie unter Dienst, Schutz oder Pflege stehen39• Ihre Entstehung geht ebenfalls auf historische Gründe zurück, wobei den Gefolgen der Offiziere für die Durchlöcherung und den Abbau des gemeinen Heerbanns eine besondere Bedeutung zukommt40 • Möser greift dabei über die altsächsische Zeit hinaus und gibt ein anschauliches Bild der verschiedenen Differenzierungen dieser "Leute" 41 • Es ist gewonnen an den vielfältigen herrschaftlichen Ordnungen und Bindungen der hoch- und spätmittelalterlichen Welt, die in ihren Ausläufern für die ständische Ordnung des 18. Jh. noch bestimmend waren. Die Hauptunterscheidung ist für Möser, ob die Bindung nur eine vertragliche, d. h. nach Zeitablauf lösbare und damit freie ist, oder eine statusmäßige, so daß ohne Erlaubnis oder Freibrief der "Stand" nicht verlassen werden kann. Die erste Art der Bindung mindert die Freiheit nicht unmittelbar, auch ein freier Wehre kann sie ohne Rechtsverlust ei.ngehen; di:e zweite begründet Abhängigkeit und Untertänigkeit, deren Ausgestaltung freilich vom edlen Dienstmann bis zum Hörigen, der im ,Eigentum' steht, reichen kann42 • So erscheinen Adel und Leute als geschichtliche Ausgliederungen nach oben und unten aus der tragenden Mitte- dem eigentlichen Volk- der Freien, die als solche nach wie vor die Träger des demokratisch-genossenschaftlichen "Staats" sind. 37

38 39 40 41 42

Osnabrück. Geschichte, Einl. § 26, S. 38-40. Ebendort, S. 40 nach Tacitus Germania, cap. 11. Ebendort, § 33, S. 50/51, vgl. auch die Tabelle S. 72. Vgl. Osnabrück. Geschichte, Einl. §§ 34-36, S. 51-55. Tabelle nach Einl. § 44, S. 72/73. Hörige als Eigentum: Einl. § 43, S. 68, im übrigen die Tabelle, S. 72/73.

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III.

Schon aus der hier gegebenen Schilderung läßt sich erkennen, daß das Bild der altsächsischen Verfassung, das Möser zeichnet, in entscheidender Weise von den Frage- und Frontstellungen seiner Zeit geprägt ist. Das ist nun noch näher darzulegen. 1. Was Möser als die altsächsische Verfassung schildert, ist nicht nur Darstellung früher Verfassungsgeschichte, sondern zugleich Ursprungstheorie der menschlichen Gesellschaft. Darin ist es ein charakteristischer Ausdruck für den Übergang vom vernunftrechtlichen zum geschichtlichen Denken, der das späte 18. Jh. kennzeichnet. - Die vernunftrechtliche Staatslehre fragte nicht nach der geschichtlichen Entstehung, sondern nach der vernünftigen Begründung des Staates und der menschlichen Gesellschaft überhaupt. Diese ergab sich durch den Rückgriff auf die "Natur" als das Bleibende und Konstante, als das in seinen Gesetzlichkeiten rational Erfaßbare und von den Zufälligkeiten des geschichtlich Gewordenen Unabhängige. Man mußte von der geschichtlichen Herkunft und allem geschichtlichen Zusammenhang abstrahieren, den Staat analytisch in seine "natürlichen" Elemente, die einzelnen Menschen, zerlegen und ihn aus diesen "letzten Gründen" in seiner inneren Bauform und Gesetzlichkeit begreifen43• Hobbes44 hat dieses Verfahren klassisch beschrieben und konsequent durchgeführt, und das Zeitalter ist ihm bis hin zu Rousseau und Kant gefolgt, auch wenn es dabei zu anderen Resultaten gelangte. Der Ausgangspunkt ist dabei der staatlose Naturzustand, in dem die Individuen unverbunden, ohne irgendwie geartete soziale Organisation, nebeneinander existieren. Freiheit, Gleichheit und ursprüngliche Herrschaftslosigkeit sind mit diesem Ausgangspunkt notwendig gesetzt. Alle soziale und politische Ordnung kann nur aus Verträgen der Individuen untereinander begründet werden. Deren Modell ist ebenfalls im Ausgangspunkt vorgezeichnet: Zunächst vereinigen die Individuen sich zu einer Gesellschaft, die ebenfalls auf Freiheit und Gleichheit basiert, dann konstituiert man über sich eine zentrale Herrschaftsgewalt (Staatsvertrag). Ob das in getrennten Akten oder, wie bei Hobbes, in einem einzigen Akt geschieht, strukturell kommt es auf das gleiche Ergebnis hinaus: die einheitliche Gesellschaft der freien und gleichen Individuen und die über dieser Gesellschaft errichtete zentrale Staatsgewalt, deren Träger nun das Volk selbst oder ein einzelner Herrscher sein mag. 43 Vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, 1932, S. 339/40; Hans WelzeZ, Naturrecht und materielle Gerechtigkeit, 1951, S. 110 f. u Vor allem in De cive; die Beschreibung der Methode daselbst, praefatio ad Ieetores (Ausg. Lausanne 1760 S. 21).

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Gegen dieses abstrakte Sozialmodell der vernunftrechtlichen Theorie, das mit dem Vordringen der Aufklärung nicht nur als solches zu unbestrittener Herrschaft gelangt war45, sondern wegen der ihm zuerkannten rationalen Evidenz allmählich auch als historische Erklärung genommen wurde, machte sich mit dem Aufkommen des geschichtlichen Denkens der Gedanke der Entwicklung, des geschichtlichen Werdens und Wachsens und der konkreten Vielfalt des Lebens geltend46• Die Berufung auf die natürlichen Lebensordnungen von Familie, Verwandtschaft, Genossenschaft und Volk und deren organisches Wachsen, auf die lebendige Anschauung der wirklichen Welt trat an die Stelle der "more geometrico" erfolgenden Rückführung der menschlichen Lebenswelt auf allgemeingültige und abstrakte Begriffe und Sätze, wie sie auf dem Boden der klassischen Mechanik und der Methode des Descartes erwachsen war47 • Aber diese Abkehr vom vernunftrechtlichen Denken ist gleichzeitig noch so an dieses Denken gebunden, daß sie weniger zu einer Überwindung als vielmehr zu einer anderen Art der Naturtheorie der menschlichen Gesellschaft führt. Man läßt sich stillschweigend auf die Prämisse, die Erklärung der Sozialgebilde aus der menschlichen Natur, ein, nur geht man nicht von der abstrakt-mechanistischen, sondern von der in der Geschichte bestätigten konkret-organischen Natur aus. Bei aller Anerkennung von Individualität und Besonderheit, die damit impliziert ist, ergibt sich auch hier ein konstantes Modell: Am Anfang steht die Familie, und aus ihr entwickeln sich geschichtlich-organisch die engeren und weiteren, persönlichen, wirtschaftlich-sozialen und schließlich politischen Vereinigungen und Ordnungen. Freiheit, Gleichheit und Herrschaftslosigkeit sind auch hier der erste Ausgangspunkt. Man darf sich dadurch, daß hier der Entwicklungsgedanke in den Naturbegriff hineingenommen ist und so die Geschichte zum organischen Entfaltungsraum wird, nicht darüber täuschen lassen, daß es sich ebenfalls um eine Naturtheorie der menschlichen Gesellschaft handelt. "Was ich bis dahin angeführet habe", sagt Möser am Ende seiner Schilderung der altsächsischen Verfassung, "gehört zwar nicht alles in die älteste Verfassung, aber es ist doch immer der Gang der Natur" 48 • So kann für ihn das Hochstift Osnabrück zum "Mikrokosmos der geschichtlichen Welt und des geschichtlichen Menschen" 49 werden. Aber man wird darin we45 Nicht nur die Staatstheoretiker wie Locke, Pufendorf Christian Wolff, Rousseau, Kant, sondern auch die Staatsrechtslehrer des 18. Jh. wie Pütter, Scheidemantel, Haeberlin und Gönner sehen im Gesellschaftsvertrag den Grund des Staates. •e Zum letzteren Schnabel, Bd. 1, S. 185 f. 47 48

40

Vgl. Dilthey, a. a. 0., S. 252 f. Möser, Osnabrück. Geschichte, Ein!.§ 44, S. 69/70. Meinecke, Historismus, S. 319.

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nigerden Ausdruck fortgeschrittenen historischen Denkens110 als vielmehr die anhaltende Einwirkung des Vernunftrechts sehen müssen, die Möser nie ganz verlassen hat51• Diese naturtheoretische Komponente seines Verfassungsbildes erklärt auch die inhaltliche Berührung mit dem vernunftrechtlichen Sozialmodell, die oben schon aufgezeigt wurde. Der Ausgangspunkt in der Freiheit, Gleichheit und Isoliertheit der auf Familienoberhäupter reduzierten Hausherren, die Herleitung der sozialen und politischen Ordnungen aus fortschreitenden assoziativen Vereinigungen, die demokratisch-genossenschaftliche Struktur des Landeigentümerstaates selbst, die Entstehung der Stände im Wege einer Ausgliederung aus der ursprünglichen Gesellschaft der Landeigentümer: alles das hat seinen letzten Grund in der (unbewußten) Orientierung an dem vernunftrechtlichen Sozialmodell. Und es ist kennzeichnend, daß gerade diese Entsprechungen es bewirken, daß die von Möser auch gesehenen eigentlichen Ordnungsformen der alten Zeit, etwa Haus und Herrschaft und die "Freiheit" der Träger autogener Hausherrschaft in ihrem Wesen nicht mehr richtig erfaßt bzw. umgedeutet werden. 2. Nachhaltiger noch als dieses naturtheoretische Denken bringt sich in Mösers Verfassungskonzeption die beginnende Trennung von Staat und Gesellschaft zur Geltung. Befragen wir die älteren Lehrbücher der Rechts- und Verfassungsgeschichte, so scheint allerdings die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft ein allgemeines, auf jede Sozial- und Verfassungsordnung anwendbares Ordnungsschema zu sein52• Die neueren Forschungen, insbesondere die Arbeiten Otto Brunners, haben jedoch demgegenüber bewußt gemacht, daß es sich bei diesem Auseinandertreten und Sichgegenübertreten von Staat und Gesellschaft um einen konkreten geschichtlichen Vorgang handelt, der sich in Europa, nach Intensität und Schnelligkeit in den einzelnen Staaten verschieden, etwa von 1750 bis 1850 vollzogen hat53• In diesem Sinn Meinecke, a. a. 0., S. 319 f. Vgl. die bei H. Zimmermann, Staat, Recht u. Wirtschaft bei Justus Möser, 1933, S. 15 angeführte Briefstelle (Sämtl. Werke 10, 174 f.): "Jede Geschichte muß die Naturgeschichte des Originalkontrakts einer Nation unter allen vorkommenden Veränderungen werden, wenn sie jemals im eigentlichen Verstande pragmatisch sein soll." s2 Sie wird in Gliederung und Ausführung schon für die erste und auch alle folgenden Perioden der Verfassungs- und Rechtsgeschichte zugrunde gelegt. Vgl. etwa die Gliederung bei Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1887, und Bd. 2, 1892; ferner v. Schwerin-Thieme, Grundzüge d. dt. Rechtsgesch., 4. Auf!.., 1950. Dazu des näheren Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 134--150. sa Zu nennen sind: Otto Brunner, Land und Herrschaft, insbes. Teil 4 u. 5; ders., Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft; ders., Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte: Neue Weg der Sozialgeschichte, so

st

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Er beginnt damit, daß Königtum und Territorialherren als die Wegbereiter des modernen Staates alle hoheitliche Herrschaftsgewalt zunehmend bei sich konzentrieren und monopolisieren und so die zahlreichen konkreten Herrschaftsordnungen der "altständischen Gesellschaft" von innen her aushöhlen. Sie schaffen ein Netz hierarchisch gestufter königlicher bzw. landesherrlicher Ämter und Gerichte (königlicher Ämterstaat), dehnen deren Befugnisse gegenüber der autogenen Herrschaftsgewalt und Herrschafts-"Freiheit" der Stände (adlige und geistliche Grundherren, Städte, Korporationen) aus und begründen aus überkommenen Rechtstiteln und dem erfolgreich geltend gemachten Souveränitätsanspruch neue Aufsichts-, Revokations- und Eingriffsbefugnisse. Es wird eine unmittelbare "staatliche" Herrschaftsbeziehung zu den Untertanen hergestellt, diese werden politisch aus den konkreten Herrschaftsordnungen herausgefällt und von ihnen freigesetzt - "Schutz und Schirm" gewährt nun der königliche Staat bzw. Landesherr -, und die eigenberechtigte Herrschaftsstellung der Stände wird in den privaten, unpolitischen Bereich abgedrängt54• Auf diese Weise tritt die herrschaftlich-politisch durchformte "altständische Gesellschaft" - die societas civilis sive populus - auseinander einerseits in den alle hoheitliche Herrschafts- und politische Entscheidungsgewalt monopolisierenden Staat, anderseits in die "unpolitische" bürgerliche Gesellschaft als Inbegriff der der Staatsgewalt unterworfenen Privatpersonen. In dieser ,neuen' Gesellschaft der Untertanen bzw. Staatsbürger bestehen die alten Gliederungen und Unterschiede zunächst fort, aber sie verändern ihren Charakter. Die Stände werden aus Herrschaftsständen zu sozialen Schichten innerhalb der einheitlichen Gesellschaft, die durch besondere rechtliche Qualifikationen gekennzeichnet sind». Insbesondere die bisherigen Träger eigenberechtigter Herrengewalt über Land 1956.; ders., Feudalismus. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, 1959. Ferner W. Conze, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands, HZ 186. In Tocquevilles Betrachtungen über das ancien regime und besonders in Hegels Rechtsphilosophie ist die Geschichtlichkeit dieses Vorgangs noch unmittelbar bewußt. 54 Vorstehende Schilderung im wesentlichen nach Otto Brunner, Freiheitsrechte, S. 297-303, und Sozialgeschichte, S. 24-28. 55 Vgl. Otto Brunner, Freiheitsrechte, S. 300/301, Sozialgeschichte, S. 26. Typisch für den Vorgang die Definition des Standes im preußischen ALR 1 I § 6: "Personen, welchen vermöge ihrer Geburt, Bestimmung oder Hauptbeschäftigung gleiche Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft beigelegt sind, machen zusammen einen Stand des Staates aus." Dazu auch H. Conrad, Individuum und Gemeinschaft, S. 13-18. Ähnlich, für die Landstände, J. J . Maser, Von der teutschen Reichsstände Landen, 1769, S. 840: "Hingegen seynt die Landstände privilegirte und solche Unterthanen, welche der Landesherr nicht mit dem Pöbel zu vermengen hat." 3 Böckenförde

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und Leute werden, ihrer herrschaftlich-politischen Stellung entkleidet, zu einem derartigen neuen "Stand" auf dem Boden der Gesellschaft. Damit wird zugleich ihre besondere Rechtsstellung, die der Absolutismus zwar auszuhöhlen, aber keineswegs gänzlich abzuschaffen vermochte, problematisch. Ihr entspricht, von Ausnahmen abgesehen, keine politische Herrschaftsfunktion mehr, sie erhält damit der Grundlage nach "privaten" Charakter, muß sich aus Geburt und Erbrecht legitimieren und wird so zur Bevorrechtigung, zum anstößigen Privileg. Auf der anderen Seite bedeutet nun jede rechtliche Abhängigkeit von einer andern als der königlich-staatlichen Herrschaftsgewalt Unfreiheit bzw. Hörigkeit. Denn sie ist, da die Schutz- und Sicherungsfunktion auf den Staat übergegangen ist, rein "private" Abhängigkeit und Untertänigkeit geworden, welche die unmittelbare Beziehung zur "staatlichen" Gewalt und damit die Zugehörigkeit zur einheitlichen Untertanen- bzw. Staatsbürgerschaft mediatisiert: Legitimiert ist im Grunde nur mehr ein (Sozial-)Stand, der der unmittelbar und gleichberechtigt unter der einheitlichen Staatsgewalt stehenden Staatsbürger. Er wird zum Inbegriff der "Freiheit". Was hier in großer Raffung geschildert ist, um den geschichtlichen Vorgang deutlich werden zu lassen, vollzog sich konkret in einer allmählichen Entwicklung. Am weitesten vorangeschritten war zu Mösers Zeit Frankreich, wo die Endphase der altständischen Gesellschaft schon ganz erreicht war6 ; Preußen und das J asefinisehe Österreich waren auf dem Wege dorthin, das reichsterritoriale Deutschland aber lebte im Windschatten dieser Großen noch stark aus den überkommenen Ordnungen57 • Diese Übergangssituation findet in Mösers Schilderung der älteren Verfassungsverhältnisse an zahlreichen Stellen ihren Niederschlag. Dabei bestehen nicht selten Berührungspunkte mit der naturtheoretischen Seite seiner Geschichtsbetrachtung, die ja ihrerseits auf die Begründung einer Ordnung nach Gesellschaft und Staat, wenngleich organisch-genossenschaftlich verbunden, hinausläuft. Wenn Möser in seinem Programm einer deutschen Verfassungsgeschichte diese als konkrete Volksgeschichte begreift und in ihren Mittelpunkt die "freien Landeigentümer" als die eigentlich tragende Achse des Geschehens stellt, so liegt dem schon die Vorstellung von der einheitlichen Staatsbürgergesellschaft als dem eigentlich natürlichen und normalen Zustand zugrunde, den es in seiner Entwicklung und in seinen 56 Vgl. dazu die eingehenden Schilderungen von Alexis de Tocqueville in "L'Ancien Regime et Ia Revolution", (Edition J . P. Mayer, Paris 1952), insbes. Buch 2, cap. 1, cap. 5, cap. 8 u. 9 sowie Buch 3, cap. 4. 67 Diese unterschiedlichen Entwicklungsstadien im Übergang zur Ordnung von Staat und Gesellschaft werden bei Conze, a. a. 0 ., S. 3-8, nachdrücklich herausgestellt; vgl. auch E. R. Huber, Bd. 1, S. 90 f. u. 96 ff. (Preußen).

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Wandlungen zu verfolgen gilt58• Ginge man etwa von einer adelsherrschaftlichen Auffassung der alten Verfassungszustände aus, so verlöre dieses Programm seine innere Berechtigung59 • Entsprechend muß die Herausbildung konkreter Herrschaftsordnungen und müssen überhaupt Herrschaft und Abhängigkeit als Strukturelemente einer Verfassungsordnung Ausdruck eines Auflösungsprozesses sein und sich je aus besonderen, von außen einwirkenden Verhältnissen ergeben. So klagt Möser für die Zeit seit Ludwig dem Frommen, die Gemeinen würden den Reichsvögten, Bedienten und Geistlichen aufgeopfert und müßten sich vor ihrer Macht in Abhängigkeiten begeben, und für das hohe und späte Mittelalter ist die gemeine Ehre und Freiheit überhaupt geschwunden, denn "alle Ehre ist im Dienst" 60• Der Begriff der altgermanischen "gemeinen Freiheit", den Möser aus einer langen, auf die deutschen Humanisten und die ständische Opposition im Frankreich des 17. Jh. zurückführenden Tradition aufnimmt81 , bekommt bei ihm einen eigentümlichen, der Übergangslage entsprechenden Doppelcharakter. Für die älteste Zeit erscheint er inhaltlich als Inbegriff adliger Herrschaftsfreiheit, wird aber zugleich auf alle Landeigentümer ausgedehnt; für die späteren Zeiten der Heerbann- und staatlichen Genossenschaften ist er dann auch in seinem Inhalt "staatsbürgerlich" konzipiert und meint die unmittelbare Bürgerstellung unter einer gemeinen Obrigkeit. Von diesem "staatsbürgerlichen" Verständnis der gemeinen Freiheit ist dann auch die Herleitung und Qualifizierung der Stände bestimmt. Der Adel wird, ganz im Sinne seiner veränderten Stellung im 18. Jh., schon von seinem Ursprung her als Sozialstand aufgefaßt, als besondere, durch bestimmte Rechte hervorgehobene Schicht auf dem Boden der einheitlichen Gesellschaft62, und wenn auch für die "Leute" von Anfang 58 So vermerkt später das Staatslexikon von Rotteck-Welcker rühmend, Möser habe mit diesem Programm die Geschichte "zur wahren Volksfreiheit als ihrem Kern und Mittelpunkt" zurückgeführt (Artikel: J. Möser, Bd. 11,

s. 77).

sD Das wird sehr deutlich bei Karl Bosl, Der ,aristokratische Charakter' europäischer Staats- und Sozialentwicklung: HJB, Bd. 74, 631-42. 80 Osnabrück. Geschichte, Vorrede. S. XI f. Das Zitat. S. XII. 01 Wurzel und Entwicklung des germanischen Freiheitsgedankens bei E. Hölzle, Die Idee einer altgermanischen Freiheit vorMontesquieu, 1925; seine Bedeutung als Kampfbegriff der ständischen Opposition in Frankreich und seine Funktion in der damit zusammenhängenden Feudalismusdiskussion bei Eberhard Weis, a. a. 0., S. 26-29, 35-37, 47 f. und Otto Brunner, Feudalismus, S. 596 f. Bekannt ist das Wort Montesquieus, De !'Esprit des lois, Buch XI, cap. 6, die Freiheit der Verfassung Englands habe ihren Ursprung in den germanischen Wäldern. Es be:reichnet deutlich die Oppositionsstellung gegen den zentralisierenden absolutistischen Staat. 82 In der Ständetabelle, Osnabrück. Geschichte, Einl. nach§ 44, erscheint er deshalb auch nur als Untergruppe der "freien Wehren". Die Grundunterscheidung ist Wehren und Leute; innerhalb der Wehren werden dann edle und gemeine Wehren unterschieden.

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an eine herrschaftliche Gebundenheit bestimmend ist, so sind sie doch in der Orientierung am Begriff der "gemeinen Freiheit", aus der sie heraustreten, zugleich als allgemeiner sozialer Stand aufgefaßt63• Wenn der Adel später eine herrschaftlich-politische Stellung erwirbt, so ist das eine Usurpation und bezeichnet die Auflösung der alten "Staatsverhältnisse""· Im Grunde ist die ganze alte Verfassungsordnung, wie Möser sie schildert, an das Ordnungsmodell von Staat und Gesellschaft gebunden. Denn die Basis, auf der sich die genossenschaftlichen Sozialordnungen und der Staat der Landeigentümer in seiner genossenschaftlich-friedlichen Struktur mit erwählten Richtern als den einzigen Obrigkeiten überhaupt herausbilden können, ist - realgeschichtlich gesehen - eben jene befriedete und sich nach Freiheit und Gleichheit ordnende Gesellschaft, die das Aufkommen des Staates und seiner "suprema potestas" zur Voraussetzung hat. Rache und Fehde, Freund- und Feindschaft werden zwar nicht ausdrücklich negiert, aber sie sind für diese Ordnung kein mitkonstituierender Faktor. Die Wirklichkeit, wie sie durch den aufkommenden Staat und seine Befriedungsarbeit erst geschaffen und freigesetzt worden ist, wird aus dieser Gebundenheit gelöst und zur Voraussetzung der sich hieraus allererst entwickelnden staatlichen Ordnung gemacht. Daraus ergibt sich das im letzten unpolitische und etwas idyllische Verfassungsbild, das Möser entwirW5• Zugleich aber hält er, und darin wirkt sich die Übergangssituation von der anderen Seite her aus, etliche Elemente der alten, noch nicht auf Staat und Gesellschaft hin entzweiten Ordnung beharrlich fest. Die der Trennung von Staat und Gesellschaft korrespondierende Unterscheidung von öffentlich und privat wird von ihm weder für die Schilderung der alten Verfassungsverhältnisse, noch, soweit sich sehen läßt, für die Beschreibung des Rechtszustandes seiner Gegenwart gebraucht. In Frankreich, wo die neue Ordnung bereits erheblich weiter fortgeschritten war, hatte dieses Begriffspaar schon seit etlichen Jahrzehnten seiss Vgl. Osnabrück. Geschichte, Einl. §§ 33-43, S. 51}-69, wo auch die Orientierung an den zeitgenössischen Verhältnissen Westfalens deutlich hervortritt. Für die karolingische Zeit heißt es dann bezeichnend: "Die sächsische Nation erkannte überhaupt drei Stände: Edle, Wehren und Leute" (ebendort Teil 1, S. 216). Wenn H. Zimmermann, a. a. 0., S. 320, meint, Möser übergehe die "Leute" in seiner frühesten Einteilung der Stände, weil sich ihre Verhältnisse nicht nach staatlichem Maß bestimmten, so übersieht er die angeführten Erörterungen und Qualifizierungen der Einleitung und macht Mösers Denken ,staatlicher' als es ist. 84 Vgl. Osnabrück. Geschichte, Vorrede, S. XIII. es Man kann darin eine Parallele zu der Infragestellung des Politischen vom Bereich des Privaten her sehen, welche die Aufklärung vollführt. Dazu grundlegend Reinhard KosseHeck, Kritik und Krise. Zur Pathogenes,e der bürgerlichen Welt, 1959.

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nen festen Ort und seine politische Funktion in der Auseinandersetzung um den Charakter der Feudalordnung und den Ursprung der französischen Monarchie68 ; auch Montesquieu hat es immer wieder bei seiner Beschreibung der alten Verfassungsverhältnisse verwendet87• Bei Möser ist indessen, neben und zum Teil gegenläufig zum StaatGesellschaft-Schema, der einheitliche Ordnungszusammenhang der alten Sozialgebilde noch weithin bewahrt. Die vielberufene "gemeine Freiheit" bedeutet, wenngleich sie staatsbürgerlich gefaßt ist, doch keineswegs eine sich gegen den Staat absetzende individuelle Freiheitssphäre, keine "naturrechtliche Privatfreiheit", wie es ein Anhänger Mösers später formuliert88• Sie meint die Freiheit zum Mithandeln und Miteinstehen, die Recht und Pflicht angemessen verbindende Stellung innerhalb des staatlichen bzw. markgenossenschaftliehen Verbandes. Wer mittaten soll, der soll auch mitraten, lautet eine ihrer Grundforderungen80 • Sie ist gebunden an die Ehre und an das freie Landeigentum. Dieses Landeigentum aber ist nicht als "Privateigentum" oder "Vermögen" im Sinne unserer heutigen Begriffe verstanden, sondern dahinter steht ein vorliberaler und vorindustrieller, institutionell-öffentlicher Eigentumsbegriff. Die freie Hofstatt ist Daseinsgrundlage, institutionelle Verbürgung von Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Verantwortlichkeit und darum Bauelement der Verfassung selbsf0 • Wenn Möser die Bindung aller politischen und "öffentlichen" Rechte an freien Grundbesitz als ein konstitutives Element der alten Verfassung beschreibt, so ist eben dies aus dem Ordnungsbild der Zeit vor der Trennung von Staat und Gesellschaft, von der alten societas civilis her, gedacht. Es wäre falsch, darin eine patrimoniale Herleitung öffentlicher Rechte oder eine sachliche Gemeinsamkeit mit dem späteren Zensuswahlrecht und der liberalen Formel "Bildung und Besitz" zu 88

Vgl. Eberhard Weis, a. a. 0., S. 38--41; Otto Brunner, Feudalismus,

s. 601-8.

Etwa De !'Esprit des lois, Buch 30, cap. 15 u. 16, a. a. 0., S. 396 u. 400. Karl Theodor Welcker, Artikel: Möser in Rotteck-Welckers Staatslexikon, Bd. 11, S. 94. 89 Dieser Gedankengang kehrt bei Möser immer wieder. 70 Dieser vorliberale Eigentumsbegriff ist noch bis ins 19. Jh. hinein lebendig geblieben. So heißt es im Staatslexikon von Rotteck-Welcker, Bd. 1, 1834, im Art. "Allodium und Feudum": "Das Eigentums- oder Sachenrecht bildet so ... im Rechtsverhältnis die materielle Grundlage, den juristisch-leiblichen Träger der juristischen Persönlichkeit und ihrer Personenrechte. Auch die Privatpersönlichkeit der einzelnen, vor allem die der Familien, bedarf ähnlich wie die juristische Person des Staats einer festen materiellen Grundlage, eines Territoriums" (468). Von hier findet auch die starke Betonung des Eigentümers in den Reformplänen des Freiherrn vom Stein und den Gemeindeordnungen und Wahlgesetzen des Vormärz eine einleuchtende Erklärung. Vgl. .unten S. 9-±. 87

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sehen71 • Auch der Vergleich des Staates mit einer Aktienkompanie und des Landeigentums mit der Staatsaktie muß in dieser Weise verstanden werden72• Damit ist freilich nicht gesagt, daß insoweit die altsächsische Verfassung richtig beschrieben sei - die altständische Ordnung des 12.-18. Jh. und die altsächsische bzw. altgermanische Ordnung sind keineswegs einfachhin gleichförmig - , sondern es soll die Übergangsstellung zwischen zwei Sozialordnungen deutlich gemacht werden, aus der sich Mösers Verfassungsbild geformt hat. Am Beispiel der Stände wird diese Übergangssituation ganz besonders deutlich. Ihre Herleitung aus der staatsbürgerlich gedachten herrschaftslosen Landeigentümergesellschaft ist ganz sozialständisch und mehr oder minder patrimonial. Nachdem die Stände aber einmal auf diese Weise als ·Auflösungsfaktoren der gemeinen Freiheit erklärt sind, werden sie in ihrer herrschaftlich-politischen Stellung bzw. Abhängigkeit weithin richtig erfaßt. Auch auf die "Leute", die späteren "Leibeigenen", wendet Möser das Schema öffentlich-privat und Freiheit-Unfreiheit nicht an, sondern versteht sie aus ihrer jeweiligen rechtlichen Stellung innerhalb der konkreten Herrschaftsbeziehungen73 • Damit erschließt sich ihm die innerhalb dieser Herrschaftsordnungen in mannigfachen Abstufungen wirksame Beziehung von Schutz und Gehorsam als eines der grundlegenden Bauprinzipien der vorrevolutionären Ordnung74• Und er hat sich aus dieser Einsicht der pauschalen Verurteilung der Leibeigenschaft, welche im Zeichen der individuellen Freiheit anhob, verschiedentlich entgegengestelW5 • Das mag bei einem so betonten Vertreter der "germanischen Freiheit", wie Möser es ist, verwundern. IV. Eben dieses Neben- und Ineinander des Rahmens von Staat und Gesellschaft und der Wirklichkeit der altständischen Ordnung ist für Möser überhaupt kennzeichnend. Das Reich Karls des Großen, in dessen 7 1 Eine andere Frage ist, inwieweit durch die Umprägung der Begriffsinhalte bei Beibehaltung der sprachlichen Formeln, die sich zum 19. Jh. hin vollzieht, eine formale Kontinuität geschaffen worden ist. 7% In diesem Sinn der Hinweis bei Schnabel, Bd. 1, S. 190; fernerE. Hölzle, Justus Möser über Staat und Freiheit, a. a. 0., S. 172. Verbindungen zum vernunftrechtlichen Denken nimmt Meinecke, Historismus, S. 343 an. 73 Vgl. Osnabrück. Geschichte, Einl. §§ 33-43, S. 50--69; auch Gesellschaft und Staat, S. 242 f. 74 Die Ausdrücke der mittelalterlichen Quellen dafür sind "Schutz und Schirm" gegen "Rat und Hilfe", vgl. Otto Brunner, Land und Herrschaft,

s. 303-312.

75 Besonders in der Erzählung "Der arme Freie": Gesellschaft und Staat, S. 240 ff., deren offenkundige Absicht es ist, gegenüber der allgemeinen Menschenfreiheit den Sinn der alten herrschaftlich-konkreten Ordnungen hervorzukehren; ferner der Entwurf: Das Recht der Menschheit: Leibeigentum, ebendort, S. 260 f. und den gegen Kant gerichteten: über Theorie und Praxis, ebendort, S. 256 ff.

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Ordnung das Sachsenland eingefügt wurde, begreift er wieder ganz ,staatlich' und zugleich doch so, daß das ständestaatliche System des alten Reichs als Ergebnis einer kontinuierlichen Entwicklung erscheint. Die "Staatsreform", welche Karl der Große in Sachsen durchführte, stellt sich für ihn als die Grundlegung einer einheitlichen, auf Herrschaft, Amt und Dienst beruhenden Staatsordnung dar. Durch diese wird in der Folge die gemeine Freiheit abgebaut, der Adel verschlimmert und schließlich die Landesherrschaft der Grafen und Bischöfe hervorgebracht74• "Die Gemeinen verloren bei dieser neuen Einrichtung das meiste77." Quellenmäßig wird diese Ordnung aus den fränkischen Capitularien gewonnen, die als allgemein geltende Gesetze unterstellt werden78 • Im einzelnen ist sie von der ausgebildeten ständestaatliehen Gliederung des Reichs her nach Art einer rationalen Verwaltungsorganisation aus dem Geist des aufgeklärten Absolutismus konzipiert. Grafschaften und Bistümer erscheinen als geistliche und weltliche Ämter, in die "das ganze Land" eingeteilt ist. Darüber stehen die Sendgrafschaften (missatische Bezirke) als Provinzen der königlichen Statthalter; sie sind höhere Bezirke - "Generaldepartements"- zur Aufsicht und Kontrolle79 • Wichtig an diesem Staatsbau ist, daß Bischöfe und Grafen in Gleichordnung stehen, so daß das Kirchenurbar den Charakter von Reichsallod hat und nicht den Befugnissen Graf oder Herzog, sondern nur den Aufsichtsrechten der missi unterliegt80 • Die Projektion ist deutlich: die geistlichen Territorien müssen im Sinne der ,staatlichen' Verfassungskontinuität aus staatlich-amtsmäßigem Ursprung, parallel zu den weltlichen, erklärt werden, und beide müssen aus der Verselbständigung ursprünglich delegierter Amtsrechte in einem einheitlichen Staatswesen hervorgehen. Beider Gewalt beruht unmittelbar auf kaiserlichem Bann, für die Bischöfe wird er von den Vögten ausgeübt81 • Institutionell gesehen ist der Kernpunkt dieses karolingischen Verfassungshaus für Möser die Einrichtung der "Generaldepartements" der königlichen missi; als Aufsichtsorgan gedacht, sollten sie das Gleichgewicht zwischen Bischof und Graf, die Schranken der Ämter und den Schutz der gemeinen Wehren verbürgen. Möser bezieht sich auf die in den Capitularien erwähnten missatischen Versammlungen mit Unter76

Möser, Osnabrück. Geschichte, Teil1, S. 208.

Osnabrück. Geschichte, Teil 1, 4. Abschn., S. 192/93 u. fi. Vgl. die jeweiligen Anm. zu den §§ 41-46, S. 179-91. Möser läßt hier in einer großen indirekten Rede alle "Bedenklichkeiten" der alten Sachsen gegen die neue Ordnung vorbringen. Das ganze Gedankengebäude der altgermanischen Freiheit hat darin seinen Niederschlag gefunden. Vgl. auch die Anmerkungen zu den§§ 1-14 des 4. Abschn., S. 192-217. 78 Osnabrück. Geschichte, Teil1, 4. Abschn., S. 193 f . 8o Ebendort, S. 195 f. 8 1 Vgl. ebendort, S. 198 f. 77

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suchungs- und Beschwerderecht, die er als allgemeine, im ganzen Reich bestehende Institutionen voraussetzt82. Mit dem Verfall dieser missatischen Bezirke muß dann auch der ganze karolingische Staatsbau sich allmählich auflösen. Die "gemeinen Wehren", d. h. die heerbannpflichtigen Landeigentümer, verlieren ihren Schutz, Grafen und Bischöfe werden selbständig, verfahren mit dem Reichsgut "nach Gefallen" und drücken die freien Wehren schließlich zu "Leuten" herab. Otto der Große endlich gibt vollends das "gemeine Gut" denjenigen preis, die ihm wohlgerüstete Dienstleute für seine auswärtigen Kriege zuführen83. Es entsteht (im Lehnswesen) ein Stufenbau von Dienstverhältnissen, und "alle sind nur darauf bedacht, die Dienstleute durch Dienstleute zu bezähmen" 84 • Daraus geht dann schließlich, da auch die "neue Hoffnung" einer gemeinen Freiheit in Städten und Burgen sich nicht erfü1W5 , das System der Landesherrschaften hervor: aus den geistlichen und weltlichen Reichsvogteien (Amtsbezirken) werden "edle Herrlichkeiten", deren Träger auch die Obergerichte erwerben88. Die so entstehende Landeshoheit vertritt endlich die Stelle der "glücklichen oder unglücklichen Auflösung" des Entwicklungsgangs, da sie - als staatliche Gewalt - über dem Zerfall der alten Ordnung in eine Vielzahl von Bünden und begrenzten Friedenseinungen im Territorium wieder einen gemeinen Frieden herstellt und garantiert, sich der alten Reichssassen als ihrer "Landesuntertanen" annimmt und deren Glück als das ihrige betrachtet87. "Es ist ein großes, obgleich oft unerkanntes Glück, daß der Landesherr über das ganze Territorium eine gleichmäßige Macht ausübt88." Möser entwirft hier ein Bild der deutschen Verfassungsgeschichte, das im 19. Jh. in mannigfachen Schattierungen immer wieder hervortritt: Die zahlreichen konkreten Herrschaftsbildungen, welche die hoch- und spätmittelalterliche Welt kennzeichnen, entstehen aus der Verselbständigung königlich-staatlicher Amtsbezirke und der Aneignung königlicher Rechte; sie sind das Ergebnis der Auflösung der einheitlichen, über ein ausgebautes Verwaltungssystem verfügenden Ordnung der fränkischen und insbesondere karolingischen Monarchie, welche ihrerseits auch Osnabrück. Geschichte, S. 210 f. Ebendort, Vorw. S. XI/XII. 84 Ebendort, Vorw. S. XIII. 85 Ebendort, Vorw. S. XII f. Der Grund liegt für Möser darin, daß der Kaiser zu schwach und "schlüpfrig" gewesen sei, und statt aus den Städten und Burgen ein "Unterhaus der Gemeinden" zu machen, die "mittleren Gewalten" begünstigt habe. Nur in der Schweiz seien "gemeine Ehre und Eigentum" wiederhergestellt worden. 88 Möser, Osnabrück. Geschichte, Vorrede S. XVI. 87 Vgl. ebendort, S. X u. XVIII und das Schlußkapitel der Osnabrück. Geschichte, Teil3 (a. a. 0., Bd. 7,2), S. 186-89. 8~ Osnabrück. Geschichte, Teil3, a. a. 0., S. 187. 8z

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den Untergang des staatsbürgerlichen Freien-Standes bewirkt. Dem Territorialstaat kommt insoweit ein Wert zu, als er, wenngleich in partikularer Abspaltung vom Reich, zu staatlichen Verhältnissen zurückkehrt. Das ist ganz und gar "staatlich" gedacht. Das Fehlen des Staates in der mittelalterlichen Ordnung wird aus seiner vorgängigen Auflösung begründet, worin er zugleich als die eigentliche und allein legitimierte Ordnungsform anerkannt wird. Den konkreten herrschaftlichen Ordnungen haftet so von vornherein der Makel des Partikulären, Unallgemeinen, der Entstehung aus besonderen, möglicherweise willkürlichen Verhältnissen an. Der Weg zu ihrer Abdrängung in den Bereich der "Privatherrschaft" und Unfreiheit, wozu die in das 18. Jh. hineinragenden vielfach entarteten Restformen der alten Ordnungen hinreichendes Anschauungsmaterial lieferten89, ist von da aus nicht mehr weit; in Frankreich war er zu Mösers Zeiten schon längst beschritten90 , in Deutschland folgte man bald nach11• Ist nun mit alledem Mösers Leistung als Geschichtsschreiber und Begründer der verfassungsgeschichtlichen Forschung in Deutschland in Zweifel gezogen oder gar irgendwie entlarvt? Keineswegs. Möser hat wie wenige wirklich geschichtlich gedacht, in und mit der Geschichte gelebt und sein Bild von ihr auf Befragung der Quellen gegründet92• Unsere Frage geht nur nach den in dem Geist der Zeit begründeten und aus der konkreten geschichtlichen Situation entstandenen Frage- und Frontstellungen und spezifischen Sichtweisen, die das Verfassungsbild Mösers geformt haben. Mit deren Aufweis wird seine Leistung nicht in Frage, sondern nur an ihren eigenen geschichtlichen Ort gestellt. Ohne einen solchen geschichtlichen Ort aber ist Erfassung der Geschichte als Geschichte realiter nicht möglich. Sie lebt aus dem Bezug zur jeweiligen Gegenwart, und aus dieser wachsen ihr die Fragestellungen zu91 •

st Vgl. Otto BrunneT, Feudalismus, S. 601 :ff.

90 Vgl. die Äußerungen über Lehnswesen und Feudalismus in der Enzyklopädie, besprochen bei E. Weis, a. a. 0 ., S. 38 f., 40 f .; ferner Otto Brunner, Feudalismus, S. 603-07. 91 Bei Hege!, L. v. Stein und Marx wird die Feudalordnung schon ganz als Ordnung der Unfreiheit und Besitzherrschaft charakterisiert und als solche in das Geschichtsbild eingebaut; vgl. Otto Brunner, Feudalismus, S. 609-12. 92 Vgl. H. Zimmermann, a. a. 0., S. 10 f.; ferner die Bemerkung von Möser selbst, Osnabrück. Geschichte, Vorrede, S. VI. 03 Otto Brunner, Feudalismus, S. 626/27.

Zweites Kapitel

Die verfassungsgeschichtliche Forschung im Rahmen des ständestaatliehen Verfassungsbildes, insbesondere Karl Friedrich Eichhorn I.

Die Gebundenheit an die Fragestellungen und das Verfassungsbild der eigenen Zeit, die so den Anfang der verfassungsgeschichtlichen Forschung in Deutschland kennzeichnet, findet sich auch bei der nachfolgenden Generation. Diese Generation gehörte noch nicht zur bewußt-reflektierten Forschung der historischen Schule', wenngleich sie über Möser methodisch und sachlich beträchtlich hinausgewachsen war. Die Situation, in der diese Generation zu Anfang des 19. Jh. stand, war gegenüber derjenigen Mösers sowohl geistig wie im Hinblick auf die politisch-soziale Wirklichkeit eine andere geworden. Die Übergangsstellung zwischen dem überkommenen altständischen Ordnungsbau und der neuen Ordnung von Staat und Gesellschaft, die zur Zeit Mösers einzig in Frankreich voll erreicht war, im Reich aber, insbesondere außerhalb Preußens und des josefinischen Österreichs, sich erst gerade herausbildete, wurde nun ein Kennzeichen der politisch-sozialen Wirklichkeit selbst. Es bezeichnet die Eigentümlichkeit der Verfassungsentwicklung in Deutschland im späten 18. und zu Anfang des 19. Jh., daß einerseits der moderne, das Monopol aller Herrschaftsgewalt beanspruchende Staat, zu dem als Gegenstück die einheitliche Staatsbürgergesellschaft gehört2 , sich entschieden zur Geltung brachte, andererseits aber viele Formen und Institutionen der altständischen Ordnung, von diesem neuen Rahmen unterfangen und mehr und mehr in ihn hineingestellt, noch lange ihre Lebenskraft bewahrten3• Die Spätform des ständischen Staates wurde hier zu einer eigenen Ordnungsgestalt Die Grundlage war Vgl. darüber des näheren unten Kapitel3, Abschn. 1. Über diese innere Zusammengehörigkeit oben Kap. 1, III, 2 S. 34 f. 3 Das ist eine der Grundthesen der Abhandlung von W. Conze, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands, a. a. 0 . Die gutsherrliche Gerichtsbarkeit und Polizei bestand in den östlichen Provinzen Preußens bis 1872; in den Verfassungen der mittel- und norddeutschen Staaten nach 1815 sind noch viele altständische Elemente erhalten, vgl. dazu im einzelnen die bei Pölitz, Die europäischen Verfassungen seit 1789 bis in die neueste Zeit, Bd. 1 (1831) zusammengestellten Verfassungsurkunden. 1

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die ,Nation' als die Einheit der Staatsbürger und ihr gegenüberstehend die einheitliche staatliche Gewalt; die überkommenen Stände in ihrer herrschaftlich-politischen Stellung wurden nicht nach der strengen egalite von 1789 beseitigt, wohl aber zu Sozialständen auf dem Boden der Nation-Gesellschaft umgebildet und durch je besondere Rechte oder Pflichten, einerseits Privilegien, anderseits besondere Bindung und Abhängigkeit, charakterisiert. Diese eigentümliche Ordnungsgestalt kam im preußischen Allgemeinen Landrecht besonders deutlich zum Ausdruck'. Es geht zwar von der "bürgerlichen Gesellschaft" aus, versteht sie aber als eine ständisch und korporativ fest gegliederte5 • "Personen, welchen vermöge ihrer Geburt, Bestimmung oder Hauptbeschäftigung gleiche Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft beigelegt sind", heißt es weiter, "machen zusammen einen Stand des Staates aus8 ." Die besondere Bestimmung des Adels ist der Dienst für den Staat, zu den ihm eingeräumten ,Rechten' zählt die fortbestehende grundherrliche Polizei und Gerichtsbarkeit7 . Stärker als in Preußen hatten sich nach 1806 im rheinbündischen Deutschland, vor allem in Bayern, der moderne Staatsgedanke und das Prinzip der Untertanengesellschaft sowie die Verwaltungszentralisation durchgesetzt8 • Doch blieben auch hier ,patrimoniale' Herrschaftsrechte ' In seinem berühmten Exkurs über das Allgemeine Landrecht in ,L'Ancien Regime et la Revolution', Buch 2, cap. 1 hat Tocqueville diese Tatsache mit dem ihm eigenen klaren Blick erkannt und dargelegt. Vom Blickpunkt des modernen Staates und der Revolution aus vermag er darin allerdings nur einen nicht ausgereiften Kompromiß zu sehen: "in der Theorie Kühnheit und Neuerungslust; überall in der Praxis aber Furchtsamkeit"; unter dem modernen Haupt erblicke man einen durchaus mittelalterlichen Rumpf (a. a. 0.,

s. 270

f.).

Demgegenüber steht die wesentlich positivere Einschätzung des ALR durch Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 12, 2. Aufi. 1959, S. 131 ff., der es als einen Ausdruck der dem preußischen Staat "immanenten Vernünftigkeit" begreift, als das "preußische Naturrecht", in dem zugleich die Regel des weiteren Fortschreitens gegeben gewesen sei (154). Die deutsche Verfassungsentwicklung ist auch bis etwa zur Mitte des 19. Jh. in dieser Zwischenstellung zwischen Emanzipation und Bewahrung und i. S. eines kontinuierlichen Übergangs zu neuen Ordnungen verlaufen, vgl. W. Conze, a. a. 0., u. unten Kap. 3, Abschn. 1 III, 2, S. 97.

5 Vgl. ALR § 2 I 1: "Die bürgerliche Gesellschaft besteht aus mehreren kleineren, durch Natur oder Gesetz oder durch beide zugleich verbundenen Gesellschaften oder Ständen." Für den Zusammenhang Conze, a. a. 0., S. 6-8. 8 ALR § 6 I 1; aufschlußreich ist der Unterschied zum bayerischen Landrecht von 1756, das in Teil 1, Kap. 3, § 3 die Rechte und Pflichten des einzelnen noch ganz von den konkreten Statusbindungen her bestimmt. Dazu und allgemein H. Conrad, Individuum und Gemeinschaft, S. 14-20. 7 Vgl. ALR §§ 1, 3, 37, li 9; § 91 II 7. Für den Zusammenhang neuestens H. Conrad, Die geistesgeschichtlichen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts ... , 1958, S. 19-35. 8 Vgl. die Schilderungen bei M. Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns, Teil 2, S. 382-401; für die Rheinbundstaaten im allgemeinen Hartung, Verfassungsgeschichte, S. 198-204, und E. R. Huber, Bd. 1, S. 86 ff.

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verschiedenster Art, die Sonderstellung des grundherrliehen Adels und die meisten Standesrechte des Klerus bestehen'. Die Ordnung, die hier entstanden war, ohne die Kontinuität der Geschichte durch den Bruch einer revolutionären Aktion zu zerstören, drängte aus sich selbst danach, entwicklungsgeschichtlich erklärt und unterbaut zu werden. Im Zeichen der vordringenden Staatsbürgergesellschaft, welche die altständischen Ordnungen unterwanderte und mehr und mehr zur eigentlichen Grundlage der politischen Ordnung wurde, lag es nahe, die ganze ständestaatliche Ordnung als geschichtliche Ausformung und Umgestaltung einer im Ursprung gleichheitlieh-staatsbürgerlichen Ordnung zu begreifen und von daher ihren geschichtlichen Werdegang zu erklären. Durch die vernunftrechtlichen Theorien von Staat und Gesellschaft und den im Zeitbewußtsein wirksamen Gedanken der altgermanischen Freiheit wurde das ja ohnehin legitimiert. Auf diese Weise ließ sich historisch wie politisch eine Konsonanz herstellen zwischen der neuen Staat-Gesellschaft-Struktur und den überkommenen Elementen der altständischen Ordnung, ohne daß der Rahmen des ständestaatliehen Systems gesprengt wurde und sein unvermeidlicher Übergangscharakter auf dem Weg zur emanzipierten modernen Gesellschaft in Erscheinung treten mußte10• So nimmt es nicht wunder, daß in der verfassungsgeschichtlichen Literatur der Geschichte der Stände, ihrer Entstehung und Ausbreitung, eine besondere Bedeutung zukommt, ja daß mitunter die ganze Verfassungsgeschichte als Geschichte einer staatsbürgerlichen Ständegesellschaft erscheint und von dorther ihren Zusammenhang und ihre Kontinuität erhält. In seiner im Jahre 1811 erschienenen "Geschichte der deutschen staatsbürgerlichen Freiheit" erklärt es Eugen Montag, der letzte Abt des Reichsklosters Ehrach in Franken", als sein Ziel, "den ursprünglichen rechtlichen Zustand, wie er mit der Bildung der Deutschen zu einer eige• Vgl. dazu für Bayern die im Zusammenhang mit der Verfassung von

1808 erlassenen Edikte, betr. die künftigen Verhältnisse des Adels vom 28. 7. 1808, betr. die gutsherrliehen Rechte vom 28. 7. 1808, insbes. Tit. III: Polizeigewalt, betr. die Patrimonialgerichtsbarkeit vom 8. 9. 1808, sämtl. bei Pölitz, a. a. 0., S. 109-29. Über die Standesrechte des Klerus vgl. u . a. Bayrische Verfassung von 1818, 6. Tit., §§ 7 u. 8, wo die Geistlichkeit als besondere "Klasse"

erscheint, die Vertreter zur 2. Kammer stellt. 10 Eine parallele Situation bestand für die Staatsrechtslehre, die einerseits die Vielfalt der überkommenen Hoheitsrechte des Landesherrn vorfand, anderseits die Rechte der Staatsgewalt systematisch-prinzipiell, i. S. der vernunftrechtlichen Staatstheorie, begründen wollte. Hier wurde die Konsonanz hergestellt, indem die von der Person des Landesherrn gelöste ,Staatsgewalt' zur Quelle aller Hoheitsrechte wurde, die als deren Ausfluß im Hinblick auf bestimmte Staatszwecke erschienen. Vgl. auch E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, § 5, S. 53-64. 11 Eugen Montag, Geschichte der deutschen staatsbürgerlichen Freiheit, 2 Bde., 1811/13, Titelbl. u . Vorwort zu Bd. 1.

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nen Nation begann, und wie er sich an den drei bürgerlichen Klassen, nämlich den gemeinen Freien, dem Adel und der Kirche, welche allein in verschiedenen Abstufungen bürgerliche Rechte genossen, von den fränkischen Königen an bis auf die letztere Reichsverfassung entwickelte, modifizierte, veränderte," darzulegen12• Hier ist die Ordnung des ständischen Staates, wie sie sich am Ende des 18. Jh. verfestigt hatte, zum allgemeinen Ordnungsmodell erweitert; alle herrschaftlich-politischen Bildungen sind auf ihren Rahmen zurückgeführt. Der erste Abschnitt trägt den bezeichnenden Titel: "Von dem gemeinen freien Bürger des fränkischen Staats und dessen Freiheit13 ;" der zweite Abschnitt befaßt sich mit "der höheren Klasse der Bürger, oder von dem Adelsstande". Es sind die "persönlichen Vorzüge, das adlige Allodialgut", die adlige "freieigene Gerichtsbarkeit" u. a. m., die als Elemente der besonderen Freiheit des Adels erscheinen14• "Sie blieben Bürger des Staats, aber von der ersten Klasse15." Und ebenso wird die Entstehung und Stellung der "freien Kirchen, als der dritten Klasse der Freien" auf Privilegien, Immunitäten, Regalien usf. gegründet18• Die Stände werden nurmehr nach dem Bild des späten 18. Jh. gesehen: soziale Schichten bzw. Klassen innerhalb der Staatsbürgergesellschaft, die durch den Besitz bestimmter Güter oder Gerechtigkeiten und daran gebundener Freiheiten bzw. Abhängigkeiten konstituiert werden17• In gleicher Weise werden Haus und Hausherrschaft in das vorausgesetzte Ordnungsmodell von Staat und Gesellschaft eingebaut. Sie werden zwar als solche noch gesehen, haben aber ihren Grund in staatlich gewährter Freiheit, in der Immunität als staatlich verliehenem Privileg, nicht als autogenem Herrschafts- und Gewaltbereich18• Alle Herrschaftsgewalt, die nicht vom Inhaber der staatlichen Gewalt delegiert ist oder in amtsmäßiger Abhängigkeit von ihm ausgeübt wird, hat für 13

Montag, a. a. 0., Bd. 1, Vorw. S. V/VI. Montag, a. a. 0., Bd. 1, S. XI f. Bezeichnend sind auch die weiteren Unter-

1~

Montag, a. a. 0., Bd. 1, S. 120.

12

titel: "Von den Staatsdiensten der Freien", "Von der Tribut- und Steuerfreiheit", "Von der Teilnehmung des freien Mannes an der Nationalgesetzgebung". 14 Ebendort S. XIII f. u. S. 120--124. Vgl. die Gliederungsübersicht a. a. 0 ., Bd. 1, S. XIV-XVI. 17 Typisch etwa der Titel des § 22: "Mit dem Verluste der freiadligen Güter änderte und verlor sich auch der Adelsstand." Diese Auffassung der Stände wurde teilweise auch von diesen selbst gefördert, indem die privatrechtliche Umdeutung ihrer Rechte und deren Herleitung aus privaten Rechtstiteln sie vor dem Zugriff des Landesherrn bzw. Staates weitgehend zu schützen vermochte, da auch der aufkommenden Staatsgewalt ,wohl erworbene Rechte' nicht ohne weiteres zur Disposition standen. Vgl. dazu Otto Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 1, §56 I (S. 701 ff.), § 60 I (S. 802 ff.). 1s Montag, a. a. 0., Bd. 1, S. 12-17; über den älteren, die Freiung des eigenen Herrschafts- und Gewaltsbereichs meinenden Begriff der Immunität Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 383-389. 16

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Montag privatrechtliehen Charakter und muß aus besonderen Rechtstiteln, sei es Eigentum, Vertrag oder Privileg, begründet wel"den. Die Eigengerichtsbarkeit und Immunität des Adels geht auf einen Beschluß der Volksversammlung in unvordenklicher Zeit zurück- als Belohnung für besondere Verdienste - 19, die der Kirchen und Klöster auf Verleihungen der merovingischen und fränkischen Könige20 ; beide haften dann am Eigentum, einel"seits der adligen Güter, anderseits des gefreiten Kirchenguts21 • Sie begründen keine ,politische' Herrschaftsstellung, sind kein Bauelement der Verfassung, sondern verliehene persönliche Vorzüge auf der Basis des vorausgesetzten Staatsbürgertums. Gegenüber dieser schon sehr stark an der heraufkommenden staatsbürgerlichen Ordnung orientierten Darstellung hat ein anderes Werk dieser Jahre, Karl Dietrich Hüllmanns "Geschichte des Ursprungs der Stände in Deutschland", die zuerst 1806, dann in neubearbeiteter Auflage 1830 erschien, die Elemente der alten ständischen Ordnung noch stärker bewahrt21• Die Geschichte der Stände ist für Hüllmann nicht eine Geschichte der verschiedenen ,bürgerlichen Klassen', sondern verfolgt die Entstehung und die Entwicklung der Rechtsstellung der alten, herrschaftlich-politisch bestimmten Stände. Insofern meint Hüllmann, wenn er von der "bürgerlichen Gesellschaft" spricht23 , noch die alte societas civilis. Er unterscheidet auch die alte "Territorialfreiheit" von der neuen Staatsbürgerfreiheit24 • Aber den inneren Zusammenhang der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung, die er untersucht, kann er doch nicht anders begreifen und erklären als nach dem Bild einer im Ausgangspunkt staatsbürgerlich-herrschaftslos geordneten Wirklichkeit, die sich durch gesellschaftliche, d. h. wirtschaftlich-soziale Veränderungen umbildet und in ihrer alten freiheitlichen Form auflöst. So behandelt er im ersten Teil seines Werkes die "Staatsgrundverfassung" als den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Stände. Der zweite Teil: "Ausbildung der Stände", setzt erst mit und nach Karl d. Gr. ein; nun löst sich der staatsbürgerliche Ursprungszustand, welcher im fränkischen Reich Montag, a. a. 0., Bd. 1, S. 145-147. Ebendort, S. 213-243. 21 Montag, a. a. 0., Bd. 1, S. 125-127. • 2 Hüllmann war seit 1805 Professor in Frankfurt/Oder und Königsberg, seit 1818 in Bonn; er gelangte dort zu großer Wirksamkeit als akademischer Lehrer und war wegen seiner konservativ-gemäßigten Einstellung mehrere Jahre Regierungsbevollmächtigter an der Universität. Vgl. dazu Wegele, K. D. Hüllmann: Allg. Dt. Biographie, Bd. 13, S. 332. -Von seinen sonstigen Werken sind noch die ,Urgeschichte des Staats' 1820, und das 4-bändige Werk über das Städtewesen im Mittelalter, 1825-29, zu nennen. 23 Vgl. Geschichte des Ursprungs der Stände ..., 2. Aufl., S. 14. u Ebendort, 1. Aufl., Bd. 1 (1806), S. 68. Das Wesen dieser Territorialfreiheit sieht er darin, "auf erblichem Grund und Boden zu wohnen und ein eigenes Gebiet zu besitzen". 19

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in der Form einer herrschaftlich-amtsmäßigen Ordnung zunächst fortbestand, durch die Ausgliederung der einzelnen Stände auf25• Wie bei Möser ist für die älteste Ordnung das hausherrschaftliche Element, das deutlich gesehen wird26, mit dem staatsbürgerlich-genossenschaftlichen des Landeigentümervereins in Verbindung gebracht. Dienebeneinanderstehenden "Familienstaaten" der Salhofherren, die als freie Landeigentümer die "volle Staatsbürgerschaft" haben, bilden den Ausgangspunkt. Weitergreifende soziale Bildungen entstehen, in der Substanz herrschaftslos, als ein Stufenbau zweckbestimmter Genossenschaften; "immer weiter ward der Umfang der Ringe, die ineinandergriffen" 17 • Mit ihnen bildet sich auch die Stufenfolge gewählter "öffentlicher Beamter". Die Ausbildung der herrschaftlich-politischen Stellung der Stände vollzieht sich dann im Zerfall der vorausgesetzten genossenschaftlichen Staatsordnung und erscheint, nach dem Riebtbild der späten Feudalgesellschaft, als patrimonialer Vorgang: Auf der Grundlage der Vermehrung privaten Landbesitzes und der dadurch vermittelten sozialen Machtstellung oder durch Privatisierung hoheitlicher Amtsrechte zugunsten der sozial Mächtigen entsteht persönliche Herrschaft, die die Anerkennung und weitere Befugnisse der sich auflösenden alten öffentlichen Gewalt erlangt und zu den konkreten Herrschaftsverhältnissen der mittelalterlichen Welt hinführt28 • So sind die Stände von ihrem Ursprung her auch hier soziale Schichten, entstanden aus Besitzunterschieden auf dem Boden einer vorausgesetzten staatsbürgerlichen Landeigentümergesellschaft; auf den "Trümmern des Eigentums und der Freiheit" wächst ihre politische Herrschaftsstellung empor, vermöge deren schließlich "Privatunrecht" in "öffentliches Recht" übergeht2G. Die Wirklichkeit des späten ständischen Staates, die Trennung von staatlich-gesellschaftlich, öffentlich-privat ist in dem so gesehenen EntVgl. Hiillmann, a. a. 0., 2. Aufl.., GliederungS. VII-XI. Hüllmann, a. a. 0., 2. Aufl.., S. 7-9. Der Salhof und das Salgut der Quellen, die terra salica, bezeichnen für ihn die herrschaftliche Wohnung bzw. das herrschaftliche Haus im Unterschied zu Wirtschaftsgebäuden und Hintersassenhäusern. Sachlich ist hier wohl eine lange Kontinuität bis zu den Sedlhöfen und Sedlsitzen als Legitimationsgrundlage des landständischen Adels zu vermuten. 27 Zum ganzen Hüllmann, a. a. 0., 2. Aufl.., S. 14-17, 23 f.; das ZitatS. 15. 28 Vgl. etwa a. a. 0., S. 42--45 (Herleitung der Gerichtshoheit des Königs aus seinem Obereigentum), S. 179-84 (wachsende Machtstellung und politischer Einfluß der königlichen Dienstleute), S. 215-17 (Begründung der Herrschaftsstellung der Amtsträger und großen Landeigentümer aus dem Zerfall des Standes der gemeinen Freien), S. 136 ff. (Entstehung der Klosterimmunitäten und Vogteirechte), S. 276 ff. (Befreiung der Kirchen und Klöster von der Vogtei, Ausbau selbsteigener Herrschaft über dem eigenen Besitz), S. 350 ff. (Verselbständigung und Akkumulierung der Amtssprengel und Amtsrechte). 29 Hüllmann, a. a. 0., Bd.1, S. 215,217 f. 25

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wicklungsgang stets vorausgesetzt. Hüllmann sieht auch in dem Neubau der staatlichen Ordnung nach 1815, was die Stände angeht, lediglich die Vertilgung ihrer "Mittelaltertümlichkeit", die Beseitigung überlebter feudaler Herrschaftsrechte und die (Wieder-)Eingliederung in die Staatsgesellschaft30. Daß gerade dies die alten Stände in ihrem Wesen verändern und zu ,bürgerlichen Klassen' machen mußte, konnte ihm von seinem vorausgesetzten Verfassungsbild her nicht bewußt werden31 • II.

Zeigen so die Werke Montags und Hüllmanns typische Züge der Gebundenheit an das ständestaatliche Verfassungsbild, so erhebt sich die Frage, inwieweit auch Karl Friedrich Eichhorn in seinen Forschungen davon bestimmt ist. Eichhorns "Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte" überragt jene Arbeiten bei weitem; sie hat die Erforschung der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte auf eine unbestrittene wissenschaftliche Höhe geführt und deren weiteren Fortgang jahrzehntelang maßgeblich bestimmt32• Überdies steht Eichhorn sehr bewußt auf dem Boden des geschichtlichen Denkens. So hat die Frage nach zeitgebundenen Fragestellungen und Leitbildern gerade bei ihm ein besonderes Interesse. Obwohl Eichhorn als Mitbegründer der historischen Rechtsschule oft in große Nähe zur Generation der ,Germanisten' gerückt wird, gehört er nach seiner geistigen und geschichtlichen Herkunft gleich Montag und Hüllmann noch in die Welt des späten ständischen Staates und des alten Reiches. 1781 als Sohn des Orientalisten und Theologen Johann Gottfried Eichhorn geboren, wuchs er ganz in der Göttinger Bildungswelt des späten 18. Jh. heran und absolvierte von 1797-1801 seine Studien an der dortigen, damals weithin berühmten Juristenfakultät33, eben noch in den letzten Spättagen des alten Reichs, als die deutschen Territorien, für einige Jahre im Windschatten der Weltgeschichte gelegen, noch aus der Kontinuität ihrer Geschichte lebten. VonPütterund Schlözer wurde er in das Staatsrecht, die Reichshistorie und die Politik eingeführt, der junge Hugo brachte ihn in Berührung mit den Anfängen der historischen ao a. a. 0 ., Bd. 1, Vorw. S. IV/V.

31 So ist bei ihm auch die alte ,bürgerliche Gesellschaft' ihrer Struktur nach doch eine staatsbürgerliche Gesellschaft, was sich auch daran zeigt, daß er die alte Territorialfreiheit als "staatsrechtliche Freiheit" bezeichnet, a. a . 0., 1. Aufl., Bd. 1, S. 68. In den Bemerkungen bei Otto Brunner, Feudalismus, S. 613, ist dieser Zusammenhang übersehen. 32 Savigny äußert sich in einem Briefe an Eichhorn aus dem Jahre 1851 folgendermaßen : "Sie haben ohne einen Vorgänger im deutschen Recht zuerst die Bahn gebrochen, und dieser Wissenschaft ein ganz neues Leben zugeführt durch Rede und Schrift ... " (J. F . v. Schulte, Karl Friedrich Eichhorn,1884, S. 87). 33 J . F . v . Schulte, a. a. 0., S. 12; v . Stintzing-Landsberg, Bd. 111, 2, S. 253.

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Rechtswissenschaft34• Die weitere Ausbildung führte ihn an die bedeutenden Stätten des Verfassungs- und Rechtslebens im alten Reich: das Reichskammergericht in Wetzlar, den Reichstag in Regensburg und den Reichshofrat in Wien. Wieder von Göttingen aus nahm dann seine akademische Laufbahn ihren Anfang35 • So waren es im wesentlichen zwei Kräfte, die seine Anschauungen mit bilden halfen: einerseits die Verhältnisse des alten Reichs und der Territorialstaaten, die Tradition der Reichshistorie und des ständischen Staatsrechts, anderseits die Welt des ,Göttinger Rationalismus', in der er aufgewachsen war und seine Universitätsjahre verbracht hatte38• Eichhorn gehört noch nicht zu den liberal-konstitutionellen Forschern der Germanistengeneration, die ihre großen Vertreter in Jacob Grimm, Georg Beseler und Georg Waitz gefunden hat. Er ist durch sein Werk deren Anreger geworden, aber seine eigenen Wurzeln liegen in der vorkonstitutionellen und vorliberalen Welt des späten 18. Jh.37• Nichtsdestoweniger ist Eichhorn dem geschichtlichen Denken besonders eng verbunden. Er will die Zustände der Gegenwart aus ihrem geschichtlichen Werden verstehen und in ihrer eigenen Geschichtlichkeit erkennen38• Gegenwart ist Durchschnitt der Geschichte, nur geschichtlich läßt sie sich begreifen39• Nicht das Anschauen des ewigen Werdens und Vergehens, sondern das Interesse an der Gegenwart, in der sich große Wandlungen vollziehen, führt Eichhorn zur geschichtlichen Betrachtung-40. Geschichte ist nicht etwas Vergangenes und Abgeschlossenes, sondern der Gegenwart immanent. Ohne die genaue Kenntnis dessen, was war, und wie es das wurde, was es war, so heißt es in der Vorrede zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, wird es "immer un34 Vgl. Schulte, a. a. 0., S. 12/13. Die Wirkung Hugos auf Eichhorn war besonders nachhaltig und grundlegend für seine spätere geschichtliche Behandlung des deutschen Rechts. V gl. die Äußerungen in seiner Selbstbiographie, angef. bei Schulte, a. a. 0., S. 12, u. v. Stintzing-Landsberg, Bd. III, 2, S. 273. über Hugos Bedeutung für die historische Rechtsschule allgemein Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 231 f. ss Vgl. Schulte, a. a. 0., S. 17 f. In Wetzlar war er bei v. Gruben, in Wien bei v. Pufendorf tätig. 38 Zum letzteren v. Stintzing-Landsberg, Bd. III 2, S. 274, und Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 261-69. 37 Vgl. v. Stintzing-Landsberg, Bd. III, 2, S. 273-75; Wieacker, a. a. 0., s. 231. 38 Vgl. Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 1, 4. Auft., Vorrede zur 1. Ausg. 39 Dazu Kar! Frhr. v. Richthojen, Art.: Eichhorn: Deutsches Staatswörterbuch von Bluntschli u. Brater, Bd. 3, 1858, S. 246, 259 f. 40 Über die Gegenwartsbezogenheit von Eichhorns geschichtlichem Denken und historischer Forschung, als Gegensatz zu jeder Art antiquarischer Betrachtung, Richthofen, a. a. 0., S. 246, und H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, S.19.

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Böckenförde

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möglich" sein, den Geist der neuen Einrichtungen und ihr Verhältnis zu dem, was von dem bisherigen bestehenbleibt, richtig aufzufassenu. Das geschichtliche Denken Eichhorns tritt so nicht aus der Geschichte heraus und macht sie zum Maßstab und Richtbild politischer Gestaltung, sondern verbleibt in der geschichtlichen Gebundenheit selbst. Darin unterscheidet sich Eichhorn von der ihm nachfolgenden Generation der Germanisten42. Geschichtlichkeit ist für ihn der Modus des Geschehens und der Betrachtung, nicht die Gewinnung eines abstrakten Ideals aus einem bestimmten geschichtlichen Zustand. Es bringt sich ein Verhältnis zur Geschichte zur Geltung, das nicht der Anknüpfung an die Geschichte bedarf, sondern ungebrochen in ihr steht.- Jeder Staat ist "ein bestimmter gegebener gesellschaftlicher Zustand", der ohne ein durch diese Individualität "unmittelbar bedingtes historisches Recht" gar nicht denkbar ist43• Das Recht hat notwendig "organischen" Charakter, mit dem sich verändernden gesellschaftlichen Zustand muß es sich seinerseits verändern und nach den gewandelten Bedürfnissen gestalten; aber immer nur auf dem Boden des Vorhandenen, auf den gesellschaftlichen Zustand "unmittelbar bezogen" und "stets durch diesen bedingt", nicht aus abstrakten Theorien heraus44 • Organisches Denken bedeutet für Eichhorn geschichtlich-genetisches Denken. Er setzt sich sowohl gegenüber den vernunftrechtlichen Vertragstheorien und dem ,allgemeinen Staatsrecht' ab45, wie auch gegenüber den Theorien von der öffentlichen Gewalt als einer göttlich angeordneten Obrigkeit46. Worum es ihm geht, zeigt sich bei der für die Zeit so wichtigen Frage nach der Berechtigung einer umgestaltenden Gesetzgebung. Eichhorn lehnt eine Gesetzgebung nicht prinzipiell ab, aber es muß sich um eine solche handeln, "die von dem unmittelbaren Bedürfnis ausgeht, das aus einem bestimmten Zustand entspringt, und ihr Prinzip in der Natur des konkreten Verhältnisses selbst sucht". Jede Gesetzgebung, die einer abstrakten Theorie folgt, "hat überhaupt kein praktisches Ziel als die AufVgl. Eichhorn, Bd. 1, Vorrede, S. IX/X. Vgl. unten Kap. 3, Abschn. 1, I. 4S Eichhorn, Bd. 4, S. 707. u Bd. 4, S. 707, 714 f. 45 In seiner Beurteilung des allgemeinen Staatsrechts kommt sein geschichtlich-organisches Denken besonders deutlich zum Ausdruck. Es ist für ihn durch die "Herrschaft einer oberflächlichen Philosophie" gefördert und übersah, "daß das, was für eine allgemeine und an sich bestehende Regel ausgegeben wurde, lediglich aus einem gegebenen Zustand abgeleitet war, und daß dieser nur darum für einen allgemeinen Typus der bürgerlichen Gesellschaft gehalten wurde, weil ihn die Bildner jener Theorie willkürlich angenommen, nicht von einer in der Erfahrung wirklich vorgekommenen Individualität abstrahiert hatten, und nicht entdeckten, daß das Letztere dennoch, ihnen selbst unbewußt, teilweise der Fall gewesen war." (Bd. 4, S. 713/14). 4 6 Bd. 4, S. 704/05. 41

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lösung des Vorhandenen" 47• Darin ist die Geschichtlichkeit als das eigentliche, den Fortgang des Geschehens bestimmende Prinzip anerkannt; Herder und Burke, auf den sich Eichhorn beruft48, haben über das bei Möser noch wirksame naturtheoretische Denken hinausgeführt, und das romantische Reflexionsverhältnis zur Geschichte ist noch ganz fern49 • Dieses geschichtliche Denken bestimmt auch die staatspolitischen Vorstellungen Eichhorns. Auch hier geht es ihm um die Verwirklichung des geschichtlich-organischen Prinzips. Er huldigt keinem Quietismus und spricht der Zeit den Beruf zur Gesetzgebung nicht ab, aber er stellt sich entschieden gegen alle abstrakten Theorien und Programme, die nach seiner Auffassung nur dazu angetan sind, die Völker ins Unglück zu führen50• Reformen und Neugestaltungen müssen von den Bedürfnissen des gegebenen Zustandes ausgehen und sich daran begnügen. Der französischen Revolution und ihren Ideen, wie überhaupt den politischen Theorien des 18. Jh., begegnet Eichhorn mit entschiedener Ablehnung51• Gerade daß hier, um ein Wort Hegels zu gebrauchen, der Mensch "sich auf den Kopf, d. h. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit auf diesen erbaut52", ist für ihn der beste Beweis, daß in ihr das abstrakte, unorganische und darum Zerstörerische Denken wirksam ist. Die angemessene, an die eingetretenen Veränderungen sich haltende Neugestaltung ist für Eichhorn ein Konstitutionalismus auf ständisch-korporativer Grundlage, die zeitgemäße Reform und Weiterbildung des ständischen Territorialstaates53• Er bejaht die meisten der "Staatsvereinheitlichungen" und Reformen während und nach der Rheinbundzeit, aber der liberale, an den Ideen von 1789 ausgerichtete Konstitutionalismus hat nach seiner Auffassung in der deutschen Geschichte keine reale Grundlage54 • So beklagt er es lebhaft, daß nach den napoleonischen Erschütterungen "der Irrwahn von der Teilung der Gewalten und der ganze 47

Eichhorn, Bd. 4, S. 717.

V gl. Bd. 4, S. 708 f., 717/18. Zum letzteren unten Kap. 3, Abschnitt 1, I; ferner v. Stintzing-Landsberg, Bd. III, 2, S. 274 f. 50 Seine Polemik richtet sich dabei vornehmlich gegen die politischen Theorien der Aufklärung; sie sind "abstrakt", "leer", ein "allgemeines Abstrahieren aus theoretischen Prämissen", ohne Grundlage in der Wirklichkeit u. a. m., vgl. etwa Bd. 4, S. 708 f., 717-19, 723/24 in Beziehung auf die Reformen Josefs II., die sich nicht auf die Erreichung dessen beschränkten, was "durch das unmittelbar empfundene Bedürfnis selbst gegeben", die vielmehr "aus einer abstrakten Theorie abgeleitet" waren. 51 Vgl. Bd. 4, S. 717 f.; Schulte, a. a. 0 ., S. 101. 52 Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Ges. Werke Bd.ll (Ausg. Glockner) 3. Aufl. 1929, S. 557. 5S Dazu Schulte, a. a. 0., S. 96-98. 54 Bd. 4, S. 733 f.; ferner Schulte, a. a. 0., S. 97. 48

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f.

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Apparat von Sophismen der ersten französischen Nationalversammlung" in Deutschland wieder hervorgeholt wurde55• Anders als für die dem nationalen Verfassungsstaat verpflichtete Generation der "Germanisten" entsteht für Eichhorn so gar nicht das Problem, die konstitutionellen Prinzipien in den älteren Verfassungszuständen wiederzufinden und als "deutsch", "germanisch", "national" usf. zu erweisen. Sein Verfassungsbild bedarf nicht der Anknüpfung an die Geschichte, es steht noch in der Geschichte, in der noch ungebrochenen Kontinuität des ständisch-monarchischen Staates. Ähnlich verhält es sich mit Eichhorns nationalem Denken. Die jüngeren Vertreter der historischen Rechtsschule haben versucht, Eichhorns geschichtliche Rechtsansicht aus dem zu Anfang des 19. Jh. erwachten Nationalgedanken herzuleiten und das nationale Element bei ihm sehr in den Vordergrund zu rücken56• Aber Eichhorns nationales Denken ist noch geschichtlich eingebunden, es bildet sich an der Tradition der eigenen hergebrachten Ordnungen, am Reichspatriotismus des 18. Jh. und der aufkommenden nationalen Kultur, nicht an der Volksindividualität und dem Persönlichkeitsgedanken als solchem, die sich im Namen von Natur und Sprache gegen die geschichtlichen Ordnungen freisetzen57• "Nation" und "national" meinen, wie etwa bei Möser oder Lessing, die Betonung der geschichtlichen und kulturellen Eigenart des Volkes und seiner Ordnungen, noch ganz ohne das Pathos einer politisch-programmatischen Idee, die auf universale Neugestaltung aus dem Geist der erwachten Nation abzielt58• III. So scheinen bei Eichhorn alle Voraussetzungen erfüllt zu sein, um sich über zeitgebundene Fragestellungen und Begriffsfestlegungen zu erBd. 4, S. 719. Typisch dafür die Würdigung Eichhorns im Staatslexikon von Bluntschli u. Brater durch K. v. Richthofen. Eichhorns geschichtliche Rechtsansicht wird ganz in die romantisch-nationale Ausformung der Germanistenschule hineingezogen und seine geschichtlich-politisch bestimmte Ablehnung der französischen Revolution als Betonung deutscher Eigenständigkeit und Absetzung gegen Frankreich und das Französische schlechthin interpretiert. Vgl. Richthofen, a. a. 0., S. 246-48, 262 f . 57 In der Grundrichtung, aber nicht ganz übereinstimmend H . v. Srbik, Geist und Geschichte, Bd. 1, S. 205. Zum Grundsätzlichen Eugen Lemberg, Geschichte des Nationalismus in Europa, S. 168 ff., und Forsthoff, Verfassungsgeschichte, S. 98-108. 58 Das äußert sich bei Eichhorn u. a. darin, daß bei ihm noch gänzlich das Suchen nach den .,deutschen Institutionen" und dem nationalen Staat in der Vergangenheit fehlt. Später müssen alle "staatlichen" Einrichtungen und Grundsätze als deutsch, germanisch, national erwiesen werden, während Eichhorn etwa ohne weiteres die starkeEinwirkungrömischer Verhältnisse auf die fränkische Grafschaftsverfassung (Bd. 1, S. 460--462) oder die römische und kirchliche Beeinflussung der gewohnheitsrechtliehen Rechtsbildungen im fränkischkarolingischen Reich (Bd. l, S. 607) einräumen kann. 55

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heben und die verfassungsgeschichtlichen Verhältnisse als solche in ihrem eigentlichen Wesen zu erkennen. Alles Programmatische, sei es im Dienste des Nationalen oder im Dienste des Konstitutionellen, liegt seiner geschichtlichen Betrachtung fern. Befragt man indessen die ,Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte', die eine vollständige Rechts- und Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis ins 18. Jh. enthält, auf ihre Anlage und ihre tragenden Begriffe und Institutionen, so tritt das an den Verhältnissen des späten 18. Jh. orientierte Verfassungsbild, nicht unähnlich dem Mösers und Hüllmanns59, auch hier in seinen wesentlichen Zügen hervor60 • Von der germanischen Zeit an ist ein Gegenüber von Staat und Gesellschaft, von öffentlich und privat, die Auffassung der Stände als sozialer Schichten vorausgesetzt. Die Stände erscheinen unter "Privatrecht, Abt. I: Personenrecht", gegliedert in: Adel, Freiheit und Unfreiheit61 • Für die Gliederung des "öffentlichen Rechts" wird von dem Vorhandensein hierarchisch gestufter Verwaltungsbezirke ausgegangen, und schon seit dem endenden 9. Jh. wird die "staatliche Gewalt" in die einzelnen Regierungsrechte, d. h. die Hoheitsrechte des ständischen Territorialstaates, eingeteilt62. Alles verfassungsgeschichtliche Geschehen spielt innerhalb des zunächst einheitlichen, seit dem Aufkommen der Landeshoheit "zusammengesetzten" Staates, der über eine durchgehende amtsmäßige Verwaltungsorganisation und über Beamte verfügt. Die Stände der Bürger stehen ihm als die an sich Privaten gegenüber, die je nach ihrer rechtlichen Stellung und tatsächlichen Macht Anteil an der öffentlichen Gewalt erlangen oder aber durch selbständige Zwischengewalten zunehmend mediatisiert werden. Bis zum späten Mittelalter hat es "keine andere öffentliche Gewalt in Deutschland gegeben . . . als die königliche selbst" 63. 1. Dementsprechend werden auch die Anfänge der Verfassungsentwicklung, nach dem Vorbilde Mösers und Montags, genossenschaftlichso Vgl. oben Kap. 1, li und III, 2 sowie dieses Kapitel, oben I. eo Im folgenden wird die 4. Ausg. der Deutschen Staats- u. Rechtsgeschichte, erschienen 1834-36, zugrunde gelegt. In ihr sind alle Bände gegenüber der I. Fassung über- oder gar neubearbeitet (vgl. Vorw. zur 4. Ausg.), anderseits ist die 4. Ausg. die letzte, die noch aus Eichhorns akademisch-wissenschaftlicher Tätigkeit erwachsen ist, welche 1833/34 zu Ende ging. Deshalb war sie der 5. Ausg. von 1842/44 für die vorliegende Untersuchung vorzuziehen. Sie ist zu-

dem die heute am ehesten auffindbare. 61 Vgl. Bd. 1, S. XV u. XXIII; Bd. 2, S. XV f.; Bd. 3, S. XIII. Erst für die Zeit des ausgebildeten ständischen Territorialstaates werden sie, für den zugrunde gelegten Entwicklungsgang bezeichnend, unter der Rubrik "Territorialstaatsrecht" als die "verschiedenen Klassen des Volkes" behandelt, vgl. Bd. 4, S. XIII f.,

s. 371.

et 88

Bd. 2, S. XI-XIII. Bd. 3, S. 176.

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staatlich gesehen. Nicht Adel, Burg und Herrschaft, wie es die These der neueren Forschung ist64, sind die Grundlagen der ältesten Verfassung, sondern auf gemeinsamer Bodennutzung beruhende Markgenossenschaften, welche ihrerseits zu Volksgemeinden als genossenschaftlich-politischen Gemeinwesen verbunden sind65• Deren Mittelpunkt bildet die comitia, die Gauversammlung aller Freien, die über alle wichtigen öffentlichen Geschäfte entscheidet; für Friedenszeiten gibt es ferner gewählte Obrigkeiten mit Richteramt und "vollziehender Gewalt". Aus den "centeni singuli ex plebe ..." des Tacitus68 wird ein "Ausschuß der Gemeinde", der zwischen den ordentlichen Versammlungen bei den obrigkeitlichen Funktionen mitwirkt87 ; die Analogie zum landständischen Ausschuß drängt sich auf. Der Übergang zu einer selbständigen königlichen Gewalt, die eigenberechtigter Träger staatlicher Herrschaftsrechte ist, vollzieht sich für Eichhorn über die Dienstgefolgschaften. Damit bezieht er eine Mittelstellung zwischen der patrimonialen Theorie Hüllmanns und der konstitutionellen der Germanistengeneration88• Vom ständestaatliehen Verfassungsbild her macht es für ihn, anders als später für Waitz, Rothund H. Brunner, keine Schwierigkeiten, auch für die germanische Zeit einen geburtsständisch bestimmten Adelsstand mit besonderen Vorrechten anzunehmen und in den germanischen Gefolgschaften die Dienstgefolge adeliger Herren zu sehen". Dadurch hält er sich den Weg offen, den Gefolgschaften eine zentrale politische Bedeutung im germanischen Staatsleben zuzuerkennen. Sie stellen nach seiner Auffassung nicht nur die Hauptstreitmacht in den Volkskriegen und die treibende Kraft der Eroberungszüge dar, vielmehr entfalten sie in der Eroberungs- und Wanderungszeit auch eigene staatsbildende Kraft, indem sich aus ihnen neue Völkerschaften und Herrschaftsverbände formen70• Auf diese Völkerschaften und Herrschaftsverbände wendet Eichhorn zwar auch das Verfassungsschema: Obrigkeit, Adel und Freie an, aber darüber erhebt sich die fürstliche Gewalt des Gefolgsherrn-Königs als eigenständige und staatlich gedachte Herrschaftsgewalt, die zum Ausgangspunkt einer 64 Vgl. H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft, passim, insbesondere S. 91-94; Walter Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft, insbesondere S. 141-146, 177-179; ähnlich, bei stärkerer Betonung des Sippenzusammenhangs, auch Kar! S. Bader, Volk, Stamm, Territorium, S. 245-247, S. 252-256, wiewohl er im allgemeinen den Ergebnissen der Theodor-Mayer-Schule mit einer gewissen Zurückhaltung begegnet. Für Adelsstruktur auch Mitteis, Adelsherrschaft, S. 228-232, und Theodor Mayer, Königsfreie, S. 17 f. 65 Vgl. Eichhorn, Bd. 1, S. 61--64. 68 Germania, cap. 12. 87 Vgl. Bd. 1, S. 65/66. 6B Vgl. oben S. 47 und unten Kap. 3, Abschn. 2 und 4; Kap. 4 I. •& Vgl. Eichhorn, Bd. 1, S. 67-70, 78/79. 7o Bd. 1, S. 80-83.

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Ämterverfassung wird. Sie ist bereits die "höchste" Gewalt, aber da sie noch nicht "alle" öffentliche Gewalt in sich faßt, vielmehr eine eigenständige Mitwirkung des Volkes besteht, stellt sie sich als nur "obrigkeitliche", noch nicht als monarchische dar11 • In ihr ist "nur erst der Keim" zur Entwicklung einer eigenen Gesetzgebungs-, Straf- und Besteuerungsgewalt enthalten72 • Aber durch einen Konzentrationsprozeß kann sie nun monarchische Gewalt werden (wie es sich bei Karl d. Gr. als Ausfluß der neuen Kaiserwürde ergibf3). Der Adel wird als das engere königliche Dienstgefolge mächtig durch Landteilung und Ämterverwaltung7\ die Dienstgefolge im großen stellen den Heerbann und machen die Grundlage der königlichen Herrschaftsstellung aus75. Diese Begründung einer auf Staatsträgerschaft hin angelegten königlichen Gewalt aus Gefolgschaftsverband und Eroberung mußte bei ,konstitutionellen' Historikern wie Waitz und Roth entschiedenen Widerspruch finden. Für deren Auffassung wurde hier der Staat zwar nicht geleugnet, aber er wurde aus persönlichen Dienstverhältnissen, letztlich aus "privater" Herrschaft und Abhängigkeit statt aus allgemeinen, verfassungsmäßigen Elementen hergeleitef6 • Gleichwohl oder gerade deswegen, weil er sich nicht an dies konstitutionelle, "verfassungsmäßige" Modell hielt, hat Eichhorn wesentliche Elemente der Entwicklung richtiger als jene erkannt und beurteilf7. So kommt Eichhorn auch für die fränkische Heeresverfassung zu anderen, "unkonstitutionellen" Ergebnissen. Alle Heerbannpflicht ist für ihn ursprünglich in Gefolgschaftsverhältnissen begründet. Die "leudes", die bei Gregor von Toursund Fredegar immer wieder auftauchen, sind nicht staatsbürgerliche Untertanen mit allgemeiner Wehrpflicht78, Vgl. Eichhorn, Bd. 1, S. 83-86, insbes. auch S. 83 Anm. d. Bd. 1, S. 210/11. 73 Dazu Bd. 1, S. 576-78. 74 Vgl. Bd. 1, S. 83-86. 75 Bd. 1, S. 202 ff. Zusammenfassend heißt es: "Auf der Treue dieser Dienstmannen ruhte die Gewalt des Königs, ihre Anerkennung entschied über das Recht zur Krone" (207). Als Belege werden Gregor von Tours III, 23 und Fredegar cap. 79 angeführt. Leudes und fideles sind demnach Dienst- und Gefolgsleute, die Antrustionen ihre "höhere Klasse" (206 f.). 76 Vgl. Geor.g Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 1, 1. Auflage, S. 162--65, 166---76, 580-85, wo der König i. S. des "Träg·evs der Staatsgewalt" verstanden und seine Stellung aus der Nachfolge in die ebenfalls staatlichen Rechte des Volkes und seiner Versammlungen hergeleitet wird; bei Roth findet sich, Benefizialwesen S. 106-108, im einzelnen 110 ff., eine ausdrückliche Polemik gegen Eichhorns Leugnung des "Untertanenverbandes" mit gleichheitlieber Verpflichtung aller Freien und einheitlich-staatlicher königlicher Gewalt. Dazu auch unten Kap. 4, I, 2, S. 184/185. 77 Vgl. die heutige Beurteilung bei SchZesinger, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 154-58; ders., Über germanisches Heerkönigtum, a. a. 0., S. 116-24. 78 So Roth, Benefizialwesen, S. 110 ff. u. ö.; seitdem die h. M., vgl. auch Theodor Mayer, Königsfreie, S. 23 f. 71

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sondern Angehörige der großen königlichen Dienstgefolge, die für ihre Kriegsdienste mit Königsland entschädigt werden70• Das trägt dem Eroberungscharakter der fränkischen Landnahme in Gallien Rechnung. Ein allgemeines Aufgebot gibt es nur für den Fall der "Landwehr", der unmittelbaren Verteidigung.80• Auf den Märzfeldern trifft sich nicht das "Volk in Waffen", Heerschau und Reichsversammlung zugleich, sondern die mächtigen leudes mit dem kriegslustigen Volk81 • Freilich geht Eichhorn dann für die karolingische Zeit doch von einer allgemeinen Heerdienstpflicht der Freien aus. Karl d. Gr. hatte "die Streitkräfte der ganzen Nation" zu seiner Verfügung81• Von seinem sozialständischen Begriff der Stände her kann Eichhorn die "homines liberi" und "franci homines" der Quellen nur als die "allgemeinen Freien" verstehen83• Ihr Aufgebot, das in den Capitularien vielfach bezeugt ist, muß darum notwendig ein allgemeines, auf allgemeiner Heerdienstpflicht beruhendes sein. Der Vorgang der fränkischen Militärkolonisationen84 ist ihm als solcher nicht bekannt, und zu dem konkreten, jeweils auf einen konkreten Status und konkrete Freiheiten bezogenen Freiheitsbegriff einer unstaatlichen Welt versperrt das ständestaatliche Verfassungsbild denZugang. Im einzelnen erscheint derWeg vomDienstgefolgeheer zum Untertanenheerbann als kontinuierliche organische Entwicklung. Da die Dienstleute für Karl Martell, selbst bei der Vergabe von Kirchenland, nicht mehr ausreichten, war man genötigt, "das Volk aufzubieten." Zunächst freiwillig, wurde allmählich aus der Mahnung zum Aufgebot der verpflichtende Heerbann, Karl d. Gr. bildete alles rechtlich aus85• Die karolingische Heeresverfassung hat so eine doppelte Grundlage: die "allgemeine" Treuepflicht jedes Freien und "besondere" Lehn- und Dienstverhältnisse zum König86• Daß die allgemeine Heerpflicht der Königsfreien strukturell ebenfalls auf einem "besonderen" Verhältnis, dem Status des königsfreien Militäransiedlers beruht, diese Einsicht ist Eichhorn durch seine an den Verhältnissen des Ständestaates orientierte Fragestellung verstellt87• Entsprechend muß 7D

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Eichhorn Bd. 1, S. 202 ff. Bd. 1, S. 212. Vgl. Eichhorn, Bd. 1, S. 520 ff. Bd. 1, S . 543/44.

Vgl. dazu im einzelnen unten Ziff. 4, S. 62 f. Eingehend untersucht und geklärt bei Dannenbauer, Karolingisches Heer, S. 49-64, ferner ders., Hundertschaft, Centena, Huntari, insbes. S. 214 bis 18, 219-22. 85 Eichhorn, Bd. 1, S. 543/44. 8e Bd. 1, S. 703/4, im einzelnen dann 704--20. 87 Bei der Behandlung der Verfassung der Markgrafschaften trägt Eichhorn selbst alle Elemente dieses besonderen Status zusammen. Er berichtet von der Anlegung fester Plätze, von deutschen Ansiedlern, die in den Burgen Schutzstätten fanden, und von der Verteidigungspflicht dieser Freien (Bd. 1, S. 562 f .). Der Schluß auf einen konkreten Status der Königs- und Siedlungsfreien ist von den vorausgesetzten Begriffen her indessen nicht möglich. 83

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der Übertritt dieser Königsfreien in (andere) besondere Verhältnisse, wie Vasallen-, Vogtei- und grundherrschaftliche Verhältnisse als Minderung bzw. Auflösung der allgemeinen Freiheit, des einheitlichen Volkes und als Zersplitterung und Aushöhlung des Wirkungskreises der "öffentlichen" Beamten zugunsten der nur herrschaftlichen (privaten) erscheinen88• 2. Die Frage nach der Einwirkung des ständestaatliehen Verfassungsbildes erhebt sich auch gegenüber Eichhorns Interpretation der karolingischen Verfassung. Schon für die merovingische Zeit neigt er dazu, die amtsmäßigen Elemente als eine durchgebildete Ämterorganisation aufzufassen89. Aber es ist weniger die scharfe Betonung der "Amtsstruktur" der karolingischen Verfassung, die ins Auge fällt- eine besondere Bedeutung von Amt und Dienst für die Organisation des karolingischen Großreiches und die Wirksamkeit "transpersonaler Elemente" im karolingischen Herrschaftssystem sind bis heute gesicherter Stand der Forschunggo -, als vielmehr die Art, wie die Aussagen der Quellen stets von den Begriffen und Institutionen des ständischen Staates her erlaßt und gedeutet werden. Immer wieder schimmert das Verfassungsgerüst des alten Reiches und der Territorien durch die Interpretationen hindurch. Dies, obwohl Eichhorn einerseits das "fränkische öffentliche Recht" als Übergang von der alten Volksverfassung zum Feudalsystem begreift und anderseits die durch Karls Kaisertum begründete geistlichweltliche Doppelgestalt und die dadurch vermittelte "zweifache Grundlage" der königlichen Gewalt deutlich sieht''. So wird auf die Erb- und Thronfolgeregelungen der Capitularien der dem ständestaatliehen Verfassungssystem zugehörige Begriff eines "Grundgesetzes der Monarchie" angewandt92• Die Sendgrafschaften ss Vgl. Bd. 1, S. 724-27; 743--46. 89 Für Austrasien nimmt er eine durchgehende Einteilung in Dukate und Comitate an, die von königlichen Beamten verwaltet werden; jeder Dukat besteht aus mehreren Comitaten, vgl. Bd. 1, S. 460--62. "Die Gauverfassung ist im ganzen wohl allenthalben dieselbe gewesen" (460). Für die "Unterabteilungen" der gräflichen Sprengel, die Centen, heißt es, daß diese zwar als solche nicht überall auffindbar seien, aber "allenthalben muß wenigstens die rechtliche Bedeutung der Unterabteilungen des Gaus dem Begriff der Centen entsprochen haben" (432) -ein typisches Beispiel für eine von einem vorgefaßten Verfassungsbild bewirkte Verallgemeinerung. 90 Neuestens etwa Theodor Mayer, Staatsauffassung der Karolingerzeit: Das Königtum, S. 169 ff; Gerd Tellenbach, Europa im Zeitalter der Karolinger: Historia Mundi V, insbes. S. 409-14, mit allerdings beträchtlichen Korrekturen am hergebrachten Bild vom Staat Karls d. Gr.; ähnlich auch Mitteis, Adelsherrschaft, S. 238/39. et Vgl. Bd. 1, S. 667 ff., 576 ff. 92 Vgl. etwa Bd. 1, S. 588, 593/94, ferner 623-25. Zum Begriff der Grundgesetze der Nation und ihrer Bedeutung in Frankreich Robert Holtzmann, Französische Verfassungsgeschichte, S. 643 147.

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haben, wie schon bei Möser, alle Funktionen eines königlichen Oberaufsichts- und Eingriffsorgans gegenüber der Provinzialverwaltung. Ihnen obliegt die Aufsicht über die "Vollziehung der allgemeinen Gesetze" und der Heeresdienstanordnungen, die Ausübung höherer Gerichtsbarkeit, die Aufsicht über königliche und geistliche Güter, endlich die Verhandlung der "allgemeinen Provinzialangelegenheiten", d. h. Bekanntgabe und Annahme von Gesetzen, Polizeiaufsicht, Beamtenkontrolle etc., auf dazu einberufenen "allgemeinen Provinziallandtagen" 91 • Diese werden beschickt von den kirchlichen und königlichen Beamten und Unterbeamten des Bezirks, den königlichen Vasallen und etlichen Schöffen". Die Versammlungen der geistlichen und weltlichen Großen erhalten den Charakter verfassungsmäßiger Reichstage, sie sind ein ausgebildetes "Institut des öffentlichen Rechts" und ihre Mitglieder Reichsstände im spezifischen Sinn95• Dem entsprechen Zusammensetzung und Verfahren: Stimmführende Reichsstände sind vom geistlichen Stand Bischöfe und Äbte, vom weltlichen der Adel bzw. dieTräger von Staats- und Hofämtern. Der König gibt jeweils die Beratungspunkte an die Stände, diese legen nach Verhandlung und Beschlußfassung ihre Ergebnisse vor; bei königlicher Zustimmung werden sie von allen unterschrieben und erhalten Gesetzeskraft. In geistlichen Angelegenheiten verhandeln Bischöfe und Äbte gesondert; der Reichstag tritt in "zwei Kurien" auseinander96. Schließlich besteht ein dreistufiges System königlicher Gerichte. Als erstes das Grafengericht, dem grundsätzlich noch "jede Person" unterworfen war - Immunität bedeutet nur erst "Vertretung" vor dem öffentlichen Gericht, nicht öffentliches Gericht des Immunitätsherrn selbst87 - , mit Ausnahme der Geistlichkeit, der Privilegien zukamen; darüber das Gericht des missus, einerseits als Beschwerde- und Revisionsinstanz, anderseits mit weiterer, dem königlichen Pfalzgericht an93 Vgl. Eichhorn, Bd. 1, S. 580--83 (allgemein) und 678-80 (Einzelaufzählung). 94 Bd. 1, S. 678-80. 95 Vgl. Bd. 1, S. 682 ft., über die Reichsstände auch schon Bd. 1, S. 580 Anm. e, 590 Anm. b. 96 Vgl. Bd. 1, S. 682-85. Nach der Reichstagsverfassung des 17.118 Jh. gab der Kaiser durch das Direktorium die Beratungspunkte an die Kollegien der Kurfürsten und Fürsten. Deren übereinstimmender Beschluß wurde, wenn er auch von den Städten gebilligt war, als "consultum imperii" dem Kaiser zur Sanktion vorgelegt, durch die er den Charakter des Reichsschlusses (conclusum imperii) erhielt und Gesetzeskraft erlangte. In Religionssachen trat der Reichstag in das corpus catholicorum und corpus evangelicorum auseinander. Vgl. Schwerin-Thi eme, Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, S. 291; Schröder-v. Künssberg, Lehrbuch, S. 607 f. t7 Vgl. Bd. 1, S. 308-10, 471/72.

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genäherter Kompetenz auch als erstinstanzliebes Gericht; endlich das höchste königliche Gericht als Appellationshof und als Erstgericht für Bischöfe, Äbte und Grafen98• Um auch unterhalb der Grafengerichte dieses einheitliche System fortbauen zu können, werden die hier sehr unterschiedlichen Aussagen der Quellen als lediglich landschaftlich verschiedene Benennungen der gleichen Einrichtung, nämlich des Hundertschaftsrichters, erklärt99 • Es versteht sich von selbst, daß in dieser ausgebauten, schon ganz "staatlichen" Verfassung die Fehde keinen eigentlichen Ort haben kann. Sie erscheint als Institut der prozessualen Selbsthilfe. Wegen Raub, Mord und Friedensbruch, der abstrakt als Bruch des allgemeinen staatlichen Rechtsfriedens verstanden wird, war auch "Privathilfe und Selbstrache, Fehde, rechtmäßig'uoo. 3. In ähnlicher Weise ist die Auffassung und Interpretation der Rechtsquellen von "staatlichen" Verhältnissen angeregt und bestimmt. Die Entgegensetzung von Gesetzes- und Gewohnheitsrecht sowie Gesetzes- und Vertragsrecht101 , von volksbeschlossenen Gesetzen und königlichen Verordnungen102, die Zugrundelegung eines einheitlichen, in der Regel über das gesamte Stammes- bzw. Staatsgebiet sich erstreckenden Geltungsbereichs der Rechtsquellen103, die stete Vermutung für die durchgängige tatsächliche Befolgung einmal gesetzter oder vereinbarter rechtlicher Normen, sind dafür kennzeichnend. Die Volksrechte erscheinen, gemäß ihren Vorreden, als Aufzeichnungen alten Gewohnheitsrechts, von erfahrenen Männern aufgeschrieben; vom König kommt nur die Anregung, nicht die inhaltliche Gestaltung10'. Sie bedürfen der "Annahme" durch die Volksgemeinden als "verbindende Gesetze", und wenngleich die Formen dafür Eichhorn nicht genau bekannt sind, ist die Zustimmung des Adels allein jedenfalls nicht ausreichend10~. Das widerspräche der geschichtlich-organischen Rechtsauffassung. Wie später Bd. 1, S. 690 ff. Vgl. Bd.l, S. 690--93. 100 Bd. 1, S. 441 f. Zum Problem der Fehde in der mittelalterlichen Ordnung allgemein Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 21-46, 119-123. 101 Vgl. Bd. 1, S. 605----607. 1o2 Bd. 1, S. 612-14, 626---28. 103 So wird den Capitularien Karls d. Gr. und Ludwigs d. Frommen die Funktion zugeschrieben, ein "gemeines Recht" des Gesamtreiches im Gegensatz zu den Volksrechten festzulegen, also ihre einheitliche Geltung für das Gesamtreich unterstellt (Bd. 1, S. 611 ff.); Bd. 1, S. 626 sind die Capitularien "eine Art Reichsgesetzgebung durch Verordnung", bei der Interpretation der karolingischen Gerichtsverfassung werden sie ebenfalls als allgemein geltende Rechtssätze aufgeiaßt (Bd. 1, S. 690--93). 10' Vgl. Bd. 1, S. 224-28; zur sachlichen Korrektur Mitteis-Lieberich, Deutsche Rechtsgeschichte, S. 59-61. 1os Vgl. Bd. 1, S. 228/29. us Eichhorn,

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Waitz und dessen Nachfolger, bestimmt Eichhorn den Unterschied zwischen den Leges und den Capitularien nach dem zwischen Gesetz und Verordnung. Kriterium der Abgrenzung ist Maß und Art der Volksbeteiligung bzw. das Eigenrecht der königlichen Gewalt106• Der ständestaatliehe Dualismus, in konstitutionelle Formen übergehend, bietet das AnschauungsmateriaL In den "Augen der Völker" sind die Capitularien anfangs "nur Verordnungen, welche die Reichsstände verpflichten", erst nach Annahme durch die Volksgemeinden können sie den Volksrechten gleichgestellt werden107• Die strukturelle Gleichartigkeit beider, als verschiedene Ausdrucksformen einer rechtsetzenden Gewalt, der potentiell gleiche Adressatenkreis: alle Freien bzw. Untertanen, ist dabei immer vorausgesetzt108• Für das hohe und spätere Mittelalter stellt Eichhorn die Rechtsquellen unter die Entgegensetzung von Gesetz und Autonomie109 ; Gesetz ist das auferlegte, von einer höheren Gewalt gegebene Recht, Autonomie das vereinbarte, gewillkürte Recht110 • Auch hier sind sachliche Unterschiede getroffen, aber für ihre Interpretation steht der ausgebildete Ständestaat Pate, für den der Gegensatz von staatlicher "potestas legislatoria" und ständischer bzw. privater Autonomie eine maßgebliche Bedeutung hatte111 • Das für die Rechtsbildungen in einer unstaatlichen, durch zahlreiche konkrete Herrschaftsbeziehungen gekennzeichneten Ordnung Charakteristische, daß sie meist gerade in der Mitte zwischen Autonomie und Gesetz stehen, weder nur vereinbart noch einseitig auferlegt oder gewährt sind, fällt dabei heraus112• So erscheinen die DienstBd. 1, S. 612-14. Bd. 1, S. 613/14, 627/28. 108 Die Begriffe Capitularia und Lex erscheinen als "technische Ausdrücke" für "Gesetze" von verschiedener Bedeutung, Bd. 1, S. 628. Auf Grund der neueren Forschungen, die den einheitlichen Staatsverband wie auch den Stand der Gemeinfreien in den Bereich juristisch-literarischer Konstruktion verwiesen haben, wird überhaupt zu fragen sein, inwieweit Volksrechte und Capitularien den gleichen Adressatenkreis betreffen, ob nicht jene in erster Linie für die Hoch- und Vollfreien, also die größeren und kleineren Herren, diese aber, sofern sie nicht lediglich Aufträge an die missi enthielten, in erster Linie für die Militäransiedler, die sog. Königsfreien galten. Vgl. dazu die Bem. von Theodor Mayer, Nachwort zu H. Hirsch, Hohe Gerichtsbarkeit, 2. Auft. 1958, S. 247 f. Über Geltungsgrund, Geltungsbereich, Inhalt und Funktion der Capitularien im allgemeinen, allerdings z. T. in staatlichem Schema, Francais L. Ganshof, Wat warende Capitularien? 3. Auft. 1955. 101 Vgl. die Gliederungsübersicht Bd. 2, S. IX. uo Vgl. Bd. 2, S. 211. 111 Dazu etwa Johann Stephan Pütter, Institutiones juris publici germanici, 1770, § 217, S. 202/3, wo der landesherrlichen potestas legislatoria die Autonomie der adligen Familien, der Städte, Gaue und Provinzen gegenübergestellt und als "libertas propriis vivendi legibus" bestimmt wird. u2 Zum Problem vgl. auch W. Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Aufl. (1958), S . 42-53. 1oe 1o1

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rechte des Mittelalters als vertragsweise Interessentenübereinkünfte und die Stadtrechtsverleihungen durch Privileg als "Landesgesetze"ua, weil sie einseitige "Verleihungen" der öffentlichen Gewalt sind. Diese an den Verhältnissen des ständisch-konstitutionellen Staates orientierte Auffassung der Rechtsquellen bleibt nun notwendigerweise nicht eine isolierte vorgefaßte Interpretation. Wenn etwa Leges, Capitularien und die späteren königlichen Constitutiones als staatliche Rechtsetzungsakte, ihr Inhalt als "gemeines" Stammes- bzw. Reichsrecht verstanden werden, so sind darin weitere Folge-Interpretationen beschlossen. Es liegt dann nahe, den wirklichen Verfassungszustand an den "geltenden" Gesetzen abzugreifen; von einem einheitlichen "fränkischen öffentlichen Recht" auszugehen; die in diesen Rechtsquellen gebrauchten rechtlichen Begriffe, wie etwa die "liberi" und die Heerespflicht als Bezeichnung allgemeiner, einer staatlich geordneten Wirklichkeit zugehörigen Verhältnisse aufzufassen; die etwa in den Capitularien erwähten gerichtlichen und verwaltungsmäßigen Institutionen als durchgehende, sich über das ganze Staatsgebiet erstreckende zu verstehen; die verfasungs- und ständerechtliehen Verhältnisse für das 12./13. Jh. fast allein nach den Rechtsbüchern als Aufzeichnungen des "gemeinen Rechts" zu bestimmen. Alles das läßt sich bei Eichhorn nachweisen"'. Solche Interpretationen entsprechen sich, ja bringen sich als aufeinander angewiesen wechselseitig hervor. Sie weisen damit zurück auf das gemeinsam zugrunde liegende, Fragestellung und Blickrichtung hervortreibende Verfassungsbild. 4. Am deutlichsten tritt dieses bei Eichhorn wirksame Staats- und Verfassungsbild bei der Schilderung der Ständeverhältnisse und der Ständeentwicklung hervor. Bis in die Zeit des ausgebildeten ständischen Territorialstaates hinein behandelt er die Stände unter dem Abschnitt: Privatrecht Abt. 1: Personenrecht Das ist nun nicht nur eine durch die Erfordernisse einer systematischen Gliederung bedingte Äußerlichkeit, sondern dahinter steht die Auffassung der Stände als sozialständischer Klassen bevorzugten oder minderen Rechts auf dem Boden einer einheitlichen Bürger- oder Untertanengesellschaft, wie sie sich im 18. Jh. herausbildete bzw. herausgebildet hatte115• Das herrschaftlich-politische Bildungsprinzip und Wesen der Stände, wie es für eine Ordnung charakt eristisch ist, in der es weder eine einheitliche, alle hoheitliche Zwangsgewalt grundsätzlich bei sich monopolisierende Staatsgewalt, noch einen Vgl. Eichhorn, Bd. 2, S. 202-5, 215 f. Zum einheitlichen öffentlichen Recht vgl. Bd. 1, S. 667 ff.; zur "staatlichen" Interpretation der Begriffe der Capitularien vgl. die Nachweise oben S. 59 f. und unten Ziff. 4, S. 63/64; zur geschlossenen Verwaltungs- und Gerichtsorganisation oben Ziff. 2; zu den Rechtsbüchern als Grundlage der Verfassungs- und Ständeverhältnisse des 12./13. Jh. vgl. Bd. 2, S. 561 f . us Vgl. oben Kap. 1 111, 1, S. 34 f. 11a

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einheitlichen Friedens- und Untertanenverband gibt, drängt sich nur an einigen Stellen beiläufig auf, nirgends aber wird es als das eigentlich bestimmende Prinzip erkannt und zugrunde gelegt. Schon für die Zeit des Tacitus geht Eichhorn von einem sozialständisch gegliederten Gemeinwesen aus. Adel, Freie, Halb- und Unfreie sind die durchgehenden Stände116• Der Adel ist nicht autogener Herrschaftsträger, sondern sozialer Stand mit gewissen politischen "Vorrechten"; die Halb- und Unfreien sind "pfl.ichtige Mitglieder", analog zum ausgebildeten Ständestaat nach "dinglichen" und "persönlichen" Abhängigkeiten mannigfach differenziert117• Die Wergeldskala der Volksrechte hat für ihn nicht eine amts- oder herrschaftsrechtliche Grundlage118, sondern ist Ausdruck des sozialständischen Stufenbaus. Nach dem Wergeld unterscheiden sich die "Klassen" der Freien, Halb- und Unfreien und auch die innerhalb der Freien selbst119• Adel ist nach seinem "ursprünglichen Begriff" höhere Freienklasse und erblicher Geburtsstand mit erblichen Vorzugsrechten120• Das Problem des fränkischen Adels, das sich dann ergeben muß, weil die fränkischen Volksrechte keinen Adel kennen und höheres Wergeld nur für königliche Antrustionen und homines regi vorsehen121, wird beantwortet, indem die Antrustionen auf den geburtsbestimmten Geschlechtsund Gefolgschaftsadel zurückgeführt werden. Die nur dem Adel zukommende Unterhaltung eines Gefolges wird von Eichhorn zur Voraussetzung des Antrustionenverhältnisses erklärt122 • Die Freien erscheinen als die Vollbürger des genossenschaftlichen Staatsverbandes: "die vollkommene Freiheit hing noch immer von der Rechtsgenossenschaft in einer Volksgemeinde ab, daher der Gebrauch des Volksnamens zugleich die Bezeichnung der vollkommenen Freiheit ist" 123• Die hier angehängte Folgerung ist von besonderem Interesse. Von der Voraussetzung des volksgenossenschaftliehen Staatsverbandes her ist es in der Tat naheliegend, alle mit dem Volksnamen Bezeichneten zu den "Freien" als dem staatstragenden Stand zu zählen. Konkret bedeutet das, daß die "franci homines", die auf Königsland gegen Heerpflicht und Bd. 1, S. 67---68. Bd. 1, S . 67-70, 72-78. 118 Theodor Mayer, Königsfreie, S. 25-34, weist auf eine doppelte Standesgliederung in der Wergeldordnung der Lex Salica hin, nach altem Volksrecht und nach Königsrecht, und macht wahrscheinlich, daß die sog. halbfreien "laeti" in Wahrheit königsfreie Militärkolonisten sind. m Vgl. Bd. 1, S. 301-3. 120 Bd. 1, S. 303-5, auch 308-10. 121 Vgl. Lex Salica Tit. 41, 5 (65-Titel-Text). 122 Vgl. Bd. 1, S. 306-8. 123 Eichhorn, Bd. 1, S. 314. 116

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Zins vielerorts angesiedelten Militärkolonisten bzw. Königsfreien124, als die Freien und das eigentliche Volk gesetzt werden. Daraus folgt dann weiter, daß alle Bestimmungen, die sich auf diese homines franci beziehen, wie jene über Heerespflicht, Organisation in centenen, Wahl der Unterrichter, zu allgemeinen Verfassungselementen werden, eben weil sie den allgemeinen Freienstand betreffen. So macht das vorausgesetzte sozialständische Modell aus dem besonderen status der königlichen Militärkolonisten den allgemeinen Staatsbürger-Status der sog. freien Franken; andere herrschaftliche Statusverhältnisse, etwa das Stehen in einer Grund- oder Vogteiherrschaft, können nun nurmehr an diesem allgemeinen Status gemessen und müssen daher selbst als ein solcher begriffen werden. In diesem Sinne stehen den Freien die Unfreien und Halbfreien gegenüber. Sie bestimmen sich nach dem Grad der Abhängigkeit und Dienstbarkeit zu anderen privaten Personen125• "In Beziehung auf den Privatstand sind die Menschen entweder der Gewalt eines andern unterworfen oder nicht125." Dem entsprechen weitere Definitionen. Muntgewalt ist der "Inbegriff der Rechte und Verbindlichkeiten, welche jemand in Absicht einer Person und ihres Vermögens zustehen, die sich selbst gegen Verletzungen zu schützen nicht im Stande ist", und die Familie eine von ihren sämtlichen Gliedern gebildete "Art von Verein zum Schutz gegen Verletzungen ihres Eigentums und ihrer Person durch einen Dritten" 127• Ausgebildete staatliche Ordnung und befriedete Gesellschaft sind in diesen Definitionen vorausgesetzt; der Schutzgedanke ist ganz auf den Bereich des privaten Personenrechts verlagert, seine Notwendigkeit ergibt sich erst aus dem Zusammenhang von Freiheit und Gerichtsverfassung. In der öffentlichen Verfassung haben Munt und Haus keinen Ort128• Für die karolingische Zeit wird Eichhorn mit dem Problem des zunehmenden Übergangs königsfreier Militäransiedler in kirchliche und weit124

Daß es sich bei den sog. Gemeinfreien der fränkisch-karolingischen Zeit

um solche auf Königsland gegen Zins und Heerespflicht angesiedelte Militär-

kolonisten handelt, deren "Freiheit" in der unmittelbaren Beziehung ihres konkreten Rechts-Status zum König bestand, darf heute bereits als gesicherter Forsch!ungsstand betrachtet werden. Vgl. die oben Kap. 1, Note 21 angeführte Literatur. Mitteis, Adelsherrschaft, S. 236 spricht von den Gemeinfreien bereits als einer "zeitgenössischen juristischen Konstruktion". Die alte Theorie noch bei H. Conrad, Rechtsgeschichte, S. 157 f. 12s Vgl. Eichhorn, Bd. 1, S. 318 ff. 128 Bd. 1, S. 337. 127 Bd. 1, S. 337/38. 12a Vgl. demgegenüber Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 292 ff. über das Haus als Bauelement der politischen Verfassung in der mittelalterlichen Welt. Über die herrschaftlich-politische Seite der Munt und ihre Bedeutung für den ganzen Bereich des engeren Königsschutzes eingehend, wenn auch z. T. überbetont und einseitig, A. Waas, Herrschaft und Staat im deutschen Frühmittelalter, zusammenfassend S. 334-40.

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liehe Grund- bzw. Vogteiherrschaften konfrontiert. Diese traten dadurch in eine neue Herrschafts- und Schutzbeziehung, wurden aber weder ohne weiteres der Heerbannpflicht ledig, noch fielen sie sogleich in den Status eines Hörigen hinab 129• Eichhorn deutet diesen Vorgang als Zunahme von Schutzherrschaften, welche jedoch zunächst nur "ein besonderes dingliches Verhältnis", nicht persönliche Abhängigkeit und Standesverschiedenheit begründeten130• Er hält an dem allgemeinen Stand der Freien fest, indem er als rechtliches Kriterium der Freiheit nun die fortbestehende "Reichskriegsdienstpflicht" annimmt, womit er freilich von der Folge auf die Ursache schließt131 • Gleichwohl aber muß er feststellen, daß die Geburtsunterschiede, welche er unausgesprochen als die eigentlich bestimmenden zugrunde legt, zunehmend verblassen gegenüber der Angewiesenheit auf Schutz, der Verpflichtung zu bestimmten Diensten usw132• Diese Einsicht bleibt jedoch ohne Folgerung. Für die Verhältnisse des 10.-13.Jh. gerätEichhorndann in das typische Dilemma einer sozialständischen Betrachtung. Um alle durch die herrschaftlich-politischen Umbildungen dieser Zeit geschaffenen Differenzierungen und Neuschichtungen im Rahmen des sozialständischen Modells zu erfassen, entwickelt er eine Vielzahl von Sufen und Halbstufen innerhalb von Freiheit und Unfreiheit, jeweils im Sinne durchgehender Gliederungen der einheitlichen Staatsgesellschaft Die allgemeinen Merkmale der Abgrenzung, die der von ihm vorausgesetzte Ständebegriff impliziert, als solche anzugeben, ist ihm nicht möglich133• Das ist nicht zufällig, weil sich die Bildung der Stände gar nicht nach solchen allgemeinen Merkmalen, sondern jeweils konkret, nach ihrer zu vielgestaltiger Differenzierung und Abstufung fähigen Stellung innerhalb konkreter Herrschaftsbeziehungen vollzog134• Das Ergebnis dieser Betrachtung sind für die Zeit vom 10.-13. Jh. sieben "Stände": Unfreie, Semperfreie, 129 Eine gute Beschreibung und verfassungsgeschichtliche Erhellung dieses Vorganges bei Theodor Mayer, Königsfreie, S. 40-54. 1 so Vgl. Bd. 1, S. 805-7, ferner die SchilderungS. 724-27. 131 Vgl. Bd. 1, S. 810/11. 13 2 Bd. 1, S. 810-12. Kennzeichnend die Feststellung Bd. 2, S. 74: "Mit dem Austritt aus der Heerfolge wurde der gemeine Freie, wenn er nicht einen andern Stützpunkt seiner Unabhängigkeit fand, der Hintersasse seines Schutzherrn, dem er zum Reichsdienst steuerte." 133 Vgl. die Bemerkung Bd. 2, S. 575; ferner auch S. 563. 134 Das ist ausgezeichnet sichtbar gemacht und erklärt bei H. Strahm, Stadtluft macht frei, a. a. 0., S. 105-21. Die dabei an einigen Stellen mißverständliche Terminologie Strahrns, an die Peter Liver, Sav. Zs. Germ. Abt., Bd. 76, S. 374 seine scharfen Einwendungen anknüpft, ist gegenüber dieser strukturellen Erkenntnis unbedeutend. - Gegen den Einwand, daß aber doch im mittelalterlichen Denken selbst die Stände sozial, unabhängig von politischen Gebilden und über sie hinweg, zusammengefaßt werden, vgl. die treffenden Bemerkungen von Otto Brunner, Land u. Herrschaft, S. 461 f., der den Ursprung dieser Kennzeichnungen in der kirchlichen Sitten- und Morallehre aufweist.

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Mittelfreie, freie Landsassen, Vogtleute und Hintersassen, Ministerialen, Vasallen135• Jeder dieser Stände wird geburts- und sozialständisch zu erklären versucht, wobei die Verhältnisse des ausgebauten Ständestaats vielfach das Konstruktionsmodell abgeben136• So wird für

fassungsgeschichte von der politisch-sozialen Wirklichkeit her, die sie umgab; bei der Germanistengeneration ist es hingegen die erstrebte, erst noch zu verwirklichende Verfassung, das politische Programm, das Sichtweise und Urteil bestimmt. Das entspricht genau der erwähnten Veränderung im Verhältnis zur Geschichte selbst. Möser und Eichhorn standen noch in der Geschichte, in der ungebrochenen Kontinuität ihres Fortgangs; so verblieb ihre Fragestellung im Rahmen des geschichtlich Gegebenen. Die Germanistengeneration steht außerhalb der Geschichte und ihrer Kontinuität, knüpft aus bewußter Zielsetzung an sie an; so kommt auch ihre Fragestellung von außen, vom Nationalen her. Allerdings ist dies Nationale selbst wieder geschichtlich orientiert, empfängt seinen Inhalt mit aus der Geschichte, weswegen die Diskrepanz in etwa überbrückt wird und nicht allzu offen hervortritt. 2. Die Wechselbeziehung von geschichtlicher Forschung und politischem Programm, die sich hier auftut, kommt am deutlichsten in der vielberufenen "germanischen Freiheit" zum Ausdruck. Die Idee der altgermanischen Freiheit hatte eine lange Geschichte. Entzündet hatte sie sich an der Germania des Tacitus, die im 15. Jh. wieder aufgefunden wurde45, bei den Humanisten diente sie zur Abwehr kaiserlicher, dem römischen Recht entnommener Herrschaftsansprüche46 , F. Hotman und die französische Fronde spielten sie zur Verteidigung der Adelsfreiheiten gegen das zentralisierende, die Zwischengewalten entrechtende Königtum aus47, Montesquieu sah sie als Grundlage der Verfassung Englands, deren Ursprung er in die germanischen Wälder verlegte18• Bei Möser und in der französischen Enzyklopädie erscheint sie als Inbegriff einer staatsbürgerlich-genossenschaftlichen Ordnung, die dem auf Herrschaft und Abhängigkeit beruhenden Feudalwesen entgegengestellt wird49• In der so vorgezeichneten Frontstellung, einerseits gegen die zentralisierenden und egalisierenden Tendenzen des Absolutismus, anderseits gegen Feudalsystem und Patrimonialherrschaft, wird die germanische Freiheit für die vormärzliehen Liberalen und Germanisten die Grundlage der nationalen Staatsgestaltung50• Sie bedeutet nun den ursprünglichen und reinen Ausdruck des nationalen Wesens, der noch durch 45 Vgl. E. Hölzle, Altgerman. Freiheit, S. 6; Lemberg, Nationalismus, S. 144 ff.; die Fortwirkung noch bei H. Luden, Über das Studium, S. 37/38. 4 R HölzZe, Altgerman. Freiheit, S. 11-14. 47 Otto Brunner, Feudalismus, S. 596 f.; Hölzle, Altgerman. Freiheit, S. 47 bis 52; v. Raumer, Absoluter Staat, S. 88/89. 4H De l'esprit des lois, Buch 11, cap. 6, a. a. 0., Bd. 1, S. 228. ' 9 Zu Möser oben Kap. 1 III 2; für die französische Enzyklopädie Eberhard Weis, a. a. 0., S. 26-29, 35-37, 47 f. -~0 Vgl. dazu W. Samtleb en, Die Idee einer altgermanischen Freiheit im vormärzliehen deutschen Liberalismus, 1935, S. 62-U5.

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keinerlei fremde Einflüsse überlagert ist51 • Ihre Formen und Institutionen wiederherzustellen, heißt die Geschichte in der Gegenwart zur Geltung bringen und die eigene nationale Kontinuität gegen fremde Überlagerung, sei es Absolutismus oder Revolution, zu wahren. Schwurgerichte, Volkswehr, Volksrepräsentation, gesetzliche Freiheit, Beistimmung zu Gesetzen und Steuern, Gemeindefreiheit, Bindung des politischen Rechts an freies Eigentum u. ä. erscheinen so als Ausfluß und zeitgemäße Form der alten germanischen Freiheit52• Es ist schwer zu sagen, inwieweit hier das Geschichtliche das Politische oder das Politische das Geschichtliche bestimmt hat. Sicher kam es vielfach zunächst auf die politischen Forderungen als solche an, und die geschichtliche Begründung mochte sie nur unterstützen53• Aber anderseits knüpfte man an eine alte Tradition a:n, hinter der ein echter geschichtlicher Glaube wirksam war. Es wurde nicht einfach eine politische Forderung aufgestellt, sondern eine geschichtliche Kontinuität behauptet, die geschichtliche Stetigkeit der Freiheit, welche man nur überdeckt, aber nie abgerissen glaubte, als unverlierbares Erbe des eigenen Volks54 • "Der Grundcharakter des gemeinschaftlichen deutschen Staatsrechts ist die deutsche Freiheit", heißt es im Staatslexikon von Rotteck-Welcker5 • Insofern kann man in der Tat mit E. Hölzle von 51 Vgl. etwa Jakob Grimm in der Paulskirchenversammlung, Stenogr. Ber. Bd. 2, S. 1310: "Die Freiheit war in unserer Mitte, solange deutsche Geschichte steht, die Freiheit ist der Grund all unserer Rechte von jeher gewesen; so schon in der ältesten Zeit." sz Allgemein und insbes. für Schwurgerichte und Volkswehr vgl. Samtleben, a. a. 0., S. 62-65; für Volksrepräsentation, Beistimmung zu Gesetzen, Gemeindefreiheit: ebend., S. 33-35 in bezugauf Welcker, ferner Staats-Lexikon, Art. Deutsches Landesstaatsrecht (Welcker) Bd. 4, S. 346 ff., 365 ff.; für Verwilligung von Steuern ebend. S. 368; für Volksrepräsentation und die Bindung des politischen Rechts an freies Eigentum ferner Staatslexikon, Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 474 f.; Dahlmann, Politik, S. 130/31. Ganz im Sinne des konstitutionellen Systems beschreibt Georg Waitz die altdeutsche politische Freiheit als "Anteil an den staatlichen Angelegenheiten", vgl. Verfassungsgeschichte, Bd. 6, 1. Aufl., S. 407.

In diesem Sinn Samtleben, a. a. 0., S. 65. Das hat jüngst E. Hölzle, Bruch und Kontinuität im Werden der deutschen Freiheit, a. a. 0., insbes. S. 166-68 einleuchtend dargetan. Typisch für diese Haltung der Artikel "Deutsches Landesstaatsrecht" im Staatslexikon; er entwickelt ein "gemeinschaftliches deutsches Staatsrecht" als Ergebnis der deutschen Geschichte - ein Gegenstück zum gemeinen deutschen Privatrecht der Germanisten, vgl. Staatslexikon, Bd. 4, S. 338-343. Bei der Gründung des Deutschen Bundes hätten diese "auf altes, unerloschenes Recht gegründeten staatsrechtlichen Ansprüche der deutschen Nation und der deutschen Bürger" weder zerstört werden können noch sollen (S. 341). Inhaltlich handelt es sich um die Grundforderungen des vormärzliehen Konstitutionalismus, vgl. ebend. s. 365 ff. 35 Bd. 4 (Art. Deutsches Landesstaatsrecht), S. 343. 53

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einem eigenen Weg zur modernen Freiheit neben dem Naturrecht, dem Weg der geschichtlichen Freiheit, sprechense. Wie aber wird nun diese geschichtliche, germanische Freiheit inhaltlich bestimmt? Schon bei Eichhorn sahen wir, wie bestimmte Eigentümlichkeiten der mittelalterlichen Ordnung, die auf deren unstaatlichem Charakter beruhten, von seinem vorausgesetzten Staatsbild her als Elemente der Staatsbürgerfreiheit innerhalb und gegenüber dem "Staat" verstanden wurden57• Diese Art von Interpretation wird nun allgemein. Was in Mösers Schilderung der altsächsischen Verfassung schon vorgebildet ist, wird hier weiter ausgeführt. Die altgermanische Freiheit ist die gesetzliche Staatsbürger-Freiheit, die Verbindung von Freiheit und Gesetzlichkeit im volksgenossenschaftliehen Staatsverband. Dahlmann sieht sie am reinsten ausgeprägt in der sächsischen Verfassung; diese war die freieste und zugleich gesetzlichste58• Von den Sachsen nach England verpflanzt, erhielten die Prinzipien der germanischen Freiheit dort ihre ideale Ausformung und Fortentwicklung in der harmonischen Einheit von Königtum, Adel und freiem Volk59• Hier ist die germanische Freiheit die genaue Vorform des erstrebten "organischen" und "deutschen", auf Ausgleich und Evolution gerichteten Konstitutionalismus80 • Ein ähnliches und für das Denken der Zeit symptomatisches Bild gibt uns das Staatslexikon von Rotteck-Welcker; Welcker hat die einschlägigen Beiträge allermeist verfaßt. Die Zeit der altgermanischen Freiheit war danach die Zeit der "freien, unmittelbaren, demokratischen Allodialund Gauverfassung" 81 • Diese stellt sich dar als eine auf bodengebundener Freiheit ruhende staatsbürgerlich-genossenschaftliche Ordnung. Sie hat ihre Grundlagen im "freien Landeigentum", den "allgemeinen, öffentlichen Genossenschaftsvereinen" und dem "öffentlichen Stimm-, Bewilu Hötzte, Bruch und Kontinuität, S. 164 f. Die Frage, ob für diese Vertreter des historischen Rechts die politischen Forderungen, die sie erhoben, auch dann gegolten hätten, wenn die Geschichte andere Resultate geliefert hätte, ist daher wenig angemessen, weil sie von einer für diese Denker und Politiker gar nicht vorhandenen Alternative ausgeht. 57 Vgl. oben Kap. 3 li 4); Eichhorn, Bd. 2, S. 623-30. 58 Kleine Schriften, S. 35 ff. 5 9 Ebend. S. 37 ff., 48. 60 Wie sehr Dahtmann von dessen Kategorien her alle geschichtlichen Erscheinungen beurteilt, zeigt seine Erklärung der Entstehung der beiden Häuser des englischen Parlaments, die völlig im sozialständisch-konstitutionellen Schema des Vormärz verbleibt. Städte, als Vertreter von Handel und beweglichem Leben, und der wandelbare Grundbesitz seien, "ihrem gemeinsamen Vorteile gemäß", in besonderer Kammer zusammengetreten; anderseits hätten sich die ritterlichen Inhaber unverkäuflicher Lehen beieinandergehalten; Dahlmann begrüßt es dann, daß die Prälaten sich nicht in einer dritten Kammer von den weltlichen Lords geschieden hätten, weil ihre "weltliche Stelle im Staate" als "Verwalter großer unveräußerlicher Ländereien" sie mit diesen vereinigt habe (Kleine Schriften, S. 48/49). 61 Art. Deutsche Staatsgeschichte, Bd. 4, S. 293.

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ligungs- und Richterrecht" jedes freien Eigentümersu. Die dinglichinstitutionelle Bindung ist der Ausgangspunkt: "Nur mit dem freien Landeigentum oder Wehrgut (Allodium) war als dem ersten auch sein zweites Vollbürgerrecht verknüpft: alles politische Stimmrecht". Ebenso auch das dritte, die "nationale Kriegsehre", d. h. Landwehrrecht und Landwehrpflicht63 • Es handelt sich um eine Territorial- bzw. Allodialfreiheit84. Sie hat einerseits ,politischen' Charakter, indem sie institutionelle Grundlage des genossenschaftlichen "Staatsvereins" ist, anderseits bürgerlich-freiheitlichen, insofern auf ihr keinerlei Belastungen und Dienste liegen außer solchen, welche auf Grund des "freien und gleichen Bewilligungs- und Stimmrechts gegen die Nation selbst zustehen"65. Eine öffentliche Regierungsgewalt erhebt sich nur für den "öffentlichen allgemeinen Vereinszweck aller Mitglieder" 66 • Hier wird eine doppelte Frontstellung sichtbar. Die germanische Freiheit ist in ihrem bürgerlich-freiheitlichen Charakter das Gegenbi1d der "Feudalfreiheit", deren Wesen die Auflösung des allgemeinen, freien und gleichen Staatsbürgervereins und seine Ersetzung durch "private" Schutz-, Dienst- und Abhängigkeitsverhältnisse ist67 • Zugleich ist sie in ihrer politisch-institutionellen Seite das Gegenbild zum allgemeinen Menschenrecht und der "naturrechtlichen Privatfreiheit" der emanzipierten bürgerlichen Gesellschaft68 • Das entspricht genau den Frage- und Frontstellungen des "organischen" Konstitutionalismus, seiner zweifachen Kampfposition gegen Feudalismus und französischen Liberalismus; die Grundlinien der germantschen Freiheit sind von daher bestimmt. 3. Dieser Vorgang greift nun auf alle Institutionen der alten Verfassung und ihre Entwicklung bzw. Veränderung über. Die historischen Stände können nicht mehr anders gedacht werden denn als Geburts62 Art. Deutsche Staatsgeschichte, Bd. 4, S. 293; ferner Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 475. 83 Vgl. Art. Adel, Bd. 1, S. 281 /82, dort das Zitat; Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 475. 64 Eine treffende Definition dieser Allodial- bzw. Territorialfreiheit gibt K. D. Hüllmann in der 1. Auft. seiner Geschichte der Stände, vgl. daselbst Bd. 1, (1806) S. 68: "Auf erblichem Grunde und Boden zu wohnen, und ein eigenes Gebiet zu besitzen; also keine Gnadengüter dem König zu verdanken, und daher zu demselben nicht in dem Privatverhältnisse der Ministerialität zu stehen: dies war das Wesen der staatsrechtlichen Freiheit im ältesten Deutschland." 85 Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 474/75. 66 Ebend. S. 475. 67 Vgl. Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 485 ff. Auf der gleichen Linie liegt die Feststellung Dahlmanns, Politik, S. 118, daß im Lehnsstaat der König eigentlicher Regent nur in den Domänen gewesen sei. 8 " Besonders deutlich im Artikel "J. Möser", Bd. 11, insbes. S. 81-83, 94 f.

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und Sozialstände auf dem Boden der Staatsbürgergesellschaft88 • Der Adel bildet "einen besonderen Stand unter den Bürgern eines Volkes, für welche mit dem juristisch anerkannten Vorzug einer besonderen Abstammung, bestimmte, vom Staat gewährte, bürgerliche oder politische Vorrechte vor den übrigen Mitbürgern verknüpft sind" 70 • Daß es einen derartigen Adel in der germanischen Zeit nicht gegeben haben kann, ist von vornherein ausgemachf1• Gegenüber Savigny, Eichhorn und sogar Jakob Grimm, die einen altgermanischen Adel angenommen hatten, appelliert der Artikel des Staatslexikons an eine tiefere, nicht nur an äußere Zeugnisse sich haltende Betrachtung der Geschichte, die auch nach der "inneren Möglichkeit" des wirklichen Geschehens frage. Diese Betrachtung führt dann zu dem Resultat, daß sich nach dem "ganzen harmonischen Zusammenhang" des deutschen Volkslebens weder Entstehung, noch Vorrecht, noch überhaupt die Wirksamkeit eines altdeutschen erblichen Geschlechtsadels begreifen lasse72• Damit ist nun allen Projektionen und Theorien vom Nationalgeist und Nationalcharakter ausdrücklich der Weg in die Geschichte geebnet. Aber worauf gründet sich diese "innere Unmöglichkeit" des germanischen Adelsstandes? Wieder sind es, ähnlich wie schon bei Möser urid Eichhorn, di.e homines liberi, die franci homines, die arimanll!i. und fribourgen. Sie alle sind freie Landeigentümer, Staatsbürger, die das Volk ausmachen und neben denen für Herrschafts- und Geschlechtsadel kein Platz isf3 • Adel entsteht erst aus dem Zerfall dieser allgemeinen deutschen Freiheit, Faustrecht und Feudalsystem bringen ihn hervor. Hier wird dann das große Gegenbild zur "edlen Einfachheit, Natürlichkeit und Würde" 74 der altgermanischen freien Allodialverfassung entworfen. Hallers Theorie der Patrimonialherrschaft, seine Leugnung des "Staates" zugunsten ausschließlicher "Privatherrschaft" erlebt ihre große Wirkung75 • Sie wird als die reale Wirklichkeit der Feudalzeit akzepsu Dem entspricht es, daß die Stände der Gegenwart "neuständisch", d. h. auf Grund einer besonderen Funktion in der Staatsgesellschaft bestimmt werden, vgl. Art. Stand, Bd. 15, S. 178: Stand im ·"politischen Sinn" bezeichnet eine staatsgesellschaftliche Hauptklasse von Personen, "deren Lebensbestimmung in der gemeinschaftlichen Förderung eines Hauptzweiges der gesellschaftlichen Aufgabe oder Kultur besteht." 1o Art. Adel, Bd. 1, S. 262. 71 Vgl. Art. Adel, Bd. 1, S. 312 : "Freiheit war der Uradel, der einzige Adel unserer deutschen Vorfahren"; ferner ebend. S. 262. 72 Art. Adel, Bd. 1, S. 279. 73 Vgl. Art. Adel, Bd. 1, S. 288/89 mit Anm. Die verschiedenen Bezeichnungen sind nur die "Ehrennamen", die überall die "Wehr- bzw. Eidgenossen" bezeichnen. 74 Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 474. "' Vg1. Art. Familienherrschaft, Bd. 5, S. 409-15; für den Zusammenhang fe:-ner G. v. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, Bd. 1, S. 1--a, 12.

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tiert78 und gibt so den Widerpart ab, an dem das Bild der altdeutschen öffentlichen, freien und gesetzlichen Verfassung, deren Verwirklichung man für die Gegenwart erstrebte, um so reiner hervortritt. Der Grundzug des Feudalsystems ist die Herrschaft von Faustrecht und U surpationsgewalt. Das freie Landeigentum gelangt in die Hand weniger Feudalherren - wer sich nicht selbst zu schützen vermag, muß sich in die Abhängigkeit der Mächtigen begeben - und wird zur Grundlage "privater" Schutz- und Abhängigkeitsverhältnisse, die von aller Teilnahme an dem "höheren Gemeinwesen" ausschließen77. Auf diese Weise entsteht der .Adel: Die "nationalen Freiheitsrechte" verblieben nur noch wenigen Familien und wurden erbliche Vorzugsrechte, Grundlage eines Geburtsstandes78. Statt der öffentlichen Verfassung herrschen die "Hauptprinzipien" des Feudalismus: "nulle terre sans seigneur", das "Prinzip der Feudaldespotie", und "jeder Baron ist König in seiner Baronie", das "Prinzip der Feudalanarchie". Die höchste Gewalt beruht auf dem "besonderen Privatvermögen" der Herrschenden, für ihre "Privatzwecke" wird sie gebraucht711. Diese Vokabeln haben ihre Tradition. Sie wurden zuerst in der Feudalismusdiskussion im Frankreich des 18. Jh. verwendet80. Diese entzündete sich an den entarteten Spätformen der altständischen Ordnung und prägte aus der antifeudalen Frontstellung der neuen bürgerlichen, auf staatsbürgerliche Gleichheit und gesetzliche Freiheit abzielenden Ordnung heraus dem Feudalsystem im ganzen den Charakter von Unfreiheit, Privatherrschaft und Usurpation auf81. Die deutschen Liberalen nahmen aus ihrer eigenen politischen Situation ein schon bekanntes Thema, dessen Aktualität durch die französische Revolution und Hallers Restaurationstheorie wachgehalten wurde, in verwandter Frontstellung von neuem auf82 • Auf diese Weise ergab sich ein für das Geschichtsverhältnis der Germanisten höchst charakteristisches Bild des Geschichtsverlaufs, das in Anfängen schon bei Möser vorgebildet war"'. Die Feudalverfassung 78 77 78 79

Art. Familienherrschaft, Bd. 5, S. 415. Art. Adel, Bd. 1, S. 312/13; Art. Allodium und Feudum, S. 478 f. Art. Adel, Bd. 1, S. 312/13. Art. Adel, Bd. 1, S. 313; Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 479. Georg Waitz, Grundzüge, S. 113 sieht es als Kriterium des Patrimonialstaats an, daß aus einem ausgedehnten Landbesitz eine Staats- bzw. staatsähnliche Bildung hervorgeht. Über Dahtmanns Bild des Feudalismus vgl. Politik, S. 118. 80 Vgl. Eberhard Weis, a. a. 0., S. 38 f., 40 f. und Otto Brunner, Feudalismus, S. 603-607. 8t Vgl. Otto Brunner, 1. c. 82 Die Frontstellung gegen den Feudalismus ist ein das ganze Jahrhundert hindurch bewahrtes Kontinuum, bei aller gegensätzlichen Auffassung im übrigen. Es tritt bei P. Rothund den ,juristischen' Rechtshistorikern am Ende des 19. Jh. ebenso auf, vgl. unten Kap. 4, I, 2; III, 1. 83 Vgl. oben Kap. 1, IV, S. 40.

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wird in allen Grundlinien als das genaue Gegenbild, die Vemeinung der staatlich-genossenschaftlichen und freiheitlichen germanischen Ordnung vorgestellt und ist aus dieser Negativität heraus in ihren tragenden Begriffen und Institutionen doch ganz an diese gebunden. Die Verfassung der germanischen Freiheit selbst aber ist der ursprüngliche und unverfälschte Ausdruck des nationalen Wesens, deren Prinzipien es in der Gegenwart wieder zu verwirklichen gilt. So wird die ganze Verfassungsgeschichte zur Entwicklungsgeschichte der nationalen, freiheitlichen Verfassungsformen und ist von diesen her in Anfang und Ziel, Gliederung und Bewertung bestimmt84• Die eigene Gegenwart vertritt die Stelle der endlichen Auflösung und Vollendung, indem die gemein-germanischen freiheitlichen Verfassungsformen, von jahrhundertelanger Überlagerung durch Feudalismus und Absolutismus befreit, wieder zur gestaltenden Kraft des nationalen Lebens werden85. Dieses Bild des Geschichtsverlaufs, das von den nationalpolitischen Zielsetzungen der Germanisten angeregt war und ihnen entsprach, erhielt nun durch das naturtheoretisch-organische Entwicklungsdenken, das den Germanisten eigen war, eine prinzipielle Legitimation. Gegen Absolutismus, Revolution und romantische Restauration setzten sie nicht nur das geschichtlich-politisch orientierte nationale Denken, sondern ebenso die eigene, geschichtlich-organische Begründungstheorie von Volk und Staat, in der ja auch der deutsche Nationalbegriff seine Wurzel hatte88. Dies war die Gegenposition zu dem abstrakt-individualistischen Sozialmodell der vernunftrechtlichen Theorie; schon bei Möser war sie vorgezeichnet87. Die Geschichte wird zum Entfaltungsraum einer "organischen" Entwicklung, die von einem bestimmten Ausgangspunkt in bestimmten Stufen auf ein bestimmtes Ziel hin verläuft. Sie untersteht damit gewissen Notwendigkeiten, "Gesetzlichkeiten", und einer immanenten Entelechie. Vom Nationalen her gesehen stand die Entfaltung und Vollendung der Volksindividualität im Vordergrund88, zum Teil, wie bei Welcker, in morphologischem Gewand89 ; von einer mehr sozial84 Symptomatisch Art. Deutsche Staatsgeschichte im Staatslexikon, Bd. 4, S. 293 ff. Allerdings verbinden sich hier die einzelnen Perioden zugleich mit einer organisch-morphologischen Einteilung, vgl. dazu Note 91. 85 Vgl. auch die Bemerkungen bei K. S. Bader, Volk, Stamm, Territorium, a. a. 0 ., S. 243/44. ss Vgl. oben I S. 77. 87 Siehe oben Kap. 1, III, 1 S . 31 f. 88 So recht deutlich bei Georg Waitz, vgl. im einzelnen unten Abschn. 2, insbes. I u. V. 89 Vgl. den Art. Deutsche Staatsgeschichte: Staatslexikon Bd. 4, S. 293 f. Für Welcker ist die Zeit seit der Reformation die Periode der Männlichkeit im Untersch1ed zu Kindheit, Jugend und Reifezeit der früheren Perioden; sie ist politisch charakterisiert als Zeit der "allgemeinen staatsbürgerlichen Freiheit und .. . Repräsentativverfassung" (S. 395).

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theoretischen Position, wie sie G. L. v. Maurer und Otto v. Gierke vertraten, war die stufenweise Ausbildung herrschaftlicher Ordnungen und der öffentlichen Gewalt aus dem vorausgesetzten Anfangszustand der vollen Freiheit und Gleichheit oder das stete Mit- und Gegeneinander von Herrschaft und Freiheit in immer neuen, sich aneinander hervorbringenden Formen bestimmend90 • Immer aber war das Ziel, auf das die Geschichte angelegt war, die erstrebte politisch-soziale Ordnung der Gegenwart. Von dort her empfängt die Geschichte ihren Sinn und die zu verwirklichende Ordnung ihre Legitimation91 •

III. Hat die bisherige Untersuchung ergeben, daß das Verhältnis zur Geschichte und die verfassungsgeschichtliche Forschung bei den Germanisten stark von ihrem nationalpolitisch-konstitutionellen Verfassungsideal bestimmt ist, so erscheint es notwendig, diesem Verfassungsideal und seinen Wurzeln nachzugehen, um damit den Ausgangspunkt der hier auftretenden spezifischen Zeitgebundenheit freizulegen. Man rechnet die Germanisten gemeinhin zu den Liberalen des Vormärz, und ihre starke Beteiligung am Paulskirchenparlament scheint das zu bestätigenn. Aber der Begriff des Liberalismus, wie er heute meist verwandt wird, ist ein zu undifferenzierter und zu weitmaschiger Begriff, als daß er die verfassungspolitische Vorstellungswelt, um die es hier geht, genau zu kennzeichnen vermöchte. Wenn für den politischen Liberalismus die Verwurzelung in der Gedankenwelt der Aufklärung und in den Ideen von 1789 charakteristisch ist, die Begründung des Staates aus dem Zusammenschluß der Individuen, die Begrenzung der staatlichen Tätigkeit auf Rechtsschutz und subsidiäre Wohlfahrtsförderung, die Garantie einer vor-staatlichen und unpolitischen individuellen Freiheitssphäre sowie strenge Teilung der Gewalten93, so sind die "Germa9° Für Maurer vgl. etwa seine "Einleitung in die Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt" und das Vorwort zur "Geschichte der Städteverfassung", Bd. 1, S. IV/V. Im einzelnen unten Abschn. 3. Für Gierke vgl. Genossenschaftsrecht, Bd. 1, S. 1--4, und unten Abschn. 4, I, 3 und 11. 01 Für Welcker hat die Periode der "Männlichkeit", die mit der Reformation beginnt, "ihren höchsten Gipfel und einen möglichen Wendepunkt zum Verfall ... wenigstens bis jetzt noch nicht erreicht", Art. Deutsche Staatsgeschichte. a. a. 0 ., S. 395. Bei Gierke bringt die Gegenwart in den Gedanken des allgemeinen Staatsbürgertums und des repräsentativen Staats die Versöhnung ,.uralter Gegensätze", Genossenschaftsrecht I, S. 10. •z Vgl. oben Note 2. 93 Dieses eigentliche liberale Verfassungssystem ist systematisch entwikkelt bei Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 123-220, 303-338; historisch bei Schnabel, Bd. 2, S. 123 ff.; vgl. ferner auch Robert v. Mohl, Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1, 1829, S. 4 ff.

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nisten" nur mit großen Vorbehalten oder gar nicht Liberale gewesen. Ebensowenig waren sie - trotz einiger Berührungspunkte" - Romantiker im Sinne Adam Müllers, Schlegels, Schellings und Görres', wie überhaupt das politische Denken der Vormärzzeit sich nicht unter der Alternative Liberalismus - Romantik begreifen läßt95 • 1. Was ihr Verfassungsideal kennzeichnet, ist ein organisches Denken, das eine harmonische Einheit und einen konstitutionellen Ausgleich zwischen der überkommenen Monarchie und der neuerwachten Volksfreiheit erstrebt, den Zusammenhang mit der geschichtlichen Tradition und den gewachsenen politischen Ordnungen erhalten will und allen radikalen oder monistischen Lösungen abgeneigt ist. Der Staat ist nicht vertragsbegründete Gesellschaft und Gebilde zweckrationaler Gestaltung, sondern eine "ursprüngliche Ordnung", ein in der Menschennatur begründetes organisches und sittliches Gemeinwesenu8 • Das politische Denken des Aristoteles87 und der durch die humanistische Tradition und Kant vermittelte Gedanke der "res publica" 98 , welcher den Staat als übergreifendes, auf die salus publica bezogenes, Herrscher wie Volk in ihren partikulären Interessen (gleicherweise) übergeordnetes öffentliches Gemeinwesen begreift, werden hier, bezogen auf die konkreten politischen Frontstellungen der Zeit, lebendig. Man steht auf dem Boden des modernen Staatsgedankens und des modernen Staatsbürgertums und insoweit auch auf dem Boden der Prinzipien von 1789, mit scharfer Wendung gegen alle "Privatherrschaft". Aber die Volksfreiheit, die man erstrebt, ist nicht die "negative" Freiheit der emanzipierten, politisch freigesetzten Erwerbsgesellschaft, sondern die gebundene, Recht und Pflicht in sich begreifende "positive" Freiheit, der Bürger-Status in einer noch unentzweit gedachten Ordnung, für die der altgermanische Landeigentümerstaat das selbstgeschaffene Vorbild abgibtue. Gesetzlichkeit, politische Repräsentation, Beistimmung zu Gesetzen, Verwilligung von Steu84 Vor allem mit der Organismusidee und Immanenzphilosophie Schellings, was insbes. bei G Waitz und Otto v. Gierke hervortritt, vgl. unten Abschn. 2 und 4. Im übrigen A. Neumeister, Romantische Elemente im Denken der liberalen Führer des Vormärz, Diss. phil. Leipzig 1931. 95 Dies gegen die sonst sehr ertragreiche Arbeit von Neumeister. 96 Dahtmann, Politik, S. 3 f; Waitz, Grundzüge, S. 5; ferner Neumeister, Romantische Elemente, S. 70 ff., und neuestens E. R. Huber, Bd. 2, S. 374 ff. 97 Über die Wirksamkeit des Aristoteles bei Dahlmann vgl. Hötzte, Dahlmann und der Staat, S. 344 f. Im übrigen wurde das Denken des Aristoteles. durch Adolf Trendelenburg, der von 1836-72 in Berlin Philosophie lehrte, auch an die Germanisten vermittelt, vgl. jetzt A. R. Weiss, Fr~edrich Adolf Trendelenburg und das Naturrecht im 19. Jahrhundert, 1960. 98 Über die humanistische Tradition Franz Schnabel, Das humanistische Bi1dung,sgut im Wandel von Staat und Gesellschaft, 1956; für Kant vgl. Metaphysik der Sitten, Teil I, § 52. 98 Vgl. Staatslexikon, Art. Möser, Bd. 11, S. 94 f .

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ern, Geschworenengerichte, Gemeindeautonomie und Assoziationsfreiheit sind ihre Elemente100• Diese Freiheit bedarf als politische Freiheit eines realen Substrats, einer institutionellen Grundlage als Verbürgung für Unabhängigkeit und Selbstverantwortung. Ihre Bindung an Eigentum oder "Selbständigkeit" ist deshalb unerläßlich101 • Aus einem konkret-institutionellen Denken trägt man Elemente der alten Hausväterordnung fort, ohne sich bewußt zu werden, daß sie unter den Bedingungen der veränderten Wirklichkeit das regime censitaire, die Herrschaft gesellschaftlicher Besitzklassen institutionalisieren müssen102 • Das leitende Prinzip des Verfassungsbaus ist ein organisches Miteinander von Königtum, Regierung und Volk, der Ausgleich und die Aufhebung des Dualismus von Monarchie und Volkssouveränität im Gedanken des Verfassungsstaates103• Königtum und Volk sind je eigene Gewalten, das Königtum nicht auf die Exekutive beschränkt, sondern Träger echter Regierung10\ aber über beiden steht die Verfassung als höhere Ordnung, als Ausdruck der einheitlichen Staatspersönlichkeit, die beide umgreift. Der Fürst ist "Vorstand einer Staatsordnung, welche ohne Zweifel über ihm steht'..05 ; die Verfassung wird nicht einseitig gewährt oder beschlossen, sie ist vielmehr ein Vertrag, der zwischen beiden "konstituierenden Gewalten" vereinbart wird und nur in gleicher Weise 100 Vgl. etwa Dahlmann, Politik, S. 83; Waitz, Grundzüge, S. 20 f.; Staatslexikon, Art. Deutsches Landesstaatsrecht, Bd. 4, S. 365-70; auch Samtleben, a. a. 0., S. 33-35 u. 62 f. 101 Das ist eine ganz verbreitete, über den Kreis der Germanisten hinausgehende Ansicht im frühen 19. Jh. gewesen. Schon Kant knüpfte das "positive Staatsbürgerrecht" an die Selbständigkeit, Metaphysik der Sitten, Teil 1, § 46. Die Reformprojekte des Freiherrn vom Stein gründen sich immer wieder auf die Beteiligung der Eigentümer an den öffentlichen Dingen, ihre Vertretung und selbstverantwortliche Tätigkeit im Dienst des Staats, vgl. etwa die Nassauer Denkschrift, Freiherr vom Stein, a. a. 0., S. 115-21; die Denkschrift für den Großherzog von Baden von 1816, ebd. S. 370 ff., und- aus der späten Zeitden Brief an Gagern vom 3. 3. 1831, ebd. S. 405; ferner Georg Waitz als Berichterstatter des Verfassungsausschusses der Paulskirchenversammlung, Stenogr.Ber. Bd. 7, S. 5222-24, wo er auch ausdrücklich darauf hinweist, daß das Wahlrecht kein Menschenrecht, sondern ein politisches Recht, ein Teil der Verfassung, sei. Staatslexikon, Art. Allodium und Feudum, Bd. 1, S. 475 f .. u. Art. Möser, Bd. 11, S. 80-83. 102 Wie lange dieser vorliberale Eigentumsbegriff noch lebendig war, zeigt der Artikel "Allodium und Feudum" im Staatslexikon von Rotteck u. Welcker, Bd. 1, aus dem Jahre 1838: "Das Eigentums- oder Sachenrecht bildet so ... im Rechtsverhältnis die materielle Grundlage, den juristisch-leiblichen Träger der juristischen Persönlichkeit und ihrer Vermögensrechte. Auch die Privatpersönlichkeit der einzelnen, vor allem die der Familien, bedarf ähnlich wie die juristische Person des Staats einer festen materiellen Grundlage, eines Territoriums." (S. 468). 103 Vgl. etwa Waitz, Grundzüge, S. 149 ff. 104 Dahlmann, Politik, S. 85, 95 ff.; Waitz, Grundzüge, S. 132 ff. los Dahlmann, Politik, S. 117.

Geschichtsverhältnis und politisches Denken der Gennanisten

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wieder geändert werden kann106• Albrecht, einer der Göttinger Sieben, hat diesem Gedanken zuerst die klassische juristische Form gegeben, indem er den Staat selbst als Rechtsträger und juristische Person begriff und folgerichtig die Stellung des Monarchen nicht mehr als die des Souveräns, sondern als die eines Staatsorgans bestimmte, das seine Rechte gemäß der Verfassung ausübt107• Das Problem der Souveränität, der eigentlichen letzten Entscheidung, wurde hier umgangen, indem es in die abstrakte Staatspersönlichkeit selbst hineinverlegt wurde. Auf diese Weise wurde das "staatsrechtliche Erlösungswort" für ein politisches Denken gefunden, das zwar den Fürsten von seiner souveränen Stellung entthronen, ihn aber zugleich doch behalten und nur seinen Absolutismus beseitigen wollte, ohne sich für die Volkssouveränität zu entscheiden108• Die politische Situation des "juste milieu" findet darin ebenso ihren Ausdruck wie das auf Harmonie, Einheit und Synthese zielende organische Staatsdenken; die unausweichliche demokratische Konsequenz, auf die zuerst Otto Mayer hingewiesen hat109, blieb dem Zeitalter und seinen Nachfahren verborgen110• 2. Nimmt man die Grundlinien dieses Verfassungsideals zusammen, so wird darin eine eigene Richtung politischen Denkens offenbar. Mit dem Liberalismus der Aufklärung kämpft man gegen Absolutismus und Despotismus und für Volksfreiheit, repräsentative Vertretung und Verfassungsstaat; gegen die Privatherrschaftstheorie Hallers und die Konservierung des Feudalismus in der romantischen Restauration tritt man für den Staat ein als die öffentliche, staatsbürgerlich-gesetzliche Ordnung; gegen die abstrakten Theorien des Vernunftrechts, ihr mechanistisches Verfassungsmodell und ihre naturrechtliche Privatfreiheit, sowie 108 Staatslexikon, Art. Gesetz (Wetcker) Bd. 6, S. 739; J. Grimm, über meine Entlassung, Neudruck 1945, S. 16; Dahtmann, Politik, S. 9. 107 In seiner berühmt gewordenen Besprechungvon Maurenbrechers Grundsätzen des heutigen deutschen Staatsrechts: Göttingisehe Gelehrte Anzeigen, 1837, S. 1492 u. 1512. Der König als "Staatsorgan" auch bei Waitz, Grundzüge, S. 48 f. Zur Lehre Albrechts jetzt auch E. R. Huber, Bd. 2, S. 376 f. 108 So Reinhard Höhn, Der individualistische Staatsbegriff und die juristische Staatsperson, 1935, S. 225; ähnlich schon Carl Schmitt, Hugo Preuß, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, 1930, S. 8 f. Daß der eigentliche Grund dieser Begriffsbildung ein politischer war, hat zuerst Georg v. Betow, Der deutsche Staat des Mittelalters, S. 164 ff., klar erkannt. V,gl. ferner Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 53-55, u. E. R. Huber, Bd. 2, s. 377. 108 Die juristische Person und ihre Verwertbarkeit im öffentl. Recht, Festgabe für Faul Laband, 1908, S. 52 f., 60 f. uo Auch Otto v. Gierke, der gerade im Gedanken der Staatspersönlichkeit die Versöhnung von Monarchie u. Volkssouveränität, Herrschaft und Genossenschaft, Freiheit und Abhängigkeit verwirklicht glaubte, vgl. unten Abschn. 4. Die demokratische Konsequenz hat zuerst Hugo Preuß gezogen; sie war unausweichlich, weil vom Begriff der Staatspersönlichkeit her auch der Verbandscharakter des Staates gesetzt und damit als reales Substrat nur noch das Volk, nicht mehr der Herrscher, wie etwa beim Anstaltsbegriff, möglich war.

Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus

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gegen die Prinzipien der Revolution beruft man sich auf das organische Wesen von Verfassung und Recht und die eigene geschichtliche Tradition. Die eigene Substanz liegt in der Haltung der "Mitte", wie Jakob Grimm es formuliert hat, im Festhalten am Überkommenen bei gleichzeitiger Aufnahme des Neuen111 • Das bedeutete eine eigene, national und geschichtlich sich begründende Stellung zwischen Monarchie und Volkssouveränität, jenseits von Absolutismus und Revolution und des Dualismus von Staat und Gesellschaft. Die tragende Vorstellung ist die des "organischen" und geschichtlich gewachsenen Charakters des Staates und seiner Institutionen. Die Vieldeutigkeit, die dem Begriff des Organischen eigen ist112, kam der Begründung und Verteidigung der eigenen Position in den mannigfachen Frontstellungen sichtlich zugute. Führt man dieses politische Denken auf seinen eigentlichen Kern zurück, so kann man diesen nicht in einer typisch liberalen Kompromißposition sehen, wie das des öfteren geschehen ist113• Eine solche Kompromißposition setzte voraus, daß man sich der geschichtlichen und politischen Situation, in der man stand, bewußt gewesen wäre und den Fragen und Alternativen, die sich daraus ergaben, durch Vertagung, vorläufige Vermittlungen oder einen theoretischen Überbau hätte ausweichen wollen. Das war aber hier nicht der Fall. Der Kern dieses ,organischen' Liberalismus, um ihn im Unterschied zum Liberalismus der Aufklärung zu benennen, liegt vielmehr darin, daß er in einem nicht von der Gegenwart, sondern nur von der Geschichte bestimmten Verhältnis zur eigenen Wirklichkeit stand. Durch seinen Rückgriff in die Geschichte, durch das vom Nationalgedanken legitimierte bewußte Anknüpfen an die Tradition geschichtlich überkommener Ordnungsformen und das Streben nach der organischen Weiterbildung der nationalen Geschichte, sah er an dem entscheidenden Verfassungsproblem des Jahrhunderts, der Trennung und dem Dualismus von Staat und Gesellschaft, vorbei. "Die sog. Gesellschaft bildet keinen bestimmten Gegensatz gegen den Staat. Eher kann dieser selbst als eine Art von Gesellschaft neben der Religionsgesellschaft und anderen Iokalen oder ähnlichen Gesellschaften (Gemeinden etc.) aufgeführt werden", heißt es bei Georg Waitz im Jahre 1862114• Das ist noch die völlige Ahnungslosigkeit und im übrigen die über meine Entlassung, S. 12-15. Vgl. dazu die Zusammenstellung bei Carl Schmitt, Hugo Preuß, S. 10-12; ferner auch Erich Kaufmann, Über den Begriff des Organismus in der Staatslehre des 19. Jh., 1908. 113 So bei Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 8, 54 f., 308 f. und Reinhard Höhn, Der individualistische Staatsbegriff, S. 224/25. 114 Grundzüge der Politik, S. 28. Auch Gierke steht in seiner Gedächtnisrede auf Rudolf v. Gneistaus dem Jahre 1896 dem Dualismus von Staat und Gesellschaft im Grunde verständnislos gegenüber, wenngleich er das Begriffspaar auch in seinen Werken zuweilen gebraucht; vgl. Gierke, R. v. Gneist, Gedächtnisrede, Berlin 1896, S. 28 f. 111

112

Geschichtsverhältnis und politisches Denken der Germanisten

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Abwesenheit Hegels, die für den organischen Liberalismus überhaupt kennzeichnend ist115• Nicht weil der organische Liberalismus eine eingetretene Entzweiung von Staat und Gesellschaft überbauen oder verhüllen und einen Kompromiß stabilisieren wollte, sondern weil er zur Erkenntnis der eigenen veränderten Wirklichkeit gar nicht gekommen war, vertrat er die geschichtlich-organische Gestaltung der staatlichen Verhältnisse und glaubte, dadurch das Überkommene erhalten und mit dem heraufkommenden N euen verbinden zu können. Diese Position wurde nun ihrerseits durch die geschichtlich-politische Lage, wie sie im vormärzliehen Deutschland bestand, begünstigt. Wemer Conze hat jüngst dargelegt, daß sich das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft, die Freisetzung der Gesellschaft vom Staat und ihre Bewegung gegen den Staat, in Deutschland sehr anders und in allmählicheren Etappen als in Frankreich vollzogen hat116• Die altständischen Ordnungen bewiesen längere Lebenskraft, weil der Absolutismus seinerseits nicht zur Vollendung gekommen war, und indem der monarchische Staat sich lange Zeit selber zum Träger der Reform und Emanzipation machte, blieben Staat und Gesellschaft noch lange enger beieinander als in dem von scharfen Gegensätzen durchzogenen Frankreich117. Der notwendige Übergang zur Trennung von Staat und Gesellschaft hatte hier selbst ,organischen' Charakter und machte die unterschiedlichen Prinzipien der alten und neuen Ordnung nicht sogleich deutlich; erst spät, nach 1840, trat die Emanzipation als die nicht nur politische Veränderung, sondern auch soziale Auflösung des alten Ordnungsbaus voll zutage118• So war die Anknüpfung an das geschichtliche Erbe, die Überzeugung von dem geschichtlich-organischen Charakter der sich vollziehenden Entwicklung und der Glaube an die legitimierende Kraft des histor1schen Rechts auch durch den Gang der Verhältnilsse selbst nahegelegt110. 115 An die Stelle Hegels ist im organischen Liberalismus Schellings organisches Identitätssystem getreten und das Denken des Aristoteles, wie es hauptsächlich durch A. Trendelenburg (vgl. oben Note 97) vermittelt wurde. Bei ihm hat u. a. auch G. Waitz gehört, v.gl. E. Waitz, Georg Waitz, Ein Lebensbild,

s. 6.

118 W. Conze, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands: HZ 186, S.1-34. 117 Conze, ebendort, insbes. S. 1Q--18; in gleichem Sinn auch K. v. RaumeT, Absoluter Staat, S. 75 ff. 118 Conze, Staat und Gesellschaft, S. 18 ff. 118 Auch hier führt der Versuch einer konkreten Erklärung aus der gegebenen geistig-politischen Situation eher zu einer angemessenen geschichtlichen Verortung, als wenn man im Sinne Diltheys nur eine eigenständige Leistung des deutschen Geistes feststellen würde. Für die prinzipielle Seite vgl. auch R. Smend, Bürger u. Bourgeois im deutschen Staatsrecht, a. a. 0 ., s. 312 ff.

7 Böckenförde

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Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus

Die Frontstellung gegen den Liberalismus der Aufklärung und der Ideen von 1789, wie ihn etwa Rotteck und R. v. Mohl vertratenuo, ergab sich so für den ,organischen' Liberalismus aus der Art seines politischen Denkens von selbst. Gegen dessen im Vernunftrecht wurzelnde abstrakte Theorien von Gesellschaft, Recht und Staat stellte er die "philosophisch-historische" Weltansicht, die "Vernunft der Nation" und das "gemeinschaftliche deutsche Staatsrecht" 121• Seine Argumente bezog er nicht, wie dieser, von Kant, Locke oder Rousseau, sondern weithin von Justus Möser. Möser ist der Vertreter "echt deutscher Freiheit", das Vorbild eines "echt deutschen Charakters und Patrioten" 112• Der Artikel des Rotteck-Welcker'schen Staatslexikons123 sieht sein Verdienst vor allem darin, daß er die politische Geschichte als Geschichte von Freiheit und Recht des Bürgers dargestellt und damit "zur wahren Volksfreiheit als ihrem Kern und Mittelpunkt" zurückgeführt habe, daß er seine rechtlichen Grundsätze nicht abstrakt, sondern aus der "Vernunft der Nation" geschöpft habe, daß seine "deutsche Freiheit" nicht als "negative und leere, abstrakte naturrechtliche Privatfreiheit", sondern als "wahre, positive staatsbürgerliche Freiheit" erscheine, die ihre reale Grundlage in der "Land-, Vermögens- oder Gewerbeaktie", ihren Inhalt in der "aktiven, wehrpflichtigen und stimmberechtigten" Teilnahme an der grundvertragsmäßigen staatsbürgerlichen Genossenschaft habe124• Das alles ist in ganz spezifischer Weise vom Verfassungsideal des organischen Liberalismus her gedacht und interpretiert125• Das in den voranstehenden Ausführungen dargelegte Verhältnis zur Geschichte und die besondere Richtung des politischen Denkens, die damit in Verbindung steht, bezeichnen nur den allgemeinen Rahmen, das geistige Umfeld, innerhalb dessen sich die verfassungsgeschichtliche Forschung nun bewegt. Es bleiben mannigfache Unterschiede, sowohl hinsichtlich der bestimmenden Leitbilder und der spezifischen Fragestel120 Vgl. Karl v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaft, Bd. 1-4, insbes. Bd. 2: Allgem. Staatslehre, 2. Auft. 1840, und Bd. 3: Materielle Politik, 2. Auft. 1834; R. v. Mohl, Enzyklopädie der Staatswissenschaft, 1859. 121 Dazu Staatslexikon, Art. J . Möser, Bd. 11, S. 83, Art. Gesetz, Bd. 6, S. 735ft'. u. Art. Deutsches Landesstaatsrecht, Bd. 4, S. 338, 343. Kursivsetzung vom Verf. 112 Staatslexikon, Art. Möser, Bd. 11, S. 73/74. 123 Er trägt den bezeichnenden Titel: "Möser, der echtdeutsche Mann und die echten deutschen Grundlagen des Rechts, der Freiheit und der Politik", und umfaßt nicht weniger als 46 Sei~en. 124 Art. Möser, S. 94 f. 125 Bezeichnend für den aufklärerischen Liberalismus ist der Art. Freiheit des Staatslexikons, den Rotteck verfaßt hat (Bd. 6, S. 60-74). Rotteck wendet sich auch scharf gegen jede historische Ableitung und Begründung von Verfassungszielen, vgl. Samtleben, a. a. 0., S. 45.

Nationalpolitisch-konstitutionelles Verfassungsideal: G. Waitz

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lung, wie auch hinsichtlich der einzelnen Ergebnisse. Das Geschichtliche und Individuelle behält auch hier seinen Raum. Die Zeitgebundenheit tritt bei diesen, der Germanistengeneration zugehörigen Forschern so in jeweils besonderer Ausprägung hervor. Bei Georg Waitz i:st es der Blickpunkt des nationalpolitisch-konstitutionellen Verfassungsideals der Fragestellung und Betrachtungsweise in erster Linie bestimmt, bei G. L. v. Maurer eine organisch-liberale Sozialtheorie, bei Otto v. Gierke endlich die Verbindung von nationalpolitisch-konstitutionellem Ideal mit einer allgemeinen Sozial- und Geschichtstheorie. Das soll nun näher dargelegt werden. Zweiter Abschnitt Die Verfassungsgeschichte im Blickpunkt des nationalpolitisch-konstitutionellen Verfassungsideals: Georg Waitz

I. Das verfassungsgeschichtliche Werk von Georg Waitz, das uns als erstes beschäftigen soll, ist in spezifischer Weise aus dem Geschichtsverhältnis und Verfassungsideal des ,organischen' Liberalismus erwachsen. 1813 in Flensburg geboren\ hatte Waitz aus seiner eigenen Herkunftsgeschichte, anders als Eichhorn, keine unmittelbare Verbindung mehr zur Welt des alten Reiches und seiner Territorien. Als er zunächst in Kiel und dann in Berlin seinen Studien nachging!, war bereits die Zeit der nationalen Bewegung angebrochen. Bürgertum und akademische Jugend vereinten sich in dem Ziel der Errichtung des nationalen Verfassungsstaates, in der Erweckung des nationalen Wesens und der Wiederbelebung alter deutscherFreiheit. Der SchülerSavignys undRankes, der als Jurist begonnen und sich auf Rankes Rat hin ganz der Geschichte zugewandt hatte3, wuchs so von selbst in die nationale und liberale Bewegung des Vormärz hinein. Ihr ist sein politisches Denken und Wirken immer verpflichtet geblieben. Der erste Band der Deutschen Verfassungsgeschichte entstand aus einem Kolleg über Tacitus, mit dem der junge Professor seine Lehrtätigkeit in Kiel begann, und die Jahrtausendfeier des Verduner Vertrags 1843 hat den Anstoß gegeben, ihn in die Welt hinauszuschicken'. Wir finden Waitz auf der Frankfurter GermanistenSav. Zs., Germ.Abt. Bd. 8 (1887), Nekrolog, S. 198. E. Waitz, Georg Waitz, Ein Lebens- und Charakterbild, 1913, S. 5. 3 H. v. Srbik, Geist und Geschichte, Bd. 1, S. 297; E. Waitz, a. a. 0., S. 7/8. 4 F. Frensdorff, Zur Erinnerung an Georg Waitz: Hansische Gesch. Bl. Jg. 1858, S. 5 ; E. Waitz, a. a. 0., S. 14 f. 1

2

7*

Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus

100

versammlung5 und im Parlament der Paulskirche. In dieses wurde er als Abgeordneter für Kiel gegen Lorenz von Stein gewählt, stand auf seiten des "rechten Zentrums" und gehörte mit Dahlmann, Beseler und Droysen dem Verfassungsausschuß an6 • Er trat als entschiedener Gegner von Volkssouveränität und Republikanismus auf1 und kämpfte für die Verbindung von Königtum und Volksfreiheit, für den harmonischen Ausgleich der überkommenen und neuenGewalten auf dem Boden von Verfassung und Recht. In den "Grundzügen der Politik", die er 1862 seinem politischen Wirken als Epilog nachsandte, ist dieses Verfassungsbild entwickelt und begründet, neben Dahlmanns "Politik" der geschlossenste Ausdruck der verfassungspolitischen Gedankenwelt des ,organischen' Liberalismus8• Mit Albrecht, R. v. Mohl und H. A. Zachariä gehörte er zu den Herausgebern des einzigen Bandes von Aegidis "Zeitschrift für deutsches Staatsrecht und deutsche Verfassungsgeschichte", in deren Scheitern das Ende einer ganzen Richtung politischen Denkens seinen symptomatischen Ausdruck fand'. Diese biographischen Daten könnten es nahelegen, mögliche Projektionen und vorgefaßte Strukturbilder in Waitz' Werk einfachhin aus politischen Zielsetzungen zu erklären und überhaupt dem Politischen die bestimmende Kraft in seinem Wirken zuzuweisen. Aber eine solche Auffassung würde den Blick für das eigentliche Problem von vornherein verstellen. Waitz war ganz Historiker, er entstammte der Ranke-Schule, Niebuhr war sein großes Vorbild10• Es bestimmte ihn nichts anderes, als im Sinne Rankes zu ergründen, ,wie es eigentlich gewesen sei', die Tatsachen selbst sprechen zu lassen11• Seine Quellenkenntnis war un5 6

Vgl. Verhandl. d. Germanisten zu Frankfurt 1846, 1. Tag. E. Waitz, a. a. 0., S. 20/21; Frensdorff, Georg Waitz: Allg. Dt. Biogr., Bd. 40,

s. 610.

Vgl. Stenogr.Ber. Bd. 1, S. 493 f.; Bd. 7, S. 4974. Besonders charakteristisch sind die Stellen über den organischen Rechtsund Staatsbegriff (S. 5 u. 9-11), über das Königtum einerseits als selbständige, eigenberechtigte Gewalt, nicht bloße Exekutive (S. 132 f.), anderseits als Staatsorgan (S. 48), über den Unterschied von Volksrepräsentation und Volkssouveränität (S. 57/58), über die Stellung der Gemeinden im Staat (S. 28 ff.), über das Zusammenwirken von Königtum und Volksfreiheit als Zeichen des echt konstitutionellen Staates (S. 140/141). e Das schnelle Ende dieses Versuchs, dem Altliberalismus, der die Paulskirchenbewegung getragen hatte, ein wissenschaftlich-publizistisches Sprachrohr zu schaffen, ist aufschlußreich. Nach der gewaltsamen Auflösung des Deutschen Bundes und der Bitte um Indemnität in Preußen gehörte die Zukunft dem National- und Wirtschaftsliberalismus und der politisch-neutralen, den Kompromiß zwischen preußischem Militär- und bürgerlichem Verfassungsstaat begrifflich überbauenden Staatsrechtslehre Labands und seiner Schule. Der erste und einzige Band von Aegidis Zeitschrift erschien in losen Heften von 1865-{i7. 10 Vgl. Srbik, Geist und Geschichte, S. 297 f. 11 Deutlich in einem Brief an Ranke, mitgeteilt bei Frensdorff, Erinnerung, S. 6; vgl. auch Srbik, a. a. 0., S. 298. 7

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Nationalpolitisch-konstitutionelles Verfassungsideal: G. Waitz

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geheuer, die von ihm besorgten oder geleiteten Editionen haben bis heute ihren hohen wissenschaftlichen Rang behauptet, und seine ,historischen Übungen' waren eine weithin berühmte Pflanzstätte kritisch-historischer Forschung12• Gegen die nationalstaatliehen politischen Historiker, die in der Enttäuschung der Jahre nach 1848 die Wissenschaft als Fluchtposition ergriffen und sich in ihr allzusehr von politischen Zielsetzungen und dem Streben nach praktischer Wirksamkeit bestimmen ließen13, hat er mit Nachdruck die zweckfreie, nur der Wahrheit verpflichtete historische Wissenschaft verteidigt. "Ich halte daran fest, daß in aller Weise und von aller Seite danach gestrebt werden soll, daß unsere historische Wissenschaft von den Strömungen und Wünschen der Gegenwart unbeirrt bleibeu." Nun bürgt freilich eine solche Intention aus sich noch nicht dafür, daß die geschichtliche Wirklichkeit auch tatsächlich unbefangen und frei von vorausgesetzten Fragestellungen und Ordnungsbildern erkannt wird. Selbst Ranke ist vor zeitgebundenen und politisch bestimmten Positionen nicht bewahrt geblieben15, und wir wissen heute, daß auch strenges Bemühen die Subjektivität des historisch Forschenden nicht gänzlich auszuschalten vermag. Auch Waitz war sich dieser Zusammenhänge auf seine Weise bewußt. Historische Erkenntnis erschien ihm überhaupt nur möglich durch das Medium der Gegenwart, das Gesamtbewußtsein der Zeit; "wir entäußern uns des Standpunktes, an dem wir stehen, nicht ganz, und mehr oder minder mißt jede Zeit die Gewesenen nach ihrem eigenen Maße"; das lag für ihn in der menschlichen Natur notwendig begründet18• "Wir preisen als höchste Wahrheit, was das Gesamtbewußtsein unserer Zeit als Resultat in sich aufgenommen hat" 11• In diesen Äußerungen zeigt sich das Gedankengut Schellings, dessen Schwiegersohn Waitz 1842 wurde18, und die Fortwirkung von Humboldts historischer Ideenlehre, der auch Ranke verpflichtet war'. Aber das betrifft Fragen der historischen Erkenntnis als solcher und liegt auf einer ganz anderen Ebene als auf der ideologischer und politischer Zwecksetzungen. Darüber E. Waitz, a. a. 0., S. 53-56; FTensdoTjJ, Erinnerung, S. ~9. Über diese Generation der "nationalstaatlichen Historiker" und ihren politischen Tatwillen eingehend STbik, Geist und Geschichte, S. 355, 35~3. Hauptvertreter sind Heinrich v. SybeZ und Theodor Mommsen. Über letzteren vgl. A. WucheT, Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik, Göttingen 1955. 14 Diese Äußerung in der Besprechung der Streitschriften von SybelFicker, vgl. G. Waitz, Gesammelte Abhandlungen I. S. 539. 15 Vgl. etwa den Aufweis bei Werner Kaegi, Historische Meditationen, S. 145 ff.; ferner Schnabel, Bd. 3, S. 93-99. u Vgl. E. E. Stengel, Jugendbriefe von G. Waitz ... : HZ 121 (1920), S. 239/40, die zitierte Briefstelle S. 247/48. 11 Ebendort. 1s E. Waitz, a. a. 0., S. 13. 19 Vgl. E. E. StengeZ, Jugendbriefe, S. 239. 12

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Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus li.

Das Bild der altgermanischen Verfassung, welches Waitz im ersten, 1844 erschienenen Band seiner "Verfassungsgeschichte" schildert!O, trägt ganz die Züge des liberal-konstitutionellen Verfassungsstaates, wie er nach den Vorstellungen der Zeit der altgermanischen Freiheit entsprach. Die Überzeugung von der "Freiheit" der germanischen Völker, die sich bei den Germanisten und in der öffentlichen Meinung des Zeitalters herausgebildet hatte, fand hier eine aus den Quellen selbst gewonnene wissenschaftliche Begründung. Das erklärt den großen Eindruck, den das Werk bei den Zeitgenossen hervorrief~'. - Die polemische Wendung gegen Eichhorn ist deutlich. Zwar hatte auch Eichhorn genossenschaftliche Gemeinwesen der Landeigentümer als die Grundlage der altdeutschen Verfassung angesehen, aber er hatte doch das Bestehen eines eigenen Adelsstandes mit politischen Vorrechten bejaht, die Gefolgscharten als Gefolge adeliger Herren aufgefaßt und ihnen eine tragende Rolle bei der Umbildung der Verfassung zugewiesenz:. Demgegenüber entwirft Waitz ein streng staatsbürgerlich-konstitutionelles Bild der alten politischen Ordnungen. 1. Die "principes" des Tacitus sind für ihn keine Adeligen, sondern erwählte volksgenossenschaftliche Obrigkeiten, ja öffentliche Beamte, die ihre Gewalt nur von der Landsgemeinde herleiten und in ihrem Namen ausübenza. Ihre Stellung und Bezeichnung als principes verdanken sie nicht ihrer Herkunft, sondern allein dem Amt, das sie kraft Wahl innehaben24 • In gleicher Weise wird das Recht, Gefolge zu halten, nicht dem Adel zugesprochen, sondern mit der Innehabung öffentlicher Ämter verbunden; die Gefolgscharten sind Amtsgefolgschaften und als solto Im folgenden wird im wesentlichen die 1. Aufl. der einzelnen Bände der Deutschen Verfassungsgeschichte zugrunde gelegt. Dies deshalb, weil die zeitgebundenen Fragestellungen und Prämissen in den Erstausgaben, insbes. bei den ersten Bänden, oft unbefangener und deutlicher hervortreten als in den späteren Auflagen, wo sie von wachsendem Quellenmaterial und absichernden Formulierungen etwas verdeckt werden. Eine grundlegende Änderung seines Standpunktes hat Waitz in den späteren Auflagen nicht vollzogen; Bd. 5--8 sind von seiner Hand überhaupt nur in erster Auflage erschienen. Der 1. Bd. hat allerdings von der ersten zur zweiten Auflage eine umfassende Neubearbeitung und Neuanlage erfahren, die alles viel eingehender ausführt; sie ist in der dritten Auflage noch einmal ergänzt worden, vgl. das Vorwort zur 2. und 3. Auflage daselbst. Vom 1. Bd. werden daher die erste und dritte Auflage nebeneinander herangezogen. 21 Frensdorff, Erinnerung, S. 6 berichtet die Äußerung Albrechts : Das Buch sei der Haltepunkt, auf dem die anderen fortarbeiteten oder gegen den Verfasser polemisierten. 22 Vgl. oben Kap. 2, III 1, S. 54 f. und Eichhorn, Bd. 1, S. 67-80. 23 Vgl. G. Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1, S. 88/89 u. 110. !t

Waitz, Bd. 1, S. 90 f.

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ehe der öffentlichen, staatlichen Verfassung institutionell eingegliedert15• An diesen Aufstellungen hat vornehmlich H. Danneobauer entschiedene Kritik geübt28 • Aber wie kommt ein so gründlicher Forscher wie Waitz zu solchen Folgerungen? Was die principes angeht, so sucht er seine These zunächst in der Unterscheidung von nobiles und principes bei Tacitus und in einer philologischen Textanalyse zu begründen21• Der eigentliche Grund jedoch liegt tiefer: "Es ist doch undenkbar, daß dem Adel eine solche Macht eingeräumt worden sei, daß er als Stand einen Teil der Geschäfte allein besorgte, einen anderen wenigstens für sich beriet28." Das bezieht sich auf das berühmte 11. Kapitel der Germania. Und weiter: "Beamte und Adel fielen so wenig damals wie heute zusammen29." Das unbezweifelte Vorstellungsbild von der altgermanischen Freiheit, wie es für das Denken der Zeit bestimmend war, läßt den Gedanken an eine adelsherrschaftliche Struktur oder auch nur an adelsherrschaftliche Elemente in der taciteischen Verfassung als absurd erscheinen. "Wie müßten wir uns die Deutschen denken, wenn wir annehmen wollten, das Volk habe ohne seinen Adel nichts zu unternehmen, sich nicht zu verteidigen gewagt; so wenig sei auf die freien Männer angekommen10." Und ebenso ist es bei der Herleitung der Gefolgschaften. Nur wenn das Recht, ein Gefolge zu halten, Ausfluß übertragener Amtsgewalt war, läßt sich der unbezweifelbare Befund der Quellen mit der Vorstellung der altgermanischen Freiheit in Einklang bringen. "Die Freiheit des Volkes wurde nicht gefährdet", so erklärt Waitz, "wenn die Vorsteher, die es sich selbst wählte, auch auf diese Weise ausgezeichnet, mit größerer Macht ausgerüstet warens1." Bd. 1, s. 95 u. 98/99. H. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft, a. a. 0., S. 72 ff. für Adel und principes, S. 82 ff. für die Gefolgschaften, jeweils auch mit eingehender Textinterpretation der Germania. Die jüngst von Peter Liver, Besprechung von ,Das Problem der Freiheit in der deutschen und schweizerischen Geschichte': Sav. Zs. Germ. Abt., Bd. 76 (1959), S. 369 ff. gegen die "neue Lehre" gerichtete Bemerkung, daß ihr die Germania des Tacitus nicht viel gelte, weil sie mit einer adelsherrschaftlichen Auffassung der altdeutschen Verfassung nicht zu vereinbaren sei (S. 376), erweist sich gerade an dieser Abhandlung Dannenbauers als unzutreffende und verfehlte Polemik, die die "neue Lehre" eher bestätigt als in Frage stellt. 27 Vgl. Bd. 1, S. 88/89 und den besond. Exkurs S. 149-52. 28 Bd. 1, S . 87. 20 Bd. 1, S. 91. 30 Bd. 1, S. 88, mit Beziehung auf die von Tacitus, Annalen I 55 berichtete Bemerkung des Segestes zu Varus, er solle den Arminius und die übrigen ,proceres' der Germanen festsetzen lassen, dann werde das Volk aus sich nichts unternehmen. Über die Bedeutung dieser Äußerung vgl. Dannenbauer, Adel, Burg und Herrschaft, S. 75. 31 Bd. 1, S. 98/99. Z5

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Das ist für das Vorgehen von Waitz kennzeichnend: Überall wird das zeitgenössische Vorstellungsbild zum Ausgangspunkt der Interpretation genommen, von ihm her werden die aus sich in ihrer spezifischen, zeitgerechten Bedeutung nicht bekannten Begriffe, welche die Quellen bieten, erklärt. Wer hinsichtlich der politischen und auch sozialen Verfassung eine andere, etwa adelsherrschaftliche Interpretation vertritt, dem wird von vomherein die Beweislast aufgebürdet; er muß exakte Belege für seine ,an sich' durch nichts berechtigten Ansichten beibringen32• So entsteht aus den sehr intensiv herangezogenen Quellen Stück um Stück das Bild des freiheitlich-konstitutionellen germanischen Staatswesens. "Es war die Genossenschaft der durch Grundbesitz vollberechtigten Freien, die die Gemeinde bildete, bei der alle politische Gewalt ihren Ausgangspunkt und Mittelpunkt hatte33." Die "wahren Volksgenossen" als die Masse des Volkes sind die "Freien". Ihre Stellung wird im Sinne der freien Landeigentümer Mösers bestimmt, das politische Recht ganz auf das "freie Eigentum" gegründet34 • Doch macht sich dabei schon eine in der Veränderung der politisch-sozialen Wirklichkeit begründete Verdinglichung des Eigentumsbegriffs bemerkbar, über die im Zusammenhang mit der Heeresverfassung noch näher zu sprechen ist35• "Nicht der Freigeborene als solcher, sondern gewissermaßen als Repräsentant seines Gutes war zum Heeresdienst verpflichtet" 38, heißt es für die Wehrpflicht. Und aus dieser Begründung der staatsbürgerlichen Pflichten wird - methodisch bezeichnend - wegen des engen Zusammenhangs von Volksverfassung und Heeresverfassung, der seinerseits dadurch bedingt ist, daß der Begriff der "Freien" unausgesprochen an den späteren heerdienstpflichtigen Militärkolonisten orientiert ist, der Schluß auf die dingliche Bindung der vollen politischen Rechte gezogen37 • Der Einbau des Adels in dies staatsbürgerlich-konstitutionelle Konzept vollzieht sich recht einfach. Daß es Adelige - nobiles - bei den Germanen gegeben habe, leugnet Waitz nicht; aber er reduziert diesen 3 2 So etwas vorsichtig - gegenüber Eichhorn für dessen Ansicht von der ,Rechtsprechung der principes', vgl. Bd. 1, S. 112 Anm. 2; sehr deutlich in der 3. Aufl., S. 163/64 dafür, daß Knechte und Hörige zusammen die Masse des Volkes, die Freien aber einen herrschenden Stamm darüber gebildet hätten; S. 140 Anm. 2 dafür, daß es sich in Germania cap. 26 um die Verteilung deli Landes durch den Herrn an seine abhängigen Bauern handele: "ganz absonderlich und durch nichts begründet." as Bd. 1, S . 178. ac Vgl. Bd. 1, S. 38/39 mit Anm. 1 zu S. 38, wo die Bezugnahme auf Möser steht; ferner Bd. 1, 3. Aufl., in der über die Stände ein besonderer Abschnitt eingefügt ist, S. 151/52, 163; über Mösers eigene Ansichten oben Kap. 1 li, S. 28 ss Siehe unten IV 3, S. 122, 125. 38 Bd. 1, S. 38. 37 Vgl. Bd. 1. s. 36 und 38, wo ganz deutlich wird, wie aus vorausgesetzten Begriffen und Zusammenhängen vereinzelte Quellenaussagen zu einem geschlossenen Bild verbunden werden.

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Adel auf "besonderes Ansehen", Vorzüge in der sozialen Wertschätzung und höheres Wehrgeld; was ihn rechtlich auszeichnete, war einzig die Möglichkeit, zur Königsherrschaft zu gelangen, die den adeligen Geschlechtern vorbehalten war8 • Der Vergleich mit den Mediatisierten des 19. Jh., die ohne politische Rechte gleichwohl dem hohen Adel angehörten, wird ausdrücklich gezogen39• Herrschaftsstellung ist mit diesem Adelsbegriff ganz unvereinbar: "Worin aber die Bedeutung ihres Adels bestanden haben mag, ein höheres Recht im Staate hatten sie nicht; der Edle war auch ein Freier und das gleiche Recht wie dieser übte er aus40." Zur germanischen Verfassung gehört für Waitz auch, wenngleich es nicht überall eingeführt ist, das Königtum. Es ist "ein Erzeugnis echt germanischen Lebens" 41 • Das war für das Verfassungsdenken des organischen Liberalismus von besonderer Wichtigkeit: Königtum und Volksfreiheit stehen nicht feindlich gegeneinander, sondern handeln miteinander; gerade dadurch unterscheidet sich die gebundene deutsche Freiheit von der negativen, schrankenlosen Freiheit der Volkssouveränität42. Demgemäß ist das germanische Königtum nach Entstehung und Wesen konstitutionell. Es gründet sich nicht auf Hausherrschaft, Sakralcharakter und Gefolgschaftsstruktur43 , sondern verdankt seine erste Einführung dem Wahlakt des Volkes; die Volksfreiheit geht ihm geschichtlich voraus««. Sein Wesen liegt in der Erblichkeit der Gewalt, in der echten Herrscherstellung und im Recht zur Ernennung der Richter und Vorsteher in den Gauen45 • Doch stellt es als solches keine Neubildung herrschaftlicher Gewalt, etwa durch Charisma, Heerzüge und Eroberung dar, sondern eine allmählich bewirkte verfassungsmäßige Nachfolge: Die ursprünglichen Befugnisse der Gaufürsten gehen auf den König als eigenständige über, die Gaufürsten werden zu Beamten (Grafen) 38 Vgl. Bd. 1, S. 78-84. Von einem rechtlichen Vorzug ist dort überhaupt noch nicht die Rede; er könne keinen finden, die Bedeutung des Adels sei eine historische gewesen (S. 81); die 3. Aufl., S. 174, erkennt dann das Recht auf königliche Herrschaft an; vgl. auch noch daselbst S. 188-90 u. 195 ff. 39 Bd. 1, 3. Aufl., S. 191. 40 Bd. 1, S . 178. u Vgl. Bd. 1, S. 159. 42 Vgl. oben 1. Abschn., III, S. 93 ff. 43 In diesem Sinne die neueren Forschungen, vgl. etwa Otto Höfler, Der Sakralcharakter des germanischen Königtums: Das Königtum, insbes. S. 78-85, der mit Recht darauf verweist, daß die ältere Forschung solche religiös-magiJ sehen Traditionsbestände als "nicht wirklich" ausgeschieden habe (S. 75 ff.). Dahinter steht der säkularisierte und "wissenschaftliche" Rechts- und Wirklichkeitsbegriff des 19. Jh.; ferner W. Schlesinger, über germanisches Heerkönigtum, ebenda, S. 115 ff. u. ders., Herrschaft und Gefolgschaft, a. a. 0., S. 155-58. Für charismatische Grundlage der Adelsherrschaft überhaupt Mitteis, Adelsherrschaft, S. 231, 237. 44 Vgl. Waitz, Bd. 1, S . 155-58, S . 160 ff. H Vgl. Bd. 1, S. 166 f.

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und der König selbst zur "Quelle des Rechts" und damit zum Träger eines besonderen Königsschutzes mit eigener BanngewaW'. 2. Um nun über diesen ,staatsrechtlichen' Ausschnitt hinaus zu einem Gesamtbild der germanischen Verfassung zu gelangen und dieses genetisch zu erklären, reichen die vorhandenen Quellenzeugnisse als solche nicht aus. Dazu bedarf es der Schließung der Lücken und der ergänzenden Interpretation, die ihrerseits schon wieder ein gewisses Gesamtbild der Zustände voraussetzt. Hier wandelt Waitz fest in den Bahnen des organischen Staatsdenkens und der sich daraus ergebenden Modellvorstellungen über das Werden und Wachsen von Gesellschaft und Staat. Die organische Entwicklungslinie: Familie - Gemeinde - genossenschaftlicher Staatsverband besteht für ihn als ein realgeschichtlicher Vorgang. "Denn darüber, daß aus der Familie die Gemeinde, der Staat erwachsen, besteht nun kein Streit; nur daß die Historie ... die Bildung der Gemeinde als vollzogen anzunehmen hat; erst da das geschehen, tritt ein Volk in die Geschichte ein47." Die Familie hat dabei in geschichtlicher Zeit von vornherein den Charakter einer privaten Gemeinschaft; sie steht der Gemeinde selbständig gegenüber, die ihr die politische Bedeutung abgenommen, sie aber, wie es dem organischen Entwicklungsgang entspricht, keinesweg,s in sich aufgesogen hat48• Von einer Vergeltungs- und Friedensaufgabe und einer Familiengerichtsbarkeit kann keine Rede sein; das "Haus" ist zur Familie reduziert und das Mundium des Hausherrn ist private Schutzgewalt, Vormundschaft des 19. Jh.40• Wenn das Heer sich nach verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit gliedert, wie Tacitus berichtet, so beruht das lediglich darauf, daß auch in Verhältnissen, die "über den Kreis des Hauses und des privaten Lebens" hinausgingen, auf derlei Zusammenhänge Rücksicht genommen wurde~0 • Die Gemeinde ihrerseits verbleibt ganz im ,gesellschaftlichen' Bereich. In der 1. Aufl. (1844) ist sie noch mit dem politischen Verband in eins gesetzt, zwischen Gemeinde und Staat besteht ketn struktureller Unteru Das ist die Grundlage, auf der die Schilderung der Einzelbefugnisse erwächst, vgl. Bd. 1, S. 166-176. 47 Bd. 1, S. 44. Ein Übergang unmittelbar von den Familien zur politischen Gemeinschaft, wie Waitz ihn in Island findet, ist für ihn ein Ausdruck ganz isolierter und abnormer Verhältnisse und berechtigt zu keinerlei Rückschlüssen (ebendort); sie würden auch auf einen herrschaftlichen statt demokratischgenossenschaftlichen Aufbau des ursprünglichen Staatswesens führen. 48 Vgl. Bd. 1, S. 45/46, 215/16, 223; eingehender und deutlicher in der 3. Aufi., s. 53-56 u. 60/61. 48 Bd. 1, 3. Aufi., S. 73-75; über das Mundium ebend. S. 57-62 und die späte Abhandlung: Über die Bedeutung des Mundiums im deutschen Recht, Ges. Abh. I, S. 369-81. 50 Bd. 1, 3. Aufi., S. 80. In der 1. Ausg. ist diese Trennung noch nicht so sr.harf akzentuiert, vgl. dasselbst S. 44/45.

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schied51 ; die 3. Aufl. (187) verortet sie hingegen, angeregt durch die Forschungen v. Maurers u:nd Gierkes, i.nnei"halb des organischen Stufenbaus im Bereich der Gesellschaft, wie es den Gegebenheiten des 19. Jh. entsprach. Die Gemeinde ist Markgenossenschaft, hat allein wirtschaftlich-soziale Aufgaben ohne eigene politische Funktion. "Eine Bildung rein auf der Art der Ansiedlung und den agrarischen Verhältnissen beruhend, sind die Dorf- und Bauernschaften, und in ihrer Bedeutung wesentlich auf das beschränkt, was damit in Zusammenhang steht51." Daß die Gemeindeversammlung und ihr erwählter Vorsteher auch richterliche Funktionen ausgeübt hätten, "darf nicht angenommen werden"; das waren staatliche Aufgaben53• Waitz bewegt sich hier, ohne daß ihm dies zum Bewußtsein kommt, schon ganz auf dem Boden der durch die Trennung von Staat und Gesellschaft heraufgeführten Wirklichkeit. In diesem Bild der Gemeinde ist auch vorausgesetzt bzw. eingeschlossen, daß die agrarischen Verhältnisse, die etwa Tacitus schildert, nur freiheitlich-genossenschaftliche sein können54• Die Ansicht, daß es sich bei der Landzuweisung in Germania Kap. 26 um eine solche des "Herrn" an seine abhängigen Bauern, die cultores, gehandelt habe, wie sie in drei älteren Werken vertreten wurde, muß als "ganz absonderlich und durch nichts begründet" erscheinen55• Großen Wert legt Waitz darauf, daß die "Staaten" aus den Gemeinden, nicht aus den Familien hervorwachsen58• Das ist einleuchtend. Würde sich der Staat aus der Familie ableiten, so wären notwendigerweise (private) Herrschaft und Abhängigkeit die Elemente seiner Verfassung, nicht aber Freiheit, Genossenschaft und Gesetzlichkeit. Aus dem "Wesen der Gemeinde" müssen daher alle Zustände des öffentlichen Lebens und öffentlichen Rechts hervorgehen57• Das zeigt den realgeschichtlichen Hintergrund dieser organisch-genetischen Erklärungen. Der einheitliche Rechts- und Friedensverband des Staates und die durch sein Vgl. Bd. 1, S. 44-46, S. 178, S. 223. Bd. 1, 3. Aufl., S. 139; ferner ebendort S. 133 ff. 53 Ebendort S. 138, gegen Möser, Eichhorn und Gierke. 54 Vgl. Bd. 1, 3. Aufl., S. 136/137, wo die Zurückhaltung des Quellenforschers und die Entschiedenheit der konstitutionellen Ansicht gleicherweise zum Ausdruck kommen. Es heißt dort u. a.: "Dörfer von lauter abhängigen, hörigen Bauern, wo der Herr zugleich Vorsteher gewesen, hat es, wenigstens in älterer Zeit, soviel erhellt, nicht gegeben." 55 Bd. 1, 3. Aufl., S. 140 Anm. 2. Bei diesen abgelehnten Ansichten handelt es sich um Antons Geschichte der deutschen Landwirtschaft, J. Majer, Germaniens Urverfassung, 1798 und Thierbach, Über germanischen Erbadel, 1836. Alle stammen aus einer Zeit, als das Denken des organischen Liberalismus erst noch auf dem Wege war, das öffentliche Bewußtsein zu bestimmen. 58 Bd. 1, S. 185: Der Staat entsteht dann, "wenn die einzelnen Gemeinden des Volkes sich zur politischen Einheit verbinden"; ferner ebendort S. 44 u. 223. n Vgl. Bd. 1, S. 223. 51

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Gewaltmonopol befriedete Gesellschaft, die derlei organische Entwicklungsvorgänge erst realiter möglich macht, sind von Anfang an vorausgesetzt. "In der Gemeinde aber mußte (!) Friede herrschen"; "ohne den Begriff des Friedens ... ist keine Gemeinde möglich", heißt es kurz und bestimmt58• Friede und Recht, verstanden als allgemeiner Friede und als staatliches, autoritativ garantiertes Recht, sind für Waitz "Begriffe, deren Begründung aller Geschichte vorausgeht" 59• Zwar erkennt er die Rache als tatsächliche Alternative zur öffentlichen Strafe an, die Quellen sprechen davon offenkundig. Aber ein Fehderecht vermag er nicht zuzugeben. Als Tatsache wird die Fehdeübung, auch zwischen ganzen Familien, eingeräumt. "Aber das ist kein Beleg dafür, daß es Recht war, was auf solche Weise geschah. Im Gegenteil es war wider das Recht." Denn, so lautet seine Argumentation, sowie der Begriff des Rechts bestand, war es unmöglich, daß es Pflicht sein konnte, das Unrecht zu schützen und den Übeltäter zu verteidigen; "der Begriff der Ordnung und des Rechts muß hier stärker gewesen sein als das Band der Familie"8'. Hier kommt ein Denken und Fragen zum Vorschein, das völlig in die Wirklichkeit des modernen Staates und in die dieser Wirklichkeit zugehörigen Institutionen und Begriffe eingebunden ist. Die FreundFeind-Bestimmtheit einer noch nicht nach Staat und Gesellschaft geordneten politischen Welt sachgerecht zu erfassen ist schlechterdings nicht möglich81 • Damit ist aber der Einblick in die inneren Strukturlinien der altdeutschen und auch der mittelalterlichen Verfassung überhaupt verstellt. III.

Das wird auch an der Behandlung der merovingisch-fränkischen und der mittelalterlichen Verfassungsentwicklung deutlich. Die Fragestellungen und Leitbilder, von denen Waitz hier ausgeht, sind die gleichen, welche das Bild der germanischen Verfassung als eines freiheitlichkonstitutionell geordneten Staatswesens hervorgebracht haben. Auch die Bd. 1. S. 186. Ebendort. 10 Zum Ganzen Bd. 1, S. 190-197 u. 209/10. n Daß es gerade die Leistung des modernen Staates war, innerhalb seines abgeschlossenen Territoriums alle Freund-Feind-Gruppierungen zu überwinden und einen einheitlichen Friedensverband zu konstituieren, hat gegenüber einem ,apriorisch' gewordenen liberalen Bewußtsein Carl Schmitt wieder bewußt gemacht, vgl. Der Begriff des Politischen, 2. Auft., 1931, S. 36--45, 55--65. Die zahlreichen Mißverständnisse, denen diese Schrift bis heute ausgesetzt ist, zeigen, wie weit dieses liberale Bewußtsein die wissenschaftliche Erkenntnis noch bestimmt. Für das Mittelalter hat dann Otto Brunner die konstitutive Bedeutung von Freund- und Feindschaft für die politische Ordnungswelt an einem reichen Quellenmaterial aufgewiesen, vgl. Land u. Herrschaft, S. 21-123. 58

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besonderen Gesichtspunkte der Darstellung sind dadurch eindeutig vorgezeichnet. Nachdem Waitz alle Elemente einer ausgebauten konstitutionellen Staatsordnung bereits in der altgermanischen Verfassung gefunden hat, kann es für die späteren Zeiten nur darauf ankommen, nach deren Kontinuität, ihrer Entfaltung und Vollendung oder ihrem fortschreitenden Zerfall, zu fragen. Daß ein einheitlicher Staatsverband und ein staatsbürgerlich gedachtes Volk überhaupt bestehen, daß es ein gemeines öffentliches Recht und geltende "Gesetze" gibt, ist von vornherein vorausgesetzt. 1. In diesem Sinn ist die merovingische Verfassung einmal durch die Verfestigung des territorialen und organisatorischen Staatsausbaus gekennzeichnet, zum anderen durch die Steigerung der monarchischen Gewalt und das Zurücktreten der freien Mitwirkung des Volkes an der Staatsgestaltung. Alle konstitutionellen Problemstellungen werden an die Zeit herangetragen. Das Königtum schreitet auf seinem Weg, die Befugnisse der Volksversammlungen bei sich zu vereinigen, fort, wobei es durch die Eroberungszüge unterstützt wird. Es wird wahrhaft "Oberhaupt des Staats" und Träger der öffentlichen Angelegenheiten62 ; alle zwingende Gewalt, die früher beim Volke lag, geht auf den König über und wird von Beamten als seinen Vertretern ausgeübt". Seine Gewalt ist ferner nicht mehr eine personenrechtliche, sondern kraft Eroberung eine territoriale: "wer innerhalb des eingenommenen Gebietes wohnt, ist nun dem König untertan" 64 • Die Befugnisse, welche der König innehat, entsprechen ganz denen des konstitutionellen Monarchen und seiner Prärogative: Entscheidung über Krieg und Frieden, Vertretung des Staates nach außen, Heeresbefehl, Beamtenernennung, gesetzgebende Tätigkeit und Gerichtsherrschaft85• Das alles wird, aus Urkunden und den Formulae gewonnen, ,rechtlich' festgehalten, obwohl Waitz im Hirllblick auf die Berichte Gregors von Tours, die er ausgiebig und ohne Vorbehalte heranzieht88, dann einräumen muß, daß das tatsächliche Verhalten der Könige darauf ausging, keine andere Schranke anzuerkennen, als "den stärkeren Widerstand und die überlegene Gewalt" 67 • Das ruft im Gegenschlag die Gewalt und Willkür der Großen hervor, welche dann nicht nur die Auswüchse der königlichen Gewalt bekämpfen, sondern sie überhaupt schwächen und allmählich zerstören88• Ein Bedenken 62 Vgl. Waitz, Bd. 2, S. 580 :ff., 586 f.; ferner S. 29-36 über die Ordnungen der Lex Salica. es Bd. 2, S. 404-408. 84 Bd. 2, S. 88. 65 Bd. 2, S. 144/45; ferner die zusammenfassende Betrachtung S. 586-90. 66 Im einzelnen die Anm. zu Bd. 2, S. 132-39. 67 Bd. 2, S . 131. 68 Ebendort.

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gegen die geschilderte "Verfassung" ergibt sich daraus für Waitz jedoch nicht. Der königlichen Gewalt steht eine ausgeformte Verwaltungsorganisation zur Seite. Hier bewegt sich Waitz ganz unbefangen in den Vorstellungen der hierarchisch-institutionell organisierten Staaten des 18./ 19. Jh.: " ... der Flächenraum des Landes ist in Marken zerteilt, die ein bestimmtes Gebiet umfassen und indem sie aneinander grenzen, den ganzen Boden des Reichs bedecken. Marken vereinigen sich zu Hundertschaften, Hundertschaften zu Gauen, Gauen zu Landschaften, die zuletzt in ihrer Verbindung das Territorium des Reiches bilden6v." Alle diese Einrichtungen sind durchgängige, in ihrer rechtlich-politischen Bedeutung gleichförmige Amtsbezirke, die sich netzartig über das ganze Reich erstrecken70; als Beleg dient die Vorstellung einer Kontinuität zur taciteilschen Zeit und die mannigfache Erwähnung von centena, huntari und pagus in den zeitgenössischen Quellen71 • Die Darstellung und Beurteilung des inneren Aufbaus dieser "Verwaltung" findet ihren Orientierungspunkt an dem Dualismus von Staatsund Selbstverwaltung, wie er für den konstitutionellen Staat des 19. Jh. bestimmend war. Es sei, so sagt Waitz, von "unzweifelhafter Bedeutung" für die Beurteilung des politischen Zustandes, wie sich in dieser Zeit die freien Vorsteher der Gemeinden und die Organe der königlichen Verwaltung zueinander verhalten hätten; ob "die Vorsteher der Gemeinden aus diesen selbst hervorgehen und dann zugleich als Vertreter des Königs gelten", oder umgekehrt "des Königs Beamte auch die Befugnisse eines Gemeindeältesten besitzen", ferner, inwieweit einzelne Personen aus sich obrigkeitliche Rechte ausüben oder gar übertragen können72• In diesem Sinne werden die einzelnen "Beamten" charakterisiert: Der Tribun bzw. Schultheiß als der Gemeindevorsteher ist nicht erwählter Beamter der Selbstverwaltung, sondern königlich ernannter, staatlicher Beamter, der die "Aufsicht" über die Landgemeinde führt, den Vorsitz in der Dorfversammlung hat u. a. m. 73 ; der Hundertschaftsvorsteher demgegenüber vom Volk erwählter Beamter mit eigener GeBd. 2, S. 264. Vgl. Bd. 2, S. 274 ff. für die Centenen, S. 282 f. für die Pagos, S. 296 für Provinciae. 71 Daß es die Centenen in Wahrheit nur dort gab, wo sich königliche Militäransiedlungen befanden, und ,.Huntari" etwas ganz anderes, vermutlich adlige Herrschaftsbezirke bezeichnet, hat H. Dannenbauer, Hundertschaft, Centena, Huntari, a. a. 0., insbes. S. 197-205, 214---227 nachgewiesen. Für die notwendige Differenzierung unter den sog. ,einheitlichen' Grafschaften hat Ad. Waas, Herrschaft und Staat, S. 154 ff., 160 ff., 181 ff. zahlreiche Gründe beigebracht. 72 Vgl. die Einl. zum 5. Abschn. des 2. Bds, S. 302. 73 Bd. 2, S. 310 f. ev

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walt, deshalb aber auf richterliche Aufgaben beschränkt und ohne speziell königlich-staatliche Befugnisse, wie Gerichtsvorsitz, Zwangsgewalt, Finanzwesen74 ; als Hauptinstanz der staatlichen Verwaltung, als "allgemeines Organ der bestehenden Herrschergewalt" in den verschiedenen Teilen des Reichs endlich der Graf. Er ist Beamter im strengen Sinn, vom König als sein Vertreter ernannt und mit der "Ausübung der höchsten Gewalt" zu dessen Vorteil betrautT5 • Für den Herzog bleibt in diesem System zwischen Graf und königlicher Zentralregierung kein eigener Ort; seine Stellung kann nur noch als eine großgräfliche begriffen werden. Ihr Wesen ist für Waitz nichts anderes als die "Vereinigung mehrerer Gaue unter einem Beamten•m. Es entspricht dieser Darstellung, daß Waitz den eigentlichen Mangel der merovingischen Verfassung darin sieht, daß Volksfreiheit und Königtum auf der Höhe des staatlichen Lebens nicht in Einklang gesetzt worden seien77 • "Die Genossenschaft der Freien, welche den Kern des Volkes bildete, ist zu wenig an der Organisation des Staates beteiligt78." Man hatte den konstitutionellen Ausgleich nicht gefunden. Nur in den Bereichen der Selbstverwaltung, in Dorfschaft und Hundertschaft hatte die alte Volksfreiheit noch ihren Raum; es fehlte die "wahrhafte und gesetzliche" Beteiligung der "freien Volksgenossen" an den allgemeinen Angelegenheiten79• Nun entgehen einem Quellenkenner wie Waitz keineswegs die zahlreichen Berichte und urkundlichen Tatsachen, die eigentlich auf eine aristokratische Verfassungsstruktur schließen lassen, in der das Königtum als übergeordnete Gewalt nur schrittweise, mit wechselndem Erfolg und stets angewiesen auf seine eigenen "Getreuen" Boden gewinnen bzw. seine in der Eroberungszeit begründete Machtstellung behaupten konnte80• Aber er vermag sie von seinem vorausgesetzten konstitutionellen Verfassungsbau nicht anders zu begreifen denn als zerset74 Bd. 2, S. 314-17; die Immunitätsbeamten werden den Schultheißen und Hundertschaftsvorstehern nebengeordnet und damit in den einheitlichen organisatorischen Aufbau eingefügt, vgl. S. 318/19. 75 Bd. 2, S. 319 f., 323/24; über seine einzelnen Befugnisse, die aus den Formulae Marculfi, Gregor und einigen Urkunden als allgemeine hergeleitet werden, S. 326--330. Während der merovingischen Zeit wurden die Grafen nach Waitz vom König ein- und abgesetzt, versetzt und befördert: S. 333/34.

Bd. 2, S. 343. Vgl. Bd. 2, S. 495 f. 78 Bd. 2, S. 496. 79 Die Zitate Bd. 2, S. 584; ferner Bd. 2, S. 596/97. 80 In diese Richtung gehen auch die neueren Darstellungen der merovingischen Verfassungsverhältnisse, vgl. etwa Mitteis, Adelsherrschaft, S. 234-37; Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 162---66; Waas, Herrschaft und Staat, s. 334-38. 76

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zende, extra-konstitutionelle Kräfte, die den "allgemeinen Untertanenverband" aushöhlen, privatrechtliche Elemente in die Verfassung einbringen u. a. m. Eigenrecht und Eigengewalt des Adels können nur als Streben der "Beamten" nach Selbständigkeit und Erblichkeit, als Machtsteigerung und Eigenwilligkeit der "Großen" gedeutet werden; die gefolgschaftsartigen und hausherrschaftliehen Züge der königlichen Gewalt, die in der königlichen Munt, den Landverteilungen und Immunitätsprivilegien zum Ausdruck kommen8\ nur als deren "privatrechtlicher Teil", welcher allmählich auch auf die Stellung des Königs als "Staatshaupt" bzw. Staatsorgan übergreift82. Von Anfang an stehen so neben dem aufgeführten Verfassungsbau sogleich die auflösenden Kräfte und der privatherrschaftliche Abbau83. Das Schlußkapitel des 2. Bandes über "Charakter und Umbildung der merovingischen Verfassung"8\ in dem Waitz dieses Nebeneinander schildert, gibt dem Leser sofort die Frage auf, wann denn eigentlich die so eingehend geschilderte monarchisch-konstitutionelle Verfassungsordnung in Geltung gestanden habe, wenn die auflösenden und umbildenden Kräfte schon von Anfang an mit am Werke waren. Das vorausgesetzte konstitutionelle Verfassungsbild wird Waitz darum jedoch in keiner Weise fraglich. Er ist in dessen Fragestellungen und Begriffsfestlegungen so fest eingebunden, daß etwa ein prinzipiell unstaatlicher Charakter dieser Ordnungen für ihn gar keine denkbare Alternative ist. Vielmehr erscheint es als die große Aufgabe Pippins und seiner Nachfolger, die Einheit des Reiches und die "alten Ordnungen der Verfassung" soweit als möglich wiederherzustellen und "alle die selbständigen Gewalten, welche sich überall auf gallischem Boden erhoben hatten, zu brechen, die einzelnen Städte und Territorien wieder (!) in wahre Abhängigkeit von dem Mittelpunkt des Reichs zu setzen und so dieMittel einer starken und kräftigenHerrschaU zu sichern" 85. 2. In diesem Sinne erscheint die Festigung der königlichen Herrschaft durch die Hausmeier als eine Art "zweite Errichtung" des Frankenreichs88, die durch Karl d. Gr. weiter ausgebaut und vollendet wird. Dessen Reich trägt die Züge eines fertigen modernen Staats mit durch-

Dazu Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 155-166, 168-172. s2 Vgl. Bd. 2, S. 596-604, 606-610, insbes. über die "privatrechtliche Seite" der königlichen Gewalt. 83 Bd. 2, S. 611-14, 623 f., 633 ff. für Stellung und Machtentfaltung der "Großen"; S. 615-22 über die Edikte Chlothars II.; ferner auch S. 596-604. 84 Bd. 2, S. 581-651. 85 Bd. 2, S. 649 u. Bd. 3, S. 11. 86 Bd. 3, S. 46. 81

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gebildeter, hierarchisch gestufter Verwaltungsorganisation87 und Ge~ichtsverfassung88 und "staatlichen" Beamten88 • Waitz entwickelt ein ähnliches Bild, wie wir es schon bei Möser und Eichhorn fanden 80 ; es braucht hier im einzelnen nicht geschildert zu werden. Wo allerdings bei Möser und Eichhorn sich spezifisch ständestaatliche Züge feststellen ließen, tritt bei Waitz nun die konstitutionelle Fragestellung in den Vordergrund. Einmal ist die Verschiebung des organisatorisch-institutionellen Schwerpunkts von den Sendgrafschaften (missatischen Bezirken) auf die Grafen auffällig. Bei Möser und Eichhorn sind jene die entscheidenden Glieder der Verwaltungsorganisation, Oberbehörden bzw. "Generaldepartements" mit festen Aufsichts-, Eingriffs- und Entscheidungsbefugnissen8\ bei Waitz hingegen wird der Graf mit seinen umfassenden Zuständigkeiten für Heer, Gericht, Finanzen und Polizei zum Angelpunkt des Ämtersystems82, während die königlichen missi - den wirklichen Verhältnissen näherkommend - einen mehr außerordentlichen, kommissarähnlichen Charakter annehmen und ihre Befugnisse von den jeweiligen Instruktionen und Vollmachten abhängen83• Man wird nicht fehl gehen, wenn man vermutet, daß hierbei einerseits die landesherrlichen Zentralbehörden für einzelne Landesteile mit ihrer Oberaufsichts-und Vereinheitlichungsfunktion (16.-18. Jh.), anderseits die netzartig ausgebreiteten "unteren staatlichen Verwaltungsbehörden" des 19. Jh., etwa der preußische Landrat, Pate gestanden haben. Ebenso wird diese Aspektveränderung an der Zusammensetzung und Funktion der Reichsversammlungen deutlich. Bei Eichhorn sind sie Reichstage im Sinne des 16./17. Jh. mit "Ständen" als stimmführenden Mitgliedern und einem den Reichstagsverhandlungen analogen Verfahrensgang94; bei Waitz handelt es sich, auch wenn die eigentlich Handelnden 87 Deren Schwerpunkte sind die königliche Zentralregierung und die "Verwaltung der einzelnen Gaue oder Distrikte durch Grafen" (3, 319-26) ; die regna haben die Stellung einer Art von Provinzen mit königlichen Söhnen als Statthaltern (3, 301--09), die Centenare und Vikare sind "Unterbeamte" des Grafen, Vorsteher von Grafschaftsabteilungen oder Stellvertreter im ganzen (3, 331-36), die Städte haben nirgends eigentümliche Behörden, nur Ortsvorsteher i. S. der alten Dorfverfassung (3, 342). 88 Alle Gerichtsbarkeit ist "staatlich", d. h. vom König delegiert (4, 400); Grafengericht als allgemeines öffentliches Gericht (4, 308--18), Königsboten mit eigenem Gericht innerhalb der Grafenkompetenz und Aufsicht über Grafengerichtsbarkeit (4, 349- 54), Königsgericht als oberstes Gericht : Rechtsweigerung, höhere Instanz, politische Verbrechen (4, 402-10). 88 Grafen als Beamte: 3, 326-29; allgemein: 3, 343 f. 80 Vgl. oben Kap. 1 IV u . Kap. 2, 111 2. 81 Vgl. ebend. 82 Bd. 3, S. 372 ff., für den Geschäftskreis S. 380-84. 93

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Bd. 3, S. 372 ff.

Vgl. oben Kap. 2 111 2, S. 58 mit den dort gegebenen Belegen.

8 Böckenförde

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und Entscheidenden die "Beamten des Staates und der Kirche" und sonstige angesehene Männer sind, für die das Erscheinen mehr eine Pflicht als ein Recht bedeutete95, im Prinzip noch um eine Volksversammlung, die Fortsetzung des alten Märzfeldes. "Man kann nicht zweifeln, daß es ein allgemeines Recht der Freien gibt, sich auf der großen Jahresversammlung einzufinden; eben darum heißt sie die allgemeine95." Diese Versammlungen sind ein Ausdruck der "deutschen" Auffassung vom Staat, wonach "jederzeit ein Zusammenwirken von Herrscher und Volk in den wichtigeren Angelegenheiten erforderlich ist•m. Daß in ihnen die "Beamten" und angesehene Leute entscheiden, stört das nicht, denn diese handeln "im Namen der Gesamtheit" und können "wie eine Art Vertretung des Landes" angesehen werden98• Entsprechend werden die Aufgaben der Versammlungen im Sinne des konstitutionellen Dualismus betrachtet. Es kommt auf die feste Unterscheidung von Beirat und Zustimmung an. Diese läßt sich allerdings nicht finden. Doch weiß sich Waitz zu helfen: Auch Karl d. Gr. achtete die alte germanische Sitte, daß nicht der Wille und die Einsicht eines einzelnen über Wohl und Wehe des ganzen Volkes bestimmen können99 • 3. Von diesem Bild der karolingischen Verfassung läßt sich die Verfassungsentwicklung der folgenden Jahrhunderte nur als Prozeß der Auflösung und des allmählichen Zerfalls begreifen. Was die Quellen der folgenden Zeit erkennen lassen: weithin eigenberechtigte herzogliche, später auch gräfliche, vogtei- und grundherrliche Gewalten, zunehmender Einfluß des Lehnswesens auf die Gestaltung der Verfassungsordnung, stete und wechselvolle Auseinandersetzung zwischen Königtum und "Großen", später Vasallen, Umsichgreifen und immer nur stückweises Eindämmen der Fehde, selbständiger fürstlicher Landesausbau, alles das kann sich, wenn als Ausgangspunkt ein monarchisch-konstitutioneller Staat mit allen Merkmalen moderner Staatlichkeit zugrunde gelegt ist, nur als Ergebnis auflösender, partikulärer und eine Eigengewalt usurpierender Kräfte darstellen100• Die konstitutionell geordnete Staatlichkeit, von der Waitz ausgeht, wird für ihn notwendigerweise zum Maßstab der Beurteilung des weiteren Geschehens und bestimmt auch die

Bd. 3, S. 500 f. u. S. 485/86. Bd. 3, S. 486/87. 97 Bd. 3, S. 500. 98 Bd. 3, S. 501. su Vgl. Bd. 3, S. 497-99. too Vgl. dazu etwa Bd. 4, S. 538/39; Bd. 8, S. 415-17, 418 :tt.; Bd. 6, S. 420 :tt., wo von den Gewaltsamkeiten der streitbaren Klassen, die "wider alles Recht" gegen friedliche Landbauern und Stadtbewohner geführt wurden, von dem .,im Seilwange sein der Selbsthilfe" und dem Aufkommen des streitbaren Sinnes in den Städten als Ursachen des gefährdeten allgemeinen Friedens gesprochen wird. 9s ee

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Begriffe, mit denen dieses erfaßt wird. Die Probleme der Herrschaftsintensivierung und der Allodialgrafschaften, des Herrschafts- und Landesausbaus, des allmählichen Entstehens staatlicher Ordnungen in den Territorien aus locker gefügten Herrschaftsverhältnissen, der immer wieder und auf verschiedenen Wegen versuchten Überwindung und Einbindung autogener Adelsmacht und Adelsherrschaft101 können sich für ihn als solche gar nicht stellen. Das große Thema, welches das 9.-12.Jh. bestimmt, ist für Waitz vielmehr die Frage, wie lange sich die staatliche Ordnung und ihre Institutionen noch behaupten und auf welche Weise sich dann ihre zunehmende Aushöhlung und Ablösung durch persönliche, privatherrschaftliche und partikuläre Kräfte vollzieht. Danach sind die letzten vier Bände seiner Verfassungsgeschichte angelegt102• Waitz sucht diese Aushöhlung und Ablösung im einzelnen immer möglichst weit hinauszuschieben, also die staatlichen und konstitutionellen Elemente noch lange in - wenn auch abgeschwächter - Wirksamkeit zu erhalten 103• Zuvörderst gilt das für die königliche Gewalt. Zwar wird die Stellung des Königs beeinträchtigt und geschwächt durch das Lehnswesen, durch das auch die Ämter immer mehr als Lehen behandelt werden und sich eine mehrfache Vasallität auch ohne eindeutige Treuvorbehalte zugunsten des Königs einbürgert104 , femer durch die zunehmende Erblichkeit der Ämter und Würden, deren Verleihung "an sich unzweifelhaft dem König zustand" 105 ; aber der König bleibt für Waitz doch noch der "Träger der Staatsgewalt", der "oberste Inhaber aller Gerichtsgewalt", bei dem auch die Entscheidung, "wer unter und mit ihm die Geschäfte der Regierung besorgen sollte", im ganzen noch blieb106• "Alle Gewalt, auch die stärkste, galt als Ausfluß der königlichen, war von dieser abgeleitet, war zunächst nur Vertretung derselbento7." 101 Im einzelnen näher herausgestellt bei K. S. Bader, Volk, Stamm, Territorium, a . a. 0., insbes. S. 256----64, 270-76; Theod. Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates im hohen Mittelalter, a. a. 0., S.298--304,307--09,310-13. 102 Bezeichnend der Haupttitel der Inhaltsübersicht in den Bänden 5--8: "Die Verfassung des Deutschen Reiches bis zur vollen Herrschaft des Lehnswesens." Bd. 5, S. 118 heißt es dazu, es sei die Aufgabe, die Verfassung in der Periode ins Auge zu fassen, "da noch (!) das Königtum der Mittelpunkt aller Ordnungen und Gewalten war, da auch noch die allgemeinen staatlichen Beziehungen nicht ganz von denen des ... Lehnswesens beherrscht und zurückgedrängt wurden." 103 G. v. Below, Der deutsche Staat des Mittelalters, S. 70/71, hat mit Recht bemerkt, daß Waitz noch für längere Zeit als nach den ersten Bänden zu schließen, an dem staatlichen Moment in der Reichsverfassung festgehalten habe. 104 Vgl. Waitz, Bd. 6, S. 24/25 über die Ausbreitung der Ämterlehen, S. 45/46 über mehrfache Vasallitäten und Treuvorbehalte; ferner auch S. 391. 105 Bd. 6, S. 499. too Bd. 8, S. 2; Bd. 6, S. 310. 107 Bd. 8, S. 480.

s•

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Die große Gefährdung und den Wendepunkt bringt die fürstliche und kirchliche Opposition gegen Heinrich IV. Hier werden die obersten Gewalten, die die "staatlichen Rechte" in Händen haben, dem königlichen Dienst entfremdet und die "ganze Ordnung des Reiches gefährdet", weil man ein Widerstandsrecht und die Lösung vom Eid proklamiert108. Diese These ist für eine vom konstitutionellen Staatsbild ausgehende Beurteilung höchst charakteristisch: Die Zweiseitigkeit aller Herrschaftsverhältnisse, die für das Mittelalter kennzeichnend ist und hier zum Ausdruck kommt, muß als Gefährdung und Umbruch erscheinen, weil sie dem modernen, Souveränität und Rechtserzeugungsmonopol behauptenden Staat widerspricht; nur ein Anteil an den staatlichen Angelegenheiten, keineswegs ein Widerstandsrecht oder eigene Herrschaftsfreiheit ist möglich und macht den Inhalt der deutschen politischen Freiheit aus. Die Veränderung der politischen Verhältnisse muß sich dann in der Weise darstellen, daß diesen (konstitutionellen) Anteil am Staate nun mehrere Mächtige für sich beanspruchen und wahrnehmen und die alte politische Freiheit so eine Sache der Aristokratie wird, während die allgemeine ständische Freiheit, die das Reich Karls d. Gr. kennzeichnete, in Schutz- und Abhängigkeitsverhältnissen eingeebnet wird100. Für die organisatorische Gliederung des Reichs ist weiterhin die Grafschaft der Bezugspunkt und die tragende Institution. Der Burggraf ist Graf mit räumlich beschränktem Amtsbereich110, der Landgraf ist Graf über ein größeres Gebiet, eben Landgraf, der mehrere Grafenrechte bei sich vereinigt11\ der Markgraf ist Grenzgraf, hat ebenfalls nur Grafenrechte und ist ursprünglich Beamter112• Alles sind Bezirke, größere oder kleinere, mit substantiell gleichartiger, immer im Delegationszusammenhang mit dem König stehender Amtsgewalt, nicht konkrete herrschaftliche Ordnungen, die je ihr eigenes Bildungsprinzip aufweisen. Lediglich das Herzogtum fällt aus diesem Rahmen heraus. Es ist eine neue Bildung gegenüber der karolingischen Ämterverfassung, umfassende "provinzielle Gewalt", einerseits mit königsähnlichen Befugnissen, anderseits dem König untergeordnet. In sein ganz von der staatlichen Verwaltungsorganisation her gedachtes System der organisatorischen Gliederung vermag Waitz es nicht recht einzufügen113• Symptomatisch datos

Vgl. Bd. 6, S. 398 ff.; Bd. 8, S. 434,442.

toe Bd. 6, S. 503 u. S. 407. llO

' 11 112

Bd. 7, s. 41 ff. Bd. 7, S. 56-61. Bd. 7, S. 63 f., 84/85, 90. Das besondere Kennzeichen des Markgrafen

ist im Grunde nur, daß er die Grafenrechte "meist eben in einem größeren Gebiet" ausübt (S. 84). 113 So nimmt Waitz eine Überordnung gegenüber dem Grafen an (7, 155 f.), stellt aber anderseits fest, daß selbst der Herzog als Richter nur zu den

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für ist die Würdigung der Herzogspolitik Ottos d. Gr.: "Aus selbständigen provinziellen Gewalten, die sich nur dem Könige als dem Haupt des Reiches unterordneten, sind sie zu Gliedern einer Kette von Inhabern und Trägern staatlicher Rechte geworden, die teils unter, teils neben ihnen standen, mit denen sie in Gemeinschaft die Klasse der Fürsten bildeten .. .U4 ." Staatlich ist auch die Gerichtsbarkeit. Zwar sieht Waitz, daß sich besondere lehn- und hofrechtliche Rechtskreise mit entsprechenden Gerichtsbarkeiten bilden - aus "mannigfachen Abhängigkeitsverhältnissen", wie er sagt, aber von einer "wahren" Gerichtsbarkeit kann hier immer erst dann gesprochen werden, "wenn die Staatsgewalt sie anerkennt" oder sie mit staatlich übertragener Gewalt wesensmäßig verbunden wird115• Die Grundlage der Gerichtsbarkeit sieht Waitz in der Banngewalt, die immer eine gleichartige und staatliche ist und sich stets auf den König zurückführen muß118• Die vielen konkreten Banngewalten, die er selbst aus den Quellen anführt, sind nur auf Gerichtsbezirke bezogene Bezeichnungen. Wird ein Bann nicht ausdrücklich als könig-. lieber verliehen, so ist er gleichwohl ein königlich-staatlicher, weil er dann mit dem- staatlichen- Amt als solchem schon verbunden ist117• Immer ist so der staatliche Delegationszusammenhang gewahrt. Nun lassen sich dafür, wenigstens was die Grafengerichte angeht, etliche Belege beibringen118• Aber der ausschlaggebende Grund ist gleichwohl ein anderer. Da Waitz ganz in staatlichen Kategorien denkt, bliebe als Alternative neben der staatlichen nur eine private, patrimoniale, aus dem Eigentum sich herleitende Gerichtsgewalt. Das aber würde zumindest für diese Zeit auf einer "unrichtigen Auffassung der Verhältnisse" beruhenm. Grafen gerechnet wurde (8, 47); gegenüber den Markgrafen spricht er von einer Nebenordnung (7, 147 ff.), obwohl er an sich die Markgrafenschaft nur als größere Grafschaft ansieht (7, 83 f., 84/85); die eigentliche Grundlage soll die Herrbanngewalt ausmachen (7, 131), während unter den Rechten, die der Herzog übt, die Gerichtsbarkeit voransteht (7, 125) und auch gegenüber Stiftern und Klöstern eine stark oberherrschaftliche Stellung angenommen wird (7, 145-47). 114 Bd. 7, S. 124. m Bd. 8, S. 1 u. 2.

Bd. 8, S. 5-6. Bd. 8, S. 7-9 mit den Anm. über die Banngewalten, S. 5-6 über jeden Bann als königlichen Bann. 118 Etwa Sachsenspiegel Landrecht I, 59 § 2; 1!1, 64 § 5, Deutschenspiegel 82, §§ 1 u. 2; 318-21; ferner die "kaiserlichen" Vehm- und Landgel'ichte. 119 Vgl. Bd. 8, S. 7: "Wenn man angenommen, daß es hiervon [sc. dem Königsbann] ganz verschieden einen grundherrlichen, d. h. dem freien Grundbesitz anhaftenden Bann, eine aus dem Eigentum entspringende, also privatrechtliche, von allerVerbindung mit dem Staat unabhängigeStraf- und Gerichtsgewalt gegeben habe, so beruht das auf einer unrichtigen Auffassung der Verhältnisse." 118

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Im einzelnen beruft sich Waitz, wo eindeutige Quellen mangeln, auf die Fortwirkung der karolingischen Verfassung, insbesondere für die gräfliche Gerichtsbarkeit, die fortwährend die "ordentliche" ist und das Gericht "aller Freien"u0 • Wo das Quellenmaterial reicher ist, wird allerdings der vorausgesetzte staatliche Verfassungsaufbau immer brüchiger und mangelt es an klarer Auswertung121• Gegen Ende der Darstellung bricht sich dann für einen Augenblick eine wirklichkeitsgerechte Betrachtung Bahn: die Gerichtsbarkeit sei der Kern politischer Machtstellung und hoheitlicher Herrschaft überhaupt, biete den Weg zum Herrschaftsaufbau, ja sei überhaupt Grundlage "für eine nicht bloß obrigkeitliche, sondern herrschaftliche Stellung", auch gegenüber den "Freien" 12!. Aber verfassungsrechtlich kann das nicht verarbeitet und begriffen werden. Unvermittelt springt Waitz wieder in die staatlichen Kategorien zurück: Es ist "überall" die "öffentliche staatliche Gerichtsgewalt", welche gehandhabt wird, überall wird sie auf den König als ihren "obersten Inhaber" zurückgeführt, nur in "einzelnen Verhältnissen" verbindet sie sich mit Befugnissen anderer Art123• Unvermeidlich folgt dann die im Grunde kapitulierende Feststellung: "Aber dies ideelle Recht tritt zurück vor der Macht der Tatsachen", so daß die Gerichtsbarkeit doch nicht mehr als "rein staatliche" angesehen werden kann124• IV.

Wurde bisher jeweils das allgemeine Bild der Verfassungsverhältnisse, wie es sich bei Waitz darstellt, behandelt, so sollen jetzt noch einige charakteristische Begriffe und Institutionen näher ins Auge gefaßt werden. Dabei kommt es in erster Linie auf solche an, die für den un-staatlichen Charakter der alten Verfassungsverhältnisse in besonderer Weise kennzeichnend sind, wie etwa Immunität, Muntgewalt und Friedensschutz, die Heeres- und Finanzverfassung und die Standesverhältnisse. 1. Die Immunität vermag Waitz nicht anders denn als Mangel am Staate und Ausfluß einer privatrechtliehen Auffassung der öffentlichen Gewalt, die in die Struktur der Verfassung einbricht, zu erfassen. Ihren Ursprung sieht er in römischen Verhältnissen. Dort bedeutete sie Frei120 Vgl. Bd. 8, S. 47 u. 55, S. 50: "im allgemeinen ist, wie die ursprüngliche Grundlage, so auch der spätere Charakter derselbe: alles ruht auf dem Boden der karolingischen Verfassung". S. 62 über die Kompetenz: " .. . auch hier an den Bestimmungen der karolingischen Zeit festgehalten." 121 Etwa Bd. 8, S. 62-78 im Hinblick auf die Vogtgerichte, das Verhältnis von geistlichen und weltlichen Gerichten, die Stellung der Schultheißgerichte. 1n Bd. 8, S. 92-93. na Bd. 8, S. 93/94. m Bd. 8, S. 94.

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heit von Steuern und Abgaben und stand jedenfalls den fiskalischen Gütern zu, mit innerer Notwendigkeit, "weil ihr Ertrag und ihre Abgabe durchaus in dieselbe Kasse geflossen wären" 125• Daß sie im merovingischen und fränkischen Reich Grundlage für eine eigene Gerichtsbarkeit und herrschaftliche Gewalt des Immunitätsherrn wurde, erklärt Waitz aus der "den Deutschen eigentümlichen Vermengung öffentlicher und privatrechtlicher Verhältnisse" 128• Der König übertrug alle Rechte, die er am königseigenen Immunitätsgut hatte, und da man eben nicht zwischen ihm als (privatem) Herrn und als (staatlichem) Herrscher unterschied, wurden auch die öffentlichen Rechte mit verliehen, zunächst nach ihrer finanziellen Seite, später auch im ganzen; daraus hat sich alles weitere entwickelt127• "Weil die öffentlichen Rechte wie ein Privatbesitz behandelt werden, so geschieht es, daß ein Grundherr sie als Zubehör seines Bodens, fast wie einen Ertrag seines Landes empfängt; sein Eigentum wird zu einem herrschaftlichen Recht ... Die großen Güterkomplexe (von Privaten oder Stiftern) bilden Herrschaften von staatsrechtlicher Bedeutung128." Nurmehr in einzelnen Verhältnissen, insbesondere in der Kriminalgerichtsbarkeit und regelmäßig im Heerbann, sind sie der gräflichen Gewalt unterworfen, nur durch den Immunitätsherrn sind sie als Sonderdistrikte mit der "öffentlichen Gemeinde" verknüpft128. Schließlich erhalten sie den Charakter "besonderer, von dem übrigen Körper des Reichs abgetrennter Gebiete oder Herrschaften" 130• Das ist die noch in den Lehrbüchern unserer Tage geläufige Auffassung der Immunität131• Waitz argumentiert hier ganz offensichtlich nicht nur von der Voraussetzung einer ausgebauten Staatsgewalt her, sondern auch mit Begriffen von ,Eigentum' und ,privat', die ihrerseits an die Ausbildung des modernen Staates und die Trennung von Staat und Gesellschaft gebunden sind. Denn jenes völlig unpolitische, alles "dominiums" entkleidete, zu privatem Grundbesitz gewordene Eigentum gibt es erst in einer Welt, in der alle Herrschaftsgewalt bei einer einheitlichen Staatsgewalt konzentriert und monopolisiert ist und dieser eine entpolitisierte Gesellschaft privater Untertanen gegenübersteht132• Vor dieser Trennung gab es keinen "privaten" Großgrundbesitz, aus dem sich "patrimonial" an sich öffentliche Herrschaftsrechte herleiteten, sonBd. 2, S. 574. Bd. 2, S. 575 :li. 127 Bd. 2, S. 574--78; Bd. 4, S. 254--56. 128 Bd. 2, S. 578. ne Vgl. Bd. 2, S. 608/09, auch 608 Anm. 1; Bd. 4, 266-70. uo Bd. 4, S. 271. 131 Zuletzt noch Hermann Conrad, Rechtsgeschichte, S. 194 f. 132 Das ist oben Kap. 1 III 2 näher ausgeführt. Vgl. auch Otto Brunner, Altständ. Gesellschaft, S. 299-303, u. W. Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 188/89. 125 128

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dem die Übung von Herrschaft und die Gewährung von Schutz durch einen Herrn innerhalb seines dominiums oder "Eigen". Dies bezeichnete den Raum seines Herren- und Schutzrechts, innerhalb dessen es mannigfache Abstufungen von "proprietas" und Gebundenheit gab133• Um diese Herrschaftsübung, ihre Bindung, Eingrenzung, Ausdehnung ging die Auseinandersetzung zwischen den proceres, optimates, majores natu der Quellen, den nach Erblichkeit trachtenden "Beamten" und den späteren Vasallen - einmal untereinander, zum andem im Verhältnis zum Königtum, das von sich aus auf die Stabilisierung einer übergreifenden, amtsmäßige Züge tragenden Herrschaftsordnung bedacht war. In diesen Zusammenhang gehört auch die Verleihung, Einräumung, Anerkennung von Immunitäten, die "Schenkung" staatlicher Rechte usw.134 • Für Waitz bedeuten jedoch die Begriffe proprietas, proprium u. ä. immer privatrechtliche Sachherrschaft im Sinne der am römischen Recht orientierten Eigentumslehre des 19. Jh. Und ebenso wird das Verschenken, Vertauschen, Überweisen von Rechten und Personen als Sachherrschaftsübertragung, Behandlung wie Eigentum u. ä. aufgefaßt. Das Problem der Begriffschiffren, der Eigenbedeutung aus dem Vulgärrecht überkommener Termini, stellt sich gar nicht, da ja die staatlich-konstitutionelle Wirklichkeit schon vorausgesetzt ist135• So kann auch die rechtliche Stellung der königlichen Eigenklöster nicht anders verstanden werden, als daß sie einmal im (privaten) Eigentum des Königs stehen, zum andern über sie hoheitliche Rechte geübt werden, die aber, da es sich um Eigenklöster handelt, wie Eigentum behandelt werden135• Und alle Einräumung von weiteren Herrschaftsrechten an die Immunitätsempfänger, insbesondere an die Bistümer unter den sächsischen Kaisern, erscheint als Verleihung zu Eigentum, privatrechtliche Verfügung über "staatliche Rechte" 137• Waitz versteht die Immunität ferner stets als einen einheitlichen, abstrakten Begriff, der einem ausgeformten staatsrechtlichen Begriffssystem zugehört, parallel etwa zu den Begriffen der Freiheit, der Selbstverwaltung und des Gesetzes im Staatsrecht der konstitutionellen Mon13 3

Eine Vorstellung von di-esem "Eigentumsbegriff" vermittelt uns Justus

Möser in der kleinen Abhandlung "Von echtem Eigentum" (Gesellschaft u.

Staat, Nr. 38, S. 202-05), wo die Unterscheidung von dominium und proprietas noch bewußt ist und auch erwähnt wird, das "echte" Eigentum habe man früher mit "advocatia" (!)bezeichnet. • 34 Vgl. dazu etwa Mitteis-Lieberich, Rechtsgeschichte, S. 56-58; Adolf Waas, Herrschaft u. Staat, S. 181 ff., 197 ff.; A. Dopsch, Herrschaft u. Bauer in der deutschen Kaiserzeit, 1939, S. 12-14. tss Vgl. dazu auch Waas, Herrschaft u. Staat, S. 326-30. 135 Vgl. Bd. 7, S. 189-93. Analoges gilt für die Stifter und Erbvogteien, die ebenfalls als Ausfluß des Eigentumsrechts erscheinen müssen, Bd. 7, S. 380; die herangezogenen Quellen sprechen dort von "dominium". ts7 Bd. 7, S. 202/03, 259, 264/65.

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archie. Wie für ihn Freiheit stets die allgemeine staatsrechtliche Freiheit bedeutet und Bann ein einheitliches, auf den König zurückführendes Gebotsrecht, so meint Immunität die Freiheit von Handlungen staatlicher Beamter und (später) die Einräumung eigener öffentlicher Gerichtsgewalt. Durch seine immense Quellenkenntnis trägt Waitz jedoch selbst das Material herbei, das diesen abstrakten Begriff fragwürdig machen muß. Er muß feststellen, daß der Begriff der Immunität auf einmal eine Erweiterung erfährt, indem auch alleinige Gerichtsbarkeit und sogar gräfliche Rechte, ferner Zoll-, Heerbann- und Vogtfreiheit darunter mitverliehen werden138, daß sich anderseits eine engere Immunität bildet, welche sich nur auf einen Teil der Besitzungen, wie Haus, Garten, eingezäuntes Gelände u. ä. bezieht139, daß endlich die Immunität oft auch als Folge oder Inhalt des königlichen Mundiums erscheint140• Doch bleibt das ohne verfassungsrechtliche Auswirkung. Die Folgerung, daß es sich bei der Immunität wie bei der "Freiheit", wofür es zuerst Hans Fehr aufgezeigt hat141, jeweils um einen konkreten Begriff handelt, daß also zu fragen ist: Immunität von welcher Herrschaftsübung und wem gegenüber?, kann Waitz von seinen abstrakten, einer staatlich geordneten Wirklichkeit zugehörigen Begriffen nicht ziehen. Diese Folgerung würde indes manches Rätsel lösen. Sie würde auch erklären, daß mit der Gewährung von Immunität als Herrschaftsfreiheit notwendig auch die Einräumung bzw. Bestätigung eigener Herrschaftsgewalt verbunden war, weil es hier überhaupt um das Verhältnis verschiedener konkreter Herrschafts- und amtsrechtlicher Gewalten ging, und daß der Umfang der Immunität im Grunde, wie Otto Brunner dargelegt hat142, die Abgrenzung eines Bereichs eigenständiger Herrschaftsübung gegenüber anderen, herrschaftlichen oder amtsrechtlichen Gewalten bezeichnete. Solche Zusammenhänge kommen aber bei Waitz nicht einmal als Frage auf. Wo ihn die Quellen, etwa bei dem Streben der Klöster nach "Freiheit", auf diesen konkreten und stets innerhalb einer Herrschaftsbeziehung spielenden Freiheitsbegriff stoßen, bemerkt er dazu: "Der Begriff einer solchen Freiheit ist aber noch (!) ein verschiedener, bald nur der Gegensatz gegen die Unterordnung unter eine andere Herrschaft, bald vorzugsweise das Recht der freien Wahl der Vorsteher ..., bald 138 Gerichtsbarkeit und gräfliche Rechte: Bd. 7, S. 228-36; Zoll-, Heerbannund Vogtfreiheit: Bd. 7, S. 244-54, 370; Bd. 4, S. 507-10, jeweils mit Anm. m Bd. 7, S. 247 ff. uo Bd. 7, S. 226/27. 141 Hans Fehr, Zur Lehre vom mittelalterlichen Freiheitsbegriff: MIOG Bd. 47 (1933), S. 290 ff., insbes. 294; vgl. auch G. Teltenbach, Bespr. von Waas, Die alte deutsche Freiheit: HZ 164 (1941), S. 576--83, wo der Gang der Diskussion verzeichnet ist. 1•2 Land und Herrschaft, S. 383 f.

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auch die Immunität148." Alles bleibt für ihn irgendwie rätselhaft, weil auch diese "befreiten Klöster" noch Leistungen verschiedener Art zu erbringen haben und überdies den königlichen Eigengütern zugerechnet werden..•. 2. Ähnlich ist es bei der Behandlung der königlichen Munt, des besonderen königlichen Friedens und der Landfriedensproblematik. Gegenüber der eigentlichen Bedeutung und politischen Funktion des Königsschutzes und des königlichen Friedens bleibt Waitz im Grunde ratlos. Sie sind für ihn Fremdkörper im Verfassungsbau. Der allgemeine Friede des Staates besteht ja schon, und ein besonderer Friede hat höchstens als dessen Bekräftigung einen Sinn145• Ebenso ist es mit der königlichen Munt. Für Witwen und Waisen, solche, die des Familienschutzes entbehren, hat sie eine Funktion, im übrigen ist sie höchstens Verstärkung der schon bestehenden allgemeinen Schutzgewalt146 ; indem sie aber besondere, auf die Person des Königs und nicht auf den Staat bezogene Beziehungen schafft, jedenfalls Ausdruck der privatrechtliehen Seite der königlichen Gewalt147• "Wie an sich Friede als rechtliche Ordnung für alle und zu allen Zeiten gelten sollte, aber gleichwohl besonders verliehen oder vereinbart . . . war, so ist es auch mit dem königlichen Schutz: er ist es, der das ganze Volk umfaßt und zusammenhält; aber er wird auch besonders erteilt ...148." Friede und Schutz sind, wie Freiheit und Immunität, abstrakte, einer staatsrechtlichen Ordnung zugehörige Begriffe, der Staat als einheitlicher Friedensverband ist immer vorausgesetzt. So fehlt Waitz auch der Schlüssel zur richtigen Erkenntnis der Landfrieden. Daß sie auch einen vertragsartigen Charakter haben, daß in ihnen Gesetz und Vereinbarung zusammenwirken, vermag er nur als Erstarkung des provinziellen Elements, als Ausdruck des allmählichen Umbaus der Verfassung zu erklärenu0. Und die Notwendigkeit solch besonderer Anstrengungen um den "Frieden" hat ihren Grund für ihn nicht in der Verfassung der Zeit, der Befugnis zu Fehde und "rechter Gewalt", sondern nur in der Gewaltsamkeit und Raublust der streitbaren Klassen, in dem "im Schwange sein" der Selbsthilfe u. ä.m. Friede ist nicht ein erst zu bewirkender, sondern ein an sich bereits vorhandener Zustand. Die Tatsachen der zeitlichen Begrenzung, der gegenseitigen Beschwörung, der Einführung 143

144

145 14&

Bd. 7, S. 222/23. Vgl. Bd. 7, S. 223/24. Vgl. Bd. 3, S. 278-80; Bd. 6, S. 449 :ff. Bd. 3, S. 281; Bd. 4, S. 198--202, 240.

Bd. 2, S. 606 :ff. Bd. 6, S. 450. 149 Vgl. Bd. 6, S. 431-35. uo Bd. 6, S. 421 ff. 147 148

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besonders "gefriedeter" Orte werden von Waitz zwar berichtet, aber sie bleiben - notwendigerweise - ohne Ort in der vorausgesetzten Verfassung151• 3. Wenden wir uns der Finanz- und Heeresverfassung zu. Für beide ist zunächst der Begriff der "Freiheit" von zentraler Bedeutung. Es ist für Waitz eine stets angenommene, indessen nur vereinzelt ausgesprochene Prämisse, daß zum Wesen der alten deutschen Freiheit die Freiheit von Kopf- und Grundsteuern gehört habe152 ; nur freiwillige Ge... schenke und Hilfeleistungen seien den Königen und Fürsten dargebracht worden. Das war eine notwendige Folgerung aus der Idee der germanischen Freiheit, wie sie Waitz der altgermanischen Verfassung zugrundeaegte153. Der eigentliche Grund dafür lag i.m landständischen Steuerbewilligungsrecht, an welches das konstitutionelle Budgetrecht, um das das Bürgertum kämpfte, sich anschloß. Da die Landstände im Verständnis der Zeit nicht eigenberechtigte Herrschaftsstände waren, die ihre eigene Herrschaftsfreiheit verteidigten, sondern politisch bevorrechtigte Staatsbürger bzw. "Freie", mußte auch die Steuerfreiheit als die Grundlage des ständischen Urrechts der Steuerverwilligung ein Attribut der allgemeinen Freiheit sein. Von diesem Ausgangspunkt müssen alle festen Abgaben, Zinse und dergleichen, die sich in den Quellen finden, privater, herrschaftlicher Art und Ausdruck einer persönlichen Abhängigkeit sein. Nur für eine Übergangszeit kann die Fortwirkung des römischen Steuersystems, die Waitz für das südliche und westliche Gallien annimmt154, eine andere Erklärung ermöglichen. Das gibt nun Rätsel über Rätsel auf. Denn nicht selten stößt Waitz in den Quellen auf die sog. homines liberi oder ingenui, die Land besitzen und dem König oder Grafen einen Zins zahlen, deren Leistungen vom König auch "verschenkt" werden können und die offenbar einen wesentlichen Teil des Volks ausmachen155• Es sind dies, wie wir heute wissen, die sog. Königsfreien, zu deren rechtlichem Status es gerade gehörte, gegen Heerespflicht und Königszins auf Königsbzw. Fiskalland angesiedelt zu sein156• Waitz kann sie nicht recht unterbringen. Er neigt dazu, sie entweder in ein Hörigkeitsverhältnis zu versetzen, da es für ihn schon als eine "Minderung der Freiheit" gilt, wenn man auch nur dem König zu "persönlicher Abgabe" verpflichtet ist157, 151 Vgl. Bd. 6, S. 440-46. 152 Vgl. Bd. 2, S. 522, 524; Bd. 4, S. 96. 153 Vgl. oben Abschn. 1, II 2, S. 87 f. 154 Vgl. Bd. 2, S. 525-29. 155 Etwa Bd. 2, S. 507--09 mit Anm., S. 173/74; Bd. 4, S. 97-100. 156 Das ist durch die Forschungen H. Dannenbauers und Theod. Mayers klargestellt worden, vgl. die oben Kap. 1 Note 21 angeführten Abhandlungen. 157 Bd. 2, S. 174.

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oder sie, wie die fränkischen tributarii oder die bayerischen Aldionen; als zurückgebliebene römische Landbauern zu erklären158• Steht aber durchaus fest, daß es sich um "liberi" handelt, so ist die Abgabenpflicht eine befremdliche Nachricht und darf "auf keinen Fall als ein regelmäßiger Zustand angesehen werden". Erwähnen die Quellen allerdings, daß diese liberi Fiskalland innehaben, so bietet sich als Ausweg die Interpretation der Abgabe als "gewöhnlicher privatrechtlicher Zins" 159• Für die karolingische Zeit und später kann Waitz dann von bereits irgend...: wie bestehenden Abgabepflichten ausgehen, deren Ursprung im Dunkel liege, die aber jedenfalls persönlichen, individuellen, keinen allgemeinen und öffentlichen Charakter haben180• So wird der Weg zur Einsicht in die konkreten Verhältnisse immer wieder verbaut. Das gilt für das Finanzwesen überhaupt. Stets sucht Waitz nach den Unterscheidungen und Sonderungen, die das konstitutionelle Verfassungsrecht ausgebildet hatte181 : nach der Trennung von königlichem und staatlichem Besitz und Einkünften, von Königsgut und Hausgut, von öffentlichen Steuern und privaten Abgaben, nach besonderen Rechts- und Verfügungsformen für das eine oder andere162• Was er dann feststellt, ist die Vermischung öffentlicher und privater Verhältnisse, der Mangel klarer Scheidungen, der im ganzen vorzugsweise "privatrechtliche Charakter" der Finanzverhältnisse183• Das mag, von den verwendeten Kategorien her gesehen, nicht falsch sein. Aber von solchen, der zu erforschenden Zeit ganz und gar fremden Kategorien kann auch keine konkrete Erkenntnis mehr ausgehen: "Bei der Betrachtung des einzelnen ist es nicht möglich, beides auseinanderzuhalten184." Die Heeresverfassung sieht Waitz ebenfalls konstitutionell. Ausdrücklich wendet er sich gegen Eichhorns These, wonach in merovingischer Zeit nur die königlichen Dienstgefolge und die Antrustionen heerpftichtig gewesen seien. "Alle Gaugenossen zogen mit den Grafen aus", "das ganze Volk wird zum Kriege gebannt" 165 ; Volk und Heer sind idenBd. 2, S . 162 u. 508/09. Bd. 2, S . 508 f. 180 Vgl. Bd. 4, S. 97-100; Bd. 8, S. 387,392. 181 Vgl. Württ. Verfassung von 1819, 8. Kap., §§ 102-109: Sonderung von Kammergut = Staatsgut und Hofdomänenkammergut = Privateigentum, Erwähnung steuerfreier Güter und allgemeiner Steuern; Hess. Verfassung von 1820, 2. Tit., Art. 6-11: Unterscheidung von Domänen, Staatsgut und fürstlichem Familieneigentum; Bad. Verfassung von 1817, §§ 58, 59: Domänen als patrimonial = Hausgut, Erträge aber zur Bestreitung der Staatslasten; ferner die grundsätzliche Unveräußerlichkeit von Kron- bzw. Staatsgut, die besondere Zivilliste u. a. m. 162 Vgl. etwa Bd. 4, S. 3 u. 617, S. 119 f.; Bd. 8, S. 216/17. 183 Bd. 4, S. 3, 95 ; Bd. 8, S. 216/ 17 u. ö. tss

158

u• Bd. 8, U5

s. 217.

Bd. 2, s. 472173.

Nationalpolitisch-konstitutionelles Verfassungsideal: G. Waitz

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tisch, das Heer erscheint als das Volk in Waffen168• Das erinnert an die "Ideen von 1813" 187, und auch die Schwierigkeit, sich solch eine levee en masse für die merovingische Zeit konkret vorzustellen, beschäftigt Waitz nicht168• Das Modell der Wehrpflicht ist wirksam, nur daß diese nicht rein persönlich, aus der Freien-Stellung als solcher begründet, sondern im Sinne des freien Landeigentümerstaates an das diese vermittelnde freie Eigentum geknüpft wirdm. Hier nimmt Waitz die Tradition Mösers auf, wie es dem politischen Denken des organischen Liberalismus entsprach170 • Aber die Begriffe sind nicht dieselben geblieben. Anstelle der bei Möser noch wirksamen unentzweiten Einheit von Freiheit und Eigentum, in der das Eigentum die institutionelle Verkörperung der Freiheit bedeutete171 , tritt die Trennung von dinglich und persönlich; Eigentum wird dingliche Grundlage persönlicher Rechte und Pflichten. Das entsprach der frühkonstitutionellen Wirklichkeit und war ein notwendiger Ausdruck des Fortgangs der Trennung von Staat und Gesellschaft172• So kann Waitz für die karolingische Zeit, unter dem Eindruck veränderter Quellenbefunde und der ganz auf die "persönliche" Heerespflicht ausgehenden Argumentation Roths, eine Verbindung des persönlichen und dinglichen Elements für die Heerespflicht annehmen: "Nicht die Freiheit allein und nicht ganz unbedingt der Grundbesitz waren die Grundlage des Dienstes, sondern beides zusammen: den persönlich Freien, welche Landbesitz, wenn auch abhängigen hatten, lag derselbe ob173." taa Bd. 2, S. 468; ebenso in der 3. Aufl. (Bd. 2,2), S. 205: "Das Heer ist eben nur das Volk, eine Heeresversammlung muß auch als Volksversammlung angesehen werden." 167 Der Ausdruck bei Dannenbauer, Karolingisches Heer, S. 64. 168 Für die Zeit der Reichsteilungen und Thronfehden geht ihm dieses Problem allerdings auf, vgl. Bd. 2, S. 477 ff.; Bd. 4, S. 408-10. 169 Bd. 2, S . 473. 110 Vgl. oben Abschn. 1, III, S. 98. 171 Vgl. oben Kap. 1 III 2 und das in Note 70 daselbst angeführte Zitat aus Rotteck-Welckers Staatslexikon noch aus dem Jahre 1838. 172 Die badische Verfassung band das Recht der Wählbarkeit zur Zweiten Kammer an einen bestimmten Grund- bzw. Rentenbesitz oder eine bestimmte ständige Besoldung (§ 37), die Zugehörigkeit zum vertretungsberechtigten Adel an den Besitz einer Grundherrschaft(§ 29); ähnlich nach der württ. Verfassung für die Zugehörigkeit zur Ritterschaft(§ 136); die bayerische Verfassung führte unter den verschiedenen "Klassen", die einen bestimmten Teil der Abgeordneten stellen, neben den Geistlichen, den Städten oder Märkten und Universitäten diejenigen der adligen Gutsbesitzer und der übrigen Landeigentümer an (Tit. 6, §§ 7 u. 9). Während die Städteordnungen mehr staatsbürgerlich ausgerichtet waren, wurden die Landgemeinden überwiegend als reine Grundbesitzerkorporationen behandelt, vgl. LandgemeindeO für Westfalen von 1841, §§ 17, 21, 40 ff., ALR § 18 II 17; preuß. LandgemeindeO für die sechs östlichen Provinzen von 1856, §§ 8-11. 173 Bd. 4, S. 454/55.

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An dieser Stelle ist der Interpretationsweg, auf dem Waitz zu seinen Ergebnissen gelangt, näher ins Auge zu fassen. Daraus wird sehr deutlich, wie die Fragestellungen, die aus der Zeit hervorwachsen, das Ergebnis der Quelleninterpretation notwendigerweise präjudizieren. Die Quellen sind für die merovingische Zeit hauptsächlich Gregor von Tours und Fredegar, später die Capitularien, Hinkmar und vereinzelte Traditionsurkunden174. Gregor und Fredegar sprechen nicht nur von "leudes", sondern auch von "pagenses" oder "gentes" und nennen öfters einfach die Stammes- und Gaunamen, um die zum Heer Gehörigen bzw. die zum Kriegszug Aufgebotenen zu bezeichnenm. Und in den Capitularien sind es immer wieder die homines liberi, franci homines oder homines schlechthin, von denen die Rede ist176• Für ein an den zeitgenössischen Vorstellungen der germanischen Freiheit und dem allgemeinen Staatsbürgertum orientiertes Denken ist es sofort einleuchtend, daß es sich bei den von Gregor von Tours nach Stämmen oder Gauen Benannten jeweils um "das Volk" oder "die Gaugenossen" handelt, und daß die homines liberi etc. die "Freien" sind, jene unmittelbar unter der staatlichen Gewalt stehenden freien Staatsbürger, die man in den Quellen suchte und voraussetzte. Und da es dann immer diese homines liberi usf. sind, die zur Heerespflicht aufgeboten werden, so ist auch der weitere Schluß auf die allgemeine, gesetzliche Dienstpflicht der "Freien" zwingend, die "allgemeine Wehrpflicht" im fränkischen Reich. Das wiederum führt dazu, daß Heerdienstpflichten kraft eines verliehenen Benefiziums oder kraft eines Vasallenverhältnisses als "besondere", zu der allgemeinen und gesetzlichen hinzutretende erscheinen müssen177• Es wird ein Hauptproblem der mittelalterlichen Heeresverfassung, wie die vorausgesetzte allgemeine staatsbürgerliche Dienstpflicht und damit der Staat selbst- in Verfall gerät und durch jene besonderen, persönlich-privatherrschaftlichen Dienstpflichten ersetzt wird178. So treibt eine Interpretation die nächste aus sich hervor, und alles verbindet sich zu quellenmäßigen "Belegen" für die Staatlichkeit der anfänglichen Verhältnisse179. 114 175

178

495 ff.

Vgl. Bd. 2, S. 468-87; Bd. 4, S. 450-70,495-505. Vgl. die Bd. 2, S. 471-73 in den Anm. angeführten Stellen. Dazu die zahlreichen Capitularienstellen in den Anm. Bd. 4, S. 452-68,

Vgl. Bd. 4, S. 496-99, 524. Dazu Bd. 8, S. 108-112, 143 ff., ferner 147-55 über "vertragliche Abmachungen" über die Heerespflicht und die zu stellenden Kontingente. m Schon aus diesem ganzen Interpretationszusammenhang wird deutlich, daß die These, die Peter Liver, Sav. Zs., Germ. Abt., Bd. 76 (1959), S. 377/78 gegen die "neue Lehre" von den Königsfreien vorbringt, daß nämlich diese Königsfreien einfach ein besonderer Teil der Gemeinfreien seien, diese also daneben bzw. sie umgreifend bestanden hätten, jedenfalls zu kurz und noch vom "staatlichen" Denkmodell her angesetzt ist. 177

178

Nationalpolitisch-konstitutionelles

Verfassungsideal~

G. Waitz

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Es wäre völlig verfehlt, hier von Ideologie oder interessebedingten Vorurteilen zu sprechen. Wenn die Quellen in dieser Weise auf eine "staatliche" Ordnung hin befragt werden, wie sollen sie, abstrakt und rein in ihren Begriffen genommen, anders antworten? Alles spielt im Bereich echter historischer Forschung. 4. Bei der Darstellung der Ständeverhältnisse hält Waitz sich im wesentlichen an die von Eichhorn geschaffenen Grundlagen. Wie dieser geht er ganz von dem sozialständischen, auf die einheitliche Staatsbürgergesellschaft bezogenen Begriff der Stände aus. Die Stände sind besonders oder minderberechtigte, in der Regel geburtsbestimmte soziale Schichten innerhalb einer an sich entpolitisierten, einheitlichen Gesellschaft180. Wie dieser steht er der Schwierigkeit gegenüber, die sehr mannigfache innere Gliederung einer statusartig und herrschaftlich-politisch geordneten "Gesellschaft" mit eben jenen, an einer staatsbürgerlichen Gesellschaft ausgebildeten abstrakten, auf allgemeine Gliederungen abzielenden Begriffen und Unterscheidungen zu erfassen181 • Seine Resultate kommen oft mit denen Eichhorns überein. Es sollen daher hier nur einige charakteristische Besonderheiten hervorgehoben werden. Sie ergeben sich daraus, daß bei Waitz nicht mehr das ständestaatliche Verfassungsbild Eichhorns, sondern das konstitutionelle Verfassungsideal der Germanistengeneration bestimmend ist. Der auffallendste Unterschied zu Eichhorn ist die konsequente Ablehnung eines rechtlich qualifizierten Adelsstandes. Was Waitz für die altgermanische Verfassung dargelegt hat, hält er bis ins hohe Mittelalter hinein fest: "Einen Adel als wirklichen Stand hat es . . . nicht gegeben182." Adel war eine Eigenschaft, soziales Ansehen, Vorrang an Würde und Ehren, zuweilen die Bezeichnung der vollen Freiheit, als sie selten wurde, aber er gab kein besonderes Recht183. Das entspricht im ganzen der Vorstellung, die sich der Liberalismus von der Stellung des Adels im konstitutionellen Staat machte184. Für die historische Beurteilung bleibt allerdings zu berücksichtigen, daß Waitz von ,Stand' nur bei 180 Vgl. zu Eichhorn oben Kap. 2, III 4; zum Ursprung dieses Begriffs der Stände aus der verfassungsrechtlichen Situation des 18. Jh. oben Kap. 1 111 2 und Kap. 2 I. 181 Die einzelnen Abschnitte finden sich: Bd. 2, 149-60 (Unfreie), 161-70 (Liten), 180--90 (Freie), 210--22 (leudes), 241 ff. (Adel); Bd. 4, 274 ff. (Adel), 278-88 (Freie), 289-302 (Abhängige und Unfreie); Bd. 5, 190--200 (Knechte und Unfreie), 201-26 (Über Zinspßichtige, Abhängige, Kirchenleute usf.), 251-60 (Muntmannen und Vogteileute), 289-347 (Ministerialen), 350-64 (Kaufleute und Bürger), 379-98 (Freie), 398 ff. (Ritter und Adel). 182 Bd. 5, S. 404; auch Bd. 2, S. 241 ff.; Bd. 4, S. 275. 183 Vgl. Bd. 2, S. 228--40; Bd. 4, S. 276-80; Bd. 5, S. 411 ff.; Adel "gleiches Recht" mit den Freien ausdrücklich Bd. 2, S. 236. 184 Vgl. etwa die Rede Besele'I'S über den Adel in der Paulskirche, Stenogr.Ber. Bd. 2, S. 1333/34.

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einem geschlossenen Geburtsstand spricht, der auf dem (privatrechtliehen) Erblichkeitsprinzip beruht, und daß sich in der Tat streiten läßt, ob es einen derartigen Adel vor dem 13./14. Jh. gegeben hat. Eine Amtsaristokratie im Sinne eines sozialen Vorrangs und besonderer Ehren der hohen "Beamten" erkennt Waitz an185• Aber es zeigt sich zugleich, wie dieser Begriff des Adels, der als Alternative nur den Komplementbegriff des "Freien" zuläßt, die Erkenntnis der eigentlichen Frage, nämlich ob es einen eigenen, durch autogene Herrschaftsübung gekennzeichneten Herrenstand oder eine entsprechende Herrenschicht gegeben habe, von vornherein unmöglich macht. Die zahlreichen ständischen Differenzierungen, die für ihn immer allgemeine sozialständische Schichtungen sind, suchtWaitz, stärker noch als Eichhorn, mit den Begriffen dingliche und persönliche Abhängigkeit zu erfassen. Wie schon in den Erörterungen zur Heerespflicht, geht er dabei von dem ganz unpolitischen, privaten Eigentumsbegriff der modernen Gesellschaft aus. Eigentum erscheint nurmehr als Landbesitz, wovon die "persönliche" Rechtsstellung an sich ganz unabhängig ist, so daß aus der alten institutionellen Verbindung eine dingliche Anknüpfung an ein besitzmäßiges Substrat werden muß. Der Charakter des "dominiums" als Herrschaftsraum in einer un-staatlich geordneten Welt und die notwendige Herrschaftsverwiesenheit eines jeden, der nicht selbst "Herr" war186, können sich von daher gar nicht erschließen. Eben diese strukturelle Eigenart stellt sich für Waitz in der Weise dar, daß "die Deutschen gerne allen Verhältnissen des Grundbesitzes einen Einfluß auf die Berechtigung und die sonstige persönliche Stellung der Menschen" gaben und sich so aus einer bestimmten Besitzart Folgerungen "für die ganze Existenz" herleiteten187• Das ist im Grunde schon patrimonial im Sinne des liberalen Feudalismusbegriffs gedacht. Entsprechend kann Waitz alle Herrschaftsbeziehungen, welche keinen unmittelbaren Bezug auf den König haben, nur als Privatabhängigkeit und damit als Formen der Unfreiheit oder Hörigkeit qualifizieren. Die Liten sind Leute, welche "wohl persönliche Freiheit haben, aber durch den Boden, den sie bebauen, in Abhängigkeit zu einem Herrn stehen" 188• Die Fiskalinen, Gotteshausleute und tributarii werden ihnen gleichgestelW 89• Daß 185 Bd. 4, S. 276---78; auch Bd. 5, S. 406, wo die "freien Herren" als besondere "Klasse" der Freien, die durch eine amtliche Stellung hervortritt, erklärt werden. 186 Dazu oben Kap. 2, III 5, S. 67/68; ferner Otto Brunner, Altständische Gesellschaft, S. 299 :ff.; H. Dannenbauer, Adel Burg und Herrschaft, S. 91-94; W. Schlesinger, Herrschaft und Gefolgschaft, S. 141-46. 187 Bd. 2, S . 200. t R8 Bd. 2, S. 161; ähnlich Bd. 5, S. 205. Die Ausbreitung der Liten wird folgerichtig auf den vermehrten Eintritt Freigeborener in Schutzabhängigkeiten, welche privaten Charakter haben, zurückgeführt, Bd. 2, S . 170 ff. 189 Bd. 4, S. 283-89, 295-98.

Nationalpolitisch-konstitutionelles Verfassungsideal= G. Waitz

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aber der König auch über "Freie" zugunsten von Klöstern oder weltlichen Herren verfügt, bleibt für Waitz einfach ein nicht auflösbares Rätsel' 90 • Daß es sich hier um die in einem besonderen Status lebenden Königsfreien handelt und das "Verfügen" über sie nichts anderes als den Wechsel des Trägers der Herrschaftsrechte bedeutet, kann er nicht sehen. Anderseits erscheint der besondere Schutz, in dem die Kaufleute der Königs- bzw. Reichsstädte stehen, als "Vorrecht", was von der Voraussetzung des allgemeinen Königsschutzes im staatlichen Untertanenverband nur konsequent ist191 • Die zahlreichen Differenzierungen, welche die nachkarolingischen Quellen aufweisen und die in den mannigfachen Freiheiten und Rechten innerhalb konkreter Herrschaftsbeziehungen ihren Grund haben, bringen Waitz, wie schon Eichhorn, vollends in ein Dilemma. Der abstrakte Freiheitsbegriff, an welchem Waitz festhalten will, zerfließt unaufhaltsam zwischen den vielfältigen Besonderheiten und Stufungen, die der gewissenhafte Quellenkenner bei dieser "Freiheit" feststellt. Was schließlich bleibt, ist große Mannigfaltigkeit, ein "Ineinanderlaufen" und "Sichdurchkreuzen" verschiedenster Tendenzen192• Ebenso geht es mit dem Begriff des ,servus'. Waitz hält an dem "strengen Recht" des Herrn, seinem "Eigentum" am Knecht fest, weil durch Schenkung, Kauf, Erbe, über ihn verfügt werden konntem. Zugleich aber räumt er ein, daß sehr mannigfache Verhältnisse unter dieser Unfreiheit zusammengefaßt wurden und daß die rechtliche Natur der Abhängigkeit nicht allein nach der Stellung, sondern ebenso nach der Art der zu leistenden Dienste bestimmt worden sei194• Von den zahlreichen Erscheinungsformen der "Abhängigen" entsteht kein klares, irgendwie einleuchtendes Bild; ihre Reduzierung auf durchgehende sozialständische "Klassen" vermag trotz der oftmals gebrauchten Unterscheidung von persönlichen und dinglichen Abhängigkeiten nicht zu gelingen. Es kommt schließlich eine "Mischung" der alten Stände und ein Zustand "milderer Hörigkeit" heraus, welcher sich zwischen die alte Knechtschaft und die bäuerliche Freiheit in mannigfachen Abstufungen dazwischenschiebt195• Aus dieser sozialständischen Zwischenbildung werden dann auch die Ministerialen erklärt, die infolge neuer Lebensverhältnisse nicht mehr Abgaben sondern Dienste leisten und durch deren "amtlichen Charak190 Bd. 5, S. 288; auch Bd. 4, S. 282/83, wo- entlastend vermerkt wird, daß die Schenkung unter Vorbehalt der "Freiheit" erfolgt sei. 191 Bd. 5, S. 351 ff. 192 Bd. 5, S. 382 ff., 386 ff; die ZitateS. 388. 183 Bd. 5, s. 191. t94 Bd. 5, S. 190, 192 ff. 195 Vgl. Bd. 5, S. 200---215 über Colonen, Fiskalineo u. ä.; S. 215, 218-23 über kirchliche Zinsleute; über Muntmannen und Vogteileute S. 251-54,

257/58, 26()-66. 9 Böckenförde

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ter" besonderes Recht und Ansehen erlangen. Diese Ministerialen entziehen sich nun in ihrer konkreten Rechtsstellung dem Schema Freiheit - Unfreiheit völlig. Im Hinblick auf sie leuchtet es Waitz auf einmal ein, daß die Frage nach Freiheit oder Unfreiheit so gar nicht gestellt werden dürfe, und daß auch eine Schenkung und Vertauschung immer nur die Rechte betreffe, die der Herr an seinen Abhängigen habeu8• Aber diese Einsicht ist nur eine Episode ohne Folgerung. Auch hier bleibt es bei einem privatrechtliehen Verhältnis ohne alle verfassungsrechtliche Relevanz, und es spielt, wie alle andern Ständeverhältnisse, im Rahmen persönlicher und dinglicher Abhängigkeit und deren fortschreitender Milderung197• So zeigt sich immer wieder, wie durch die Projizierung der am eigenen Verfassungsideal und der eigenen politisch-sozialen Wirklichkeit orientierten Begriffe und Unterscheidungen geradezu eine Unfähigkeit eintritt, den je konkreten Charakter der einzelnen "Status" und das herrschaftlich-politische Bildungsprinzip der Stände überhaupt, aus dem sich dieser konkrete Charakter erklärt, zu erkennen, obwohl gerade bei Waitz durch seine immense Quellenkenntnis alle Elemente dazu bereitgestellt waren.

V. Bisher ist ein Element in Waitz' Darstellung und Interpretation der Verfassungsgeschichte noch nicht erwähnt worden: das nationalpolitische. Es hat seinen Grund in dem besonderen Geschichtsverhältnis der Germanisten, von dem bereits früher gesprochen worden ist198• Mit besonderem Nachdruck betont Waitz den germanischen, deutschen Ursprung und Charakter aller staatlich-konstitutionellen und staatsbürgerlich-freiheitlichen Elemente der Verfassung. Ihren ersten Ausdruck finden sie für ihn sämtlich schon in der altgermanischen Verfassung, wo von fremden, insbesondere römischen Einflüssen noch keine Rede sein konnte108• Besonders hebt er hervor, daß auch das Königtum in "ursprünglicher Eigentümlichkeit" bei den Germanen hervorgewachsen sei, und zwar nicht als ein schwaches Amtskönigtum, sondern als ein solches mit einem innerhalb des Geschlechts erblichen Recht und mit eigener Herrschergewalt, vermöge deren auch die Richter und Vorsteher der Gaue selbständig ernannt werden konntenzoo. Nicht allein die volksherrschaftliehen Elemente und die (staatsbürgerliche) Freiheit, auch die Verbindung von Freiheit und Herrschaft, von Volksfreiheit und Königtum, 19& 197 198 199

2oo

Bd. 5, S. 311 u. 320. Vgl. Bd. 5, S. 312 ff. Oben Abschn. 1, I u. II a. E. Vgl. oben II 1, S. 103 ff. Bd. 1, S . 159 (Zitat), S. 166-76.

Nationalpolitisch-konstitutionelles Verfassungsideal: G. Waitz

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das eigentlich Konstitutionelle, wofür der organische Liberalismus kämpfte, gehört zu den germanisch-deutschen Verfassungsformen. Auch für die merovingische Zeit bleibt, wenngleich Einflüsse der römischen Verhältnisse nicht geleugnet werden, der "Begriff" der königlichen Gewalt ein germanischer und deutscher01 • Durch die römischen Einflüsse erhält die königliche Gewalt zwar eine "starke Förderung" 102, das monarchische Element verstärkt sich und drängt das volksherrschaftliche zurück, aber die Substanz bleibt unverändert, wie denn auch die Schilderung der königlichen Befugnisse ganz am Vorbild des konstitutionellen Monarchen orientiert ist203. Ebenso ist es mit der karolingischen Verfassung. Hier geht es darum, für den ganzen Verfassungsbau, der Waitz und seinen Zeitgenossen als ein Musterbild staatlicher Ordnung galt, die Deutschheit zu erweisen. Scharf bezieht Waitz Stellung: "Von den Einrichtungen des römischen Staats, von den Grundsätzen der römischen Verwaltung und des römischen Rechts ist weder unter Karl noch unter Ludwig etwas zur Geltung gekommen20•." Die zahlreichen, sehr handgreiflichen Anknüpfungen und Fortwirkungen tut er mit dem Bemerken ab, daß dies doch ohne Einfluß auf Karls eigene Anordnungen gewesen sei. Was an römischen Einrichtungen zunächst beibehalten wurde, sei doch bald verschwunden oder habe einer vollständigen germanischen Umbildung Platz gemacht205. Vollends beweisen dann die Schranken, an die auch die karolingische Königsgewalt gebunden war, ihren "deutschen Charakter": "sie handelte, eben weil sie eine germanische war und blieb, nur in Gemeinschaft mit andern berechtigten Gewalten" 208. "Neben dem freien König ein freies Volk, das war das Wesen des alten deutschen Königtums", heißt es noch für eine spätere Zeit207. In gleicher Weise sind, echt konstitutionell, die Reichsversammlungen ein Ausdruck der "im deutschen Volk lebenden Auffassung Staat", nach welcher "jederzeit ein Zusammenwirken von Herrscher und Volk in den wichtigen Angelegenheiten erforderlich ist" 208. Bd. 2, S. 130 u. S. 88/89. Bd. 2, S. 89. 203 Siehe oben III 1; zum neueren Forschungsstand vgl. Rudolf Buchner, Das merovingische Königtum: Das Königtum, S. 143-54. 204 Bd. 3, S. 204/05. 205 Bd. 3, S. 205; in der Bespr. der Sybel-Ficker'schen Streitschriften heißt es (Ges. Abh. I, 536) : "In dem Reich Karls d. Gr., in den Einrichtungen, welche er getroffen ... weder direkt noch indirekt scheint mir hier irgendein römischer Einftuß wirksam zu sein." Typisch für das "staatliche" Verfassungsdenken bei Waitz ist dann die Bemerkung, vieles, was Ficker als Ausfluß des römischen Staatsgedankens ansehe, müsse allgemein als Bedingung und Wesen staatlicher Ordnung überhaupt angesprochen werden (ebendort). 206 Bd. 3, S. 282. 207 Bd. 6, S. 407. 2o1

202

!!os 9*

Bd. 3, S . 500.

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Jenes deutsche Volk aber, dem Waitz das konstitutionelle Denken als nationale Eigentümlichkeit zuschreibt, existiert für ihn schon sehr früh. Bereits auf Grund der Tuisko-Manno-Sage bei Tacitus nimmt er ein gemeinsames Bewußtsein und ein Gefühl der Einheit unter den "deutschen" Germanen an, und schon längst vor der Gründung des fränkischen Reiches machten Sachsen, Allemannen, Thüringer und Franken als die Nachfolger der drei Urstämme, sowie die Bayern als das Restvolk der Goten "das deutsche Volk" aus201• Die Geschichte der fränkischkarolingischen Reichsbildungen und Reichsteilungen erhält für Waitz eine ausgesprochen nationalstaatliche Entelechie, sie wird zum Paradigma der nationalen Einigungsbemühungen der eigenen Zeit. Die wahre Bedeutung der Taten Pippins und seiner Nachfolger liegt darin, "daß die Herrschaft überging auf den deutsch gebliebenen Teil des fränkischen Stammes, daß das deutsche Element einen neuen Einfluß auch in den gallischen Provinzen gewann", ohne anderseits die Verbindung mit der römischen Bildung und der Kirche zu unterbrechen210• Das karolingische Reich hatte, indem es alle deutschen Stämme zum erstenmal gemeinschaftlichen staatlichen Ordnungen unterwarf, den Charakter eines "Durchgangs" zu volkstümlicheren, nationalen Bildungen: Durch die Verbindung der Sachsen mit den übrigen deutschen Stämmen erhielt das germanische Element eine solche Stärke, daß es sich fortan zur "eigentümlichen Entwicklung" erheben konnte211 • Überdies hatten germanische und romanische Völker sich inzwischen gegenseitig gegeben, was ihre Entwicklung fördern konnte; die Scheidung ihrer Wege war der organische Fortgang der Dinge212• So werden denn Teilungspläne und Herrschaftskämpfe immer mehr von nationalen Gesichtspunkten bestimmt, die Völker treten "in nationaler Selbständigkeit und Sonderung hervor" und der Verduner Vertrag begründet das Ostreich als eine "ganz und gar deutsche" Herrschaft213 • Das deutsche Land "ward der Boden für eine staatliche Bildung, in welcher die Nation zu einer Einigung und Selbständigkeit gelangte, wie sie deren bisher nicht teilhaftig gewesen war, und die nun Jahrhunderte hindurch ihr Leben beherrscht hat" 214 • 20° Vgl. über die Gründung des deutschen Reiches durch den Vertrag zu Verdun: Gesammelte Abhandlungen I, S. 3-7. 210 Bd. 3, S. 7. 211 Bd. 5, S. 314 u. Ges. Abh. I, S. 11, wo die Reichsteilungen noch als notwendige Reaktion auf die Versuche Karls d. Gr. erscheinen, die verschiedenen Nationalitäten zu verschmelzen; Bd. 4, S. 552 ist diese These betont abgeschwächt. 21 2 Bd. 4, S. 252/53. 21 3 Zu Teilungsplänen und Herrschaftskampf vgl. Bd. 4, S. 570-80; die Zitate Bd. 4, S. 583 u. 595; vgl. auch Ges. Abh. I, S. 18 f. Die nochmalige Vereinigung des fränkischen Reichs unter Kar! d. Dicken hat für Waitz nur mehr den Charakter einer Personalunion, ebd. S. 20 f. 2 14 Bd. 5, S. 4.

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VI. Ziehen wir das Fazit aus den vorangegangenen Erörterungen. Einerseits sind die Erkenntnisse und Interpretationen, die Waitz von den verfassungsgeschichtlichen Verhältnissen gibt, sowohl hinsichtlich der einzelnen Perioden, wie auch für einzelne Institutionen und Begriffe, in ganz entscheidendem und so nicht vermutetem Aufmaß an die Fragestellungen und Begriffsentwicklungen gebunden, die sich aus dem Verfassungsideal des ,organischen' Liberalismus und der politisch-sozialen Wirklichkeit der Zeit ergaben. Anderseits ist sicher und sei hier nochmals betont, daß weder die echte Wissenschaftlichkeit noch die Intention zu streng geschichtlicher Forschung bei Waitz in Zweifel gezogen werden können115• Die immense Quellenkenntnis und Quellenauswertung, von der jeder Band der Verfassungsgeschichte ein eindringliches Zeugnis ablegt, und die großen editorischen Leistungen, welche die historische Wissenschaft Waitz verdankt, sollten hier vor jedem vorschnellen Urteil bewahren218 • Die Paradoxie, die sich aus diesen beiden Feststellungen ergibt, macht es allerdings notwendig, die Frage nach dem methodischen Ausgangspunkt geschichtlicher Erkenntnis bei Waitz, die zu Beginn dieses Abschnitts schon berührt wurde, noch einmal aufzunehmen. Daß es sich bei Waitz nicht um ein politischesEngagementoderideologischesBewußtsein handelt, wurde bereits ausgesprochen. Aber ein anderes Moment scheint hier von Bedeutung zu sein. Waitz gehörte zum quellenkritischen Zweig der Rankeschule und war schon in frühen Jahren, vor seinem akademischen Lehramt, durch quellenkritische und editorische Leistungen hervorgetreten217 • In gleicher Weise ist er dann an die verfassungsgeschichtliche Arbeit herangetreten. Man hat oft hervorgehoben, teils zur Verteidigung, teils in unverhüllter Kritik, daß er juristischen Konstruktionen und scharfen begrifflichen Formulierungen abgeneigt war, daß er nur aus den Quellen selbst die Zustände erkennen und darstellen wollte und das dort Unbestimmte auch unbestimmt bleiben sollte, und daß er sich vor allem von Kombinationen, Rückschlüssen und subjektiven Urteilen freihalten wollte218• Seine Verfassungsgeschichte belegt das in jedem Band. Die Substanz seiner historischen Arbeit ist auch hier im Vgl. oben I. In diesem Sinn ist auch H. v. Srbik zuzustimmen, wenn er Waitz gegen die Angriffe Fueters, Gesch. d. Historiographie, verteidigt; vgl. Geist u. Gesch., S . 298. Über Waitz' editorische Leistungen Frensdorff in Allgem. Dt. Biographie, Bd. 40, S. 605/06 u. 619. 217 Srbik, Geist u. Geschichte, S. 295/97; Frensdorff, a. a. 0., S. 605 f. 218 Vgl. einerseits verteidigend - Srbik, a. a. 0 ., S. 298; Frensdorff, a. a. 0., S. 622, anderseits -kritisierend - Below, Der deutsche Staat, S. 68/69, K. v. Amira, Grundriß des german. Rechts, 3. Aufl. 1913, S. 4, und Theodor Mayer, Königsfreie, S. 9. 215 218

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Grunde eine philologische. Gerade diese Beschränkung, dieser Verzicht auf die eigene, bewußte Fragestellung aber bewirkt, daß Waitz die Ordnungsvorstellungen und Beurteilungsmaßstäbe seiner Zeit um so entschiedener an die Vergangenheit heranträgt. Denn die Fragestellung als solche ist für jede verfassungsgeschichtliche Erkenntnis und Quelleninterpretation unentbehrlich; Verfassungsgeschichte will nicht bestimmte Ereignisse oder Lebensschicksale, die in den Quellen als solche verzeichnet sind, berichten, sondern die konkrete politische Bauform einer vergangenen Zeit erkennen. Aus sich aber und abstrakt genommen, geben die Quellen über das, was etwa unter homines liberi, unter fideles und vasalli, unter dominium und proprietas, unter "Freiheit" zu verstehen ist, keine eindeutige Auskunft. Will man sie ganz aus sich, philologisch interpretieren, so versteht man sie ganz sicher gemäß den Vorstellungen der eigenen Zeit. Man kann subjektiven, zeitbedingten Fragestellungen nicht schon dadurch ausweichen, daß man auf Fragestellungen überhaupt verzichtet. So gibt Waitz' Werk bei aller großartigen Leistung, die es darstellt, doch zugleich an sich selbst einen Beleg für die Grenze, die dem auf rein philologisch-quellenkritischer Methode basierenden Verfassungshistoriker gezogen ist. Dritter Abschnitt Die Verfassungsgeschichte als Anwendun~sfall einer organisch-liberalen Sozialtheorie: Georg Ludwig v. Maurer

I. Zwei Werke sind es, die das Ansehen Georg Ludwig v. Maurers in der Wissenschaft der Rechts- und Verfassungsgeschichte wie auch in der politischen Bewegung der Zeit begründeten: die frühe Abhandlung über "Das altgermanische und insbesondere altbayerische öffentliche und mündliche Gerichtsverfahren"\ die alsbald zur Berufung des juristischen Praktikers an die Münchner Universität führtet, und das 12-bändige, nicht vollendete Spätwerk über die Geschichte der Marken-, Hof-, Dorfund Städteverfassung in Deutschland3• In jenem Frühwerk hatte Maurer die Öffentlichkeit und Mündlichkelt des altgermanischen Gerichtsverfahrens und die Beteiligung des Volkes daran dargetan und damit den Reformforderungen der liberalen Bewegung eine weithin wirksame wis1 Erschienen Heidelberg 1824. Sie wurde als Preisaufgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verfaßt. 1 Vgl. L. Brinz, Georg Ludwig von Maurer: Allgem. Dt. Biographie, Bd. 20,

s. 703.

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senschaftliehe Grundlage verschafft4 • Das Spätwerk hat eine großangelegte Entwicklungsgeschichte der konkreten genossenschaftlichen und herrschaftlichen Lebensordnungen des Volkes zum Inhalt; diese hatten in der zeitgenössischEn Alternative von Staatsrecht und Privatrecht keinen eigenen Ort mehr und waren doch für das Verfassungsdenken des organischen Liberalismus von besonderer Wichtigkeit, weil man gerade in ihnen die Tradition der germanischen Freiheit fortwirken sah und diese von ihnen aus wieder neu zur Geltung bringen wollte. Dieses Werk gehört ganz in den geistigen Zusammenhang des ,organischen' Liberalismus und des ihm eigentümlichen Geschichtsverhältnisses. Maurer wendet sich gegen die Abkehr von der Geschichte, die nur einer "wahrhaft trostlosen und ganz bodenlosen" Zukunft entgegenführen könne; er will demgegenüber den wahren historischen Boden der eigenen Zeit und die Gesetze des "Ganges der Geschichte" erforschen, die allein den rechtenMaßstab zurBeurteilung undGestaltungderGegenwart abzugeben vermöchten5• Inhaltlich nimmt er weitgehend Mösers Denken auf, sowohl den konkreten, an den Lebensordnungen des Volkes orientierten Verfassungsbegriff, wie auch die naturtheoretischen Elemente dieses Denkens8 • Aber alles wird nun viel entschiedener und ausgeprägter in ein universales organisches Entwicklungsschema eingeordnet. Der Gang der Verfassungsgeschichte verläuft als stufenförmige organische Entwicklung des Soziallebens von den Geschlechtern über die Markgenossenschaften, Dorf- und Stadtgenossenschaften, Grundherrschaften zur öffentlichen Gewalt, deren Ausbildung das abschließende Endglied darstelW. Die Geschichte ist das Organon einer Naturtheorie 3 Zuerst: Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadtverfassung und der öffentlichen Gewalt, 1854; es folgten: Geschichte d. Markenverfassung in Deutschland (1856), Geschichte d. Fronhöfe, Bauernhöfe und der Hofverfassung in Deutschland, 4 Bde. (1862/63), Geschichte der Dorfverfassung in Deutschland, 2 Bde. (1866), Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, 4 Bde. (1869-71); die als Abschluß geplante Geschichte der öffentlichen Gewalt wurde nicht mehr vollendet. 4 über die Wirkungen dieses Werkes vgl. Stintzing-Landsberg, Bd. III, 2, s. 308-10. 5 Maurer, Ein!., Vorw. S. XXXVIII u. XXXIX/XL. 8 Vgl. einerseits Ein!., Vorw. S. XXXVIII/XXXIX, anderseits oben Kap. 1 I u. 111, 1, S. 24 u. 31 f. 7 Schon in der ,Einleitung' wird zunächst der ursprüngliche Zustand der Urdörfer und Markgenossenschaften geschildert, dann deren spätere Veränderung, worunter die Ausbildung von Grundherrschaft, Fronhöfen, Immunität und öffentlicher Gewalt erscheint; vgl. die Gliederung daselbst S. XLIXLVI. Über die Aufeinanderfolge der Bände, von denen die späteren die früheren immer voraussetzen, vgl. Note 2. Symptomatisch ferner das Vorwort zur Geschichte der Städteverfassung, Bd. 1, S. IV/V: Der erste Keim ist die Markenverfassung, "welche selbst aus den ersten germanischen Ansiedlungen hervorgegangen, und sodann die Grundlage für die späteren(!) öffentlichen und gemeinheitliehen Rechtsbildungen geworden ist. Aus den ursprünglich gro-

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von Gesellschaft und Staat. So wenig wie die Natur macht die Geschichte für Maurer aus sich heraus Sprünge, und wie in der Natur entwickelt sich auch in ihr alles organisch aus anfänglich vorhandenen Keimen8• Dieser ,natürliche' Prozeß der Verfassungsentwicklung verläuft nun ganz innerhalb eines Wirklichkeitsbildes, das seinerseits die vom Staat befriedete, unpolitische Gesellschaft voraussetzt und die "öffentliche Gewalt" erst auf ihrem Boden, aus einer Ordnung friedlicher Ackerbürgergenossenschaften allmählich hervorwachsen läßt9 • Auch das ist die Fortführung einer Position, die wir schon bei Möser ausgebildet fanden. Aber wie sich bei Waitz derBegriff desEigentumsgegenüberdemjenigenMösers gewandelt hatte10, so verändert sich hier das Bild der vorausgesetzten Wirklichkeit: es trägt nicht nur unpolitische, sondern darüber hinaus ausgesprochen patrimoniale Züge. Maurer sucht die Wirklichkeit der alten Verfassungsverhältnisse mit Begriffen zu erfassen und zu beschreiben, die in ihrer formalen Allgemeinheit und ihrem Inhalt ganz an Verhältnissen orientiert sind, wie sie allererst durch die Trennung von Staat und Gesellschaft geschaffen wurden. Auf sie werden die vielgestaltigen Begriffe der Quellen reduziert, indem einerseits verschiedenartige Quellenbegriffe als unterschiedliche Worte für die gleiche Sache erklärt und anderseits gleiche Wortbezeichnungen als einheitliche und durchgängige Sachbegriffe verstanden werden. Auf diese Weise ergibt sich der einheitliche Zusammenhang des vorausgesetzten Verfassungsmodells und seines geschichtlichen Entwicklungsgangs. Der Markenbegriff wird ein rein geographisch-gebietsmäßiger Begriff, der seinen Ursprung in den Ansiedlungsvorgängen der germanischen Geschlechter und Stämme hat; er bezeichnet den zu einer Dorf- bzw. Siedlungsanlage gehörigen räumlichen Distrikt an Wald- und Weideflächen11 • Alle Erscheinungsformen der Mark werden diesem un.., politisch-territorialen Begriff subsumiert. Je nach dem Ansiedlungsvorgang gab es kleinere oder sehr große Marken, die mehrere Dorfschaften umfaßten12• Auch die Markgrafschaften sind Marken in diesem Sinn, und ßen Marken sind nämlich durch Abmarkung die kleineren Dorfmarken, und durch die Ummauerung der offenen Ortschaften aus den Dorfmarken die Stadtmarken, also aus den Dorfmarkgenossenschaften die Stadtmarkgenossenschaften hervorgegangen." 8 Städteverfassung, Bd. 1, S. IV: "So wenig wie die Natur, macht auch die Geschichte, wenn ihr Gang nicht gestört wird, Sprünge. Wie in der Natur sich aus vorhandenen Keimen alles von selbst entwickelt, so ist auch das Städtewesen ganz naturgemäß aus einem bereits vorhandenen Keime hervorgegangen." Ferner das Note 7 angef. Zitat. 1 Maurer, Einl, S. 330 f. 10 Vgl. oben Abschn. 2, IV 1, S. 119 f. 11 Maurer, Einl., S. 40--44. 12 Vgl. Einl., S. 47--49; Maurer vermutet, daß selbst Länder wie Bayern, Allemannien, Thüringen, Krain und Österreich aus solchen Marken hervorgegangen seien.

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ebenso die Täler der Alpen, die Bauer- und Nachbarschaften, die Gaue und Provinzen13• "Alle diese Benennungen waren völlig gleichbedeutend und bezeichneten nichts anderes als ein in bestimmte Grenzen eingeschlossenes Land14." Ebenso sind die Bezeichnungen der Bewohner synonym: concivini, pagenses, villani, consortes sind nur verschiedene Bezeichnungen für die Markgenossen15• "Alle diese Ausdrücke wechselten sogar bei einem und demselben Volke(!) und werden als völlig identisch gebraucht18." Alle Wortbildungen der germanischen Sprachen mit adel, ethel, adol usf. werden, unter Rückgriff vornehmlich auf altnordische Quellen, freiheitlich-genossenschaftlich erklärt. Adel meint nichts weiter als die "Bezeichnung einer jeden vollen Berechtigung" sowie "der Gesetzlichkeit überhaupt"; der adlig Geborene ist der vollberechtigte, in gesetzlicher Ehe geborene Sohn, d. h. der Freie, das ·Adelthing das "placitum legitimum" der fränkischen Quellen17 • Auch der Begriff des Eigentums ist ein in dieser Weise einheitlicher und abstrakter; proprium, dominium, proprietas, terra dominica, ager dominicalis sind gleichbedeutende Bezeichnungen18• Die patrimoniale Grundvorstellung wird an diesem Begriff ganz deutlich. Volles Eigentum bedeutet volle Freiheit auf seinem Eigen, nur durch die Rechte der Genossenschaft beschränkt; Herrschaft ist dem Eigentum daher immanent, sie ist der "wahre Ausdruck für die dem Besitzer eines vollfreien Eigen zustehenden Rechte" 19• Eigentum und Grundherrschaft sind für Maurer so im Kern identisch, Ausdehnung und Konzentration von Herrschaft entsteht demgemäß durch Ausdehnung und Konzentration von Eigentum20• Das ist ganz von der Spätphase der altständischen Ordnung und aus der Sicht der Feudalismusdiskussion gedacht21 • Was nicht staatliche Herrschaft, öffentliche Gewalt ist, kann nur patrimoniale Gewalt sein, Ausfluß von Besitz und Eigentum. 13 Einl. S. 50 f. für Markgrafschaften, im übrigen S. 53-57. Für die Bedeutungsgleichheit von Mark, Gau und provincia beruft er sich u. a. darauf, daß die altdänischen Gesetze Mark bald mit pagus, bald mit Territorium übersetzten, und daß im allemannischen und sächsischen Volksrecht marchia und provincia "wechselweise" gebraucht seien; vgl. Einl. S. 56/57. ~ 4 Einl. S. 57. 15 Ebendort S. 70 f. 10 Einl. S. 71. 11 Einl. S. 12-14, ZitatS. 13. 18 Einl. S. 226/27. Für den Begriff ,Eigen' nimmt er S. 103/104 allerdings eine mehrfache Bedeutung an, im weiteren Sinne alles, worüber man (irgendwelche) Verfügungsrechte hat, im engeren Sinn das volle freie Eigen. Doch ergibt sich daraus für Maurer nicht eine Relativität des Eigentumsbegriffes überhaupt, sondern nur die Feststellung, daß die Germanen ursprünglich den Begriff des Eigentums nicht kannten (wohl aber offenbar die Sache). 19 Einl. S. 104 f. (Zitat), S. 226, 228/229. 20 Vgl. Einl. S. 104/105 u. 229/231. 21 Vgl. dazu oben Abschnitt 1, II a. E.

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Da aber die staatlkhe, öffentliche Gewalt selbst ein Produkt geschichtlich-organischer Entwicklung ist und zu den herrschaftlichen Verhältnissen als deren Überbau erst hinzutritt, müssen alle anfänglichen Herrschaftsbildungen patrimonialen, grundherrliehen Charakter tragen. In der Gestalt, die sie erst durch die Konzentration aller öffentlichen Herrschaftsrechte beim Staat erhalten haben, werden sie als seine Vorstufe und Grundlage vorausgesetzt. Die Verknüpfung von Herrschaft und Eigentum schafft dann auch die Verbindung zur alten "Freiheit", indem diese, wie schon bei Möser, einerseits als Herrschaftsfreiheit gedacht, anderseits aber staatsbürgerlich auf jeden Eigentümer, d. h. jeden "Freien", welcher an der genossenschaftlich-gleichheitliehen Bodenverteilung teilnimmt, ausgedehnt wird22• Die Abgrenzung zwischen öffentlicher und grundherrlicher Gewalt ihrerseits ist wiederum eine einheitliche und abstrakte; nicht konkrete Verhältnisse sind bestimmend, sondern die allgemeinen, "staatsrechtlichen" Grenzziehungen des 18./19. Jh. Was seit der Ausbildung des modernen Staates den Adelsherren und Korporationen an Herrschaftsrechten noch verblieben war, macht den Inhalt der genossenschaftlichen bzw. grundherrliehen "Freiheit", des "vollen Eigentums" aus: Familien- und Gesindegewalt, Feld- und Forstpolizei, Marktfriedensgerichtsbarkeit Was darüber hinausgeht: eigentliche Gerichtsbarkeit, das Recht zu Gebot Und Verbot, hoheitliche Strafgewalt, gehört zur "ö!fentlichen Gewalt" 18• Die wesentliche Verschiedenheit beider ist für Maurer ein festes Axiomu; sie gilt für alle Zeiten und für jedwede Ordnungsform. Es ist nicht verwunderlich, daß dieses Sozialmodell und Begriffsgerüst, wie Maurer es entwickelt, bei Marx und Engels lebhafte Zustimmung gefunden und deren geschichtliche Ansichten und Darstellungen nachhaltig beeinflußt hat25 • Die anfängliche volle Freiheit und Gleichheit, von der Maurer ausgeht, der patrimoniale Charakter aller herrschaftlichen Bildungen, die nur Überbau über privates Eigentum sind, ihr Verbleiben innerhalb der Sphäre der ,Gesellschaft' durch die Trennung von der "öffentlichen Gewalt", eben dies entsprach genau der Theorie, die Marx und Engels von der menschlichen Gesellschaft und ihrer EntVgl. oben Kap. 1, li und Einl., S. 71 f., S. 228/229. Einl. S. 169--71, 330 ff.; ferner Markenverfassung, S. 395. 24 Einl. S. 334. 25 Vgl. die Briefe von Marx an Engels v. 14. u. 26. März 1868: Marx-EngetsBriefwechsel Bd. 4, Berlin 1950, Nr. 1113 u. 1119, sowie die Briefe von Engels an Marx v. 15. u. 16. Dez. 1882, ebd. Nr. 1563 u. 1564. - Die 2. Ausgabe von Maurers "Einleitung", die 1896 erschien, wurde bezeichnenderweise von dem Marxisten Cunow besorgt und mit einem umfänglichen Vorwort versehen, das eine sehr positive Würdigung der Arbeiten Maurers enthält, vgl. Einl. S. III bis XXXVI, insbes. S. VI-XII. 22 23

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wicklung entwarfenze. Maurers verfassungsgeschichtliche Forschungen bestätigten für Marx und Engels weithin deren theoretisch festliegendes Bild der menschlichen Sozialordnung und ihrer historischen Entwicklung. Der gemeinsame Ausgangspunkt der liberalen und marxistischen Sozialtheorie in der ursprünglichen Freiheit und Herrschaftslosigkeit, sowie die beiden Theorien in der Absolutsetzung geschichtlich gewordener Institutionen und Begriffe gemeinsame Geschichtsfremdheit kommen daran deutlich zum Ausdruck. II.

Indem Maurer mit diesen Begriffen und Unterscheidungen an die verfassungsgeschichtlichen Quellen herantritt, ergibt sich mit Notwendigkeit ein bestimmter einheitlicher Zusammenhang des verfassungsgeschichtlichen Geschehens. Maurer hat diesen Zusammenhang an einer ungeheuren Fülle von Material entfaltet und dazu eingehende Detailschilderungen gegeben. Das soll im einzelnen hier nicht verfolgt werden. Vielmehr geht es darum, das innere Gerüst, die tragenden Elemente des geschilderten Verfassungsbaus und seines organischen Entwicklungsgangs näher zu untersuchen. Dafür bietet sich in erster Linie die "Einleitung" an, die Maurer den weiteren Darstellungen zur Einführung vorausgeschickt hat; sie enthält, wie er selbst sagt, die "Grundideen aller dieser Verhältnisse und Einrichtungen", die in den weiteren Werken im einzelnen dargelegt sind27• 1. Die älteste Verfassungsordnung ist für Maurer von Anfang an eine solche von Markgenossenschaften28• Die Markgenossenschaft ist das universale Bauprinzip, aus ihr wachsen alle weiteren Ordnungen hervor. Insofern unterscheidet sich Maurer von Möser und anderen, die Einzelhöfe und deren isolierte Hausherren an den Anfang setzen und die genossenschaftlichen Vereinigungen erst aus deren stufenweisem und jeweils nach Zwecken begrenzten Zusammenschluß entstehen lassen28 • 28 Kennzeichnend dafür die Äußerung von Engels über Maurers Grundthesen in: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats: Mar:c-Engels, Ausgewählte Schriften Bd. 2, a. a. 0., S. 234. Ferner Engels' Abhandlung "Die Mark", die 1882 als Beilage zu der Broschüre "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" verfaßt wurde. Die Markenverfassung wird darin, wie bei Maurer, als "Grundlage und Vorbild aller öffentlichen Verfassung" im Mittelalter angesehen und ihre Bedeutung und Entwicklung im Sinne der Maurersehen Thesen dargelegt, vgl. Friedrich Engels, Zur Geschichte und Sprache der deutschen Frühzeit, Berlin-Ost 1952, S. 154172. Welche Bedeutung Engels den Werken Maurers beimaß, zeigt auch sein Brief an Bebel v. 23. 9. 1882, ebd. S. 185. 17 Einl. Vorw. S. XXXVIII; vgl. auch die Einführung von Cunow daselbst, S. VI/VII. 18 Vgl. Einl. S. 1-12; Markenverfassung, §§ 1-4, S. 1-10. 20 Vgl. oben Kap. 1 II (Möser), Kap. 2 I (Hüllmann); ferner Maurer, Einl.

s. 2.

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Aber trotz der Anklänge an den Urkommunismus, die darin zur Geltung kommen, ist das nicht ein prinzipieller Unterschied, sondern nur ein solcher des Ausgangspunktes. Gemeinsam ist das organisch-naturtheoretische SozialmodelL Möser stand noch unter der Einwirkung der Theorien des Gesellschaftsvertrages und nahm davon etliche Elemente in sein Denken auf; von der organischen Theorie als solcher lag indessen der Ausgang von einem ursprünglich gegebenen sozialen Ordnungszusammenhang, wie Maurer ihn durchführt, näher. Wichtig ist, daß es sich von vornherein um genossenschaftlich und gleichheitlieh verfaßte Verbände handelt, die einer übergeorneten Herrschaftsgewalt entbehren. Diese Verbände stellen die allgemeine Ordnungsform dar. Um dieses Bild aus den Quellen zu gewinnen, greift Maurer vielfach auf spätere Zeugnisse, vor allem die Volksrechte und Weistümer zurück, die für ihn Aufzeichnungen lang geübter, auf Ursprungszeiten zurückgehender Gewohnheiten sind30 • Er bezieht sich jeweils auf deren genossenschaftliche Elemente und interpretiert sie von seinen Begriffen her, abstrahiert aber von ihrem herrschaftlichen Korrelat31. Daraus formt sich das Bild der herrschaftsfreien, auf gleicher Berechtigung aller vollfreien Loseigner basierenden, dinglich radizierten Genossenschaften32 mit eigener religiöser Gemeinde33, eigenem Marktfrieden34 und erwählten Beamten-Vorstehern35, die das Fundament der Verfassung der germanischen Stämme nach der Seßhaftwerdung ausmachen36• Tacitus kann unter den ,vici' nur "Vereine von Einzelhöfen" verstanden haben, und die Einrichtung von Höfen (curtes) als solchen ist nichtAusdruck vonürts- oderGrundherrschaft, auch wenn 80 Dies Verfahren wird von Maurer in allen seinen Werken angewandt, vgl. etwa die Belege für die ursprüngliche Marken- und Dorfverfassung, Einl. S. 12-171; Maurers eigene Begründung dafür Einl. S. 172, siehe auch unten III. Daß diese Art Rückblendung für die ganze Markgenossenschaftstheorie zutrifft, hat K. S. Bader, Mittelalter!. Dorf, S. 4-5, dargetan. 31 Daß zu den Marken von ihrem Ursprung her ebenso herrschaftliche Elemente wie die genossenschaftlichen gehörten, indem innerhalb einer Herrschaftsbeziehung mehr oder minder große genossenschaftliche Freiheiten bestehen, hat A. Dopsch, Die freien Marken, 1933, passim, insbes. S. 20--32, 79 ff. aufgezeigt. Zu Dopschs These, daß die Grundherrschaft am Anfang stehe, die Freiheit demgegenüber eine geschichtliche Errungenschaft sei, a. a. 0., S. 98102, soll damit nicht Stellung genommen werden. 32 Vgl. Maurer, Einl. S. 138/39, 141-45; Markenverfassung, S. 70 ff.; für die gleichheitliehe Organisation Einl. S. 71 f., 80--83 und 173 f., wo die ursprüngliche Gleichheit als Bedingung der späteren Änderungen vorausgesetzt ist; für den "dinglichen" Charakter .der Markgenossenschaften vgl. Markenverfassung, S. 59-62. n Einl. S. 167---69; als Beleg dienen meist Klostersiedlungen. s• Einl. S. 169-71. 35 Vgl. Ein!. S. 139--41; Markenverfassung, S. 208 ff. so Zur sachlichen Kritik an diesen Vorstellungen vgl. K. S. Bader, Mittelalt. Dorf, S. 2-8.

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sie inmitten einer villa als deren Palast liegen, sondern kommt allen vollfreien Genossen zu37• So verschiedene Begriffe der Quellen, wie comes loci, thunginus, decanus, auch centenarius, praefectus und praepositus sind nur nach Gegenden verschiedene Namen für die gleiche Sache, den erwählten Markvorsteher bzw. Markrichter8• Dies universale, demokratisch-genossenschaftliche Verfassungsbild bestimmt auch die Sicht der Eroberungszüge und der Landnahmen. Sie erfolgen herrschaftslos. Genossenschaftliche Gemeinwesen erobern Gallien und teilen das Land unter ihre Mitglieder aus3e. "Hordenweise als Zenten oder Hunderte wanderten nämlich die großen Völkerstämme einher und besetzten die gemeinsame Mark in ungeteilter Gemeinschaft40." Mehrere solcher Zent- oder Hundertschaften haben dann "offenbar" eine Mark oder größere Hundertschaft gebildet und die Grundlage für die fränkische Grafen- und Zentbezirke abgegeben; der pagus ist die von solcher "Volksabteilung" besetzte Feldmark, der huntari, tribunus usf. ihr "Vorstand" 41 • 2. Wie entstehen nun von diesem Ausgangspunkt die herrschaftlichen Bildungen, Grundherrschaft und Hofverfassung und die übergreifende "öffentliche Gewalt"? Das von Maurer verwendete Begriffssystem gibt ihm alle Möglichkeiten für eine "organische" Erklärung im Sinne eines kontinuierlichen Hervorwachsens an die Hand. Indem er alle Herrschaft patrimonial zu einer Funktion des (privat gedachten) Eigentums macht42 , wird die Veränderung der Eigentumsverfassung, die sich für ihn durch die Auflösung der strengen Markgemeinschaft, durch Inbesitznahme neuen Landes und durch rechtsgeschäftliehen Eigentumsübergang vollzieht, zur Quelle dieser weitgreifenden Veränderungen. Ausdrücklich betont er, daß die Grundherrschaft als solche keine spätere Bildung, sondern eine "urgermanische Einrichtung" sei43• Das folgt notwendig aus dem Begriff des Eigentums selbst, dem ja die Herrschaft als Ausfluß der vollen Eigentumsfreiheit immanent ist44 • Aber zunächst, solange es kein Sondereigen gab, war die Markgenossenschaft selbst "der wirkliche echte Eigentümer von Wald, Wasser und Weide", stand der "Gesamtheit" die Grundherrschaft an der Feldmark zu45 • Und bei den großen Wanderungs- bzw. Eroberungszügen war alles Land ursprünglich Gemeinland, "Volksland", wie Maurer aus Tacitus und den 37

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Maurer, Einl. S. 26/27, 29/31. Einl. S. 139/40. Vgl. Einl. S. 72, S. 60 ff. Einl. S. 60. Einl. S. 60 u. 62/63.. Siehe oben I, S. 137. Einl. S. 226; 1-Iofverfassung, Bd. 1, S. 1 f. Vgl. oben I, S. 137 und Einl. S. 104/05. Einl. S. 105---07, 112 f.

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Verhältnissen der nordischen Reiche belegt44• Dadurch trat die Herrschaft, bei der genossenschaftlichen Gleichberechtigung aller, gar nicht in Erscheinung. Als solche entsteht sie erstmals mit der Entstehung von Sondereigen an den Losgütern. Mit dem Aufkommen der "Privatgrundbesitzungen" bilden sich in jeder Feldmark so viele Grundherrschaften wie es Loseigner gibt, und ebenso tritt nun die Grundherrschaft der Gesamtheit oder des Königs, wo es ihn gibt, an dem verbleibenden ungeteilten Land besonders hervor47 • In dieser liegt der Ursprung der Reichsgrundherrschaften und Reichswaldungen48• Diese Herleitung der Hervschaftsbildung aus den vorausgesetzten genossenschaftlich-gleichheitliehen Urzuständen hat Engels' besonderen Beifall gefunden'9 • Von ihr aus ist auch allen weiteren Bildungen auf patrimonialer Grundlage Raum gegeben. Die vielen konkreten herrschaftlichen Ordnungen, die die mittelalterliche Welt kennzeichnen, werden in ihrer Entstehung auf eine Akkumulation des Grundbesitzes, welche sich in merovingischer und karolingischer Zeit vollzieht, zurückgeführt. Aus ihrerwachsen die großen Grundherrschaften, die "potestates potentum", ja später auch die Territorien50• Neben sehr ,organisch' anmutenden und etwas gesuchten Gründen, wie Erbteilungen, rechtsgeschäftliehen Veräußerungen u. ä., die er aus den Quellen herausliest5 \ sind es für Maurer vor allem die vielfachen Auftragungen und Ergebungen der sog. Königsfreien an Kirchen und Klöster oder weltliche Herren, die diese Akkumulation bewirken. Diese Königsfreien sind für ihn, dem vorausgesetzten Verfassungsbild gemäß, die ursprünglichen Vollfreien, und demgemäß erscheint dieser Vorgang als die große Besitzumschichtung, welche die Auflösung der alten genossenschaftlich-gleichheitliehen Verbände zur Folge haben mußn. Nur die Träger der Herrschaftsrechte bleiben schließlich als die "einzig Vollfreien" übrig; sie allein haben ihre alten Rechte bewahrt53• Ihre Einl. S. 93. Vgl. dazu Einl. S. 93/94, 228/29 und 112 ff. für Grundherrschaften aus Königsland. •s Einl. S. 96/97, 229. 49 Vgl. Friedrich Engels, Zur Geschichte und Sprache der deutschen Frühzeit, S. 154 ff. 50 Vgl. Maurer, Einl. S. 203 ff., 229-31. 51 Vgl. Einl. S. 72 f., 83,203-07. 52 Einl. S. 209 ff. Maurer schließt sich dabei der These von den ungeordneten, gewaltsamen Verhältnissen der spätmerovingischen Zeit an und gibt als Belege die Vorschriften der Capitularien gegen die opressio pauperum durch Grafen und andere, Einl. S. 210/11 Anm. 60/61. n Einl. S. 236. Symptomatisch die Beschreibung der Bildung herrschaftlicher Dörfer: Durch rechtliche Erwerbsvorgänge sei einer der Grundherren der Villa allmählich der alleinige geworden, es habe nur noch einen Herrenhof gegeben und alle anderen Besitzungen seien Zinsgüter, Bauernhöfe geworden (232). Die Ansiedlung auf herrschaftlichem Grund unmittelbar wird allerdings doch als der häufigere Weg angesehen. 48

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Höfe, die casa dominicata, auch die casa regalis, überhaupt die vielen Rittersitze in den Dorfschaften, sind nichts anderes als erhalten gebliebene Wohnsitze, die vordem alle freien Loseigner innehatten54 • Indem Maurer so das Fehlen der allgemeinen vollen Eigentümerfreiheit aus ihrer vorgängigen Auflösung erklärt, bleibt er einerseits im vorgefaßten Modell und hat anderseits doch die Möglichkeit, die nicht mehr gleichheitlieh-genossenschaftlich strukturierten Verhältnisse der mittelalterlichen Welt irgendwie zu erfassen. Dies sind nun alles ,Folgen' der Ausbildung der Grundherrschaften: daß die übriggebliebenen Freien zu bevorrechtigten nobiles werden, die sich rittermäßiger Lebensart hingeben, daß eine Vogtei- und Güterverwaltung eingerichtet wird, daß einerseits freie Salgüter und anderseits Zinsgüter, welche durch Hörige oder Leibeigene gebaut werden, einander gegenüberstehen, daß von großen Herrenhöfen aus neue herrschaftliche Siedlungen und Dorfanlagen entstehen, daß die Städte vielfach von Grundherren als herrschaftliche Städte, nicht nur auf freiem Reichsboden angelegt werden55• Die Erscheinungen selbst können, bei aller verfehlten geschichtlichen Herleitung, auf diese Weise gesehen und in ihrer Struktur erkannt werden58. In gleicher Weise wie die adligen Herrschaftsrechte haben nun auch die späteren öffentlichen Sachherrschafts- und Regalrechte patrimonialen Ursprung. Einforstungsrecht, das Recht an Flüssen, Wegen und Straßen, Strandrecht, das Recht am Meeresufer u. ä.: alles hat seine Quelle in der königlichen Grundherrschaft am "Gemeinland", die alles unverteilte, von niemand in Besitz genommene Land umfaßt57• Das dem Inhalt nach Öffentliche leitet sich aus königlichem Eigentum und Verfügungsrecht her, das seinerseits ganz privat gedacht wird. Einl. S. 231/32; vgl. ferner Hofverfassung, Bd. 1, S. 111. Vgl. Einl. S. 245-48, 252 ff.; für die Städte Städteverfassung Bd. 1, S. 28 f. 58 Auffallend ist, wie etwa die verschiedenen Arten der Städte gesehen und beschrieben werden, vgl. Städteverfassung Bd. 1, S. 72 ff. Maurer unterscheidet freie, reichsfreie, landesherrliche, Bischofsstädte, grundherrliche Städte, je nach dem Grund und Boden, auf dem sie errichtet sind. In patrimonialem Gewand besagt dies genau das, daß die rechtliche Qualität der Städte sich nach der Herrschaftsbeziehung und dem Herrschaftsraum, innerhalb deren sie errichtet sind, bestimmt. Sieht man, daß Eigentum eben dominium und advocatia ist (vgl. oben Abschn. 2, IV 1, S. 120), so ist der Zusammenhang völlig klar. - Auch kann Maurer die homines liberi für die karolingische Zeit durchaus als Schutzpfl.ichtige, in einem herrschaftlichen Rechtsverhältnis zum König stehend, erkennen, vgl. Hofverfassung Bd. 1, S. 104-110. Seine Theorie gibt ihm überhaupt die Möglichkeit, unter patrimonialem Vorzeichen die grundherrschaftlichen Ordnungen, wenn sie einmal entstanden sind, strukturgerecht zu erfassen. Das läßt sich an der 4-bändigen Geschichte der Fronhöfe, Bauernhöfe und Hofverfassung immer wieder feststellen. 57 Vgl. Einl. S. 113 f., 116---21. 54

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3. Die "öffentliche Gewalt" selbst hat allerdings, entgegen allen herrschaftlichen Gewalten, keinerlei patrimonialen Ursprung. Sie ist bei Maurer von Anfang an selbständig gedacht und steht der Sphäre der patrimonialen Herrschaftsrechte streng gesondert gegenüber58• Der Dualismus von adelsherrschaftlicher bzw. korporativer Autonomie und staatlichem Hoheitsrecht, wie er sich aus den Verhältnissen des späten Ständestaates ergab und sich für den Bereich der Selbstverwaltung im 19. Jh. organisatorisch verfestigte, ist der methodische Ausgangspunkt und bestimmt die historische Interpretation. Zwar ist Maurers "öffentliche Gewalt" insofern ein Produkt der organischen Sozial-Entwicklung, als sie erst nach den genossenschaftlichen und herrschaftlichen Ordnungen und als deren politischer Überbau entsteht59 • Aber sie wächst nicht aus diesen in innerer Kontinuität hervor, sondern tritt infolge äußerer geschichtlicher Gegebenheiten als etwas Selbständiges zu ihnen hinzu. Sie entsteht, so sagt Maurer",im Grunde genommen erst seit den häufigen Kriegen mit den Römern und seit der Völkerwanderung" 80• Der Kompetenzbereich dieser "öffentlichen Gewalt" ist für Maurer an sich nur die Ordnung und Wahrung des Landfriedens, aber vermöge des Oberaufsichtsrechts und der Straf- und Exekutivgewalt, die daraus folgen, begründet sie doch eine Oberherrschaft und hat der Substanz nach staatlichen Charakter, wiewohl Maurer selbst diese Bezeichnung nicht gebraucht81 • Ihre Erscheinungsform ist die königliche Gewalt und die daraus sich herleitendeGerichts-undHeerbanngewalt des Gaugrafen, der überall als ,staatliche' Institution auftritt82. Indem diese öffentliche Gewalt nun den bereits ausgebildeten genossenschaftlichen oder grundherrschaftliehen Ordnungen gegenübertritt, ist von Anfang an das Problem des Dualismus, der gegenseitigen Abgrenzung und die Einwirkung aufeinander, gestellt. Maurer orientiert sich an den Formen des englischen self-government und der deutschen Selbstverwaltung des 19. Jh., die er als die beiden geschichtlich wirksamen Arten dieses Verhältnisses begreift. In England sei die öffentliche Gewalt auch in die Hände der Genossenschaften und Städte gelegt worden, in Deutschland hingegen habe man stets eine strenge Trennung von öffentlicher und grundherrschaftlich-markgenossenschaftlicher Gewalt beobachtet; erst in den Reichsstädten und durch die Verleihung der niederen Gerichtsbarkeit an die Grundherren sei eine gewisse VerVgl. Einl. S. 334, und Markenverfassung, S. 373 f. Einl. S. 330/32: .,Ursprünglich hat es bloß eine Familien-, Geschlechteroder Stammesgenossenschaft und eine Markgenossenschaft gegeben." 80 Einl. S. 332. 81 Einl. S. 336 f.; Markenverfassung, S. 395 f. 8 2 Maurer hat dies nicht ausdrücklich dargelegt, aber die "öffentliche Gewalt" ist in den Einzelbänden an vielen Stellen in dieser Weise vorausgesetzt. 58

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bindung entstanden83• - Die weiteren Problemstellungen bewegen sich dann in dem durch das Verfassungsmodell vorgezeichneten Rahmen: zunehmende Erblichkeit der gräflichen Gewalt, Entstehung der Landeshoheit aus erblicher Grafschaft oder aus Immunität und königlicher Grundherrschaft, Nachteiligkeit der Verbindung von öffentlicher und grundherrlicher Gewalt für die Freiheit der Markgenossenschaften, Notwendigkeit einer direkten Verbindung zu Kaiser und Reich zur Erhaltung der alten Freiheit usf.8c. Alles dies ist bei Maurer nur in Andeutungen gegeben, da der Band über die Geschichte der öffentlichen Gewalt nicht mehr zur Ausarbeitung gekommen ist. III.

Überblickt man dieses Grundgerüst, das in den Einzelschilderungen über die Marken-, Hof-, Dorf- und Städteverfassung immer wieder hervortritt, so wird dessen theoretisch-konstruktiver Charakter offenbar. Der Geschichtsprozeß wird zum Anwendungsfall einer bestimmten, organisch-liberal orientierten Sozialtheorie. Dieses sozialtheoretische Moment lag im verfassungspolitischen Denken des organischen Liberalismus ebenso begründet wie das nationalpolitisch-konstitutionelle, das für Waitz bestimmend war. Denn diese besondere, "deutsche" Richtung des Liberalismus hatte ihre Wurzel ja nicht allein in dem primär geschichtlich-politisch orientierten Denken der nationalen Bewegung, sondern ebenso auch in der Welt der Ursprungs- und Begründungstheorien von Gesellschaft und Staat; hier stellte sie die geschichtlichorganische Theorie von Gesellschaft und Staat den individualistisch-abstrakten Vertragstheorien gegenüber85• Demgemäß ist auch die Fragestellung jeweils verschieden. Stand für Waitz, aus seiner nationalpolitisch-konstitutionellen Fragestellung, der Erweis der freiheitlich-konstitutionellen und staatlichen Verfassungsformen der germanischen und fränkischen Zeit im Vordergrund und kam die geschichtlich-organische Theorie nur nebenher, zur Ergänzung und Lückenfüllung, zur Geltung, so ist Maurers Frage von vornherein theoretisch, auf die allgemeine historische Herausbildung und Abfolge von Freiheit, Herrschaft und öffentlicher Gewalt, auf die organischen Gesetzmäßigkeiten verfassungsgeschichtlicher Entwicklung gerichtet. Maurer hat eine offenbare Neigung zu ethnologischen Rückgriffen und Ausblicken, und die Thesen, die er entwickelt, gelten stets für die 83 84 85

Vgl. Maurer, Einl. S. 333/34.

Dazu die Hinweise Einl. S. 334-37.

Vgl. oben Abschnitt 1 Il, 3, S. 91 f .

10 Böckenförde

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Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus

ganze germanische Welt88• Um nun jenen Geschichtsverlauf, der dem organisch-liberalen Modell entspricht, aus den Quellen zu belegen, arbeitet er zugegebenermaßen mit vergleichenden Rückschlüssen. Seine Darstellungen zerfallen immer in zwei Abschnitte: die ursprünglichen Zustände der Marken-, Dorf- und Hofverfassung und die späteren Veränderungen derselben67 • Für den ersten Abschnitt greift er auf spätere Zeugnisse und Gegebenheiten zurück, für den zweiten knüpft er an vorausliegende an. Der ursprüngliche Zustand universaler Markenbildung wird aus Volksrechten, Weistümern, Urkunden und Rechtsbüchern, deutschen wie nordischen Quellen herausabstrahiert68 • Wie begründet Maurer dieses Vorgehen? Solches Rückschlußverfahren "mußte indessen schon deshalb geschehen, weil wir über die ältesten Zeiten keine bestimmten Zeugnisse besitzen, die älteren Zustände vielmehr erst aus den späteren, wo sich jene erhalten, erraten und so in Verbindung mit dem nordischen Recht gewissermaßen erst wieder neu konstruiert werden müssen" 69• Hier ist das Prinzip mit aller Deutlichkeit ausgesprochen. Hat man sich auf ein solches Verfahren einmal eingelassen, so liegt es in der Konsequenz des Prinzips, daß nur jene Elemente der späteren Quellenaussagen in die Neukonstruktion der früheren Verhältnisse aufgenommen werden, die der vorausgesetzten Vorstellung davon entsprechen. Für Maurer gelten demgemäß nur genossenschaftliche, nicht aber herrschaftliche Ordnungsformen als Fortwirkung ursprünglicher Zustände. Auf diese Weise schließt sich nicht nur der Zirkel, auch der Charakter der Methode wird offenbar: die Quellen dienen nicht mehr der unmittelbaren historischen Erkenntnis, sondern als Beleg für eine vorgefaßte theoretische Konzeption. Damit ist allerdings noch keineswegs von vornherein ein negatives Urteil über das Bild der geschichtlichen Vorgänge gesprochen, das auf diese Weise entsteht. Denn eine Theorie der verfassungsgeschichtlichen Entwicklung ist nicht schon als solche zu verwerfen; vielmehr hängt ihr geschichtlicher Erkenntniswert davon ab, inwieweit sie von außen Gedanken an die geschichtliche Wirklichkeit heranträgt oder aber diese Wirklichkeit selbst in Gedanken faßt. Indem Maurer die öffentliche Gewalt als etwas geschichtlich Gewordenes und von der herrschaftlichen Gewalt substantiell Verschiedenes begreift, wird bei aller patrimonialen und a-politischen Verzeichnung doch der Weg frei, um die herrschaft66 Vgl. etwa Einl. S. 2--4, 12-14 für die Bedeutung von Adel, edel, allod u. ä.; die Belege zu S. 71-73, 92 f. für die Entstehung der Eigentumsrechte an der Feldmark; S. 106 ff. für königliche Verfügungsrechte und königliche Grundherrschaft; ferner allgemein Hofverfassung, Bd. 1, Vorw. S. IV. ' 7 Vgl. die Gliederung der Einl., S. XLI u. XLIV ff., auch S. 172. 68 DieS. 1-172 der Einl. angeführten Belege bestätigen das in ihrem Neben- und Ineinander auf jeder Seite. 69 Einl. S. 172.

Liberales Verfassungsideal und Geschichtstheorie: 0. v. Gierke

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liehe Gewalt und die konkreten herrschaftlichen Ordnungen überhaupt in ihrer Eigenständigkeit und in ihrer konstitutiven Bedeutung für die politische Ordnung des Mittelalters zu begreifen. Es ist nicht notwendig, sie nur als Privatisierung oder Usurpation an sich staatlicher Rechte anzusehen. Anderseits aber verhindert gerade die formale Allgemeinheit und Abstraktheit von Maurers ,staatlich' geformten Begriffen und Unterscheidungen, daß er markgenossenschaftliche und herrschaftliche Ordnung anders verstehen kann denn als allgemeine, einander entgegengesetzte Ordnungsformen, welche geschichtlich nur im Verhältnis der Aufeinanderfolge und Ablösung stehen können. Die konkrete Bezogenheit von beiden und ihr mannigfaches Widerspiel müssen ihm notwendig verborgen bleiben. Wo sich in späterer Zeit (noch) markgenossenschaftliche Freiheit findet, ist sie stets eine Fortwirkung der anfänglichen Zustände, die noch erhalten geblieben sind, nicht eine Neubildung innerhalb herrschaftlicher Verbände. Dennoch war es von Maurers Theorie aus nur mehr ein weiterer Schritt, Herrschaft und Genossenschaft nun auch nebeneinander zu stellen und beide als von Anfang an wirksame Ordnungsprinzipien zu begreifen. Der Gang der Verfassungsentwicklung baut sich dann aus deren Mit- und Gegeneinander auf. Im Werk Otto von Gierkes ist dieser Schritt vollzogen. Vierter Abschnitt Die Verfassungsgeschichte als vorbestimmter Entwicklungsgang zum monarchisch-liberalen Verfassungsstaat: Otto v. Gierke

I. Die beiden geistigen Quellströme des organischen Liberalismus, das nationalpolitisch-konstitutionelle und das entwicklungsgeschichtlichsozialtheoretische Denken, die sich bei Waitz und G. L. v. Maurer je gesondert als bestimmende Kräfte der geschichtlichen Forschungen zeigten, fließen im Werk Otto v. Gierkes zu einer untrennbaren Einheit zusammen. Sowohl das Staats- und Verfassungsdenken wie auch das Geschichtsbild des organischen Liberalismus kommen darin zu einem typischen Ausdruck, der weit über die eigene Zeit hinausgewirkt hat. Kernpunkt für Gierkes verfassungsgeschichtliche Fragestellungen ist seine konkrete Staatslehre. Sie gipfelt in dem Gedanken der organischen Staatspersönlichkeit als der Versöhnung von Herrschaft und Genossenschaft, von Einheit und Freiheit1 • 1 Für die biographischen Daten und die Gesamtwürdigung wird auf das Kapitel über Otto v. Gierke bei Erik Wolf, Große Rechtsdenker, 3. Aufi. 1951, verwiesen.

148

Nationale BewegiJng und ,organischer' Liberalismus

1. Diese Lehre war, wie wir gesehen haben1 , im deutschen konstitutionellen Denken selbst angelegt; für Gierke war sie noch besonders durch seinen Lehrer Georg Beseler vorbereitet3• Durch sein Buch "Volksrecht und Juristenrecht" hatte Beseler das theoretische Fundament für den Kampf der Germanisten gegen die Vorherrschaft des römischen Rechts und gegen den reglementierenden, noch volksfremden ,obrigkeitlichen' Staat geliefert; gegen das landfremde, abstrakte Recht der gelehrten Juristen hatte er das im Bewußtsein des Volkes lebendige, ,nationale' Recht und die alte genossenschaftliche Freiheit berufen•. Beseler hatte auch die Lehre von der Genossenschaft als einem eigentümlichen Gebilde des deutschen Rechts zum erstenmal eingehend dargelegt: ihren Ursprung im germanischen Assoziationsgeist, ihr Wesen als eine eigene, den Gliedern gegenüber selbständige Gesamtheit, die jedoch von diesen nicht getrennt, sondern mit ihnen mannigfach rechtlich verbunden ist, ihre Fähigkeit, in den niederen Ebenen der Gemeinde wie in der hohen Sphäre des Staats zur Wirksamkeit zu gelangen, schließlich ihre vielfältige Erscheinung und ihren Anteil an der öffentlichen Gewalt in der altdeutschen und mittelalterlichen politischen Ordnung5 • Die politische Forderung war damit unmittelbar verknüpft: es gelte das genossenschaftliche Leben nicht nur für den "festen Unterbau der politischen Freiheit", die Gemeinden, zu erneuern, sondern ebenso auch in den "höheren Beziehungen" des staatlichen Lebens'. Das Bild der Verfassungsgeschichte, das Beseler entwirft, ist ganz vom organisch-liberalen und nationalen Denken bestimmt. Aus der Familie, der "allgemeinen Grundlage menschlicher Verbindungen", sind die ,.weiteren Vereine" als genossenschaftliche politische Gemeinwesen erwachsen; die freien Genossen der Volksgemeinde waren die eigentlichen Träger der öffentlichen Gewalt, die "gemeine Freiheit" der eigentliche Kern und Mittelpunkt der Verfassung7 • Auch die weiteren Stufen halten sich ganz in dem den Germanisten geläufigen Modell; die Fortentwicklung und die Bedeutung des genossenschaftlichen Elements in der Verfassung wie auch das Hervortreten und der Zerfall der nationalen Einheit

Vgl. oben Abschnitt 1, III, 2, S. 93-95 f. Über Gierkes Verhältnis zu Beseler, bei dem er sich habilitierte, vgl. Ulrich Stutz, Zur Erinnerung an Otto von Gierke: Sav. Zs., Germ. Abt., Bd. 43 (1922), S. XI/XII. Der 1. Bd. des Deutschen Genossenschaftsrechts ist Georg Beseler in Verehrung gewidmet. 4 Vgl. Stintzing-Landsberg, Bd. III, 2 S. 513 f.; Schnabel, Bd. 3, S. 67 f. Über die literarisch-polemischen Auseinandersetzungen, die dem Erscheinen des Werkes nachfolgten, berichtet 0 . v. Gierke, Georg Beseler: Sav. Zs., Germ. Abt., Bd. 10 (1890), S. 9-10. Ferner jetzt auch E. R. Huber, Bd. 2, S. 391 f . 3 Dazu Georg Beseler, Volksrecht u. Juristenrecht, S. 159 f., 169 ff. ß Beseler, a. a. 0., S. 160. 1 Vgl. ebend., S. 5/6. 2

s

Liberales Verfassungsideal und Geschichtstheorie: 0. v. Gierke

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und des nationalen Bewußtseins werden dabei von Beseler besonders ins Licht gerückt8 • Beseler stand in den vorderen Reihen der liberalen und nationalen Bewegung; die Versammlungen der Germanisten, das Parlament der Paulskirche, der preußische Landtag, das Herrenhaus und der Reichstag zählten ihn zu ihren Mitgliedern9 • Der Kampf um .den nationalen Verfassungsstaat, die Wiederbelebung und Vollendung der nationalen, deutschen genossenschaftlichen Freiheit hat ihn sein Leben lang bewegt. So hat er seinem Schüler Gierke neben dem fachlichen Wissen auch die innere Begeisterung, den unerschrockenen Kampfesmut für deutsche Freiheit, deutsches Recht und deutschen Staat, wie er die ganze Generation der Germanisten erfüllt hatte, weitergegeben10 • Aus diesem geistigen Zusammenhang ist Gierkes konkrete genossenschaftliche Staatslehre hervorgewachsen. In ihr geht es um die prinzipielle Rechtfertigung und genossenschaftliche Ausdeutung des nationalen Verfassungsstaates, wie ihn der ,organische' Liberalismus erstrebte. Ihre besondere Aktualität gewinnt sie vor dem Hintergrund des preußischen Verfassungskonflikts. Hier wurde noch einmal, wie schon 1848, die Einheit des Nationalen und Konstitutionellen und das Konstitutionelle als die organische Verbindung von Königtum und Volksfreiheit verteidigt, bevor der Liberalismus durch seine Option für das Nationale zu Lasten des Konstitutionellen im Jahre 1866 seine Kraft als politische Bewegung in Deutschland endgültig verlor11 • ·Diese Situation findet in Gierkes Werk einen konkreten Niederschlagl 2 • 8 Vgl. Volksrecht u. Juristenrecht, S. 7-12, S. 18-26. In den sächsischen Königen tritt das "Bewußtsein einer nationalen Einheit" hervor, das Kaisertum zieht die besten Kräfte nach Italien ab, und im Reich fand der "Trieb nach Vereinzelung" in der Verfassungsform kein genügendes Gegengewicht (11/12). Das Kaisertum verlor dann die "Höhe der nationalen Bestimmung", und die "vornehmen Geschlechter", die durch Geburt und Macht unter den Gemeinfreien hervorragten, wurden Träger der Territorialentwicklung (18/19). Die Geschichte der Reichsritter und der Einungsbewegung schildert er mit innerem Pathos als wahre Erscheinung der "deutschen Freiheit" (20 f.). 9 Vgl. Stintzing-Landsberg, Bd. III, 2 S. 509/10 und 0. Gierke, Georg Beseler, S. 18. Dem Abgeordnetenhaus des preußischen Landtags gehörte er von 1849 bis 56 und 1869-63 an; dem Reichstag von 1874--81; seit 1875 dem preußischen Herrenhaus auf Grund der Präsentation der Universität Berlin. 10 Vgl. dazu Gierkes Nachruf auf Beseler: Georg Beseler, a. a. 0., S. 14 :IJ.,

17 f.

11 Auch wenn man mit Carl Schmitt die Gewährung der Bitte um Indemnität eher für einen Erfolg des Parlaments als für einen Erfolg Bismarcks hält (Staatsgefüge u. Zusammenbruch des zweiten Reiches, 1934, S. 20 :IJ.), bleibt die Tatsache, daß die liberale Bewegung dadurch endgültig um ihre politische Kraft gebracht war, bestehen. Die Alternative von Nationalem oder Liberalem, die sich 1866 auftat, mußte für sie tödlich werden. Indem der Liberalismus um der Verwirklichung des Nationalen willen seinen liberalen Rechtsstandpunkt nicht mehr verteidigte, war sein moralisches Rückgrat gebrochen w~ ·.1

150

Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus

Die "moderne deutsche Staatsidee", die er entwickelt und begründet, ist für ihn die Vollendung der germanischen Genossenschaftsidee und zugleich deren Versöhnung mit der ihr geschichtlich widerstreitenden Herrschaftsidee; beide werden als Momente in die überwölbende Einheit des monarchisch-liberalen Verfassungsstaates eingebracht. "Die moderne Staatsidee enthält daher die Versöhnung der uralten Genassenschaftsidee und der uralten Herrschaftsidee, von denen jede in ihrer Sphäre zur Geltung kommen, deren feindlicher Gegensatz aber in einer höheren Einheit seine Lösung finden soll ... Der repräsentative Verfassungsstaat ist ein die genOIS5enschaftliche Grundlage (die StaatsbürgerGenossenschaft) und die obrigkeitliche Spitze (die Monarchie) organisch, d. h. nicht als Summe, sondern als lebendige Einheit verbindendes Gemeinwesen13." Was Albrecht zuerst juristisch formuliert hatte, wird von Gierke systematisch ausgebaut14• Weder Fürst noch Volk sind Persönlichkeiten außerhalb des Staates, sondern "ganz allein Organ, Erscheinungsform der Staatspersönlichkeit"; der Fürst ist "nicht mehr Fürst aus eigenem Recht, sondern Fürst durch das Recht des Staates". Den Umfang seiner Befugnisse und Pflichten bestimmt "allein die Verfassung" 15 ; sie ist nicht nur eine Beschränkung, sondern die Grundlage seiner Machtstellung. Auf den preußischen Konflikt angewandt, war er damit zugunsten der Volksvertretung entschieden. Man würde diese Theorie verkennen, wenn man sie auf die juristischpolitische Legitimation der liberalen Zwischenstellung zwischen Monarchie und Volkssouveränität reduzieren wollte18• Für Gierke und den ,organischen' Liberalismus war sie mehr. Es gehörte gerade zum Wesen des germanischen, deutschen Staats, daß er "seiner Grundlage nach Genossenschaft, seiner Betätigungsform nach Herrschaft" war, daß er die gerdie Annahme aller weiteren Verfassungskompromisse unvermeidlich. Der politische Liberalismus verebbte denn auch alsbald in einem Wirtschaftsliberalismus und überließ die staatsrechtliche Theorie dem formalen Positivismus Labands und seiner Schule. Dazu Tb. Schieder, Staat und Gesellschaft, S. 152 f.; auch E. W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, § 26, S. 214 ft. u. unten Kap. 4 I, S. 177 ff. u Gierkes "Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft", der 1. Bd. des Genossenschaftsrechts, in dem seine konkrete Staatslehre in ihren Grundzügen niedergelegt ist, erschien 1868. Ein gutes Drittel dieses Bandes hat 1867 der Berliner Juristen-Fakultät als Habilitationsschrift vorgelegen, vgl. Stutz, Erinnerung, S. XIII f. Die Entstehung und gedankliche Konzeption fällt also in die Jahre vor 1866, d. h. in die Zeit des preußischen Konflikts. Gierke lebte zu dieser Zeit in Berlin. ta Gen. Recht I, S. 833. 1• über den Zusammenhang zwischen beiden Below, Der deutsche Staat, s. 167 ff. 15 Gen. Recht I, S. 828. te So insbes. Reinhard Höhn, Gierkes Staatslehre, S. 36/37; auch Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 54 f., S. 8. Vgl. schon oben Abschn. 1, 111, 2, S. 96 f.

Liberales Verfassungsideal und Geschichtstheorie: 0. v. Gierke

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manische Verbindung von Königtum und Volksfreiheit erneuerte17 • In dieser Theorie und in einer ihr entsprechend geordneten politisch-sozialen Wirklichkeit sollte die Vollendung des germanischen, nationalen Staatsgedankens zum Ausdruck kommen. Zugleich entsprach sie der "organischen" Auffassung von Staat und Recht, die den Begriff des Staates als einer selbständigen, geschichtlich erwachsenen, in sich verfaßten, nach Haupt und Gliedern geordneten Ganzheit implizierte18• 2. Diese konkrete, genossenschaftliche Staatslehre ist nun bei Gierke zugleich Ausfluß einer allgemeinen Consoziationstheorie. Der Aufbau der sozialen Ordnung vollzieht sich für ihn in einer Stufenfolge teils natürlicher, teils gewillkürter Genossenschaften, deren höchste und umfassendste der Staat ist19• Dem Staat kommt dabei gegenüber den andern Genossenschaften keine wesensmäßige, sondern nur dem Umfang nach eine Verschiedenheit zu; das hat Gierke mehrfach betont20• Auch die Souveränität verleiht nur eine besondere Eigenschaft, begründet aber keine generische Differenz. Es kommt deshalb nicht nur dem Staat eine "publizistische Rechtssphäre" und eigenständige öffentliche Gewalt zu, sondern ebenso auch, aus ihrem Wesen heraus, den engeren, ihm eingeordneten Verbänden. Gierke hat nicht aufgehört, für diese eigene publizistische Rechtssphäre, die "Autonomie" der engeren Verbände zu kämpfen21 • Von den Erfahrungen der Gegenwart her liegt es nahe, in dieser Theorie die Begründung eines soziologischen Pluralismus und ein allgemeines 17 Die Zitate Gierke, Germanischer Staatsgedanke, S. 7, und Recht und Sittlichkeit: Logos Bd. 6 (1916/17), S. 262 f. 18 Über diese Legitimationswirkung der Organismustheorie des Staates für Gierkes verfassungstheoretisches Denken vgl. Höhn, Gierkes Staatslehre, S. 62 ff. Insofern ist auch Erik Wolf, Rechtsdenker, S. 681, zuzustimmen, wenn er bei Gierke die Verbindung von konkreter Staatslehre und allgemeiner Wesenserkenntnis der menschlichen Verbände wirksam sieht. 19 Vgl. Gen. Recht I, S. 1. 20 Ausdrücklich Gen. Recht I, S. 832/33: der Staat i. S. der modernen deutschen Staatsidee ist "von den in ihm enthaltenen engeren Verbänden des öffentlichen Rechts, von Gemeinden und Körperschaften, nicht generisch verschieden, sondern steht ihnen nur wie die vollkommenere der unvollkommenen Entwicklungsstufe gegenüber ... Er ist daher den Gemeinden und Genossenschaften homogen." Ebenso, ins Begriffliche gewendet, Gen. Recht II, S. 831: einerseits die .,Person gewordene höchste Allgemeinheit", anderseits .,nur das letzte Glied in der Reihe der zu Personen entwickelten Verbände, indem er gleich ihnen den verbundenen Individuen gegenüber den gemeinheitliehen Willen zur rechtlichen Einheit verkörpert." In der Bespr. des Buches von Sander, Feudalstaat und bürgerl. Verfassung, Sav. Zs., Germ. Abt. Bd. 27 (1912) wird allerdings ein Artunterschied zwischen Staat und Verbänden infolge der staatlichen Souveränität anerkannt (S. 616/17). Doch ist dadurch Gierkes grundlegende Konzeption nicht mehr geändert worden, wie sich auch in der späten Schrift über den germanischen Staatsgedanken (1919) deutlich zeigt. 21 Vgl. Gen. Recht I, S. 833.

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Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus

Assoziationsdenken zu sehen 22 • Aber sie würde damit in einen falschen Zusammenhang gestellt. Sie ist nicht vom Boden der Gesellschaft gegen den Staat und zu seiner Auflösung konzipiert, sondern in Anknüpfung an die Tradition des altdeutschen politischen Lebens und seiner unentzweiten genossenschaftlichen Ordnungen, die für die innere Aufgliederung und freiheitliche Ausformung des modernen Staates neu belebt werden sollen23 • Gierke steht auch hier ganz auf dem Boden des organischen Liberalismus. Anders als bei Lujo Brentano, der 1870 die ,Geschichte und Entwicklung der Gilden und Arbeitervereine in England' veröffentlichte24, entspringt sein genossenschaftliches Denken und sein Interesse für die genossenschaftliche Freiheit des Mittelalters nicht der Beschäftigung mit der sozialen Frage und der Einsicht in die Lebensbedingungen der Arbeiter in der heraufkommenden lndustriegesellschaft25, sondern dem Bemühen um die Vollendung der geschichtlich begründeten nationalen Verfassungsentwicklung20 • Gierkes genossenschaftliche Verbände haben denn auch, obwohl er den Begriff öfters verwendet, gar nicht den Charakter von gesellschaftlichen Assoziationen, Interessenvereinen der souveränen Individuen, sondern, um einen Ausdruck der Quellen zu verwenden, von Consoziationen, Gemeinschaften, die sich jeweils über den Bereich der vereinigten Individualinteressen erheben, den einzelnen gegenüber eine Eigenständigkeit erlangen und einen Gemeinzweck vertreten und die einzelnen auch als solche, statusmäßig, miterfassen und integrieren27 • Das Normbild dafür sind die körperschaftlich organisierten und noch nicht nach "Staat" und "Gesellschaft", Macht und Interesse in sich entzweiten genossenschaftlichen Ordnungen der mittelalterlichen Welt, die Gierke allerdings, wegen seines Ausgangspunkts in einer 22 So vor allem Carl Schmitt, Begriff des Politischen, S. 29/30, und Hans Krupa, Genossenschaftslehre und soziologischer Pluralismus : AöR, NF, Bd. 32

(1940), s. 97- 114. 23 Bei Höhn, Gierkes Staatslehre, S. 104-109, ist sehr richtig bemerkt, daß Gierke nicht im Rahmen des Dualismus von Staat und Gesellschaft argumentiert; vgl. ferner auch E. Wolf, Rechtsdenker, S. 675 f. 24 Vgl. Lujo Brentana, Mein Leben, 1931, S. 55. Der Originaltitel lautete: "On the History and Development of Gilds and the Origin of Trade Unions". 25 So ausdrücklich bei Lujo Brentano, vgl. a . a. 0., S. 45-53. 28 Vgl. Gen. Recht I, S. 822 ff.; Der germanische Staatsgedanke, S. 4 ff. 27 Gemeinschaft ist hier nicht im Sinne des Begriffspaares "Gemeinschaft.. und "Gesellscha ft" von Tönnies gebraucht, sondern zur Bezeichnung eines qua litativen Mehr gegenüber auf der Vertrags- und Austauschebene bleibenden Assoziationen. Dieses qualitative, auf Statuscharakter zielende Mehr begrifflich zum Ausdruck zu bringen, ist die Funktion des "deutschrechtlichen" Genossenschaftsbegriffs, wie der Organismustheorie des Staates überhaupt. Darin liegt d er politische und philosophische Hintergrund für den "theoretischen" Streit um das Wesen der m enschlichen Verbände und der juristischen Person, in dem "reale Verba ndspersönlichkeit" und "Fiktionstheorie" die gegensätzlichen Position en b ezeichnen.

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Genossenschaftstheorie, von ihrer herrschaftlichen Bezogenheit isoliert und mit modernen staatsrechtlichen Kategorien zu erfassen trachtet28 • Gierke greift so nicht über den modernen Staat in den soziologischen Pluralismus hinaus, sondern vor ihn zurück. Seine große Vorliebe für die Staatstheorie des Johannes Althusius gründet eben darin, daß es sich bei dieser um eine Consoziationstheorie, nicht um eine mechanisch-individualistische Assoziationstheorie des sozialen Lebens handelt28• Hier fand Gierke seine eigene politische Genossenschaftstheorie vorgebildet. Auf der gleichen Linie liegt es, daß er gerade in dem Verfassungsmodell des ALR, das einerseits schon die allgemeine Staatsbürgergleichheit weithin erreichte, anderseits aber an der einheitlichen ,societas civilis' gegen die Trennung von Staat und Gesellschaft noch festhielt 30, eine Bewahrung und Erneuerung des germanischen Staatsgedankens sieht. "Hier ist die germanische Vorstellung von der Einheit alles Rechts, das gleichmäßig die Beziehungen der Individuen zueinander und die Lebensverhältnisse der menschlichen Verbände durchdringt und ordnet, zu voller Blüte entfaltet." Auf das Individualrecht folgt das Sozialrecht "in systematischem Aufstieg von unten nach oben", mit dem Staat als "dem alle andern Verbände überwölbenden höchsten Gemeinwesen" schließt es ab31 • So stehen Gierkes genossenschaftliche Staatslehre und seine Consoziationstheorie zur Unterscheidung und Trennung von Staat und Gesellschaft gewissermaßen quer32. Gierke teilt mit dem organischen Liberalismus das geschichtlich bestimmte Wirklichkeitsverhältnis und glaubt, die Fragen der eigenen Zeit durch die Bewahrung und Erneuerung überkommener, geschichtlich-nationaler Ordnungsformen bewältigen zu können33. Die bürgerliche Gesellschaft als solche, in ihrem Emanzipationsund Auflösungscharakter gegenüber diesen Ordnungen als die seit 1789 Vgl. Gen. Recht I, S. 221. Vgl. dazu die Schilderungen der Staatslehre des Althusius in: Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtliehen Staatstheorie, 1880. S. 18-36, 161 f. Über den Unterschied und das Verhältnis von Consoziationsdenken und Assoziationsdenken und den geschichtlichen und theologischen Hintergrund jetzt Gerhard Oestreich, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag: Festgabe für Herzfeld, 1958, S. 16 ff. so Dazu Werner Conze, Staat und Gesellschaft, a. a. 0., S. 6-9, ferner oben 2s

28

Kap. 2,1.

German. Shatsgedanke, S. 20/21. Das ist bei Otto Brunner, Land und Herrschaft, S. 179 übersehen, wenn er Gierkes Begriffspaar Herrschaft u. Genossenschaft innerhalb der ,Gesellschaft' verorten und einer staatlichen Ordnung entgegensetzen will. Für Gierke ist, anders als für Sohm und Below, Herrschaft nicht der (private) Gegensatz zum Staat, sondern etwas auf ihn hin. Wenn E. Wolf, Rechtsdenker, S. 575; 576 zwar kein Nebeneinander oder Gegeneinemder von Staat und Gesellschaft bei Gierke annimmt, wohl aber ein "Ineinander und Miteinander". so ist da~ seinerseits noch innerhalb des Staat-Gese!Ischaft-Schem;1s gedacht. ''" Vgl. dazu ~chon ober. Abschn. 1. III. 2. S. 96 f. 31

32

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Nationale Bewegung und ,organischer' Liberalismus

sich realisierende Wirklichkeit, hat er, gleich diesem, nicht erkannt34• Das scharfe Auseinander- und Gegeneinandertreten von Staat und Gesellschaft, wie es im Laufe des Jahrhunderts immer mehr zutage trat, mußte für ihn eine Auflösung der ,natürlichen', organischen Gliederung von Volk und Staat bedeuten. So trennt ihn von dem Assoziationsdenken Lasalles und der Forderung nach Arbeiterassoziationen im kommunistischen Manifest35, trotz der Verwendung des gleichen Wortes, eine ganze Welt. Er tut nicht einen "entscheidenden Schritt" von Hegel und L. v. Stein weg, wie Carl Schmitt meint38, sondern verbleibt in einer Posi..; tion, die geschichtlich und systematisch vor diesen Theoretikern von Staat und Gesellschaft zu verorten ist. Auch seine sozialpolitische Einstellung, die ihn später scharf gegen den Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs Stellung nehmen läßt37, hat darin ihren eigentlichen Grund. Für sie ist der vor-kapitalistische und anti-individualistische Charakter des ,deutschen' Rechts- und Staatsgedankens, die Bewahrung des bäuerlich-genossenschaftlichen Erbes gegen die Emanzipationsstruktur der Industriegesellschaft bestimmend38• Angesichts der politisch-sozialen Wirklichkeit, die Gierke umgab, mußte diese Position freilich gleichwohl zu pluralistischen und demokratischen Konsequenzen führen 38• Denn da der Dualismus von Staat und Gesellschaft nun einmal bestand, war es unausweichlich, daß die erstrebte ,Vergenossenschaftlichung' des Staates seine ,Vergesellschaftlichung' bedeuten mußte, daß der unentzweite Charakter der genossenschaftlichen Verbände ein abstraktes Postulat wurde und die These der generischen Gleichartigkeit aller sozialen Verbände auch den Staat selbst zu einem gesellschaftlichen Verband machte und damit dem Pluralismus freies Feld schuf. Als Bismarck nach dem Verfassungskonflikt das Bündnis mit den National-Liberalen einging und der Ausbau der liberalen Wirtschaftsgesellschaft unaufhaltsam begann, war Gierke bereits ein Zu-spät-Gekommener, von dem Gang der Geschichte überhott4°. 34 Typisch dafür die Gedächtnisrede auf Rudolf Gneist, in der er meint, Gneist habe die Entgegensetzung und den Dualismus von Staat und Gesellschaft fraglos überspitzt; das eigentliche Problem ist ihm nicht aufgegangen. Vgl. daselbst, S. 28 f. 35 Für Lasalles Assoziationsdenken vgl. H. Oncken, Ferdinand Lasalle, 2. Aufl., S. 316-323. se So Carl Schmitt, Begriff des Politischen, S. 12/13. 37 Vgl. Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, und die großangelegte Kritik: Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches und das deutsche Recht,

1889.

ss Das wird bei Hans Krupa, Genossenschaftslehre und politische Neutrali..: tät: Schmollers Jahrb., Bd. 66 (1942), S. 726-728, richtig gesehen, wenn auch mit etwas zeitgebundener Blickrichtung. sg Insofern bestehen die Feststellungen bei Höhn, Gierkes Staatslehre, S. 108/09, zu Recht. 4 0 Dazu auch unten Kap. 4, I, 1, für den organischen Liberalismus im allgemeinen. Ferner Th. Schieder, Staat u. Gesellschaft, S. 152 f.

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Seine Theorie mußte nun mit einer gewissen Notwendigkeit einerseits zu pluralistisch-demokratischen, anderseits zu pseudo-konservativen Konsequenzen führen41 • Aber es besteht ein Unterschied zwischen der gedanklichen Konzeption und dem geistigen Ort einer Staatstheorie und den Konsequenzen, die sich daraus in einer Wirklichkeit ergeben, die ihr nicht mehr entspricht. Gerade für die historische Erkenntnis ist das von Wichtigkeit42• 3. Es wäre überflüssig gewesen, Gierkes organisch-genossenschaftliche Staatslehre und seine allgemeine Consoziationstheorie hier im einzelnen dargelegt und ihren geschichtlich-politischen Ort aufgesucht zu haben, wenn sie nicht der Angelpunkt für das Bild der Verfassungsgeschichte wäre, das uns bei ihm entgegentritt. Denn der Gedanke des genossenschaftlichen Staates und der organischen Staatspersönlichkeit, der seine Verwirklichung im liberal-konstitutionellen Staat findet, ist für Gierke nicht nur eine Eigentümlichkeit germanischen und deutschen Wesens, sondern zugleich das Ergebnis einer weltgeschichtlichen Entwicldung41• Die Verbindung des nationalpolitisch-konstitutionellen mit dem entwicklungsgeschichtlich-sozialtheoretischen Denken erhält noch eine geschichtsphilosophische Legitimation, in der das Erbe Hegels unverkennbar lebendig ist44• Gierke konstruiert die deutsche Verfassungsgeschichte als 41 Die pluralistisch-demokratische Konsequenz wurde ausdrücklich von Hugo Preuß gezogen, der sich stets als Schüler Gierkes verstand; vgl. auch Carl Schmitt, Hugo Preuß, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, 1930; ferner auch von Kurt WolzendorjJ, vgl. etwa seine Schriften: Der Gedanke des Volksheeres im deutschen Staatsrecht, 1914, und Der reine Staat. Skizze zum Problem einerneuen Staatsepoche, 1920. Die pseudo-konservative Konsequenz etwa bei Erich Kaufmann in der Schrift: Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung, 1917, in der der erste Weltkrieg als Verfassungskrieg zwischen der national-autoritären Verfassung des BismarckReichs und dem angelsächsischen Demokratismus erscheint (S. 1-9) und Demokratisierung und Parlamentarismus als Unheil und Verfälschung des nationalen Wesens angesehen werden (S. 100-106). 4 a Die hier gegebene Darstellung und Verortung von Gierkes Staatslehre und Verfassungstheorie mag vielleicht manchen Streit, der über Gierkes Liberalismus, den assoziativen oder organischen, individualistischen oder gemeinschaftsgebundenen Charakter seines Staatsdenkens entstanden ist, als müßig erscheinen lassen und den Weg für ein neues Verständnis offenlegen. 43 Vgl. etwa German. Staatsgedanke, S. 22, wo er der "deutschen" Staatsrechtslehre des 19. Jh., also seinem eigenen Ausgangspunkt, hohes Lob spendet: "Sie begriff den Staat als Entwicklungsprodukt weltgeschichtlichen Werdens ..." 44 Hegels Erbe in Gierkes Denken ist bisher kaum hervorgehoben worden. In Stutz' Nachruf findet sich nur eine knappe Andeutung, ohne den Aufweis eines tieferen Zusammenhangs, vgl. Erinnerung, S. X; bei E. Wolf tritt Hege! als Anreger für Gierke gar nicht in Erscheinung, um so mehr dafür Schelling, der allerdings auch von besonderer Wichtigkeit ist. Vgl. Rechtsdenker, S. 684, 689. Ausdrückliche Belege lassen sich für Hegels Einwirkungen nicht beibringen, doch wird aus der folgenden Darstellung der sachliche Zusammenhang wohl unmittelbar deutlich werden.

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einen dialektischen Prozeß, der aus seiner immanenten Logik auf den liberal-monarchischen Verfassungsstaat als seine Vollendung hintreibt, Einheit und Freiheit, Herrschaft und Genossenschaft, die Bauelemente des nationalen Verfassungsstaats, sind die "großen Prinzipien" der menschlichen (Verfassungs-}Geschichte; aus ihrem Kampf, ihrem dialektischen Gegeneinander und Sichemporsteigern zu höheren Formen baut sich die Geschichte auf45 • Vermöge des dem germanischen und deutschen Wesen eigenen Genossenschaftsgeistes verbleibt sie jedoch hier nicht im dialektischen Gegensatz, sondern schreitet zur organischen Synthese fort40 ; Hegels Dialektik wird durch Schellings organisches Immanenzdenken schließlich in eine stabilisierende Ruhelage gebracht. Der Inhalt der deutschen Verfassungsgeschichte ist so der Fortschritt im Ausgleich von Einheit und Freiheit, Herrschaft und Genossenschaft, dinglichem und persönlichem Verband. Sie drängt notwendig auf den konstitutionellen Staat, den Gedanken der organischen Staatspersönlichkeit hin, in welchem diese Gegensätze ihren Ruhepunkt in einem höheren Ganzen und einer organischen Harmonie finden 47 • In der Genossenschaft (Viel~ heit) war eine Bewegung zur Herrschaft (Einheit), im Herrschaftsverband eine Bewegung zur Genossenschaft lebendig, so beschreibt Gierke den Prozeß; es "brachte die Genossenschaft aus sich eine herrschaftliche Spitze, der Herrschaftsverband in sich eine Genossenschaft hervor". Und "kaum steht der Herrschaftsverband in selbständiger Haltung da, so beginnt er seinerseits in sich die Genossenschaft in neuen Formen zu reproduzieren und damit den Keim seiner dereinstigen Auflösung zu entfalten"•8 • Und wie in den realgeschichtlichen Vorgängen der Verfassungsentwicklung, so ist es für Gierke auch in der Entfaltung des deutschen Rechtsbewußtseins selbst, da beide sich letztlich aus dem gleichen Volksgeist und Nationalcharakter hervorbringen. Während die römische Ab~ straktion die einmal gewonnenen Begriffe unverrückbar gegenüberstellte, blieb das deutsche Rechtsbewußtsein immer konkret, fand im Gleichen das Verschiedene und im Gegensätzlichen das Gemeinsame4 a. So mußte das deutsche Recht zuletzt "eine höhere Stufe als das römische erreichen, weil es die innere Einheit über und in den Gegensätzen und in der Einheit die lebendige Mannigfaltigkeit zur Erscheinung bringt"·w. •5

Gen. Recht I, S. 1-2.

•e Gen. Recht I, S. 2-4.

47 Vgl. Gen. Recht I, S. 10; die 5. Periode, die mit dem Jahre 1806 beginnt wird als diejenige geschildert, "von welcher wir in den Gedanken des allge~ meinen Staatsbürgertums und des repräsentativen Staats die Versöhnung ur~ r~lter Gegensätze erwarten." •~ Gen. Recht I, S. 135/136, die Zitate S. 136. • 8 Gen. Recht I) S. 135. '"' 1. c.

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Auf diese Weise erhält der liberal-konstitutionelle, im Gedanken der Staatspersönlichkeit kulminierende Staat nicht nur juristisch-dogmatisch, sondern ebenso historisch eine prinzipielle Legitimation. Ein Fortschritt über ihn hinaus ist nicht mehr möglich, höchstens der Zerfall in die antithetischen Elemente, die in ihm zu einer organischen Einheit zusammengefügt sind51•

II. Indem Gierke so die ganze Verfassungsgeschichte als Entwicklung auf den liberal-konstitutionellen Staat hin sieht, wie er den Vorstellungen des organisch-liberalen Denkens entsprach, ist es unvermeidlich, daß er sie auch ganz von ihm her begreift und beurteilt. Alles verfassungsgeschichtliche Geschehen muß sich aus den Elementen von Einheit und Freiheit, Herrschaft und Genossenschaft, persönlichem und dinglichem Verband und schließlich der übergreifenden körperschaftlichen Persönlichkeit aufbauen. Dieser Rahmen ist nicht nur bei den einzelnen Interpretationen vorausgesetzt, sondern die Fragestellung als solche und folglich auch der ganze Verfassungsbau und sein geschichtlicher Entwicklungsgang sind davon bestimmt. Aufbau, Gedankengang und Problemstellung von Gierkes erstem Band des Deutschen Genossenschaftsrechts, seinem eigentlichen verfassungsgeschichtlichen Werk, legen davon beredtes Zeugnis ab. Es ist notwendig, dessen Gesamtanlage näher zu betrachten, weil sich bei Gierke gerade aus dem Allgemeinen, aus der Konzeption im ganzen, die einzelnen Interpretationen und Beurteilungen ergeben bzw. erschließen lassen. 1. Gierke gliedert dieses Werk in fünf Perioden. Der maßgebende Gesichtspunkt dafür ist das jeweils vorherrschende "Verfassungsprinzip" und die daraus hervorgehende "charakteristische Vereinsform" der Zeit51• So ergibt sich für die 1. Periode (bis 800) die Vorherrschaft des Prinzips der ursprünglichen Volksfreiheit, gegen das allmählich der herrschaftliche Verband voranschreitet; für die 2. Periode (800-1200) das "patrimoniale und feudale Verfassungsprinzip", vermöge dessen die Herrschaft über die Genossenschaft und die Dinglichkelt über die Persönlichkeit siegt; für die 3. Periode (1200-1525) das Prinzip der "freien Einung", das im Zusammenbruch des Feudalstaates auf föderativem Wege eine Fülle ·" Daher auch die z. T. beschwörenden Formulierungen in der Schrift über den germanischen Staatsgedanken, die eine im Jahre 1919, angesichtsdes vollzogenen Übergangs zur Republik gehaltene Vorlesung wiedergibt. Typisch ferner Recht und Sittlichkeit (1916), S. 262: ., ... wir werden nicht den demokratischen Begriff der Volkssouveränität als allgemein gültiges Prinzip hinnehmen, sondern dem von der deutschen Staatsrechtswissenschaft erarbeiteten Begriff der ,Staatssouveränität' treu bleiben, für den das wahre Subjekt der höchsten Gewalt überall die unsterbliche (sie!) Staatspersönlichkeit selbst ist." • 2 Vgl. Gen. Recht I, S. 8.

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genossenschaftlich-bündischer Ordnungen schafft; für die 4. Periode (1525-1806) die Ausbildung des Obrigkeitsstaates und die Zurückdrängung aller genossenschaftlichen Elemente, und für die 5. Periode (seit 1806) der endliche Ausgleich von Herrschaft und Genossenschaft im konstitutionellen Staat53• In dieser Periodisierung ist der dialektische Entwicklungsgang der Verfassungsgeschichte schon ausgesprochen. Seine sich selbst fort- und auf den konstitutionellen Staat zutreibende Dynamik empfängt er aus der je wechselnden Kombination und Intensität der das verfassungsgeschichtliche Geschehen aufbauenden Elemente. Diese Elemente sind für Gierke einerseits Herrschaft und Genossenschaft, anderseits persönlicher und dinglicher Charakter des Verbandes, in dem diese sich verkörpern54 • Sie haben für Gierke nicht den Charakter formaler Ordnungsschemata, die von außen an das aus sich gestaltlose geschichtliche Geschehen herangetragen werden, sondern sind als polar-dialektische innere Formkräfte in das Geschehen selbst hineinverlegt55• Den Anfangspunkt bezeichnen das (herrschaftliche) Haus und das (genossenschaftliche) Geschlecht, die als "Prototyp aller künftigen Verfassungsgegensätze" erscheinen56• In der ersten Periode herrscht zunächst die "freie Genossenschaft des alten Rechts" 57• Alle politischen Verbände, auch die inneren Gliederungen der Zehnt- und Hundertschaften und Gaue, haben zunächst genossenschaftlichen und persönlichen Charakter8• Ebenso die wirtschaftlichen Verbände, die Markgemeinden und Bauerschaften, die dann allerdings infolge der festen Ansiedlung mehr und mehr dringlichen Charakter annehmen, das Genossenrecht an die Hufe binden und diese zum eigentlichen Substrat der Vereinigung machen59• Das wirkt wiederum auf die politischen Genossenschaften zurück, die nun ebenfalls Rechte und Pflichten an den Grundbesitz binden60 • Gegen diesen genossenschaftlichen Ordnungsbau erhebt sich schon in taciteischer und volksrechtlicher Zeit das herrschaftliche Prinzip61 • Aus sa Ebendort, S. 8-10. Gen. Recht I, S. 12-14. 55 Darin zeigt sich wiederum die Kombination von Regelscher Dialektik und Schellings Polaritätsdenken. Indem die dialektische Bewegung von vornherein in den Rahmen einer festen Polarität hineingezwungen wird, erweist diese sich freilich als die stärkere Kraft, die am Ende die Dialektik aus dem Geschichtsprozeß hinausbringt; vgl. die weitere Schilderung im Text . .;s Gen. Recht I, S. 15. .~7 Vgl. Gen. Recht I, Gliederung, S. XI-XII. 58 Gen. Recht I, § 3, S. 39-44; die Überschrift: Die Teilgenossenschaften der Volksgemeinde. 59 Darüber Gen. Recht I, §§ 7-9, insbes. S. 53 ff., 70 ff., 81 ff. mit starker Anlehnung an G. L. v. Maurer. oo Gen. Recht I, S. 85-88. Als Beleg dienen die Heerdienstvorschriften der Capitularien. 61 Aufbaumäßig als: 1. Periode, Teil B : Der herrschaftliche Verband; im einzelnen§§ 11-12, S. 89-121. ·~ 4

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dem Haus erwächst die Gefolgschaft, und über das Gefolgswesen erringt es in merovingisch-fränkischer Zeit den "Sieg" über die Genossenschaft82: das Volkskönigtum wird Herrenkönigtum, das (volksgenossenschaftliche) öffentliche Amt und die öffentlichen Pflichten werden Königsdienst, das Volksvermögen Königsgut; die Stände bilden sich neu nach Herrschaft und Dienst. Wie die genossenschaftlichen Verbände, verknüpfen sich dann auch die herrschaftlichen mit Grund und Boden; daraus ergibt sich die (patrimoniale) Grundherrschaft, die Verdinglichung von Freiheit und Dienstverhältnissen (Benefizialwesen) und die" vermögensrechtliche Auffassung der öffentlichen Gewalt", die Krone, Herzogtümer und Grafschaften zu "Immobiliarrechten" und "Gebietsherrschaften" macht83• Das Reich Karls d. Gr. bindet zwar alles wieder zur Einheit zusammen, aber seine Einheit ist nur in der Person des Herrschers, nicht als Staat begründet64 • 65• Herrschaft und Genossenschaft sind "nicht innerlich verschmolzen, sondern nur äußerlich gemischt", die Genossenschaft im Absterben, die Herrschaft im kraftvollen Vordringen. Dem germanischen Rechtsbewußtsein war die Staatsidee noch nicht aufgegangen. So ist der fernere Kampf unvermeidlich68 • Dieser Kampf endet im hohen Mittelalter mit dem Sieg von Herrschaft und Dinglichkeit im Feudalstaat. "In der Verschmelzung von Herrschaft und Dinglichkeit lag sein charakteristisches Merkmal67." Jede Herrschaft und jeder Dienst wird "Zubehör" eines Grundstücks oder Gebiets, jedes Amt und Gewaltrecht vererblich, veräußerlich und teilbar; " ... es gab nur noch Rechtsverhältnisse zwischen Individuen und Individuen." Das Lehnwesen war die Spitze, Grundherrlichkeit, Hofverfassung und Immunität waren die Basis des Systems68 • Hallers patrimoniale Theorie der Staatsleugnung wird in ein juristisches System gebracht. Aber da die dialektische Bewegung keinen Stillstand und keinen endgültigen Sieg kennt, bringt sich nun die Genossenschaftsidee innerhalb der Herrschaftsverbände zur Geltung und formt sie genossenschaftlich aus88• Das Resultat sind die zahlreichen genossenschaftlichen Elemente innerhalb der konkreten Herrschaftsordnungen, die sog. herrschaftlichen Genossenschaften, die in der Form der hofrechtlichen, dienstrechtlichen 82 Gen. Recht I, S. 101-21; die sehr eingehende Inhaltsübersicht S. XIII läßt schon alle Einzelthesen erkennen. 63 Ebendort S. 121-30, insbes. S. 124 f., 126 ff. 64 • 85 Gen. Recht I, S. 149 ff. Diese These schon bei Beseler, Volksrecht und Juristenrecht, S. 10/11. 88 Zum ganzen: Gen. Recht I, S. 151/52. 87 Gen. Recht I, S. 153. ea Vgl. ebendort S. 154. 88 Im einzelnen §§ 20-23, S. 155-99; auch schon S. 135 ff. über die Ansätze der herrschaftlichen Genossenschaften innerhalb der Herrschaftsordnungen.

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(Ministerialen) und lehnrechtlichen (Vasallen und Ritter) Genossenschaften erscheinen70 • Die Genossenschaftsidee bringt dann als ihre ,, Verjüngung" den Gedanken der "freien Einung", d. h. der nicht in natürlichen Gegebenheiten, sondern im freien Willen der Verbundenen gründenden Genossenschaft, hervor. Darin erlebt sie - auf eine höhere dialektische Stufe gehoben - eine neue Blüte: zunächst in den Gilden und Schwurbrüderschaften, dann in den Städten, schließlich in dem weitausgreifenden gesellschaftlichen und politischen Einungswesen des späteren Mittelalters71 • · Aus diesem Einungswesen entsteht dann der Prozeß der "Selbstbefreiung" des deutschen Volkes7%. Die zur "Freiheit" gelangten Städte konstituieren sich als körperschaftliche Gemeinwesen und verwirklichen durch ihre auf gleiches Bürgerrecht und Organschaft begründete Verfassung zum erstenmal den deutschen, genossenschaftlichen Staatsgedanken73• Dazu treten die adligen Familiengenossenschaften, die Gelehrtenund zahlreiche Berufsgenossenschaften7\ hauptsächlich aber die "politischen Einungen": Städte-, Adels-