Demokratie in Deutschland und Europa: Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven [1 ed.] 9783428548125, 9783428148127

Der Band »Demokratie in Deutschland und Europa« behandelt in 21 Beiträgen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Hieß es

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Demokratie in Deutschland und Europa: Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven [1 ed.]
 9783428548125, 9783428148127

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Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung

Band 106

Demokratie in Deutschland und Europa Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven

Herausgegeben von Eckhard Jesse Roland Sturm

Duncker & Humblot · Berlin

JESSE/STURM (Hrsg.)

Demokratie in Deutschland und Europa

Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 106

Demokratie in Deutschland und Europa Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven

Herausgegeben von Eckhard Jesse Roland Sturm

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2015 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-14812-7 (Print) ISBN 978-3-428-54812-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-84812-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Demokratie in Deutschland und Europa Eckhard Jesse und Roland Sturm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Europäische und internationale Politik in der Gegenwart Informelle Institutionen in der Europäischen Union. Die Einführung der Spitzenkandidaturen zur Europawahl 2014 und ihre Bedeutung für das institutionelle Gefüge der EU Wolfram Ridder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Acting Badly or Successfully? Die Folgen des unterschiedlichen mitgliedschaftsrechtlichen Status der EU in internationalen Organisationen für ihre Akteursqualität Julia Heydemann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Deutsche Solidarität innerhalb der deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehung. Eine Textanalyse mit Tiefgang Tim Griebel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Schwieriges Verhältnis: Deutschland und seine Streitkräfte. Die Bewertung militärischer Macht in der medialen Debatte über den Libyenkrieg 2011 Isabelle-Christine Panreck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

Parteien und Wahlen im Wandel Verkannte Lösungen oder beharrliche Trugbilder? Das Wahlrecht für Minderjährige in der verfassungsrechtlichen und politischen Debatte Niels Dehmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 (K)eine sinnvolle Alternative? Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand Peggy Matauschek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

6 Inhaltsverzeichnis Politischer Schweden-Krimi. Eine Analyse der Reichstagswahl 2014 Christoph Bruckmüller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Warum scheiterte der Dritte Weg der SPD? Eine Analyse am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik Florian Fößel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Hanfkragen der Piratenpartei?! Inhaltsanalyse von Printartikeln zu den Piraten im Bundestagswahlkampf 2013 Erik Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Zwischen „Patchwork“-Christen, Laizisten und Muslimen. Das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes unter Reformdruck Bastian Scholz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

Gefahr durch Extremismus Sonderfall der Länderberichterstattung. Die Verfassungsschutzberichte in Brandenburg und Bayern Stephan Weinrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Wehrhafte Demokratie von links? Otto Kirchheimer in der Weimarer Republik Patrick Stellbrink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Mit Israel zur staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft. Die Initiative Sozialistisches Forum und die antideutsche Israelsolidarität Rudi Bigalke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Mit der richtigen Strategie in die Mitte der Gesellschaft? Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen Lisa Karge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Gottes Gebote in der Politik. Christliche Kleinparteien und ihr Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat Alexander Kühn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Leaderless Resistance und Lone Wolves. Rechtsextreme Theoretiker aus den USA und deren Einfluss in Europa Sebastian Gräfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Inhaltsverzeichnis7 Alltag in der DDR Vom „Neuen Adam“ zum „Sozialistischen Menschen“. Der Traum vom „Neuen Menschen“ in der DDR Ulrike Madest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Held der „Arbeiterklasse“ und Geist der Friedlichen Revolution? Die Rezeption von Martin Luther King in der DDR Eva Werner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Loyalitäten und Rivalitäten. Kompetenzstreitigkeiten im SED-Kulturapparat Madeleine Petschke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Mit roten Zahlen in die Krise. Die Wirtschaftspolitik unter Ulbricht und Hone­ cker im Vorfeld der Systemkrisen 1953 und 1989 Benjamin Page . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Warum der Wehrunterricht auf heftigen Protest stieß. Die Militarisierung des Schulwesens der DDR in den 1970er Jahren Steffi Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Autorenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Personenverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Demokratie in Deutschland und Europa Von Eckhard Jesse und Roland Sturm I. Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven Das Thema „Demokratie in Deutschland und Europa“ hat viele Facetten. Durch den Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus mit der ­Sowjetunion an der Spitze, dem „Vaterland der Vaterländer“, und der deutschen Einheit als Folge hat sich ein grundlegender Wandel in Deutschland wie in Europa vollzogen. Hieß es vor dem Herbst 1989, die europäische Einheit werde die deutsche Einheit nach sich ziehen, so trat in gewisser Weise eine Verkehrung von Ursache und Folge auf. Die deutsche Einheit und der Fall des „eisernen Vorhangs“ beschleunigten den Prozess der europäischen Einheit. Diese förderte Freiheit, aber Freiheit kostet ihren Preis.1 Für Deutschland und Europa stellt die Globalisierung eine beträchtliche Herausforderung dar. Keiner weiß, welche Richtung Europa einschlägt. Viele glauben zu wissen, wie sich Europa und insbesondere die EU weiter entwickeln soll. Ist das immer weiter sich verzahnende Projekt Europäische Union mit den Elementen des demokratischen Verfassungsstaates vereinbar?2 Und ist es wirtschaftlich tragfähig?3 Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf den Untertitel unseres Bandes: Geschichte, Herausforderungen, Perspektiven, also auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Demokratie, jeweils idealtypisch getrennt nach Europa und Deutschland, obwohl tatsächlich auf allen Gebieten der Politik längst eine enge Verflechtung vorliegt, bei den Institutionen, den Entscheidungsprozessen und den Politikfeldern.4 Die Geschichte Deutschlands ist nicht die Geschichte der Demokratie. So war das 1871 „von oben“ ins Leben gerufene Kaiserreich zwar ein Rechts1  Vgl. u. a. Andreas Wirsching, Der Preis der Einheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012. 2  Vgl. dazu Peter Graf Kielmansegg, Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte, Baden-Baden 2015. 3  Vgl. Werner Sinn, The Euro Trap. On Bursting Bubbles, Budgets, and Beliefs, Oxford 2014. 4  Vgl. Roland Sturm / Heinrich Pehle, Das neue deutsche Regierungssystem. Die Europäisierung von Institutionen, Entscheidungsprozessen und Politikfeldern in der Bundesrepublik (2001), 3., akt. Aufl., Wiesbaden 2012.

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staat, aber keine Demokratie. Denn der Kanzler wurde nicht vom Reichstag gewählt, sondern vom Kaiser eingesetzt. Kaum ein Staat der Welt hat im 20. Jahrhundert so viele Systemwechsel erfahren wie Deutschland.5 Brach das autoritäre Kaiserreich als Folge des verlorenen Krieges nach fast einem halben Jahrhundert zusammen, so konnte sich die Weimarer Republik, die erste deutsche Demokratie, nur 14 Jahre behaupten. Die 1933 etablierte Diktatur des Nationalsozialismus endete erst mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg, den Deutschland entfacht hatte. Nach 1945 verleibte sich die Sowjetunion den östlichen Teil ihrem Machtbereich ein, im westlichen Teil entstand eine Demokratie unter weit günstigeren Umständen als nach dem Ersten Weltkrieg. Was kaum für möglich galt: Die Bundesrepublik Deutschland wurde eine Demokratie westlichen Zuschnitts.6 Dank der friedlichen Freiheitsrevolution 1989 ließ die mehrheitlich von der Bevölkerung in der DDR gewünschte Wiedervereinigung nicht lange auf sich warten. Seit 1990, 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, lebt die deutsche Nation wieder in einem Staat. Damit ging vor 25 Jahren ein „Sonderweg“ zu Ende. Die Geschichte Europas ist eine Geschichte von Kriegen, nicht nur, aber auch. Die Europäische Union ist als Friedensprojekt eine Antwort auf deren Schrecken. Nach bescheidenen Anfängen einer Wirtschaftsgemeinschaft entwickelte sich die europäische Integration zu einem politischen Projekt immer umfassenderer Reichweite. Zum Binnenmarkt kam die Währungsunion, die Handels- und die gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik.7 Heute sind wir in der glücklichen Lage, in der EU gleichsam „innerstaatliche“ Themen über die Grenzen der traditionellen Nationalstaaten hinweg zu erörtern. Dies geschieht nicht problemlos. Der Nationalstaat ist nicht tot. Die institutionellen Strukturen der EU sind zwar vertraglich gefestigt, unterliegen aber der Interpretation durch politischen Wandel. Das EU-Leitbild einer „immer engeren Union“ ist wahrlich umstritten.8 Die Gegenwart der Demokratie in Deutschland scheint für Besorgnis keinen Anlass zu bieten. Die neuen Bundesländer sind weithin demokratisch 5  Vgl. Eckhard Jesse, Systemwechsel in Deutschland. 1918 / 19 – 1933 – 1945 / 49 – 1989 / 90, 4. Aufl., Bonn 2013. 6  Vgl. Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, zwei Bd., München 2000. Siehe auch seine fast 4000 Seiten umfassenden und vergleichenden Studien: Geschichte des Westens, vier Bd., München 2009 / 2011 / 2014 / 2015. 7  Vgl. Gerhard Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart 2002. 8  Vgl. Roland Sturm, Beyond the ‚ever closer union‘: national interests, institutional power shifts and threats to the ‚permissive consensus‘ in Germany, in: Riccardo Fiorentini / Guido Montani (Hrsg.), The European Union and Supranational Political Economy, Abingdon 2015, S. 81–97.



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konsolidiert, und im Gegensatz zu einigen Staaten Europas wie Großbritannien, Italien und Spanien gibt es nicht die geringsten sezessionistischen Bestrebungen. Die politische Kultur ist trotz gewisser illiberaler Tendenzen gefestigt9 – 25 Jahre nach der Einheit stellt das vereinigte Deutschland keinen Krisenherd dar. Gewiss hat sich das politische System in einem Vierteljahrhundert beträchtlich gewandelt, so das Parteiensystem, das sich auffächerte, aber längst nicht jede Veränderung geht auf die deutsche Einheit zurück. Das Nachlassen des antiextremistischen Konsensus ist zu Teilen eine Folge der Vereinigung. Am stärksten dürfte der Wandel im Bereich der Außenpolitik ausfallen. Deutschland, souverän geworden, muss mehr, auch militärische, Verantwortung tragen. Das geschieht, wiewohl nicht überschwänglich.10 Die Westbindung Deutschlands ist erhalten geblieben. Die konkordanzdemokratischen Elemente haben seit der Einheit im „Staat der Großen Koalition“11 zugenommen – die Vielfalt der Vetospieler gefährdet gelegentlich die politische Entscheidungsfähigkeit. Die Gegenwart der Demokratie in Europa gibt Anlass zu Optimismus und zu Pessimismus. Die EU, nicht zuletzt durch ihre Erweiterungs- und ihre Nachbarschaftspolitik, hat zur Stabilisierung junger Demokratien in Europa beigetragen. Der „europäische Geist“ ist in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs präsenter als in Krisenzeiten – die EU selbst ist bestenfalls auf dem Weg zur Staatswerdung. Das Bundesverfassungsgericht hat für deren heutigen Zustand den Begriff des Staatenverbundes geprägt. Die EU muss immer noch als Einheit, repräsentiert vor allem durch die Europäische Kommission, das Gericht der Europäischen Union sowie besonders das Europäische Parlament, und als internationale Vereinigung, repräsentiert durch den Europäischen Rat und den Ministerrat, gesehen werden. Das seit 1979 direkt gewählte Europaparlament, auch wenn es dem Kriterium der Stimmenwertgleichheit nicht genügt, spricht bei der europäischen Gesetzgebung für die Völker Europas – der Ministerrat für die Regierungen der EU-Länder. Für eine lebendige europäische Demokratie mangelt es in erster Linie an zweierlei, an einem europäischen Kommunikationsraum und an der Priorität europäischer Identität12 in den Mitgliedstaaten der EU.

9  Vgl. Tom Mannewitz, Politische Kultur und demokratischer Verfassungsstaat. Ein subnationaler Vergleich zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung, Baden-Baden 2015. 10  Vgl. Stephan Bierling, Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart, München 2014. 11  Manfred G. Schmidt, Das politische System Deutschlands. Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, München 2007, S. 42, 145, 159, 440, 458 f. 12  Vgl. Julian Nida-Rümelin / Werner Weidenfeld (Hrsg.), Europäische Identität: Voraussetzungen und Strategien, Baden-Baden 2007.

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Die Zukunft der Demokratie in Deutschland sieht, was die absehbare Zeit betrifft, keineswegs schlecht aus, ist sie doch längst keine Schönwetterdemokratie mehr. Bei der Frage der europäischen Einheit haben wir eine Art Elitenkonsens, den die Bürger weithin so nicht nachvollziehen. Sie lassen mehr Skepsis erkennen als Politiker der großen Parteien. Der Prozess der deutschen Einheit stellt künftig für die hiesige Demokratie, trotz ökonomischer Disparitäten, keine Herausforderung mehr dar. Vielfalt in Deutschland ist heute die Vielfalt von Regionen, Kulturen und Religionen. Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden. Zuwanderer tun sich schwer mit Patriotismus, weil sie in ihrer neuen Heimat eben diesen vermissen. Mit der wachsenden Zahl Deutscher und anderer Euro­päer, die sich zum Islam bekennen, hat das Thema „Religion und Politik“ auch für andere Religionen neues Gewicht gewonnen.13 Die Frage der Identität – „Wohin möchte ich gehören?“, „Was ist heute deutsch?“ – bestimmt öffentliche Debatten. Der „Streit um Werte“14 erlebt eine Renaissance. Identitätsfragen werden provoziert durch wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, zum Teil münden sie in unterschiedliche Formen des Populismus15, der ein probates Mittel ist, komplexe gesellschaftliche Herausforderungen auf Freund-Feind-Bilder zu reduzieren. Die Zukunft der Demokratie in Europa dürfte von größeren Unwägbarkeiten bestimmt sein als die in Deutschland, allerdings nicht in erster Linie deshalb, weil es der EU an demokratischem Geist mangelt. Autoritäre Tendenzen sind in einzelnen EU-Ländern keineswegs auszuschließen, wie das Beispiel Ungarn zeigt. Die „Staatswerdung Europas“16 lässt auf sich warten. Extremistische Kräfte machen sich verbreitete Kritik an Europa und der EU zunutze und schüren sie.17 Der Vertrag über eine europäische Verfassung von 2004 trat nie in Kraft. Ein europäischer „demos“ ist nicht entstanden. Die Wissenschaft spricht inzwischen nicht mehr von einer europäischen Demokratie, sondern einer „europäischen Demoikratie“ und erkennt so auch für die Zukunft die Vielfalt nationaler Loyalitäten in der EU an.18 Die 13  Vgl. Petra Bendel / Mathias Hildebrandt (Hrsg.), Integration von Muslimen, München 2006. 14  Vgl. Lawrence E. Harrison / Samuel O. Huntington (Hrsg.), Streit um Werte. Wie Kulturen den Fortschritt prägen, Hamburg / Wien 2000. 15  Vgl. Frank Decker, Wenn die Populisten kommen. Beiträge zum Zustand der Demokratie und des Parteiensystems, Wiesbaden 2013. 16  Vgl. Rudolf Wildenmann (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union, Baden-Baden 1991. 17  Vgl. Anton Pelinka, Die unheilige Allianz: Die rechten und die linken Extremisten gegen Europa, Wien u. a. 2015. 18  Vgl. Special Issue: Demoi-cracy in the European Union, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015) 1.



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Frage des Ziels des europäischen Integrationsprozesses, seiner Finalität, bleibt offen. Wer ein Resümee zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Demokratie in Europa und in Deutschland zieht, dürfte die Gegenwart besser als die Vergangenheit bewerten, ob man nun die Periode seit dem Ersten Weltkrieg nimmt oder die Periode seit dem Zweiten Weltkrieg. Das gilt für Deutschland und Europa gleichermaßen. Nach 1918 wurden viele Staaten Europas, zum Teil neue, Demokratien, allerdings nur kurzfristig, entstanden doch in der Zwischenkriegszeit zunehmend autokratische Systeme meistens autoritären Zuschnitts, zumal in Ostmitteleuropa.19 Lediglich die Tschechoslowakei blieb bis 1938 eine Demokratie. Nach 1945 bildeten sich unter dem Einfluss der Sowjetunion in diesen Ländern linksautokratische Parteidiktatu­ ren,20 die erst Ende der 1980er Jahre entkräftet zusammenbrachen. Das Abrücken von kommunistischen Positionen in Polen und Ungarn destabilisierte die Sowjet­union, und deren Wandel wiederum brachte den gesamten Ostblock zum Einsturz. Hingegen steht der Vergleich zur Zukunft unter vielen Vorbehalten. Die Kriegsgefahr in Europa ist nicht gebannt, wie nach dem Ende des Kalten Krieges vielfach angenommen. Die EU bleibt ein Hort des Friedens, ihre Nachbarschaftspolitik, vor allem im Verhältnis zu Russland, stößt an Grenzen. Die erwartete Konvergenz der EU-Volkswirtschaften durch eine gemeinsame Währung trat so nicht ein. Regeln des Lissabon-Vertrages wurden aufgeweicht – aus politischen Gründen, mit schwerwiegenden ökonomischen Folgen. Die europäische Zentralbank mischt sich in die Wirtschaftspolitik ein. Einer immer dichteren ökonomischen Regulierung in der EU, die eigentlich in Richtung Vereinigte Staaten von Europa weist, steht der nationale Unwille gegenüber, mehr Souveränität an Brüssel abzugeben. Die Austeritätspolitik zur Bewältigung der Folgen der Staatsschuldenkrise in der EU stellt die Frage nach Gewinnern und Verlieren der europäischen Wirtschaftsintegration neu. Unser Sammelband kann Fragen der Geschichte, der Herausforderungen und der Perspektiven der Demokratie in Deutschland und Europa nur in einigen wesentlichen Teilbereichen vertiefend behandeln. Die hier präsentierten Mosaiksteine vermitteln gleichwohl wichtige Facetten des fluiden Gesamtbilds.

19  Vgl. Erwin Oberländer (Hrsg.), Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–1944, Paderborn u. a. 2001. 20  Vgl. Stefan Creutzberger / Manfred Görtemaker (Hrsg.), Gleichschaltung unter Stalin. Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949, Paderborn u. a. 2002.

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II. Inhalt Wer die einzelnen Themen in Komplexe zusammenfasst, muss sich dessen bewusst sein, dass angesichts der oft übergreifenden Fragestellungen eine klare Zuordnung nicht immer trennscharf möglich ist. Ein Beispiel: Eine Partei, die extremistisch ist, „passt“ offenkundig in zwei Kategorien, sowohl zu Parteien und Wahlen als auch zu Extremismus und Demokratieschutz. Wir haben uns für vier Komplexe entschieden, die jeweils vier bis sechs Aufsätze umfassen: Europäische und internationale Politik – Parteien und Wahlen – Extremismus und Demokratieschutz – SED-Diktatur und dortiger Alltag. Die Themenbereiche mögen weit auseinander liegen, doch durch den eingangs erörterten Kontext der Demokratie (im weiteren Sinne) ist ein gemeinsames Band gegeben. Der Komplex europäische und internationale Politik ist besonders breit gefächert. Die Innen- und Außensicht der EU wird nach den Möglichkeiten und Grenzen der Repräsentation regionaler Interessen in der EU (Wolfram Ridder) und nach der Akteursqualität der EU in der internationalen Handelspolitik (Julia Heydemann) befragt. Wie die EU hier Interessen vertritt, hat im Rahmen der Kontroversen um TTIP21 neue Relevanz gewonnen. Ein weiterer Schwerpunkt bildet die Untersuchung der Politikkommunikation methodisch wie empirisch im Hinblick auf die deutsch-amerikanische Sicherheitsbeziehung (Tim Griebel) und die „Arabellion“ in den deutschen Medien (Isabelle-Christine Panreck). Im Nachgang der Europawahlen von 2014 führte das Europaparlament mit der Durchsetzung des Anspruches von Jean-Claude Juncker auf die Kommissionspräsidentschaft eine „Tradition“ in der institutionellen Entwicklung der EU fort: die unilaterale Kompetenzerweiterung des Europäischen Parlaments durch das Etablieren informeller Institutionen. Wolfram Ridder erörtert in seinem Beitrag, an welche Entwicklungslinien dies anknüpft. Eine Formalisierung dieser bedeutenden neuen Kompetenz des EP sei nicht zu erwarten. Julia Heydemann stellt die Frage nach den Folgen des unterschiedlichen mitgliedschaftsrechtlichen Status der Europäischen Union in internationalen Organisationen für ihre Akteursqualität. Ein Vergleich von Verhandlungs­ situationen in der Welthandels-, der Weltgesundheitsorganisation und im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen kommt zu dem Schluss, dieser Faktor wirke sich in Kombination mit den Variablen Kompetenzverteilung und Einigkeit auf den Erfolg der EU bei multilateralen Verhandlungen aus. 21  Vgl. Jens van Scherpenberg, TTIP – die strategische Agenda, in: GesellschaftWirtschaft-Politik, 64 (2015) 1, S. 31–38.



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Tim Griebel zeigt am Beispiel der deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehung im Zeitraum von 2001 bis 2003 unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs „Solidarität“, wie Sprache als emergentes Phänomen mithilfe einer korpuslinguistischen kritisch-realistischen Diskursanalyse analysiert werden kann. Entgegen eines rein textbasierten Vorgehens wird die deutsche Solidarität gegenüber dem US-amerikanischen Anderen vor dem Hintergrund der Dynamik von Liebe und Macht innerhalb einer historischen Sicherheitsstruktur rekonstruiert. Die Deutschen begegnen militärischer Macht mit Skepsis. Selbst das Konzept der internationalen Schutzverantwortung findet nur bei der Hälfte der Bürger Rückhalt. Die mediale Debatte spiegelt dieses Bild nicht. Isabelle-Christine Panreck gelangt zu dem folgenden Ergebnis: Unabhängig von der redaktionellen Tendenz auf der Links-Rechts-Skala bewerten die deutschen Medien militärische Macht positiv, wenn der Einsatz wie in Libyen 2011 auf den Schutz der Menschenrechte zielt. Kategorisch ablehnende oder zustimmende Positionen zu militärischer Macht finden sich nur bei auflagenschwachen Zeitungen des linken und konservativen Rands. Der Komplex Parteien und Wahlen behandelt einerseits die Entwicklung von Parteien in anderen europäischen Staaten (Christoph Bruckmüller), andererseits die in Deutschland (Erik Schlegel, Florian Fößel). Bastian Scholz beschäftigt sich mit dem Thema Parteien, Staat und Kirche. Peggy Matauschek und Niels Dehmel widmen sich Wahlsystemfragen im weiteren und engeren Sinne. Die gesellschaftliche Relevanz des Komplexes steht bei dieser für den Verfassungsstaat zentralen Thematik außer Frage, auch wenn der „Dritte Weg“ in Deutschland gegenwärtig ebenso ohne Aktualität ist wie ein anderes Wahlsystem. Die Debatte um ein Wahlrecht für Minderjährige ist geprägt von Mythen. Weder widerstreitet das Mindestwahlalter den Verfassungsgrundsätzen, noch rechtfertigt der demographische Wandel ein Absenken des Wahlalters. Auch die Reformansätze bleiben ihre Tauglichkeit schuldig. Während das Wahlrecht ab 16 die Probleme nicht löst, unterliegt ein Wahlrecht von Geburt an demokratietheoretischen Bedenken. Für Niels Dehmel bedarf es keiner Reform der Altersgrenze, sondern eines prinzipiellen Wandels in der WahlalterDebatte. Angesichts der Fragmentierung des deutschen Parteiensystems erörtert der Beitrag von Peggy Matauschek zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl – die romanische Stichwahl wie in Frankreich und die Alternativstimmgebung wie in Australien – als Alternativen zum personalisierten Verhältniswahlsystem. Obgleich die absolute Mehrheitswahl in besonderem Maße die Konzentration des parlamentarischen Parteiensystems fördert, spricht der un-

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genügende Repräsentationsgrad des Wahlsystems dagegen, es in Deutschland einzuführen. Christoph Bruckmüller analysiert die Wahl zum schwedischen Reichstag vom 14. September 2014. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei dem Parteiensystem und der sich seit dem Jahr 2006 revitalisierenden Lagerbildung. Fußend auf der Erläuterung dieser strukturellen Gegebenheiten werden zunächst die wichtigsten Attribute des Wahlverhaltens auf Basis einer Wahllokaluntersuchung beschrieben, bevor die Problematik der bereits im Dezember 2014 folgenden Regierungskrise zur Sprache kommt. Florian Fößel untersucht das Scheitern des Dritten Weges der Sozialdemokratie am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik der Regierung Gerhard Schröder. Ausgehend von der reformstrategischen Neuausrichtung im Kontext des arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Leitprinzips Fördern und Fordern, wird die Abkehr der SPD von der Strategie des Dritten Weges auf ein Zusammenspiel von parteiinternen Legitimationsdefiziten und strukturellen Veränderungen des Parteienwettbewerbs zurückgeführt. Die öffentlichen Medien sind als Politikvermittler für Parteien besonders in Wahlkampfzeiten unverzichtbar. Eine Inhaltsanalyse spiegelt bei der ­Piratenpartei das prognostizierte Scheitern an der Sperrklausel zur Bundestagswahl 2013 in der Quantität der Printartikel zu dieser Partei wider. Die mediale Fünf-Prozent-Hürde verstärkt sich bei den „Piraten“ qualitativ durch eine überwiegend neutrale Berichterstattung mit spürbar negativen Unterton, wobei dieser umso deutlicher ausfällt, je direkter die Zeitungsartikel einen Bezug zu den „Piraten“ aufweisen, so das Ergebnis von Erik Schlegel. Entkirchlichung, religiöse Pluralisierung und wachsende Kritik am Kooperationsmodell von Staat und Kirche üben Reform- und Legitimationsdruck auf das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes aus. Bastian Scholz insistiert, dieses nicht zu schleifen, sondern zu einem pluralitätskompatiblen modernen Religionsverfassungsrecht unter Einschluss des Islam fortzuentwickeln. Das grundgesetzliche Staatskirchenrecht eröffnet dem bunter gewordenen religiösen Leben in der deutschen Gesellschaft weiterhin größtmöglichen Raum zur Entfaltung. Den Komplexen Extremismus und Demokratieschutz kommt gleichrangiges Gewicht zu. Das Spannungsverhältnis von Sicherheit einerseits und Freiheit andererseits ist bekannt. Die Beiträge von Rudi Bigalke, Lisa Karge, Alexander Kühn und Sebastian Gräfe behandeln linksextremistische, rechtsextremistische, fundamentalistische und terroristische Phänomene der Gegenwart in der Bundesrepublik Deutschland. Patrick Stellbrink und Stephan Weinrich analysieren zwei ganz unterschiedliche Formen des Demo-



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kratieschutzes, zum einen im demokratietheoretischen Sinne, zum anderen im handfesten praktischen Verständnis mittels der Berichte des Verfassungsschutzes. Stephan Weinrich untersucht die Verfassungsschutzberichte von Bayern und Brandenburg. Diese verbinden nur wenige Gemeinsamkeiten. Insbesondere die Bewertung des parlamentsorientierten Extremismus, wie sie sich in der Veröffentlichungspraxis beider Publikationen niederschlägt, unterscheidet sich spürbar voneinander. Diese Besonderheit ist offenbar das Ergebnis einer politischen Einflussnahme auf die Arbeit der Nachrichtendienste. Dennoch hat sich die föderal organisierte Berichterstattung über extremistische Bestrebungen bewährt und muss beibehalten werden. Patrick Stellbrink erörtert in historischer Perspektive das Konzept der wehrhaften Demokratie, zu dessen Umsetzung heute der Verfassungsschutz gehört. Der Liberal Turn der deutschen Sozialdemokratie wird gemeinhin für die Zeit des Exils postuliert. Am Beispiel von Otto Kirchheimer weist der Autor eine Liberalisierung bereits vor 1933 nach. Er reiht sich in eine Tradition ein, die Freiheit und Gleichheit als gleichursprünglich ansieht. Hieraus lässt sich eine wehrhafte Demokratie entwerfen, die nicht zur Einschränkung der Freiheit führt, um die Demokratie zu retten, sondern zwischen Demokratie- und Volkssouveränitätsprinzip unterscheidet. Rudi Bigalke zeigt am Beispiel der Initiative Sozialistisches Forum (ISF), dass sich die antideutsche Israelsolidarität als zwangsrekrutierte Erfüllungsgehilfin einer linksextremen Ideologie erweist, die alles Denken und Handeln der bürgerlichen Gesellschaft auf Grundlage der Wertkritik bestimmt. Während die ISF im jüdischen Staat die Vorhut auf dem Weg zur staatenund klassenlosen Weltgesellschaft erkennt, halluziniert sie in der „deutschen Ideologie“ einen geistigen Gegenspieler herbei, der das Dementi des bürgerlichen Glücksversprechens darstelle. Lisa Karge analysiert die kommunalpolitische Rolle der NPD. In den Kreistagen der Landkreise Bautzen, Meißen und Sächsische Schweiz-Ost­ erzgebirge weisen die Äußerungen der NPD-Mandatsträger Übereinstimmungen in den Bereichen Wirtschaft und Finanzen sowie Soziales auf. Auch das Bemühen um ein gemäßigtes Auftreten der Kreisräte in zwei Kreisen legt ein ähnliches Vorgehen der NPD in den Regionen nahe. Dennoch gibt es keine regional übergreifende Strategie der NPD, wie fehlende wortgleiche Anträge und ein provokantes Auftreten der Partei im Kreistag Meißen erhellen. Die Christliche Mitte und die Partei Bibeltreuer Christen weisen nach Alexander Kühn mit Blick auf ihr Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat einige Gemeinsamkeiten auf. Sie negieren teils die freie Entfal-

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tung der Persönlichkeit, z. B. bei der Wahl der sexuellen Orientierung. Bekenntnis- und Hausunterricht befürworten sie hingegen. Unterschiede ergeben sich bei der Einstellung zur Demokratie. Während die Christliche Mitte diese ablehnt und die Errichtung eines Gottesstaates anstrebt, zielt die Partei Bibeltreuer Christen auf Partizipation im Rahmen der Verfassung. Für Sebastian Gräfe hat sich der Rechtsterrorismus in Deutschland gewandelt. Die heute eher losen Strukturen in dem Milieu sind bewusst herbeigeführt. Die Ideengeber der Ansätze Leaderless Resistance (führerloser Widerstand / Zellenbildung) und Lone Wolves (Ein-Mann-Zelle) stammen aus den USA und werden seit den 1990er Jahren in Europa erörtert, besonders in Deutschland. Zu dieser Zeit begann die offensive Verbotspolitik der Innenministerien. Rechtsterroristen erkannten diese Ansätze als günstige Alternativen zu hierarchisch strukturierten Organisationen. Der Komplex SED-Diktatur und dortiger Alltag ist, das liegt in der Natur der Sache, vergangenheitsorientiert. Sind die Beiträge von Ulrike Madest (am Beispiel des „neuen Menschen“) und Eva Werner (am Beispiel der Martin Luther King-Rezeption) durch theoretische Bezüge gekennzeichnet, so verweisen die anderen drei Texte stärker auf die Policy-Ebene: Madeleine Petschke berücksichtigt die Kulturpolitik, Benjamin Page die Wirtschaftspolitik, Steffi Lehmann die Jugendpolitik. Stets spielten Krisen­ erscheinungen für die Entwicklung der Policies eine Rolle. Die Vorstellung vom „Neuen Menschen“ in der DDR ist, so Ulrike Madest, eine säkularisierte Variante der biblischen Verheißung. Trotz atheistischer Ausrichtung der marxistisch-leninistischen Ideologie existieren strukturelle Parallelen zu gleichnamigen Denkfiguren im Christentum: Erneuerung als Heilsziel, Liquidation des „Alten Menschen“ und Neu-Sein im Spannungsverhältnis zwischen Erfüllung und Verheißung. Gleichwohl grenzt sich die ideologische Leitidee zur biblischen Lehre auf inhaltlicher Ebene ab: Der „Neue Mensch“ bezieht sich nicht auf einen transzendenten, sondern diesseitigen Wandel. Martin Luther King predigte am 13. September 1964 in zwei Ost-Berliner Kirchen vor über 3000 Zuhörern. SED und Blockparteien, Kirchen sowie Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR rezipierten Martin Luther King, jedoch größtenteils aus unterschiedlichen Perspektiven. Mit der Herausgabe von Literatur über Martin Luther King und ihrer Rezeption förderten nach der Untersuchung von Eva Werner SED und Blockparteien die King-Rezeption der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung, die – neben weiteren Faktoren – die friedliche Revolution entfachte. Vor dem Hintergrund einer hektischen Betriebsamkeit in der Kulturpolitik der späten 1950er Jahre und getrieben von den konfligierenden Machtambi-



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tionen leitender Kulturfunktionäre, darunter Alfred Kurella und Kurt Hager, wechselten Loyalitäten wie Abhängigkeiten im SED-Kulturapparat stetig. Weitreichende organisatorische Konsequenzen waren die Folge. Gemäß Madeleine Petschke setzte der erzwungene Führungswechsel an der Parteispitze, der Hagers Position im Politbüro und im Sekretariat des ZK der SED massiv stärkte, jenen politischen Wandlungsprozessen auf kulturellem Gebiet schließlich ein Ende. Nach Benjamin Pages Analyse war die SED-Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1950er und am Ende der 1980er Jahre nicht in der Lage, den systemstabilisierenden Effekt des sozialen Fortschritts zu gewährleisten. Dennoch differierte ihre jeweilige Ausrichtung. Während Walter Ulbrichts Politik durch ein Streben nach Rentabilität und Effektivität bei strengen Einsparungen gekennzeichnet war, rückte sein Nachfolger, Erich Honecker, den Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungen in den Mittelpunkt der ökonomischen Agenda. Laut Steffi Lehmann stellt der 1978 eingeführte Wehrunterricht für die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands nicht mehr als einen Pyrrhussieg dar. Das Ministerium für Volksbildung setzte mit der Wehrkunde und der Waffenausbildung in der Schule zwar auf eine Indoktrination militaristischer Tugenden. Das Erziehungsziel einer stets kampfbereiten jungen Generation zur Verteidigung des Sozialismus blieb jedoch unerreicht, die Jugendarbeit der um Antimilitarismus und Abrüstung bemühten Kirchen gewann hingegen an Einfluss. III. Dank Bereits in der Vergangenheit fiel die Zusammenarbeit der beiden Herausgeber mit der Hanns-Seidel-Stiftung in puncto Promotionsförderung eng, vertrauensvoll und erfolgreich aus. Roland Sturm hat ein Promotionskolleg zum Komplex der Osterweiterung betreut (zwischen 2001 und 2004)22, Eckhard Jesse ein solches zu Parteien und Extremismus (zwischen 2002 und 2005).23 Gemeinsam mit Gerd Strohmeier leiteten die Herausgeber ein Promotionskolleg zum Thema Politik- und Parteienentwicklung in Europa (zwischen 2008 und 2011).24 Der erste große Dank der Herausgeber gilt daher der Hanns-Seidel-Stiftung, namentlich Prof. Hans-Peter Niedermeier, dem Leiter des Instituts für 22  Vgl. Roland Sturm / Heinrich Pehle (Hrsg.), Die Osterweiterung und ihre Folgen, Opladen 2006. 23  Vgl. Eckhard Jesse / Hans-Peter Niedermeier (Hrsg.), Politischer Extremismus und Parteien, Berlin 2007. 24  Vgl. Eckhard Jesse / Gerd Strohmeier / Roland Sturm (Hrsg.), Europas Politik vor neuen Herausforderungen, Opladen 2011.

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Begabtenförderung, und Isabel Küfer, der Leiterin des Referats „Journalistisches Förderprogramm für Stipendiaten“. Beide haben so regelmäßig wie engagiert an den Veranstaltungen des Promotionskollegs „Demokratie in Europa“ teilgenommen und die Betreuer der Dissertationen ebenso nach Kräften entlastet wie die Promovenden. Das ist nicht die Regel. Der zweite große Dank ist an die Teilnehmer des Promotionskollegs zu richten. Alle stellten einen Text aus dem Umfeld ihrer Dissertationsthematik zur Verfügung. Wir wollten allerdings keine trockenen Zusammenfassungen der Dissertationen lesen. Daher war es eine Auflage, einerseits inhaltlich „abzurüsten“, etwa ein „Seitenthema“ zu finden, aus dem sich eine klare Leitfrage von gesellschaftlicher Relevanz ergibt, andererseits ein Problem auszuwählen, dem eine aktuelle Brisanz innewohnt. Der Leser mag entscheiden, ob dies geglückt ist. Wir danken Tim Griebel für die engagierte redaktionelle Arbeit. Das Promotionskolleg begann am 1. Juli 2013 und endet am 30. Juni 2016. Die Promovenden wurden sukzessive aufgenommen: 2013, 2014, 2015. Einige sind bereits fertig, einige schaffen es bis Ende Juni 2016, einige brauchen länger. Wir sind guten Mutes, dass dank der Unterstützung durch die Stiftung alle Stipendiaten ihren „Doktor bauen“. Der dritte große Dank geht an die Gesellschaft für Deutschlandforschung, namentlich an den Vorsitzenden Prof. Dr. Tilman Mayer, und den Duncker & Humblot Verlag, namentlich an den Inhaber Dr. Florian Simon. Wir wissen die Aufnahme des Bandes in die Reihe der Gesellschaft zu schätzen, zumal Duncker & Humblot seine Bücher nicht „verramscht“. Damit sind jeweils zwei Schriften aus den Promotionskollegs der Herausgeber bei Duncker & Humblot erschienen, zwei im Barbara Budrich Verlag.

Europäische und internationale Politik in der Gegenwart

Informelle Institutionen in der Europäischen Union Die Einführung der Spitzenkandidaturen zur Europawahl 2014 und ihre Bedeutung für das institutionelle Gefüge der EU Von Wolfram Ridder I. Das Europäische Parlament und die Bedeutung der Europawahlen von 2014 Eine der wesentlichen Entwicklungen der institutionellen Architektur der Europäischen Union besteht in der kontinuierlichen Aufwertung des Europäischen Parlaments. Seit der erstmaligen Direktwahl im Jahr 1979 konnten sich die Parlamentarier sukzessive von der Europäischen Kommission wie auch den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, vertreten im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union (Rat), emanzipieren und die von ihnen verkörperte Institution, welche ehemals ein lediglich mit beratenden Rechten ausgestattetes Gremium darstellte, als einen gegenüber dem Rat weitestgehend gleichberechtigten Co-Gesetzgeber der Union etablieren. Dieser Beitrag setzt sich mit diesem Prozess der institutionellen Aufwertung des Parlaments auseinander. Einführend wird dargelegt, dass dieser Prozess oftmals durch vom Parlament etablierte sogenannte informelle Institutionen vorgezeichnet wurde, welche bald darauf durch die Mitgliedstaaten auf Regierungskonferenzen in das europäische Primärrecht, also die Verträge, übernommen – und somit formalisiert – wurden. Hieran anschließend wird dargelegt, dass die vor der Europawahl von 2014 durch die europäischen Parteifamilien und auf Initiative des Parlaments geschaffenen Spitzenkandidaturen und die Durchsetzung des Anspruches des siegreichen Spitzenkandidaten auf das Amt des Kommissionspräsidenten lediglich den gegenwärtigen Kulminationspunkt dieser Serie unilateraler Kompetenzausweitungen des Parlaments darstellen. Das Erkenntnisziel des Beitrages besteht in der Diskussion der Frage, welche Bedeutung der Etablierung des Anspruches des siegreichen Spitzenkandidaten auf die Kommissionspräsidentschaft für die künftige institutionelle Entwicklung der Europäischen Union zukommt. Die achte Wahl zum Europäischen Parlament, welche zwischen dem 22. und 25. Mai 2014 abgehalten wurde, fand in mehrfacher Hinsicht unter

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besonderen Voraussetzungen statt. So war dies der erste europaweite Urnengang seit Inkrafttreten des Reformvertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009, durch welchen das Europäische Parlament eine erhebliche Stärkung seiner Kompetenzen, etwa im Bereich der Gesetzgebung der Europäischen Union, zugesprochen bekam.1 Eine weitere durch den Vertrag von Lissabon eingeführte Neuerung bezog sich auf die sogenannte „Investitur“ der Europäischen Kommission bzw. von deren Präsidenten. Vor Inkrafttreten dieser Reform galt, dass der Kommissionspräsident durch einen einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates, also der Versammlung der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, nominiert und hierauf vom Europäischen Parlament bestätigt wurde.2 Der in Lissabon verabschiedete Vertrag über die Europäische Union sah nun in Artikel 17 vor, dass die Staats- und Regierungschefs „nach entsprechenden Konsultationen“ dem Parlament mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorzuschlagen haben, welcher sodann vom Parlament „gewählt“ statt wie zuvor „bestätigt“ wird. Hierbei, so der Vertragstext, „berücksichtigt [der Europäische Rat] das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament“.3 Diese – auf den ersten Blick möglicherweise nicht sehr weitreichend erscheinende – Neuerung im Vertragstext führte nun zur zweiten wesentlichen Besonderheit der Europawahl von 2014. Die Führungen der europäischen Parteifamilien schlussfolgerten aus dieser Regelung nämlich, dass künftig dem Ergebnis der Europawahlen eine größere Rolle bei der Benennung des Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zukommen müsse.4 Um den Anspruch des Parlaments auf dieses vermehrte Ausmaß an Einfluss zu verdeutlichen, sowie ebenfalls um durch eine stärkere Personalisierung des Wahlkampfes zu den Europawahlen das Interesse und die Beteiligung der Bevölkerung am Urnengang zu erhöhen, beschlossen fünf der sieben 1  Vgl. Jo Leinen, Das Europäische Parlament und der Vertrag von Lissabon, in: Olaf Leiße (Hrsg.), Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon, Wiesbaden 2010, S. 97–113, hier: S. 104–106. 2  Vgl. Marcus Höreth, Die EU-Organe nach dem Vertrag von Lissabon, in: Andreas Marchetti / Claire Demesmay (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, Baden-Baden 2010, S. 167–210, hier: S. 174–176. 3  Art. 17 Abs. 7 des Vertrages von Lissabon; vgl. auch Eva Heidbreder / Jelena Auracher, Die Rolle europäischer Spitzenkandidaten im institutionellen Wettstreit. Die Europawahl 2014 als Weichenstellung für die Politisierung der EU, in: Michael Kaeding / Niko Switek (Hrsg.), Die Europawahl 2014, Wiesbaden 2015, S. 223–231, hier: S. 225. 4  Hierbei handelte es sich allerdings um ein bereits 2010 vom damaligen Leiter der Rechtsabteilung des Europäischen Rates diskutiertes Vorgehen des Parlaments; vgl. hierfür Jean-Claude Piris, The Lisbon Treaty. A Legal and Political Analysis, Cambridge 2010, S. 137.



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europäischen Parteifamilien, nämlich die Europäische Volkspartei, die Progressive Allianz der Sozialdemokraten, die Allianz der Liberalen und Demokraten, die Europäische Linke und die Europäischen Grünen, die Benennung von europaweiten Spitzenkandidaten.5 Lediglich die beiden euroskeptischen „Rechtsaußen“-Parteifamilien, nämlich die Europäischen Konservativen und Reformisten sowie die Bewegung für ein Europa der Freiheit und Demokratie, verzichteten auf die Benennung eines solchen Kandidaten. Obwohl der Vertrag von Lissabon die Einrichtung von Spitzenkandidaturen keineswegs vorsah, argumentierte das Europäische Parlament nicht nur, dass die Benennung solcher Kandidaten durch die gestärkte Rolle des Parlaments im Benennungsprozess des Kommissionspräsidenten gedeckt sei, sondern nahm in einer Botschaft an die wahlberechtigten Bevölkerungen der Mitgliedstaaten sogar den sehr viel weitergehenden Standpunkt ein, dass der siegreiche Spitzenkandidat notwendigerweise auch Präsident der nächsten Europäischen Kommission werden müsse: „[A]fter the next elections [in 2014] it is your parliament who will elect the head of Europe’s executive, based on your wishes, as expressed in these elections. This time it’s different. Together we now have more power to make a difference.“6 II. Die Bedeutung informeller Politik in der Europäischen Union Von verschiedener Seite wurde bereits im Vorfeld der Europawahl, aber umso deutlicher nach dem Urnengang, auf den Umstand verwiesen, dass dem Europaparlament mitnichten die in seiner Botschaft an die wahlberechtigte EU-Bevölkerung suggerierte alleinige Kompetenz zukomme, den Kommissionspräsidenten zu wählen.7 Die Entscheidung über den Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten sei, wie die Kommentatoren vollkommen zurecht anmerkten, zunächst vielmehr in den Kompetenzen des Europäischen Rates zu verorten. Geflissentlich übersehen wurde bei 5  Sara B. Hobolt, A Vote for the President? The Role of Spitzenkandidaten in the 2014 European Parliament elections, in: Journal of European Public Policy, 21 (2014) 10, S. 1528–1540, hier: S. 1533. 6  Europäisches Parlament, The Power to Decide what Happens in Europe, 9. Oktober 2013, unter: www.europarl.europa.eu / news / en / news-room / content / 20130905ST O18723 / html / The-power-to-decide-what-happens-in-Europe (7. Februar 2015). 7  Vgl. E.  Heidbreder / J.  Auracher (Anm. 3), S. 226; Daniel Brössler, Ein halber Schritt zu mehr Demokratie, 18. Juni 2014, unter: www.sz.de / 1.2004605 (7. Februar 2015); Niklaus Nuspliger, Europäische Zauberlehrlinge, 27. Juni 2014, unter: www. nzz.ch / international / europaeische-zauberlehrlinge-1.18331646 (7. Februar 2015); Eric Bonse, Die Kunst des Weglächelns, 6. Juni 2014, unter: www.taz.de / !139915 (7. Februar 2015).

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solcherlei Kritik allerdings, dass eine derartige unilaterale Kompetenzausweitung – bzw. der Versuch einer solchen Kompetenzausweitung – seit der ersten Direktwahl des Europaparlaments im Jahr 1979 gewissermaßen einen bedeutenden Teil des Standardrepertoires der EU-Parlamentarier im institutionellen Wettbewerb gegenüber der Kommission, dem Europäischem Rat und dem Rat bildet. In den letzten Jahren widmete sich das Forschungsfeld Informal Governance in the European Union unter anderem zunehmend diesem parlamentarischen Vorgehen.8 Mareike Kleine identifiziert im Bereich des Forschungsfeldes Informal Governance in the European Union insgesamt drei verschiedene Ausprägungen.9 Zunächst handelt es sich hierbei um das Agieren verschiedener Akteure im Rahmen von sogenannten Policy-Netzwerken zum Zwecke der Ausübung regulatorischer Tätigkeit,10 sowie weiterhin um die Analyse von Entscheidungsfindungsprozessen im Rat,11 wobei sich diese zweite Ausprägung des Forschungsfeldes vor allem der Frage widmet, wie es zu verstehen ist, wann aus welchen Gründen einzelne Mitgliedstaaten Einfluss auf den Gang des Verfahrens im Rat nehmen und etwa die Abstimmung über unliebsame Tagesordnungspunkte verhindern können. Als dritte Ausprägung des Forschungsfeldes identifiziert Kleine die Analyse des sogenannten interstitiellen institutionellen Wandels der EU.12 Grundlegende These dieses Subfeldes ist die 8  Zur Allgegenwärtigkeit von Informalität in der EU im Allgemeinen vgl. Jeffery Stacey, Integrating Europe. Informal Politics and Institutional Change, Oxford 2010, S. 3; Alexandra Henessy, Informal Governance and the Eurozone Crisis, in: Journal of Contemporary European Research, 21 (2013) 3, S. 430–447; Jeanette Mak / Jan van Tatenhove, Introduction. Informality in a Future EU, in: Perspectives on European Politics and Society, 7 (2006) 1, S. 1–7. 9  Vgl. Mareike Kleine, Informal Governance in the European Union, in: Journal of European Public Policy, 21 (2014) 2, S. 303–314. 10  Vgl. grundlegend die Beiträge in Thomas Christiansen / Simone Piattoni (Hrsg.), Informal Governance in the European Union, Cheltenham 2003 sowie vertiefend Tanja Börzel / Karen Heard-Lauréote, Networks in EU Multi-level Governance: Concepts and Contributions, in: Journal of Public Policy, 29 (2009) 2, S. 135–151 und Tanja Börzel, Informelle Politik in Europa. Regieren in oder durch Netzwerke?, in: Michael Gehler u. a. (Hrsg.), Netzwerke im Europäischen Mehrebenensystem, Wien u. a. 2009, S. 27–38. 11  Vgl. Randall Stone, Controlling Institutions. International Organizations and the Global Economy, Cambridge 2011 und Mareike Kleine, Informal Governance in the European Union. How Governments Make International Organizations Work, Ithaca, NY 2013 sowie Mareike Kleine, Knowing your Limits. Informal Governance and Judgment in the EU, in: The Review of International Organizations, 8 (2013) 2, S. 245–264. 12  Vgl. hierfür Jeffery Stacey / Berthold Rittberger, Dynamics of Formal and Informal Institutional Change in the EU, in: Journal of European Public Policy, 10 (2003) 6, S. 858–883; Henry Farrell / Adrienne Héritier, Introduction. Contested Competences in the European Union, in: West European Politics, 30 (2007) 2,



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Ansicht, dass neben der sogenannten „history-making integration“,13 also der institutionellen Reform der Europäischen Union im Rahmen von Gipfeltreffen wie 1993 in Maastricht, 1997 in Nizza, 1999 in Amsterdam oder 2009 in Lissabon auch eine – möglicherweise ebenso wichtige – „interregnum integration“,14 also ein institutioneller Wandel, der sich zwischen den großen Reformgipfeln der Staats- und Regierungschefs vollzieht, vorzufinden ist. Grundsätzlich liegt ein solcher interstitieller institutioneller Wandel der EU dann vor, wenn ein Akteur auf der supranationalen Ebene, beispielsweise das Parlament, darin Erfolg hat, gegenüber einem anderen Akteur oder mehreren anderen Akteuren auf dieser Ebene, beispielsweise gegenüber der Kommission oder dem Rat, eine sogenannte informelle Institution zu etablieren.15 Gretchen Helmke und Steven Levitsky definieren in einem wegweisenden Beitrag zur Erforschung von Informalität eine solche informelle Institution wie folgt: „We define informal institutions as socially shared rules, usually unwritten, that are created, communicated, and enforced outside of officially sanctioned channels […]. By contrast, formal institutions are rules and procedures that are created, communicated, and enforced through channels widely accepted as official. This S. 227–243; Henry Farrell / Adrienne Héritier, Codecision and Institutional Change, in: West European Politics, 30 (2007) 2, S. 285–300; Daniela Kietz / Andreas Maurer, The European Parliament in Treaty Reform. Predefining IGCs through Interinstitutional Agreements, in: European Law Journal, 13 (2007) 1, S. 20–46. 13  Vgl. J. Stacey (Anm. 8), S. 10 f. 14  J.  Stacey / B.  Rittberger (Anm. 12), S. 859. 15  In eine ähnliche Richtung argumentiert Simon Hix, der den Machtzuwachs des Europäischen Parlaments vor allem anhand der Unvollständigkeit des europäischen Primärrechts erklärt sowie der Fähigkeit des Parlaments, eine einseitige (Um-)Interpretation dieser Regelungslücken vorzunehmen und gegenüber den Mitgliedstaaten eine Blockade des EU-Entscheidungsfindungsprozesses anzudrohen, sofern diese sich nicht den Vertragsinterpretationen des Parlaments anschließen. Dieses Vorgehen des Europäischen Parlaments bezeichnet Hix als „Constitutional Agenda-Setting“. Vgl. hierzu Simon Hix, Constitutional Agenda-setting Through Discretion in Rule Interpretation. Why the European Parliament Won at Amsterdam, in: British Journal of Political Science, 32 (2002) 2, S. 259–280. Zudem weist J.  Stacey (Anm. 8), S. 937–939, darauf hin, dass das Europäische Parlament im weit überwiegenden Regelfall der (Haupt-)Profiteur von der Etablierung von informellen Institutionen ist, und durch diese Kompetenzen zumeist zu Lasten der Kommission, häufig aber auch zu Lasten der Mitgliedstaaten hin zum Parlament verschoben werden. Rasmussen verdeutlicht weiter, dass dieser interstitielle institutionelle Wandel als eine Art Kreislauf zu begreifen ist; so bietet eine Änderung der Verträge etwa dem Parlament die Möglichkeit, eine (Neu-)Interpretation des Regelwerks vorzunehmen und hierdurch den Versuch zu unternehmen, eine informelle Norm zu etablieren. Gelingt es anschließend, diese informelle Norm zu formalisieren, schließt sich der Kreislauf und kann erneut beginnen. Vgl. hierfür Anne Rasmussen, Challenging the Commission’s Right of Initiative? Conditions for Institutional Change and Stability, in: West European Politics, 30 (2007) 2, S. 244–264.

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includes state institutions (courts, legislatures, bureaucracies) and state-enforced rules (constitutions, laws, regulations).“16

III. Das Europäische Parlament und die Etablierung informeller Institutionen 1. Das Europaparlament und die Strategie der „unilateralen“ Kompetenzausweitung durch informelle Institutionen

Das Parlament hat seit seiner ersten Direktwahl im Jahr 1979 ausgiebigen Gebrauch von der Schaffung solcher informeller Institutionen gemacht. Simon Hix verweist auf den Umstand, dass sich diese unilaterale Kompetenz­ ausweitung vor allen in zwei Kernbereichen parlamentarischer Autorität, nämlich in der EU-Gesetzgebung sowie der Investitur der Kommission, niederschlug.17 Ben Crum diskutiert zudem noch die Kompetenzausweitung des Parlaments im Bereich der Komitologie.18 Im Bereich der Gesetzgebung weitete das Parlament seine Kompetenzen zunächst vor allem durch die Etablierung einer informellen Institution gegenüber dem Rat aus.19 So sah der Vertrag von Maastricht, welcher das Parlament bereits merklich aufgewertet hatte, noch für den Rat die Möglichkeit vor, im Rahmen einer dritten Lesung eine Vorlage (Common Position) in das Parlament einzubringen, die von den Parlamentariern nur zurückgewiesen werden konnte, sofern sich eine absolute Mehrheit der Abgeordneten hierauf verständigen konnte. Gegen diese bedeutende Kompetenz des Rates, mittels dieser Common Position das Parlament im Gesetzgebungsverfahren zu umgehen, schuf das Parlament durch die Regel 78 eine informelle Institution, welche vorsah, dass eine Common Position des Rates durch das Plenum zurückzuweisen war, und zwar unabhängig von deren konkretem 16  Gretchen Helmke / Steven Levitsky, Informal Institutions and Comparative Politics. A Research Agenda, in: Perspectives on Politics, 2 (2004) 4, S. 725–740, hier: S. 727. 17  Vgl. S. Hix (Anm. 15), S. 261. 18  Vgl. Ben Crum, The European Parliament as a driving force in informal institution-building: the hard case of the EP’s relation with the High Representative for the CFSP, in: Thomas Christiansen / Christiane Neuhold (Hrsg.), International Handbook on Informal Governance, Cheltenham 2012, S. 354–373, hier: S. 357 f. Unter Komitologie ist hierbei ein System von EU-Ausschüssen zu verstehen, welche von der Kommission geleitet werden und die EU-Organe bei der Ausarbeitung, Verabschiedung und Implementierung von Rechtsakten unterstützen. 19  Für die institutionelle Entwicklung des Parlaments von 1958 bis zum Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht vgl. Berthold Rittberger, The Creation and Empowerment of the European Parliament, in: Journal of Common Market Studies, 41 (2003) 2, S. 203–225.



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Inhalt.20 Bereits beim ersten Versuch des Rates, mittels der Einbringung einer Common Position den Wiederstand gegen eine Vorlage zu überwinden, gelang es dem Parlament, entsprechend der Regel 78 die Vorlage des Rates mit absoluter Mehrheit zurückzuweisen.21 Im Anschluss hieran unternahm der Rat nie wieder einen derartigen Versuch und bereits durch den Vertrag von Amsterdam wurde diese Kompetenz des Rates abgeschafft;22 die informelle Institution, wonach der Rat von seiner Kompetenz zur Einbringung einer Common Position keinen Gebrauch macht bzw. machen kann, wurde somit formalisiert. Eine ebenso selbstbewusste wie unilaterale Agenda zur Erweiterung seiner Kompetenzen verfolgte das Parlament im Bereich der Investitur der Europäischen Kommission. Catherine Moury verweist auf den Umstand, dass im Jahr 1981 mit Gaston Thorn bereits der erste designierte Kommissionspräsident, der nach der ersten Direktwahl des Parlaments im Jahr 1979 zur Ernennung anstand, zu einer – durch die Abgeordneten so bezeichneten  – Bestätigungsanhörung geladen wurde.23 „Following up on this informal practice, the 1983 European Council in Stuttgart committed itself to consulting the enlarged bureau of the EP on the appointment of the Commission President. The right of the EP to be consulted on this appointment was subsequently formalized in the 1991 Treaty of Maastricht.“24 Während es sich bei dieser Kompetenzausweitung der Parlamentarier wohl noch um eine unkomplizierte, weil durch die Staats- und Regierungschefs leicht zu gewährende Änderung des Prozedere handelte, zielte das Parlament bereits unmittelbar nach der Formalisierung seines Konsultationsrechtes auf den weiteren Ausbau seiner Kompetenzen im Bereich der Investitur der Kommission: „Once the Parliament’s right to express its opinion on the Commission President had been formalized in the Treaty of Maastricht, it was soon widely recognized that it would be close to impossible for the governments and the nominee to ignore a negative opinion.“25 Um dieser perzipierten Unmöglichkeit Nachdruck zu verleihen, ergänzte das Parlament seine Geschäftsordnung entsprechend: 20  Vgl.

S. Hix (Anm. 15), S. 273; B. Crum (Anm. 18), S. 357. S. Hix (Anm. 15), S. 274. 22  Vgl. B. Crum (Anm. 18), S. 357. 23  Vgl. Catherine Moury, Explaining the European Parliament’s Right to Appoint and Invest the Commission, in: West European Politics, 30 (2007) 2, S. 367–391, hier: 372 f.; B. Crum (Anm. 18), S. 359; Martin Westlake, The European Parliament’s Emerging Powers of Appointment, in: Journal of Common Market Studies, 36 (1998) 3, S. 431–444, hier: S. 438. 24  B. Crum (Anm. 18), S. 359. 25  Ebd. 21  Vgl.

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„[T]he Parliament adopted two amendments to its internal rules, pushing the Maastricht provisions to their limits through a bold interpretation in which the Parliament’s opinion on the nomination of the President is determined in a plenary session of a majority of its members and is considered to be substantially ,binding‘. The rules of procedure explicitly state that if the Parliament delivers a negative opinion on the Presidential nominee, it must notify the Council and the governments that it will not be possible to proceed with the approval of the Commission as a whole.“26

Folgerichtig stellte der erste designierte Kommissionspräsident, der mit eben dieser Neuinterpretation des Primärrechts konfrontiert war, nämlich der Luxemburger Jacques Santer, fest, dass er seine Kandidatur bei einer negativen Stellungnahme des Parlaments zurückziehen würde.27 Ebenso wie Jahre zuvor das Konsultationsrecht wurde auch das Recht des Parlaments, eine Abstimmung über den Kandidaten des Europäischen Rates für das Amt des Kommissionspräsidenten abzuhalten, nur wenig später, nämlich durch den Vertrag von Amsterdam, formalisiert.28 Durch den Vertrag von Maastricht wurde aber noch eine weitere Kompetenz, welche sich die Parlamentarier unilateral zugeschrieben hatten, formalisiert. So wurde durch diesen Vertrag nämlich festgelegt, dass sich – nach der Bestellung des Kollegiums der Kommissare – das gesamte Gremium einer Vertrauensabstimmung durch das EP unterziehen muss.29 Dieses Prozedere wandte das Parlament erstmals gegenüber dem ehemaligen Europaabgeordneten Jacques Delors im Jahr 1989 an. Offenkundig in der Kenntnis, auf eine gute und vertrauensvolle Arbeitsbeziehung mit dem Parlament angewiesen zu sein sowie mit der – wenigstens impliziten – Drohung eines parlamentarischen Misstrauensvotums bei Zuwiderhandlung gegen dieses Ansinnen der Parlamentarier konfrontiert, entschied sich Delors, den Amtseid erst nach einer entsprechenden Vertrauensabstimmung im Parlament abzulegen.30 Selbst diese signifikante Kompetenzerweiterung des Parlaments im Bereich der Kommissionsinvestitur lässt aber immer noch Spielraum für weitere Konflikte zwischen den Parlamentariern und den Staats- und Regie26  C. Moury

(Anm. 23), S. 376. (Anm. 23), S. 439. Ferner Renaud Dehousse, European Institutional Architecture after Amsterdam. Parliamentary System or Regulatory Structure?, in: Common Market Law Review, 35 (1998) 3, S. 595–627, hier: S. 610 f. Ebenso hatte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl, der während des Nominierungsverfahrens zudem Präsident des Europäischen Rates war, bereits vor der Abstimmung dargelegt, dass die Staats- und Regierungschefs eine negative Entscheidung des Parlaments in dieser Sache akzeptieren müssten. Vgl. hierzu Richard Corbett u. a., The European Parliament, London 2003, S. 231. 28  Vgl. B. Crum (Anm. 18), S. 359. 29  Vgl. M. Westlake (Anm. 23), S. 439. 30  Vgl. B. Crum (Anm. 18), S. 359. 27  M. Westlake



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rungschefs, wie Crum bemerkt: „[T]he EP has steadily increased its powers over the appointment of the Commission. Nevertheless, in some respects its powers remain incomplete. For example, even if the Treaty of Lisbon stipulates that the Commission President is formally elected by the EP, it leaves the European Council the power to move first in this process by determining the nominee.“31 Die Wahrscheinlichkeit, dass das Parlament in diesem Punkt nochmals zu einer bedeutenden Ausweitung seiner Kompetenzen in der Lage sein wird, erscheint bei Crum noch als recht gering: „This advantage of the European Council can only be successfully challenged if the EP were able to mobilize collectively behind a particular candidate ahead of the nomination, something which remains unlikely given the EP’s political fragmentation and the considerable political risks any serious, high-calibre candidate would face.“32 2. Die Verbindung von Spitzenkandidatur und Kommissionspräsidentschaft: Eine neue informelle Institution?

Es wird somit deutlich, dass sich die Aufstellung von Spitzenkandidaten der europäischen Parteifamilien samt der unilateralen Kompetenzausweitung des Parlaments, wonach dem erfolgreichsten Spitzenkandidaten die Nominierung für das Amt des Kommissionspräsidenten durch den Europäischen Rat zukommen müsse, gewissermaßen so nahtlos wie logisch in eine ganze Reihe von informellen Institutionen einreiht, welche durch das Parlament aufgestellt und zumeist bereits sehr bald in das Primärrecht der EU übernommen wurden. Eine informelle Institution im obigen Sinne stellt die Verbindung der Spitzenkandidaturen mit dem Anspruch auf die Kommissionspräsidentschaft deswegen dar, weil es sich hierbei offensichtlich um eine ungeschriebene und „socially shared rule“ handelt, welche vom Parlament jenseits oder außerhalb der offiziellen bzw. formalen Kanäle durchgesetzt wurde, wodurch wiederum eine zentrale formale Kompetenz der Staats- und Regierungschefs, nämlich die Auswahl des Präsidenten der zentralen Behörde der Europäischen Union, eingeschränkt wird. Während in der Forschung weitgehende Einigkeit darüber besteht, dass die „Rückabwicklung“ einer einmal etablierten informellen Institution, vor allem wenn es sich um eine Institution zu Gunsten des Parlaments handelt, sehr schwierig bis kaum möglich sein dürfte,33 und somit die Spitzenkandidaten auch bei künftigen Wahlen zum Parlament den „Erstzugriff“ auf das Amt des Kommissionsprä31  B. Crum

(Anm. 18), S. 359. S. 359 f. vgl. auch M. Höreth (Anm. 2), S. 175. 33  Vgl. J. Stacey (Anm. 8), S. 946; B. Crum (Anm. 18), S. 360; H. Farrell / A. Héritier, Introduction (Anm. 12), S. 239. 32  Ebd.,

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sidenten unter sich ausmachen dürften, stellen sich ausgehend von dem vorliegenden Befund dennoch zwei Fragen. Zum einen muss die Frage beantwortet werden, aus welchen Gründen sich die Staats- und Regierungschefs mit der Auswahl des Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten eine ihrer zentralen Kompetenzen nehmen ließen. Zum anderen stellt sich die Frage, ob – analog zum oben beschriebenen Vorgehen in der Vergangenheit – eine Formalisierung auch dieser Kompetenz des Parlaments zu erwarten ist. Die erste Frage bewegt sich im allgemeinen Forschungsfeld um die Frage, aus welchen Gründen die Mitgliedstaaten dem Europäischen Parlament überhaupt sukzessive weitere Kompetenzen zusprachen. Während Thomas König die Meinung vertritt, dass die Mitgliedstaaten bei der Aufwertung des Parlaments im Bereich der Gesetzgebung, insbesondere im Bezug auf die Aufwertung des Konsulations- hin zum Mitentscheidungsverfahren, welches durch den Vertrag von Lissabon wiederum in Ordentliches Gesetzgebungsverfahren umbenannt wurde, vom Gedanken der strategischen Nutzenmaximierung geleitet worden sein könnten,34 argumentieren zahlreiche Vertreter aus dem Bereich der Informal Governance-Forschung in eine entgegengesetzte Richtung. Dort wird die Ansicht vertreten, dass bei der sukzessiven Aufwertung des EP vor allem die Fähigkeit und Bereitschaft des Parlaments ausschlaggebend war, bei Nichtberücksichtigung seiner Forderungen nach weiteren Kompetenzen und (Neu-)Interpretationen der Vertragstexte den politischen Betrieb auf der Ebene der Europäischen Union lahmzulegen bzw. zumindest erheblich zu behindern.35 Exemplifizieren lässt sich diese Interpretation etwa anhand des Standpunktes des Parlaments, dass der Kommissionspräsident nach der Wahl von 2014 „aus den Reihen des EP bestimmt würde“.36 Die hierin wenigstens implizit enthaltene und in der Öffentlichkeit auch so wahrgenommene Drohung, dass es bei Nichtbeachtung dieser Forderung zu einer gegenseitigen Blockade von Europäischem Rat und Parlament kommen könnte,37 verfehlte ihre Wirkung auf die Staats- und Regierungschefs offenkundig nicht. Aber auch in der Vergangenheit waren derartige Manöver des Europäischen Parlaments bereits von Erfolg gekrönt, wie die oben dargelegten Fälle der pauschalen und inhaltsunabhängigen Zurückweisung einer Common Posi­ tion des Rates oder die Forderung, der Europäische Rat müsse einen nicht 34  Thomas König, Why do member states empower the European Parliament?, in: Journal of European Public Policy, 15 (2008) 2, S. 167–188. 35  Vgl. hierzu C.  Moury (Anm. 23) und H.  Farrell / A.  Héritier, Introduction (Anm. 12). 36  E.  Heidbreder / J. Auracher (Anm. 3), S. 229. 37  Markus Kotzur u. a., Vor der Europawahl. Wie lässt sich die demokratische Legitimität verbessern?, in: Wirtschaftdienst, 94 (2014) 4, S. 239–257, hier: S. 251.



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durch das Parlament bestätigten Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten zurückziehen, nahelegen. Zudem weist Moury darauf hin, dass dem Parlament in der Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Organen der EU, wie der Kommission oder dem Rat, grundsätzlich zwei wesentliche Vorteile zukommen. Zum einen sei, so Moury, das Parlament weniger sensibel gegenüber einer Blockade des politischen Systems der EU als die Kommission oder die Mitgliedstaaten, und zum anderen sei das Parlament grundsätzlich mit einem längeren Zeithorizont ausgestattet.38 Hierunter ist der Umstand zu verstehen, dass die Parlamentarier eher bereit sind, kurzfristige Rückschläge oder Nachteile zu riskieren oder gar hinzunehmen, wenn im Gegenzug langfristig eine Stärkung des Parlaments im institutionellen Setting der EU erhofft werden kann oder sogar zu erwarten ist. Zugleich darf die Akzeptanz der vom Parlament geschaffenen informellen Institutionen durch die Staats- und Regierungschefs, und schon gar nicht deren anschließende Formalisierung auf Regierungskonferenzen, rein auf etwaig durch das Parlament aufgebaute Drohkulissen zurückgeführt werden. So zeigen Henry Farrell und Adrienne Héritier nämlich, dass die Formalisierung von informellen Institutionen durch die Staats- und Regierungschefs nicht nur als Hinnahme von vollendeten Tatsachen gedeutet werden darf, sondern für die Mitgliedstaaten mit der Formalisierung solcher informellen Praktiken durchaus auch eine signifikante Reduktion von Transaktionskosten verbunden sein kann.39 Anzumerken ist gleichwohl, dass eine vom Parlament durchgesetzte informelle Institution durchaus auch zum „Opfer ihres eigenen Erfolges“ werden kann. Anne Rasmussen verdeutlicht dies anhand des – formal gesehen – alleinigen Gesetzesinitiativrechts der Kommission, welches nach Art 225 AEUV lediglich durch die Möglichkeit des Parlaments ergänzt wird, die Kommission zur Gesetzesinitiative zu einer bestimmten Frage aufzufordern. Obwohl das Parlament durch diese – seit dem Vertrag von Maastricht bestehende – indirekte Gesetzesinitiative keineswegs seine weitergehenden Ziele verwirklichen konnte, begnügt es sich aufgrund des reibungslosen Funktionierens dieser Regelung mit jenem Zustand der Ambi­ guität.40 Insgesamt argumentiert Rasmussen, dass drei Faktoren die Wahrscheinlichkeit der Formalisierung einer informellen Institution beeinflussen. Erstens sei dies umso wahrscheinlicher, je stärker die Unsicherheit der beteiligten Akteure hinsichtlich der Machtumverteilung, die durch die informelle Institution vorgenommen wird, ausgeprägt ist. Zweitens reduzierten hohe, mit einer Formalisierung verbundene Kosten die Wahrscheinlichkeit 38  C. Moury

(Anm. 23).

39  H.  Farrell / A.  Héritier, 40  Vgl.

Introduction (Anm. 12), S. 228. A. Rasmussen (Anm. 15).

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eines ebensolchen Schrittes, wobei diese Kosten unter anderem in der hierdurch notwendig werdenden Einstellung zusätzlicher Mitarbeiter, Bildung neuer Expertise oder aufwendigen Änderung bestehender Verfahrensweisen bestehen können.41 Der letzte Faktor, durch den die Wahrscheinlichkeit einer Formalisierung signifikant beeinflusst wird, bestehe in der Erwartung möglicher nichtintendierter Nebeneffekte einer Formalisierung. Sofern also die beteiligten Akteure annehmen oder annehmen müssen, dass durch die Formalisierung der informellen Institution mehr Wirkung erzielt wird als lediglich die Festschreibung einer bisher ohnehin praktizierten Verfahrensweise, reduziert sich die Wahrscheinlichkeit für einen derartigen Schritt.42 Dieser Befund, dass sich also im Bezug auf die Reaktion der Staats- und Regierungschefs hinsichtlich der Schaffung von informellen Institutionen durch die Parlamentarier mitnichten irgendeine Form des „Formalisierungsautomatismus“ nachweisen lässt, sondern vielmehr diverse Einflussgrößen im Verhältnis von Kommission, Rat und Parlament den Umgang mit informellen Institutionen bestimmen, öffnet nun den Blick auf die zweite Frage, nämlich derjenigen nach der Zukunft dieser durch das Parlament einseitig etablierten Verbindung von Spitzenkandidatur und Kommissionspräsidentschaft. 3. Die künftige Handhabung der Verbindung von Spitzenkandidatur und Kommissionspräsidentschaft

Crum verweist in der Frage der künftigen kompetenzbezogenen Stellung des Parlaments zwar grundsätzlich zurecht auf den Umstand, dass durch die zunehmende (Selbst-)Aufwertung des Europäischen Parlaments immer weniger Bereiche verbleiben, in denen die Parlamentarier noch sinnvoll Forderungen stellen bzw. informelle Institutionen etablieren können.43 Gleichzeitig aber zählen die Verfahrenshoheit über die Investitur der Exekutive sowie die Kompetenz zur Gesetzesinitiative zweifelsohne zu den absoluten Kernkompetenzen einer jeden Volksvertretung in parlamentarischen Regierungssyste41  Vgl.

A. Rasmussen (Anm. 15), S. 255. ebd. B.  Crum (Anm. 18), S. 369–370 diskutiert in seinem Beitrag die Schwierigkeiten des Europäischen Parlaments, im Bereich der Europäischen Außenund Sicherheitspolitik über die Etablierung informeller Institutionen zu Einfluss zu gelangen. Diese an dortiger Stelle beschriebenen und sich über Jahrzehnte hinziehenden Schwierigkeiten des Parlaments sind aber wohl losgelöst von Rasmussens Analyse zu betrachten, da dem Parlament bis zur Verschmelzung der Ämter des Hohen Repräsentanten mit demjenigen des Kommissars für Auswärtige Angelegenheiten kaum Zugänge zur Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik offenstanden, auf deren Basis sich informelle Institutionen überhaupt hätten etablieren lassen. 43  Vgl. B. Crum (Anm. 18), S. 360 f. 42  Vgl.



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men.44 Nachdem durch Rasmussen dargelegt wurde, dass ein weitergehendes Empowerment des Parlaments im Bereich des Initiativrechts der Kommis­ sion eher nicht zu erwarten ist, stellt sich somit die Frage, ob im Bezug auf die Investitur der Kommission in analoger Weise verfahren werden wird oder ob in diesem Punkt eine Formalisierung zu erwarten ist. Ausgehend von Rasmussens Erklärungsansatz erscheint es derzeit wohl eher unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft eine Abweichung vom dem Verfahren, welches im Bezug auf das Initiativrecht der Kommission gewählt wurde, zu erwarten ist. Dies ist nicht nur dadurch zu begründen, dass das Parlament von der nach der Wahl von 2014 praktizierten Verfahrensweise klar und deutlich profitiert, und somit die Unsicherheit bei den Akteuren über die Verteilung der Gewinne durch das Wirken dieser informellen Institution als gering eingestuft werden muss. Nach Rasmussen gilt aber: „[T]he more uncertainty there is over how the informal institutions distribute gains be­ tween the actors, the more the actors can be expected to prefer formalizing them.“45 Während die zweite Einflussgröße, die Rolle von anfallenden ­Adaptionskosten durch die Formalisierung einer informellen Institution, im Bezug auf die Verbindung der Spitzenkandidaturen mit dem Amt des Kommissionspräsidenten eher von untergeordneter Bedeutung erscheint, kann die Rolle des dritten Faktors wohl kaum überbewertet werden. So würde zum einen die Formalisierung der Verbindung von siegreichem Spitzenkandidaten und Kommissionspräsidentschaft46 den Staats- und Regierungschefs eine bedeutende Einflussmöglichkeit sowohl auf die Personalstruktur der Exekutivbehörde der Europäischen Union als auch auf die leitenden Politikinhalte nehmen. Während die Staats- und Regierungschefs sich im Nachgang zur Europawahl 2014 zwar schließlich dazu bereiterklärten, dem Parlament den Luxemburger Jean-Claude Juncker für das Amt des Kommissionspräsidenten vorzuschlagen, beschlossen sie zudem – gewissermaßen zur Etablierung eines gesichtswahrenden Kompromisses – ein Leitlinienprogramm, welches die Agenda der Kommission in den kommenden fünf Jahren 44  Vgl. Stefan Marschall, Parlamentarismus. Eine Einführung, Baden-Baden 2005, S. 133–196, insb. S. 145–168. 45  A. Rasmussen (Anm. 15), S. 254. 46  Eine solche Formalisierung wäre auf verschiedenen Wegen möglich; entweder, dies wäre die weitestgehende Variante der institutionellen Umstrukturierung der EU, könnte das Parlament direkt aus seiner Mitte heraus einen Kommissionspräsidenten wählen, oder aber das Wahlprozedere könnte etwa im Stile der Vorschriften des deutschen Grundgesetzes über die Wahl des Bundeskanzlers ausgestaltet werden. Diese weniger weitgehende Variante würde somit vorsehen, dass der Europäische Rat dem Parlament einen Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten vorschlägt. Erhielte dieser nicht die notwendige Mehrheit an Stimmen, so könnte dann in einem zweiten Wahlgang das Parlament einen Kandidaten aus seiner Mitte wählen.

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vorzeichnete.47 Würde dem Europäischen Rat nun die Hoheit über die Auswahl des Kandidaten mehr oder weniger vollständig entzogen, so wäre schwerlich zu erkennen, auf welchem Wege die Staats- und Regierungschefs diese informelle Kompetenz zum Agenda-Setting weiterhin auszuüben imstande sein sollten. Gleichzeitig würde eine solche Neujustierung der institutionellen Architektur der EU massive Auswirkungen auf die Auswahl der Kandidaten für die weiteren Posten in der Kommission haben. Zwar übt der Kommissionspräsident nach dem Wortlaut der Verträge bereits jetzt ein bedeutendes Mitspracherecht hinsichtlich der Personen und Ressortzuständigkeiten der einzelnen Kandidaten aus. Aufgrund der Tatsache aber, dass der Kommissionspräsident zur Aufrechterhaltung seiner Kandidatur auf das Wohlwollen der Staats- und Regierungschefs angewiesen ist, ist bei Geltung der gegenwärtigen Regelungen keine vollständige Abkoppelung der Bestellung der einzelnen Kommissare von den Präferenzen der Mitgliedstaaten zu erwarten.48 Würde nun aber die Entscheidung über die Person des Kommissionspräsidenten dem Europäischen Rat entzogen, so käme diesem Kandidaten eine wesentlich stärkere Position im Aushandlungsverfahren mit den Staats- und Regierungschefs zu. Auch dieser Effekt stellt offenkundig einen Nebeneffekt im Sinne von Rasmussens Erklärungsansatz dar, welchen die Mitgliedstaaten kaum hinzunehmen gewillt sein werden. Aber auch abgesehen von diesen weitgehenden Auswirkungen auf die Machtbalance im Verhältnis von Mitgliedstaaten, Kommission und Parlament würde eine Formalisierung der Machtausweitung der Parlamentarier Nebeneffekte hervorrufen, die eine solche Reform unwahrscheinlich machen. Würde die Wahl zum Europäischen Parlament nämlich faktisch zur indirekten Wahl des Kommissionspräsidenten durch die Bevölkerung der EU-Mitgliedstaaten aufgewertet, so würde diesem Urnengang eine Bedeutung zugesprochen werden, welche ihm in der öffentlichen Wahrnehmung schlichtweg nicht zukommt. Wie Eva Heidbreder und Jelena Auracher sowie Sara Hobolt zeigen,49 war die Europawahl von 2014 nämlich mitnichten, obwohl dies von den europäischen Parteifamilien intendiert war, eine Abstimmung der wahlberechtigten Bevölkerung über den Kommissionspräsidenten. Der dritte Punkt, welcher nicht-intendierte Nebenwirkungen einer Formalisierung der Verbindung von Spitzenkandidatur und Kommissionspräsidentschaft darstellt und diese somit wenig wahrscheinlich macht, besteht in dem 47  N. Nuspliger

(Anm. 7). Arndt Wonka, Technocratic and Independent? The Appointment of European Commissioners and its Policy Implications, in: Journal of European Public Policy, 14 (2007) 2, S. 169–189. 49  E. Heidbreder / J. Auracher (Anm. 3), S. 229–230; S. Hobolt (Anm. 5), S. 1536– 1538. 48  Vgl.



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Umstand, dass – analog zum vorhergehenden Punkt – durch die Aufwertung der Europawahl in einer derartigen Weise das bereits jetzt gewichtige No Demos-Argument nochmals drastisch an Schärfe gewinnen würde. So zeichnet Mette Jolly die notwendige Verbindung einer dezidierten demokratischen Mehrheitsherrschaft, welche durch eine quasi indirekte Bestimmung des Kommissionspräsidenten durch die wahlberechtigten Bevölkerungen der Mitgliedstaaten etabliert würde, mit der Existenz eines Demos nach: „[T]he need for a demos is related to the principle of majoritarian decision-making, namely that members of a democratic political system must respect the decisions of a majority. In order for this to happen, there needs to be a sense of shared political identity“.50 Francis Chevenal u. a. verdeutlichen dieses Spannungsverhältnis zwischen der immer weitergehenden Aufwertung der supranationalen Ebene und der nationalen Verfasstheit der Legitimationsebene von Politik dagegen wie folgt: „Over fifty years of European integration have led to a steady strengthening of the European kratos while the demos has mainly remained domestically constituted. European institutions have been endowed with increasing political authority […]. At the same time, collective identities, public spheres and intermediary political institutions such as parties and associations, that together constitute the demos, have retained their primarily national foundations.“51

Jüngste Beiträge zur Forschung in diesem Feld versuchen, der Nichtexistenz eines europäischen Demos durch die Konstruktion einer sogenannten Demoi-kratisierung der Europäischen Union wenigstens teilweise abzuhelfen.52 Dieses Konzept der Demoi-kratisierung der EU würde sowohl die aus dem supranationalistischen „Lager“ vorgetragene Notwendigkeit der Entstehung eines europäischen Demos schlicht aufgeben als auch die sich laut Intergouvernementalisten aus der Delegierung von Kompetenzen der nationalen Demoi auf die EU-Ebene notwendigerweise ergebenen Einschränkungen der politischen Zuständigkeiten der EU zurückweisen und das politische System der EU als eine Union von Völkern konzeptualisieren, wobei der 50  Mette Jolly, A Demos for the European Union?, in: Politics, 25 (2005) 1, S. 12– 18; vgl. ebenso Michael Kelpanides, Politische Union ohne europäischen Demos? Die fehlende Gemeinschaft der Europäer als Hindernis der politischen Integration, BadenBaden 2013 sowie Ondrej Kalina, Ein Kontinent – eine Nation? Prolegomena zur Bildung eines supranationalen Demos im Rahmen der EU, Wiesbaden 2009. Francis Chevenal u. a., Demoi-cracy in the European Union, principles, institutions, policies, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015) 1, S. 1–18, hier: S. 1. 51  F. Chevenal u. a. (Anm. 50). 52  Vgl. ebd.; Achim Hurrelmann, Demoi-cratic citizenship in Europe: an impossible ideal?, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015) 1, S. 19–36; Rebecca Welge, Union citizenship as demoi-cratic institution: increasing the EU’s subjective legitimacy through supranational citizenship?, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015) 1, S. 56–74; Kalypso Nicolaïdis, Epilogue: the challenge of European demoi-cratization, in: Journal of European Public Policy, 22 (2015) 1, S. 145–153.

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Terminus Völker sich hierbei sowohl auf Staaten als auch die hierin angesiedelten Bürger bezieht: „Therefore, any assessment of the EU’s democratic order must be based on the balance between, and interaction of, the political rights of individuals and those of the democratically constituted statespeople […]. [A] demoi-cratic political order establishes this balance in two dimensions: vertically in the interplay between EU-level and domestic legislative, executive and juridical institutions; and horizontally in the balance between a set of common values and norms ensuring the equality of transnational rights of individuals on the one hand, and respect for the diversity of the demoi on the other.“53

Aufgrund der Tatsache, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine kritische Auseinandersetzung der wissenschaftlichen Gemeinschaft mit dem Konzept der Demoi-cracy vorliegt, muss wenigstens fraglich bleiben, ob dies tatsächlich ein Beitrag zur Überwindung der grundsätzlichen institutionellen und legitimatorischen Problematiken der Europäischen Union sein kann. Ganz sicher aber muss bezweifelt werden, dass die Einführung einer quasi indirekten Wahl des Kommissionspräsidenten durch die Bevölkerungen der EU-Mitgliedstaaten ein wirksamer Beitrag zur Förderung des Respekts für die Vielfalt der Demoi sein kann. Sehr viel eher dürfte dagegen anzunehmen sein, dass durch die künstliche Personalisierung einer Wahl die Sensibilität für eben diese Vielfalt abnimmt. Während somit wenig dafür spricht, dass die nach der Wahl von 2014 etablierte informelle Institution eine Formalisierung erfahren wird, ist dennoch ebenso darauf zu verweisen, dass das Parlament auch über den Fortbestand einer informellen Institution merklichen Einfluss auf den Gang der Geschehnisse ausüben kann. Hierauf wurde im Bezug auf das Initiativrecht der Kommission bereits eingegangen, aber auch im Bereich der Investitur der Kommission besteht mit der Praxis der sogenannten Bestätigungsanhörungen der designierten Kommissare nach wie vor eine derartige informelle Institution, welche auch durch den Vertrag von Lissabon nicht in das europäische Primärrecht übernommen wurde. Zwar kann kein Kandidat für das Kommissarsamt dazu gezwungen werden, vor dem entsprechenden Ausschuss des Parlaments zu erscheinen und sich den Fragen der Abgeordneten zu stellen. Dennoch folgten nicht nur stets alle Kandidaten der „Einladung“ der Anhörungsausschüsse, sondern das Parlament war auch wiederholt, und zwar sowohl 2004 als auch 2009 und 2014, in der Lage, aufgrund der Ergebnisse dieser Anhörungen beim Kommissionspräsidenten Änderungen bei der Besetzung der Kommissarsposten durchzusetzen.54 53  F. Chevenal

u. a. (Anm. 50), S. 2. B. Crum (Anm. 18), S. 360 für 2009 und C. Moury (Anm. 23), S. 380 für 2004 sowie Thomas Mayer, EU-Parlament lehnt Bratušek ab, 8. Oktober 2014, ­unter: http:// derstandard.at / 2000006598823 / Schlammschlacht-der-Parteien-um-EU-Kom­mission 54  Vgl.



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IV. Der Anspruch des Parlaments auf die Benennung des Kommissionspräsidenten: Ein Beitrag zur Parlamentarisierung der EU? Zwar steht die unilaterale Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments im Bereich der Investitur der Kommission in einer gewissen „Tradition“ und kann daher nicht als unerhörter Systembruch klassifiziert werden. Zugleich erscheint es aber wenig wahrscheinlich, dass sich die Tradition in der Hinsicht fortsetzt, dass auch dieses Vorgehen des Parlaments den „Ritterschlag“ in der Form einer Aufnahme in die europäischen Verträge finden wird. Gleichwohl lässt sich im Nachgang zur Europawahl ein wesentlicher Schritt in die Richtung einer Parlamentarisierung des politischen Systems der Europäischen Union beobachten. So verfügt das Parlament nach Art. 225 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) bereits über die Kompetenz, die Kommission zur Ausarbeitung und Einreichung einer bestimmten Gesetzesvorlage aufzufordern.55 Zwar kann die Kommission ein im Wege des Art. 225 AEUV vorgetragenes Ansinnen des Parlaments mit Begründung zurückweisen, angesichts des Selbstbewusstseins des Parlaments in der Auseinandersetzung mit Rat und Kommission wäre ein derartiges Vorgehen der Kommissare aber wohl nur unter Inkaufnahme eines möglichen Misstrauensvotums durch das Parlament möglich. Auch im Bereich der Kontrolle der Exekutive – hier sei insbesondere auf das System der Komitologie verwiesen – hat das Parlament, und zwar vor allem auch durch die Etablierung informeller Institutionen, ein bedeutendes Mitspracherecht gegenüber Kommission und Rat erringen können.56 Somit zeichnet es sich also ab, dass der Weg der Europäischen Union hin zu einem parlamentarischen Regierungssystem längst nicht mehr durch eine rechtliche Minderausstattung des Parlaments verstellt ist, sondern dies möglicherweise vielmehr dadurch verursacht wird, dass die europäischen Parteifamilien schlichtweg keinen Wahlkampf gegeneinander führen (können), was durch die bereits dargestellte mangelnde Politisierung des Wahlkampfes von 2014 eindrucksvoll untermauert wird. (7. Februar 2015) und Alastair MacDonald, EU lawmakers reject Hungarian Culture Nominee, disrupting Juncker Plan, 6. Oktober 2014, unter: www.reuters.com / article / 2014 /  10 / 06 / us-eu-commission-navracsics-committee-idUSKCN0HV1JV20141006 (7. Februar 2015) für 2014. Vgl. für die die erstmalige Etablierung dieser informellen Institution gegenüber Jacques Santer etwa R. Dehousse (Anm. 27), S. 610. 55  Die gleiche Kompetenz kommt nach Art. 241 AEUV dem Rat der Europäischen Union zu; den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten steht mit der europäischen Bürgerinitiative ebenso ein vergleichbares Instrument zur Verfügung; vgl. hierfür Art. 11 Abs. 4  EUV in Verbindung mit Art. 24 AEUV. 56  Vgl. B.  Crum (Anm. 18), S. 357–358.

Acting Badly or Successfully? Die Folgen des unterschiedlichen mitgliedschaftsrechtlichen Status der EU in internationalen Organisationen für ihre Akteursqualität Von Julia Heydemann I. Troublekid EU? Zu Beginn des neuen Jahrtausends ist die internationale Präsenz der mittlerweile zu einer politischen Union herangewachsenen europäischen Gemeinschaft nicht mehr zu übersehen: Neben ihrem wachsenden Engagement im sicherheitspolitischen Bereich ist die Europäische Union (EU) zum größten Geber von Entwicklungshilfe weltweit avanciert. Zugleich unterhält die Europäische Kommission 139 permanente Vertretungen in Staaten auf allen Kontinenten. Doch die Außenbeziehungen der EU umfassen nicht nur bilaterale Beziehungen, sie schließen auch multilaterale Aktivitäten ein. Heute ist die oft selbst als internationale Organisation charakterisierte EU in fast jedem politischen Forum der Welt vertreten. Erstaunlich und für Drittstaaten bisweilen irritierend ist dabei die Vielfalt der Formen ihrer auswärtigen Repräsentation. Während die EU in manchen Foren von der Kommission vertreten wird (zum Beispiel in der Welthandelsorganisation oder beim Sekretariat der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen), spricht in anderen Gremien die Ratspräsidentschaft (etwa beim Internationalen Währungsfond) für die EU. In anderen Organisationen (der Welternährungsorganisation sowie der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) teilen sich Kommission und Präsidentschaft die Interessenvertretung. Nicht nur das „Sprachrohr“ der EU variiert indes je nach Forum, sondern auch ihr mitgliedschaftsrechtlicher Status: Mal ist sie reiner Beobachter (Observer) mit eingeschränkten Rechten und Pflichten, wie bei der Weltbank oder beim Internationalen Strafgerichtshof, mal ist sie Vollmitglied, wie in der Welternährungs- oder bei der Welthandelsorganisation. Das mit einem Flickenteppich1 vergleichbare Muster in der auswärtigen Repräsenta1  Vgl. Sieglinde Gstöhl, „Patchwork Power“ Europe: The EU’s Representation in International Institutions, in: European Foreign Affairs Review, 14 (2009) 3, S. 385–403.

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tion der EU ergibt sich sowohl aus komplexen EU-internen Regelungen, als auch aus den unterschiedlichen mitgliedschaftsrechtlichen Bedingungen der internationalen Organisationen. Erstgenanntes wird in der Fachliteratur unter dem Stichwort „Kompetenz“ für die Rolle der EU in internationalen Organisationen zunehmend untersucht. Die zweite Problematik bleibt unzureichend erforscht, zumindest durch die Politikwissenschaft. Tatsächlich stellen Völkerrechtler schon länger Überlegungen zu dieser Thematik an – schließlich rüttelt die Mitgliedschaft einer supranationalen Organisation wie der EU auf Dauer an den Grundpfeilern eines auf Beziehungen zwischen Staaten angelegten internationalen Systems.2 Warum sind die Folgen der verschiedenen mitgliedschaftsrechtlichen Bedingungen der EU in internationalen Organisationen für die europäische Außenpolitik von der politikwissenschaftlichen Literatur vernachlässigt worden? Immerhin dürften verschiedene Rechte und Pflichten der EU zu einer jeweils größeren respektive kleineren Bandbreite an europäischem Einfluss führen. Der Schwerpunkt in der Literatur zu internationalen Organisationen lag auf den zwischenstaatlichen Beziehungen innerhalb diesen Foren und nur vereinzelt auf den besonderen Beziehungen von internationalen Organisationen zu anderen internationalen Foren.3 Zentraler Untersuchungsgegenstand in der Verhandlungsliteratur waren zudem lange Zeit bi-, nicht multilaterale Verhandlungen. Bei Analysen zu Verhandlungen mit mehreren Akteuren richtete sich der Fokus auf multilaterale Verhandlungen zwischen Staaten und erst in jüngerer Zeit auf die Partizipation von internationalen Organisationen.4 Nur einzelne Aufsätze stellen die Frage nach den Konsequenzen des internationalen Umfeldes für die Gestaltung euro­ päischer Außenpolitik.5 2  Vgl. exemplarisch Magdalena Ličková, European Exceptionalism in International Law, in: The European Journal of International Law, 19 (2008) 3, S. 463–490. 3  Beispielhafte Ausnahmen mit Blick auf die Beziehungen der EU zu internationalen Organisationen sind: Knud Erik Jörgensen (Hrsg.), The European Union and International Organizations, Oxon 2009; Spyros Blavoukos / Dimitris Bourantonis (Hrsg.), The EU Presence in International Organizations, Oxon 2011 und Knud Erik Jörgensen / Katie Verlin Laatikainen (Hrsg.), Routledge Handbook on the European Union and International Institutions. Performance, Policy, Power, Oxon 2013. 4  Vgl. John S. Odell, Three islands of knowledge about negotiation in international organizations, in: Journal of European Public Policy, 17 (2010) 5, S. 619–632, hier: S.  619 f. 5  Vgl. Joakim Reiter, The European Union as actor in international relations: the role of the external environment for EU institutional design, in: Ole Elgström / Christer Jönsson (Hrsg.), European Union Negotiations: Processes, Networks, and Institutions, London 2005, S. 148–163; Louise Van Schaik, Is the Sum More than Its Parts? A Comparative Case Study on the Relationship between EU Unity and Its Effectiveness in Multilateral Negotiations, Leuven 2010 und Knud E. Jörgensen u. a., The Performance of the EU in International Institutions, London 2012.



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Angesichts der vergrößerten Präsenz der EU in internationalen Organisationen sowie ihrer Bemühungen in Folge des Lissaboner Vertrages, international kohärenter aufzutreten, greift dieser Beitrag die bislang wenig beachtete Problematik auf und bearbeitet folgende Leitfrage: Wie wirkt sich der je nach internationaler Organisation variierende mitgliedschaftsrechtliche Status der EU auf ihre Akteursqualität bei dortigen Verhandlungen aus? Um die Leitfrage beantworten zu können, sollen anhand von drei Fallbeispielen die Folgen der verschiedenen mitgliedschaftsrechtlichen Bedingungen für die Akteursqualität der EU untersucht werden. Die Verhandlung des entwicklungspolitischen Themas Access to Medicines, das im Zeitraum von 2001 bis 2013 in den drei internationalen Organisationen Welthandelsorganisation (WTO), Weltgesundheitsorganisation (WHO) und im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (UN-Menschenrechtsrat) verhandelt wurde, eignet sich zur Prüfung der Leitfrage, weil die EU trotz der Verhandlung ein- und desselben Themas in jedem Forum einen anderen mitgliedschaftsrechtlichen Status aufwies: Da sie selbst Gründungsmitglied neben den EU-Mitgliedstaaten in der WTO war, gilt sie dort als Vollmitglied. In der WHO hat sie hingegen den Status eines Beobachters inne, weil dieser Organisation nur Staaten beitreten können. Im UN-Menschenrechtsrat ist sie schließlich ebenfalls ein Beobachter, allerdings hat sie dort über die Mitgliedschaft der EU-Mitgliedstaaten sowie über den neu eingeführten Posten des EU Special Representative for Human Rights mehr Möglichkeiten, Einfluss auszuüben. Nach einer kurzen Diskussion des Begriffes Akteursqualität und seiner Verwendung mit Blick auf den Akteur EU, folgen die drei Fallbeispiele. Um den anschließenden Vergleich zu erleichtern, ist jedes gleich aufgebaut: Zu Beginn erfolgt jeweils eine Beschreibung der entsprechenden mitgliedschaftsrechtlichen Bedingungen der EU im Verhandlungsforum sowie der Verhandlungssituation. Daran schließt sich eine Untersuchung der Folgen der Variablen für die Akteursqualität an. Ein Vergleich wertet die in der Analyse erzielten Ergebnisse aus. Es wird argumentiert, dass der „mitgliedschaftsrechtliche Status“ eine zu Unrecht vernachlässigte Variable ist, die sich auf die Akteursqualität der EU in Kombination mit anderen Einflussfaktoren, wie der EU-internen Kompetenzverteilung sowie der je nach Verhandlung wechselnden Einigkeit unter den Mitgliedstaaten auswirken kann. Ein Ausblick zeigt auf, welche Möglichkeiten der EU nach dem Lissaboner Vertrag sowie dem Beschluss von Resolution Nr. 65 / 276 zur Ausweitung der Teilhaberechte der EU in den Vereinten Nationen zur Verfügung stehen, um ihren mitgliedschaftsrechtlichen Status in internationalen Organisationen auszubauen. Der Beitrag endet mit einer Begründung, warum es von Nachteil für den Einfluss der EU ist, wenn sich ihre Mitgliedstaaten gegen den Ausbau dieser Rechte wehren, wie sie es in manchen Foren gegenwärtig tun.

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II. Was ist „Akteursqualität“? Die beherrschende Analyseeinheit in den Theorien der Internationalen Beziehungen war geraume Zeit der Staat. Nichtstaatliche Akteure wie Nichtregierungsorganisationen, transnational agierende Firmen oder internationale Organisationen rückten erst im Zuge der sogenannten Transnationalismusdebatte6 Anfang der 1970er Jahre in den Mittelpunkt des Interesses. Die Anwendung der Begriffe Akteur (Actor) und Akteursqualität (Actorness)7 auf die EU ist eine jüngere Entwicklung in der Literatur. So führte Oran Young erst 1972 den Begriff „mixed actor system“8 ein, um zu verdeut­ lichen, es gäbe nunmehr Formen internationaler Kooperation, wo nichtstaatliche Akteure staatlichen Akteuren nicht mehr zwangsläufig nachgeordnet seien. Im gleichen Jahr bezeichneten Carol Cosgrove und Kenneth Twitchett die Vereinten Nationen und die Europäische Gemeinschaft (EG) als „new international actors“9. Anlass war die erste gemeinsame Interessenvertretung der EG auf einer Konferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Spätestens ab diesem Zeitpunkt stellten Autoren nicht mehr die Relevanz von nichtstaatlichen Akteuren in Frage. Vielmehr versuchten sie, den Wirkungsgrad solcher Entitäten konzeptionell zu erfassen. Bis heute dominieren in der Debatte zwei Richtungen: Auf der einen Seite stehen Autoren, die „harte Kriterien“ wie militärische oder wirtschaftliche Macht anwenden, um den Einfluss solcher Akteure zu bemessen. Jene Autoren vergleichen die außenpolitischen Instrumente dieser Akteure mit denen von Nationalstaaten und kommen dabei nicht selten zu dem Ergebnis, es seien keine „echten“ Akteure, weil sie etwa nicht ausreichend militärische Kapazitäten besäßen.10 Im Gegensatz dazu gibt es Autoren, die „weiche Kriterien“ verwenden und 6  Vgl. Robert Keohane / Joseph Nye, Transnational Relations and World Politics, Cambridge, MA 1972. 7  Die Übersetzung von actorness mit „Akteursqualität“ orientiert sich an der gängigen Übersetzung des Begriffes in der deutschen Literatur. Vgl. Sebastian Harnisch u. a., Einleitung: EU-Außenpolitik und Actorness, in: Bernhard Stahl / Sebastian Harnisch / Hansfrieder Vogel (Hrsg.), Vergleichende Außenpolitikforschung und nationale Identitäten. Die Europäische Union im Kosovo-Konflikt 1996–2008, Baden-Baden 2009, S. 15–30. 8  Vgl. Oran R. Young, The Actors in World Politics, in: James N. Rosenau / Vincent Davis / Maurice A. East (Hrsg.), The Analysis of International Politics, New York 1972, S. 125–144, hier: S. 136. 9  Vgl. Carol A. Cosgrove / Kenneth J. Twitchett, The new international actors: the United Nations and the European Economic Community, London 1970. 10  Vgl. exemplarisch Ulrich Krotz, Momentum and Impediments: Why Europe Won’t Emerge as a Full Political Actor on the World Stage Soon, in: Journal of Common Market Studies, 47 (2009) 3, S. 555–578.



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den Einfluss von supranationalen Akteuren vor allem in der Macht über die Prägung der sozialen Realität ihrer Mitgliedstaaten sehen.11 So ist die soziale Realität der EU-Mitgliedstaaten zweifellos von der Verpflichtung zur europäischen Integration geprägt. Da nichtstaatliche Akteure im Bereich der internationalen Normsetzung oftmals Vorreiter sind – ein Beispiel ist die Rolle der EU bei den Verhandlungen zum Kyoto-Protokoll –, stammt die bislang umfassendste Definition des Begriffes Akteursqualität aus der Umweltforschung. Charlotte Bretherton und John Vogler gehen von Akteursqualität aus, wenn drei Faktoren erfüllt sind: Opportunity, Capability und Presence.12 Mit Opportunity vertreten sie die Ansicht, bei jeder Analyse von Akteursqualität sei das externe Umfeld zu berücksichtigen. Mit Capability verweisen sie auf die buchstäblichen Fähigkeiten von Akteuren, also nicht nur auf harte Faktoren wie außenpolitische Instrumente, sondern auch den internen Kontext zum Zeitpunkt des Handelns, ob sich etwa die EU-Mitgliedstaaten einig sind, zu handeln oder nicht. Mit Presence ist der eigentliche politische Einfluss gemeint, den solche Akteure in einer Handlungssituation auszuüben vermögen. In Anlehnung an dieses dritte Kriterium wird der Begriff „Akteursqualität“ für die Zwecke dieser Analyse als die Fähigkeit eines Akteurs, eine Handlung bzw. einen Handlungsvorgang zu beeinflussen, definiert. Im Unterschied zu Bretherton und Vogler werden die ersten zwei Kriterien nicht als Eigenschaften von Akteursqualität verstanden, sondern als Variablen, die auf diese wirken. Als Variable aus dem externen Umfeld (Opportunity) wird der je nach internationalem Forum variierende mitgliedschaftsrechtliche Status der EU untersucht. Als EU-interne Variablen (Capability) dienen sowohl die Kompetenzverteilung als auch die Einigkeit unter den Mitgliedstaaten, da beide Merkmale häufig als maßgebliche Einflussfaktoren für die Akteursqualität der EU genannt werden.13

11  Vgl. exemplarisch Mark Leonhard, Why Europe Will Run the 21st Century, London 2005. 12  „Opportunity denotes factors in the external environment of ideas and events which constrain or enable actorness. Presence conceptualizes the ability of the EU, by virtue of its existence, to exert influence beyond its borders. Capability refers to the internal context of EU external action – the availability of policy instruments and understandings about the Union’s ability to utilize these instruments, in response to opportunity and / or to capitalize on presence.“ Charlotte Bretherton / John Vogler, The European Union as a Global Actor, Oxon 2006, S. 24. 13  Vgl. Sophie Meunier / Kalypso Nicolaidis, Who Speaks for Europe? The Delegation of Trade Authority in the EU, in: Journal of Common Market Studies, 37 (1999) 3, S. 477–501.

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III. Fallbeispiel Welthandelsorganisation 1. Mitgliedschaftsrechtlicher Status der EU im Verhandlungsforum

In der WTO ist die EU Gründungsmitglied neben den EU-Mitgliedstaaten. Dieser Umstand geht auf die besondere Gründungsgeschichte der WTO zurück. So ist vielen Globalisierungsgegnern nicht bewusst, dass die USA, die sie für die Aktivitäten der WTO hauptverantwortlich machen, gegen deren Gründung war. Tatsächlich ging die WTO auf eine Forderung der EU, Kanadas und etlicher Entwicklungsländer zurück. Diese wollten die zunehmend bilaterale Handelspolitik der USA wieder an strengere multilaterale Regeln binden. Viele institutionelle Eigenheiten der WTO erinnern daher nicht von ungefähr an Errungenschaften aus dem europäischen Integrations­ prozess,14 allem voran die Möglichkeit des Dispute Settlement Body, ähnlich wie der Europäische Gerichtshof bei Handelsstreitigkeiten rechtlich bindende Sanktionen auszusprechen. Obgleich die EU selbstständiges Gründungsmitglied ist, derzeit also insgesamt 29 statt 28 europäische Mitglieder in der WTO existieren, darf sich dieser Umstand laut WTO-Verfassung nicht auf das Stimmenverhältnis der EU in der Organisation auswirken.15 Die EU hat weiterhin „nur“ 28 Stimmen. Faktisch bedeutet die Vollmitgliedschaft der EU jedoch die formale Repräsentation sowohl der EU-Mitgliedstaaten als auch der Kommission bei allen Verhandlungen der WTO. Die Kommission nimmt somit wesentliche mitgliedschaftliche Rechte wahr, insbesondere dann, wenn sie die EU im höchsten Entscheidungsgremium – der Ministerkonferenz – vertritt. Allein das Recht der Budgethoheit verbleibt den EU-Mitgliedstaaten. 2. Verhandlungssituation

Aufgrund seiner Bedeutung für die Access to Medicines-Debatte steht in diesem Beispiel das vierte ministerielle Treffen der WTO in Doha vom 9. bis 13. November 2001 im Zentrum der Analyse. Neben vielen anderen Themen wurde dort eine für die Entwicklungsländer wichtige Zusatzerklärung zum sogenannten TRIPs-Abkommen verhandelt. Das Abkommen ist 14  „The institutional design of the WTO itself has been much influenced by the European Union.“ Jens Ladefoged Mortensen, The World Trade Organization and the European Union, in: Knud Erik Jørgensen (Hrsg.): The European Union and International Organizations, Milton Park 2009, S. 80–100, hier: S. 87. 15  „Article IX of the WTO Agreement determines that the number of votes cannot exceed the number of the individual European Community (EC) member states.“ Ebd., S. 81.



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eine multilaterale Vereinbarung, die erstmalig einen rechtlich bindenden Patentschutz auf pharmazeutische und andere für den Handel relevante Produkte festlegt (Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights). Die Entwicklungsländer, die Ende der 1990er Jahre zunehmend mit der Immunkrankheit AIDS zu kämpfen hatten, stießen sich an diesem Abkommen, da der durch TRIPs gesicherte globale Patentschutz auf Medikamente höhere Preise sowie längere Wartezeiten auf kostengünstigere Generika zur Folge hatte. Während AIDS in den Industrieländern durch teure antiretrovirale Medikamente relativ erfolgreich bekämpft werden konnte, gelang dies nicht in entwicklungsschwächeren Ländern, die sich solche Medikation schlichtweg nicht leisten konnten. In Doha spitzte sich dieser Konflikt nun zu, als die Entwicklungsländer die Verhandlung einer Zusatzerklärung zum TRIPs-Abkommen forderten. Sie sollte klarstellen, der globale Patentschutz stünde nicht über dem Schutz der öffentlichen Gesundheit in ihren Ländern. Die Industrieländer fürchteten hingegen um ihre pharmazeutischen Industrien, kämen sie dieser Forderung nach. Zugleich war ihnen bewusst, wie sehr die Zukunft der WTO von einem erfolgreichen Abschluss der Konferenz abhing.16 Vor der Doha-Konferenz war bereits die Ministerkonferenz von Seattle am Widerstand der Entwicklungsländer gegen eine neue Welthandelsrunde gescheitert. Um deren Zustimmung für den Beginn einer neuen Welthandelsrunde zu erreichen, traten die Industrieländer daher in die Verhandlung einer Zusatzerklärung zum TRIPs-Abkommen ein. In der Verhandlungssituation ging es um zwei Textoptionen: eine wesentlich vager formulierte, welche die Industrieländer präferierten, sowie eine klarer ausgearbeitete, auf der die Entwicklungsländer beharrten.17 Die durch den Handelskommissar Pascal Lamy bei sämtlichen Gesprächen vertretene EU, der als Gründungsmitglied ganz besonders an der Zukunft der WTO lag, versuchte zwischen beiden Blöcken zu vermitteln. Im Gegenzug für Konzessionen der EU wollte Lamy die Aufnahme der Themen Umwelt, Wettbewerb und Dienstleistungen in die Handelsagenda erreichen. Dafür war der Kommissar sogar bereit, im Bereich der Agrarpolitik Zugeständnisse zu machen. In enger Zusammenarbeit mit den USA, zu dessen Handelsrepräsentant Robert Zoellick Lamy ein freundschaftliches Verhältnis verband, gelang es ihm, auf die Gruppendynamik einzuwirken und die Entwicklungsländer für das Projekt einer neuen Handelsrunde zu gewinnen. In 16  „TRIPS and public health could be the deal that makes or breaks the Doha meeting.“ Michael Bailey, zit. nach: Ärzte Ohne Grenzen: Rich countries blocking drug deal for poor countries, 9. November 2001, unter: www.msf.org / article / richcountries-blocking-drug-deal-poor-countries (10. März 2015). 17  Vgl. Daniel Pruzin, WTO Talks on TRIPS, Public Health Declaration Stall Over Compromise Text, 24. Oktober 2001, unter: www.cptech.org / ip / wto / doha / bna 10242001.html (10. März 2015).

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allen anderen Verhandlungsbereichen erreichte die Kommission außerdem die Zugeständnisse, die sie erzielen wollte. Die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten unterstützte die Verhandlungsstrategie Lamys. Dessen ungeachtet stand die Kommission unter strenger Beobachtung, da es bei der vorherigen Welthandelsrunde wegen einer Mandatsüberschreitung zu einem Vertrauensverlust gekommen war. Folglich ließen es sich einige EU-Mitgliedstaaten mit pharmazeutischer Industrie nicht nehmen, öffentlich Kritik an den Stellungnahmen der Kommission zu äußern.18 Das schwächte zum Teil die Glaubwürdigkeit ihrer Verhandlungsführung, zumindest den Versuch Lamys, sich als Mediator zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu präsentieren. Am Ende handelten die USA und Brasilien allein einen Kompromisstext aus. Weil sich dessen Wortlaut dem von den Entwicklungsländern präferierten Text annäherte, wurde der Verhandlungsausgang als „Sieg“ des Südens gefeiert.19 Tatsächlich hatten sich die Industrieländer mit dieser rechtlich nicht bindenden Erklärung jedoch die Zustimmung der Entwicklungsländer für eine neue Welthandelsrunde erkauft. 3. Analyse der Akteursqualität der EU

Der Status der EU als Gründungsmitglied der WTO unterstrich nicht nur die Bemühungen Pascal Lamys um eine neue Welthandelsrunde. Er ermöglichte es ihm auch – neben der EU-internen Kompetenzregelung – an den Verhandlungen als Repräsentant der EU teilzunehmen. Als solcher konnte Lamy sämtlichen Gesprächen beiwohnen und Einfluss auf deren Inhalte ausüben. Sichtbarstes Ergebnis seiner Partizipation war die Aufnahme der „europäischen“ Themen Umwelt, Wettbewerb und Dienstleistungen in die neue Handelsagenda.20 Außerdem stimmten die Entwicklungsländer der Lancierung einer neuen Handelsrunde zu. Im Gegenzug musste die EU vergleichsweise geringe Konzessionen im Agrarbereich und in der Access to Medicines-Frage machen. Der Wortlaut der Zusatzerklärung, der den Entwicklungsländern entgegenkam, war rechtlich nicht bindend. Eindeutig positiv wirkte sich der Status hinsichtlich der Gruppendynamik bei der Verhandlung aus: So hätte sich der amerikanische Handelsrepräsentant mit Sicherheit nicht um die Pflege der Beziehung zum europäischen 18  Vgl. Adrian Van Den Hoven, Interest Group Influence on Trade Policy in a Multilevel Polity: Analysing the EU Position at the Doha WTO Ministerial Conference, Robert Schuman Centre for Advanced Studies Paper 67 (2002), S. 11. 19  Vgl. David Banta, Public Health Triumphs at WTO Conference, 5. Dezember 2001, unter: http://jama.jamanetwork.com / article.aspx?articleid=194431 (10. März 2015). 20  Vgl. J. L. Mortensen (Anm. 16), S. 86.



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Handelskommissar bemüht, wenn diesem keine Schlüsselrolle in den Verhandlungen zugekommen wäre.21 Geschwächt wurde die Verhandlungsführung der Kommission allein von den EU-Mitgliedstaaten selbst. Aufgrund des in der vorherigen Welthandelsrunde entstandenen Vertrauensverlustes blieb die Kommission unter strenger Beobachtung. Für ihren Versuch, sich als Mediator zu präsentieren, hatte dies Folgen: Am Ende handelten nur die USA und Brasilien einen Kompromisstext aus. Insgesamt führte jedoch die mehrheitliche Einigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten in Verbindung mit dem verbesserten rechtlichen Status der EU in der WTO sowie der alleinigen Verhandlungskompetenz der Kommission zu einem Mehr an Einfluss auf die Verhandlungen und somit zu einer hohen Akteursqualität der EU in der WTO. IV. Fallbeispiel Weltgesundheitsorganisation 1. Mitgliedschaftsrechtlicher Status der EU im Verhandlungsforum

Als Sonderorganisation der Vereinten Nationen dürfen der WHO nur Staaten beitreten.22 Obwohl etliche EU-Mitgliedstaaten zu den Gründungsmitgliedern der WHO zählen, begannen die offiziellen Beziehungen zwischen der EU und der WHO erst 1972 mit einem Briefwechsel zwischen der Kommission und dem Direktor des regionalen Büros der WHO für Europa.23 Bis heute umfasst die Kooperation mehrere Ebenen: regelmäßige Treffen zwischen den ranghöchsten Funktionären, jährliche Begegnungen der Arbeits­ ebenen sowie die gegenseitige Information. Trotz dieser engen Zusammenarbeit hat die Kommission in der WHO nur den Status eines „Beobachters“ inne.24 Als solcher hat sie kein Recht, über Resolutionen der Weltgesundheitsversammlung abzustimmen. Ihr ist es jedoch erlaubt, im Sitzungssaal präsent zu sein und zu sprechen, allerdings erst nachdem alle anderen WHOMitgliedstaaten gesprochen haben. Als Beobachter kann die EU auch nicht in das wichtigste politische Gremium der WHO, den Exekutivrat, gewählt wer21  Vgl.

A. Van Den Hoven (Anm. 20), S. 26. interessante Ausnahme stellt der Beitritt der EU als eigenständigem Mitglied zu zwei zentralen Verträgen der WHO, dem Framework Convention on Tobacco Control sowie den International Health Regulations, dar. 23  Vgl. Thea Emmerling / Julia Heydemann, The EU as an actor in global health diplomacy, in: Ilona Kickbusch / Graham Lister / Michaela Told / Nick Drager (Hrsg.), Global Health Diplomacy: Concept, Issues, Actors, Instruments, Fora and Cases, New York 2013, S. 223–241, hier: S. 225. 24  Vgl. Generalversammlung der Vereinten Nationen: Status of the European Economic Community in the General Assembly, Resolution Nr. 3208 (XXIV), 11. Oktober 1974, unter: http://daccess-dds-ny.un.org / doc / RESOLUTION / GEN / NR0 / 738 / 10  / IMG / NR073810.pdf?OpenElement (10. März 2015). 22  Eine

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den. Dieses Recht bleibt den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten, die es mittlerweile dazu nutzen, um die Sicht Europas miteinzubringen. 2. Verhandlungssituation

Die Verhandlung des Themas Access to Medicines in der WHO erfolgte erst 2006. Zuvor hatte sich die Organisation zwar im Rahmen von Resolutionen zu dem für sie wichtigen Thema der Vereinbarkeit von öffentlicher Gesundheit mit privatrechtlichem Schutz auf Patente geäußert. Doch aufgrund von Widerstand der Industrieländer, die die Mehrheit der Entwicklungsländer in diesem Forum fürchteten, verzögerte sich die Verhandlung über mehrere Jahre.25 Die Sitzungen der schließlich mit Verhandlungen beauftragten Intergovernmental Working Group on Public Health, Innova­ tion and Intellectual Property (IGWG) dauerten dann zwei weitere Jahre. Das Mandat von IGWG lautete, einen „Globalen Aktionsplan“ zu erstellen, um die finanzielle Förderung für die von Entwicklungsländern dringend benötigte medizinische Produkte zu beschleunigen. Im Zentrum dieser Analyse steht die letzte IGWG-Sitzung vom 19. bis 24. Mai 2008, da hier die Bemühungen der vorherigen Verhandlungsjahre zusammenkamen. Vergleichbar mit der WTO, existierte ein Nord-Süd-Gefälle in den Gesprächen: Die Industrieländer versuchten, den Text des Aktionsplanes zu entschärfen, während die Entwicklungsländer eindeutige Formulierungen verlangten.26 Bei zahlreichen Textstellen erreichten die Industrieländer eine Abschwächung, beispielsweise mit Blick auf eine Passage zu medizinischer Versorgung als Menschenrecht oder zu der von den Entwicklungsländern geforderten alleinigen Zuständigkeit der WHO. Trotz dieser Kürzungen enthielt das Abschlussdokument einige inhaltliche Neuerungen, die zuvor höchst kontrovers erörtert worden waren: So mussten die Industrieländer den Forderungen der Entwicklungsländer hinsichtlich der Reichweite des Aktionsplanes nachgeben und dessen Anwendbarkeit nicht mehr auf eine bestimmte Anzahl von Krankheiten begrenzen. Außerdem behielt der Aktionsplan eine Formulierung zu einem möglichen Vertrag zur Forschungsförderung bei. Obwohl die Frage der Finanzierung des Aktionsplanes zur Debatte auf der nächsten Weltgesundheitsversammlung verschoben wurde – ein zentrales Verhandlungsziel der EU – beauftragte der Aktionsplan die WHO 25  Vgl. Ellen T’Hoen, The Global Politics of Pharmaceutical Monopoly Power. Drug patents, access, innovation and the application of the WTO Doha Declaration on TRIPS and Public Health, Huntingdon 2009, S. 22. 26  Vgl. Germán Velásquez, The Right to Health and Medicines: The Case of Recent Negotiations on the Global Strategy on Public Health, Innovation and Intellectual Property, South Centre Research Paper 35 / 2011, S. 14, unter: http://apps.who. int / medicinedocs / documents / s21392en / s21392en.pdf (10. März 2015).



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damit, eine weitere Expertengruppe einzurichten, die sich mit dieser Frage befassen sollte.27 Weil in der EU die Kompetenz der Verhandlungsführung je nach Gesundheitsthema geteilt ist, also entweder die Kommission das Recht hat, für die EU zu sprechen, oder die Ratspräsidentschaft, muss für jede Verhandlung neu geklärt werden, wer die EU in der WHO repräsentiert.28 Der Status als Beobachter beschränkt zudem die Möglichkeiten der Kommission, Einfluss zu nehmen. Bei der ersten Sitzung der IGWG 2006 stellten beide Umstände noch ein Hindernis für die Beteiligung der supranationalen Ebene an den Verhandlungen dar: EU-intern bestritten die Mitgliedstaaten die der Kommission vertraglich zugesicherte Kompetenz, für den Bereich der Vereinbarkeit von öffentlicher Gesundheit mit geistigen Eigentumsrechten zu sprechen. EU-extern wehrten sich zwei Mitgliedstaaten (USA, Australien) gegen die Partizipation der Kommission an den Verhandlungen.29 Bemerkenswerterweise führte letzter Umstand jedoch zu einer eindeutigen Haltung unter den EU-Mitgliedstaaten. Trotz der Zweifel an dem Recht der Kommission, für die EU in der WHO bei dieser gesundheitspolitischen Frage zu sprechen, verfassten sie einen Brief an die Mitgliedschaft der WHO, in dem sie um Anerkennung der Partizipation der Kommission an der IGWG baten.30 Da die Mehrheit der WHO-Mitgliedstaaten für deren Teilhabe war, durfte die Kommission den Verhandlungen beiwohnen. Zum Zeitpunkt der hier analysierten IGWG-Sitzung stellte der Beobachterstatus der Kommission daher kein Hindernis mehr für ihre Beteiligung an den Verhandlungen dar. Bei allen Beratungen saß die Kommission selbstverständlich neben dem Vertreter der Ratspräsidentschaft. Dadurch konnte sie Einfluss auf die Verhandlungen ausüben. Die allgemeine Einigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten, den Aktionsplan so vage wie möglich zu halten, förderte dabei eine gemeinsame Verhandlungsstrategie. 3. Analyse der Akteursqualität der EU

Der Beobachterstatus bereitete der Kommission zumindest bei der ersten IGWG-Sitzung Probleme, als ihre Teilnahme an den Verhandlungen von den USA und Australien in Frage gestellt wurde. EU-intern führte die Regelung 27  Vgl. Weltgesundheitsorganisation, Global Strategy and Plan of Action on Public Health, Innovation and Intellectual Property, unter: www.who.int / phi / publication s / Global_Strategy_Plan_Action.pdf (10. März 2015). 28  Vgl. Louise Van Schaik, The European Union, A Healthy Negotiator? A study on its unity in external representation and performance in the World Health Organization, Clingendael 2009, S. 13. 29  Vgl. ebd. S. 15. 30  Ebd.

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der geteilten Kompetenz zusätzlich zu Unklarheit darüber, wer die EU international vertreten dürfe. Als das seitens zweier WHO-Mitglieder in Frage gestellt wurde, waren sich die EU-Mitgliedstaaten hingegen einig, diesen Versuch der Reduzierung der Rechte der EU im Verhandlungsforum abzuwehren. Dies führte zum genannten Brief der Ratspräsidentschaft an die WHO und damit zur Akzeptanz der Partizipation der Kommission an IGWG. Die Kommission nutzte diese Situation dann geschickt, indem sie den Verhandlungsverlauf beeinflusste. Die Einigkeit der EU-Mitgliedstaaten über die Verhandlungsziele half ihr dabei. Folglich führten ein aufgewerteter Beobachterstatus, die positiv für die Kommission entschiedene Kompetenzfrage sowie die Einigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten über die Verhandlungsstrategie zu einer vergleichsweise großen Akteursqualität der EU in der WHO. V. Fallbeispiel Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen 1. Mitgliedschaftsrechtlicher Status der EU im Verhandlungsforum

Wie die WHO besteht der UN-Menschenrechtsrat nur aus Staaten. Alle drei Jahre werden 47 Mitgliedstaaten nach einem bestimmten geographischen Schlüssel (13 afrikanische, 13 asiatische, acht lateinamerikanische und karibische, sieben westeuropäische und sechs osteuropäische Staaten) ausgewählt. Die für die UN typische Aufteilung ihrer Mitgliedschaft in regionale Blöcke läuft dem Ziel der EU, als einheitlicher Akteur aufzutreten, zumindest formal zuwider, da sich ihre Mitgliedstaaten auf drei der insgesamt fünf Gruppen verteilen (Zypern zählt zur asiatischen Gruppe). In 2013, dem Jahr der Verhandlungssituation, gehörten dem Menschenrechtsrat neun EU-Mitgliedstaaten an: Deutschland, Estland, Irland, Italien, Österreich, Polen, Rumänien, Spanien und Tschechien.31 Aus den genannten sticht Irland hervor, da es zum Zeitpunkt der Verhandlungssituation die Ratspräsidentschaft innehatte. Weitere zentrale westliche Industrieländer im UNMenschenrechtsrat waren die USA, die Schweiz und Japan. Zu den wichtigsten Entwicklungsländern zählten Argentinien, Brasilien, Chile, Indien, Thailand sowie Gabun als Sprecher der afrikanischen Gruppe. Obgleich die EU als Folge von Resolution Nr.  65 / 276 der Generalversammlung32 ihren regulären Status als Beobachter aufwerten könnte, hat sie dies – aufgrund von Widerstand der EU- wie der UN-Mitgliedstaaten im 31  Für eine vollständige Liste der Mitgliedstaaten des UN-Menschenrechtsrates im Jahr 2013 sortiert nach regionalen Gruppen vgl. Vereinte Nationen, Current Membership of the Human Rights Council, 1 January – 31 December 2013 by regional groups, unter: www.ohchr.org / EN / HRBodies / HRC / Pages / Group2013.aspx (10. März 2015). 32  Vgl. Generalversammlung der Vereinten Nationen: Participation of the European Union in the work of the United Nations, Resolution Nr. 65 / 276 (03.05.2011),



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Menschenrechtsrat – bislang nicht getan. Traditionell ist das Politikfeld „Menschenrechte“ dem Bereich nationalstaatlicher Souveränität zugeordnet. Daher liegt die Kompetenz, die EU nach außen zu vertreten, bei der Ratspräsidentschaft. Allein EU-intern wirken die Bestimmungen von Lissabon bereits: Die mit acht Mitarbeitern ausgestattete Menschenrechtsabteilung der Kommission in Genf ist mit dem Personal des Ratssekretariates Teil der neu geschaffenen EU-Delegation geworden und leitet als solche die Koordinierungssitzungen vor Ort. Außerdem kann sich die EU-Vertretung als Intergovernmental Organization im Menschenrechtsrat zu Wort melden. 2. Verhandlungssituation

Aus den zahlreichen Resolutionen des Menschenrechtsrates zum Thema Access to Medicines ist für die Zwecke dieser Analyse die Verhandlung von Resolution Nr.  23 / 14 Access to Medicines in the Context of the Right of Everyone to the Enjoyment of the Highest Attainable Standard of Physical and Mental Health ausgewählt worden.33 Neben ihrer Aktualität (Annahme am 13. Juni 2013) spricht die zeitliche Terminierung der Resolution vier Jahre nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrages am 1. Dezember 2009 für ihre Auswahl, denn zu diesem Zeitpunkt galten bereits dessen Veränderungen für die außenpolitische Vertretung der EU in multilateralen Foren. Im Zentrum der Analyse steht die 23. Sitzung des Menschenrechtsrates vom 27. Mai bis 14. Juni 2013. Hier stellte der UN-Sonderbeauftragte für das Recht auf Gesundheit, Anand Grover, seinen Bericht zum Thema Access to Medicines vor.34 In seinem Bericht listete Grover nicht nur die größten Hürden für den gleichberechtigten Zugang von armen Bevölkerungsschichten zu Medikamenten auf, sondern plädierte auch für den Vorrang des Menschenrechtes auf Gesundheit vor dem Schutz privatwirtschaftlicher Interessen. Brasilien nahm den Bericht zum Anlass, um gemeinsam mit Ägypten, Indien, Indonesien, dem Senegal, Südafrika und Thailand am 13. Juni 2013 einen entsprechenden Resolutionsentwurf in den Menschenrechtsrat einzuDokument Nr.  A / 65 / 276, unter: www.un.org / en / ga / search / view_doc.asp?symbol= A / RES / 65 / 276 (7. Februar 2015). 33  Vgl. Human Rights Council: Access to medicines in the context of the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health, Resolution Nr. 23 / 14, Dokument Nr. A / HRC / RES / 23 / 14, 13.06.2013, unter: http://ap.ohchr.org / documents / alldocs.aspx?doc_id=21920 (7. Februar 2015). 34  Vgl. Human Rights Council: Report of the Special Rapporteur on the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health on access to medicines, Dokument Nr. A / HRC / 23 / 42 (1. Mai 2013), unter: www.ohchr.org / Documents / HRBodies / HRCouncil / RegularSession / Session23 / A-HR C-23-42_en.pdf (10. März 2015).

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bringen.35 Unter den 33 Ko-Sponsoren der Resolution befanden sich Norwegen, das bei dieser Thematik häufig mit den Entwicklungsländern stimmt, sowie Indien und Südafrika, zwei Länder, die in der Access to MedicinesDebatte durch ihr Eintreten für Generika bekannt sind. Wenig überraschend war hingegen der Widerstand der USA und der EU gegen die brasilianische Resolution. Die USA versuchten, die Anwendbarkeit der Resolution auf bestimmte Medikamente zu begrenzen und die EU schlug 25 Änderungen vor, um den Text abzuschwächen.36 Aus Sicht der Entwicklungsländer arbeitete die EU damit vergleichsweise konstruktiv am Text mit, während die USA eine Abstimmung darüber herbeizuführen suchten. Da sich die irische Ratspräsidentschaft in den Verhandlungen letztlich mit keinem ihrer Änderungswünsche durchsetzen konnte, einigten sich die EU-Mitgliedstaaten darauf, den Abstimmungsvorschlag der USA zu unterstützten und sich dann zu enthalten. Folglich kam es nicht zu einer Annahme der Resolution im Konsens, wie von den Sponsoren erhofft. Stattdessen stimmten 33 Staaten dafür, während sich 16, darunter die USA und die EU, enthielten. Ungeachtet dessen war die Annahme der Resolution ein Erfolg für die Entwicklungsländer. 3. Analyse der Akteursqualität der EU

Aufgrund der Mitgliedschaft Irlands im UN-Menschenrechtsrat sowie dessen zeitgleicher Übernahme der Ratspräsidentschaft beschränkte der Beobachterstatus die Akteursqualität der EU bei den Verhandlungen nicht. Über das Sprachrohr der Ratspräsidentschaft konnte die zuvor in der EUDelegation koordinierte Verhandlungsstrategie bei allen Sitzungen der Verhandlung vertreten werden. Die Einigkeit der EU-Mitgliedstaaten, zunächst mit den Entwicklungsländern zu kooperieren, um so eine Variante im Konsens herbeiführen zu können, führte anfänglich zur konstruktiven Mitarbeit der EU am Verhandlungstisch. Da sich die Ratspräsidentschaft mit ihren Änderungsvorschlägen indes nicht durchsetzen konnte, mussten sich die EU-Mitgliedstaaten auf eine neue Verhandlungsstrategie einigen. Sie lautete: die USA in ihrem Bestreben, eine Abstimmung über die Resolution herbei35  Vgl. Human Rights Council: Access to medicines in the context of the right of everyone to the enjoyment of the highest attainable standard of physical and mental health, Resolution Nr.  23, Dokument Nr.  A / HRC / 23 / L.10 / Rev.1, 11. Juni 2013, unter: http://ap.ohchr.org / documents / alldocs.aspx?doc_id=21900 (7. Februar 2015). 36  Vgl. dazu den Bericht der Nichtregierungsorganistation Infojustice: Access to Medicines Resolution Adopted by UN Human Rights Council, 16. Juli 2013, unter: http://infojustice.org / archives / 30211 (10. März 2015).



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zuführen, zu unterstützen und sich dann zu enthalten. Das Vorgehen enttäuschte die Entwicklungsländer, doch deren Bild der EU als „Mitläufer“ der USA machte sich nicht am Beobachterstatus fest, sondern an ihrer Entscheidung, schließlich doch auf der Seite der USA zu stehen. Zudem führte es zu einem Verhandlungsergebnis, das die EU nicht gewollt hatte: einem Abstimmungserfolg für die Entwicklungsländer trotz Enthaltung. Die geringe Akteursqualität der EU im UN-Menschenrechtsrat kann daher nicht auf ihren Beobachterstatus oder mangelnde Einigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten zurückgeführt werden. Vielmehr ist der Grund bei der intergouvernementalen Verhandlungsführung zu suchen, die am Ende nicht zum erhofften Erfolg führte. VI. Vergleich Die Akteursqualität der EU war am stärksten in der WTO, am zweitstärksten in der WHO und am geringsten im UN-Menschenrechtsrat ausgeprägt. Ursächlich für die starke Akteursqualität in der WTO war eine Kombination aus den Faktoren supranationale Kompetenz, überwiegende Einigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten sowie der Status als Vollmitglied. Jener ermöglichte es der Kommission – zusammen mit der für sie vorteilhaften Kompetenzregelung –, als alleiniger Verhandlungsführer der EU in der WHO aufzutreten. Pascal Lamy konnte dadurch allen Gesprächen im Laufe der Verhandlungen beiwohnen sowie Beziehungen zu anderen wichtigen Verhandlungsparteien wie den USA pflegen. Weil die EU-Mitgliedstaaten die Verhandlungsstrategie Lamys im Wesentlichen unterstützten, gelang es der Kommission, Einfluss auf den Verhandlungsinhalt auszuüben. Das führte zur Aufnahme der Themen Umwelt, Wettbewerb und Dienstleistungen in die Handelsagenda. Außerdem erreichte Lamy gemeinsam die erhoffte Lancierung einer neuen Welthandelsrunde. Im Gegenzug machte die EU vergleichsweise geringe Konzessionen im Agrarbereich sowie bei der sie allerdings rechtlich nicht bindenden Zusatzerklärung. Ihre Akteursqualität wurde allein von ihren Mitgliedstaaten selbst beschnitten: Aufgrund eines Vertrauensverlustes zwischen Rat und Kommission in der vorangegangenen Welthandelsrunde stellten einzelne Mitgliedstaaten Positionen der Kommission während der Verhandlung in Frage. Dies schwächte deren Autorität bei den Verhandlungen, wenngleich Lamy dies durch seine Beziehungen zu den USA wieder auffangen konnte. Die Rolle als Mediator konnte er dadurch vor den Entwicklungsländern allerdings nicht mehr glaubwürdig vertreten. Hier zeigt sich, dass die Akteursqualität von den EU-Mitgliedstaaten klar verringert werden kann. In der WHO hätten bei der ersten IGWG-Sitzung sowohl die zunächst von den EU-Mitgliedstaaten bestrittene (obgleich vertraglich zugesicherte)

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Kompetenz der Kommission als auch ihr Beobachterstatus zu einer Verringerung der Akteursqualität führen können. Doch als die USA und Austra­lien die Teilnahme der Kommission an den Verhandlungen verhindern wollten, führte dies zu einer eindeutigen Haltung unter den EU-Mitgliedstaaten: für die Rechte der EU in der WHO einzutreten und die Partizipation der Kommission mit einem Brief zu erzwingen. Als die Kompetenzfrage einvernehmlich geregelt war, konnten weder der Beobachterstatus noch die geteilte Kompetenz zwischen Rat und Kommission die Akteursqualität wesentlich einschränken, zumal mehrheitlich Einigkeit über die Verhandlungsstrategie bestand. Das Verhandlungsergebnis entsprach den Forderungen der EU nach einer reduzierten Rolle der WHO, einem abgeschwächten Text des Aktionsplanes sowie einer Vertagung der Frage der Finanzierung. Dass die Akteursqualität der EU am geringsten im UN-Menschenrechtsrat ausgeprägt war, ist allein mit der intergouvernementalen Kompetenz zu begründen, die in einer unvorteilhaften Verhandlungsstrategie mündete. Die Faktoren Einigkeit der EU-Mitgliedstaaten sowie mitgliedschaftsrechtlicher Status wirkten sich dagegen nicht negativ auf die Akteursqualität aus. In der Tat waren sich die EU-Mitgliedstaaten über die Änderungsvorschläge am Text der Resolution prinzipiell einig, nur konnte sich die irische Ratspräsidentschaft damit in der Verhandlung nicht durchsetzen. Der Wechsel in der Verhandlungsstrategie, den die EU-Mitgliedstaaten mehrheitlich unterstützten, ging auf eine weitere (falsche) Einschätzung der Verhandlungssituation durch die Ratspräsidentschaft zurück. Hätte die EU von Anfang an eine Strategie für eine Abstimmung verfolgt oder Partner für einen abgeschwächten Resolutionstext gewonnen, wäre ihr gegebenenfalls mehr Erfolg in den Verhandlungen beschieden gewesen. In jedem Fall begrenzte der Status als Beobachter nicht ihre Akteursqualität, da die EU prinzipiell über mehrere Kanäle – Ratspräsidentschaft, EU-Mitgliedstaaten sowie EU-Delegation – auf die Verhandlungen Einfluss ausüben konnte. VII. Die Zukunft europäischer Außenpolitik Wie der Vergleich der drei Fallbeispiele zeigt, führt ein verbesserter mitgliedschaftsrechtlicher Status der EU im Verhandlungsforum nicht automatisch zu einem Verhandlungserfolg, dennoch vergrößert er ihre Möglichkeiten, auf die Verhandlung Einfluss auszuüben (vgl. Fallbeispiel WTO). In den Foren, in denen die EU reiner Beobachter ist (WHO, UN-Menschenrechtsrat), hätte dieser Umstand tatsächlich zu einer Verringerung ihrer Akteursqualität führen können. Wenn sich die EU-Mitgliedstaaten in der WHO beispielsweise nicht gegen die Kritik der USA und Australiens an der Teilhabe der Kommission an den Verhandlungen gewehrt hätten, wäre der



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Beobachterstatus ein Hindernis für die Kommission geblieben. Gleiches gilt für den UN-Menschenrechtsrat: Die Partizipation der EU an den Verhandlungen war nur gesichert, weil Irland zufällig Mitglied in der laufenden Formation des Menschenrechtsrates war. In der Praxis behelfen sich die EU-Mitgliedstaaten zwar mit der Regelung, dass dasjenige europäische Land, das gerade Mitglied im UN-Menschenrechtsrat ist, die EU-Sicht kolportiert. Dessen ungeachtet ist die Beteiligung der supranationalen Ebene neben der Einigkeit unter den EU-Mitgliedstaaten kein Nachteil für die Akteursqualität insgesamt, wie insbesondere die ersten zwei Beispiele, aber auch der dritte Fall im Umkehrschluss zeigen. Für die weitere Forschung bedeutet dies: Mehr Studien zur Wechselwirkung von EU-internen mit EU-externen Faktoren bei internationalen Verhandlungen sind notwendig, um den Einfluss des europäischen Akteurs konzeptionell besser erfassen zu können. Zugleich muss das internationale Umfeld bei der Analyse stärker als bisher Berücksichtigung finden. Für die zukünftige europäische Außenpolitik lässt sich folgendes Fazit ziehen: Sowohl die Bestimmungen des Lissaboner Vertrages als auch die im dritten Fallbeispiel erwähnte Resolution Nr.  65 / 276 zur Ausweitung der Teilhaberechte der EU in den Vereinten Nationen sollten von den EU-Mitgliedstaaten vollständig implementiert werden. Dies ist gegenwärtig nur zum Teil der Fall, was vor allem am Widerstand der EU- und nicht der UN-Mitgliedstaaten liegt. Wie eine jüngere Analyse der Verhandlungsgeschichte von UN-Resolution Nr. 65 / 276 zeigt, haben die EU-Mitgliedstaaten mit der Resolution sogar existierende Rechte der EU in den UN beschnitten: So monieren Jan Wouters u. a.37 zu Recht, dass die EU selbst in Bereichen exklusiver supranationaler Kompetenz nunmehr dann noch ihre Positionen in der Generalversammlung äußern darf, wenn die EU-Mitgliedstaaten damit einverstanden sind. Dies widerspricht klar den Bestimmungen und dem Geist des Lissabonner Vertrages. Trotzdem stellen sowohl Resolution Nr.  65 / 276 wie der Lissaboner Vertrag politische Meilensteine bei der Weiterentwicklung der gemeinsamen europäischen Außenpolitik dar. Mit der Resolution wurde der Beobachterstatus der EU bei den UN weiter aufgewertet. Die neuen Vertreter der EU nach Lissabon (der Präsident des Europäischen Rates sowie der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik) können bei den üblichen ministeriellen Sitzungen zum Auftakt der Generalversammlung das Plenum gleich 37  Vgl. Jan Wouters / Jed Odermatt / Thomas Ramopoulos, The Status of the European Union at the United Nations after the General Assembly Resolution of 3 May 2011, Global Governance Opinions July 2011, S. 3. unter: https://ghum.kuleuven. be / ggs / publications / opinions / opinions10_wouters_odermatt_ramopoulos.pdf (14. Mai 2015).

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zu Beginn adressieren. Außerdem darf die EU vom Präsidenten der Generalversammlung früher als Sprecher aufgerufen werden (ansonsten dürfen Beobachter erst nach allen UN-Mitgliedstaaten sprechen) und ihre Beiträge als offizielle Tagungsunterlagen der UN zirkulieren lassen. Schließlich ist der EU das Recht auf Gegendarstellung gewährt worden. Damit hat sie ein bislang nur dem Heiligen Stuhl und Palästina zugebilligtes Recht erworben. Zwar darf die EU weiterhin nicht an Abstimmungen der Generalversammlung teilnehmen und keine eigenen Kandidaten zur Wahl aufstellen, dennoch setzt die Resolution wesentliche Neuerungen des Vertrages von Lissabon in den Vereinten Nationen um. Wie das Fallbeispiel des UN-Menschenrechtsrates indes zeigt, liegt es nun an den EU-Mitgliedstaaten, diese neu erworbenen Rechte der EU auch in anderen Organen und Organisationen der Vereinten Nationen durchzusetzen. Erst dann kann die EU als Akteur international erfolgreich agieren.

Deutsche Solidarität innerhalb der deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehung Eine Textanalyse mit Tiefgang Von Tim Griebel I. Kritischer Realismus statt radikaler Sozialkonstruktivismus1 Mittlerweile ist „die Diskursforschung in alle thematischen Bereiche der Politikwissenschaft vorgestoßen“2. Innerhalb der Internationalen Beziehungen (IB) eröffnet gerade ein radikal-sozialkonstruktivistisches Diskursverständnis durch die Hervorhebung der politischen Konstruktion sozialer Realität sowie durch die Infragestellung der Haltbarkeit wissenschaftlicher Analysen ein enormes kritisches Potenzial.3 Dennoch sollten Diskurse nicht auf Basis eines radikal-sozialkonstruktivistischen Weltbildes und einer dementsprechenden Methodik4 analysiert werden, da so soziale Realität und die Aussagen über sie tendenziell auf sprachliche Artikulationen und Ideen in Textform reduziert werden. Um dem entgegenzuwirken, finden menschliche und nicht-menschliche Materialitäten innerhalb der neueren Kultur- und Diskursforschung5 allmählich wieder mehr Beachtung. Profitieren kann 1  Ich danke Sebastian Kürschner und vor allem Stefan Evert für die Hilfe bei der Umsetzung der korpuslinguistischen Analyse sowie Doug Bond für die Bereitstellung und Diskussion der zur Phaseneinteilung notwendigen VRA-Daten. 2  Eva Herschinger / Martin Nonhoff, Diskursforschung in der Politikwissenschaft, in: Johannes Angermüller u.  a. (Hrsg.), Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Bd. I: Theorien, Methodologien und Kontroversen, Bielefeld 2014, S. 192–207, hier: S. 200. 3  Vgl. Eva Herschinger / Judith Renner (Hrsg.), Diskursforschung in den Internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2014. Der radikale Sozialkonstruktivismus zeichnet sich dadurch aus, dass er der Trennung zwischen (sprachlich) konstruierter Realität und nicht (sprachlich) kontruierter Realität keine Bedeutung beimisst. Vgl. Dave Elder-Vass, The Reality of Social Construction, Cambridge 2012, S. 5–11. 4  Vgl. Martin Nonhoff, Konstruktivistisch-pragmatische Methodik. Ein Plädoyer für die Diskursanayse, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 18 (2011) 2, S. 91–107. 5  Die „linguistische Wende,“ welche die radikal-sozialkonstruktivistische Diskursforschung antreibt, stellt den „‚Mega‘-Turn“ innerhalb der kulturwissenschaftlichen Forschung dar, an dem sich alle weiteren Turns „abarbeiten“. Doris Bachmann-

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diese Entwicklung von den Grundannahmen des Critical Realism in der Tradition Roy Bhaskars6 und den daraus ableitbaren methodologischen Überlegungen. Durch eine bislang in der deutschen Diskursforschung eher verschmähte kritisch-realistische Diskursanalyse7 wird es möglich, Sprache als den zentralen Zugangspunkt für die empirische Untersuchung beizubehalten, ohne soziale Realität auf Sprache zu reduzieren. Stattdessen wird eine Textanalyse mit Tiefgang möglich, welche nach der Bedeutung von textförmigen Artikulationen auch jenseits der sprachlichen Oberfläche fahndet. Hierbei kann eine Vielzahl unterschiedlicher Kombinationen quantitativer und qualitativer methodischer Zugänge behilflich sein. Im Folgenden wird eine solche mögliche Kombination in Form einer Verbindung von quantitativen Verfahren der Korpuslinguistik mit einer qualitativen kritisch-realistischen Diskursanalyse dargestellt, mit deren Hilfe Regularien an der sprachlichen Oberfläche mit einem „Taschenmesser“ abgetragen und gleichzeitig mit einem „Tiefbohrer“ tiefergelegene Dimensionen sozialer Realität ergründet werden können. Um zu verdeutlichen, worauf eine solche korpuslinguistische kritisch-realistische Diskursanalyse basiert und wie sie in der Praxis umsetzbar ist, wird zunächst das radikalsozialkonstruktivistische Diskursverständnis dargestellt und mithilfe des Critical Realism modifiziert. Darauf aufbauend werden entsprechende method(olog)ische Überlegungen angestellt und deren Kern anhand empirischer Beispiele veranschaulicht. Sowohl bei der (meta-)theoretischen Diskussion als auch zur empirischen Exemplifizierung dient die deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehung im Zeitraum von 2001–2003 als Veranschaulichungsgegenstand, wobei bei der empirischen Analyse der Begriff „Solidarität“ im Mittelpunkt steht.8 Entgegen eines rein textbasierten Vorgehens wird die deutsche Solidarität gegenüber dem US-amerikanischen Anderen vor dem Hintergrund der Dynamik von Liebe und Macht innerhalb einer historischen Sicherheitsstruktur rekonstruiert. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für einen Methodenpluralismus mit einer kritisch-realistischen Bauanleitung. Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2010, S. 33. 6  Vgl. Margaret Archer u. a. (Hrsg.), Critical Realism. Essential Readings, London / New York 1998. 7  Vgl. Johannes Angermüller, Heterogeneous Knowledge: Trends in German Discourse Analysis Against an International Background, in: Journal of Multicultural Discourses, 6 (2011) 2, S. 121–136, hier: S. 130. 8  Vgl. auch Tim Griebel, Love and Power in the German-American Security Relationship, unter: www.ecpr.eu / Filestore / PaperProposal / d5bb7270-2d53-4d68-a2aa6ff98a92e57a.pdf (14. Dezember 2014). Hier liegt der Schwerpunkt mehr auf der materiellen Tiefenstruktur des deutsch-amerikanischen Diskurses.



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II. Diskursanalyse – auch Referenz statt nur Selbstreferenz Eine der zentralen Annahmen des Critical Realism ist die einer direktionalen Abhängigkeit zwischen Ontologie, Epistemologie und Methodologie, weshalb sich die zu wählende Methode nach dem zu untersuchenden Gegenstand zu richten hat.9 Die Beantwortung der epistemologischen und methodologischen Fragen, welche Art von Wissen wie im Bereich des Sozia­ len gewonnen werden kann, verlangt dementsprechend zunächst nach einer Antwort auf die ontologische Frage, was das Wesen dessen ist, das erfasst werden soll. Die hier gegebene Antwort ist jedoch keineswegs rein abstrakt, sondern auch aus der Beschäftigung mit dem empirischen Material gewonnen worden. Was ist also die deutsch-amerikanische Sicherheitsbeziehung und in welchem Verhältnis steht ihre Identität zum Diskurs? In der Antwort auf diese ontologischen Fragen unterscheiden sich radikal-sozialkonstruktivistische Diskursanalysen in den IB von einer kritisch-realistischen. Ausgangspunkt radikal-sozialkonstruktivistischer Diskursanalysen ist die „Logik der Kontin­ genz“,10 die dem „Strukturbias“ entgegengesetzt wird, der die traditionellen Paradigmen des strukturellen Realismus, des konventionellen Sozialkonstruktivismus und des Liberalismus innerhalb der IB kennzeichnet.11 Der Logik der Kontingenz entsprechend haben weder die deutsche Sicherheitsidentität und die mit ihr verknüpfte Außenpolitik12 noch die deutsch-amerikanische13 bzw. westliche Sicherheitsbeziehung14 ein Fundament jenseits selbstreferentieller Diskurse, das heißt jenseits von Bedeutungssystemen, in denen die Identitäten von Subjekten und Objekten gebildet werden.15 Deut9  Vgl. Colin Hay, Political Ontology, in: Robert E. Goodin (Hrsg.), The Oxford Handbook of Political Science, New York 2009, S. 460–477. 10  Ernesto Laclau / Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy: Towards a Radical Democratic Politics, 2. Aufl., London 2001, S. 3. 11  Vgl. Gunther Hellmann, Inevitable Decline versus Predestined Stability. Disciplinary Explanations for the Evolving Transatlantic Order, in: Jeffrey J. Anderson /  G. John Ikenberry / Thomas Risse (Hrsg.), The End of the West? Crisis and Change in the Atlantic Order, Ithaca / London 2008, S. 28–52. 12  Vgl. Martin Nonhoff / Frank Stengel, Poststrukturalistische Diskurstheorie und Außenpolitikanalyse. Wie lässt sich Deutschlands wankelmütige Außenpolitik zwischen Afghanistan und Irak verstehen?, in: Eva Herschinger / Judith Renner (Hrsg.), Diskursforschung in den Internationalen Beziehungen, Baden-Baden 2014, S. 39–74. 13  Vgl. Dirk Nabers, Allianz gegen den Terror: Deutschland, Japan und die USA, Wiesbaden 2005. 14  Vgl. Gunther Hellmann u. a., The West: A Securitising Community?, in: Journal of International Relations and Development, 17 (2014) 3, S. 367–396, hier: S. 377. 15  Vgl. Jennifer Milliken, The Study of Discourse in International Relations: A Critique of Research and Methods, in: European Journal of International Relations, 5 (1999) 2, S. 225–254.

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sche Kooperation mit den USA entsteht dementsprechend da, wo gemeinsame Bedeutungen vorliegen, während Konflikt durch abweichende Bedeutungen hervorgerufen wird.16 Dabei wird Bedeutung als etwas verstanden, das aus dem selbstreferentiellen Wechselspiel von Signifikanten (Wörtern) und Signifikaten (Konzepten) hervorgeht. In dieser Bedeutungstheorie ist der Referent „tot“17; er spielt keine eigenständige Rolle bei der Bedeutungsgenerierung. Damit geht zumindest eine starke „idealistische Tendenz“18 einher, da materiellen Subjekten und Objekten nur noch der Status eines passiven Trägers von beliebigen Bedeutungen zukommt.19 Auch wenn der Diskursbegriff nicht auf Textformen reduziert wird, so wird doch die ihm zugrunde liegende Logik mit der Logik der Sprache gleichgesetzt20 und die empirische Analyse auf intersubjektive Ideen und die Beziehung zwischen Texten beschränkt.21 Hierdurch wird jedoch die aktive Rolle verschiedener Materialitäten bei der Bedeutungsgebung unterbetont.22 Aufgrund dieses Ungleichgewichts überrascht es nicht, dass in der diskurs- bzw. kulturwissenschaftlichen Forschung die Frage nach der Wirkungskraft von Diskursen jenseits der sprachlichen Form neu aufkam. Auf struktureller Ebene wurde die aktive Kraft von Materialitäten bei der Bedeutungszuschreibung wieder anerkannt gemäß dem Leitspruch: „it is not only people who attach meanings to things; things also attach meanings to people.“23 Gleichzeitig gelangte der menschliche Körper als zentrale Quelle der Wirkungskraft von Diskursen wieder in den Mittelpunkt. Ausgehend von psychoanalytischen Argumenten in der 16  Vgl,

D. Nabers (Anm. 13), S. 312. Andrew Sayer, Realism and Social Science, London / Thousand Oaks / New Delhi 2000, S. 35 f. 18  Douglas V. Porpora, Cultural Rules and Material Relations, in: Sociological Theory, 11 (1993) 2, S. 212–229, hier: S. 227. 19  Vgl. Andreas Reckwitz, The Status of the „Material“ in Theories of Culture: From „Social Structure“ to „Artefacts“, in: Journal for the Theory of Social Be­ haviour, 32 (2002) 2, S. 195–217, hier: S. 202. 20  Vgl. David Howarth, Power, Discourse, and Policy: Articulating a Hegemony Approach to Critical Policy Studies, in: Critical Policy Studies, 3 (2010) 3–4, S. 309–335, hier: S. 312; Ernesto Laclau, On Populist Reason, London / New York 2005, S. 68. 21  Vgl. Dirk Nabers, Filling the Void of Meaning: Identity Construction in U.S. Foreign Policy After September 11, 2001, in: Foreign Policy Analysis, 5 (2009) 2, S. 191–224, hier: S. 199. 22  Vgl. Lilie Chouliaraki, ‚The Contingency of Universality‘: Some Thoughts on Discourse and Realism, in: Social Semiotics, 12 (2002) 1, S. 83–114, hier: S. 109, Fn. 5. 23  Vincent Pouliot, The Materials of Practice: Nuclear Warheads, Rhetorical Commonplaces and Committee Meetings in Russian–Atlantic Relations, in: Cooperation and Conflict, 45 (2010) 3, S. 294–311, hier: S. 298. 17  Vgl.



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Tradition von Jacques Lacan avancierte das menschliche Bedürfnis nach dem Stillen des Mangels menschlicher Existenz zur Antriebs- und Haftkraft von Diskursen.24 Diese beiden Perspektiven wie auch radikal-sozialkonstruktivistische Theorieelemente im Allgemeinen lassen sich gewinnbringend mit dem Critical Realism verbinden.25 Hierdurch wird es möglich, die zentrale Rolle der Sprache im Bereich des Sozialen weiterhin anzuerkennen, gleichzeitig aber der Sprachanalyse eine Tiefendimension zu geben, die ein lediglich zweidimensionales Sprachmodell und eine Beschränkung der Analyse auf die textliche Form und intersubjektive Ideen nicht erfassen kann. Ausgangspunkt hierfür ist die Unterteilung der Realität in die Ebenen des Realen, des Aktuellen und des Empirischen und die entsprechende Feststellung, dass es jenseits empirisch beobachtbarer Phänomene und aktueller, wenn auch nicht beobachteter Ereignisse kausale Mechanismen, Potenziale und Tendenzen gibt, die unabhängig von ihrer Aktualisierung oder empirischen Beobachtbarkeit real sind. Gerade deshalb unterscheidet sich der Critical Realism vom rein textbasierten diskursanalytischen Vorgehen, das soziale Realität im Sinne eines linguistischen Realismus mit der Ebene empirisch beobachtbarer Diskurse gleichsetzt.26 Jedoch ist der Blick auf das Empirische zwar notwendig, aber keineswegs hinreichend, um Texte angemessen interpretieren zu können, denn „alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“27. Deshalb ist es teilweise notwendig, über kausale Zusammenhänge zu spekulie­ren,28 die hinter der sprachlichen Oberfläche liegen. Dabei reicht es nicht aus, unterschiedliche kausale Mechanismen einfach eklektizistisch nebeneinander zu betrachten.29 Vielmehr liegt der 24  Vgl. Ty Solomon, ‚I Wasn’t Angry, because I Couldn’t Believe It Was Happening‘: Affect and Discourse in Responses to 9 / 11, in: Review of International Studies, 38 (2012) 4, S. 907–928; Jason Glynos / David Howarth, Logics of Critical Explanation in Social and Political Theory, London / New York 2007. Yannis Stavrakakis, The Lacanian Left: Psychoanalysis, Theory, Politics, Edinburgh 2007. 25  Vgl. Hans Pühretmayer, Zur Kombinierbarkeit von Critical Realism und Poststrukturalismus: Eine Reformulierung der Struktur-Handlungs-Frage, in: Österreichi­ sche Zeitschrift für Politikwissenschaft, 39 (2010) 1, S. 9–26. 26  Vgl. Heikki Patomäki / Colin Wight, After Postpositivism? The Promises of Critical Realism, in: International Studies Quarterly, 44 (2000) 2, S. 213–237, hier: S. 223. 27  Karl Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 825. 28  Vgl. Levi Bryant / Nick Srnicek / Graham Harman (Hrsg.), The Speculative Turn. Continental Materialism and Realism, Melbourne 2011. 29  Für einen solchen Ansatz vgl. Andrew Bennett, The Mother of all Isms: Causal Mechanisms and Structured Pluralism in International Relations Theory, in: European Journal of International Relations, 19 (2013) 3, S. 459–481; Barbara Schnie-

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Schlüssel in ihrer vertikalen Anordnung.30 Um diese Tiefendimension sozialer Realität denken zu können, nutzt der Critical Realism ein Sprachmodell, das neben Signifikanten und Signifikaten auch Referenten innerhalb einer „semiotischen Triangel“31 zu berücksichtigen vermag und Sprache als einen kausalen Mechanismus32 und emergentes Phänomen innerhalb eines Gesamtzusammenhangs betrachtet. „[L]anguages are emergent products of the engagement of human practice with the material world; they cannot be reduced to any of their constituents […]; they both have a partial independence or autonomy from both human beeings […] and from the material world […]; and finally, language is itself a practice, capable of enabling people to act upon and modify the world […], as well as to act upon themselves and others.“33

Da Sprache ein emergentes Phänomen darstellt, das durch die Auseinandersetzung menschlicher Akteure mit der Welt entsteht, verlangt ein angemessenes Verständnis sprachlicher Artikulationen nach Antworten auf die Fragen, was menschliche Bedeutungsgebung auf Akteurs- wie auf Struktur­ ebene beschränkt, ermöglicht und antreibt. Entsprechend eines Emergenzmaterialismus34 verlangt die Analyse von Texten auf struktureller Ebene neben den in Texten auftretenden intersubjektiven Ideen auch die Analyse materieller und institutioneller Ressourcen im Rahmen einer historischen Sicherheitsstruktur.35 So wirken einmal innerhalb von intersubjektiven Beders, Die deutsch-amerikanischen Beziehungen nach 9 / 11 / 01. Eine konstruktivistische Synthese, Wiesbaden 2015. 30  Vgl. Roy Bhaskar, Reclaiming Reality. A Critical Introduction to Contemporary Philosophy, London / New York 1989, S. 3. 31  Roy Bhaskar, Dialectic. The Pulse of Freedom, London / New York 1993, S.  222 f. 32  Vgl. Benjamin R. Banta, Analysing Discourse as a Causal Mechanism, in: European Journal of International Relations, 19 (2012) 2, S. 379–402. 33  Bob Carter / Alison Sealey, Researching ‚Real‘ Language, in: Bob Carter / Caroline New (Hrsg.), Making Realism Work. Realist Social Theory and Empirical Research, Abingdon / New York 2004, S. 111–130, hier: S. 118; vgl. Norman Fair­ clough / Bob Jessop / Andrew Sayer, Critical Realism and Semiosis, in: Journal of Critical Realism, 5 (2002) 1, S. 2–10. Wendy Sims-Schouten / Sarah Riley, Employing a Form of Critical Realist Discourse Analysis for Identity Research. An Example from Women’s Talk of Motherhood, Childcare and Employment, in: Paul K. Edwards / Joe O’Mahoney / Steve Vincent (Hrsg.), Studying Organizations Using Critical Realism. A Practical Guide, Oxford 2014, S. 46–85. 34  Vgl. Roy Bhaskar, On the Ontological Status of Ideas, in: Journal for the Theory of Social Behaviour, 27 (1997) 2–3, S. 139–147, hier: S. 143. 35  Dieser Begriff wurde in Anlehnung an Robert Cox’ Gedanken der historischen Struktur gewählt. Vgl. Robert W. Cox, Social Forces, States and World Orders: Beyond International Relations Theory, in: Millennium – Journal of International Studies, 10 (1981) 2, S. 126–155.



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deutungssystemen geschaffene materielle und institutionelle Ressourcenverteilungen ermöglichend, beschränkend und auch motivierend auf intersubjektive Ideen zurück.36 Das materielle Sein beeinflusst dementsprechend das im Diskurs zum Ausdruck kommende Bewusstsein, ohne dieses im offenen aber keineswegs radikal-kontingenten System des Sozialen zu determinieren. Doch die Frage der Antriebs- und Haftkraft menschlicher Bedeutungsgebung ist nicht allein struktureller Natur. „It is not only that, as critical realism rightly claims, social systems are open, but that actions and practices are shaped by human incompleteness, lack, pre-maturity, which drive actions toward completion and maturity.“37 Hierdurch ist der Anschluss an die bereits erwähnte von der Psychoanalyse beeinflusste diskursanalytische Forschung hergestellt. Statt nun jedoch auf den Ansichten Lacans zur menschlichen Natur aufzubauen, werden hier Elemente der humanistischen Psychoanalyse Erich Fromms aufgegriffen, da diese dem Critical Realism näher steht.38 Nach Fromm können menschliche Akteure entweder im Sinne der Liebe oder der Zerstörung auf den Mangel menschlicher Existenz reagieren. Liebe stellt hierbei die primäre Potenzialität und die Zerstörung lediglich die sekundäre Potentialität menschlichen Seins dar, wobei letztere erst durch eine Blockierung ersterer entsteht.39 Hierin gleichen Fromms Ansichten denen Hans Morgenthaus zur Dynamik von Liebe und auf Herrschaft zielender Macht. „THE LUST for power is, as it were, the twin of despairing love. Power becomes a substitute for love. What man cannot achieve for any length of time through love he tries to achieve through power.“40 Da soziale Strukturen aus materiellen und institutionellen Ressourcen und aus intersubjektiven Ideen bestehen, wird einerseits klar, dass Ressourcen nicht nur wesentliche Grundbausteine für Machtbeziehungen,41 sondern 36  Vgl.

D. V. Porpora (Anm. 18), S. 213. Sayer, Understanding Why Anything Matters. Needy Beeings, Flourishing and Suffering, in: Jon Frauley / Frank Pearce (Hrsg.), Critical Realism and the Social Sciences. Heterodox Elaborations, Toronto / Buffalo / London 2007, S. 240– 257, hier: S. 249. 38  Vgl. Kieran Durkin, The Radical Humanism of Erich Fromm, New York 2014, S.  152 f. 39  Vgl. Erich Fromm, Den Menschen verstehen. Psychoanalyse und Ethik, 9. Aufl., München 2011, S. 169. Auch in Bhaskars Denken ist das Konzept der Liebe in späteren Jahren in den Blickpunkt gerückt. Vgl. Roy Bhaskar, From ­Science to Emancipation. Alienation and the Actuality of Enlightenment, New Delhi /  Thousand Oaks / London 2002, S. 339–363. 40  Hans J. Morgenthau, Love and Power, in: Commentary, 33 (1962) 3, S. 247– 251, hier: S. 248, Herv. i. O. 41  Enrico Fels, Power Shift? Power in International Relations and the Allegiance of Middle Powers, in: Enrico Fels / Jan-Frederik Kremer / Katharina Kronenberg 37  Andrew

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auch Grundlage für die Emergenz von Ideen sind: „they [people] think from the resources in their possession“42. Gleichwohl kann Macht nicht rein ressourcenbasiert, sondern nur relational verstanden werden. Welche Qualität ressourcenfundierten Machtbeziehungen zukommt, hängt entscheidend von der Qualität der Liebe in einer Beziehung ab.43 Die psychische Energie und Emotionalität44 der Liebe verleiht Diskursen genauso wie materiell-intentionelle Ressourcen Wirkungskraft jenseits der sprachlichen Form. Materielle Macht kann Menschen im Sinne einer gemeinsamen Ermächtigung zusammenhalten oder sie durch auf Herrschaft zielende Gegenmacht voneinander abstoßen. Wie Bhaskar versteht Fromm Liebe als uneingeschränkte Liebe,45 als „die Vereinigung mit einem anderen Menschen oder Ding außerhalb seiner selbst, unter der Bedingung, dass die Gesondertheit und Integrität des eigenen Selbst dabei bewahrt bleibt.“46 Hierbei begreifen sowohl Fromm als auch Bhaskar die uneingeschränkte Nächstenliebe der Agape als die fundamentalste Form der Liebe, die sich von der romantischen oder erotischen Liebe des Eros sowie die freundschaftlichen Liebe der Philia, die beide von den Qualitäten des Liebesobjektes abhängen und somit präferentielle Formen der Liebe sind, abgrenzen lässt. Der Gedanke der Freundschaft ist innerhalb der IB47 nun empirisch deutlicher zu beobachten als die uneingeschränkte Liebe, die eher im Bereich des Utopischen,48 wenn auch potenzi(Hrsg.), Power in the 21st Century. International Security and International Political Economy in a Changing World, Berlin / Heidelberg 2012, S. 3–28, hier: S. 10. 42  Vincent Pouliot, International Security in Practice. The Politics of NATORussia Diplomacy, Cambridge / New York 2010, S. 35, Herv. i. O. 43  Paul Tillich, Liebe, Macht, Gerechtigkeit, Tübingen 1955, S. 8. 44  Es ist durchaus strittig, ob Liebe eine Emotion ist. Vgl. Diane H. Felmlee / Susan Sprecher, Love, in: Jan E. Stets / Jonathan H. Turner (Hrsg.), Handbook of the Sociology of Emotions, New York 2006, S. 389–409. Zwar ist Liebe eine „Kunst“, die durch rationale Überlegungen kultiviert werden kann. Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, 14. Aufl., München 2014. „Aber es gibt keine Liebe ohne das emo­ tionale Element, und eine Analyse der Liebe ohne das emotionale Element ist eine armselige Analyse.“ P. Tillich (Anm. 43), S. 27. 45  Vgl. R. Bhaskar (Anm. 39). 46  Erich Fromm, Wege aus einer kranken Gesellschaft. Eine sozialpsychologische Untersuchung, 8. Aufl., München 2014, S. 34, Herv. i. O. 47  Simon Koschut / Andrea Oelsner (Hrsg.), Friendship and International Relations, New York 2014. 48  Neera Kapur Badhwar, Friends as Ends in Themselves, in: Philosophy and Phenomenological Research, 48 (1987) 1, S. 1–23, hier: S. 16. Die Freundschaftsliteratur in den IB kann vom Critical Realism durch einen utopischen Horizont und durch die Verbindung zwischen Materiellem und Intersubjektivem profitieren, während die explizite Beachtung des empirisch manifesten Liebeskonzepts im Sinne der Freundschaft für den Critical Realism gewinnbringend ist.



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ell Realen zu verorten ist. Trotz der bestehenden Unterschiede weisen sowohl freundschaftliche präferentielle Liebe49 als auch uneingeschränkte Nächstenliebe50 auf eine produktive Orientierung hin.51 Für die deutsche Außenpolitik innerhalb der deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehung ist es elementar, welche Art von Liebe in Diskursen empirisch realisiert wird. Wenn Liebe innerhalb des Diskurses auf den Qualitäten des Anderen aufbaut und dementsprechend auf gemeinsamen Ideen über die internationale Ordnung angewiesen ist und aus unterschiedlichen materiellen Ressourcenausstattungen unterschiedliche Ideen emergieren, dann besteht bei Vorhandensein unterschiedlicher materieller Seinsformen tenden­ ziell die Gefahr frustrierter Liebe und eines daraus resultierenden Strebens nach Herrschaft statt einer auf eine gemeinsame Ermächtigung zielenden Politik. Dieser konfliktiven Tendenz kann aus Sicht des Critical Realism zwar durch die Reflexion menschlicher Akteure entgegengewirkt und somit dennoch Kooperation erreicht werden, ignorieren kann man sie aber nicht. III. Die korpuslinguistische kritisch-realistische Diskursanalyse Wie lässt sich diese Spekulation über die beschriebenen Zusammenhänge mithilfe einer Analyse von Sprache erhärten? Prinzipiell möglich ist das aufgrund der epistemologischen Annahmen, dass Wissen zwar sozial konstruiert ist (epistemologischer Relativismus), aber aufgrund der Existenz einer beobachterunabhängigen sozialen Realität (ontologischer Realismus) Wissensaussagen nicht beliebig sind und dementsprechend ihr Wahrheitsgehalt beurteilt werden kann (beurteilender Rationalismus).52 Damit einher geht ein Methodenpluralismus, der prinzipiell jede Methode zulässt, solange die durch diese erhobenen Daten im Sinne des Critical Realism als die Erklärung unterstützende und nicht als selbst zur Erklärung hinreichende Verfahren interpretiert werden.53 So ist es auch möglich, quantifizierende 49  Felix Berenskoetter, Friends, There Are No Friends? An Intimate Reframing of the International, in: Millenium – Journal of International Studies, 35 (2007) 3, S. 646–676, hier: S. 670. 50  E. Fromm (Anm. 39), S. 83. 51  Natürlich zeigt sich auch beim sexuellen Eros eine produktive Dimension, die hier aber nicht Gegenstand der Analyse sein soll. Für sexuelle Logiken innerhalb von Sicherheitsbeziehungen vgl. Cynthia H. Enloe, Bananas, Beaches and Bases. Making Feminist Sense of International Politics, Berkeley 2000, Kapitel 4. 52  Vgl. Colin Wight, Agents, Structures, and International Relations, Cambridge 2006, S. 26. 53  Douglas Porpora, Do Realists Run Regressions?, in: José López / Garry Potter (Hrsg.), After Postmodernism. An Introduction to Critical Realism, London / New York 2001, S. 260–266, hier: S. 262.

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Verfahren zu verwenden, ganz gleich, ob sie nun deskriptiver oder analytischer Natur sind. Weil Sprache ein emergentes Phänomen ist, liegt der Einsatz eines sprachlichen Analyseverfahrens nahe, das sowohl die sprachliche Oberfläche sozialer Realität als auch deren tiefer gelegenen Schichten zu analysieren vermag. Dies kann mithilfe einer korpuslinguistischen kritisch-realistischen Diskursanalyse erreicht werden. Ihr korpuslinguistischer Teil vermag mithilfe der Analysesoftware CQPweb54 Regularien wie ein „Taschenmesser“55 an der „sprachlichen Oberfläche“56 in Form von Schlüsselwörtern, d. h. Wörtern, die spezifisch für Korpora im Vergleich zu anderen Korpora sind,57 und Kollokationen, d. h. Wörtern, die häufig gemeinsam zusammen auftre­ten,58 abzutragen. Der quantitative Teil der Untersuchung dient außerdem dem Zweck, dem Researcher-Bias entgegenzuwirken, auch wenn hierbei wesentliche qualitative Vorannahmen getroffen wurden, die zeigen, dass Wissen keineswegs rein objektiv gewonnen wird, sondern auch sozial konstruiert ist. „So we need to be aware that our research is constructed, but we shouldn’t deconstruct it out of existence.“59 Gegenüber dem auf die Ebene sprachlicher Regularien fokussierten Teil, versucht der kritisch-realistische Part, alle Texte un54  Andrew Hardie, CQPweb. Combining Power, Flexibility and Usability in a Corpus Analysis Tool, in: International Journal of Corpus Linguistics, 17 (2012) 3, S. 380–409. Die Schlüsselwörter wurden auf Basis des Log-Likelihood-Verfahrens ermittelt, wobei ein Schwellenwert von 10,83 und eine Mindestfrequenz von Node und Kollokator von 2 festgelegt wurde. Bei der Kollokationsanalyse diente neben diesen Grenzwerten ein Mutual-Information-Wert von 3 und eine Wortspanne von + / -5 als Selektionskriterium. 55  Mike Scott, Comparing Corpora and Identifying Key Words, Collocations, Frequency Distributions through the WordSmith Tools Suite of Computer Programs, in: Mohsen Ghadessy / Alex Henry / Robert L. Roseberry (Hrsg.), Small Corpus Studies and ELT. Theory and Practice, Amsterdam / Philadelphia 2001, S. 47–67, hier: S.  47 f. 56  Noah Bubenhofer, Diskurse berechnen? Wege zu einer korpuslinguistischen Diskursanalyse, in: Jürgen Spitzmüller / Ingo Warnke (Hrsg.), Methoden der Diskurslinguistik. Sprachwissenschaftliche Zugänge zur transtextuellen Ebene, Berlin / New York 2008, S. 407–434, hier: S. 408. 57  Vgl. Michael Stubbs, Three Concepts of Keywords, in: Marina Bondi / Mike Scott (Hrsg.), Keyness in Texts, Amsterdam / Philadelphia 2010, S. 21–42. 58  Vgl. Stefan Evert, Corpora and Collocations, in: Anke Lüdeling / Merja Kytö (Hrsg.), Corpus Linguistics. An International Handbook, Bd. 2, Berlin / New York 2009, S. 1212–1248; Kristin Kuck / Ronny Scholz, Quantitative und qualitative Methoden der Diskursanalyse als Ansatz einer rekonstruktiven Weltpolitikforschung. Zur Analyse eines internationalen Krisendiskurses in der deutschen Presse, in: Ulrich Franke / Ulrich Roos (Hrsg.), Rekonstruktive Methoden der Weltpolitikforschung. Anwendungsbeispiele und Entwicklungstendenzen, Baden-Baden 2013, S. 219–270. 59  Paul Baker, Using Corpora in Discourse Analysis, London / New York 2006, S. 11, Herv. i. O.



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ter besonderer Berücksichtigung der quantitativen Ergebnisse qualitativ zu analysieren und dabei die Dynamik von Liebe und Macht in der historischen Sicherheitsstruktur im Sinne eines Tiefbohrers freizulegen.60 Die qualitative Feinanalyse ermöglicht es auch, wenig frequentierte oder indirekte Bedeutungen zu erkennen. Damit weicht die hier eingesetzte Methode von der üblichen „Balance“ zwischen quantitativer und qualitativer Sprachanalyse ab, die darin besteht, vor allem die Ergebnisse der quantitativen Analyse qualitativ weiter zu analysieren.61 Der Kern dieses methodischen Vorgehens soll im Folgenden anhand des deutschen Diskurses unter besonderer Betrachtung des Begriffes der „Solidarität“ exemplifiziert werden. Die Grundlage der Analyse bildet ein Korpus für den deutschen Regierungsdiskurs im Zeitraum vom 11. September 2001 bis zum 20. März 2003, das sowohl groß genug ist, um korpuslinguistische Verfahren anzuwenden als auch klein genug ist, um alle Texte einer qualitativen Feinanalyse zu unterziehen. Das Korpus besteht aus allen im Bulletin der Bundesregierung62 veröffentlichten Reden des Bundeskanzlers sowie der Außen- und Verteidigungsminister, welche die Wortstämme terror*, afghan* oder irak* enthielten. Der Fokus auf diese drei Sprecher ergibt sich durch ihre besondere Position innerhalb des deutschen Sicherheitsdiskurses, aufgrund derer die analysierten Aussagen Rückschlüsse auf intersubjektive Ideen der deutschen Gesellschaft im Sicherheitsbereich ermöglichen.63 Da die Analyse von Schlüsselwörtern eine Definition von Subkorpora voraussetzt, die miteinander verglichen werden, ist das so gewonnene und aus 88 Texte bzw. 225.411 Wörtern bestehende Gesamtkorpus weiter in zwei Phasen unterteilt. Dies erfolgte auf Basis einer deskriptiven Statistik in Form einer quantitativen Inhaltsanalyse von Aussagen deutscher und US-amerikanischer staatlicher und nicht-staatlicher Akteure mit der jeweils anderen Gesellschaft als 60  Hierzu wurde auch die qualitative Analysesoftware MAXQDA verwendet. Vgl. MAXQDA, Software für qualitative Datenanalyse, 1989–2014, VERBI Software. Consult. Sozialforschung GmbH, Berlin, Deutschland. MAXQDA erlaubt nicht nur eine effiziente Verwaltung der zu analysierenden Texte, sondern bietet auch die Möglichkeit, die in den Texten auftretenden Momente von Liebe und Macht sowie die materiellen, institutionellen und ideellen Dimensionen der historischen Sicherheitsstruktur durch die Zuweisung von „Codes“ zu markieren und zu sortieren. 61  Gerline Mautner, Checks and Balances. How Corpus Linguistics Can Contribute to CDA, in: Ruth Wodak / Michael Meyer (Hrsg.), Methods of Critical Discourse Analysis, 2. Aufl., London u. a. 2009, S. 122–143. 62  Presse- und Informationsdienst der Bundesregierung: Bulletin 2009. Bulletin 1996–2008. CD-ROM Version. Berlin 2010. 63  Vgl. Ulrich Roos, Deutsche Außenpolitik. Eine Rekonstruktion der grundlegenden Handlungsregeln, Wiesbaden 2010, S. 64. Wenn im Folgenden von „Deutschland“ die Rede ist, dann nur im Sinne einer stilistischen Vereinfachung und nicht, weil die Prämisse eines einheitlichen staatlichen Akteurs vertreten würde.

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Summe der positiven und negativen Goldstein-Werte

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Nov Dez Jan 02 Feb 01 01 02

Mrz 02

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Nov Dez Jan 03 Feb 02 02 03

Mrz 03

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Monat

Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung basierend auf VRA.

Abbildung 1: Deutsche und US-amerikanische Aussagen gegenüber dem Anderen

Adressaten, die im ersten Satz oder dem Lead von Meldungen von Reuters Business Briefing dokumentiert sind.64 Ereignisse wie die Ausweitung militärischer Hilfen erhielten positive sogenannte Goldstein-Werte, während Ereignisse wie militärische Auseinandersetzungen negativ bewertet wurden.65 Diese Werte wurden für die deutsch-amerikanische Beziehung für jeden Monat summiert und mit Juli 2002 wurde der negativste Wert im Untersuchungszeitraum als Beginn der zweiten Phase definiert, da gerade ein deutlicher Kontrast zwischen zwei Beziehungsstadien bei der Suche nach kausalen Mechanismen hilft (Abbildung 1).66 Komplementär hierzu lassen sich für die deutsch-amerikanische Sicherheitsbeziehung in den beiden Phasen zwei unterschiedliche Beziehungssta64  Die Daten stammen von Virtual Research Associates (VRA), Events Data 1990–2006, unter: www.vranet.com (25. Mai 2010). 65  Vgl. Gary King / Will Lowe, An Automated Information Extraction Tool for International Conflict Data with Performance as Good as Human Coders: A Rare Events Evaluation Design, in: International Organization, 57 (2003), S. 617–642. 66  Vgl. Tony Lawson, Economic Science without Experimentation, in: M. Archer u. a. (Anm. 6), S. 144–169, hier: S. 153. Das Subkorpus für die erste Phase umfasst 55 Texte bzw. 141.371 Wörter, das für die zweite Phase 33 Texte bzw. 84.040 Wörter.



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Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 2: Schlüsselwörter in der 1. Phase des deutschen Diskurses67

dien ausmachen. So offenbart ein Blick auf die Ebene sprachlicher Regularien in Form von Schlüsselwörtern ein überwiegendes Streben nach produktiver Liebe und einer gemeinsamen Ermächtigung mit dem US-amerikanischen Anderen in der ersten Phase. Das zeigt sich vor allem durch den in Abbildung 2 eingekreisten Begriff „Solidarität“, denn dieser verweist auf die Orientierung an kollektiven Anliegen und Handlungen68 und somit auf eine liebevolle Orientierung. „Solidarity relations […] are the political form or social form of love relations.“69 Seine Wirkungskraft erhält das Wort nicht nur durch seine abstrakte Form, die mehreren Bedeutungsgebungen offen steht,70 sondern auch durch die in ihm zum Ausdruck kommende Emotionalität71 aufgrund des Strebens nach Liebe. Die Verbindung zwischen 67  Die Grafiken wurden mithilfe von Wordl.net erstellt. Die Größe der Schlüsselwörter spiegelt die Wurzel des Loglikelihood-Werts wider, während die Wurzel des Mutual-Information-Werts ausschlaggebend für die Größe der als Kollokatoren ermittelten Begriffe ist. Die Wurzel wurde gezogen, um der mit der Visualisierung einhergehenden Verzerrung entgegenzuwirken. 68  Vgl. Iseult Honohan, Metaphors of Solidarity, in: Terrell Carver / Jernej Pikalo (Hrsg.), Political Language and Metaphor: Interpreting and Changing the World, New York 2008, S. 69–82, hier: S. 69. 69  Kathleen Lynch, Why Love, Care and Solidarity Are Political Matters. Affective Equality and Fraser’s Model of Social Justice, in: Anna G. Jóhannesdóttir / Ann Ferguson (Hrsg.), Love. A Question for Feminism in the Twenty-First Century, New York / Abingdon 2014, S. 173–189, hier S. 186, Fn.  2. 70  D. Nabers (Anm. 14), S. 105. 71  Simon Koschut, Emotional (Security) Communities: The Significance of Emotion Norms in Inter-Allied Conflict Management, in: Review of International Studies, 40 (2014) 3, S. 533–558, hier: S. 542.

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Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 3: Kollokatoren für die Wortstämme Vereinigten Staaten (von Amerika)|USA|amerik* in der 1. Phase

deutschem Selbst und US-amerikanischem Anderen wurde durch den Verweis auf gemeinsame „Werte“ hergestellt, wobei eine Feinanalyse für die dabei angesprochenen Werte zeigt, dass „Solidarität“ selbst als ein solcher gemeinsamer Wert genannt wurde: „Darum betone ich noch einmal, dass wir im Kampf gegen den Terrorismus die Werte von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit um keinen Millimeter preisgeben dürfen.“72 Ein weiterer Beleg für die Wichtigkeit des Strebens nach Liebe in Form der Solidarität in der ersten Phase liefert eine Analyse der Kollokatoren für die Wörter zur Beschreibung des US-amerikanischen Anderen. Auch hier tritt, wie Abbildung 3 verdeutlicht, Solidarität ebenso wie die Begriffe „Verbündete“ und „Freunde“ als statistisch signifikantes Ergebnis auf. Interessant ist jedoch nicht nur die Feststellung einer freundschaftlichen Beziehung, sondern die genauere Untersuchung ihres Wesens. Wie das Schlüsselwort „Werte“ bereits angedeutet hat, verweisen auch die Kollokatoren „konstituieren“ und „Unabhängigkeitserklärung“ darauf, dass Freundschaft auf Gemeinsamkeiten mit dem Anderen und dessen Qualitäten aufbaute. So teilten das deutsche Grundgesetz und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung die gleiche Wertebasis und deshalb seien „die Angriffe auf die Vereinigten Staaten von Amerika, nicht nur Angriffe auf die Werte […], nach denen sich die Amerikaner politisch konstituieren, sondern auch Angriffe auf jene Werte, die für uns politisch konstitutiv sind.“73 72  Gerhard Schröder, Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zum informellen Treffen des Europäischen Rates am 19. Oktober 2001 in Gent vor dem Deutschen Bundestag am 18. Oktober 2001 in Berlin.



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Diese Konstruktion einer gemeinsamen Sicherheitsidentität auf Basis einer präferentiellen Freundschaft wirkte Krisentendenzen innerhalb der Beziehung jedoch nur partiell entgegen. Eine qualitative Feinanalyse zeigt, dass entgegen des Versuchs der Konstruktion gemeinsamer Werte im deutschen Diskurs eine im Vergleich zum US-amerikanischen Anderen unterschiedliche Vorstellung zur Gestalt und zur Gewährleistung internationaler Ordnung vorherrschte. Während im deutschen Diskurs ein multilateraler Ansatz verfolgt wurde, der militärische Gewalt allenfalls als ultima ratio in Betracht zog, war der US-amerikanische Ordnungsansatz hauptsächlich von militärischen Maßnahmen und unilateralen Tendenzen gekennzeichnet.74 Durch die US-amerikanische Devise „Either you are with us, or you are with the terrorists“,75 ließen sich Meinungsunterschiede nur bedingt überbrücken und kaum produktive Liebe verwirklichen, die im deutschen Diskurs aber in Form von Konsultation und Information angestrebt wurde. 73

„Dankbarkeit ist eine wichtige und auch gewichtige Kategorie. Doch sie würde zur Legitimation existenzieller Entscheidungen, vor denen wir unter Umständen stehen, nicht reichen. […] Mit der Bündnispflicht, die wir übernommen haben, korrespondiert ein Recht und dieses Recht heißt Information und Konsultation. […] Die Form der Solidarität, von der ich gesprochen habe, ist die Lehre, die wir aus unserer Geschichte gezogen haben, eine Lehre, die für die zivilisierte Welt bitter genug war. Allerdings: Eine Fixierung auf ausschließlich militärische Maßnahmen wäre fatal.“76

Die in dieser Solidaritätsbekundung zum Ausdruck kommenden Ideen der Westbindung, des Strebens nach einer gemeinsamen Ermächtigung und der Skepsis gegenüber militärischen Maßnahmen sind jedoch nicht allein durch die sprachliche Form oder das Streben nach Liebe zu verstehen. Vielmehr emergierte die Bedeutung der deutschen Solidarität aus dem Verhältnis der materiell-institutionellen Machtpotenziale innerhalb der Beziehung. Nach 1989 / 90 verblieben die USA nicht nur als alleinige Supermacht im militä73  Gerhard Schröder, Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Bekämpfung des internationalen Terrorismus vor dem Deutschen Bundestag am 8. November 2001 in Berlin. 74  Vgl. Corneliu Bjola / Markus Kornprobst, Security Communities and the Habitus of Restraint: Germany and the United States on Iraq, in: Review of International Studies, 33 (2007) 2, S. 285–305. 75  George W. Bush, Address Before a Joint Session of the Congress on the ­United States Response to the Terrorist Attacks of September 11 September 2001, 20. September 2001, in: Weekly Compilation of Presidential Documents 37 (38), S. 1347– 1351, hier S. 1349. 76  Gerhard Schröder, Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zu den Terroranschlägen in den USA und den Beschlüssen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen sowie der NATO vor dem Deutschen Bundestag am 19. September 2001 in Berlin.

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rischen Bereich77 und waren somit weniger auf die deutsch-amerikanische Sicherheitsbeziehung angewiesen. Gleichzeitig wurde Deutschland selbst als Mittelmacht mit beschränkten Ressourcen78 vom US-amerikanischen Anderen durch den Wegfall der Notwendigkeit der US-amerikanischen Sicherheitsgarantien unabhängiger. Im deutschen Diskurs kam zwar weiterhin Dankbarkeit für die über Jahrzehnte lang empfangenen Sicherheitsleistungen, aber eben auch ein gestiegenes Selbstbewusstsein zum Ausdruck,79 das mit dem erhöhten materiellen Engagement bei internationalen Einsätzen und dem entsprechenden Wandel von einem Importeur zu einem Exporteur von Sicherheit einherging.80 Dieses gestiegene Selbstbewusstsein stieß aber aufgrund der materiellen Übermacht der USA an Grenzen. So konnte Deutschland gar nicht auf unilaterale und ausschließlich militärische Maßnahmen fixiert sein und war deshalb auf Information und Konsultation mit dem US-amerikanischen Anderen angewiesen, da es von den Ressourcen der NATO und somit de facto von denen der USA abhängig war.81 Deshalb überrascht es auch nicht, dass die Umsetzung der deutschen Solidarität innerhalb der NATO angestrebt und Solidarität in diesem Kontext genannt wurde. „Der NATO-Rat hat den Vereinigten Staaten seine volle Solidarität auf der Grundlage von Artikel 5 des NATO-Vertrages erklärt.“82 Trotz der unterschiedlichen Ideen über die internationale Ordnung und der Tatsache, dass der militärische Einsatz in Afghanistan nicht innerhalb des institutionellen Rahmens der NATO organisiert wurde, beteiligte sich Deutschland im Sinne eines Freundschaftsdienstes militärisch in Afghanistan.83 Dass das deutsche Streben nach produktiver Liebe jedoch bereits in der ersten Phase partiell durch die Haltung der US-Administration in enttäuschte Liebe umschlug, zeigt sich an einer Textstelle, welche die Vorteile 77  Vgl. William C. Wohlforth, The Stability of a Unipolar World, in: International Security, 24 (1999) 1, S. 5–41. 78  Vgl. Max Otte / Jürgen Greve, A Rising Middle Power? German Foreign Policy in Transformation, 1989–1999, New York 2000, S. 7. 79  Vgl. Gunther Hellmann u. a., „Selbstbewusst“ und „stolz“. Das außenpolitische Vokabular der Berliner Republik als Fährte einer Neuorientierung, in: Politische Vierteljahresschrift, 48 (2007) 3, S. 650–679. 80  Vgl. Hubert Zimmermann, Von der Lastenteilung zum Sicherheitsexport: Eine funktionale Erklärung der Sicherheits- und Bündnispolitik Deutschlands und Japans, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 16 (2006) 4, S. 1325–1348. 81  Vgl. Sorin Lungu, Military Modernization and Political Choice: Germany and the US-Promoted Military Technological Revolution during the 1990s, in: Defense and Security Analysis, 20 (2004) 3, S. 261–272, hier: S. 268. 82  G. Schröder (Anm. 76). 83  Vgl. Felix Berenskötter, Gefährliche Freundschaft: Der deutsche Einsatz in Afghanistan im transatlantischen Verhältnis, in: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 4 (2011) 1, S. 271–298, hier: S. 283–284.



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Quelle: Eigene Berechnung und Darstellung.

Abbildung 4: Kollokatoren für die Wortstämme Vereinigten Staaten (von Amerika)|USA|amerik* in der 2. Phase

einer qualitativen Feinanalyse offenbart. So sprach Bundeskanzler Gerhard Schröder als die ersten Anzeichen der Meinungsunterschiede zwischen der deutschen und der US-amerikanischen Politik gegenüber dem Irak sichtbar wurden, ohne den US-amerikanischen Anderen zu nennen, davon, „dass entgegen dem Trend zum Unilateralismus, den es immer wieder und immer noch gibt – ich will gar nicht die Orte nennen, an denen er besonders virulent ist –, deutsche Politik darauf bestehen wird und muss, dass im Mittelpunkt internationaler Krisenlösung die Vereinten Nationen stehen.“84 Die in der ersten Phase bereits auftretenden Zeichen enttäuschter Liebe sind in der zweiten Phase, in der die Streitigkeiten um einen Militäreinsatz im Irak ihren Höhepunkt erreichten, deutlicher zu erkennen. Mehr noch: hier wandelte sich die Enttäuschung des Strebens nach produktiver Liebe in Machtbestrebungen gegen den US-amerikanischen Anderen. Dies geschah jedoch in einer sanften Form, welche die Freundschaft zwar nicht aufkündigte, aber dennoch auf ihre Beschädigung hindeutet. Das zeigt sich wiederum auf der Ebene sprachlicher Regularien, wenn auch nur relativ schwach. Da Schlüsselwörter die statistische Signifikanz eines Wortes innerhalb eines Subkorpus im Vergleich zu einem anderen widergeben, bedeutet die Tatsache, dass „Solidarität“ ein Schlüsselwort für die erste Phase ist, auch, dass es keines für die zweite Phase ist. Auch eine Kollokationsanalyse bringt den Begriff Solidarität, wie Abbildung 4 verdeutlicht, nicht mehr als statistisch signifikanten Kollokator für die Beschreibungen des US-amerikanischen Anderen hervor, der aber immer noch als „Partner“ und als „Freund[]“ wahrgenommen wurde, mit dem Deutschland etwas „verbindet“ und auf einer „Seite“ stehe. Da auf der Ebene sprachlicher Regularien die Beziehung relativ unbeschädigt erscheint, können die Spannungen innerhalb der Beziehung eher 84  Gerhard Schröder, Rede von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem Zukunftskongress der IG Metall am 15. Juni 2002 in Leipzig.

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durch eine qualitative Analyse zutage gefördert werden. Auch eine solche Betrachtungsweise für das Wort Solidarität bringt ein selbstbewusstes Verständnis wie in der ersten Phase hervor. „Solidarität, wie wir sie geleistet haben und nach wie vor leisten, schafft aber auch das Recht, ja die Pflicht, zu differenzieren.“85 Nur beschränkte sich die deutsche Außenpolitik in der zweiten Phase nicht lediglich auf das freundschaftlich aber selbstbewusst artikulierte Recht, zu differenzieren. Stattdessen wurde auf das Ziel hingearbeitet, selbst produktiv bei der Gestaltung internationaler Ordnung tätig sein zu können. „Und uns eint eine Freundschaft, die auf gegenseitigem Respekt und der Verfolgung gemeinsamer Ziele beruht und in der wir deshalb zu unterschiedlichen Meinungen kommen und dies ertragen können. Wir streiten heute nicht um Details der Sicherheitspolitik, nicht um vordergründigen strategischen oder ökonomischen Nutzen. Wir streiten übrigens auch nicht über Sein oder Nichtsein der NATO. Es geht uns darum, ob Willensbildung multilateral bleibt. Bei dieser Frage geht es auch um die gegenwärtige, vor allem aber um die künftige Rolle Europas, und zwar des ganzen Europas. Dass dieser Kontinent, dieses unser Europa, ohne engste Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Deutschland seine Rolle nicht spielen kann, war immer eine gemeinsame Erkenntnis in diesem Hause.“86

Dass zu diesem Zweck zusammen mit Frankreich in den Vereinten Na­ tionen eine Gegenmacht zu den USA gebildet wurde, lässt sich durch das gestiegene deutsche Selbstbewusstsein in Verbindung mit der Enttäuschung des Strebens nach Liebe durch den US-amerikanischen Anderen verstehen. Dass diese Gegenmacht eine sanfte Form annahm, wird sowohl vor dem Hintergrund des Ziels, die Freundschaft zu erhalten, als auch des beschränkten materiell-institutionellen Potenzials Deutschlands verständlich. Auf die US-amerikanische „Arroganz der Macht“ antwortete Deutschland aus enttäuschter Liebe mit der „Arroganz der Ohnmacht“,87 die den Krieg im Irak nicht verhindern konnte. In einer Beziehung, die im Sinne der präferentiellen Liebe der Freundschaft auf gemeinsamen Ideen beruht, konnten Meinungsunterschiede höchstens ertragen werden oder führten, wie hier vor dem Hintergrund der materiell-institutionellen Potenziale, zu einer sanften Form der Gegenmacht.

85  Gerhard Schröder, Regierungserklärung von Bundeskanzler Gerhard Schröder zur aktuellen internationalen Lage vor dem Deutschen Bundestag am 13. Februar 2003 in Berlin. 86  Ebd. 87  Gert Krell, Arroganz der Macht, Arroganz der Ohnmacht. Die Weltordnungspolitik der USA und die transatlantischen Beziehungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B31–32 (2003), S. 23–30.



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IV. Methodenpluralismus mit kritisch-realistischer Bauanleitung Sprache als emergentes Phänomen stellt einen privilegierten Zugang zur sozialen Realität dar. Doch bedarf es einer Textanalyse, die über die sprachliche Form hinausgehend, die aktive Rolle menschlicher und nicht-menschlicher Materialitäten berücksichtigt. So ist der Begriff der Solidarität im untersuchten deutschen Regierungsdiskurs über die deutsch-amerikanische Sicherheitsbeziehung in den Jahren 2001 bis 2003 nicht unabhängig von der Dynamik von Liebe und Macht innerhalb einer historischen Sicherheitsstruktur zu verstehen. Auch wenn die hier zur Aufdeckung dieser Dynamik vorgestellte korpuslinguistische kritisch-realistische Diskursanalyse nur einen kleinen Ausschnitt der sprachlichen Oberfläche sowie der Tiefendimension sozialer Realität erfasst, ist der Lohn der hier dargestellten Methode ein potenziell realistischeres Verständnis der in Texten auftretenden Bedeutungen. Zwar ist es aufgrund der weitreichenden Vorannahmen zur Gestaltung der empirischen Analyse und Fehler bei der Interpretation der Realität keineswegs garantiert, wenn nicht sogar unmöglich, dass dieses Potenzial auch ausgeschöpft werden kann, dennoch sollte dieses Ziel zumindest handlungsleitend für die Analyse sein: „[G]etting things right is a practical, a political, and an ethical imperative, and although achieving it may be impossible, or knowing when we have achieved it extremely difficult, we cannot give up on the aspiration.“88 Um Sprache als emergentes Phänomen zu erfassen, können im Sinne eines Methodenpluralismus selbstverständlich auch andere Werkzeuge als das hier eingesetzte „Taschenmesser“ und der hier verwendete „Tiefbohrer“ benutzt werden. Zentral ist nicht das konkrete Werkzeug, sondern die kritisch-realistische Bauanleitung.

88  Vgl. Colin Wight, A Manifesto for Scientific Realism in IR: Assuming the Can-Opener Won’t Work!, in: Millenium – Journal of International Studies, 35 (2007) 2, S. 379–398, hier S. 380.

Schwieriges Verhältnis: Deutschland und seine Streitkräfte Die Bewertung militärischer Macht in der medialen Debatte über den Libyenkrieg 2011 Von Isabelle-Christine Panreck I. Pazifistische Medien? Die deutsche Bevölkerung tut sich schwer mit der militärpolitischen Rolle ihres Landes. Obgleich der erste große militärische Einsatz Deutschlands nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Kosovokrieg 1999 bereits über 15 Jahre zurückliegt, führen mögliche Bundeswehreinsätze heute noch zu Grundsatzdiskussionen: Sollte Deutschland den militärischen Machtanspruch einer Regionalmacht vertreten? Kann es sich auf dem Status der Zivilmacht1 ausruhen? Zahlreiche Studien weisen die Skepsis der deutschen Bevölkerung gegenüber militärischen Machtmitteln sowie einen Hang zum Pazifismus nach.2 Die letzte große Debatte über den Einsatz militärischer Macht durch die deutsche Bundeswehr löste der Libyenkrieg 2011 aus. Nach vier Wochen intensiver Diskussion erteilte der VN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1973 / 2011 die Erlaubnis einer militärischen Intervention in den libyschen Bürgerkrieg. Während Frankreich als treibende Kraft für die Resolution auftrat, enthielt sich der deutsche Außenminister Guido Westerwelle bei 1  Vgl. Hanns J. Maull, Germany and Japan: The New Civilian Powers, in: Foreign Affairs, 69 (1990) 5, S. 91–106. 2  Vgl. Heiko Biehl, Strategische Kulturen im Meinungsbild der europäischen Bevölkerungen, in: Heiko Biel u. a. (Hrsg.), Strategische Kulturen in Europa. Die Bürger Europas und ihre Streitkräfte. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragungen in acht europäischen Ländern 2010 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, 2011, S. 27–58, hier: S. 46–49, unter: www.mgfa-potsdam.de / html / einsatzunter stuetzung / downloads / forschungsbericht94.pdf?PHPSESSID=92bb8 (6. Januar 2014) sowie Thomas Bulmahn, Einstellungen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, in: Thomas Bulmahn u. a. (Hrsg.), Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung 2010 des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, 2011, S. 37–42, unter: www.mgfa-potsdam.de / html / einsatzunterstuetzung / downloads / forschungsbericht 94.pdf?PHPSESSID=92bb8 (6. Januar 2014).

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der Abstimmung im Sicherheitsrat. Umfragen und wissenschaftliche Experimente bestätigten die einsatzkritische Haltung des Außenministers. So prüften Matthias Mader und Harald Schoen mithilfe eines Experiments die Zustimmung zu einem möglichen deutschen Einsatz im libyschen Bürgerkrieg: Die Option des militärischen Eingriffes lehnten die Befragten im Sinne einer pazifistischen Grundhaltung mehrheitlich ab. Lediglich die Kommunikation des Krieges als humanitärer Einsatz konnte die Zustimmung teilweise erhöhen.3 Offen bleibt, wie sich die gesellschaftspolitische Debatte über militärische Macht auf der Ebene der Medien austrägt: Greift die mediale Debatte über den Libyenkrieg die gesellschaftlichen Einstellungen – zum Beispiel den Hang zum Pazifismus – gegenüber militärischer Macht auf? Ging die frühere Forschung von einer einfachen Mittlerrolle der Medien zwischen politischer Elite und Bevölkerung aus, nehmen aktuelle Ansätze den eigenständigen Beitrag der Medien für öffentliche Debatten in den Blick: Medien bündeln nicht nur Meinungen und Einschätzungen, sie wirken auch mit eigenständigen Bewertungen auf die gesellschaftlichen Problemdefinitionen ein.4 Die Einstellungen der Bevölkerung gegenüber militärischer Macht müssen sich so nicht zwangsläufig im medialen Diskurs über die Akzeptanz militärischer Macht widerspiegeln. Um einen Vergleich dieser Akzeptanz auf der gesellschaftlichen und der medialen Ebene vornehmen zu können, bedarf es zunächst einer Analyse der gesellschaftlichen Haltungen: Welche Hauptströmungen prägen die deutsche Bevölkerung – neben dem Pazifismus – in der Debatte über militärische Macht? In welcher Stärke stehen sie zueinander? Abschnitt II. arbeitet die Einstellungen der Deutschen über militärische Machtmittel allgemein sowie mit Blick auf den Libyenkrieg aus. Lassen sich die in Abschnitt II. herausgestellten Strömungen auf medialer Ebene nachweisen? Wie stark sind sie verankert? Abschnitt III. kontrastiert die gesellschaftlichen Strömungen mit der medialen Bewertung der deutschen Position in der Libyenfrage. Getrennt nach linkem und konservativem Spektrum wird eine Inhaltsanalyse der deutschen Printmedien durchgeführt, um anschließend einen Vergleich anhand der redaktionellen Leitlinien ziehen zu können.

3  Vgl. Matthias Mader / Harald Schoen, Alles eine Frage des Blickwinkels? Fram­ ing-Effekte und Bevölkerungsurteile über einen möglichen Bundeswehreinsatz in Libyen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, 20 (2013) 1, S. 5–34. 4  Vgl. Ottfried Jarren / Patrick Donges, Politische Kommunikation in der Mediengesellschaft, Wiesbaden, 2006, S. 119–124 sowie Jörg Matthes, Framing, BadenBaden, S.  9 f.



Schwieriges Verhältnis: Deutschland und seine Streitkräfte

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II. Stimmungsbild in der deutschen Bevölkerung Studien über die Einstellungen der Deutschen zur militärischen Macht ihres Landes weisen drei relevante Strömungen aus. Von Fallbeispielen unabhängige Erhebungen zeigen die pazifistische Grundgesinnung der Deutschen auf. Befragt nach dem sicherheitspolitischen Werkzeugkasten ihres Landes fordern 83 Prozent, Deutschland sollte vor allem Diplomatie einsetzen, um internationale Krisen und Konflikte zu lösen. Den Einsatz des Militärs zu diesem Zweck lehnt die Mehrheit hingegen strikt ab.5 Konkrete Begründungen eines Einsatzes verändern das Stimmungsbild: Etwa die Hälfte aller Deutschen weicht von der pazifistischen Grundeinstellung ab, sofern der Einsatz des Militärs im Sinne mit der internationalen Schutzverantwortung gerahmt ist. 71 Prozent stimmen einem militärischen Eingriff zu, wenn ein Völkermord verhindert werden kann. Immerhin 51 Prozent stehen einem Einsatz der Streitkräfte positiv gegenüber, wenn das Ziel die Stabilität einer Krisenregion ist.6 Lediglich 14 Prozent der Deutschen vertreten eine realpolitische Grundeinstellung zum Militär. Sie stimmen der Aussage zu, ihr Land sollte auch seine Streitkräfte einsetzen, um internationale Krisen und Konflikt zu lösen. Für 16 Prozent der Befragten ist Krieg notwendig, um unter bestimmten Bedingungen Gerechtigkeit zu erlangen.7 Die Bevölkerungsumfragen enthüllen die Widersprüchlichkeit der deutschen Haltung zu militärischer Macht: Zwar verneinen die meisten Deutschen im pazifistischen Sinne eine positive Grundeinstellung zum Militär, zugleich stimmt die Mehrheit aber für humanitäre Einsätze. Die Bevölkerung schwankt zwischen idealistischer Ablehnung des Militärs einerseits und einem international ausgerichteten Verantwortungsgefühl andererseits. Die Gruppe der reinen Pazifisten, die unter jeglichen Umständen militärische Einsätze ablehnt, erscheint im konkreten Fall wesentlich kleiner, als allgemein formulierte Fragen zunächst vermuten lassen. Eine repräsentative Bevölkerungsumfrage Anfang März 2011 zum möglichen Libyenkrieg bestätigt die Reichweite der Akzeptanz humanitärer Einsätze in der Bevölkerung. Zudem gibt die Studie Aufschluss über den Einfluss der parteipolitischen Gesinnung. Die Frage des ARD-Deutschlandtrends wies eine eindeutige Rahmung des Einsatzes als humanitäre Maßnahme auf.8 54 Prozent stimmten einem NATO-Einsatz zu, 40 Prozent votierten 5  Vgl.

H.  Biehl (Anm. 2), S. 46–48. Heiko Biehl / Bastian Giegerich, Wozu sind Streitkräfte da? Einstellungen zu militärischen Aufgaben, in: H. Biehl (Anm. 2), S. 59–74, hier: S. 67 f. 7  Vgl. H.  Biehl (Anm. 2), S. 48–50. 8  Wortlaut der Frage: In Libyen gibt es einen Bürgerkrieg. Staatschef Gaddafi greift unter anderem mit Flugzeugen seine eigenen Bürger an. Es wird diskutiert, ob 6  Vgl.

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dafür, die Sache den Libyern zu überlassen. Die Zustimmung variierte entlang der Parteipräferenz der Teilnehmer kaum: Abgesehen von den Wählern der Linken stimmten die Anhänger aller Parteien mehrheitlich für einen Einsatz. Die Zustimmung der Grünen fiel dabei besonders hoch aus.9 Die zentrale Bedeutung der internationalen Schutzverantwortung für die sicherheitspolitische Neuausrichtung der grünen Außenpolitik begründet die hohe Zustimmung der Grünen-Wähler. Die ablehnende Haltung der Wähler der Partei Die Linke deckt sich mit der Protesthaltung der Partei Die Linke gegenüber militärischen Eingriffen. Die Umfrage bestätigt für die Vorkriegsphase des Libyeneinsatzes: Etwa die Hälfte der Deutschen steht parteiübergreifend hinter dem Prinzip der internationalen Schutzverantwortung. Lediglich linke Positionen weisen das humanitäre Konzept zurück. Tabelle 1 bildet die drei Strömungen des Pazifismus, der internationalen Schutzverantwortung und der Realpolitik sowie ihre jeweiligen Charakteristika ab. Sie dient als Grundlage für die Inhaltsanalyse, die jeden Artikel auf die drei Leitbilder prüft. Sobald ein Artikel im Sinne des Pazifismus, der Schutzverantwortung oder der Real­politik argumentiert, wird das Konzept als nachgewiesen kodiert. Tabelle 1 Die Leitbilder Pazifismus, internationale Schutzverantwortung und Realpolitik Leitbild

Charakteristika Grundhaltung zu militärischer Macht

Motiv militärischen Handelns

Werkzeuge der Sicherheitspolitik

Pazifismus

Ablehnend

Kein Motiv rechtfertigt militärischen Eingriff

Diplomatie

Internationale Schutzverant­ wortung

Kritisch

Schwere Menschenrechtsverletzungen

Diplomatie und Militär in Ausnahmefällen

Realpolitik

Positiv

Internationale Krisen und Konflikte

Militär und Diplomatie

Quelle: Eigene Darstellung.

die NATO im Auftrag der Vereinten Nationen eingreifen und Gaddafi an den Angriffen hindern sollte. Was denken Sie, sollte die NATO eingreifen oder die Sache den Libyern überlassen? Antwortkategorien: NATO sollte eingreifen / Sache den Libyern überlassen / weiß nicht / keine Angabe. 9  Vgl. Infratest dimap, ARD-DeutschlandTREND März 2011, Berlin 2011, S. 18, unter: www.infratest-dimap.de / uploads / media / dt1103_bericht.pdf (6. März 2015).



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III. Fallstudie 1. Auswahl der Printmedien und des Textkorpus

Die Auswahl der Qualitätszeitungen erfolgt anhand ihrer redaktionellen Tendenz auf der traditionellen Links-Rechts-Skala, ihrer Reichweite und ihres leitenden Charakters. Das linke Spektrum vertreten die überregionalen Tageszeitungen Neues Deutschland10 und die Süddeutsche Zeitung, die Wochenzeitung Die Zeit sowie das Wochenmagazin Der Spiegel.11 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung12, die Wochenzeitung Junge Freiheit13 und das Wochenmagazin Focus14 stehen stellvertretend für das konservative Spektrum. Die Auswahl der Artikel für die Inhaltsanalyse erfolgt anhand von drei Schritten. Erstens werden alle überregionalen Artikel der Zeitungen bzw. Magazine im Untersuchungszeitraum ausgewählt, die nicht in Form von Interviews, Leserbriefen, Kurzmeldungen im Wochenrückblick oder Bildern verfasst sind. Der Analysezeitraum für die Tageszeitungen bildet die Spanne vom 12. März 2011 bis zum 22. März 2011. Im Bereich Wochenzeitungen und Wochenmagazine werden eine Ausgabe vor der Woche der Resolution 1973, eine Ausgabe in der Woche der Resolution und eine Ausgabe der Woche nach der Resolution untersucht. Zweitens werden aus dieser Auswahl alle Artikel gefiltert, die das Schlagwort Libyen beinhalten. Um Zufallstreffern entgegenzuwirken, wurden drittens nur Artikel mit dem Schwerpunkt auf der Positionierung der internationalen Akteure zur Libyenfrage in den Textkorpus aufgenommen. Die Artikel konzentrieren sich auf die Debatte im UN-Sicherheitsrat über das Errichten einer Flugverbotszone, die in die Resolution 1973 am 17. März 2011 mündete. Im Anschluss stehen die militärische Umsetzung der Flugverbotszone sowie die deutsche Enthaltung im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit.

10  Vgl. Burghard Ciesla / Dirk Külow, Zwischen den Zeilen. Geschichte der Zeitung „Neues Deutschland“, Berlin 2009, S. 222–227. 11  Vgl. Markus Maurer / Carsten Reinemann, Medieninhalte, Wiesbaden 2006, S.  129 f. 12  Vgl. ebd. 13  Vgl. Junge Freiheit, Über den Verlag, o. J., unter: http://jungefreiheit.de / informa tionen / ueber-den-verlag /  (20. Februar 2014); siehe auch Junge Freiheit, Leitbild der Jungen Freiheit, o. J., unter: http://assets.jungefreiheit.de / 2013 / 08 / Leitbild-der-JF.jpg (20. Februar 2014). 14  Vgl. M.  Maurer / C.  Reinemann (Anm. 11), S. 129 f.

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Isabelle-Christine Panreck 2. Linkes Spektrum

Die Berichterstattung der Tageszeitung Neues Deutschland fällt durch ihre starke Polarisierung auf: Sie stilisiert den Befürworter eines militärischen Eingriffs in den libyschen Bürgerkrieg, Nicolas Sarkozy, zum Symbol realpolitischer Macht, während es den deutschen Außenminister aufgrund seiner Enthaltung als Personifizierung pazifistischer Macht darstellt. Zwischentöne erklingen nicht. Die Zeitung unterstützt vielmehr Westerwelles Vorgehen vorbehaltslos, das sie als „vernünftig“ bewertet. Sarkozy hingegen habe „profilneurotische Absichten“15 und suche „Schulterklopfen“16. Mit der Demonstration militärischer Stärke schade der Westen der demokratischen Bewegung und der Entwicklung der Zivilgesellschaft. Statt die Bevölkerung über einen militärischen Eingriff im Sinne der Schutzverantwortung zu unterstützen, fordert die Zeitung Neues Deutschland Diplomatie als Werkzeug der Sicherheitspolitik: „Noch kann ein Dialog organisiert werden, zumal den beiden libyschen Konfliktseiten in einem lichten Moment dämmern müsste, dass sie gar keine andere vernünftige Wahl haben: Gaddafi ist trotz aller Kraftmeierei international total isoliert, und die Rebellen militärisch hoffnungslos unterlegen. Aber die Chance für Diplomatie müsste bald genutzt werden.“17 Das Argument der internationalen Schutzverantwortung hält das Neue Deutschland für vorgeschoben. Der Kampf gegen Gaddafi habe nicht unbedingt etwas „[m]it einer prinzipiellen Haltung zugunsten des Schutzes von Menschen und ihren verbrieften Rechten […] zu tun.“18 Die Zeitung vertritt die pazifistische Grundgesinnung; die humanitäre Komponente des Einsatzes verändert ihre Bewertungen nicht positiv. Im Gegenteil: Zum einen bezweifelt die Zeitung die wohlwollenden Absichten der NATO, zum anderen sieht sie einen militärischen Eingriff als große Gefahr für die libysche Zivilbevölkerung an. Die Artikel der Süddeutschen Zeitung weisen auf die humanitäre Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft hin. Die Libyer könnten sich ohne internationale Hilfe nicht gegen Gaddafi wehren: „[M]it ihren veralteten Waffen und fehlender militärischer Disziplin können die Rebellen den Gaddafi-Truppen, die über moderne Panzer und Raketenwerfer verfügen, wenig entgegenstellen.“19 Die Macht Gaddafis ließe sich nur mit Waf15  Roland Etzel, Veitstänzer abgeblitzt, in: Neues Deutschland vom 12. März 2011, S. 8. 16  Ders., Entzweit über Libyen, in: Neues Deutschland vom 16. März 2011, S. 8. 17  Ders., Vergiftete Ratschläge, in: Neues Deutschland vom 14. März 2011, S. 4. 18  Ders., Keine Lobby für Bahrain, in: Neues Deutschland vom 18. März 2011, S. 10. 19  Tomas Avenarius, Der Mut stirbt zuletzt, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. März 2011, S. 9.



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fengewalt bekämpfen. Diplomatische Mittel gelten vor dem Hintergrund der Massaker in Libyen als unwirksam: „Also greifen die ratlosen Staatsführer in die diplomatische Klamottenkiste: Sie richten moralische Appelle an einen von allen moralischen Erwägungen unberührten Despoten.“20 Die Zeitung stellt den mächtigen Sarkozy und den belanglosen Westerwelle gegenüber: „Es ist die Stunde des Nicolas Sarkozy. Nie war er machtvoller, nie erfolgreicher.“21 Durch Westerwelles Verhalten hingegen „schrumpft das Amt [des Außenministers]“22. Deutschland strebt einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat an. Ein Sitz bedeutet hohen Einfluss auf die Entwicklungen der internationalen Politik. Die Süddeutsche Zeitung hält einen ständigen Sitz für Deutschland nach dessen Enthaltung für unangebracht, weil es der internationalen Schutzverantwortung nicht nachkomme: „Die deutsche Enthaltung ist deswegen eine historische Fehlentscheidung. Sie zeigt, dass die Welt nicht unbedingt besser würde, wenn die Bundesrepublik dauerhaft dem Sicherheitsrat angehörte.“23 Die Zeitung beschreibt Deutschland als isoliert und handlungsunfähig, während sie Frankreich als mächtig bewertet. Der Machtverlust Deutschlands wirkt als Machtgewinn Frankreichs, das Deutschland die Führungsrolle in der internationalen Libyenpolitik abnehme. Insgesamt folgt die Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung dem Leitbild der internationalen Schutzverantwortung. Der Freitag lehnt einen Eingriff in den libyschen Bürgerkrieg ab. Die Motivation der westlichen Welt sieht die Wochenzeitung im imperialen Machtanspruch des Westens: „Dass in Libyen nach dem Umsturz in Kairo ein Bürgerkrieg ausbrach, war für den Westen ein Geschenk des Himmels. Dieser innere Konflikt empfahl sich als idealer Anlass, per Intervention einer Region einen ordnungspolitischen Kraftakt zu bescheren, die gewohnten Einflüssen zu entgleiten drohte.“24 Aus gleichem Kalkül unterstütze der Westen die Opposition: „Die einzige Möglichkeit, in Libyen auch künftig einen gewissen Einfluss auszuüben, bestand fortan im Schutz des Hauptquartiers der Oppositionsbewegung in Benghazi.“25 Macht erscheint als Nullsummenspiel: Der Zugewinn von Macht für eine unabhängige Opposition bedeute einen Machtverlust der westlichen Staaten. Diesen Verlust 20  Ders.,

21  Stefan

S. 3.

Nachbar Arabien, in: Süddeutsche Zeitung vom 12. März 2011, S. 4. Ulrich, Waffenbruder, in: Süddeutsche Zeitung vom 21. März 2011,

22  Daniel, Brössler, An der Seite von Diktatoren, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. März 2011, S. 4. 23  Nicolas Richter, Die Welt gegen Gaddafi, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. März 2011, S. 4. 24  Lutz Herden, Glücksfall Gaddafi?, in: Der Freitag vom 24. März 2011, S. 1. 25  Alex Warren, Aus dem Irak-Krieg nichts gelernt, in: Der Freitag vom 24. März 2014, S. 12.

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nehme die ehemalige Kolonialmacht Frankreich nicht hin. Den Einfluss in Nordafrika erkenne es als Grundlage seiner Position in der internationalen Akteurskonstellation an. Die Einbuße dieses Einflusses beträfe einen Pfeiler des französischen Staatsverständnisses. Die Wochenzeitung kritisiert das französische Vorgehen stark und wirft Sarkozy Ignoranz gegenüber den Folgen seines Handelns für die libysche Zivilbevölkerung vor. Auch die deutsche parlamentarische Opposition argumentiere verantwortungslos in ihrer Unterstützung Frankreichs: „Als Opposition tragen sie sowieso keine reale Verantwortung für den Angriff und seine Kollateralschäden.“26 Die Wochenzeitung erkennt die Stärke militärischer Mittel an, leitet aus ihnen aber keinen Anspruch auf eine globale Führungsrolle ab: „Niemand wird ernsthaft bezweifeln, dass sich die Vereinigten Staaten in der Region nach wie vor militärisch Geltung verschaffen können – aber daraus weder ein politischer, geschweige denn moralischer Führungsanspruch abzuleiten ist.“27 Der Freitag kritisiert den realpolitischen Machtanspruch scharf. Die Idee der internationalen Schutzverantwortung bewertet die Wochenzeitung als Vorwand für westliche Ordnungspolitik, da humanitäre Katastrophen in anderen Ländern auch nicht zu Eingriffen geführt hätten: „Das Wort Heuchelei wirkt blass und beinahe deplatziert, wenn sich eine Regierung in Washington dazu versteigt, humanitäre Verantwortung in Libyen zu reklamieren, die ihr im Irak, in Palästina, in Mubaraks Ägypten oder Salehs Jemen bisher vermutlich absurd erschien.“28 Die Idee der Schutzverantwortung verkomme zur Machtpolitik: „Konsequent wäre es, das Konzept fallen zu lassen.“29 Der Freitag plädiert gegen einen Eingriff des Westens, um die Umbrüche in Nordafrika nicht zu gefährden. Die damit einhergehende Grundsatzkritik am Militär, stets als Instrument des Imperialismus beurteilt, offenbart die pazifistische Gesinnung des Freitags, „ob von eigenem oder fremdem Militär verletzt oder getötet – der libyschen Bevölkerung steht wahrscheinlich eine grauenvolle Zeit bevor“.30 Die Zeit wägt den Einsatz militärischer Mittel im Sinne der internationalen Schutzverantwortung ab: „Genügt nach dem Hinauswurf Gadhafis aus dem UN-Menschenrechtsrat und aus der Arabischen Liga weiterer diplomatischer Druck? Oder hilft am Ende doch nur der militärische Knüppel?“31 Die Wo26  Ulrike Winkelmann, Das Falsche aus falschen Gründen tun, in: Der Freitag vom 24. März 2011, S. 2. 27  Lutz Herden, Operation Libyen-Sturm, in: Der Freitag vom 10. März 2011. S. 9. 28  Ebd. 29  Ottfried Nassauer, Das eigennützige Versprechen, in: Der Freitag vom 17. März 2011, S. 8. 30  Sabine Kebir, Unter dem Banner des Königs, in: Der Freitag vom 24. März 2011, S. 13. 31  Theo Sommer, Libyen am Limit, in: Die Zeit vom 10. März 2011, S. 1.



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chenzeitung kritisiert die militärischen Mittel, da die Ziele des Friedens und der Demokratie mit dem Einsatz von Militär nicht erreicht würden: „Krieg ist Krieg, selbst mit den edelsten Motiven. Eigentlich hätten wir wissen müssen, dass die Demokratie oder auch nur eine tolerable Ordnung sich nicht herbeibomben lassen.“32 Sie verurteilt Kriege, in humanitären Ausnahmefällen seien sie jedoch Instrument der Sicherheitspolitik. Die Massaker in Libyen berechtigten zum militärischen Eingriff. Die Bewertung der internationalen Akteure verdeutlicht dies: Nicolas Sarkozy gilt als plötzlicher „Held des arabischen Frühlings“, die USA als „zaudernder Mitläufer“ und Angela Merkel nach der Enthaltung Deutschlands im UN-Sicherheitsrat als „Treppenwitz dieses Frühjahrs“.33 Doch könne militärische Stärke langfristig nicht die Macht eines Staates ausmachen. Die Bewertung der EU zeigt dies auf: „Die EU wird auch künftig selten vorpreschen und nur gelegentlich voranmarschieren. Dafür wird sie, wenn sie es gut macht, belastbare Kompromisse schmieden. […] Wenn das keine gute Nachricht ist!“34 Die Zeit sieht diplomatische Mittel als überlegen an, sie lässt die internationale Schutzverantwortung aber als Begründung für den militärischen Einsatz in Libyen zu. Ihre kritische Haltung zum Militär als Werkzeug zur Lösung des Konflikts gibt sie nicht auf. Die Zeit schwankt zwischen der pazifistischen Perspektive und dem Auftrag der internationalen Schutzverantwortung. Das Wochenmagazin Spiegel berichtet ausführlich über die Zusammenhänge des Libyenkonflikts, ein Großteil der Berichte schildert die Verhältnisse vor Ort. Als wichtige Aufgabe der internationalen Gemeinschaft sieht das Magazin den Aufbau der Zivilgesellschaft an: Die USA ermöglichten den Zugang zum Internet und Mobilfunknetz über Propellermaschinen: „Damit helfen die USA oppositionellen Bewegungen, sich zu organisieren – gegen den Willen der betreffenden Regime.“35 Die Skrupel an einem militärischen Eingriff in den Konflikt teilt der Spiegel mit Westerwelle und Obama. Allerdings: „Wer in New York eine Führungsrolle reklamiert, muss Verantwortung übernehmen.“36 Die Enthaltung schade der deutschen Reputation, während Frankreich die neue Führungsmacht sei: „Der Triumph gehörte den Franzosen, allen voran Alain Juppé, der als einziger Außenminister in New York angereist war, um ‚an der Seite der Libyer zu stehen‘.“37 32  Josef

Joffe, Flug und Trug, in: Die Zeit vom 24. März 2011, S. 1. Böhm, Gerecht und gefährlich, in: Die Zeit vom 24. März 2011, S. 9. 34  Matthias Krupa, Die Quadratur der Krisen, in: Die Zeit vom 17. März 2011, S. 14. 35  Fliegendes Netz, in: Der Spiegel vom 5. März 2011, S. 76. 36  Mark Hujer u. a., Hilfe von den Hilflosen, in: Der Spiegel vom 14. März 2014, S. 23. 37  Benjamin Bidder u. a., Die letzte Kugel, in: Der Spiegel vom 21. März 2011, S. 107. 33  Andrea

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Die Rolle eines Staates und seiner Regierungschefs hinge von militärischen Erfolgen ab: „Unterstützt wurden [die Franzosen] dabei vom britischen Premierminister David Cameron, der als Nachnachfolger des ‚messianischen‘ Tony Blair nach fast einem Jahr im Amt ohne einen nennenswerten außenpolitischen Erfolg dasteht.“38 Ausschlaggebend für die Position im internationalen Gefüge sei in erster Linie die Bereitschaft, der internationalen Schutzverantwortung militärisch nachzukommen. 3. Konservatives Spektrum

Die Berichterstattung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erörtert zu großen Teilen die Frage, wer die globale Führungsrolle mit Blick auf den Libyenkonflikt einnimmt. Laut der Tageszeitung lag diese zunächst bei Deutschland, das sich frühzeitig auf die Seite der Demonstranten stellte. Durch seine Enthaltung habe Außenminister Westerwelle den deutschen Einfluss wieder verspielt. Frankreichs entschiedenes Votum für einen militärischen Eingriff hebe es in die führende Position, noch vor die zögerlichen USA. Sarkozy präsentiere sich als alleinige Spitze der internationalen Gemeinschaft: „Als Weltenlenker trat der französische Präsident im ElyséePalast vor die Verbündeten, die er nach Paris geladen hatte, um dem libyschen Despoten Gaddafi die Geschlossenheit der internationalen Gemeinschaft vorzuführen.“39 Westerwelle und Obama ernten scharfe Kritik für ihre mangelnde Bereitschaft, militärisch einzugreifen. Obama verzichte auf die „globale Führungsrolle“ und sei ein „schwache[r] Präsident[]“40. Das Gesamturteil über die deutsche Außenpolitik fällt kritisch aus: „Ein diplomatischer Schadensfall höchsten Ausmaßes für Berlin und Westerwelle persönlich.“41 Westerwelle sei isoliert: „Schon zuvor hatte Westerwelle feststellen müssen, dass er mit seiner vehementen Ablehnung einer militärischen Option die kurzzeitig erlangte Meinungsführerschaft in der europäischen Arabien-Politik wieder aus den Händen gegeben und sich mehr und mehr ins Abseits gestellt hat.“42 Der Gewalt eines Diktators könnten nur militärische Mittel erfolgreich begegnen: „Auch dem deutschen Außenminister musste schließlich klar sein, dass das Freiheits- und Demokratiepathos 38  Ebd.

39  Michaela Wiegel, Sarkozy trumpft auf, Merkel rechtfertigt sich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2011, S. 5. 40  Matthias Rüb, Obamas Krieg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. März 2011, S. 3. 41  Matthias Rüb u. a., Kehrtwende Washingtons, Streit in Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. März 2011, S. 7. 42  Ebd.



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[…] auf Dauer nicht reichen würde, wenn ein Autokrat mit aller Macht zurückschlagen würde.“ Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet aus zwei Perspektiven. Erstens kritisiert sie die deutsche Außenpolitik, weil sie ihrer internationalen Schutzverantwortung nicht nachkomme. Zweitens sieht sie in Westerwelles Enthaltung eine Schwächung der deutschen Position in der internationalen Sicherheitspolitik. Die Wochenzeitung Junge Freiheit kritisiert die Libyenpolitik des Westens. Sein Interesse an der libyschen Zivilbevölkerung im Sinne der internationalen Schutzverantwortung sei falsch: „Europas Interesse auf der mediterranen Gegenküste liegt nicht im Verbreiten universalistischer Prinzipien, sondern in der Sicherung stabiler Verhältnisse, unter denen das Erdöl fließt und potentielle Flüchtlinge im Lande bleiben.“43 Die Junge Freiheit kritisiert die EU wegen ihrer fehlenden militärischen Schlagkraft harsch: „Man hat so gut wie nichts in der Hand, um Druck auf afrikanische Warlords oder arabische Diktatoren zu machen. Vor bald zwölf Jahren, im Dezember 1999, hat der Europäische Rat in Helsinki hinsichtlich militärischer Fähigkeiten das Ziel festgelegt, 60.000 Soldaten bereitzustellen, die binnen 60 Tagen einsatzbereit sind. 2003 hätte es soweit sein sollen. Passiert ist fast nichts.“44 Frankreichs „Zwerg von Paris“ profitiere von der Schwäche der EU und führe die „ganze Union blamabel“45 vor. Das europäische Ziel, den Aufbau der Zivilgesellschaft in der arabischen Welt zu unterstützen, statt militärisch aktiv zu werden, verurteilt sie als naiv, insbesondere das Unterstützen der Frauenbewegung verhöhnt sie: „Natürlich wird auch die Gender-Ideologie nicht vergessen, wenn vermerkt wird: ‚Frauen haben bei den Umwälzungen in der Region eine wichtige Rolle gespielt, und geschlechterspezifischen Aspekten wird bei der künftigen EU-Hilfe eine große Bedeutung zukommen.‘“46 Die Junge Freiheit wählt für ihre Analysen eine realpolitische Perspektive. Im Mittelpunkt ihres Anspruchs an die deutsche Außenpolitik steht das Ziel, deutsche Interessen zu wahren. Die Zeitung lehnt Pazifismus und das Leitbild der internationalen Schutzverantwortung ab. Der Eingriff in Libyen entspreche einem Interventionskrieg aus politischem Machtkalkül und nicht der Schutzverantwortung; die Resolution 1973 sei „diplomatische Deckung“47. 43  Michael Paulwitz, Bürgerkrieg in Libyen. Grüne Bellizisten, in: Junge Freiheit vom 11. März 2011, S. 2. 44  Günther Deschner, Der Moloch in der Krise, in: Junge Freiheit vom 18. März 2011, S. 1. 45  Ebd. 46  Michael Wiesberg, Nicht kleckern, sondern klotzen, in: Junge Freiheit vom 18. März 2011, S. 9. 47  Günther Deschner, Wirre Mission, knallharte Strategie, in: Junge Freiheit vom 25. März 2011, S. 11.

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Das Focus Magazin behandelt die Ereignisse des Libyenkonflikts nur am Rande. Die Ausgabe in der Woche vor Verabschiedung der Resolution 1973 enthält keinen Artikel über Libyen. Im Mittelpunkt der folgenden Ausgaben steht die Enthaltung Deutschlands in der Abstimmung über Resolution 1973. Die von Außenminister Westerwelle geforderten verschärften Sanktionen und den Anruf des Internationalen Gerichtshof kritisiert das Wochenmagazin als „das Brüllen eines zahnlosen Löwen“48. Der Focus kritisiert das zögerliche Verhalten Deutschlands gegenüber dem „Despoten“49 Gaddafi, der sich von diplomatischen Mitteln nicht abschrecken lasse, sein Volk zu bombardieren. Deutschland habe sich mit seiner Enthaltung von der westlichen Welt isoliert und seinen Einfluss verspielt: „Deutschland findet sich nach dem UN-Beschluss für eine Flugverbotszone über Libyen in einer merkwürdigen Koalition wieder. Bei der Abstimmung enthalten haben sich außer unserem Außenminister noch China, Russland, Brasilien und Indien.“50 Anstelle Deutschlands führe Frankreich Europa in außenpolitischen Fragen an: „Die zaudernde Kanzlerin überlässt nun anderen europäischen Akteuren die Bühne – allen voran dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy.“51 Der Focus verweist bei seiner Kritik an der deutschen Positionierung auf das Prinzip der internationalen Schutzverantwortung. Seinen Missmut über die deutsche Position leitet das Magazin aus der deutschen Isolation her. Gerade die deutsche Geschichte verlange bei einer Mission zum Schutz eines Volkes neben den USA zu stehen: „Frankreich, Großbritannien, USA: Gegen den Tyrannen von Tripolis hat sich eine Allianz aus den Alliierten des Zweiten Weltkriegs formiert. Kann sich Deutschland heraushalten?“52 Focus-Chefredakteur Uli Baur nimmt direkt Bezug auf die pazifistische Grundeinstellung der deutschen Bevölkerung: „Guido Westerwelle weiß, dass die Mehrheit in Deutschland gegen Kriegseinsätze ist. Im Fall des menschenverachtenden Gaddafi könnte er sich getäuscht haben.“53

48  Margarete von Ackeren u. a., Zieht der Westen in den Kampf? In: Focus Magazin vom 14. März 2011, S. 50. 49  Ebd. 50  Uli Baur, Was ist mit Merkel passiert?, in: Focus Magazin vom 21. März 2011, S. 5. 51  Peter Gruber u. a., Krieg gegen Gaddafi, in: Focus Magazin vom 21. März 2011, S. 45. 52  Ebd. 53  U. Baur (Anm. 50).



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4. Effekte der redaktionellen Links-Rechts-Einstufung

Eine politische Tendenz entlang der Links-Rechts-Achse liegt nicht vor. Die breite Mehrheit der Medien verschreibt sich lagerübergreifend der internationalen Schutzverantwortung. Das Militär als Machtmittel lehnen die Medien ab; um schwere Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, erkennen die Zeitungen die Macht der Streitkräfte jedoch an. Die auflagenstarken Wochenmagazine Focus und Spiegel sowie die Süddeutsche Zeitung folgen eindeutig der Idee der internationalen Schutzverantwortung. Die Süddeutsche Zeitung fällt wegen eines hohen Anteils an neutralen Artikeln quantitativ leicht ab. Auch die Zeit und die Frankfurter Allgemeine Zeitung vertreten zu großen Teilen die Perspektive der internationalen Schutzverantwortung. Die Zeit schwankt allerdings zwischen humanitärem Verantwortungsgefühl und der pazifistischen Kritik an einem militärischen Einsatz in Libyen, von dessen positiven Effekt auf die Entwicklung der dortigen Zivilgesellschaft sie nicht überzeugt ist. Die Wochenzeitung reflektiert damit am ehesten die Haltung der deutschen Bevölkerung, die von einer pazifistischen Grundgesinnung einerseits und einem interna­ tional ausgerichteten Verantwortungsgefühl andererseits geprägt ist. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung greift neben dem humanitären Verantwortungsgefühl realpolitische Argumente auf. Deutschland habe nicht nur den Schutz der Menschenrechte vernachlässigt, sondern auch seinen internationalen Einfluss verspielt. Ausschließlich realpolitisch argumentiert das konservative Blatt Junge Freiheit. Die rein pazifistische Position nehmen eher auflagenschwache Printmedien ein: Der Freitag und das Neue Deutschland. Sie schreiben nicht nur im Sinne eines pazifistischen Leitbilds, das sich für Diplomatie und gegen Militär ausspricht, sondern lehnen auch das Prinzip der internationalen Schutzverantwortung kategorisch ab. Die Zeitungen sind redaktionell links ausgerichtet. Insbesondere die Berichterstattung des linkssozialistischen Neuen Deutschlands deckt sich mit der Ablehnung des humanitären Einsatzes in Libyen durch die Wähler der Partei Die Linke. Tabelle 2 ordnet die Printmedien den Leitbildern der Realpolitik, der Internationalen Schutzverantwortung und des Pazifismus zu.

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Isabelle-Christine Panreck Tabelle 2 Printmedien und ihr dominantes Leitbild

Realpolitik

Internationale Schutzverantwortung a)

Zeitung

Anteil

Junge Freiheit

83 %

Pazifismus Zeitung

Anteila)

100 %

Der Freitag

100 %

  67 %

Neues Deutschland

  80 %

Zeitung

Anteil

Focus Magazin Der Spiegel

a)

  45 % Die Zeit Süddeutsche Zeitung 29 %

  55 %

  44 %

Frankfurter Allgemeine Zeitung   39 %

a)  Anteil

der Artikel des jeweiligen Leitbilds an der gesamten Berichterstattung des Printmediums im Analysezeitraum.

Quelle: Eigene Darstellung.

IV. Internationale Schutzverantwortung als Leitbild Die deutsche Bevölkerung steht dem Einsatz der militärischen Macht ihres Landes kritisch gegenüber. Die Mehrheit der Deutschen vertritt eine pazifistische Grundgesinnung. Etwa die Hälfte weicht von dieser jedoch ab, wenn der militärische Eingriff humanitär begründet ist. Generelle Abneigung gegenüber allem Militärischen und das Gefühl einer internationalen Schutzverantwortung ringen darum, Geltung zu erlangen. Umfragen zur Akzeptanz eines Eingriffs in den libyschen Bürgerkrieg bestätigen dieses Stimmungsbild. Gerahmt als humanitärer Einsatz stimmten die Befragten parteiübergreifend für einen Eingriff der NATO in den libyschen Bürgerkrieg. Lediglich in der Gruppe der Wähler der Partei Die Linke fällt die Zustimmung gering aus. Die Inhaltsanalyse der printmedialen Berichterstattung bestätigt die pazifistische Sonderrolle der politischen Linken: Der Freitag und das Neue Deutschland lehnen den militärischen Einsatz in Libyen kategorisch ab. Die Idee der internationalen Schutzverantwortung verwerfen sie, stattdessen vertreten beide Zeitungen die pazifistische Position in Reinform. Die linksliberalen und konservativen Printmedien Süddeutsche Zeitung, Spiegel und Focus Magazin befürworten das Leitbild der internationalen Schutzverantwortung, der auch Deutschland nachkommen solle. Die Zeit stimmt dem zu, bleibt gegenüber den Erfolgsaussichten von humanitären Militäreinsätzen



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jedoch kritischer als die übrigen Zeitungen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung verwirft die deutsche Nichtteilnahme an einem militärischen Einsatz aus einem humanitären Verantwortungsgefühl wie aus realpolitischen Gründen. Lediglich die konservative Junge Freiheit lehnt die humanitäre Schutzverantwortung zugunsten realpolitischer Überlegungen ab. Kongruent zum Stimmungsbild in der Bevölkerung nimmt sie in ihrer positiven Haltung zum Militär als Machtmittel eine Sonderrolle ein. In weiten Teilen decken sich die medialen Sichtweisen zur Anwendung militärischer Macht mit denen der Deutschen. Allerdings erfährt die internationale Schutzverantwortung deutlich stärkere Rückendeckung als in der Bevölkerung, die zwischen einem vagen Pazifismus und einem internationalen Verantwortungsgefühl schwankt.

Parteien und Wahlen im Wandel

Verkannte Lösungen oder beharrliche Trugbilder? Das Wahlrecht für Minderjährige in der verfassungsrechtlichen und politischen Debatte Von Niels Dehmel I. Eine alte Debatte in neuem Gewand? „Über eine Senkung des Wahlalters könnte man durchaus nachdenken. Eine Wahlentscheidung kann man auch bereits mit 16 Jahren treffen.“1 Als der damalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, mit diesen Worten die Frage zur Ausweitung des allgemeinen Wahlrechts beantwortete, verlieh er der Debatte um eine Herabsetzung des aktiven Wahlalters nachhaltig Schwung. Dabei brach er weder ein Tabu, noch äußerte er tatsächlich Neues. Vielmehr schlug die Aussage „nur“ ein weiteres Kapitel in einer der Grundsatzdebatten des Wahlrechts auf, welche die Bundesrepublik seit ihrem Bestehen, insbesondere seit Ende der 1960er Jahre begleitet. Absenkungen des Wahlalters hatte es bereits früher gegeben:2 Nachdem das aktive Wahlalter bei den Bundestagswahlen von 1949 bis 1969 – analog zur Volljährigkeit – bei 21 Jahren lag und das passive auf 25 Jahre festgelegt war, wurde es 1970 auf 18 Jahre herabgesetzt, das passive Wahlalter auf 21. Vorausgegangen war eine „intensive politische wie wissenschaftliche Debatte“3, an deren Ende die Novellierung von Artikel 38 Abs. 2 GG stand, die bis heute Gültigkeit hat: „Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt.“ Das „Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsal1  Andreas Voßkuhle im Interview mit dem Hamburger Abendblatt, zit. nach: Helmut Stoltenberg, Jugend vor der Wahlurne, in: Das Parlament vom 11. Mai 2009, unter: www.das-parlament.de / 2009 / 20 / Innenpolitik / 24392946 / 300056 (4. April 2015). 2  Vgl. die Nachzeichnung der Debatte(n) über die Herabsetzung des Wahlalters bei Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, Düsseldorf 1985, S. 325–332. 3  Eckhard Jesse, Reformvorschläge zur Änderung des Wahlrechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 53 (2003) 52, S. 3–11, hier: S. 7.

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ters“ aus dem Jahr 1974 senkte die Volljährigkeit (und indirekt das passive Wahlalter) schließlich mit Jahresbeginn 1975 ebenfalls auf 18 Jahre.4 Weitere Anpassungen folgten nicht mehr. Mit der Einigung auf das 18. Lebensjahr war ein gemeinsamer Nenner geschaffen, mit dem sich Befürworter wie Gegner einer Herabsetzung (noch) arrangieren konnten und an dem sich die Fronten (zukünftig) verhärten sollten. Wer aber annahm, von den Änderungen und der folgenden Stagnation auf Bundesebene wäre auf ein Stagnieren oder gar ein Abklingen der Reformdebatte zu schließen, unterlag einem Fehlschluss. Die Debatte verstummte nicht. Vorstöße zur Senkung des aktiven Wahlalters von 18 auf 16 Jahre kamen bereits in den 1980er Jahren auf. Die Forderung nach „wirklich allgemeinen Wahlen“ äußerte erstmals Konrad Löw 1974.5 In der (politischen) Intensität waren die Reformbestrebungen jedoch nicht mit der Zeit um 1970 gleichzusetzen. Erst mit der deutschen Einheit folgten den vermehrten Verlautbarungen, das Wahlalter unter 18 Jahre zu senken, ernsthafte Gesetzesinitiativen. Während die PDS, die Linkspartei, die Linke und die Grünen in jeder Wahlperiode (abwechselnd oder ergänzend) ein Wahlalter ab 16 Jahren anstrebten, standen diesen traditionellen Forderungen insbesondere nach der Jahrtausendwende verstärkt Anfragen und Entwürfe gegenüber, die an den Vorschlag Löws anknüpften. Einen gewichtigen Anstoß erfuhr die Debatte durch den interfraktionellen Antrag mit dem Titel „Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an“6 aus dem Jahr 2003, der mannigfache Unterstützung fand, und dem sich im Jahr 20087 ein ähnlicher Antrag anschloss. Während die Debatte damit an Intensität (und Quantität) gegenüber der Zeit um 1970 gewonnen hatte, wandelte sich ihre Charakteristik. Das passive Wahlalter und das Herabsetzen der Volljährigkeit spielen gegenwärtig keine Rolle.8 Dem moderaten Absenken des Wahlalters – diesmal auf 16 Jahre – fällt indes erneut eine zentrale Bedeutung zu. Jedoch existieren daneben alternative Altersgrenzen. Die Vorhaben, jegliche altersbedingten Schranken zum Wahlrecht aufzuheben, bilden eine gesonderte Kategorie. Die Argumente gleichen dabei jenen der Vergangenheit. Wo Fürsprecher eines Wahlrechts von Geburt an mit dem Ziel einer wirklich allgemeinen 4  Gesetz zur Neuregelung des Volljährigkeitsalters vom 31. Juli 1974, in: Bundesgesetzblatt, Teil I, S. 1713–1716. 5  Vgl. Konrad Löw, Das Selbstverständnis des Grundgesetzes und wirklich allgemeine Wahlen, in: Politische Studien, 25 (1974) 213, S. 19–29. 6  Vgl. Bundestagsdrucksache 15 / 1544, 11. September 2003. 7  Vgl. Bundestagsdrucksache 16 / 9868, 27. Juni 2008. 8  Vgl. zum Unterschied der Debatten: Deutschland & Europa, „Wahlalter 16“ – eine Chance zur Überwindung der Politikverdrossenheit? D&E-Interview mit Dr. Jan Kercher, in: Deutschland & Europa, (2013) 65, S. 58–65, hier: S. 60.



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Wahl argumentieren und bemängeln, ein signifikanter Teil der Bundesbürger sei „allein aufgrund ihres Alters“9 vom Wahlrecht ausgeschlossen, sind Vertreter des Wahlrechts ab 16 vom Ideal der mündigen, politisch interessierten und engagierten Jugendlichen geprägt: Junge Menschen ab 16 seien „von ihrer sozialen Kompetenz, ihrer Reife und ihrer intellektuellen Urteilsfähigkeit her früher […] politisch entscheidungsfähig“10. Der große Unterschied zu den 1970er Jahren liegt im Erfolg der Debatte. Bei keinem Vorstoß wurde ernsthaft eine bundespolitische Umsetzung erwartet. Lediglich einige Bundesländer senkten das Wahlalter in ihren Kommunal- und Landeswahlgesetzen auf 16 Jahre. Weiterführende Reformen blieben aus. Etwaige Verlautbarungen beschränkten sich auf Einzelpersonen und lösten weder eine innerparteiliche noch eine interfraktionelle Debatte aus, die eine Herabsetzung des Wahlalters tatsächlich ins (gesetzgeberische) Auge fasste. Anträge der Regierungsfraktionen existierten zu keiner Zeit, die diversen Anträge (der Oppositionsfraktionen) wurden im Bundestag mehrheitlich abgelehnt. Den vielfältigen Reformbestrebungen steht inzwischen eine 16-jährige Reformunwilligkeit des Bundesgesetzgebers vor und eine 25-jährige nach der deutschen Einheit gegenüber. Ein Abweichen von dieser Haltung ist nicht in Sicht. Umso mehr verwundert es, dass sich die Reformansätze nicht nur erhalten, sondern auch diversifiziert und erweitert haben. Die Frage nach der Ausweitung des Wahlrechts im Allgemeinen und dem Absenken des Wahlalters im Besonderen ist eine der zentralen Herausforderungen der gegenwärtigen und zukünftigen Wahlrechtsreformdebatte.11 Die Gründe dafür liegen nicht zuletzt in den zahlreichen Mythen, die sich um eine Ausweitung des Wahlrechts auf Minderjährige ranken und unrealistische Erwartungen schüren. Wer die Wirksamkeit wie die Tragfähigkeit der Verhoben ermitteln will, muss die Debatte abseits normativ geprägter Argumentationen einordnen und die Versprechen, die mit einer Reform des Wahlalters lanciert werden, auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Liegt in der Absenkung des Wahlalters tatsächlich eine (verpasste) Möglichkeit zur Reform des Wahlsystems, oder handelt es sich letztlich um eine falsche Lösung in einer wichtigen Debatte? Für die Beantwortung der Leitfrage arbeitet der Beitrag zunächst die Ansatzpunkte, die Ziele und die Ausgestaltung der Reformvorhaben heraus. Welche Varianten existieren? Die Erörterung dient ihrer Unterscheidung, zugleich lassen sich Schnittpunkte, Kontroversen und 9  Bundestagsdrucksache

(Anm. 7), S. 1. 16 / 12344, 18. März 2009, S. 3. 11  Vgl. für eine Überblick Niels Dehmel, Das Bundestagswahlrecht 2013 – zwischen bekannten Problemen und neuen Herausforderungen, in: Eckhard Jesse / Tilman Mayer (Hrsg.), Deutschland herausgefordert, Berlin 2014, S. 103–124, hier: S. 113– 118. 10  Bundestagsdrucksache

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Missstände aufzeigen. Im Anschluss entgegnet der Aufsatz der Mythenbildung um eine Reform des Wahlalters. Besteht eine Notwendigkeit zum Abrücken von der gesetzlichen Regelung? Neben den suggerierten Beweggründen für eine Reform sind dabei die tatsächlichen von den vermeint­ lichen Auswirkungen zu separieren. Schließlich erlauben die Ergebnisse der Angebots- und Nachfrageseite einen Rückschluss auf den Stand und den Fortgang der Debatte um das Wahlalter. Existiert ein Königsweg? II. Wahlrecht mit 16, 14, 12 Jahren oder doch von Geburt an? Die grundlegenden Positionen in der Wahlalterdebatte haben sich zu keiner Zeit gewandelt. Die Bewahrer des Wahlalters und die Befürworter einer Herabsetzung stehen einander diametral gegenüber. Während die erste Gruppe homogen ist, unterteilt sich die zweite inzwischen in zwei differierende Reformansätze: Die einen plädieren für den Erhalt des Mindestwahlalters, verlangen aber, das aktive Wahlalters bei Bundestagwahlen zu senken, die anderen sprechen sich gegen jegliche Altersgrenze aus und fordern ein sogenanntes Wahlrecht von Geburt an.12 Reformbestrebungen, die ein moderates Absenken des aktiven Wahlalters befürworten, sind in ihrem Ansinnen selbsterklärend. Sie unterscheiden sich lediglich in der Höhe des Mindestwahlalters. Während wenige Vorschläge ein Absenken auf 14 oder zwölf Jahre fordern, herrscht beim Großteil Einigkeit, das Wahlalter – angelehnt an die Kommunal- und Landeswahlgesetze in einigen Bundländern – auf 16 Jahre zu verringern.13 Hinter den auch als Kinder-, Eltern- und Familienwahlrecht benannten Reformvorschlägen eines Wahlrechts von Geburt an, nach denen alle deutschen Staatsbürger unabhängig vom Alter am Wahlprozess partizipieren dürfen, verbirgt sich indes eine Vielzahl von Modellen, die sich in den Zielen gleichen, in ihrer Ausgestaltung aber variieren.14 Das originäre Kinderwahlrecht15 verleiht jedem Deutschen ab der Geburt das Wahlrecht zur Selbstausübung. Wahlmündigkeitseinschränkungen existieren nicht. Eine 12  Die Reformansätze beschränken sich auf das aktive Wahlalter, das passive bleibt unverändert. 13  Vgl. Ursula Hoffmann-Lange / Johann de Rijke, 16jährige Wähler – erwachsen genug? Die empirischen Befunde, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 27 (1996) 4, S. 572–585; Christoph Knödler, Wahlrecht für Minderjährige – eine gute Wahl?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 27 (1996) 4, S. 553–571. 14  Vgl. Bettina Westle, „Wahlrecht von Geburt an“ – Rettung der Demokratie oder Irrweg?, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 37 (2006) 1, S. 96–114. 15  Vgl. zu einem „echten Kinderwahlrecht ohne Altersgrenze und ohne Stellvertretung“ Mike Weimann, Wahlrecht für Kinder. Eine Streitschrift, Weinheim u. a. 2002.



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treuhänderische oder stellvertretende Stimmabgabe durch einen elterlichen Vormund ist nicht gestattet. Wie Kleinkinder ihr Stimmrecht wahrnehmen sollen, lässt die Variante offen. Das originäre Elternwahlrecht16 begegnet diesem Missstand, indem die Eltern für jedes Kind eine zusätzliche Stimme erhalten, die sie bei der Wahl stellvertretend für das Kind abgeben.17 Eine Wahlmündigkeit, wie sie im geltenden Wahlrecht vorkommt, existiert somit auch beim originären Elternwahlrecht. Erst nach dem Erreichen eines Mindestwahlalters dürfen Minderjährige ihr Wahlrecht höchstpersönlich ausüben. Zuvor sind sie praktisch nicht wahlberechtigt. Das derivative Elternwahlrecht gleicht in der Ausgestaltung dem originären, verbindet es aber mit dem Gedanken des originären Kinderwahlrechts. Die Kinder sind von Geburt an wahlberechtigt und die Stimmabgabe ist bis zum Erreichen einer Wahlmündigkeitsschwelle auf die Eltern übereignet. Sie füllen den Stimmzettel jedoch „nur“ treuhänderisch im Namen ihrer Kinder aus. In dieser Kombination ist das derivative Stimmrecht den anderen Varianten des Familienwahlrechts inhaltlich, vor allem aber verfassungsrechtlich vorzuziehen.18 Während die Ausübung des Wahlrechts im Kleinkindalter an der Handhabbarkeit scheitert, läuft das originäre Elternwahlrecht verfassungsrechtlichen Grundsätzen zuwider. Es verstößt gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit im Allgemeinen, im Besonderen gegen das Postulat der Zählwertgleichheit jeder Stimme.19 Welcher Intention die Stimmabgabe der Eltern folgt, ist für die Rechtmäßigkeit der Reform irrelevant. Durch die Stimmen ihrer Kinder obliegt ihnen ein erhöhtes Stimmgewicht bei der Wahl, was de facto einem Pluralstimmrecht entspricht und demokratietheoretischen wie verfassungsrechtlichen Geboten entgegensteht. Die Höchstpersönlichkeit der Wahl ist nicht gewährleistet, der Widerspruch zu den Wahlgrundsätzen offenkundig.20 16  Vgl. Lore Maria Peschel-Gutzeit, Das Wahlrecht von Geburt an: Ein Plädoyer für den Erhalt unserer Demokratie, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 30 (1999) 2, S. 556–563; C.  Knödler (Anm. 13), S. 569 f. 17  Die Form der „Extra-Stimmen“ variiert: Einige Vorschläge gehen von einer Stimme pro Kind aus, die ein Elternteil stellvertretend abgibt, andere halten eine halbe Stimme pro Elternteil für angemessen. 18  Vgl. konkret Franz Reimer, Nachhaltigkeit durch Wahlrecht? Verfassungsrechtliche Möglichkeiten und Grenzen eines „Wahlrechts von Geburt an“, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 35 (2004) 2, S. 322–339. 19  Vgl. Hermann Heußner, Dürfen Eltern für ihre Kinder wählen? Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit eines elterlichen Stellvertreterwahlrechts, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Hrsg.), Wahlrecht ohne Altersgrenze? Verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und entwicklungspsychologische Aspekte, München 2008, S. 227–254, hier: S. 229. 20  Siehe zur Abwägung der Höchstpersönlichkeit und zur gegensätzlichen Posi­ tion Siegfried Willutzki, Innenausschussdrucksache 15(4)172 D-neu.

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Das derivative Elternwahlrecht verbleibt als einzig geeignete Variante des Wahlrechts von Geburt an, wobei es ein Dasein in der rechtlichen Grauzone fristet. Wie im originären Elternwahlrecht tätigen die Eltern eine mehrfache Stimmabgabe, allerdings übernehmen sie nicht die Stimmen von ihren Kindern, sondern wählen treuhänderisch für ihre Kinder. Mutet der Unterschied wie Wortklauberei an, hat er einen juristischen Hintergrund. Obliegt den Eltern beim originären Elternwahlrecht die Inhaberschaft und die Vollzugsgewalt des Wahlrechts, verfügen sie bei der derivativen Form nur über die letztgenannte. Die Wahlrechtsinhaberschaft liegt von Geburt an beim Kind; jedes Elternteil besitzt weiterhin nur die eigene Stimme. Das schließt ein Pluralwahlrecht de jure aus. Allerdings erweist sich dieser Konnex als sehr vage: „Soweit es um Stellvertretermodelle geht, besteht möglicherweise ein Konflikt mit dem Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl, der aber aufgelöst werden kann.“21 In dieser Unbestimmtheit liegt das Problem beim Wahlrecht von Geburt an. So erstrebenswert das Ideal einer wirklich allgemeinen Wahl in der Theorie ist, so wenig überzeugend ist die Beweisführung, die eine Verfassungsmäßigkeit der Regelungen vorgibt.22 Ein Grundsatzurteil fehlt. Es bedarf einer abschließenden rechtlichen Klärung der Problematik. Andernfalls verbleibt die Einordnung der Reform der Interpretation, ihre Verfassungsmäßigkeit der (unnötigen) Spekulation.23 So unterschiedlich die Herangehensweisen von einer Reform mit Wahlmündigkeitsgrenze und einer ohne sind, so gleichen sie sich doch in ihren Zielen. Beide Ansätze wollen die Interessen der nachfolgenden Generationen in Zeiten des demographischen Wandels stärken und die Jugend besser in den politischen Prozess integrieren.24 Auch sehen sie sich den gleichen Hürden gegenüber: Um das aktive Wahlalter bei Bundestagswahlen zu reformieren, ist Artikel 38 Abs. 2 GG neu zu verfassen, was eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordneten erfordert. Die korrespondierenden Passagen im Bundeswahlgesetz ließen sich hingegen mit einfacher Mehrheit realisieren. Dennoch sind die Änderungen bei einem Elternwahlrecht ungleich 21  Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags vom 26. August 1993, zit. nach: Hans Hattenhauer, Über das Minderjährigenwahlrecht, in: Christian Palentien / Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Jugend und Politik. Ein Handbuch für Forschung, Lehre und Praxis, Neuwied u. a. 1997, S. 238–259, hier: S. 248 f. 22  Vgl. kritisch Wolfgang Schreiber, BWahlG. Bundeswahlgesetz. Kommentar, 9., vollst. neubearb. Aufl., Köln 2013, S. 337. 23  Vgl. Hanna Quintern, Das Familienwahlrecht. Ein Beitrag zur verfassungsrechtlichen Diskussion, Berlin 2010; Wolfgang Schreiber, Wahlrecht von Geburt an – Ende der Diskussion?, in: Deutsches Verwaltungsblatt, 120 (2004) 21, S. 1341– 1348. 24  Vgl. stellvertretend Klaus Hurrelmann, Für eine Herabsetzung des Wahlalters, in: C.  Palentien / ders. (Anm. 21), S. 280–289; Wolfgang Gründinger, Wer wählt, der zählt, in: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Anm. 19), S. 22–52.



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umfangreicher, weil die Stellvertretung neu ins Bundeswahlgesetz einzufügen wäre. Darüber hinaus besteht wenig Einigkeit zwischen den Ansätzen. Vielmehr beansprucht jeder die Deutungshoheit in der Debatte um ein angemessenes Wahlalter für sich. Wo die Befürworter eines Kinderwahlrechts anführen, die deutsche Verfassung und das Bundeswahlgesetz kämen dem Prinzip one man – one vote nicht hinreichend nach, weil sie einem signifikanten Teil der Bevölkerung das Wahlrecht verwehren, leiten die Befürworter eines Mindestwahlalters aus eben jenem Prinzip die Rechtfertigung für ein Ausbleiben der Reform ab, weil die stellvertretende Stimmabgabe durch die Eltern diesem Gedanken zuwiderliefe.25 Oder anders formuliert: „Die Anhänger des ‚Familienwahlrechts‘ heben auf das Prinzip der allgemeinen Wahl ab, die Gegner auf das der gleichen Wahl.“26 Nicht nur zwischen Befürwortern und Gegnern eines niedrigeren Wahlalters herrscht damit Dissens, sondern auch zwischen den Reformalternativen. Das ist kurios: Um ihre Thesen zu vertreten, greifen alle Bestrebungen auf ähnliche Argumente zurück und sehen sich ähnlichen Kritikpunkten gegenüber. Dennoch lehnen beide Seiten die andere Lösung als unzureichend ab. Diese gegenläufigen Argumente verkörpern das generelle Problem der Wahlalterdebatte: Die Diskussion um eine Senkung des Wahlalters ist – egal in welcher Gestalt und unabhängig von verfassungsrechtlichen Belangen – eine Diskussion idealtypischer Gegensätze und erstarrter Positionen. III. Wahre Mythen in der Wahlalterdebatte? 1. Mythos 1: Die Beschränkung des Wahlalters verstößt gegen Verfassungsgrundsätze

Die Existenz eines Mindestwahlalters scheint den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl in Art. 38 Abs. 1 GG sowie dem durch die sogenannte Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Demokratieprinzip und dem Prinzip der Volkssouveränität in Art. 20 GG zu widerstreben, wonach dem gesamten deutschen Staatsvolk grundsätzlich dieselben unantastbaren Grundrechte zustehen.27 Einschränkungen und Abweichungen seien nur aus den „zwingenden Gründen“ der ständigen Rechtspre25  Vgl. zu den gegensätzlichen Positionen exemplarisch: Lore Maria PeschelGutzeit, Innenausschussdrucksache 15(4)172 A; Eckhard Jesse, Innenausschussdrucksache 15(4)172 B. 26  E. Jesse (Anm. 25), S. 2. 27  Vgl. zur demokratietheoretischen Bedeutung wirklich allgemeiner Wahlen: Kurt Peter Merk, Wahlrecht ohne Altersgrenze?, in: C.  Palentien / K.  Hurrelmann

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chung erlaubt. Diese sehen die Gegner einer Altersgrenze insbesondere beim Grundsatz der Allgemeinheit nicht gegeben. Er untersagt den „unberechtigten Ausschluss von Staatsbürgern von der Wahl […] und fordert, dass grundsätzlich jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise soll ausüben können“28. Zudem sei es unzulässig, das Wahlrecht durch „nicht von jedermann erfüllbare Voraussetzungen“29 einzuschränken. Wer diesen Postulaten folgt, muss in der Tat einen schwer zu rechtfertigenden Widerspruch in der Existenz eines Mindestwahlalters erkennen.30 Allerdings argumentiert er dann einseitig und verkennt die verfassungsrechtliche Tradition, nach welcher der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl ausdrücklich „von jeher aus (eben jenen) zwingenden Gründen“31 begrenzt sein darf. Überdies ist dieser Sachverhalt in ständiger Rechtsprechung „historisch erhärtet“ und verfassungskonform.32 Der Verweis auf vergangene Reformen des Wahlalters, die eine historische Erhärtung widerlegen, vertauscht die Tatsachen ebenso wie der Verweis, es habe zu allen Zeiten Forderungen nach einer Ausdehnung des allgemeinen Wahlrechts gegeben, denen die Opponenten entgegenhielten, sie seien verfassungswidrig – bis zu ihrer Umsetzung.33 Ein geringfügiges Anpassen der Vorschriften ist nicht mit einem Abrücken von verfassungsrechtlich verbrieften Prinzipien gleichzusetzen. Das Mindestwahlalter hatte trotz seiner Reform permanent Bestand. Dieser Interpretation folgte der Gesetzgeber, indem er nicht nur alternative Gesetzesvorstöße ablehnte, sondern auch Wahlprüfungsbeschwerden34, die den Ausschluss eines Großteils der Bevölkerung von der Wahl durch das Mindestalter anprangerten, als unzulässig oder als unbegründet abwies. Das Bundesverfassungsgericht vertrat eine ähnliche Auffassung und urteilte bei der Ablehnung von Verfassungsbeschwerden wiederholt, die Allgemeinheit (Anm. 21), S. 260–279; Winfried Steffani, Wahlrecht von Geburt an als Demokratiegebot!, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 30 (1999) 2, S. 563–567. 28  BVerfG, 2 BvC 2 / 81, 7. Oktober 1981. 29  Ebd. 30  Vgl. L. M. Peschel-Gutzeit (Anm. 16). 31  Zuletzt BVerfG, 2 BvC 1, 2 / 11, 4. Juli 2012. 32  Vgl. bereits früh BVerfG, 2 BvC 3 / 73, 23. Oktober 1973, Abs. 12. 33  So wirkt es konstruiert, mit dem Argument der Einführung des Frauenwahlrechts die historische Tradition zu diskreditieren, und die Unzulässigkeit eines Mindestwahlalters aus der Unzulässigkeit eines Höchstwahlalters im Wahlrecht abzuleiten. Der Vorwurf einer Inkonsistenz verfängt nicht. Vgl. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, Zur Bedeutung der „Urteilsfähigkeit“ für die Festsetzung des Wahlalters. WF III – 132 / 95, Bonn 1995, S. 14 f. 34  Vgl. für die Abweisung der aktuellen Wahleinsprüche exemplarisch: Bundestagsdrucksache 18 / 1160, 6. Mai 2014, WP 6 / 13 und WP 179 / 13.



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der Wahl sei nicht „in voller Reinheit“35 zu verwirklichen. Kurzum: Das Wahlrecht in Deutschland war fortwährend Einschränkungen unterzogen, die in ständiger Rechtsprechung mit dem Grundgesetz vereinbar waren. Derselbe Status fiel den verschiedenen Formen eines Kinderwahlrechts nie zu. Im Gegenteil: „Ein durch die Eltern ausgeübtes Stellvertreter-Wahlrecht [galt seit jeher] ohne die Verletzung elementarer demokratischer Rechte nicht [als] umsetzbar.“36 Anderslautende Behauptungen sind „Visionen“.37 Wer die Zulässigkeit einer Altersgrenze abschließend klären will, darf die enge Bindung an das Volljährigkeitsalter nicht vernachlässigen. Sie ist historisch erhärtet, besteht für das aktive und das passive Wahlalter und ist für das letztgenannte expressis verbis im Verfassungstext enthalten. In dieser Form dient sie als Orientierungspunkt und Rechtfertigung für das Einschränken der Verfassungsgrundsätze bei der Wahlmündigkeit. Der Einwand, eine Kopplung des Wahlalters an die Volljährigkeit sei nicht notwendig,38 da sie bereits von 1970 – als nur das aktive Wahlalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt wurde – bis Anfang 1975 voneinander abwichen, bleibt ein Scheinargument, weil die Befürworter einer Wahlaltersenkung aus der vierjährigen Ungleichheit beider Maßstäbe eine Rechtfertigung für ein zukünftiges Abweichen schlussfolgern, aber ihre 60-jährige Gleichheit ignorieren, die mittlerweile seit 40 Jahren unverändert besteht. Hingegen gibt es abweichende Bestimmungen in den Bundesländern bei Landtags- und Kommunalwahlen.39 Ein Konnex zwischen dem aktiven Wahlalter und der Volljährigkeit ist mithin keineswegs zwingend notwendig oder verfassungsrechtlich erforderlich. Folglich gilt dieser Umstand als Begründung für ein Absenken des Wahlalters. Wo die Rechtsprechung beim Wahlrecht von Geburt an klar scheint, dient sie nicht als Beleg für ein 35  BVerfG (Anm. 28), Abs. 24. Das Anfechten der Rechtmäßigkeit der Regelung geschah in unterschiedlicher Form und in vielfältiger Weise. Vgl. exemplarisch BVerfG, 2 BvC 4 / 04, 15. Januar 2009, Abs. 20; zuerst: BVerfG, 2 BvR 1917 / 95, 8. Januar 1996. Zur knappen Nachzeichnung des juristischen Wegs siehe Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, Wahlrecht ohne Altersgrenze. Demokratietheoretische, jugendsoziologische und politische Hintergründe einer überfälligen Reform, Stuttgart 2013, S. 17 f. 36  Bundestagsdrucksache (Anm. 10), S. 3. 37  Vgl. das Einleitungskapitel „Eine Vision“ bei Ingo Richter, Familienwahlrecht, in: Jörg Althammer (Hrsg.), Familienpolitik und soziale Sicherung. Festschrift Für Heinz Lampert, Berlin u. a. 2005, S. 101–117, hier: S. 101. 38  Vgl. S. Willutzki (Anm. 20), S. 5; L. M. Peschel-Gutzeit (Anm. 25), S. 4  f.; W. Gründinger (Anm. 24), S. 35. 39  Mittlerweile sind Wähler bei Kommunalwahlen in neun Bundesländern ab 16 Jahren wahlberechtigt, vier Bundesländer (Brandenburg, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein) haben bei landesweiten Wahlen das aktive Wahlalter von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt.

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Junktim zwischen der Volljährigkeit und dem Wahlalter. In der Tat gibt es keine „objektiv messbare ‚Reife zur Wahl‘“40. Eine „individuelle Prüfung der politischen Einsichtsfähigkeit als Voraussetzung für die Wahlberechtigung“ ist unmöglich – „das kann kein noch so ausgeklügeltes Wahlrecht leisten“.41 Zum einen ist die als notwendig erachtete Einsichts- und Urteilsfähigkeit nicht per jure definiert, in keinem Fall eindeutig und schon gar nicht allgemein bestimmbar, zum anderen sind signifikante Fortschritte nicht automatisch mit dem Überschreiten einer bestimmten Altersgrenze erreicht. Zu diesem Schluss kamen bereits die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages 1995: Es „fehlt […] an fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen, um den Begriff der politischen Urteilsfähigkeit […] zu definieren“42. Diese Aussage hat unverändert Bestand. Das kalendarische Alter ist kein hinreichender Maßstab für die politische Urteilskraft der Wähler, wie umgekehrt die „Wahlreifebeurteilung“ kein Argument für die Erteilung des Wahlrechts sein darf.43 Es ist jedoch ein Trugschluss, anhand dieses Befundes theoretisch jede Altersgrenze anzuzweifeln und aus der Unbestimmtheit der politischen Urteilskraft die Ungültigkeit eines Mindestwahlalters sowie die Rechtmäßigkeit eines Wahlrechts ab der Geburt herzuleiten. Vielmehr verlangt gerade dieser Sachverhalt nach einer „generalisierend abstrakte(n) Feststellung der politischen Einsichtsfähigkeit“44 und damit der Wahlrechtsfähigkeit. Dem Benennen einer angemessenen Altersschwelle, die sich an einem objektiv greifbaren Maßstab ausrichtet, der für alle geleichermaßen gilt, kommt entscheidendes Gewicht zu. Die Normen des Straf- und Zivilrechts eignen sich jedoch ebenso wenig zur Orientierung wie die Rechtsfähigkeit.45 Zu verschieden sind die Regelungen, zu sehr differiert ihre Ausgestaltung und Auslegung. Sowohl Befürworter als auch Gegner deuten sie für ihre Zwecke um. Zu Recht wurde einer Verbindung zwischen dem Wahlrecht und der Rechtsordnung früh die Gültigkeit abgesprochen.46 Das Wahlrecht an diesen Aspekten auszurichten, ist willkürlich und inkonsistent. Die Volljährigkeit eignet sich indes als Maßstab, wie ein Blick auf das Ausland bestätigt, wo das Wahlalter analog zur Volljährigkeit in der Regel bei 18 Jahren liegt.47 40  Bundestagsdrucksache

(Anm. 10), S. 3. S. Willutzki (Anm. 20), S. 5. 42  Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags (Anm. 33), S. 4. 43  Vgl. ebd., S. 8; kritischer: Stephan Eisel, Klarheit statt Willkür. Das Wahlalter gehört zur Volljährigkeit, in: DJI Impulse, (2013) 3, S. 16 f., hier: S. 16. 44  Siehe S. Willutzki (Anm. 20), S. 5. 45  Vgl. Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Anm. 35), S. 12 f. 46  Vgl. E.  Jesse (Anm. 2), S. 328–332. 47  Vgl. zu den einzelnen Ländern: The World Factbook, unter: www.cia.gov /  library / publications / the-world-factbook /  (17. April 2015). 41  Siehe



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Sie ist rechtlich definiert und lässt eine verschiedenartige Auslegung nicht zu. Entgegen aller Vorbehalte stellt sie jene zentrale Bezugsgröße dar, welcher das Wahlrecht als wichtigstes demokratisches Beteiligungsrecht bedarf. Die Befürworter einer Senkung – gleich welcher Gestalt – lassen diese vermissen. 2. Mythos 2: Der demographische Wandel verlangt nach einer Ausweitung des Wahlalters

Eng mit der Debatte um die Rechtmäßigkeit einer Reform des Wahlalters ist die Frage nach ihrer Notwendigkeit verbunden. Insbesondere die veränderten demographischen Voraussetzungen werden dabei wiederholt als Begründung für ein niedrigeres Wahlalter angeführt.48 In der Tat ist die Bevölkerung gealtert – die älteren Bevölkerungsschichten dominieren, die jüngeren Kohorten sind verhältnismäßig zurückgegangen.49 Eine noch stärkere Verschiebung hin zu den „Älteren“ im Rahmen des demographischen Wandels gilt für die kommenden Jahre als sicher.50 So zielt die Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes zwar nicht auf die Wahlbevölkerung, liefert aber klare Hinweise durch eine Einteilung der Altersstruktur in „unter 20 Jahre“, „20 bis unter 60 Jahre“ und „60 Jahre und älter“. Reduzierte sich der Anteil der unter 20-Jährigen von 30,0 Prozent im Jahr 1970 auf 21,7 Prozent im Jahr 1990 und 18,2 Prozent Ende des Jahres 2012, setzt sich diese Tendenz bis 2060 fort. Bereits 2020 sind nur noch 17 Prozent der Bevölkerung 19 Jahre oder jünger, 2060 dürften es gerade einmal 15 bis 16 Prozent sein. Parallel dazu erhöht sich der Anteil der Alterskohorten ab 60. Betrug ihr Wert 1970 nur 20,0 Prozent und 2012 schon 26,9 Prozent, prognostiziert die Bevölkerungsvorausberechnung für das Jahr 2060 39 Prozent über 60-Jährige. Neben der Abnahme der jüngeren Bevölkerungsschichten im Zusammenhang mit dem erwarteten Rückgang der Gesamtbevölkerung verschiebt sich demnach auch die Altersstruktur signifikant. Die Existenz eines Mindest­ alters bei der Wahlbevölkerung verstärkt dieses Missverhältnis. So sinkt analog zum Anteil der jungen Alterskohorten auch der Anteil der nichtwahl48  Vgl. die Auflistung bei Winfried Steffani, Das Magische Dreieck demokratischer Repräsentation: Volk, Wähler, Abgeordnete, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 30 (1999) 3, S. 772–793, hier: S. 789, Fn. 26. 49  Vgl. für ältere Ergebnisse: Bundestagsdrucksache 14 / 8800, 28. März 2002. 50  Die eigenen Berechnungen hier und im Folgenden nach: Statistisches Bundesamt, Lange Reihen: Bevölkerung nach Altersgruppen, 10. April 2014, unter: www. destatis.de / DE / ZahlenFakten / GesellschaftStaat / Bevoelkerung / Bevoelkerungsstand /  Tabellen_ / lrbev01.html (10. Juli 2014); ders., Bevölkerung Deutschlands bis 2060. Ergebnisse der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2009.

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berechtigten Bevölkerung. Betrug er bei der Bundestagswahl 1969 noch 36,8 Prozent der Gesamtbevölkerung, lag er 2013 nur bei 23,7 Prozent.51 Während 2013 etwa jedem Vierten aufgrund seines Alters das Wahlrecht verwehrt blieb, erfuhr 1969 mehr als jeder Dritte dieses Schicksal. Gewiss beziehen alle Werte auch jene Bevölkerungsteile mit ein, die nicht (nur) wegen ihres Alters vom Wahlrecht ausgeschlossen sind. Dennoch liefern sie einen Rückschluss über die quantitative Relevanz eines niedrigeren Wahlalters. Die Gruppe der potenziellen Jungwähler avanciert zu einer Art Quantité négligeable. Befürworter einer Absenkung des Wahlalters könnten aus der zunehmenden Unterrepräsentation der jungen Bevölkerungsschichten im Vergleich zu der älteren Wahlbevölkerung eine verstärkte Notwendigkeit zur politischen Mitbestimmung ableiten. Gemäß der Argumentationslinie: Da die Minderjährigen einen immer geringeren Teil der Bevölkerung bilden, sei es umso wichtiger, sie durch eine Ausweitung der Rechte zu stärken, weil mit der sinkenden gesamtgesellschaftlichen Relevanz auch ihre gruppenspezifischen Themenfelder weniger gewürdigt würden. Allerdings missachten sie dadurch einen Widerspruch, welcher der Wahlalterdebatte inhärent ist. Selbst wenn es zu einer Absenkung kommt, haben die „Älteren“ eine unverändert hohe politische Blockademöglichkeit gegenüber den Interessen der „Jüngeren“ – zwar nicht um ihren grundsätzlichen Einfluss zu unterbinden, wohl aber um daraus resultierende Veränderungen zu verhindern. Das gilt insbesondere beim moderaten Herabsetzen des Wahlalters auf 16 Jahre. So machten die 16- und 17-Jährigen potenziellen Wähler Ende des Jahres 2012 1,97 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Im Jahr 1970 lag der Anteil der Altersstufen von 18 bis 20, die von der Wahlaltersenkung profitierten, bei 3,99 Prozent. Ein Wiederanstieg ist nicht wahrscheinlich. Im Gegenteil: Die Gruppe der 16- bis 17-Jährigen schrumpft voraussichtlich bis auf 1,6 Prozent im Jahr 2060.52 Die Ausweitung der Wahlberechtigten um zwei Jahrgänge verringert zwar die Zahl der von der Wahl ausgeschlossenen Bevölkerung und kommt dem Anspruch wirklich allgemeiner Wahlen besser nach, bezogen auf die Wahlberechtigten sind die Effekte aber marginal. Wer daraus auf die Notwendigkeit einer fortwährenden Absenkung des Wahlalters schließt, missachtet die demographischen Tatsachen. Selbst das Einbeziehen der 14- bis 15-Jährigen oder ein Wahlalter ab dem zwölften Lebensjahr wirken sich kaum merklich aus. Der quantitative Ertrag einer moderaten Herabsetzung des Wahlalters ist praktisch nicht existent. 51  Vgl. Der Bundeswahlleiter, Ergebnisse früherer Bundestagswahlen, Stand: 5. Juni 2014, Wiesbaden 2014, S. 6 f. 52  Vgl. Statistisches Bundesamt (Anm. 50).



Wahlrecht für Minderjährige in der politischen Debatte

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Nur der Wegfall jeglichen Mindestwahlalters erhöht die Zahl der Wahlberechtigten signifikant. Die Reform betrifft rund 16 Prozent der Gesamtbevölkerung und verschiebt die Zusammensetzung der Wahlberechtigten stärker zu Gunsten der jüngeren Bevölkerungsschichten. Das Übergewicht der älteren Wählerkohorten unterbindet aber auch ein Wahlrecht von Geburt an nicht, zumal sich der Rückgang der minderjährigen Bevölkerung bis 2060 (auf 14 Prozent) fortsetzt.53 Mit dem Wegfall der Altersgrenze geht einzig die Hoffnung auf einen besseren politischen Einfluss infolge der gestiegenen Bedeutung für das Wahlergebnis einher. Der tatsächliche Effekt auf das Wahlverhalten obliegt wie die finalen qualitativen Auswirkungen auch bei einem Kinderwahlrecht der Spekulation. Dennoch: Eine Wahlaltersenkung – gleich welcher Art – hätte heute einen weitaus geringeren Einfluss auf die Zusammensetzung der Wahlbevölkerung als früher. 3. Mythos 3: Eine Absenkung des Wahlalters steigert die Partizipation

Die Ansichten zu den Wirkungen einer Ausweitung des Wahlalters korrelieren stark mit jenen über die Notwendigkeit. Behauptungen, wonach ein moderates Herabsetzen das Problem einer hohen Zahl an Nichtwählern „entschärfen“54 könne, weil das frühzeitige Heranführen der Jugendlichen an die Wahl ihre Partizipationsbereitschaft fördere, verfangen in der Praxis nicht. Wobei die Erfahrungen mit einem niedrigeren Wahlalter vordergründig ein anderes Bild zeichnen. So zählt die Beteiligungsrate der minderjährigen Erstwähler bei den Kommunal- und Landtagswahlen zumeist nicht zu den niedrigsten. Oft übersteigt sie jene der Zweitwähler deutlich und liegt auch vor anderen Alterskohorten.55 Die Gründe sind vor allem in der So­ zialisation, der engen Bindung der Jugendlichen an das Elternhaus und den intensiven Wahlkampagnen in den Schulen zu suchen. Angesichts der Ergebnisse wird kaum ein Politiker oder Wissenschaftler ernsthaft potenziellen Jungwählern das Interesse an sowie die Reife und die Vernunft zu politischen Entscheidungen absprechen und eine stärkere politische Partizipation Jugendlicher verweigern. Dennoch täuscht die gesonderte Betrachtung der Ergebnisse. Trotz der relativ höheren Werte liegt die Beteiligungsquote der 16- und 17-Jährigen 53  Vgl.

ebd. Meyer, Einige Bemerkungen zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres des Landtages Brandenburg am 31. März 2011, Berlin, 14. März 2011, S. 2. 55  Vgl. für detaillierte Ergebnisse die repräsentativen Wahlstatistiken der Statistischen Landesämter Bremen und Brandenburg. 54  Hans

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beständig unter dem Schnitt der Gesamtwählerschaft.56 Während die absolute Zahl der abgegebenen Stimmen wohl infolge der Ausweitung des Wahlalters steigt, ist nicht von einer höheren Wahlbeteiligung auszugehen. Vielmehr verringern die Minderjährigen den Beteiligungswert, oder sie verändern ihn aufgrund ihrer vernachlässigbaren Größe überhaupt nicht. Auch das Wahlergebnis bliebe von den wenigen zusätzlichen Stimmen nahezu unbeeinflusst. Das ist Vor- und Nachteil zugleich: Einerseits sind keine verzerrten Mehrheitsverhältnisse zu erwarten, andererseits hätten die jugendlichen Wähler keine wirkliche Chance, einer politischen Kraft zur parlamentarischen Repräsentation zu verhelfen, die gezielt ihre Interessen vertritt. Selbst wenn alle 16- und 17-Jährigen ihre Stimmen auf eine Partei konzentrieren würden, genügt dieser Prozentsatz nicht für das Überschreiten der Fünf-Prozent-Hürde.57 Diese geringe Erfolgsaussicht dürfte die Partizipationsbereitschaft kaum anregen. Obwohl sich der politische Gestaltungsspielraum der Jugendlichen theoretisch vergrößert, sind die Auswirkungen marginal. Eine Herabsetzung des Wahlalters garantiert weder eine stärkere Integration der jungen Wählerschaft in den politischen Prozess noch einen Wandel bei der politischen Themensetzung. „Die Masse der Wähler befände sich auch nach einer Wahlalter-Senkung noch immer im älteren Teil der Bevölkerung.“58 Erkennbare Auswirkungen auf das Wahlergebnis blieben nahezu aus. Zum einen ist das Wahlverhalten der Jungwähler für die Parteien zu unstet und nur schwer prognostizierbar, zum anderen sind parteipolitische Reaktionen oder ein Anpassen an die minderjährige Wählerklientel aufgrund ihres geringen Anteils an der deutschen Wahlbevölkerung aus rationaler Perspektive unwahrscheinlich. Vielmehr ist ein Verharren im Status quo oder mit Blick auf den demographischen Wandel und den wachsenden Anteil der älteren Kohorten sogar ein Status quo minus für die Belange der Minderjährigen wahrscheinlich. Nicht zuletzt ist ein niedrigeres Wahlalter von der Mehrheit der betroffenen Altersschichten nicht gewollt. Die Ergebnisse der Shell-Jugendstudien sind eindeutig: Seit 2002 hielten stets mehr Befragte eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre für „keine gute Idee“ als für eine „gute Idee“.59 56  In der Stadt Bremen – für Bremerhaven liegen keine Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik vor – nahmen 53,5 Prozent der Jungwähler ihr Wahlrecht wahr, der Gesamtschnitt lag bei 57,0 Prozent. In Brandenburg 2014 betrug des Verhältnis 41,5 zu 48,5 Prozent. 57  In der Stadt Bremen waren 1,97 Prozent der Wahlberechtigten 16 oder 17 Jahre, in Brandenburg 1,67 Prozent. 58  Deutschland & Europa (Anm. 8), S. 64. 59  Vgl. die Daten der Shell-Jugendstudie(n), hier nach: Deutschland & Europa, Wahlalter 16? „Nichts ist aktivierender als die Aktivität selbst“. D&E-Interview mit



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Dabei herrscht Einigkeit zwischen den Probanden „unter 18“ und „ab 18“, wobei die Ablehnung bei den Volljährigen stärker ist als bei den Minderjährigen. Dennoch: Nur 30 Prozent der Minderjährigen befürworteten 2010 ein niedrigeres Wahlalter, 45 Prozent lehnten es ab. Die „Jugend, Politik und Medien“-Studie60 aus dem Jahr 2012 bestätigte diese Befunde: In den Altersgruppen von 15 bis 18 Jahren gab es eine Mehrheit für das Wahlrecht ab 18. Dieser Anteil stieg mit zunehmendem Wahlalter. Bei den 16-Jährigen befürwortete sogar eine absolute Mehrheit (51,4 Prozent) die bisherige Altersgrenze. Es besteht folglich die Gefahr, mit einer Wahlaltersenkung etwas einzuführen, „was die Mehrheit der Betroffenen gar nicht will“61. IV. Wahlrecht durch Eintragung als Königsweg? Lassen sich die Beweggründe für eine Reform des Wahlalters in den meisten Punkten widerlegen, ist insbesondere die zunehmende Unterrepräsentation der jungen Wähler- und Bevölkerungsschichten nicht von der Hand zu weisen. Die klassischen Reformmöglichkeiten begegnen diesen Missständen nicht oder einseitig. Der Gedanke liegt nahe, die Ansätze zu vereinen. Ein Kompromiss zwischen „wirklich allgemeinen“ Wahlen und einem festgelegten Mindestwahlalter liegt im sogenannten Wahlrecht durch Eintragung.62 Der Ansatz sieht die elterliche Stellvertretung vor, bis die Minderjährigen ab einem selbst gewählten Zeitpunkt auf Initiative das Wahlrecht erlangen können, indem sie sich höchstpersönlich in das Wählerregister eintragen lassen. Es besteht also theoretisch ein Wahlrecht von Geburt an, welches nicht von Geburt an praktizierbar ist. Während der Vorschlag damit ein festes Mindestwahlalter ebenso zu umgehen versucht wie ein Pluralstimmrecht, mangelt es ihm an Klarheit. Weder ist ersichtlich, ob die Kinder tatsächlich höchstpersönlich entscheiden, ihr Wahlrecht wahrzunehmen, noch in welchem Umfang die Minderjährigen von der Möglichkeit der Eintragung Gebrauch machen. Zwar untersagt der Lösungsansatz die Briefwahl bis zum vollendeten 16. Lebensjahr, „damit Prof. Dr. Klaus Hurrelmann zum „Wahlrecht mit 16“, in: Deutschland & Europa, (2013) 65, S. 54–57, hier: S. 55. 60  Vgl. Jens Tenscher / Philipp Scherer, Jugend, Politik und Medien. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen von Jugendlichen in Rheinland-Pfalz, Münster 2012, S. 177. 61  Deutschland & Europa (Anm. 8), S. 61. 62  Als Oberkategorie dient zumeist die Bezeichnung Kombinations- oder Mischmodell. Vgl. W. Gründinger (Anm. 24), S. 29–31. Siehe auch: Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen, Positionspapier der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen: Rechte von Kindern und Jugendlichen und das Wahlrecht ohne Altersgrenze, in: dies. (Anm. 19), S. 357–372, hier: S. 361 f.

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das Kind die größtmögliche Chance hat, unbeeinflusst von den Eltern seine Stimme abzugeben“63. Die Höchstpersönlichkeit gewährt er dadurch jedoch nur in der Theorie, womit die Auswirkungen des Wahlrechts durch Eintragung im Ungewissen liegen. Die Zahl der „eingetragenen minderjährigen Wähler“ dürfte überschaubar bleiben, ihr Anteil im unteren einstelligen Prozentbereich verweilen. Der quantitative Effekt als Argument für eine Einführung ist verwirkt. Wo die „traditionellen“ Reformansätze zu restriktiv argumentieren, bleibt das fakultative Wahlrecht zu offen. Es wirkt wie der (verzweifelte) Versuch, eine Regelung zu kreieren, welche die demokratietheoretischen und verfassungsrechtlichen Klippen einer Reform des Wahlalters zu umschiffen versucht und dabei die wenigen positiven Aspekte aufgreift, ohne tatsächlich Neues zu schaffen. Dass mit dem selbstbestimmten Minderjährigenwahlrecht die von Mythen geprägte Auseinandersetzung um ein niedrigeres Wahlalter ein Ende fände, wäre daher wohl ein weiterer Mythos in der Grundsatzdebatte. V. Das Ende der Wahlalterdebatte? Die Mythen sind widerlegt, die Reformansätze blieben ihre Tauglichkeit schuldig, die Ergebnisse der Analyse zeichnen ein klares Bild. Weder widerstrebt die Beschränkung des Wahlalters den Verfassungsgrundsätzen, noch erwächst aus der Allgemeinheit der Wahl eine Verpflichtung, das Mindestwahlalter abzuschaffen. Ebenso wenig sind die aufgrund ihres Alters ausgeschlossenen Wählerschichten in unverhältnismäßigem Maße benachteiligt. Vielmehr unterschreitet ihr Anteil jenen der früheren Jahre deutlich. Der demographische Wandel scheidet als Rechtfertigung für ein Absenken aus. Die Notwendigkeit für eine Reform des Wahlalters ist aus diesen Fakten nicht ersichtlich. Eine Begründung für die Ausweitung ließe sich einzig aus der Marginalität der jungen Bevölkerungsschichten herleiten, die angesichts des demographischen Wandels zunehmend unterrepräsentiert sind. Ist diesem Argument ein Wahrheitsgehalt nicht abzusprechen, steht es zugleich der Problemlösungsfähigkeit möglicher Reformen entgegen. Eine Herabsetzung des Wahlalters mindert zwar die Missstände, es behebt sie aber in keinem Fall. Während das Wahlalter ab 16 in die Wahlgesetze vieler Kommunen und weniger Länder Eingang gefunden hat, blieb es seine Wirksamkeit – respektive eine Problemlösung – schuldig. Der geringe Anteil der potenziellen 16- und 17-jährigen Wähler macht eine Einführung gerade 63  Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (Anm. 19), S. 357–372, hier: S. 361.



Wahlrecht für Minderjährige in der politischen Debatte

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deshalb möglich, weil ihre Reichweite vernachlässigbar ist. Umgekehrt fällt das Urteil für ein Wahlrecht ab der Geburt aus. Wo die Wirkungen durch den Wegfall jeglicher Altersgrenze spürbar sind, verbietet die demokratietheoretische Perspektive ihre Implementierung. Zu Recht verkörpert das Wahlrecht von Geburt an in der politischen Debatte nur einen theoretischen Randaspekt. Während sich unter den Abgeordneten nicht wenige Anhänger finden, gibt es weder in den Kommunen noch in den Ländern oder im Bund ernsthafte Reformvorhaben. Kurzum: Jene Ansätze, die umfassend Abhilfe schaffen (können), scheitern an der Praktikabilität oder an der Verfassungswirklichkeit, jene Reformen, die unbedenklich sind, bewirken indes kaum Veränderungen. Ein Verbinden beider Ansätze – über ein Wahlrecht durch Eintragung – kombiniert nicht nur die Vorteile, sie vereinigt auch die Missstände. Keines der Vorhaben eignet sich für eine Reform des Wahlsystems. Die Volljährigkeit verbleibt als adäquater Maßstab für das Wahlalter. Wer dennoch eine moderate Herabsetzung (auf 16 Jahre) befürwortet, folgt eher vordergründigen Gerechtigkeitserwägungen, als mit dem Vorhaben tatsächliche Veränderungen der Wählerschaft, der Wahlbeteiligung oder des Wahlergebnisses zu verbinden. Dennoch ist ein Abklingen der Debatte(n) über Wahlrechtsausweitungen und insbesondere um eine Wahlaltersenkung nicht wahrscheinlich – sei es wegen der Initiativen aus der Gesellschaft oder sei es aufgrund von Parteivorstößen und den Beispielen in den Ländern. Wie aktuell Bestrebungen nach dem Zugang zum Wahlrecht sind, verdeutlichen die Anträge zum Wahlrecht betreuter Personen64 und die Gesetzesänderung zum Wahlrecht der Auslandsdeutschen65 aus der 17. Wahlperiode. Die Popularität der Forderungen liegt nicht zuletzt an den verhältnismäßig niedrigen politischen „Kosten“ und den überschaubaren direkten Folgen einer Reform. Zudem wird kaum jemand ein stärkeres Einbeziehen Minderjähriger pauschal verneinen. Um Trugbilder zukünftig zu umgehen, wird es entscheidend sein, Einseitigkeit in der Erörterung zu vermeiden und sich weniger an idealtypischen denn an realpolitischen Indikatoren zu orientieren. Argumente, die mit einem Herabsetzen des Wahlalters eine Erhöhung der Partizipation verbinden, bleiben ebenso Scheinargumente wie die Partizipation eine Scheinpartizipation im Verhältnis zur restlichen Wahlbevölkerung wäre. Wer behauptet, das Absenken des aktiven Wahlalters biete eine Chance, Jugendliche besser an politische Themen heranzuführen und der Politikverdrossenheit zu begegnen, erkennt die Kausalität, verdreht aber die Herangehensweise. „Um 64  Vgl. Bundestagsdrucksache 17 / 12068, 16. Januar 2013; Bundestagsdrucksache 17 / 12380, 19. Februar 2013. 65  Vgl. Bundestagsdrucksache 17 / 12174, 30. Januar 2013.

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junge Menschen dauerhaft für Politik zu interessieren, sollte zunächst die politische Bildung gestärkt werden.“66 Dazu muss die Wahlalterdebatte nicht enden, sie sollte jedoch Abstand von den Mythen nehmen und sich der Realität widmen. Oder anders formuliert: Wer tatsächliche Antworten finden möchte, muss bereit sein, (endlich) andere Lösungswege einzuschlagen.

66  Stephan Mayer, zit. nach: CDU / CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Aktives Wahlalter bei Bundestagswahlen (Grüne), 172. Sitzung zu Protokoll, 26. Juni 2008, unter: www.cducsu.de / plenum / 26-06-2008 / aktives-wahlalter-bei-bundestagswah len (8. September 2014).

(K)eine sinnvolle Alternative? Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand Von Peggy Matauschek I. Funktionsdefizite der personalisierten Verhältniswahl Das personalisierte Verhältniswahlsystem der Bundesrepublik Deutschland hat die wahlsystematischen Funktionsanforderungen über Jahrzehnte in nahezu idealer Weise erfüllt. In den 1980er Jahren setzte eine Pluralisierung des deutschen Parteiensystems ein, welche im Zuge der Wiedervereinigung einen abermaligen Schub erhielt und in einem Wandel des Parteiensystems resultierte. Die Etablierung neuer Parteien auf Bundes- und Landesebene beeinflusst die Wirkungsmechanismen des Wahlsystems. Eine sinkende Konzentrationsleistung, die sich in einer zunehmenden Fragmentierung manifestiert, verhinderte bei der Wahl zum Deutschen Bundestag 2005 die Bildung einer kleinen Zweierkoalition; 2013 wäre eine solche möglich gewesen  –  jedoch eine lagerübergreifende. Zusätzlich zur Konzentrationsleistung verschlechtert sich die Repräsentationsqualität des Wahlsystems. 15,7 Prozent1 der Wählerstimmen fielen bei der Bundestagswahl im September 2013 der Fünfprozenthürde zum Opfer. Mithin sind fast ein Sechstel der Wähler im 18. Deutschen Bundestag nicht repräsentiert. Durch die jüngste Novelle des Bundeswahlgesetzes werden Überhangmandate durch Ausgleichsmandate kompensiert: Während sich dies positiv auf das StimmenMandatsverhältnis auswirkt, entfällt ein potenziell mehrheitsbildendes Element des Wahlsystems. Vor dem Hintergrund der veränderten Kontextbedingungen des deutschen Parteienwettbewerbs erörtert der Beitrag die Frage, ob die absolute Mehrheitswahl wie in Frankreich bzw. in Australien eine sinnvolle Alternative für Deutschland wäre. Strukturverändernde Reformvorschläge, die einen Wechsel des Wahlsystemgrundtyps bzw. des Repräsentationsprinzips anstreben, wurden  –  im Gegensatz zur Wahlsystemdiskussion in den 1950er und 1960er Jahren2 – in 1  Eigene

Berechnung auf Basis der amtlichen Statistiken. eine ausführliche Erörterung der Debatte und der dabei aufgeworfenen Reformoptionen vgl. Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform. Eine 2  Für

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der jüngsten Reformdebatte nur am Rande beleuchtet. Als eine Option eines konzentrationsfördernden Wahlsystems wurde die absolute Mehrheitswahl zur Diskussion gestellt.3 Eine systematische Analyse von Varianten dieses Mehrheitswahlsystems auf der Grundlage eines umfangreichen Kriterienkataloges, welche die Wirkungsmechanismen der Reformoptionen zueinander vergleichend beurteilt, blieb indes aus. Die Analyse der möglichen Auswirkungen der absoluten Mehrheitswahl in Deutschland, die den sozio-politischen Kontext mit einbezieht, umfasst den Zeitraum seit der Wiedervereinigung bis zur Bundestagswahl 2013. Neben den von Dieter Nohlen als Kernkriterien deklarierten Funktionsanforderungen an ein Wahlsystem Konzentration, Repräsentation und Partizipation sind die Analysekriterien Einfachheit bzw. Verständlichkeit und Legitimität4 grundlegend, um die Wahlsysteme komparativ zu untersuchen und qualitativ zu bewerten. Zunächst werden die beiden Systemvarianten innerhalb des Spektrums der absoluten Mehrheitswahl kurz erläutert. Daran schließt die Analyse und Bewertung der Reformoptionen und mündet in der Beantwortung der eingangs gestellten Leitfrage. II. Absolute Mehrheitswahlvarianten und ihre Ausgestaltung in Deutschland Wie die relative Mehrheitswahl im Einerwahlkreis wird die absolute Mehrheitswahl bei der Wahl nationaler Parlamente in den westlichen Demokratien heute nur selten genutzt. Neben den Abgeordneten zur französischen Nationalversammlung bestellen die Australier ihr Repräsentantenhaus mittels einer Form der absoluten Mehrheitswahl.5 Aufgrund ihres unter wahlsystematischen Gesichtspunkten vergleichbaren Kontextes zu Deutschland – westliche Industrienationen mit relativ gut strukturierten Parteiensystemen  – dienen das französische und das australische Parlamentswahlsystem als Referenzsysteme. Die starke Stellung der Parteien im politischen System Australiens, die Parallelen zu der der deutschen Parteien aufweist, schlägt Analyse der Wahlsystemdiskussion und der Wahlrechtsänderungen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1983, Düsseldorf 1985, S. 111–113, 144–210. 3  Vgl. Roman Herzog, Eine fundamentale Veränderung unseres Regierungssystems. Das Aufkommen der Linken erschwert es, stabile Mehrheiten zu bilden – eine Korrektur des Grundgesetzes könnte Abhilfe schaffen, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. März 2008, S. 6. 4  Vgl. Dieter Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem. Zur Theorie und Empirie der Wahlsysteme, 7. Aufl., Opladen / Toronto 2014, S. 190–194. 5  Vgl. International Institute for Democracy and Electoral Assistance (International IDEA), Countries using TRS, 26. September 2012, unter: www.idea.int / esd / type. cfm?electoralSystem=TRS (15. Juni 2014).



Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand

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sich in der Art und Weise nieder, wie die Parteien die Effekte des Wahlsystems in ihrem Sinne nutzen. Zwei – sich teilweise ausgleichende – Logiken bestimmen das französische Wahlsystem: der Mehrparteiencharakter und der Hang zur Bündnisbildung.6 Beide kennzeichnen das deutsche Parteiensystem. Wer institutionelle Eigenheiten7 der jeweiligen politischen Systeme berücksichtigt, kann aus den Wirkungsmechanismen der absoluten Mehrheitswahlvarianten in Frankreich und Australien auf deren mögliche Auswirkungen in Deutschland schließen. Einem klassischen Wahlsystem eigen fallen bei der absoluten Mehrheitswahl die Entscheidungsregel und das Repräsentationsprinzip zusammen: Beide folgen dem Majorz. Charakteristisch für diesen Wahlsystemtyp ist – wie der Name suggeriert – das absolute Mehrheitserfordernis. Beide Referenzsysteme wenden die Entscheidungsregel der absoluten Mehrheit im Einerwahlkreis an. Möglich – indes in demokratischen Systemen heute unüblich – ist die Kombination aus Mehrheitserfordernis und Mehrpersonenwahlkreis. Da eine absolute Mehrheit für einen Kandidaten in einem Mehrparteienwettbewerb nicht unbedingt die Norm ist, erfordert dieser Wahlsystemtyp einen zweiten Wahlgang oder eine äquivalente Lösung. Das in Australien praktizierte Alternative Vote unterscheidet sich von der französischen Variante der absoluten Mehrheitswahl formal durch die Art der Stimmgebung. Wobei die Alternativstimmgebung einen zweiten Wahlgang wie in Frankreich überflüssig macht. Basierend auf der Abgeordnetenzahl unter dem personalisierten Verhältniswahlsystem – ohne Überhang- und Ausgleichsmandate – korrespondiert die absolute Mehrheitswahl mit einer Einteilung des Bundesgebietes in 598 Einerwahlkreise. Das Wahlkreismandat erhält der Kandidat, der mindestens 50 Prozent plus eine der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt. Sollte keiner der Wahlkreisbewerber eine absolute Stimmenmehrheit erreichen, ist analog zum französischen Modell ein zweiter Wahlgang notwendig. Für die Entscheidungsfindung im zweiten Wahlgang bieten sich zwei Varianten an: eine Stichwahl unter den beiden erstplatzierten Kandidaten des ersten Wahlganges, wie bei den Bürgermeisterwahlen in Deutschland üblich, oder die erweiterte – romanische – Stichwahl. Für den zweiten Wahlgang sind Zu6  Vgl. Robert Elgie, France: Stacking the Deck, in: Michael Gallagher / Paul Mitchell (Hrsg.), The Politics of Electoral Systems, Oxford / New York 2009, S. 119–136, hier: S. 123, 125. 7  Bei Frankreich sind etwa die Einflüsse des Semi-Präsidentialismus zu beachten. Zumal: Die Verkürzung der Amtsdauer des Präsidenten im Jahr 2000 stimmte die Präsidentschaftswahlen zeitlich mit den Wahlen zur französischen Nationalversammlung ab. Letztere folgen innerhalb weniger Wochen auf die Präsidentschaftswahlen. Vgl. Emiliano Grossman / Nicolas Sauger, Introduction: The Institutions of the French Republic at 50, in: West European Politics, 32 (2009) 2, S. 243–247, hier: S. 245.

118

Peggy Matauschek

gangsschranken (Prozenthürden) wie in Frankreich bzw. bei der Mandatsvergabe bei der personalisierten Verhältniswahl denkbar. Während der siegreiche Bewerber bei der ersten Variante eine absolute Stimmenmehrheit auf sich vereint, kann die erweiterte Stichwahl in einer lediglich relativen Stimmenmehrheit des Wahlkreisgewinners resultieren. Bei der Alternativstimmgebung gibt der Wähler kein kategoriales Votum ab. Vielmehr weist er seinem Wunschkandidaten die Erstpräferenz zu und Zweit- bzw. weitere Präferenzen den restlichen Wahlkreisbewerbern. Dem Wähler kann eine Präferenzangabe für mehrere bzw. alle Kandidaten freigestellt sein oder der Gesetzgeber verpflichtet ihn, für eine gültige Stimmabgabe alle Bewerber vollständig zu reihen. Erzielt bei der Alternativstimmgebung keiner der Wahlkreiskandidaten nach der Auszählung der Erstpräferenzen eine absolute Stimmenmehrheit, wird der Bewerber mit den wenigsten Erstpräferenzen eliminiert und dessen Stimmen gemäß den zweiten Präferenzen den verbliebenen Wahlbewerbern zugeschlagen. Dieses Prozedere ist solange zu wiederholen, bis ein Kandidat eine absolute Stimmenmehrheit erzielt. Die Vor- und Nachteile einer optionalen wie einer obligatorischen (vollständigen) Präferenzangabe durch den Wähler werden in den Unterkapiteln erörtert. Wie bei der französischen Variante der erweiterten Stichwahl kann ein optionales Präferenzerfordernis eine absolute Stimmenmehrheit des siegreichen Wahlkreisbewerbers verhindern. Es wird davon abgesehen, die in den 299 (bzw. 328) Einerwahlkreisen erreichten Ergebnisse unter der personalisierten Verhältniswahl zu verdoppeln. Auf der Basis der im Einerwahlkreis erzielten Resultate des hiesigen Wahlsystems ist eine Simulation der Wahlergebnisse – wiewohl eingeschränkt – unter dem französischen Modell möglich. Außer in den Wahlkreisen, die einer der Kandidaten mit einer absoluten Mehrheit gewonnen hat, ist ein zweiter Wahlgang erforderlich. Anhand der auf der Bundesebene bisher üblichen Koalitionen bzw. Lager wird eine Stimmverteilung antizipiert.8 Neben einem identischen Wahlverhalten im ersten Wahlgang nimmt die Simulation an, die Wähler hätten ihre Stimmen im zweiten Wahlgang auf den jeweils stimmenstärksten Kandidaten im eigenen Lager konzentriert. Auf der Bundesebene resultierte eine arithmetische Mehrheit des linken Lagers bisher in keiner politischen. Anders als in Hendrik Trägers Modellrechnungen9 zur Bundestagswahl 2013 wird das Wahlkreismandat im Falle einer absoluten Stimmenmehrheit von SPD, Grünen und der Linken 8  Für eine mögliche Ermittlung der Mandatsverteilung unter der absoluten Mehrheitswahl siehe Hendrik Träger, Die Auswirkungen der Wahlsysteme: elf Modellrechnungen mit den Ergebnissen der Bundestagswahl 2013, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44 (2013) 4, S. 741–758, hier: S. 748–751. 9  Vgl. ebd.



Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand

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daher nicht grundsätzlich dem linken Lager zugeschlagen. In einigen westdeutschen Bundesländern dürfte eine Zusammenarbeit der drei Parteien angezweifelt werden, von der Unterstützung eines derartigen Wahlbündnisses seitens der Wähler ganz abgesehen. Bei der Entscheidung, welchem politischen Lager das Mandat zufällt, berücksichtigt die Studie die Koali­ tionspraxis in den Bundesländern.10 Zudem fließen die Stimmen für die Kleinparteien nicht in die Entscheidung ein. Wenngleich die Ergebnisse unter dem personalisierten Verhältniswahlsystem schwerlich Rückschlüsse zulassen, wie die Wähler unter der Alternativstimmgebung ihre Präferenzen vollständig verteilt hätten, dürften die simulierten Wahlkreisergebnisse annähernd realistisch sein.11 III. Die möglichen Wirkungsmechanismen der absoluten Mehrheitswahl in Deutschland 1. Mehr Konzentration zulasten der Repräsentativität?

Zwei technische Elemente tangieren die Konzentrations- und die Repräsentationsleistung der absoluten Mehrheitswahl: die Wahlkreisgröße und die Entscheidungsregel. Der Einerwahlkreis entspricht der kleinstmöglichen Wahlkreisgröße. Die Stimmenverrechnung folgt der Entscheidungsregel des absoluten Majorz. Im ersten Wahlgang benötigt der siegreiche Kandidat das absolute Mehr der Wählerstimmen. Wie eine Gegenüberstellung der elektoralen und der parlamentarischen Fragmentierung belegt, fördert der mechanische Effekt des Wahlsystems eine begrenzte Parteienzahl im Parlament (vgl. Tabelle 3). Der im Zeitver10  Im Vergleich zu Trägers Ergebnissen für die Bundestagswahl 2013 ändert sich die quantitative Verteilung der Mandate sowohl der beiden Volksparteien als auch der Linken: Der Union fallen zulasten der beiden anderen Parteien mehr Mandate zu. Obgleich dies die Qualität der Konzentrationsleistung des Wahlsystems beeinflusst, kehrt es das Stimmen-Mandats-Verhältnis nicht um. Vgl. ebd., S. 749 f. 11  In Großbritannien wurden im Rahmen der Wahlsystemreformdebatte seit den Unterhauswahlen im Jahr 1992 Umfragen durchgeführt, in denen den Präferenzen der Wähler nachgespürt wurde. Auf dieser Basis wurden zusammen mit den tatsächlichen Wahlergebnissen Simulationen zum Wahlverhalten unter der Alternativstimmgebung erstellt. Vgl. Patrick Dunleavy / Helen Margetts / Stuart Weir, How Britain would have voted under Alternative Electoral Systems in 1992, in: Parliamentary Affairs, 45 (1992) 4, S. 640–655; bzw. David Sanders u. a., Simulating the Effects of the Alternative Vote in the 2010 UK General Election, in: Parliamentary Affairs, 64 (2011) 1, S. 5–23. Ein ähnliches Datenmaterial existiert in Deutschland leider nicht. Während der Aussagewert besagter Umfragedaten gewissen Einschränkungen unterliegt, ist er bei wahlunabhängigen Umfragen ungleich größer. Zudem könnten die Ergebnisse nicht in Zusammenhang mit einer der für den Untersuchungszeitraum relevanten Wahlen gebracht werden.

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Peggy Matauschek Tabelle 1 Hypothetische Sitzverteilung der Parteien bei der absoluten Mehrheitswahl im Einerwahlkreis Mandate (gesamt)

CDU /  CSU

SPD

FDP

B90 /  Grüne

Linkea)

1990

328

237

 89

1

0

 1

1994

328

174

151

0

0

 3

1998

328

 92

233

0

0

 3

2002

299

118

178

0

1

 2

2005

299

135

159

0

1

 4

2009

299

188

 80

0

1

30

2013

299

180

 94

0

2

23

Bundestagswahl

a)

1990 bis 2005 PDS; 2005 bis 2007 Linkspartei.PDS.

Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der amtlichen Statistiken.

lauf wachsenden Dekonzentration des elektoralen Parteiensystems, die sich im abnehmenden gemeinsamen Stimmenanteil der beiden Volksparteien äußert, steuert die absolute Mehrheitswahl wirksam gegen. Gleichwohl verringern sich die Aussichten, das Wahlkreismandat im ersten Wahlgang bzw. aufgrund der Erstpräferenz zu gewinnen, je fragmentierter das elektorale Parteiensystem im Wahlkreis ist. Konnte bei den Bundestagswahlen von 1990 bis einschließlich 2002 ein Kandidat in jeweils über 35 Prozent12 der Wahlkreise die absolute Stimmenmehrheit auf sich vereinigen, gelang dies in den Folgewahlen weniger Bewerbern. Einen Tiefpunkt bildet die Bundestagswahl 2009: In lediglich 3113 Wahlkreisen (10,4 Prozent) fiele die Wahlentscheidung im ersten Wahlgang. Bis 2002 kämpften auf der Wählerebene effektiv weniger als drei Parteien um das Wahlkreismandat. Bei der Wahl 2009 erhöhte sich die effektive Zahl des elektoralen Parteiensystems auf deutlich über drei bzw. bewarben sich durchschnittlich sieben14 Kandidaten um einen Wahlkreissitz (vgl. Tabelle 3). Während der erste Wahlgang wie in Frankreich ein Abbild der politischen Präferenzen der Wähler zeichnen 12  Eigene

Berechnung auf Basis der amtlichen Statistiken. Statistisches Bundesamt. 14  Eigene Berechnung basierend auf der Gesamtzahl aller Wahlkreisbewerber bei der Bundestagswahl 2009, vgl. Der Bundeswahlleiter (Hrsg.), Wahl zum 17. Deutschen Bundestag am 27. September 2009. Die Wahlbewerber für die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag 2009. Sonderheft, Wiesbaden 2009, S. 17. 13  Vgl.



Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand

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dürfte, entschiede der zweite Wahlgang über den bundesweiten Ausgang der Parlamentswahl.15 Der mehrheitsbildende Effekt des Wahlsystems speist sich aus der disproportionalen Verteilung der Mandate zugunsten der stimmenstärksten Partei bzw. Koalition. Wie bei der Alternativstimmgebung in Australien16 erwächst der nach Stimmen stärksten Partei in Deutschland, respektive der Koalition, ein deutlicher Mehrheitsbonus. Die im internationalen Vergleich sehr hohen Disproportionalitätsgrade17 des Wahlsystems für die Wahlen 1990 und 1998 (vgl. Tabelle 4) rühren nicht allein von der Unterrepräsentation der kleineren Parteien; die zweitstärkste Partei ist in gleichem Maße unverhältnismäßig schwach repräsentiert. Zu einer ausgewogenen Repräsentation trägt das Wahlsystem nicht bei. Der Mehrheitsbonus muss zudem nicht grundsätzlich der nach Stimmen stärksten Partei zufallen. Die Ergebnisse der Wahl zum 16. Deutschen Bundestag hätten unter den Bedingungen eines absoluten Mehrheitswahlsystems das Stimmen-Mandats-Verhältnis umgekehrt: Ein Bias zugunsten der nach Stimmen zweitstärksten Partei – im australischen Vorbild wiederholt aufgetreten18 – drängte die Union mit einem Stimmenvorsprung von 2,5 Prozentpunkten vor der SPD in die Oppositionsrolle (vgl. Tabelle 2). Neben der wahlgeographischen Streuung des Elektorats dürfte ein weiterer Grund für den Bias zugunsten der SPD in der niedrigeren Wahlbeteiligung im Osten Deutschlands liegen. Ein gleiches Wahlverhalten im ersten Wahlgang und die Stimmenkonzentration auf den jeweils stimmenstärksten Kandidaten des eigenen Lagers im zweiten Wahlgang vorausgesetzt, hätte dies im gesamten Untersuchungszeitraum in einer Mehrheitsregierung einer Partei resultiert. Jede dieser absoluten Mehrheiten durch eine Partei entstünde künstlich – wäre mithin Produkt des Wahlsystems. Während die hier präsentierte Mandatsverteilung (vgl. Tabelle 1) für die australische Variante der absoluten Mehrheitswahl durchaus realistisch erscheint,19 sind bei der romanischen Stichwahl bedingt 15  Vgl.

D. Nohlen (Anm. 4), S. 353 f. Bennett / Rob Lundie, Australian Electoral Systems, Commonwealth of Australia, Department of the Parliamentary Library, Research Paper 5 / 2007–08, S. 8. 17  Vgl. David M. Farrell, Electoral Systems. A Comparative Introduction, 2. Aufl., Basingstoke 2011, S. 234–237. 18  Vgl. Peter L. Münch-Heubner, Das absolute Mehrheitswahlrecht und die Entwicklung des Parteiensystems in Australien, in: Zeitschrift für Politik, 48 (2001) 2, S. 149–167, hier: S. 152, 154. 19  Der Wahlmechanismus der in Australien genutzten Form der Alternativstimmgebung, die eine vollständige Präferenzzuteilung erfordert, kompensiert die Ero­ sionserscheinungen bei den großen Parteien. An kleine Parteien verloren gegangene Stimmen werden ihnen sukzessive wieder zugeführt. Vgl. P. Münch-Heubner (Anm. 17), S. 162. 16  Scott

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Peggy Matauschek Tabelle 2 Hypothetische Stimmen- und Mandatsanteile der Parteien bei absoluter Mehrheitswahl im Einerwahlkreis

Bundestagswahl

1990

1994

1998

2002

2005

2009

2013

CDU / CSU

Stimmen in Prozent

45,7

45,0

39,6

41,1

40,9

39,4

45,3

Mandate in Prozent

72,3

53,1

28,1

39,5

45,2

62,9

60,2

Stimmen in Prozent

35,2

38,3

43,8

41,9

38,4

27,9

29,4

Mandate in Prozent

27,2

46,0

71,0

59,5

53,2

26,8

31,4

Stimmen in Prozent

 7,8

3,3

3,0

5,8

4,7

9,4

2,4

Mandate in Prozent

 0,3

0

0

0

0

0

0

SPD

FDP

B90 /  Grünea)

Linke

Sonstige

Stimmen in Prozent

4,4 /  1,2b)

6,5

5,0

5,6

5,4

9,2

7,3

Mandate in Prozent

0

0

0

0,3

0,3

0,3

0,7

Stimmen in Prozent

2,3

4,1

4,9

4,4

8,0

11,1

8,2

Mandate in Prozent

0,3

0,9

0,9

0,7

1,3

10,0

7,7

Stimmen in Prozent

3,5

2,8

3,7

1,3

2,7

3,0

7,4

Mandate in Prozent

0

0

0

0

0

0

0

a) Bei

der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 traten aufgrund der getrennten Wahlgebiete in Ostund Westdeutschland im Westen die Partei die Grünen und im Osten das Wahlbündnis „Die Grünen / Bündnis 90-BürgerInnenbewegung“ an. Vgl. Lothar Probst, Bündnis 90, in: Frank Decker / Viola Neu (Hrsg.), Handbuch der deutschen Parteien, 2. Aufl., Wiesbaden 2013, S. 163–166, hier: S. 164. b)  Das erstgenannte Ergebnis repräsentiert die Grünen in Westdeutschland, das zweite steht für das ostdeutsche Wahlbündnis. Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis der amtlichen Statistiken.



Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand

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durch die psychologischen Effekte des Wahlsystems Mandatsverschiebungen zugunsten der kleinen Parteien denkbar. Die Grünen, respektive die FDP, dürften die Dominanz der jeweiligen Volkspartei im eigenen Lager kaum uneingeschränkt akzeptieren. Von der elektoralen Schwäche der großen können die kleinen Parteien bei diesem Wahlsystem nicht grundsätzlich profitieren. Damit eine kleine Partei ohne regionale Hochburgen Mandate gewinnt, bedarf es zweier Voraussetzungen: Erstens ist sie darauf angewiesen, dass die jeweilige Volkspartei in einigen Wahlkreisen zu ihren Gunsten auf einen Kandidaten im zweiten Wahlgang verzichtet. Zweitens hängt der Mandatsgewinn davon ab, inwieweit die Wählerschaft des eigenen Lagers den Kandidaten unterstützt. Entscheidend dürfte sein, ob die Wähler der Wahlempfehlung des Bündnisses folgen oder sich im zweiten Wahlgang entweder der Konkurrenz zuwenden bzw. mangels Alternative der Stimme enthalten. Dass sich die Wähler nicht grundsätzlich den Wahlempfehlungen fügen, zeigen die empirischen Befunde in Frankreich.20 Beschränkte der Gesetzgeber den Zugang zum zweiten Wahlgang ähnlich dem französischen Vorbild21 auf Parteien, die im ersten Wahlgang mindestens 12,5 Prozent der Stimmen der Wahlberechtigten auf sich vereinten, hätte etwa die FDP in vielen Wahlkreisen kaum die Chance, den zweiten Wahlgang zu erreichen und mithin von einem Verzicht der Union in diesem Wahlgang zu profitieren. Nach ihrer Etablierung im deutschen Parteiensystem gelänge hingegen der Partei die Linke aus eigener Kraft eine Repräsentation im Bundestag. Im Zeitverlauf nähert sich diese allmählich dem Stimmenanteil der Partei an. In ihren Hochburgen im Ostteil Berlins bedarf die Partei aufgrund der Schwäche des bürgerlichen Lagers zudem weder der Unterstützung der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen noch derer Wähler: Ihre eigene relative Stimmenmehrheit gereichte ihr zum Mandatsgewinn. Beide Varianten der absoluten Mehrheitswahl bieten Raum für eine differenzierte Zusammenarbeit mit der Linken. Ein allgemeines Wahlbündnis, das im Falle eines Sieges des linken Lagers in einer Dreierkoalition mündet, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt unrealistisch. Indes hindert der Ausschluss einer Koalition mit der Linken auf der Bundesebene nicht die Bildung individueller Wahlbündnisse in einzelnen Wahlkreisen oder Bundesländern, um so die Mandatsausbeute für die beteiligten Parteien zu erhöhen. 20  Vgl. Philip E. Converse / Roy Pierce, Political Representation in France, Cambridge / London 1986, besonders Kapitel 12: The Second Ballot: The Flow of the Vote, S. 363–387. Ähnlich sind die Erfahrungen in Australien, vgl. P.  Münch-Heubner (Anm. 18), S. 151 f. 21  Seit 1976 benötigt ein Kandidat mindestens 12,5 Prozent der registrierten Wählerstimmen, um am zweiten Wahlgang teilnehmen zu können. Vgl. Dieter Nohlen, France, in: ders. / Philip Stöver (Hrsg.), Elections in Europe. A Data Handbook, Baden-Baden 2010, S. 639–721, hier: S. 666.

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Peggy Matauschek

Tabelle 3 Fragmentierungsgrade der absoluten Mehrheitswahl im Einerwahlkreis a)

Bundestagswahl

Effektive Parteienzahl

Effektive Parteienzahl

elektorale Ebene

Parlamentsebene

1990

2,93

1,68

1994

2,81

2,03

1998

2,82

1,71

2002

2,83

1,96

2005

3,07

2,05

2009

3,80

2,10

2013

3,27

2,14

a)  Der

Fragmentierungsgrad des Parteiensystems bzw. die effektive Anzahl der Parteien im Parlament erschließt sich über den Laakso / Taagepera Index: der reziproke Wert der Summe der quadrierten Stimmenanteile aller im Parlament vertretenen Parteien, vgl. Markku Laakso / Rein Taagepera, „Effective“ Number of Parties. A Measure with Application to West Europe, in: Comparative Political Studies, 12 (1979) 1, S. 3–27.

Quelle: Eigene Berechnungen anhand der Sitzverteilung in Tabelle 1.

Tabelle 4 Proportionalitätsindizesa) der absoluten Mehrheitswahl im Einerwahlkreis Bundestagswahl

1990

1994

1998

2002

2005

2009

2013

20,68

9,78

21,56

13,92

12,87

19,02

11,96

a)  Die

Proportionalitätsgrade der absoluten Mehrheitswahl wurden mit Hilfe des Gallagher-Index (Least Squares Index) ermittelt. Die quadrierten Stimmen-Mandate-Differenzen jeder Partei werden addiert, die Summe durch zwei geteilt und daraus die Wurzel gezogen. Vgl. Michael Gallagher, Proportionality, Disproportionality and Electoral Systems, in: Electoral Studies, 10 (1991) 1, S. 33–51, hier: S. 41.

Quelle: Eigene Berechnungen anhand der in Tabelle 1 ermittelten hypothetischen Wahlergebnisse. ‒ Grundlage für die Berechnung des Disproportionalitätsgrades sind die im ersten Wahlgang erzielten Stimmenanteile der Parteien und die endgültige Mandatsverteilung nach einem eventuell notwendigen zweiten Wahlgang.

Wenngleich die absolute Mehrheitswahl die stärkste Partei bzw. das stärkere Bündnis bevorteilt, zeigt die Praxis in Australien und Frankreich:22 Nicht 22  Vgl. Brenton Holmes / Sophia Fernandes, 2010 Federal Election: a brief history, Department of the Parliamentary Library, Research Paper 8 / 2011–12, S. 32 f. Vgl. Adolf Kimmel, Sonderfall unter den parlamentarischen Systemen? Koalitionsregierungen in der V. französischen Republik, in: Frank Decker / Eckhard Jesse (Hrsg.),



Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand

125

in jedem Fall trägt das Wahlsystem einem der parteipolitischen Lager eine absolute Mandatsmehrheit ein und bringt es somit eine mehrheitsfähige Regierung hervor. Da es nicht gelang bzw. vermieden wurde, alle im Parlament vertretenen Mandatsträger in die bipolare Lagerstruktur einzubinden, resultierten die Wahlergebnisse in der Bildung von Minderheitsregierungen. Unter dem hiesigen personalisierten Verhältniswahlsystem ist eine Minderheitsregierung auf der Bundesebene – abgesehen von Übergangszeiten – etwa durch Bildung Großer Koalitionen vermieden wurden. Bei der Anwendung eines konzentrationsfördernden Wahlsystems wie der absoluten Mehrheitswahl dürfte eine Große Koalition keine Option sein; aufgrund der bereits vor den Wahlen bzw. vor dem zweiten Wahlgang gebildeten formellen wie informellen Bündnisse gilt dies ebenso für eine lagerübergreifende Koalition.23 Das Wahlsystem mag für ein Vielparteiensystem geeignet sein; seine Funktionslogik entfaltet es am besten unter den Bedingungen eines bipolar strukturierten Parteienwettbewerbs. In einer multipolaren Wettbewerbsstruktur kann das Wahlsystem nichtintendierte Nebeneffekte zeitigen. So sind der Isolation nicht regierungsfähiger Parteien, die dazu dient, deren parlamentarische Repräsentation zu verhindern, Grenzen gesetzt. Für regierungsunfähig befundene Parteien von einem Wahlbündnis auszuschließen, kann die gegenteilige Wirkung haben als beabsichtigt: Wenn die Partei aus eigener Kraft den Einzug ins Parlament schafft und eine daraufhin notwendige Minderheitsregierung auf ihre Unterstützung angewiesen ist. Wie jedes andere Wahlsystem mit Einerwahlkreisen fördert die absolute Mehrheitswahl die Wahlkreisgeometrie, die die Repräsentationsqualität des Wahlsystems entscheidend schwächen kann. Zu unterscheiden ist dabei zwischen einer aktiven und einer passiven Wahlkreismanipulation. In beiden Referenzsystemen sind Manipulationen der Wahlkreiseinteilung, die den Wählerwillen verzerren, aufgetreten. Die aktive Form durch partei­ politische Einflussnahme auf die Wahlkreiseinteilung – wie sie anfangs der V. französischen Republik stattfand24 – lässt sich durch eine unabhängige Wahlkreiskommission gezielt verhindern.25 Wird deren Empfehlungen, eiDie deutsche Koalitionsdemokratie vor der Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2013, S. 459–478, hier: S. 467. 23  Vgl. Florian Grotz, Verhältniswahl und Regierbarkeit. Das deutsche Wahlsystem auf dem Prüfstand, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 19 (2009) Sonderheft Wahlsystemreform, S. 155–181, hier: S. 168. 24  Vgl. Byron Criddle, Distorted Representation in France, in: Parliamentary Affairs, 28 (1975) 4, S. 154–179, hier: S. 158 f. 25  Eine unabhängige Wahlkreiskommission, die aufgrund demographischer Veränderungen empfiehlt, die Wahlkreisgrenzen neu zu ziehen, existiert in Frankreich erst seit 2009. Vgl. Assemblée Nationale, Electoral Systems, 2012, unter: www.electionslegislatives.fr / en / system.asp (27. Oktober 2014).

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nen Wahlkreis aufgrund demographischer Entwicklungen neu zuzuschneiden, nicht entsprochen, sind zugleich passive Wahlkreismanipulationen möglich, die dem Gebot der Stimmengleichheit zuwiderlaufen. Eine unabhängige Wahlkreiskommission wie unter dem hiesigen personalisierten Verhältniswahlsystem bannt die Gefahr einer aktiven Wahlkreismanipulation in Deutschland. Passive Wahlkreismanipulationen sind indes nicht vollständig auszuschließen, obliegt die Anpassung der Wahlkreisgrenzen – auf Empfehlung der Wahlkreiskommission – doch dem Gesetzgeber.26 In Australien mündeten die Verzerrungen immer wieder in einer Umkehr des StimmenMandats-Verhältnisses.27 Während ein Accidental Bias bei der Alternativstimmgebung in Deutschland nicht ausgeschlossen werden kann, sollten durch die Parteien geförderte strukturell bedingte Repräsentationsverzerrungen vermieden werden. 2. Erweiterte Partizipationsmöglichkeiten durch die Alternativstimmgebung?

Um die Partizipationsleistung der absoluten Mehrheitswahl einzuschätzen, bedürfen zwei technische Elemente der näheren Betrachtung: die Wahlbewerbung und – im Falle des Alternative Vote – die Stimmgebung. Beide untersuchten Varianten der absoluten Mehrheitswahl kennzeichnet der Einerwahlkreis, der die Einzelkandidatur bedingt. Mit seiner Stimme beeinflusst der Wähler die Mandatsverteilung und die personelle Zusammensetzung des Parlaments. Theoretisch trifft er eine Auswahl unter Personen. Praktisch ist der Personalisierungseffekt des Wahlsystems trotz der Möglichkeit der Personenwahl nur schwach ausgeprägt – wie die Befunde für Frankreich zeigen.28 „[W]ahlsoziologische Erkenntnisse [weisen] darauf hin, dass sich in gut strukturierten Parteiensystemen auch in Einerwahlkreisen die Wahlentscheidung eher nach der Partei als nach der Person richtet.“29 Eine Auswahl unter verschiedenen Kandidaten einer Partei offerieren beide absoluten Mehrheitswahlvarianten nicht.30 Insoweit ist die personelle Komponente dieses Wahlsystemtyps begrenzt. 26  In beiden Referenzsystemen wurden notwendige Wahlkreisanpassungen bewusst hinausgezögert bzw. gesetzliche Grundlagen missachtet. Vgl. Alan Renwick, The Politics of Electoral Reform. Changing the Rules of Democracy, Cambridge 2010, S. 108. Münch-Heubner stellt in diesem Zusammenhang die Unabhängigkeit der australischen Wahlkreiskommissionäre in Frage. Vgl. P. Münch-Heubner (Anm. 18), S. 153–155. 27  Vgl. D. Farrell (Anm. 17), S. 59. 28  Vgl. Nicolaus Sauger, Party Discipline and Coalition Management in the French Parliament, in: West European Politics, 32 (2009) 2, S. 310–326, hier: S. 318. 29  D. Nohlen (Anm. 4), S. 225.



Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand

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Die Auswahlmöglichkeiten der französischen Reformalternative im ersten Wahlgang ähneln denen der Alternativstimmgebung nur bedingt. Im zweiten Wahlgang sind die Selektionsmöglichkeiten bei der Stichwahl beschränkt: Die Entscheidung fällt zwischen zwei Kandidaten bzw. Parteivertretern. Die erweiterte Stichwahl bietet in der zweiten Runde zumindest theoretisch eine größere Auswahl. Faktisch sind die Auswahlmöglichkeiten ähnlich bescheiden wie bei der Stichwahl: „Am zweiten Wahlgang beteiligen sich meistens lediglich zwei Bewerber, sei es wegen der Wahlabsprachen zwischen den Parteien, sei es wegen der rigiden Wahlrechtskautele.“31 30

Die Partizipationschancen der Alternativstimmgebung sind hingegen ungleich größer. Wie die in Australien häufig verwendete Bezeichnung Preferential Voting32 impliziert, rücken bei diesem Wahlsystem die Auswahl- bzw. Partizipationsmöglichkeiten, die das System dem Wähler offeriert, in das Zentrum des Interesses. Sollte die Erstpräferenz des Wählers nicht zum Zuge kommen, hat er durch weitere Präferenzen immer noch die Möglichkeit, den Ausgang der Wahl zu beeinflussen.33 Mithin ist das Votum für eine kleine Partei kein verschenktes. Jede Stimme zählt; wiewohl nicht im Sinne einer gerechten Repräsentationschance. Die Pflicht, wie sie im australischen Wahlsystem angelegt ist, jeden Wahlbewerber im Wahlkreis in die Reihung einzubeziehen, läuft dem Partizipationsgedanken zuwider. „[T]o compel them [voters] to express preferences where none exist can only give a false picture of voters’ views and introduce an element of chance.“34 Letztlich ist der Wähler gezwungen, den Kandidaten, von dem er definitiv nicht repräsentiert werden möchte, zu unterstützen. Kritikwürdig ist eine Entwicklung unter der Alternativstimmgebung in Australien, die die Partizipationslogik des Wahlsystems konterkariert: Mit Hilfe sogenannter How-to-Vote-Cards, Wahlempfehlungen der Parteien, unterwerfen diese die größeren Auswahlmöglichkeiten, die das Wahlsystem den Wählern bietet, ihrer Kontrolle. „The negotiation for, and argument 30  Die Wähler bei der Nominierung der Wahlkreiskandidaten zu beteiligen, kann Abhilfe schaffen. 31  Eckhard Jesse, Wahlsysteme und Wahlrecht, in: Oscar W. Gabriel / Sabine Kropp (Hrsg.), Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen, Prozesse, Politikinhalte, 3. Aufl., Wiesbaden 2008, S. 299–322, hier: S. 304. 32  Vgl. David M. Farrell / Ian McAllister, The Australian Electoral System. ­Origins, Variations and Consequences, Sydney 2006, S. 52. 33  Vgl. ebd., S. 3. 34  Ken Ritchie / Alessandro Gardini, Putting Paradoxes into Perspective: in Defence of the Alternative Vote, in: Dan S. Felsenthal / Moshé Machover (Hrsg.), Electoral Systems. Paradoxes, Assumptions, and Procedures, Berlin / Heidelberg 2012, S. 275–303, hier: S. 286.

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over, preferences prior to polling day is a recognition of the importance parties place in attempting to control the voters’ behaviour.“35 Damit ist das australische Wahlsystem heute weniger kandidatenorientiert36 und kann den Wählerwillen verfälschen. Die Parteien in Deutschland nehmen eine ähnlich starke Stellung im politischen Prozess ein wie die australischen. Darüber hinaus spielen unabhängige Kandidaten keine ernst zu nehmende Rolle. Mit einer allmählichen Entwicklung von einem besonders kandidatenorientierten Wahlsystem zu einem parteiorientierten, das die Vorzüge des Systems schwächt, ist bei dessen Einführung in Deutschland, ebenso zu rechnen. Mit seiner Wahlentscheidung beeinflusst der Wähler entweder direkt oder indirekt die Regierungsbildung. Der unmittelbare Einfluss auf die Auswahl der Regierung durch die Alternativstimmgebung dürfte partizipationsstimulierend wirken. Wie die Kombination des ersten und zweiten Wahlganges im romanischen Wahlsystem ein Koalitionsvotum ermöglicht, zeigt die Erstpräferenz in Verbindung mit der Zweitpräferenz eine favorisierte Koalition des Wählers an. Unter der personalisierten Verhältniswahl weiß der Wähler vor der Wahl immer seltener, welchem Bündnis er mit seiner Parteistimme dient; von einem direkten Einfluss auf die Regierungsbildung kann keine Rede sein. Die Anwendung der absoluten Mehrheitswahl nimmt die Koalitionsbildung vorweg. Denn für die Parteien eines Lagers ist es strategisch sinnvoll, sich vor dem zweiten Wahlgang zu Wahlbündnissen bzw. in Deutschland zu elektoralen Koalitionen zusammenzuschließen. Mithin ist dem Wähler vor dem entscheidenden zweiten Wahlgang klar, welche Koalition er mit seinem Votum unterstützt. Da der Wähler den Kandidaten Präferenzen zuteilt, erweitert die Alternativstimmgebung die Wahlmacht des Elektorats. Solange die Wähler die Alternativverteilung nicht den Parteien überlassen, ist der Partizipationsgrad des Wahlsystems im Vergleich zum französischen Modell höher. Legen die Wähler die Kontrolle der Präferenzverteilung in die Hände der Parteien, wie es durchschnittlich knapp 48 Prozent der australischen Wähler37 machen, nähert sich der Partizipationsgrad des Wahlsystems dem der relativen Mehrheitswahl an. 3. Komplex, gleichwohl verständlich

Die absolute Mehrheitswahl im Einerwahlkreis, wie sie Frankreich praktiziert, besticht durch ihre einfache Anwendung: Jeder Wähler besitzt pro Wahlgang eine Stimme, die er seinem bevorzugten Kandidaten bzw. Vertre35  S. Bennett / R.  Lundie

(Anm. 16), S. 9. D.  Farrell / I.  McAllister (Anm. 32), S. 170 f. 37  Vgl. ebd., S. 135 f. 36  Vgl.



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ter seiner favorisierten Partei zuteilt. Auf der Entscheidungsebene – dem Wahlkreis – ist das Ergebnis leicht nachvollziehbar: Der Wahlbewerber mit der absoluten Mehrheit der abgegebenen Stimmen gewinnt das Wahlkreismandat. Insoweit erklärt sich dem Wähler auch ein zweiter Wahlgang, der notwendig wird, sollte kein Kandidat ein absolutes Stimmenmehr im ersten Wahlgang erzielen. Anders als etwa beim personalisierten Verhältniswahlsystem richtet sich das bundesweite Wahlergebnis nicht nach der erreichten Stimmenzahl der Parteien; die Partei bzw. die Koalition mit der Mehrheit der gewonnen Wahlkreise reüssiert auf der Bundesebene. „[P]referential voting does not guarantee that the party that wins the most votes after the distribution of preferences will necessarily win government, and it is quite possible for a party to win an overall majority of votes but still ,lose‘ the election.“38 Für Wähler, die mit der Logik von Mehrheitswahlsystemen in Einerwahlkreisen vertraut sind, mag dieses Resultat verständlich und zudem akzeptabel sein. Dem deutschen Wähler dürfte ein derlei Ergebnis auf der Repräsentationsebene, das womöglich das Stimmen-Mandats-Verhältnis umkehrt, kaum einleuchten. Im Vergleich zum französischen Modell gestaltet sich die Alternativstimmgebung nicht allein in der Ausführung aufwendiger und komplexer. Optierte Deutschland bei der Einführung des Wahlsystems für die in Australien praktizierte Form der obligatorischen vollständigen Präferenzzuteilung, wäre der Wähler für eine gültige Stimmabgabe gezwungen, jedem Kandidaten eine Präferenz zuzuordnen. Dies erfordert eine gewisse Auffassungsgabe und nimmt zudem mehr Zeit in Anspruch als das Votum für einen einzigen Kandidaten. Dem Wähler dürfte die Wirkung seiner Alternativstimmen nicht in jedem Fall und zudem im Vorhinein klar sein. „[E]ines der kompliziertesten Wahlsysteme“39 ist das Alternative Vote indes nicht, reicht es an die Komplexität einiger kombinierter Wahlsysteme – etwa des ungarischen Parlamentswahlsystems – nicht heran.40 Die Transparenz fördert das Wahlsystem ausdrücklich nicht. Wie beim romanischen Mehrheitswahlsystem gewinnt der Bewerber mit der absoluten – in wenigen Fällen der mit der relativen – Stimmenmehrheit das Wahlkreismandat. Der Stimmentrans38  Benjamin Reilly, The Global Spread of Preferential Voting: Australian Institutional Imperialism?, in: Australian Journal of Political Science, 39 (2004) 2, S. 253– 266, hier: S. 261. 39  P. Münch-Heubner (Anm. 18), S. 167. 40  Ritchi und Gardini vertreten eine gänzlich andere Auffassung: „[T]here is nothing complex about an AV count […] with AV candidates and their supporters should have little difficulty in understanding the procedures and the manner in which the winner is determined.“ K.  Ritchie / A.  Gardini (Anm. 36), S. 282. Farrell gelangt zu einer vergleichbaren Einschätzung, vgl. D. Farrell (Anm. 17), S. 63.

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fer von einem ausgeschiedenen Kandidaten zu den restlichen Wahlkreisbewerbern ist in sich schlüssig; der Einfluss jeder Präferenzstimme ist schwerlich zu beziffern – besonders im Vorfeld der Wahl. Mit Sicherheit würden die Parteien ihren Anhängern Wahlvorschläge – ähnlich den How-to-VoteCards in Australien – unterbreiten. Diese erleichtern es dem Wähler, seine Präferenzen zu verteilen; zumal dann, wenn er ein taktisches Votum beabsichtigt, das seinem Wunschkandidaten am meisten hilft und zugleich dessen stärksten Konkurrenten besonders schwächt. Aus der Anzahl ungültiger Stimmen bei der Alternativstimmgebung zu den Wahlen zum australischen Repräsentantenhaus allein darauf zu folgern, wie kompliziert bzw. im Umkehrschluss wie verständlich das Wahlsystem ist, wäre verfehlt: Eine nicht geringe Zahl ungültiger Stimmen dürfte der in Australien praktizierten Wahlpflicht geschuldet sein und dem Erfordernis einer vollständigen Präferenzzuweisung, die ein Votum für einen nicht favorisierten Kandidaten einschließt. Gleichwohl sehen David M. Farrell und Ian McAllister Hinweise auf eine systembedingte Verwirrung einiger Wähler, die in einer ungültigen Stimmabgabe mündet.41 Das Kriterium der Verständlichkeit bzw. der Einfachheit der Alternativstimmgebung steht in einem Spannungsverhältnis zur vorab erörterten Partizipationsqualität des Wahlsystems. Die höhere Partizipationsleistung, die das Wahlsystem den Wählern durch die Präferenzvergabe eröffnet, geht teilweise zu Lasten der Verständlichkeit. Durch den Einsatz von Wahlempfehlungskarten versuchen die Parteien, den Präferenzstrom in ihrem Sinne zu steuern. Zur Transparenz und zur Verständlichkeit des Wahlsystems trägt dies indes nicht bei. Den Stimmentransfer von einem Kandidaten zum nächsten können die Wahlempfehlungen der Parteien nicht erhellen. 4. Legitimität

Inwieweit ein Wahlsystem die Legitimität fördert, hängt wesentlich von der Leistungsbilanz der anderen Bewertungskriterien ab. „[B]ecause of the majority support requirement, AV [Alternative Vote] increases the consent given to elected members, and thus can enhance their perceived legitimacy.“42 Dies trifft ebenso auf die französische absolute Mehrheitswahl zu, wenn es im zweiten Wahlgang zu einer Stichwahl kommt. Indem absolute Mehrheitswahlsysteme die Legitimität des mit absoluter Mehrheit gewählten Kandidaten steigern, trägt dieser Wahlsystemtyp zugleich zu seiner eigenen Legitimität bei. Gleichwohl garantieren beide Reformoptionen nicht in je41  Vgl.

D.  Farrell / I.  McAllister (Anm. 32), S. 143–146. Reynolds / Ben Reilly / Andrew Ellis (Hrsg.), Electoral System Design: The New International IDEA Handbook, Stockholm 2005, S. 49. 42  Andrew



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dem Fall die Wahl eines Kandidaten mit absoluter Mehrheit. Wird die erweiterte Stichwahl verwendet, wächst die Wahrscheinlichkeit solcher Wahlausgänge auf der Entscheidungsebene. Zumal dann, wenn in Deutschland in einem Wahlkreis ein Bewerber des linken Lagers reüssieren könnte, sich die betreffenden Parteien aber auf keinen gemeinsamen Kandidaten für den zweiten Wahlgang einigen. Ein solches Szenario wäre auf der Basis der Bundestagswahlergebnisse von 2013 in diversen sächsischen Wahlkreisen denkbar.43 Bei beiden Wahlsystemmodellen sind bezogen auf das Gesamtergebnis im Bundesgebiet künstliche Parlamentsmehrheiten einer Partei bzw. einer Koalition die Regel, die für die Legitimität des Wahlsystemtyps nicht zuträglich sind. Ungleich stärker schwächt eine Umkehr des Stimmen-Mandats-Verhältnisses die Legitimitätsleistung der absoluten Mehrheitswahl. Dessen Auftreten – zumal in gehäufter Form – wäre in Deutschland schwerlich zu vermitteln. Während sich in Australien trotz der wiederholten Umkehr der Stimmen-Mandats-Relation die Legitimationsfrage des Wahlsystems nicht stellte,44 würde eine ähnliche Entwicklung in Deutschland nicht nur Zweifel an den Wahlergebnissen nach sich ziehen. Vielmehr beschädigte dies die Akzeptanz des Wahlsystems. Sollte sich der Gesetzgeber entschließen, ein absolutes Mehrheitswahlsystem nach dem Vorbild der Alternativstimmgebung in Deutschland einzuführen, wird davon abgeraten, für die vollständige Präferenzzuteilung zu optieren. Wie in Australien würden sich die Parteien in Deutschland vermutlich die Kontrolle über die Präferenzvergabe aneignen und damit den Partizipationscharakter des Wahlsystems unterlaufen und zugleich dessen Legitimität mindern. Eine optionale Präferenzvergabe, bei der der Wähler für eine gültige Stimmabgabe lediglich seine Erstpräferenz angeben muss, ist ebenso wenig geeignet. Wie die Erfahrungen mit dieser Reformalternative in New South Wales und in Queensland zeigen, entscheidet sich ein nicht geringer Teil des Elektorats, auf eine über die Erstpräferenz hinausreichende Präferenzverteilung zu verzichten.45 Um den absoluten Mehrheitswahlcharakter der Alternativstimmgebung zu sichern, ist ein Minimum an Präferenzen notwendig. Vor dem Hintergrund eines abnehmenden gemeinsamen Stimmenanteils der Volksparteien und einer steigenden Kandidatenzahl sind Zweit-, Dritt- bzw. weitere Präferenzen erforderlich, um die absolute Stim43  Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen: Erststimmenverteilung ausgewählter Wahlvorschlagsträger bei der Wahl am 22. September 2013 in den Wahlkreisen des Freistaates Sachsen, Kamenz 2013, unter: www.statistik.sachsen.de /  wpr_neu / pkg_s10_ergli_lw.prc_ergli_lw_v2?p_bz_ bzid=BW13&p_art=1 (30. August 2014). 44  Vgl. P. Münch-Heubner (Anm. 18), S. 160 f. 45  Vgl. D.  Farrell / I.  McAllister (Anm. 32), S. 93 f.

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menmehrheit im Einerwahlkreis in Deutschland zu erreichen. Bei der Bundestagswahl 2013 gewannen 33 Prozent46 der Wahlkreissieger ihren Wahlkreis mit einer absoluten Stimmenmehrheit. In Australien ist die Anzahl der Präferenzen, die benötigt werden, um das Wahlkreisergebnis zu ermitteln, seit den 1950er Jahren stetig gestiegen.47 Vergleichbar ist die Entwicklung in Frankreich: In weniger als einem Fünftel der Wahlkreise fällt die Entscheidung im ersten Wahlgang.48 IV. Absolute Mehrheitswahl – keine zweckmäßige Alternative Die absolute Mehrheitswahl fördert die Konzentration des parlamentarischen Parteiensystems und trägt mithin dazu bei, regierungsfähige Mehrheiten zu bilden – wenngleich nicht in jedem Fall, wie die Referenzbeispiele belegen. Mit dem abnehmenden Integrationsvermögen der beiden Volksparteien kommt der Konzentrationskraft des Wahlsystems eine entscheidende Rolle zu. Der hohe Konzentrationsgrad geht zulasten der Repräsentationsleistung. Diese hängt vor allem beim französischen Modell in besonderem Maße vom Verhalten der Parteien wie der Wähler ab und unterstreicht die Bedeutung, die dem psychologischen Effekt für die Wirkungsweise des Wahlsystems zukommt. Durch den teils starken Verzerrungseffekt des absoluten Mehrheitswahlsystems korrespondieren die Mandatsanteile der Parteien nicht mit ihren Stimmenanteilen. Auch bei einem Entgegenkommen der großen Parteien zugunsten der kleinen kann von einer gerechten Repräsentation der parteipolitischen Strömungen nicht die Rede sein. Durch die kleinstmögliche Wahlkreisgröße  –  den Einerwahlkreis  –  hängt die Performanz kleiner Parteien wesentlich davon ab, wie sich ihre Wählerschaft in Deutschland verteilt. Indes tragen beide Formen der absoluten Mehrheitswahl dazu bei, dass die Stimme für einen im Wahlkreis aussichtslosen Kandidaten nicht verschenkt ist. Während die französische Variante des absoluten Mehrheitswahlsystems durch ihre Einfachheit besticht, bietet die komplexere Alternativstimmgebung dem Wähler weitreichendere Partizipationsmöglichkeiten – zumindest 46  Vgl.

Statistisches Bundesamt. D.  Farrell / I.  McAllister (Anm. 32), S. 82 f. 48  Vgl. André Blais / Peter John Loewen, The French Electoral System and its Effects, in: West European Politics, 32 (2009) 2, S. 345–359, hier: S. 347. In den Parlamentswahlen die unmittelbar auf eine Präsidentschaftswahl folgten, war die Zahl der Wahlkreise mit absoluter Stimmenmehrheit im ersten Wahlgang höher bzw. stieg sie im Verhältnis zur vorangegangen Wahl. Vgl. ebd., S. 347 f. Langfristig dürfte sich die Zahl der Wahlkreise, in denen bereits im ersten Wahlgang eine Entscheidung fällt, durch die seit 2000 festgeschriebene zeitliche Nähe der Parlamentszu den Präsidentschaftswahlen erhöhen. 47  Vgl.



Zwei Varianten der absoluten Mehrheitswahl auf dem Prüfstand

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theoretisch. Beide Systemvarianten ermöglichen dem Wähler, seine Koali­ tionspräferenz zu äußern. Zudem weiß der Wähler vorab, welchem Bündnis er seine Stimme gibt. Aus repräsentationstheoretischer Sicht ist die französische Form der australischen vorzuziehen: Ein möglicher zweiter Wahlgang erhöht die Chancen kleiner Parteien ohne signifikante Hochburgen, parlamentarisch repräsentiert zu sein. Die Pflicht einer vollständigen Präferenzzuteilung bei der Alternativstimmgebung bevorteilt abermals die großen Parteien, die bereits Nutznießer des mechanischen Effekts des Wahlsystems sind. Dies kann auch die höhere Legitimität der Wahlkreisergebnisse, gestützt von einer absoluten Wählermehrheit, nicht wettmachen. Da die französische Variante der Repräsentation aller gesellschaftlich relevanten Gruppen ebenfalls nur ungenügend Rechnung trägt – kleine Parteien sind auf das Wohlwollen der Volksparteien angewiesen und darauf, von deren Wählern unterstützt zu werden –, bestehen berechtigte Zweifel an der Eignung der absoluten Mehrheitswahl als einem sinnvollen Alternativsystem für Deutschland. Aufgrund ihrer Leistungsbilanz im bundesdeutschen Kontext kann die Einführung der absoluten Mehrheitswahl nicht empfohlen werden.

Politischer Schweden-Krimi Eine Analyse der Reichstagswahl 2014 Von Christoph Bruckmüller I. Neuwahl in Schweden? Der schwedische Regierungschef Stefan Löfven gab nur zweieinhalb Monate nach der ordentlichen Reichstagswahl vom 14. September 2014 bekannt, dass er mit einer Extrawahl zu einem Mittel greifen werde, von dem in der konsensorientierten schwedischen Politik das letzte und bislang einzige Mal im Jahr 1958 Gebrauch gemacht wurde.1 Mit dieser Wahl 2014 war ein Regierungswechsel von den vier konservativen Parteien zu den Sozialdemokraten und Grünen einhergegangen. Die beiden Regierungsfraktionen verfügten seither – wenngleich größer als der rechte Block  – selbst mit Unterstützung der Linkspartei über keine Parlamentsmehrheit, da sich die Schwedendemokraten als drittstärkste Kraft im Plenum etablieren konnten.2 Die lange Nichtanwendung des Instruments der Neuwahl ist Hinweis darauf, dass es in der dortigen politischen Praxis lediglich als Ultima Ratio betrachtet wird und macht eine historische Ausnahmesitua­ tion deutlich, die eine Kompromissfindung im Advent 2014 zunächst unmöglich erscheinen ließ. Dass eine Neuwahl aus Sicht der betroffenen parteipolitischen Akteure alles andere als einen erstrebenswerten Weg zur Lösung des strukturellen Problems des Parteiensystems darstellte, wurde spätestens am 27. Dezember 2014 klar, als das „Dezemberabkommen“ zwischen den beiden Regierungsparteien und dem bürgerlichen Lager öffentlich gemacht und damit eine Reichstagswahl im März 2015 abgewendet wurde. 1  Das schwedische Parlament wird in einem festgeschriebenen Zyklus alle vier Jahre gewählt. Es hätte sich also um keine vorgezogene Neuwahl, sondern um eine eingeschobene Abstimmung (Extrawahl) gehandelt, wovon der feste Vierjahresturnus nicht beeinflusst worden wäre. 2  Die schwedischen Parteien teilen sich in ein linkes und ein rechtes Lager, wobei in Schweden die Bezeichnungen rot-grüner bzw. bürgerlicher Block verwendet werden. Die Schwedendemokraten stehen als einzige Reichstagspartei außerhalb dieses Lagerverständnisses. Vgl. Abschnitt II.

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Obwohl der Wahlausgang angesichts der vorangegangenen Prognosen3 wenig überraschen konnte, wurde er mit Bestürzung und Unsicherheit registriert. Als Reaktion auf den Erfolg der Schwedendemokraten war die überregionale Tageszeitung „Expressen“ am darauffolgenden Tag komplett in schwarz getaucht und betitelte ihren Leitartikel – auch mit Blick auf die sich ergebende Sitzverteilung im neuen Reichstag – mit „Armes Schweden“4. Die Vorsitzende der Zentrumspartei Annie Lööf gab – bezogen auf die zukünftigen Herausforderungen der Mehrheitsfindung5 – bereits am Wahl­ abend das gleiche Stimmungsbild wieder: „Diese parlamentarische Lage ist tief tragisch. Das ist ein parlamentarischer Alptraum. Dies ist eine Wahl ohne Gewinner.“6 Den großen Wahlsieger (vgl. die Tabelle auf S. 146), Jimmie Åkesson und seine Partei der Schwedendemokraten, hatte sie dabei bewusst ignoriert; die ihre Schatten vorauswerfende Regierungskrise vom Dezember schien sie schon vor Bekanntgabe des vorläufigen Wahlergebnisses zu erahnen. Dieser Abschnitt analysiert die schwedische Reichstagswahl vom 14. September 2014 und geht der Frage nach, warum in deren Anschluss zwar eine neue Regierung ihr Amt antreten konnte, diese jedoch beinahe bereits an der ersten Haushaltsabstimmung unter ihrer Legislatur gescheitert wäre. Des Weiteren wird erörtert, inwiefern die erzielte Einigung das entstandene Dilemma lösen konnte. II. Parteiensystem Schwedens Parteiensystem bildete im internationalen Vergleich lange Zeit eine Ausnahme, da dort von Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts an bis 1988 stets ausschließlich dieselben fünf Parteien im Parlament vertreten waren. Die Freezing Hypothesis von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan blieb somit ungewöhnlich lange bestätigt.7 Auch nach dieser Zäsur waren diese fünf bis heute immer im schwedischen 3  Für eine gewichtete Zusammenstellung von fünf verschiedenen Wählerumfragen (Poll of Polls) vgl. Novus, Svensk väljaropinion, unter: www.tinyurl.com / p98g2ga (9. Februar 2015). 4  Stackars Sverige, in: Expressen vom 15. September 2014, S. 2 (Übers. C. B.). 5  In einer weiteren Wahlanalyse sind alle Minimal Winning Coalitions aufgelistet. Vgl. Nicholas Aylott / Niklas Bolin, Polarising Pluralism. The Swedish Parliamentary Election of September 2014, in: West European Politics, 38 (2015) 3, S. 730–740, hier: S. 737. 6  Annie Lööf, Rede auf der Wahlparty der Zentrumspartei am Wahlabend, 14. September 2014, unter: www.tinyurl.com / nytj7sb (9. Februar 2015 ‒ Übers. C. B.). 7  Vgl. Seymour Martin Lipset / Stein Rokkan, Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments. An Introduction, in: dies. (Hrsg.), Party Systems and Voter Alignments. Cross-National Perspectives, New York 1967, S. 1–64.



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Reichstag vertreten. Seit dem Jahr 2010 besteht das schwedische Parlament aus acht Fraktionen, da es im Laufe der Zeit um eine Grüne Partei (1988), die moralkonservativen Christdemokraten (1991) und die xenophob-populistischen Schwedendemokraten (2010) erweitert wurde. Von den „Neulingen“ musste nach dem Einzug lediglich die grüne Umweltpartei eine Legislaturperiode außerhalb des Parlaments verbringen und für die rechtspopulistische Neue Demokratie Platz machen (1991–1994). Darüber hinaus hat das schwedische Verhältniswahlsystem keine Parteien auf nationaler Ebene in der Nähe der Vierprozentmarke (Sperrklausel) hervorgebracht. Im früheren Fünfparteiensystem konnte Schwedens Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Sveriges socialdemokratiska arbetareparti, S) seit den 1930er Jahren immer deutlich über vierzig Prozent der Wählerstimmen für sich gewinnen und galt als die „natürliche Regierungspartei“. In dieser Zeit verbrachte sie bis zum Jahr 2006 tatsächlich nur neun Jahre in der Opposition (1976–1982, 1991–1994) und benötigte seit den späten 1950er Jahren nie einen Koalitionspartner.8 Die Minderheitsregierungen, als solche gestützt durch die Kommunistische Linkspartei, die stabil zwischen vier und sechs Prozent lag, konnten in der Sachpolitik mit wechselnden Mehrheiten arbeiten.9 Dies verdankten die Sozialdemokraten ganz wesentlich der chronischen Uneinigkeit der drei Parteien rechts von ihr: der aus dem Bauernbund hervorgegangenen Zentrumspartei, der Liberalen Volkspartei und der Moderaten Sammlungspartei, deren Wahlergebnisse jeweils zwischen zehn und 25 Prozentpunkten schwankten. Die durch die Partei Neue Demokratie gestützte Minderheitsregierung von 1991 bis 1994 war die erste bürgerliche Koalition, die über eine komplette Legislaturperiode Bestand hatte. Mit der Einführung des Einkammersystems 1971 hatte sich auch die Linkspartei die Kommunisten (Vänsterpartiet kommunisterna, seit 1990 nur noch Die Linkspartei, Vänsterpartiet, V) reformiert und wurde zur konstanten Stütze der Sozialdemokratie bei wichtigen Abstimmungen. Andere Kooperationen waren somit in den meisten Politikfeldern nicht zwingend nötig. Ein festes sozialistisches Lager stand nun entlang des dominierenden ArbeitKapital-Cleavages drei uneinigen bürgerlichen Parteien gegenüber, die gemeinsam ähnlich viele Mandate auf sich vereinigen konnten. Dieses Phäno8  Die schwedische Regierungsbildung folgt dem Prinzip des negativen Parlamentarismus: Eine Regierung bleibt auch nach Wahl im Amt, solange sich keine Parlamentsmehrheit gegen sie ausspricht. Seit der Wahl 2014 ist dies in Form eines obligatorischen Misstrauensvotums institutionalisiert. Diese Regelung fand dann jedoch aufgrund des Regierungsrücktritts keine Anwendung. 9  Basierend auf dieser Vormachtstellung der Sozialdemokraten galt Sartori – in seiner die Parteiensystemforschung prägenden Typologie – Schweden als prädominantes Parteiensystem. Vgl. Giovanni Sartori, Parties and Party Systems. A Framework for Analysis. Vol  I, Cambridge 1976, S. 192–216.

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men der starren Lagerbildung ist in Schweden unter dem Begriff Block­ politik bekannt und lockerte sich erst in den 1990er Jahren wieder etwas auf. Sichtbar wurde dies, als die Sozialdemokraten mit der Zentrumspartei (Centerpartiet, C) in der Legislative lagerübergreifend zusammenarbeiteten. Danach rückte jedoch die Umweltpartei die Grünen (Miljöpartiet de gröna, MP) mehr in ihren Kooperationsfokus. Bis heute konkurriert sie mit der Zentrumspartei in einem ähnlichen Segment des Wählermarktes10 und ist nach anfänglichen Versuchen, sich zwischen den Blöcken zu positionieren, inzwischen zum linken Lager zu zählen. Heute ist daher seltener vom sozia­ listischen als vielmehr vom rot-grünen Block die Rede. Die inzwischen um die Christdemokraten erweiterten bürgerlichen Parteien konnten das unlösbar geglaubte Dilemma ihrer Uneinigkeit in einem Annäherungsprozess ab dem Jahr 2004 überwinden. Das Abkommen von Bankeryd, in dem die Kooperation unter dem Namen „Allianz für Schweden“ (später nur noch „Allianz“) formalisiert wurde, stellte als gesamtbürgerliche, präelektorale Vereinbarung nicht nur ein historisches Novum dar, sondern war auch ein wesentlicher Wendepunkt in der Gesamtentwicklung des schwedischen Parteiensystems, der Beobachter und Experten erstaunen ließ: „So präsentierten sich die bürgerlichen Parteiführer im Wahlkampf 2006 mit einer Geschlossenheit, die vor dem Hintergrund der Jahrzehnte währenden Querelen mitunter surreal anmutete.“11 Die Revitalisierung der Blocklogik im schwedischen Parteiensystem erklärt sich vor allem durch den Wahlerfolg der Allianz, die 2006 einen Machtwechsel herbeiführen konnte und zunächst in Majorität, ab 2010 in Minorität regieren konnte. Bis zur Reichstagswahl am 14. September 2014 konnte damit bürgerliche Regierungsstabilität historischen Ausmaßes erreicht werden, wobei auch die Wahlergebnisse der Moderaten Sammlungspartei (Moderata samlingspartiet, M), der die Führungsrolle innerhalb des Bündnisses vorbehalten blieb, in der Nachkriegszeit bis dato ungekannte Höhen erreichten. In einer Analyse des Wählerverhaltens 2006 nennen Henrik Oscarsson und Sören Holmberg die Bildung der Allianz als ersten von sieben entscheidenden Punkten für den Regierungswechsel.12 Als Reaktion darauf bildete im Jahr 2010 auch der linke Block eine feste Wahlkoalition, die jedoch nicht reibungslos zu10  Diese Konkurrenzsituation war einer der Faktoren für das Scheitern einer Regierungsbildung der „Mitteparteien“ unter der Führung der Liberalen Volkspartei, die nach der Reichstagswahl im Jahr 2002 kurzzeitig erwogen wurde. Vgl. David Arter, Democracy in Scandinavia. Consensual, Majoritarian or Mixed, Manchester / NewYork 2006, S. 238–257. 11  Sven Jochem, Wandel und Zukunftsaussichten des schwedisch-sozialdemokratischen Modells, in: Leviathan, 38 (2010) 2, S. 227–249, hier: S. 232. 12  Vgl. SCB, Demokratistatistik rapport 9, Därför vann Alliansen. En sammanfattning av några resultat från väljarundersökningen 2006, Stockholm 2009, S. 30 f.



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stande kam und im Unterschied zu ihrem einig auftretenden politischen Gegner beim Wähler nicht überzeugen konnte. Die Wahl 2010, bei der alle im Parlament vertretenen Parteien in einem von zwei festen Bündnissen zur Wahl antraten, bildete damit den Höhepunkt dieser Lagerlogik, aufgrund welcher verschiedentlich von einem de facto-Zwei-Parteiensystem gesprochen wurde.13 Sowohl die Blockpolitik an sich als auch die Einung der bürgerlichen Parteien sind strukturelle Charakteristika des Parteiensystems, die wesentliche Erklärungsfaktoren für die Analyse der letzten drei schwedischen Parlamentswahlen sowie der Regierungskrise 2014 liefern. III. Ausgangslage und Wahlkampf Mit Fredrik Reinfeldt (M) als nach wie vor populärem Ministerpräsidenten (statsminister) trat die bürgerliche Regierung als geschlossenes Parteienbündnis mit einem gemeinsam ausgearbeiteten Haushaltsvorschlag zur Wahl 2014 an und führte erneut auf diesem Bündnisfaktor aufbauend Wahlkampf, lag jedoch nach acht Jahren Regierungszeit in Umfragen deutlich hinter ihrem politischen Gegner zurück.14 Diese historisch paradox anmutende Trumpfkarte wurde seit 2006, verknüpft mit einer negativen Strategie gegenüber dem politischen Gegner, erfolgreich ausgespielt.15 So wurde Fredrik Reinfeldt auch im Jahr 2014 nicht müde, mit der bürgerlichen Regierungsstabilität zu werben und vor dem drohenden „Chaos“ bei einem Wahlsieg der linken Parteien zu warnen.16 Der bürgerliche Wahlkampf war im Grundton als Bitte um die Bestätigung der eigenen Politik gestaltet. Nach bewährtem Allianz-Konzept wurde mit einem gemeinsamen Wahlprogramm sowie dem Haushaltsentwurf die verbindende Linie präsentiert, während die einzelnen Parteien in Arbeitsteilung ihre traditionellen Policybereiche bewarben.17 Dabei betonte die Moderate Sammlungspartei Kontinuität in der Wirtschafts- wie in der Arbeitsmarktpolitik. Vor ihrer inneren Reformierung zu 13  Vgl. u. a. Tommy Möller, Personfrågan avgörande i nästa års valrörelse, 28. Februar 2009, unter: www.tinyurl.com / nxx85rn (9. Februar 2015); Nicholas Aylott /  Niklas Bolin, Towards a Two-party System? The Swedish Parliamentary Election of September 2006, in: West European Politics, 30 (2007) 3, S. 621–633, hier: S. 632. 14  Vgl. Novus (Anm. 3). 15  Vgl. Aron Etzler, Reinfeldteffekten. Hur Nya Moderaterna tog över makten i Sverige och skakade Socialdemokraterna i grunden, Stockholm 2013. 16  Vgl. Olle Lönnaeus, Fredrik Reinfeldt i motvind varnar för vänstern, 16. Juni 2014, unter: www.tinyurl.com / l6a9cgc (9. Februar 2015). 17  Vgl. N. Aylott / N. Bolin (Anm. 13), S. 626 f.; Alliansen, Vi bygger Sverige. Alliansens valmanifest 2014–2018, unter: www.tinyurl.com / mrqnprx (9. Februar 2015).

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den „Neuen Moderaten“, die zeitlich parallel zur Bildung der Allianz verlief, war das Credo für Steuersenkungen profilgebend für die konservative Partei. Während solche in den vergangenen beiden Legislaturperioden auch durchgeführt wurden, versprach Reinfeldts Partei keine weiteren Erleichterungen für die kommende. Gegenüber der traditionell investitionsfreudigen Sozialdemokratie stilisierten sich die Moderaten als die Partei, die Ordnung in den öffentlichen Finanzen halten würde. Die Priorisierung finanzpolitischer Stabilität ließ damit wenige Spielräume, dem Wahlvolk zusätzliche Wohltaten für die Zukunft anzukündigen. Die traditionell ökologisch orientierte Zentrumspartei setzte vor allem auf die Themen Förderung von erneuerbaren Energien und Unterstützung von kleinen und mittelständischen Unternehmen vornehmlich außerhalb der Großstädte, Heimat der traditionellen Wählerklientel des ehemaligen Bauernbundes. Die Volkspartei die Liberalen (Folkpartiet liberalerna, FP) tat sich nach acht Jahren Regierungs- und Verantwortung für das Bildungsministerium sowie dem schwedischen „PISA-Schock“ von Ende 2013 schwer, mit ihrem favorisierten Thema der Schulpolitik Punkte zu sammeln.18 Dennoch wurde das Thema stark betont (Titel des Wahlprogramms: „Stimme für die Schule“), allerdings wurde sinnfälligerweise zukunftsgerichtet argumentiert.19 Hierfür waren im sonst sparsamen Allianz-Programm größere Investitionen vorgesehen. In der Familienpolitik, der angestammten Domäne der Christdemokraten (Kristdemokraterna, KD), bestand Uneinigkeit innerhalb der Allianz über die Einführung eines dritten geschlechtsspezifisch festgelegten Monats in der Elternzeit, gegen den sich die eher für traditionelle Rollenverteilung eintretende Partei deutlich aussprach.20 Die Christdemokraten fokussierten sich im Wahlkampf auf andere Punkte der Familienpolitik, wie die Verkleinerung von Gruppen in Vorschulen und Kindertagesstätten und bedienten mit wohlfahrtsstaatlichen Themen der Altenpflege das ältere Wählersegment, in dem sich traditionell die meisten christdemokratischen Wähler Schwedens befinden. Von allen Reichstagsparteien hatten die Christdemokraten im Wahlkampf am meisten mit der Vierprozenthürde zu kämpfen.

18  Für Reaktionen auf die Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Studie vgl. u. a. Ossi Carp, Sverige sämst i klassen, 3. Dezember 2013, unter: www.tinyurl.com /  nzdhy57 (9. Februar 2015). 19  Vgl. Folkpartiet Liberalerna, Rösta för skolan. Folkpartiet liberalernas valmanifest 2014, unter: www.tinyurl.com / qanwvsw (9. Februar 2015). 20  In Schweden sind von 16 Monaten Elternzeit bisher jeweils zwei Monate für Mutter und Vater festgelegt, die restlichen zwölf Monate können individuell aufgeteilt werden. Die Liberalen sprachen sich als einzige bürgerliche Partei für die Einführung eines dritten geschlechtsspezifischen Monats aus. Ansonsten wurde eine solche Reform mit mindestens je drei festgelegten Monaten von den rot-grünen Parteien beworben.



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Die schwedische Sozialdemokratie war trotz des prognostizierten Stimmenvorsprungs des linken Blocks gegenüber der Allianz weit von früheren Wahlergebnissen entfernt. Seit dem Regierungswechsel im Jahr 2006, nach welchem Göran Persson als erster Ministerpräsident und Vorsitzender der Sozialdemokraten als Reaktion auf eine Wahl von beiden Ämtern zurücktrat, befindet sie sich in der Dauerkrise. Nach der Ermordung der Außenministerin Anna Lindh im Jahr 2003 und dem Verzicht Margot Wallströms auf den Parteivorsitz – sie zog es vor, in der Europäischen Kommission zu verbleiben – war die Nachfolgefrage an der Spitze der Sozialdemokraten offen, einer Partei, die sich in der Vergangenheit stets durch jahrelange personelle Kontinuität ausgezeichnet hatte: In den 100 Jahren nach 1907 gab es nur sechs verschiedene Parteivorsitzende. Stefan Löfven wurde dann – nach Mona Sahlin und Håkan Juholt – bereits der dritte seit 2007. Das Ungewöhnliche an seiner Biographie: Er konnte trotz jahrzehntelanger Parteizugehörigkeit keinerlei Erfahrung als Reichstagsabgeordneter vorweisen. Selbst in Schweden, das über eine Tradition von korporatistischen Strukturen verfügt, war sein direkter Wechsel vom Gewerkschaftsvorsitzenden zum Kandidaten für das Amt des Regierungschefs ein Ausnahmefall. Seine mangelnde politische Erfahrung versuchte Stefan Löfven keineswegs zu verstecken. Stattdessen betonte er für den Fall komplizierter Mehrheitsverhältnisse seine Fähigkeiten als langjähriger Verhandlungsführer. Nach den negativen Erfahrungen der festen Wahlkoalition des linken Lagers bei der sozialdemokratischen „Katastrophenwahl“ von 2010, in der das zweite Mal in Folge ein historisches Stimmentief erreicht wurde (30,7 Prozent), betrieb die Partei im Jahr 2014 einen betont eigenständigen Wahlkampf. Für den Fall einer relativen Blockmehrheit der rot-grünen Parteien wurde die Umweltpartei stets als „natürlicher Zusammenarbeitspartner“ bezeichnet, was diese mit derselben Wortwahl bestätigte. Löfven warb von Beginn an für eine Auflockerung der Blockpolitik und sprach sich für eine lagerübergreifende Zusammenarbeit in der kommenden Legislaturperiode aus, indem er immer wieder die Metapher der „ausgestreckten Hand“ bemühte. Nachdem Umfragen mehr Stimmen für die drei linken Parteien als für die Allianz prognostizierten, war es wohl die Frage der Wahl 2014, ob es auch für eine absolute Mehrheit reichen würde. Dieses arithmetische Argument mag sowohl Ursache für die „ausgestreckte Hand“ als auch für das Weigern der Sozialdemokraten, sich über das zukünftige Arbeitsverhältnis zur Linkspartei zu äußern, gewesen sein. Eine diesbezüglich positive Aussage hätte aus sozialdemokratischer Sicht ohne Not umkämpfte Mittewähler verschrecken können. Einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor bildeten Prognosen für eine vierte Partei links der politischen Mitte, die Feministische Initiative (Feministiskt initiativ, FI), die während des Sommers von Demoskopen um die vier Prozent gehandelt wurde.

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Aus dieser unsicheren Position heraus trat die Sozialdemokratie also ohne Bündnispartner zur Wahl an, wie sie es – mit Ausnahme des Jahres 2010 – immer schon getan hatte. Im Wahlkampf propagierte sie Investitionen in Wohnungsbau, Schienennetz und Wohlfahrtsstaat, präziser in eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes, in mehr Angestellte in Schulen und Pflegeeinrichtungen und für 32.000 einjährige Traineejobs zum Arbeitseinstieg im öffentlichen Sektor, um die für schwedische Verhältnisse inakzeptabel hohe Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Der Hauptvorwurf an die Regierungsparteien war die Ineffektivität der arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen, die seit 2006 ergriffen worden waren: Privatisierungen sowie die Senkungen von Lohnsteuer und Arbeitgeberabgaben hätten nicht dazu beigetragen, die Arbeitslosenzahl zu verringern.21 Auch die Umweltpartei die Grünen hatte aus der Wahlniederlage 2010 Lehren gezogen, nachdem die damaligen Planungen für die erhoffte Regierungsarbeit allzu viel Zeit und Personal während des Wahlkampfs gebunden hatten. Diese Aufgabe wurde für den Fall einer Koalitionsbeteiligung nach 2014 einer kleinen Arbeitsgruppe übertragen. Die Grünen führten ebenfalls einen eigenständigen Wahlkampf, obgleich sie das Ziel des Regierungswechsels und ihre Koalitionsbereitschaft klar kommunizierten. Auch wenn sich die Parteiführungen „abstimmten“ und Parteivertreter wohldosiert gemeinsam auftraten, sollten die inhaltlichen Verhandlungen über ein Regierungsprogramm mit den Sozialdemokraten erst nach der Wahl erfolgen. Das machte beide „natürlichen Zusammenarbeitspartner“ angreifbar für die rechte Seite des Parteienspektrums, da sich die vorher propagierten Positionen, so die bürgerliche Argumentation, nicht mit denen eines möglichen Koalitionsvertrages decken könnten. Die rot-grüne Seite hielt dem entgegen, die Wähler nicht übergehen zu wollen, da erst mit der Stimmabgabe die jeweiligen Mandate an die Parteien übertragen würden und somit die Ausgangspositionen für die Verhandlungen noch ausstünden. Die drei Kernziele der Grünen, Verminderung der klimaschädlichen Emissionen, erhebliche Investitionen für die Schaffung neuer Arbeitsplätze und eine Reduzierung der Bürokratie zugunsten des aufzustockenden Lehrpersonals an den Schulen, konfligierten nicht mit sozialdemokratischen Positionen.22 Mit ihrem Hauptwahlkampfthema, der Forderung nach einem Verbot von gewinnorientierten Unternehmen in Schule, Kinderbetreuung und Pflege, 21  Als potentielle Regierungsführerin führten die Sozialdemokraten die Debatte über ein breiteres Themenspektrum. Wie bei den anderen Parteien, sollen hier nur die Schwerpunkte aufgezeigt werden. 22  Für einen Überblick zum Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und Grünen vgl. Karin Eriksson, S och MP närmar sig varandra, 4. Mai 2014, unter: www. tinyurl.com / pq92var (9. Februar 2015). Für das Wahlprogramm der Grünen vgl. Miljöpartiet de gröna, Valmanifest, unter: www.tinyurl.com / nv8lmlo (9. Februar 2015).



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stellte sich die Linkspartei gegen die Allianz, die argumentierte, eine fortgesetzte Öffnung des Wohlfahrtssektors für private Unternehmen würde positive Effekte wie mehr Auswahl für die Bürger, bessere Qualität und geringere Kosten durch Konkurrenz mit sich bringen. Darüber hinaus trat die Linkspartei für mehr Geschlechter- und soziale Verteilungsgerechtigkeit sowie für strengere Umwelt- und Klimapolitik und damit für von ihr gewohnte Positionen ein. Sie stützte eine potentielle rot-grüne Regierung und kommunizierte klar den Wunsch nach Beteiligung.23 Nach dem Urteil des Politikwissenschaftlers Johan Martinsson war die Feministische Initiative in politischen Sachfragen der Linkspartei „extrem ähnlich“ und mit ihr „nahezu identisch“.24 Gestärkt durch den Erfolg bei der Wahl zum Europäischen Parlament am 25. Mai 2014 (5,5 Prozent, ein Mandat) führte die Partei erfolgreich Wahlkampf und fügte den in der Öffentlichkeit geführten Planspielen zur Regierungsbildung ein Unsicherheitsmoment hinzu. Für Fredrik Reinfeldt boten die guten Umfragewerte der Feministen noch mehr Anlass, vor dem linken Chaos zu warnen. Den Schwedendemokraten (Sverigedemokraterna, SD) wurde direkt nach der Wahl wohl die meiste öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Zwar war ihre Schlüsselstellung als mögliche Mehrheitsbeschafferin zwischen den Blöcken zu erwarten, allerdings überraschte das sehr gute Abschneiden der Partei an der Urne.25 Die Schwedendemokraten, die ihre Wurzeln in verschiedenen neonationalsozialistischen und fremdenfeindlichen Bewegungen haben,26 zogen im Jahr 2010 zum ersten Mal in das schwedische Parlament ein und wurden seither von allen anderen Reichstagsparteien konsequent isoliert. Dies erst ermöglichte die zweite Amtszeit der Allianz-Regierung, da die rot-grünen Parteien Reinfeldt nicht mit Hilfe der Schwedendemokraten in einem Misstrauensvotum abwählen wollten. Trotz einiger Entradikalisierungsmaßnahmen und der langjährigen Strategie, sich als gemäßigte Partei zu präsentieren, fiel sie immer wieder durch verschiedene Skandale auf – meist rassistische oder homophobe Äußerungen oder Handlungen von Mit23  Vgl. Vänsterpartiet, Vänsterpartiets valplattform för riksdagsvalet 2014, unter: www.tinyurl.com / mqgrl5y (9. Februar 2015). 24  Zit. nach: Mattias Sandberg ‚FI är identiska med Vänsterpartietʻ, 15. Mai 2014, unter: www.tinyurl.com / p4hdjf5 (9. Februar 2015). 25  Die schwedische Wahlforschung konnte für bessere Prognosen bisher keinen adäquaten Gewichtungsfaktor finden, um der geringen Beteiligung von SD-Wählern an Umfragen entgegenzuwirken. Als Ursache wird eine Mischung aus Scham und Ablehnung wissenschaftlicher Institute als Teile des politisch-gesellschaftlichen ­Establishments seitens der SD-Wähler vermutet. 26  Zur Geschichte der Partei vgl. Anna-Lena Lodenius, Sverigedemokraternas historia, in: Håkan A. Bengtsson (Hrsg.), Högerpopulismen. En antologi om Sverige­ demokraterna, Stockholm 2009, S. 11–41.

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gliedern –, die innerparteilich nicht immer mit der gleichen Konsequenz sanktioniert wurden, wie dies in anderen Parteien der Fall gewesen wäre. Zurückgeführt wird dies auch auf die Häufigkeit dieser Vorfälle, durch die sich eine Normalisierung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung eingestellt hatte, und so der öffentliche Druck auf die Partei in solchen Fällen zurückging.27 Die Parteigeschichte und derartige Skandale bekräftigen die ohnehin bestehende inhaltliche Distanz zwischen den Schwedendemokraten und den sieben anderen Reichstagsparteien: Die xenophob-populistische Partei ist die einzige, die die Zuwanderung vermindern will, weil sie sie als Ursache vieler weiterer, wenn nicht aller Probleme des Landes ansieht. Potentielle Kooperationspartner in dieser, ihrer wichtigsten politischen Frage sind derzeit im Reichstagsplenum nicht auszumachen, da auch die kulturrassistischen Grundannahmen, aus denen die Partei ihre Positionen ableitet, von allen anderen Parteien entschieden zurückgewiesen werden. Durch die Steuerpflicht der Sozialleistungen in Schweden entstand mit dem schrittweisen Senken der Lohnsteuer eine ungleiche Besteuerung von Arbeitnehmern und Rentenempfängern. Mit der Forderung nach einer Egalisierung dieses Verhältnisses und einer zusätzlichen Rentenerhöhung sowie mit Investitionen in Altenwohneinrichtungen versuchten die Schwedendemokraten im Wahlkampf 2014 erneut, gezielt die Wählergruppe der Rentner zu umwerben. Eine darüber hinausgehende, den starken schwedischen Wohlfahrtsstaat (für Inländer) bejahende Position der Schwedendemokraten macht eine Klassifizierung der Partei als rechtspopulistisch irreführend. Das dominierende Wahlkampfthema war der Arbeitsmarkt, wobei die Opposition die Regierung für die gestiegene Arbeitslosenquote seit 2006 anklagte, während diese hervorhob, in jener Periode über 300.000 neue Arbeitsplätze geschaffen zu haben. Für die Gesamtwählerschaft war das wichtigste Thema für die Wahlentscheidung jedoch „Schule und Ausbildung“ („sehr große Bedeutung für Parteiwahl“: 59,1 Prozent) vor „Krankenpflege“ (55,2 Prozent).28 Erst auf dem dritten und vierten Rang folgten „schwedische Ökonomie“ (54,1 Prozent) beziehungsweise „Beschäftigung /  27  Vgl. Peter Wolodarski, Avtrubbning är Jimmie Åkessons bästa hopp, 7. September 2014, unter: www.tinyurl.com / kkqzb47 (9. Februar 2015). 28  Hier und in Abschnitt V. genannte Zahlen zur Wahl 2014 stammen aus einer Wahlnachfrageuntersuchung (Exit Poll) des schwedischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens (n=12.909). Vgl. Sören Holmberg / Per Näsman / Torbjörn Gustafsson, VALU 2014. SVT:s vallokalsundersökning riksdagsvalet 2014, Göteborg 2014. Alle angegebenen Werte wurden nachträglich gewichtet. Die Berechnungen wurden durch den Autor vorgenommen, soweit sie nicht bei Tryggvason enthalten sind. Vgl. Per Oleskog Tryggvason, Vikten av vikter. Sammanställning av viktade resultat från SVTs vallokalsundersökning 2014, Valforskningsprogrammets rapportserie 13 / 2014. Daten erhältlich über Svensk Nationell Datatjänst.



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Arbeitslosigkeit“ (51,1 Prozent). Der letzte Problembereich, der für eine Mehrheit der Wähler (50,4 Prozent) sehr bedeutsam für die Parteiwahl war, wurde mit dem Schlagwort „soziale Wohlfahrt“ bezeichnet. Trotz einiger Aufmerksamkeit im Wahlkampf und gleichzeitiger Ukraine-Krise spielte die „Verteidigungsfrage“ nur für wenige schwedische Bürger eine sehr große Rolle (18,5 Prozent, niedrigster Wert aller Themenfelder). Wechselt man die Perspektive von Issue Saliency zu Issue Ownership,29 so zeigt sich, dass die Moderaten trotz ihrer großen Stimmenverluste immerhin noch in drei Politikfeldern (Steuern, persönliche und schwedische Ökonomie) das größte Vertrauen der Wähler genossen und sich in einem weiteren mit den Sozialdemokraten auf Augenhöhe befanden („Beschäftigung / Arbeitslosigkeit“, S: 32,2 Prozent; M: 32,0 Prozent). Kleinere Parteien konnten lediglich bei weniger relevanten Fragen Issue Ownership reklamieren, etwa die Umweltpartei die Grünen beim Thema „Umwelt“ (39,2 Prozent) vor der Zentrumspartei (20,6 Prozent) und die Schwedendemokraten im Bereich „Flüchtlinge / Einwanderung“ (21,4 Prozent) knapp vor den Sozialdemokraten (21,1 Prozent). Bei allen weiteren Fragen lag die Sozialdemokratie bei den Wählern vorn und konnte damit auch Kernthemen anderer Parteien besetzen, die dennoch Werte weit über ihren Wahlergebnissen erzielen konnten: „Schule und Ausbildung“ (FP: 21,9 Prozent), „die Frage über Gewinne in der Wohlfahrt“ (V: 17,7 Prozent), „Gleichstellung zwischen Frauen und Männern“ (FI: 15,6 Prozent). IV. Wahlausgang Das Wahlergebnis (vgl. folgende Tabelle) überraschte vor allem wegen des sehr guten Ergebnisses der Schwedendemokraten. Mit einem Plus von 7,2 Prozentpunkten schaffte es die Partei, ihre Stimmenzahl zum vierten Mal in Folge bei einer Parlamentswahl mindestens zu verdoppeln. Die größte Verwunderung aber stiftete Fredrik Reinfeldt, der noch am Wahlabend ankündigte, nicht nur vom Amt des Ministerpräsidenten, sondern auch von dem des Parteivorsitzenden der Moderaten zurückzutreten. Alle Parteien der Regierungskoalition mussten 2014 Verluste an Wählerstimmen hinnehmen, jedoch lag keine der drei „Juniorpartner“ in der Allianz mit ihrem Ergebnis unter der Vierprozenthürde. Die größten Stimmeneinbußen hatten die Liberalen und die Moderaten hinzunehmen, die beide fast ein Fünftel ihrer Stimmen gegenüber dem Jahr 2010 verloren. Die Gewinne und Verluste im rot-grünen Block fielen gering aus, was nicht nur bedeutet, dass die neuen 29  Issue Saliency bezeichnet die wählerseitige Relevanz verschiedener Sachfragen, während Issue Ownership derjenigen Partei zufällt, der die höchste Kompetenz in einem politischen Themenfeld zugesprochen wird. Nur eine Kombination beider Faktoren verspricht Erfolg, sofern Issue-basiertes Wahlverhalten vorliegt.

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Christoph Bruckmüller Anteile gültiger Stimmen in Prozent (und Mandate) bei Reichstagswahlen 2006

2010

2014

5,9 (22)

5,6 (19)

5,7 (21)

35,0 (130)

30,7 (112)

31,0 (113)

5,2 (19)

7,3 (25)

6,9 (25)

Schwedendemokraten (SD)

2,9 (–)

5,7 (20)

12,9 (49)

Volkspartei die Liberalen (FP)

7,5 (28)

7,1 (24)

5,4 (19)

7,9 (29)

6,6 (23)

6,1 (22)

6,6 (24)

5,6 (19)

4,6 (16)

Linkspartei (V) Sozialdemokraten (S) Umweltpartei die Grünen (MP)

Zentrumspartei (C) Christdemokraten (KD) Moderate Sammlungspartei (M)

Rotgrüner Block

Bürger­ licher Block

26,2 (97)

30,1 (107) 23,3 (84)

Feministische Initiative (FI)

0,7 (–)

0,4 (–)

3,1 (–)

Sonstige

2,1 (–)

1,0 (–)

1,0 (–)

Quelle: Eigene Darstellung, Daten der schwedischen Wahlbehörde (valmyndigheten), unter: www.val.se (9. Februar 2015).

Regierungsparteien zusammen sogar 0,1 Prozentpunkte verloren, sondern auch mit 138 von 349 Parlamentssitzen nach dem rein sozialdemokratischen Kabinett von 1998 bis 2002 nur die zweitschwächste Regierung seit Einführung des Einkammersystems bilden konnten. Die Umweltpartei musste die Position der drittstärksten Fraktion an die Schwedendemokraten abgeben, während die Sozialdemokraten über ihren Negativrekord von 2010 kaum hinauskamen. Gleichwohl wuchs der vorher nur noch marginale Stimmenabstand zwischen den beiden größten Parteien, von 0,6 auf 7,7 Prozentpunkte an. Trotzdem scheint das ehemalige Charakteristikum der ungewöhnlich stark ausgeprägten Asymmetrie des schwedischen Parteiensystems passé zu sein. Nachdem sich dieser Wert nun in drei Wahlen in Folge auf einem historisch außergewöhnlich niedrigen Niveau eingependelt hat, kann nicht mehr von kurzfristigen Effekten, sondern muss von einer Strukturänderung ausgegangen werden.30 Bemerkenswert erscheint auch das Ergebnis der Feministischen Initiative (3,1 Prozent), die mit ihrer populären Galionsfigur Gudrun Schyman (1993–2003 Vorsitzende der Linkspartei) zwar ihren bisherigen Status als Kleinst- und als reine Europapartei überwinden konn30  Auch nach G. Sartori (Anm. 9) kann das Parteiensystem seit 2006 nicht mehr als ein prädominantes klassifiziert werden.



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te, jedoch den Einzug ins Parlament verfehlte. Die neuen Mandatsverhältnisse ergeben im Gesamtbild ein in historischem Ausmaß zersplittertes Plenum (ENP: 5,0).31 Die Wahlbeteiligung stieg bei der Reichstagswahl 2014 zum dritten Mal in Folge auf 85,8 Prozent. V. Wahlverhalten nach verschiedenen Kriterien 1. Alter und Geschlecht

In der Altersstruktur der Wähler zeigten sich die auffälligsten Abweichungen bei Sozial- und Christdemokraten, die in den Gruppen der über Fünfzig- beziehungsweise Vierzigjährigen über- und dementsprechend bei jüngeren Kohorten unterrepräsentiert waren. Dennoch waren die Sozialdemokraten die beliebteste Partei bei Erstwählern, allerdings mit nur 22,9 Prozent. In entgegengesetzter Richtung ergeben sich die beiden Extrembeispiele der Umweltpartei (MP) und der Feministischen Initiative (FI), die mit ansteigendem Lebensalter der Wähler Unterstützung verloren: MP 11,5 Prozent, FI 6,0 Prozent (18–29 Jahre); MP 2,3 Prozent, FI 1,2 Prozent (über 65 Jahre). Im Gegensatz zum Parlamentseinzug 2010 ist es den Schwedendemokraten gelungen, die klare Tendenz hin zu Wählern unter 30 Jahren abzulegen und eine gleichmäßigere Verteilung über alle Altersgruppen zu erreichen. Jedoch blieben unter ihren Wählern die geschlechtsspezifischen Unter­schiede bestehen (Männer: 15,7 Prozent; Frauen: 9,9 Prozent). Hier stachen außerdem erneut die Grünen und Feministen mit überwiegend weiblichen Wählern heraus, wobei in der Altersgruppe der bis 29-jährigen auch leicht überdurchschnittlich viele Männer der Feministischen Initiative ihre Stimme gaben (3,7 Prozent). Bei der Kombination dieser beiden Kriterien fielen außerdem das beste Ergebnis der Moderaten (28,5 Prozent) und der Schwedendemokraten (16,9 Prozent) wie das schlechteste Ergebnis der Sozialdemokraten (24,4 Prozent) alle in die Gruppe der 30- bis 49-jährigen Männer.

31  Bereits im Jahr 2010 wurde ein historischer Spitzenwert (4,54) erreicht. Die Effective Number of Parties verrechnet Anzahl und Größe der Parteien und gibt damit den Grad der Fragmentierung eines Parteiensystems an (hier auf Parlaments­ ebene). Sie wird als Kehrwert der Summe der quadrierten Mandatsanteile berechnet. Vgl. Markku Laakso / Rein Taagepera, „Effective“ Number of Parties. A Measure with Application to West Europe, in: Comparative Political Studies, 12 (1979) 1, S. 3–27.

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Christoph Bruckmüller 2. Berufsgruppen / Kernwählerschaften

Unter den Erwerbstätigen als homogene Gruppe war nur geringfügig abweichendes Wahlverhalten in Form einer etwas stärkeren Moderaten Sammlungspartei und einer etwas schwächeren Sozialdemokratie auszumachen, während Personen außerhalb des Arbeitsmarkts deutlich abweichend abstimmten.32 Aus der Allianz hätten nur noch die Moderaten den Sprung ins Parlament geschafft und Sozial- und Schwedendemokraten hätten gemeinsam über 60 Prozent erreicht, ginge es nach dieser Wählergruppe (S: 39,9 Prozent; SD: 20,3 Prozent) oder nach den Arbeitern, bei welchen die Sozial- „nur“ 42,1 Prozent und die Schwedendemokraten ganze 18,1 Prozent von sich überzeugen konnten. Bei Rentnern erzielte die Sozialdemokratie einen fast genauso guten Wert (39,2 Prozent), während für die Schwedendemokraten in dieser Gruppe keine Abweichungen bestanden und die Umweltpartei hier außergewöhnlich schlecht abschnitt (2,2 Prozent). Diese war jedoch unter Studierenden stark über- sowie die Schwedendemokraten stark unterrepräsentiert (MP: 12,9 Prozent; SD: 8,3 Prozent). Weitere, gewohnte Muster in der Wählerstruktur zeigen sich bei regelmäßigen Kirchgängern (KD: 22,6 Prozent), bei Landwirten (C: 43,0 Prozent), bei Menschen mit sehr geringem Vertrauen in Politiker (SD: 45,6) und bei Migranten (S: 42,8 Prozent). Analog zu den schlechten Wahlresultaten der beiden größten Parteien enttäuschten auch die Zahlen in ihren Kernwählerschaften. So konnten die Moderaten nur 37,1 Prozent der Unternehmer überzeugen und die Sozialdemokraten nur 52,8 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, wo die Schwedendemokraten erfolgreich konkurrieren und 17,3 Prozent der Stimmen einfahren konnten. Mitglieder der Angestelltengewerkschaften wählten einigermaßen repräsentativ; so wich in diesem Wählersegment – mit Ausnahme der Schwedendemokraten (9,3 Prozent) – keine Partei um mehr als einen Prozentpunkt vom Gesamtwahlergebnis ab. Bei den gewerkschaftlich organisierten Akademikern fielen jedoch zahlreiche Abweichungen auf. Hier schnitten Sozial- (22,8 Prozent) und Schwedendemokraten (6,3 Prozent) deutlich schlechter ab. Unterdessen ergaben sich deutliche Überrepräsentationen (in aufsteigender Reihenfolge in Prozentpunkten) bei Zentrumspartei (7,9), Christdemokraten (6,9), Umweltpartei (11,2), Feministischer Initiative (5,2) und Liberaler Volkspartei (9,7). Nicht-Gewerkschaftsmitglieder wählten in mehr oder minder starkem Ausmaß bevorzugt Allianz-Parteien und die Schwedendemokraten sowie seltener Parteien des rot-grünen Blocks.

32  Die Kategorie „außerhalb des Arbeitsmarkts“ umfasst Arbeitslose, Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen oder mit verminderter Erwerbsfähigkeit.



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3. Links-Rechts-Dimension

Die Lagerbildung entlang der in Schweden deutlich dominierenden Links-Rechts-Konfliktdimension auf der Angebots- bestätigt sich auf der Nachfrageseite: Bei Wählern, die sich selbst als „klar links“ eingestellt begreifen, standen 83,8 Prozent der Stimmen für den rot-grünen Block 1,8 Prozent für die bürgerlichen Parteien gegenüber, während die Anteile bei Selbstplatzierung als „klar rechts“ Werte von 80,8 (Allianz) beziehungsweise 2,3 Prozent (rot-grüne Parteien) erreichten. Die Verteilung der Wähler auf dieser Konfliktlinie war in der Wahl 2014 ausbalanciert (Klar / etwas links: 39,8 Prozent; klar / etwas rechts: 38,8 Prozent), was die entscheidende Rolle des Wählerpotentials der politischen Mitte (21,6 Prozent) deutlich macht. Diese Mitte-Wähler (Angabe: „weder links noch rechts“) konnten im Vergleich der beiden Großparteien von den Sozialdemokraten (31,1 Prozent) erheblich besser erreicht werden als von den Moderaten (15,1 Prozent), die hier noch weit hinter den Schwedendemokraten (23,1 Prozent) zurückblieben. Betrachtet man die Issue Saliency dieser Wählergruppe, verwundert der erhebliche Abstand zwischen den beiden Großparteien nicht: Innerhalb dieser messen im Vergleich zum Gesamtelektorat deutlich höhere Wähleranteile traditionell sozialdemokratischen Themen sehr große Bedeutung für die Wahlentscheidung bei (Renten: + 8,9 Prozentpunkte, Krankenpflege: + 7,4, Altenpflege: + 6,9). Die Schwedendemokraten, die sich – wie ehemals die Umweltpartei – als zwischen den Blöcken stehend begreifen, wurden deutlich häufiger von Wählern rechts der Mitte gewählt. Gleiches gilt in umgekehrter Richtung für die Umweltpartei. Darüber hinaus spricht einiges dafür, dass die auch in anderen Systemen rückläufige Parteiidentifikation der Wähler in Schweden ersetzt wird durch eine mit dem parteipolitischen Lager.33  

4. Herkunft und Wählerwanderungen

Stellt man die Wählergruppen mit ausländischen Wurzeln gegenüber, so weichen die Ergebnisse der Parteien bei Immigranten stärker ab als bei Menschen mit Migrationshintergrund.34 Eine Ausnahme stellt die Umweltpartei dar, die in der Gruppe der Einwanderer stärker unter- als in der anderen überrepräsentiert ist. Durchaus erstaunlich wirken bei diesen Gruppen 33  Vgl. Magnus Hagevi, Bloc Identification in Multi-Party Systems. The Case of the Swedish Two-Bloc System, in: West European Politics, 38 (2015) 1, S. 73–92. 34  Die Unterscheidung erfolgt in dieser Studie zwischen Menschen, die außerhalb Schwedens aufgewachsen sind (Immigranten) und Personen, die entweder selbst oder zumindest einer ihrer Elternteile nur überwiegend im Ausland herangewachsen sind (Migrationshintergrund).

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Christoph Bruckmüller

die Ergebnisse der fremdenfeindlichen Schwedendemokraten mit 9,9 (Immigranten) beziehungsweise 11,0 Prozent (Migrationshintergrund). Beide Gruppen bevorzugten deutlich die linken Parteien. Anhand von Exit Polls können genauere Aussagen über das Ausmaß der Wählerwanderungen (35,1 Prozent) gemacht werden als nur anhand der Aggregatvolatilität (19,4 Prozent).35 Damit setzte sich ein beständiger, leichter Aufwärtstrend in der Anzahl der Wechselwähler fort. Der umfangreichste Wählerstrom bewegte sich zwischen dem großen Verlierer und dem strahlenden Sieger der schwedischen Reichstagswahl 2014. Jeder vierte Wähler der Schwedendemokraten hatte seine Stimme bei der vorangegangenen Wahl noch der Moderaten Sammlungspartei gegeben, während nur 0,5 Prozent der M-Wähler von den Populisten gewechselt waren. Die Begründung hierfür hat mehrere Facetten und ist in der Blockpolitik wie in inhaltlichen Standpunkten zur Asylpolitik zu suchen. Durch die feste Koalition der Allianz waren die Optionen der M-Wähler, Unzufriedenheit gegenüber der gesamten Regierung auszudrücken, stark begrenzt. Wollten diese keine Allianzpartei wählen und ihre Stimme dennoch an eine der Parlamentsparteien vergeben, blieb ihnen die Auswahl zwischen den Hauptkonkurrenten im rot-grünen Block und einer Partei (SD), die nahezu sicher in der Opposition verbleiben würde. Betrachtet man diese Wechselwähler von Moderaten zu Schwedendemokraten unter dem Aspekt der Issue Sa­ liency, so war das wichtigste Thema dieser Wähler „Flüchtlinge / Einwanderung“ (sehr große Bedeutung: 74,1 Prozent; sehr große / ziemlich große Bedeutung: 86,2 Prozent) gefolgt von der „schwedischen Wirtschaft“ (58,7 bzw. 85,0 Prozent) und „Recht und Ordnung“ (58,7 bzw. 83,8 Prozent). Auch Fredrik Reinfeldt, der als Parteivorsitzender in den vergangenen Jahren immer klare Position für Einwanderung und gegen die Schwedendemokraten bezogen hatte, übte wohl Einfluss auf diese Wechselwähler in einer vieldiskutierten Rede im Wahlkampf aus, in der er geringere Spielräume für öffentliche Finanzierungen aufgrund höherer Asylbewerberzahlen ankündigte und damit Wohlfahrtsleistungen und Flüchtlingsaufnahme direkt gegenüber gestellt hatte.36 Neben den Schwedendemokraten ist die Moderate Sammlungspartei die einzige, unter deren Wählern sich eine Mehrheit (51 Prozent) auch in Zwischenwahlzeiten für eine Verminderung der Einwanderung ausspricht.37 Besonders schmerzhaft dürften für die Moderaten 35  Auch die tendenziell genauere Methode der Wählerbefragungen bringt jedoch Probleme mit sich. So basiert die hier zugrunde gelegte Studie nicht auf Panelbefragungen. Die Angaben zur Parteienwahl 2010 gründen sich also auf Erinnerungsaussagen der Teilnehmer. 36  Vgl. Frida Pettersson Normark, Reinfeldts vädjan till svenska folket, 18. August 2014, unter: www.tinyurl.com / lzeo5k4 (9. Februar 2015).



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die 7,8 Prozent ihrer Wähler aus dem Jahr 2010 sein, die sie an die Sozialdemokraten verloren. Umgekehrt wechselten von deren Unterstützern bei der vorangegangenen Wahl nur 2,1 Prozent zu den Moderaten. Von keiner anderen Partei gingen mehr Wähler zur Sozialdemokratie. Der rotgrüne Block sah sich 2014 dagegen mit der Konkurrenz der Feministischen Initiative konfrontiert, die 65 Prozent ihrer Stimmen von Parteien aus ebendiesem abziehen konnte. 37

VI. Die Regierungskrise vom Dezember 2014 Im schwedischen System beauftragt der Reichstagspräsident nach Einzelgesprächen mit Fraktionsvertretern den aussichtsreichsten Kandidaten mit der Regierungsbildung. Dabei wurde 2014 auch die offene Frage der Haushaltsabstimmung thematisiert und Stefan Löfven konnte den amtierenden Parlamentspräsidenten Per Westerberg davon überzeugen, einen aussichtsreichen Entwurf vorlegen zu können.38 Daraufhin stützten die Moderaten den Sozialdemokraten, wie vor der Wahl für diesen Fall angekündigt, indem sie ihre Stimmen bei der Abstimmung über den Ministerpräsidenten niederlegten, um den Schwedendemokraten den entscheidenden Einfluss auf diese Frage zu entziehen. Nachdem die Allianz in dieser Situation erneut angekündigt hatte, für ihren eigenen Haushaltsentwurf zu stimmen, musste Löfven darauf hoffen, dass die Schwedendemokraten dabei der üblichen Parlamentspraxis folgen würden. Kommt es im Reichstagsplenum zu einer Abstimmung, wird einem Vorschlag, falls vorhanden, ein Gegenentwurf gegenübergestellt. Sollten mehr als zwei Varianten zur Auswahl stehen, wird nach der schwedischen Reichstagsordnung zunächst solange über die von den kleineren Fraktionen vorgelegten Entwürfe abgestimmt, bis nur noch ein Gegenmodell übrig bleibt (5 kap. 6 § RO). Üblicherweise enthalten sich alle Fraktionen, deren Entwurf gerade nicht zur Wahl steht, weshalb de facto eine relative Mehrheit bei einer Abstimmung ausreicht. Mit dieser Verhaltensnorm brachen die Schwedendemokraten, als sie am 3. Dezember 2014 für den Haushaltsentwurf der Allianz stimmten, nachdem ihr eigener keine Mehrheit gefunden hatte. Zusammen mit der Ankündigung dieser Vorgehensweise am vorangegangenen Tag versprach die Partei außerdem, jede Regierung und jeden Haushaltsentwurf, die in Zukunft eine stärkere Einwanderung stützen wür37  Vgl. Linn Sandberg / Marie Demker, Starkare oro för främlingsfientlighet än för invandring, in: Annika Bergström / Henrik Oscarsson (Hrsg.), Mittfåra och marginal, Göteborg 2014, S. 71–82, hier: S. 75. 38  Vgl. Jens Kärrman / Kristoffer Törnmalm, Löfven presenterar regering på fredag, 26. September 2014, unter: www.tinyurl.com / pc28mc9 (9. Februar 2015).

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den, auf dieselbe Art zu Fall zu bringen. Gleiches gelte für jede Regierung, die der Umweltpartei entscheidenden Einfluss auf Schwedens Integrationspolitik geben würde.39 Nach dieser Bekanntmachung führte auch ein spontan einberufenes Gespräch zwischen Stefan Löfven und den Parteivorsitzenden der Allianz zu keinem Ergebnis. So war dieser mit seinem Ziel der blockübergreifenden Zusammenarbeit gescheitert und gezwungen, mit der Haushaltsplanung des politischen Gegners zu regieren und kündigte deshalb eine Extrawahl an. Für die Ausschreibung einer solchen musste verfassungsgemäß eine Frist von drei Monaten nach der ersten Sitzung des neu formierten Plenums eingehalten werden (3 kap. 11 § RF). Die meisten relevanten Akteure hatten schon deshalb kein Interesse an einer Neuwahl, weil erhebliche Unterschiede im Wahlergebnis und damit eine Veränderung der parlamentarischen Ausgangslage nicht zu erwarten waren. Die Allianz schlug früh nach der Haushaltsabstimmung vor, noch vor einer Neuwahl mit der Regierung zu einer Übereinkunft zu finden, die Minderheitsregierungen auch mit einer derartigen Fraktionskonstellation in Zukunft ermöglichen würde.40 Im Dezemberabkommen kamen Regierung und Allianz überein, in der Opposition durch Niederlegen der Stimmen den Haushaltsentwurf der Regierung zu stützen und so den Schwedendemokraten ihr Erpressungspotential zu nehmen. Zusammen mit der erklärten Absicht, in drei Bereichen (Verteidigung und Sicherheit, Renten und Energie) zusammenzuarbeiten, soll die Übereinkunft bis zum Jahr 2022 gelten. Stefan Löfven war damit weiterhin gezwungen, das erste Jahr seiner Amtszeit mit einem konservativen Haushalt zu regieren, während die Allianz ihm für die übrige Zeit einen Blankoscheck für linksgerichtete Haushaltspolitik ausgestellt hat. Schon vor der Regierungskrise strebten die bürgerlichen Parteien – für die Zeit nach der Abstimmung über den Haushaltsentwurf, mit dem der Wahlkampf geführt wurde – in der Oppositionsrolle eine losere Zusammenarbeit bis zur nächsten Reichstagswahl 2018 an.41 Sie haben nun Gelegenheit für parteiinterne Erneuerungsprozesse und Ideologieschärfung. In diesem Licht erscheint die Krise als einmalige Hürde für die Regierung. Dennoch steht diese auf wackligen Füßen, da eine Aufkündigung des Abkommens, aus welchen Gründen auch immer, für die Zukunft – vor allem jedoch für die Periode 2018 bis 2022 – nicht ausgeschlossen werden kann. 39  Vgl. Pressekonferenz der Schwedendemokraten zur Haushaltsabstimmung, 3. Dezember 2014, unter: www.tinyurl.com / kdtdjcc (9. Februar 2015). 40  Vgl. Anna Kinberg Batra u. a., ‚Med nya regler kan vi göra minoritetsregerande möjligt‘, 9. Dezember 2014, unter: www.tinyurl.com / qea8zy9 (9. Februar 2015). 41  Vgl. Pär Karlsson, Jan Björklund om Alliansen. ‚Partierna kommer utveckla sin egna politik‘, 30. September 2014, unter: www.tinyurl.com / pzevogm (9. Februar 2015).



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Eine Lösung ohne Änderung der Parlamentsordnung, die gleichzeitig über das unsichere Dezemberabkommen hinausgeht, könnte nur durch Aufweichung der Allianz oder eine Kooperation mit den Schwedendemokraten erfolgen. Erstes Szenario wäre als Folge eines parteiinternen Neuausrichtungsprozesses denkbar, der in Liberaler Volks- und Zentrumspartei zu einer Hinwendung zu Strategien des Policy-Seeking gegenüber solchen des OfficeSeeking führen und gewissermaßen eine Rückbewegung zur alten Funk­ tionsweise des Systems bedeuten würde; für eine überarbeitete Position gegenüber den Schwedendemokraten kommen am ehesten die Moderaten in Frage. Jedoch scheint dort eine Kooperation derzeit noch unwahrscheinlich. Koalitionen der beiden Großparteien können im schwedischen Parteiensystem nahezu mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Die Unsicherheit, welche die Reaktionen auf den Ausgang der Reichstagswahl 2014 prägte, bleibt deshalb bestehen.

Warum scheiterte der Dritte Weg der SPD? Eine Analyse am Beispiel der Arbeitsmarktpolitik Von Florian Fößel I. Der Dritte Weg der Sozialdemokratie Pünktlich zur Jahrtausendwende wurde die Demokratie in Europa Zeugin einer parteipolitischen Renaissance. Nach einer lang anhaltenden Periode wiederholter Wahlniederlagen, war es sozialdemokratischen Parteien im Jahr 2000 in elf von 15 Ländern der Europäischen Union gelungen, als stärkste politische Kraft die Regierung zu stellen. Begleitet wurden die Wahlerfolge der 1990er Jahre von einer transnationalen Modernisierungsdebatte, die unter dem Leitmotiv des Dritten Weges auf die programmatische Erneuerung der Sozialdemokratie im 21. Jahrhundert abzielte.1 Langfristiger Hintergrund des Projekts war einerseits das Scheitern klassischer sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik seit den späten 1970er Jahren sowie andererseits der politische Erfolg neoliberaler Politikansätze. Ziel des Dritten Weges war demzufolge eine Anpassung sozialdemokratischer Programmatik an die veränderten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Zuge der voranschreitenden Globalisierung. Maßgeblich beeinflusst wurde die Modernisierungsdebatte durch die parteipolitische Neuausrichtung der britischen Labour Party zu New Labour unter Tony Blair, die aufgrund ihres politischen Erfolgs den programmatischen Referenzpunkt des sozialdemokratischen Erneuerungsprozesses bildete. Konzeptionell betrachtet, war die Strategie des Dritten Weges darauf ausgerichtet, einen alternativen Politikentwurf zwischen keynesianischem Marktinterventionismus der Alten Linken und neoliberalem Marktliberalismus der Neuen Rechten zu begründen.2 Im Zentrum der Debatte um den Dritten Weg stand die programmatische Auseinandersetzung mit dem traditionellen Wohlfahrtsstaatsgedanken der 1  Zum Begriff des Dritten Weges sowie seinen bisherigen Verwendungskontexten siehe Alexander Gallus / Eckhard Jesse, Was sind Dritte Wege? Eine vergleichende Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51 (2001) 16–17, S. 6–15. 2  Vgl. Anthony Giddens, Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Frankfurt a. M. 1999.

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Sozialdemokratie, der sich unter den Bedingungen globalisierter Märkte zunehmend seiner Handlungsgrundlage beraubt sah. In diesem Zusammenhang avancierte der aktivierende Sozialstaat zum modernen Leitbild einer sozialdemokratischen Reformperspektive, die grundsätzlich darauf ausgerichtet war, soziale Sicherung primär über die Inklusion in den Arbeitsmarkt zu arrangieren. Im Zuge ihrer Transformation zur Neuen Mitte hatte auch die SPD die zentralen Grundannahmen des aktivierenden Sozialstaates programmatisch rezipiert. Substanziell sollten sie unter anderem im Rahmen einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik an Konturen gewinnen. Das daraus hervorgegangene Prinzip Fördern und Fordern, das als konzeptionelles Kern­ element der Reformstrategie des Dritten Weges anzusehen ist, fand dabei umfassenden Eingang in die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010. Mittlerweile ist der Dritte Weg stellvertretend für die europäische Sozialdemokratie auch in Deutschland als normativer Referenzpunkt einer sozialdemokratischen Programm- und Reformperspektive gänzlich von der Bildfläche verschwunden. Innerhalb der SPD gilt vor allem die Arbeitsmarkt­ politik der Regierung Gerhard Schröder bis heute als umstritten. Dies mündete zwischenzeitlich in eine zumindest partielle Abkehr von der Agenda-Politik. Doch warum scheiterte der Dritte Weg in der Arbeitsmarktpolitik? Lagen die Ursachen eher innerhalb der SPD, oder waren es vorrangig externe Gründe, auf die das Scheitern des Dritten Weges in Deutschland zurückgeführt werden kann? Zur Beantwortung dieser Fragen wird zunächst aufgezeigt, wie das Prinzip Fördern und Fordern im Sinne einer arbeitsmarktpolitischen Interventionsalternative konzeptionell in die Strategie des Dritten Weges eingebettet ist. Darauf folgt eine Analyse der politischen Umsetzung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik entlang der ersten und zweiten Amtszeit der Regierung Schröder. Abschließend werden die Folgen der Arbeitsmarktreformen im Kontext des Parteienwettbewerbs thematisiert sowie die damit verbundenen Wirkungen auf der Parteiebene in den Fokus gerückt. II. Konzeptionelle Grundlagen des Dritten Weges in der Arbeitsmarktpolitik Grundlage der arbeitsmarktpolitischen Agenda des Dritten Weges bildet ein verändertes Verständnis von Wohlfahrtsstaatlichkeit, das im Leitbild des aktivierenden Sozialstaates zum Ausdruck kommt.3 Bezogen auf das Verhältnis zwischen Markt, Staat und Gesellschaft war die Reformpolitik des Dritten Weges in erster Linie darauf ausgerichtet, soziale Sicherung primär 3  Vgl. Bodo Hombach, Aufbruch. Die Politik der Neuen Mitte, München 1998, S. 59–93, 179–204; A. Giddens (Anm. 2), S. 117–149.



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über Arbeitsmarktpartizipation zu arrangieren. Das Leitziel aktivierender Arbeitsmarktpolitik bestand demzufolge darin, Erwerbslose vom sozialstaatlichen Transferleistungsbezug in die aktive Arbeitsmarktteilnahme zu überführen. Dabei sollte der Staat zunehmend aus seiner sozialstaatlichen Erfüllungsverantwortung entlassen und die Eigenverantwortlichkeit der Bürger verstärkt eingefordert werden. Charakteristisch war in diesem Zusammenhang das Etablieren einer arbeitsmarkt- und sozialstaatspolitischen Reziprozitätsnorm zwischen individuellen Leistungsrechten und der Pflicht zur Arbeitsaufnahme: Wer Leistungen in Anspruch nimmt und grundsätzlich erwerbsfähig ist, muss aktiv nach Arbeit suchen und diese auch zu gegebenenfalls ungünstigeren Konditionen annehmen. Zentraler Kritikpunkt am keynesianischen Wohlfahrtsstaatsgedanken klassischer sozialdemokratischer Provenienz bestand aus Sicht des Dritten Weges in der vorrangig reaktiven Absicherung sozialer Risiken durch die Redistribution kompensatorischer Transferleistungen. Damit hatte sich auch in Teilen der Sozialdemokratie die Auffassung durchgesetzt, dass umfassender sozialstaatlicher Leistungsbezug aufgrund negativer Arbeitsanreize im Ergebnis häufig passivierende Effekte erzeugt: „Ein Sozialversicherungssystem, das die Fähigkeit, Arbeit zu finden, behindert, muss reformiert werden. Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln.“4 Folgerichtig sollte der Zugang zu sozialstaatlichen Transferleistungen an striktere Bedingungen gekoppelt und die allgemeine Arbeitspflicht erhöht werden (Fordern). Die damit angestrebte Akzentverschiebung sozialer Sicherung im Verhältnis zwischen (Arbeits-)Markt und (Sozial-)Staat sollte allerdings um eine so­ zialinvestive Komponente ergänzt werden (Fördern). Dem Leitbild des aktivierenden Sozialstaates folgend, sollte die Absicherung gegenüber Arbeitsmarktrisiken nicht mehr primär über monetäre Umverteilung erfolgen, sondern in erster Linie über staatliche Investitionsstrategien in die individuelle Beschäftigungsfähigkeit der Bürger sichergestellt werden. Aufgabe des Staates sollte es fortan sein, Erwerbslose durch qualifikationsorientierte Förderinstrumente zur Arbeitsaufnahme zu befähigen und ihnen auf dem Wege der Arbeitsmarktinklusion die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Aus Sicht des sozialdemokratischen Grundwertes der sozia­ len Gerechtigkeit bedeutete dies in Abgrenzung zur Ergebnisgleichheit eine stärkere Betonung der Chancengleichheit. Mit dem Prinzip Fördern und Fordern hatte die Sozialdemokratie somit eine arbeitsmarkt- und sozialpolitische Interventionsalternative postuliert, die gemäß der inhärenten Funk­ tionslogik des Dritten Weges als Korrektivvorgang aus den Unzulänglich4  Tony Blair / Gerhard Schröder, Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten, London 1999, S. 9.

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keiten der bisher dominanten Politikansätze abgeleitet wurde.5 War keynesianischer Marktinterventionismus noch darauf ausgerichtet, Arbeitsmarkt­ risiken vorrangig über Lohnersatzleistungen zu korrigieren, so hatte die Strategie des Dritten Weges den (Arbeits-)Markt als primären Garanten sozialer Sicherung anerkannt. Mit der explizit hervorgehobenen Rolle des Staates als Chancengeber und Investor in Humankapital zeigt sich allerdings auch deutlich der Abgrenzungsversuch zum marktliberalen Ansatz des Neoliberalismus, der die Aufgabe des Staates im Wesentlichen auf die Bereitstellung eines letzten Sicherheitsnetzes beschränkt und aktiv(ierend)e arbeitsmarktpolitische Interventionen zugunsten sich selbst regulierender ­ Marktmechanismen zurückdrängt. Im Zentrum des Dritten Weges stand demzufolge eine Neuausrichtung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums von makroökonomischer Intervention hin zu mikroökonomischer Investition. Soziale Sicherung sollte dabei in erster Linie über die Förderung der Beschäftigungsfähigkeit und damit angebotsseitig gestaltet werden: „Der Staat muss die Beschäftigung aktiv fördern und nicht nur passiver Versorger der Opfer wirtschaftlichen Versagens sein.“6 III. Interne Legitimationsprobleme und Reformblockaden im Bündnis für Arbeit Zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts im Jahr 1998 sah sich die SPD-geführte Bundesregierung mit einer kritischen Arbeitsmarktsituation konfrontiert: Infolge der wirtschaftlichen Rezession 1993 sowie des Strukturwandels der Wiedervereinigung war die Arbeitslosenquote auf knapp 10 Prozentpunkte angestiegen.7 Insgesamt waren rund 4,3 Millionen Arbeitslose registriert (Abb. 1). Berechnungen des Sachverständigenrates zufolge belief sich die Gesamtsumme der offenen und verdeckten Arbeitslosigkeit auf mehr als sechs Millionen.8 Neben der im europäischen Vergleich niedrigen Beschäftigungsquote von knapp 65 Prozent galt jeder zweite Arbeitslose als langzeitarbeitslos.9 Konsequenterweise entwickelte sich das Phänomen der lang anhaltenden Massenarbeitslosigkeit auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung zum weitaus wichtigsten Problem der deutschen Innenpolitik. 5  Vgl. Roland Sturm, Der Dritte Weg – Königsweg zwischen allen Ideologien oder selbst unter Ideologieverdacht?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 51 (2001) 16–17, S. 3–5. 6  T. Blair / G. Schröder (Anm. 4), S. 8. 7  Vgl. OECD, Labour Force Statistics, unter: stats.oecd.org (16. Februar 2015). 8  Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Chancen für einen stabilen Aufschwung, Jahresgutachten 2010 / 2011, Paderborn 2010, S. 347. 9  Vgl. OECD (Anm. 7).



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5,5 5 4,5 4 3,5 3 2,5 2

Quelle: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Deutschland – Zeitreihen bis 2013, unter: www.tinyurl.com / mpudtmd (16.Februar 2015).

Abbildung 1: Anzahl der registrierten Arbeitslosen in Millionen (1992–2010)

Angesichts der prekären Arbeitsmarktsituation hatte die SPD dem Abbau der Arbeitslosigkeit bereits im Vorfeld der Bundestagswahl oberste Priorität eingeräumt. Im Zentrum stand dabei das Versprechen Gerhard Schröders, die Arbeitslosigkeit im Falle eines Wahlerfolgs unter 3,5 Millionen zu senken, anderenfalls habe er es nicht verdient, wiedergewählt zu werden. Zwar hatte Schröder die Arbeitsmarktpolitik damit öffentlichkeitswirksam zum Prüfstein seiner Kanzlerschaft erhoben, von einer kohärenten Reformstrategie im Sinne des Dritten Weges war die SPD-geführte Bundesregierung zum Zeitpunkt des Regierungswechsels allerdings weit entfernt. Dies ist im Wesentlichen auf drei Gründe zurückzuführen: Erstens setzte die SPD mit der Wiederbelebung des zuvor unter der Regierung Helmut Kohl gescheiterten Bündnisses für Arbeit explizit auf ein tripartistisch-korporatistisches Arrangement in der arbeitsmarktpolitischen Entscheidungsfindung. Die Lösung der Beschäftigungskrise sollte somit im Rahmen einer konzertierten Aktion herbeigeführt werden, wobei es die entsprechenden Reformschritte allerdings erst noch zu erarbeiten galt. Zweitens hatte sich die SPD im Bundestagswahlkampf gemäß der Parteidifferenzthese erfolgreich gegen die wenig populären Arbeitsmarktreformen der konservativ-liberalen Regierungskoalition positioniert, woraufhin unmittelbar nach der Amtsübernahme zahlreiche Deregulierungen der Vorgängerregierung revidiert wurden.10 Damit folgte die Regierungspolitik zunächst überwiegend 10  Zu den arbeitsmarktrelevanten Reformen zählten die vollumfängliche Wiederherstellung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Rücknahme des zuvor

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klassisch sozialdemokratischen Politikansätzen.11 Drittens – und in diesem Zusammenhang ausschlaggebend – war die SPD von einem parteiinternen Richtungsstreit überschattet, der eine einheitliche Linienführung in der Arbeitsmarktpolitik nachhaltig konterkarierte. Repräsentiert durch das Führungsduo Schröder-Lafontaine hatten sich auf der Parteiebene im Wesentlichen zwei dominante Strömungen herausgebildet: Während Schröder in der Rolle des Modernisierers eine eher marktliberale Position innerhalb der SPD vertrat, warb Oskar Lafontaine im Amt des Parteivorsitzenden für eine neokeynesianische Verteilungspolitik und bediente damit den linken Parteiflügel (Traditionalisten).12 Kurz nachdem sich die internen Machtverhältnisse mit dem Rücktritt Lafontaines zugunsten des Modernisierer-Flügels verschoben hatten, wagte Schröder mit der Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers (1999) einen ersten programmatischen Vorstoß, der auch die arbeitsmarktpolitische Agenda des Dritten Weges beinhaltete. Abgesehen von der grundlegenden Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik im Sinne des oben beschriebenen Aktivierungsparadigmas (Fördern und Fordern), betonte die darin aufgezeigte Reformperspektive auch dezidiert die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes etwa durch den gezielten Ausbau des Niedriglohnsektors oder die Förderung von Teilzeitarbeit und geringfügiger Beschäftigung.13 Im Ergebnis stieß das Strategiepapier in weiten Teilen der SPD jedoch auf entschiedene Ablehnung. Wahrgenommen wurde es dabei überwiegend als „desorientierter Kontinuitätsbruch mit den bislang geltenden programmatischen Grundlinien der Partei“.14 Vor allem Parteilinke und Gewerkschaftsvertreter kritisierten die neoliberalen Züge des Programmentwurfs und fassten den angestrebten Politikwechsel als regelrechte Provokation auf. Angesichts der zum Teil heftigen Kontroversen ließ Schröder das Papier bereits unmittelbar nach seiner Veröffentlichung wieder fallen. Somit war gelockerten Kündigungsschutzes, Maßnahmen zur Eindämmung der Scheinselbstständigkeit sowie die Einführung der Sozialversicherungspflicht für geringfügig Beschäftigte. 11  Vgl. Susanne Blancke / Josef Schmid, Bilanz der Bundesregierung Schröder in der Arbeitsmarktpolitik 1998–2002: Ansätze einer doppelten Wende, in: Christoph Egle / Tobias Ostheim / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998–2002, Wiesbaden 2003, S. 215–238. 12  Vgl. Christoph Egle / Christian Henkes, Später Sieg der Modernisierer über die Traditionalisten? Die Programmdebatte in der SPD, in: ebd., S. 67–92. 13  Vgl. T. Blair / G. Schröder (Anm. 4), S. 8–10. 14  Thomas Meyer, Die blockierte Partei – Regierungspraxis und Programmdiskussion der SPD 2002–2005, in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Ende des rot-grünen Projekts. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002–2005, Wiesbaden 2007, S. 83–97, hier: S. 83.



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der programmatische Legitimierungsversuch des arbeitsmarktpolitischen Paradigmenwechsels vorerst an den parteiinternen Widerständen des linken Parteiflügels gescheitert. Jenseits der Parteiebene erwiesen sich auch die Verhandlungen im Bündnis für Arbeit als äußerst reformresistent. Zwar hatte die SPD im Wahlkampf noch vom demonstrativen Schulterschluss mit den Gewerkschaften profitieren können, zur Lösung der Beschäftigungskrise trug das Bündnis am Ende jedoch wenig bei. Bis zum Scheitern der Verhandlungen, das sich bereits ab Mitte der ersten Legislaturperiode abzeichnete, ist es den Verhandlungsparteien insgesamt nicht gelungen, zu einem weitreichenden arbeitsmarktpolitischen Reformprogramm vorzustoßen.15 Abgesehen von inhaltlichen Grabenkämpfen und der somit eingeschränkten Konzessions­ bereitschaft war der Wille zu tiefgreifenden Reformen vor allem auch deshalb gedämpft, da sich der kurzfristige Konjunkturaufschwung des New Economy-Booms positiv auf die Arbeitsmarktentwicklung niederschlug. Zwischen 1997 und 2001 hatte sich die Arbeitslosenquote bereits um knapp zwei Prozentpunkte reduziert.16 Die Zahl der registrierten Arbeitslosen war im gleichen Zeitraum auf rund 3,8 Millionen gefallen. Statt einer konsequenten Umsetzung der Politik des Dritten Weges verkündete Bundeskanzler Schröder schließlich die „Politik der ruhigen Hand“ und signalisierte damit, dass das erklärte arbeitsmarktpolitische Leitziel einer Senkung der Arbeitslosigkeit unter die 3,5-Millionen-Marke auch ohne grundlegende Strukturreformen zu realisieren sei. Angesichts seiner überwiegend ernüchternden Bilanz17 erwies sich das Bündnis für Arbeit letztlich weniger als arbeitsmarktpolitischer Innovationsmotor, sondern vielmehr als „veritable Reformbremse“18. Einzig das daraus hervorgegangene Job-AQTIV-Gesetz (2002) konnte als wesentlicher Fortschritt im Übergang zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik angesehen werden. So waren die darin enthaltenen Maßnahmen erstmals darauf ausgerichtet, das Prinzip Fördern und Fordern nachhaltig in das System der Arbeitsmarktpolitik zu integrieren. Neben administrativen Reformen von Arbeitsverwaltung und -vermittlung stand auf der Instrumentenebene vor allem die (präventive) Förderung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit im Vor15  Vgl. Wolfgang Streeck, No Longer the Century of Corporatism. Das Ende des „Bündnisses für Arbeit“, MPIfG Working Paper 4 / 2003. 16  Vgl. OECD (Anm. 7). 17  Vgl. Anke Hassel / Christof Schiller, Der Fall Hartz IV. Wie es zur Agenda 2010 kam und wie es weitergeht, Frankfurt a. M. 2010, S. 200–210. 18  Christoph Egle, Deutschland, in: Wolfang Merkel u. a. (Hrsg.), Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie. Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa, Wiesbaden 2006, S. 154–196, hier: S. 175.

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dergrund.19 Demnach enthielt das Gesetz eindeutige Züge eines Paradigmenwechsels weg von den bislang praktizierten nachfrageorientierten Strategien hin zu einer stärker angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik. Rückblickend wird der Neuausrichtung des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums allerdings lediglich geringe Praxisrelevanz attestiert.20 Langfristige Wirkungen konnte das Reformpaket auch deshalb nicht entfalten, da es schnell von den sich überschlagenden Ereignissen überholt wurde. Bereits kurz nach dem Inkrafttreten des Job-AQTIV-Gesetzes wurde der Skandal um die „geschönte“ Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit bekannt.21 Unter öffentlichem Druck setzte Kanzler Schröder deshalb umgehend eine Expertenkommission ein (Hartz-Kommission), die Vorschläge für eine grundlegende Strukturreform im Bereich der Arbeitsmarktpolitik erarbeiten sollte. Zeitgleich hatte sich die Lage am Arbeitsmarkt erneut dramatisch zugespitzt. Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl sowie der noch immer ungelösten Beschäftigungskrise sah sich Schröder gezwungen, Handlungsfähigkeit zu beweisen, woraufhin er für den Fall seiner Wiederwahl die sofortige „eins zu eins“-Umsetzung der im Kommissionsbericht (2002) unterbreiteten Reformvorschläge versprach. IV. Fordern ohne Fördern? – Die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 Mit der Einsetzung der Hartz-Kommission und der Regierungserklärung zur Agenda 2010 endete für Wolfgang Streeck das „Jahrhundert des Korporatismus in einer Stunde der Exekutive.“22 Während sich das Bündnis für Arbeit bis zu seiner letzten Zusammenkunft im März 2003 sukzessive auflöste, wurde die arbeitsmarktpolitische Entscheidungsfindung zunehmend auf Kommissionebene verlagert und in den Händen der Kernexekutive konzentriert.23 Damit war der Grundstein für die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 gelegt, die zwischen 2003 und 2005 im Rahmen des ersten bis vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz 19  Zu den Maßnahmen des Job-AQTIV-Gesetzes siehe: S. Blancke / J. Schmid (Anm. 11), S. 226. 20  Vgl. Mareike Ebach / Frank Oschmiansky, Vom AFG 1969 zur Instrumentenreform 2009: Der Wandel des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums, in: Claudia Bogedan / Silke Bothfeld / Werner Sesselmeier (Hrsg.), Arbeitsmarktpolitik in der sozialen Marktwirtschaft. Vom Arbeitsförderungsreformgesetz zum Sozialgesetzbuch II und III, 2. Aufl., Wiesbaden 2012, S. 91–105. 21  Vgl. A. Hassel / C. Schiller (Anm. 17), S. 210–212. 22  W. Streeck (Anm. 15), S. 9. 23  Vgl. Ralf Tils, Strategische Regierungssteuerung. Schröder und Blair im Vergleich, Wiesbaden 2011, S. 166–181.



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I-IV) umgesetzt wurden. Die Hartz-Gesetzgebung folgte dabei in weiten Teilen der zuvor im Schröder-Blair-Papier angekündigten arbeitsmarktpolitischen Agenda des Dritten Weges. Aus Sicht der SPD markierte allerdings bereits die parteiinterne Durchsetzung des Reformprogramms einen zentralen Wendepunkt, der sich für die Politik des Dritten Weges auch insgesamt als erfolgsentscheidend erweisen sollte. Angesichts der zu erwartenden sozialpolitischen Einschnitte reagierten Vertreter des linken Parteiflügels auf den angestrebten Politikwechsel erneut mit entschiedener Ablehnung. Ausdruck des Widerstands war nicht zuletzt ein im Frühjahr 2003 initiiertes Mitgliederbegehren, das die Parteiführung zu einer Abkehr von den Agenda-Reformen bewegen sollte. Zwar wurde das hierfür notwendige Quorum am Ende nicht erreicht, sodass der Mitgliederentscheid letztlich nicht zustande kam, die parteiinterne Kritik am arbeitsmarktpolitischen Kurswechsel blieb allerdings weiterhin ungebrochen.24 Nachdem sich der Widerstand in der SPD öffentlichkeitswirksam formiert hatte, stimmte die Parteiführung schließlich einem Sonderparteitag zu, der über die Zukunft der Arbeitsmarktreformen entscheiden sollte. Im Gegensatz zum Schröder-Blair-Papier war Bundeskanzler Schröder diesmal fest entschlossen, die Agenda-Reformen auch gegen die Mehrheitsstimmung innerhalb der SPD durchzusetzen, da er sie als einzig realistischen Ausweg aus der arbeitsmarktpolitischen Sackgasse ansah, in die seine eher traditionalistisch ausgerichtete Regierungspolitik während der ersten Legislaturperiode geraten war. In der Tat waren alle bisherigen Versuche der Bundesregierung erfolglos geblieben, eine substanzielle Reduktion der Arbeitslosigkeit zu erreichen und damit eines der zentralen Wahlversprechen einzulösen. Um die internen Widerstände des linken Parteiflügels überwinden zu können, nutzte Schröder im Vorfeld der Abstimmung gezielt Mittel einer konfrontativen und disziplinierenden Politikdurchsetzung.25 Abgesehen von wiederholten Rücktrittsdrohungen erklärte er die Agenda 2010 medienwirksam zum „Testfall für die Regierungsfähigkeit der Partei“26. Bis zum Kanzlersturz bzw. dem drohenden Verlust der Regierungsverantwortung wollten die Reformgegner allerdings nicht gehen, woraufhin die Parteibasis dem Reformprogramm am Ende doch mit relativ breiter Mehrheit zustimmte. Jan Turowski konstatiert: „Das Prinzip ‚Machterhalt gegen Loyalität‘ konnte zwar die Partei zur Zustimmung zwingen, aber kaum überzeugen.“27 Die 24  Vgl.

Daniel Friedrich Sturm, Wohin geht die SPD?, München 2009, S. 140–149. Karl-Rudolf Korte, Der Pragmatiker des Augenblicks: Das Politikmanagement von Bundeskanzler Gerhard Schröder 2002–2005, in: C. Egle / R. Zohlnhöfer (Anm. 14), S. 168–196. 26  Gerhard Schröder, Interview, in: Der Spiegel vom 19. April 2003, S. 50. 27  Jan Turowski, Sozialdemokratische Reformdiskurse, Wiesbaden 2010, S. 276. 25  Vgl.

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zentrale Ursache des parteiinternen Legitimationsproblems bestand letztlich darin, dass es Schröder im Amt des Parteivorsitzenden über den gesamten Zeitraum vom Schröder-Blair-Papier bis hin zur Durchsetzung der AgendaReformen versäumt hatte, den angestrebten Politikwechsel in einen wertebasierten programmatischen Reformdiskurs einzubetten.28 Anstatt die Widerstände des linken Parteiflügels frühzeitig im Rahmen eines inklusiven Entscheidungsprozesses zu deeskalieren und so den notwendigen Konsens für den arbeitsmarktpolitischen Kurswechsel zu mobilisieren, entkoppelte Schröder die politische Entscheidungsfindung nahezu vollständig von der Parteiebene. Aufgrund der Abstinenz einer legitimierend wirkenden Programmdebatte erschöpften sich die Begründungsmuster des Dritten Weges letztendlich in einer alternativlosen Sachzwanglogik, die innerhalb der Partei kaum Überzeugungskraft entfalten konnte. Nachdem Schröder der SPD die Neuausrichtung der Arbeitsmarkpolitik gewissermaßen von oben herab verordnet hatte, waren es schließlich die Folgen der reformpolitischen Umsetzung, die über das Schicksal des Dritten Weges entscheiden sollten. Konzeptionell betrachtet, markierte der Reformzyklus der Hartz-Gesetzgebung29 nicht nur den endgültigen Übergang zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern, sondern mündete gleichzeitig in eine tiefgreifende Akzentverschiebung sozialer Sicherung im Verhältnis zwischen Markt und Staat. Kernelement des „Forderns“ bestand dabei in der strukturellen Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme bei Arbeitslosigkeit. Im Zuge dessen wurde das vormals dreistufige Leistungssystem bestehend aus beitragsorientiertem Arbeitslosengeld sowie bedürftigkeitsgeprüfter Arbeitslosen- und Sozialhilfe durch ein duales Leistungssystem ersetzt. Richtungsweisender Reformschritt war die Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu einer einheitlichen Grundsicherung (ALG II). Das Arbeitslosengeld I wird weiterhin in gleicher Höhe als Versicherungsleistung gewährt, wobei die Bezugsdauer auf grundsätzlich zwölf Monate verkürzt wurde.30 Das Leistungsniveau des ALG II basiert hingegen auf einem einheitlichen Regelbetrag, der sich am soziokulturellen Existenzminimum orientiert. Bei Langzeitarbeitslosigkeit bedeutete dies für zahlreiche Arbeitsmarktgruppen bei vorher durchschnittlichem Einkommen eine zum Teil beträchtliche Absenkung des kompensatorischen Leistungsniveaus (Abb. 2). 28  Vgl.

ebd, S. 261–307. den Reformmaßnahmen der Hartz-Gesetzgebung siehe Henry Goecke u. a., Zehn Jahre Agenda 2010: Eine empirische Bestandsaufnahme ihrer Wirkungen, IW policy paper 7 / 2013, S. 29–31. 30  Ausgenommen war die außerordentliche Bezugsdauer für Arbeitslose über 55 Jahren, die auf maximal 18 Monate (vorher 32 Monate) verkürzt wurde. 29  Zu



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75 70

Alleinerziehend (zwei Kinder)

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Zweiverdiener-Paar (zwei Kinder)

60 55

Zweiverdiener-Paar (kein Kind)

50 45 40

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Single (kein Kind)

30

Quelle: OECD, Tax-Benefit Models, unter: www.tinyurl.com / ldkyza3 (16. Februar 2015).

Abbildung 2: Netto-Lohnersatzrate bei Langzeitarbeitslosigkeit in Prozent (2001–2012)

Die leistungsrechtlichen Einschnitte im Grundsicherungsbezug wurden zudem durch eine striktere Regulierung der Bedürftigkeitsprüfung sowie der Zumutbarkeitskriterien flankiert.31 Seither gilt für ALG II-Empfänger grundsätzlich jede Arbeit als zumutbar, womit der im deutschen Sozialstaat bis dato etablierte Schutz beruflicher Qualifikationen faktisch aufgehoben wurde. Im Ergebnis wurde mit den Hartz-Reformen vor allem der vormals weitestgehend unproblematische Übergang von Arbeitslosengeld zu Arbeitslosenhilfe sowohl hinsichtlich des Leistungsniveaus32 als auch der damit verbundenen Arbeitspflicht deutlich restriktiver ausgestaltet. Die davon betroffenen Personen zählen somit zu den eindeutigen Verlierern der Arbeitsmarktpolitik der SPD-geführten Bundesregierung. Anke Hassel und Christof Schiller resümieren: „[Mit der Hartz-Gesetzgebung] wurde insbesondere die ehemals breite Mittelschicht der beruflich qualifizierten Arbeiter und Angestellten mit langen Berufsbiografien, die bisher im deutschen Sozialstaat gut geschützt waren, hart getroffen. Sie müssen heute damit rechnen, nach kaum mehr als einem Jahr in die Grundsicherung Hartz IV zu fallen. Sie werden dann genauso behandelt wie alle anderen 31  Vgl. Irene Dingeldey, Der aktivierende Wohlfahrtsstaat. Governance der Arbeitsmarktpolitik in Dänemark, Großbritannien und Deutschland, Frankfurt a. M. 2011, S. 297–300. 32  Bis 2004 wurde nach Ausschöpfen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld zeitlich unbefristet Arbeitslosenhilfe gewährt. Diese war zwar bedürftigkeitsgeprüft und steuerfinanziert, gleichwohl weiterhin am vorherigen Einkommen und damit am Statuserhalt orientiert.

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erwerbsfähigen Arbeitslosen, die noch nie in die Sozialversicherung eingezahlt haben. Sie müssen ihr Vermögen nicht nur offenlegen sondern auch aufbrauchen und prinzipiell für jede neue Beschäftigung zur Verfügung stehen.“33

Ungeachtet dessen, wurde im Zuge der Hartz-Gesetzgebung auch im Bereich des „Förderns“ eine Vielzahl neuer Instrumente geschaffen.34 Maßnahmen zur Beschäftigungsförderung wurden dabei vornehmlich auf die Ausweitung flexibler Beschäftigungsformen ausgerichtet, die als „Brücke“ in den ersten Arbeitsmarkt dienen sollten. So etwa die Einrichtung von Personal Service Agenturen (PSA), die Arbeitslose via Leih- und Zeitarbeit langfristig in reguläre Beschäftigung vermitteln sollten. Im Ergebnis blieb das Instrument aufgrund des lediglich geringen „Klebeeffekts“, also dem Verbleib des Leiharbeiters im Unternehmen, jedoch weit hinter den Erwartungen zurück.35 Im Bereich der Beschäftigung schaffenden Maßnahmen bestand das primäre Instrument zur Aktivierung von ALG II-Empfängern in den Arbeitsgelegenheiten (Ein-Euro-Jobs). Evaluationsstudien haben jedoch gezeigt, dass sich die Beschäftigungschancen bei Maßnahmenteilnahme allenfalls geringfügig erhöhen.36 Kernelement der Aktivierungsstrategie bestand in der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die hauptsächlich über die Ausweitung des Niedriglohnsektors realisiert wurde. Dies zog im Ergebnis die vielfach kritisierte Zunahme atypischer und zum Teil prekärer Beschäftigungsverhältnisse nach sich.37 Zwischen 1999 und 2006 ist die Zahl ausschließlich geringfügig entlohnter Beschäftigungsverhältnisse zunächst von etwa 3,6 Millionen auf rund 4,8 Millionen angestiegen und hat sich seitdem konstant auf diesem Niveau fortentwickelt.38 Die eigentlich beabsichtigte Funktion als Brücke in den regulären Arbeitsmarkt blieb auch in diesem Fall weit hinter den Erwartungen zurück. Im Jahr 2005 mündeten lediglich neun Prozent der Minijobs in ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis.39 Mit der Einführung des SGB II wurden die Instrumente der Beschäftigungsförderung prinzipiell allen ALG II-Empfängern zugänglich gemacht und zudem durch einen Rechtanspruch auf Bildungsgutscheine ergänzt. Ent33  A.

Hassel / C. Schiller (Anm. 17), S. 48. I. Dingeldey (Anm. 31), S. 300–314. 35  Vgl. Sarah Bernhard, Personal-Service-Agenturen: Stillgelegt, IAB-Forum 1 / 2008, S. 66–69. 36  Vgl. Katrin Hohmeyer / Joachim Wolff, Macht die Dosierung einen Unterschied?, IAB-Kurzbericht 4 / 2010. 37  Werner Eichenhorst / Paul Marx, Reforming German Labour Market Institutions: A Dual Path to Flexibility, IZA Discussion Paper 4100 / 2009, S. 13–14. 38  Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Arbeitsmarkt in Deutschland – Zeitreihen bis 2013, unter: www.tinyurl.com / mpudtmd (16. Februar 2015). 39  Vgl. I. Dingeldey (Anm. 31), S. 311–312. 34  Vgl.



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sprechende Maßnahmen wurden jedoch nur bei einer 70-prozentigen Wiedereingliederungswahrscheinlichkeit staatlich gefördert.40 Im Bereich der beruflichen Qualifizierung zeigte sich die Rücknahme der Förderinstrumente besonders deutlich: Zwischen 2002 und 2005 hatte sich die Anzahl in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen geförderter Personen um etwa zwei Drittel reduziert.41 Im gleichen Zeitraum wurden die Ausgaben für berufliche Aus- und Weiterbildung von 12 Milliarden auf sechs Milliarden Euro und damit um die Hälfte gekürzt.42 Gemessen an den qualifikationsorientierten Imperativen des Dritten Weges ist für die Aktivierungsstrategie der Regierung Schröder somit eine inkonsequente, wenn nicht widersprüchliche Umsetzung des Aktivierungsparadigmas zu konstatieren, die auf eine einseitige Betonung obligatorischer Aktivierungselemente (Fordern) zugespitzt werden kann. Aus Sicht des Dritten Weges ist dabei zu berücksichtigen, dass die Abkehr vom keynesianischem Marktinterventionismus (Lohnersatzleistungen) in erster Linie mit der Ausweitung investiver Aktivierungselemente (Investitionen in Qualifikation, Aus- und Weiterbildung) im Sinne der oben beschriebenen Interventionsalternative gerechtfertigt wurde. Pointiert formuliert, erscheinen die Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 somit weniger als Fördern und Fordern, sondern vielmehr als Fordern ohne Fördern. Wohlwissend, dass diese Darstellung eine stark verkürzte und zudem einseitige ist, so illustriert sie dennoch, wie die Arbeitsmarktpolitik des Dritten Weges in weiten Teilen der Bevölkerung wahrgenommen wurde – als Sozialabbau. Hierfür gab es bereits in der Phase des Reformprozesses empirische Evidenz: Laut einer Forsa-Umfrage empfanden 76 Prozent der Befragten die Politik der Agenda 2010 als „sozial ungerecht“.43 Erhebungen des Allensbacher Instituts für Demoskopie zufolge hatten 73 Prozent „nicht den Eindruck“, dass die Regierung in ihren Reformvorhaben um soziale Gerechtigkeit bemüht ist.44 Generell hatte sich die öffentliche Debatte zu den Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 schnell auf „Hartz IV“ und die damit verbundenen sozialpolitischen Einschnitte verengt. Dies mündete in eine gesellschaftliche Protestwelle, die vor allem in ostdeutschen Städten zahlreiche Massendemonstrationen nach sich zog. Davon profitierte in erster Linie die PDS, die bei den Landtagswahlen 2004 in Thüringen, Sachsen und 40  Vgl. Gerhard Bosch, Berufliche Weiterbildung in Deutschland 1969 bis 2010: Entwicklung und Reformoptionen, in: C. Bogedan / S. Bothfeld / W. Sesselmeier (Anm. 20), S. 106–125, hier: S. 110. 41  Vgl. Statistik der Bundesagentur für Arbeit (Anm. 38). 42  Vgl. Eurostat Database, Labour Market Policy, unter: www.ec.europa.eu / euro stat / data / database (16. Februar 2015). 43  Forsa-Umfrage im Auftrag des Sterns vom 19. März 2004, unter: www.tinyurl. com / nfqm2eg (10. Februar 2015). 44  Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Februar 2005, S. 5.

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Brandenburg das jeweils beste Ergebnis ihrer Parteigeschichte erzielen konnte. Während die politischen Erfolge der PDS zunächst weiterhin auf Ostdeutschland beschränkt waren, gründeten Gewerkschaftsvertreter und regierungskritische SPD-Dissidenten mit der Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG) ein linkspopulistisches Bündnis, das den öffentlichen Widerstand gegen die Arbeitsmarktpolitik auch in Westdeutschland erfolgreich kanalisieren konnte. Bei den Landtagswahlen in NordrheinWestfalen (2005), die kurz nach der Parteigründung der WASG stattfanden, konnte dieses mit 2,2 Prozent der Stimmen bereits einen ersten Achtungserfolg verbuchen. Für die SPD endete die Wahl hingegen in einer herben Niederlage. Mit Stimmverlusten von 5,7 Prozentpunkten war es der SPD schließlich nicht mehr möglich, die rot-grüne Landesregierung fortzusetzen. Angesichts des schlechten Abschneidens der SPD kündigte Kanzler Schröder noch am Wahlabend an, vorgezogene Bundestagwahlen anzustreben. Offiziell begründete er sein Vorhaben damit, dass „mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein-Westfalen […] die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit in Frage gestellt“ sei. Für die aus seiner Sicht „notwendige Fortführung der Reformen“ halte er „eine klare Unterstützung durch die Mehrheit der Deutschen gerade jetzt für erforderlich“.45 Jenseits der öffentlichen Begründung wird die Entscheidung, vorzeitige Neuwahlen herbeizuführen, auf unterschiedliche Motive zurückgeführt.46 Ein mögliches und in gegebenem Kontext ausschlaggebendes Erklärungsmuster besteht darin, dass die SPD-Parteispitze einen potentiellen Zusammenschluss der bislang getrennt agierenden Linksgruppierungen PDS und WASG frühzeitig im Keim ersticken und so die Entstehung einer gesamtdeutschen Linkspartei verhindern wollte. Dieses Szenario ist am Ende jedoch nicht eingetreten, sodass sich die SPD bei der Bundestagswahl 2005 erstmals mit einer gewichtigen linken Konkurrenzpartei konfrontiert sah. Letztere profilierte sich dabei gezielt gegen die Arbeitsmarktreformen des Dritten Weges und konnte mit 8,7 Prozent der Stimmen in den Bundestag einziehen. Das gute Abschneiden der Linkpartei basierte dabei primär auf Zugewinnen von enttäuschten SPD-Wählern (knapp eine Million Stimmen), die überwiegend im Bereich der sozialdemokratischen Kernwählerschaft zu verorten waren.47 Die Abwanderung der Stammwählerschaft kann dabei 45  Gerhard Schröder, Erklärung des Bundeskanzlers zu Neuwahlen, unter: www. tinyurl.com / pdl3gtb (10. Februar 2015). 46  Vgl. Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer, Der Episode zweiter Teil – ein Überblick über die 15. Legislaturperiode, in: dies. (Anm. 14), S. 11–25, hier: S. 19–22. 47  Jürgen Hofrichter / Michael Kunert, Wählerwanderung bei der Bundestagswahl 2005: Umfang, Struktur und Motive des Wechsels, in: Jürgen W. Falter / Oscar W. Gabriel / Bernhard Weßels (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2005, Wiesbaden 2009, S. 228–250.



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eindeutig auf die rekommodifizierenden Wirkungen der Arbeitsmarktreformen zurückgeführt werden.48 V. Vom Legitimations- zum Wettbewerbsproblem? ‒ Der Dritte Weg und die Folgen Aus der Binnenperspektive der SPD betrachtet, markiert die Entstehung der Linkspartei letztlich die zentrale Zäsur, auf die das Scheitern des Dritten Weges in der Arbeitsmarktpolitik zurückgeführt werden kann. Infolge dessen hatte sich das zunächst auf die Parteiebene beschränkte, interne Legitimationsproblem des arbeitsmarktpolitischen Paradigmenwechsels zunehmend auf die externe Ebene des Parteienwettbewerbs verlagert. Auslöser dieser Aktzentverschiebung waren nicht zuletzt die sozialpolitischen Einschnitte der Arbeitsmarktreformen, die die SPD in ihrer Tradition als Sozialstaatspartei und Verfechterin sozialer Gerechtigkeit nachhaltig diskreditierten. Dies mündete nicht nur in eine Erosion des linken Parteiflügels, sondern führte auch zu gravierenden Vertrauensverlusten an der Parteibasis. Allein im Zeitraum zwischen 2002 und 2006 verlor die SPD schlagartig knapp 20 Prozent ihrer Mitglieder (Abb. 3). Begleitet wurde die Austrittswelle von einer weitreichenden Entfremdung der Kernwählerschaft, die in der Neuen Mitte nicht länger die „Partei der kleinen Leute“ wiedererkannten. Dies begünstigte das Klaffen einer Repräsentationslücke innerhalb des Parteienwettbewerbs, die das neu entstandene Linksbündnis durch gezieltes Oppositionsverhalten gegen die Arbeitsmarktreformen des Dritten Weges erfolgreich zulasten der SPD besetzen konnte.49 In elektoraler Hinsicht ist dabei zu berücksichtigen, dass die Strategie des Dritten Weges ursprünglich und im Kern darauf ausgerichtet war, zusätzliche Wählerschichten der politischen Mitte zu erschließen und dabei gleichzeitig die sozialdemokratische Kernwählerschaft zu integrieren. Während dies bei der Bundestagswahl 1998 noch eindrucksvoll gelang50, hatte sich die vormals doppelte Integrationswirkung der Neuen Mitte infolge der Arbeitsmarktreformen des Dritten Weges letztlich in eine zweifache Fronstellung innerhalb des Parteienwettbewerbs verkehrt. Fortan sah sich die SPD 48  Vgl. Christoph Arndt, The Electoral Consequences of Third Way Welfare State Reforms. Social Democracy’s Transformation and its Political Costs, Amsterdam 2013, S. 99–126. 49  Vgl. Oliver Nachtwey / Tim Spier, Günstige Gelegenheit? Die sozialen und politischen Entstehungshintergründe der Linkspartei, in: Tim Spier u. a. (Hrsg.), Die Linkspartei. Zeitgemäße Idee oder Bündnis ohne Zukunft?, Wiesbaden 2007, S. 13–69. 50  Vgl. C. Egle / C. Henkes (Anm. 12), S. 73–74.

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800000 750000 700000 650000 600000 550000 500000 450000 400000

Quelle: Oskar Niedermayer, Parteimitgliedschaften im Jahre 2012, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 44 (2013) 2, S. 365–383; eigene Darstellung.

Abbildung 3: Mitgliederentwicklung der SPD (1998–2010)

mit einer wettbewerbsfähigen Linkspartei konfrontiert, die mit sozialpolitischem Themenfokus gezielt um die eigene Kernklientel konkurrierte. Dies manövrierte die SPD gewissermaßen in ein wettbewerbsstrategisches „Dilemma“ zwischen Fortführung des bisherigen Reformkurses und verstärkter Hinwendung zur Stammwählerschaft. Dementsprechend war auch die arbeitsmarkpolitische Linienführung der SPD innerhalb der Großen Koalition (2005–2009) hauptsächlich von der Konkurrenzsituation mit der Linkspartei und dem damit einhergehenden Angebotsdruck geprägt.51 Nachdem die maßgeblich vom damaligen Vizekanzler Franz Müntefering initiierte „Rente mit 67“ letztmalig dem reformstrategischen Impetus der Agenda 2010 folgte, nahm die SPD unter dem Parteivorsitzenden Kurt Beck eine eindeutige Kurskorrektur nach links vor. Trotz prinzipieller Zustimmung zur Agenda-Politik war Beck vor allem parteiintern um eine verstärkte Reintegration des linken Parteiflügels bemüht. Dies spiegelte sich auch in ersten Korrekturen der Hartz-Gesetzgebung wider. Zentraler Reformschritt war dabei die Verlängerung der Bezugsdauer des ALG I für ältere Arbeitslose (2008), die dem Aktivierungsparadigma des Dritten Weges diametral entgegenstand.52 Generell kann auch die von 51  Vgl. Christoph Egle, Im Schatten der Linkspartei. Die Entwicklung des Parteienwettbewerbs während der 16. Legislaturperiode, in: Christoph Egle / Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.), Die zweite Große Koalition. Eine Bilanz der Regierung Merkel 2005–2009, Wiesbaden 2010, S. 99–122. 52  Vgl. Simon Hegelich / David Knollmann / Johanna Kuhlmann, Agenda 2010. Strategien – Entscheidungen – Konsequenzen, Wiesbaden 2011, S. 170.



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Seiten der SPD explizit in den Vordergrund gerückte Forderung nach flächendeckenden gesetzlichen Mindestlöhnen als verstärkte Hinwendung zur Kernwählerschaft interpretiert werden. Die zunächst auf Branchen beschränkte Einführung von Mindestlöhnen (2009) wird häufig ebenfalls als Rücknahme der Agenda-Reformen ausgelegt.53 Da eine gesetzliche Lohnuntergrenze jedoch das weitere Abdriften unterer Einkommensgruppen verhindert und damit dem Leitziel einer sozialverträglichen Arbeitsmarktinklusion entspricht, ist dies vielmehr als verspätete Umsetzung des Aktivierungsparadigmas anzusehen. Während Kurt Beck im Amt des Parteivorsitzenden somit vor allem im Bereich der Arbeitsmarkpolitik eine Strategie der begrenzten Teilkorrektur verfolgte, wurde im Übergang zu Franz Müntefering ein erneuter Kurswechsel vollzogen. Letzterer befürchtete, dass weitere Teilkorrekturen letztlich die Gesamtkorrektur der Reformen nach sich ziehen könnte. Deshalb setzte er dezidiert auf die „Historisierung der Agenda“, die mit einer gezielten „De-Thematisierung“ einherging.54 Zwar diente dies in erster Linie dazu, die Substanz der Agenda-Reformen auch zukünftig aufrechtzuerhalten, gleichwohl wurde die Politik des Dritten Weges in ihrer Rolle als „Narrativ“ einer arbeitsmarktpolitischen Reformperspektive damit endgültig zum Anachronismus degradiert. Grundsätzlich ist es der SPD in der Folgezeit der Hartz-Gesetzgebung nicht gelungen, die Erfolge ihrer eigenen Arbeitsmarktpolitik in politisches Kapital zu überführen. Dabei ist anzumerken, dass sich bereits während der Großen Koalition eine eindeutige Trendwende am Arbeitsmarkt abzeichnete: Zwischen 2005 und 2009 hatte sich die Arbeitslosigkeit trotz Finanzkrise stetig von 11,3 Prozent auf 7,6 Prozent reduziert.55 Im gleichen Zeitraum konnte die Zahl der Arbeitslosen, die im Zuge der Fusion von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf 4,9 Millionen angestiegen war, auf 3,4 Millionen gesenkt werden. Auch wenn bereits zum Zeitpunkt der Bundestagswahl 2009 weitestgehend außer Frage stand, dass die positive Entwicklung am Arbeitsmarkt maßgeblich auf die Agenda-Reformen zurückzuführen war, erlitt die SPD dennoch eine bittere Niederlage. Mit lediglich 23 Prozent der Stimmen und Verlusten im zweistelligen Bereich (–11,2 Prozentpunkte) erzielte sie ihr bisher schlechtestes Wahlergebnis. Davon profitierte erneut die Linkspartei, die sich mit 11,9 Prozent der Stimmen endgültig im Parteiensystem etablieren konnte. Spiegelbildlich zur Bundestagswahl 2005 gingen deren Zugewinne primär zulasten der SPD (1,1 Mil53  Vgl. Kathrin Dümig, Ruhe nach und vor dem Sturm: Die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik der Großen Koalition, in: C. Egle / R. Zohlnhöfer (Anm. 51), S. 279–301, hier: S. 294–295. 54  Vgl. Joachim Raschke, Zerfallphase des Schröder-Zyklus. Die SPD 2005–2009, in: C. Egle / R. Zohlnhöfer (Anm. 51), S. 69–98, hier: S. 86. 55  Vgl. OECD (Anm. 7).

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lionen Stimmen). Dabei hatten sich die Verluste der SPD im Bereich der Kernwählerschaft nochmals intensiviert.56 VI. Erfolgreich gescheitert? ‒ Der Dritte Weg aus Sicht der SPD Wie die Analyse der politischen Umsetzung des Dritten Weges in der Arbeitsmarktpolitik zeigt, ist dessen Scheitern im Ergebnis auf ein Zusammenspiel von internen und externen Einflussgrößen zurückzuführen. Im Zeitverlauf betrachtet, kristallisiert sich zudem eine eindeutige Akzentverschiebung der Ursachen von parteiinternen Legitimationsdefiziten hin zu strukturellen Veränderungen des Parteienwettbewerbs heraus, deren additive Wirkung letztlich die Abkehr von der arbeitsmarktpolitischen Agenda des Dritten Weges nach sich zog. Hinsichtlich der programmatischen Neuausrichtung erwies sich allen voran die Abstinenz eines wertebasierten Reformdiskurses und die somit ausgebliebene Konsensmobilisierung auf der Parteiebene als richtungsweisend. Anstatt den angestrebten Politikwechsel im Rahmen eines inklusiven Entscheidungsprozesses unter Einbezug der Parteibasis zu legitimieren, rekurrierte Schröder im Amt des Parteivorsitzenden auf oktroyierende und konfrontative Formen der Politikdurchsetzung. Damit war es der Parteiführung letztlich nicht gelungen, die bereits nach der Veröffentlichung des Schröder-Blair-Papiers auftretenden parteiinternen Widerstände frühzeitig zu kanalisieren. Dies mündete in eine Erosion des linken Parteiflügels, die von weitreichenden Vertrauensverlusten an der Parteibasis begleitet wurde. Im Bereich der arbeitsmarktpolitischen Entscheidungsfindung hatte sich die Wiederbelebung des sozialdemokratischen Korporatismus durch das Bündnis für Arbeit als Reformblockade entpuppt, sodass der tatsächliche Einstieg in die aktivierende Arbeitsmarkpolitik trotz der prekären Arbeitsmarktsituation erst während der zweiten Legislaturperiode und damit verhältnismäßig spät erfolgen konnte. Die sich anschließende reformpolitische Umsetzung des Prinzips Fördern und Fordern wurde in der öffentlichen Debatte wiederum einseitig auf die leistungsrechtlichen Einschnitte des Reformprogramms verengt. Die rekommodifizierenden Wirkungen der Hartz-Gesetzgebung diskreditierten die SPD letztlich auch im Bereich ihres identitätskonstituierenden Grundwertekanons (soziale Gerechtigkeit). Dies 56  Vgl. Jürgen Hofrichter / Stefan Merz, Wähler auf der Flucht: die Wählerwanderung zur Bundestagswahl 2009, in: Oscar W. Gabriel / Harald Schoen / Bernhard Weßels (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlass der Bundestagswahl 2009, Wiesbaden 2013, S. 97–117.



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führte im Ergebnis zu einer tiefgreifenden Entfremdung der sozialdemokratischen Kernwählerschaft. Die Kombination aus erodiertem linken Parteiflügel, Vertrauensverlusten an der Parteibasis sowie Entfremdung der Kernwählerschaft begünstigte dabei die Entstehung einer Repräsentationslücke innerhalb des Parteienwettbewerbs. Diese konnte von der zwischenzeitlich bundesweit etablierten Linkspartei durch gezieltes Oppositionsverhalten gegen die Arbeitsmarktpolitik des Dritten Weges erfolgreich besetzt werden. Mit der Herausbildung einer wettbewerbsfähigen linken Konkurrenzpartei sah sich die SPD in ihrer arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung fortan nicht nur parteiintern sondern auch elektoral mit erheblichem Handlungsdruck konfrontiert. Dementsprechend ist auch die Kurskorrektur der SPD nach links sowie die verstärkte Hinwendung zur Kernwählerschaft in weiten Teilen als Reaktion auf den Angebotsdruck der Linkspartei zu interpretieren. Zwar hatte die SPD noch während der Großen Koalition im Kern an den Arbeitsmarktreformen des Dritten Weges festgehalten, gleichwohl wurden erste Teilkorrekturen umgesetzt, die dem Aktivierungsparadigma eindeutig entgegenstehen. Mit der Historisierung der Agenda 2010 hatte sich die SPD von der Politik des Dritten Weges als Leitbild einer zukünftigen Reformperspektive endgültig gelöst. Trotz der positiven Entwicklung am Arbeitsmarkt ist es der SPD nicht gelungen, von den Erfolgen ihrer Arbeitsmarktpolitik innerhalb des Parteienwettbewerbs zu profitieren. Insofern kann die Politik des Dritten Weges als „erfolgreich gescheitert“ angesehen werden.

Hanfkragen der Piratenpartei?! Inhaltsanalyse von Printartikeln zu den Piraten im Bundestagswahlkampf 2013 Von Erik Schlegel I. Die Piraten in den Medien – Politische Freibeuter oder ahnungslose Ignoranten? „Die Piratenpartei ist einer Umfrage zufolge weiter auf dem Vormarsch. Nach ihrem Erfolg bei der Landtagswahl im Saarland schnellten die Piraten einer am Dienstag veröffentlichten Forsa-Umfrage zufolge im Bund um fünf Punkte auf zwölf Prozent hoch. Zulauf erhielten die Piraten von allen Parteien.“1 Manfred Güllner, Chef des Umfrageinstituts Forsa, sagte in diesem Zusammenhang: „Sie sind keine Klientelpartei, sondern quasi eine Volkspartei im Mini-Format.“2 Dementgegen steht die Aussage von Michael Hanfeld: „Nur im Internet sieht die Sache ganz anders aus. Da melden sich zuhauf die Motzkis der Republik, da sind AfD-Wähler ebenso überproportional vertreten wie die Anhänger der Piraten und bestimmen die Tonlage. Rechtsaußen gegen Linksaußen. Wir haben es schon seit Monaten mit einer Online-Ökologie zu tun, die mit den wahren Stimmungen in diesem Land nicht einmal ansatzweise übereinstimmt. In den Netzwerken schweigen die Wähler.“3

Zwischen beiden Aussagen, die in der gleichen Zeitung abgedruckt wurden, liegen 17 Monate. Sie verdeutlichen das im zeitlichen Verlauf sehr unterschiedliche Meinungsbild zu den Piraten und der ihnen zugeschriebenen Relevanz. Zudem zeigen sie, wie nahe bei der medialen Berichterstattung über die Partei das Hochjubeln als Politikrebellen und das Verdammen als Dilettanten beieinander liegen. 1  Umfrage. Piraten klettern auf zwölf Prozent, 3. März 2012, unter: www.faz.net /  aktuell / politik / inland / umfrage-piraten-klettern-auf-zwoelf-prozent-11706450.html (10. Februar 2015). 2  Ebd. 3  Michael Hanfeld, Der Wähler schweigt. Wie sich Volkes Stimme im Internet gerade nicht zeigt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. September 2013, S. 33.

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Für neu gegründete sowie nicht etablierte Kleinparteien ist deren mediale Darstellung für einen Wahlerfolg besonders bedeutsam, um über ihre jeweilige Stammwählerschaft hinaus an Bekanntheit zu gewinnen. Dies liegt neben ihren organisatorischen Defiziten im Vergleich zu etablierten Parteien an den finanziellen Ressourcen, die für einen Wahlkampf zur Verfügung stehen. Zudem ist Politik in einer repräsentativen Demokratie innerhalb einer arbeitsteiligen Gesellschaft für die Masse der Bevölkerung vorwiegend aus zweiter Hand – über Medien – erfahrbar.4 Der Zugang von Parteien zu den Medien bestimmt die Handlungsoptionen der Kommunikationspolitik dieser gegenüber jenen, wobei die Medien als Format-, Struktur-, Takt- und Bildgeber von Informationen fungieren. Der mediale Einfluss auf den Wahlentscheid der Bürger wirkt indirekt, steigt aber wegen der Zunahme von kurzfristigen Einflussfaktoren auf das Wahlverhalten und einer hohen Volatilität des Wahlentscheids ständig an.5 Wähler ohne feste Parteibindung und die sogenannten Spätentscheider können durch Massenmedien verstärkt beeinflusst werden.6 Die monologische politische Massenkommunikation gegenüber einem großen, anonymen und heterogenen Publikum ergänzt die interpersonelle Kommunikation.7 Mit Blick auf die Piraten wechselten die zeitweisen Stimmungslagen in den Medien ebenso schnell wie die Wähler der Partei zuliefen und ihr wieder den Rücken kehrten. Den Wahlerfolgen im Herbst 2011 sowie im Frühsommer 2012 folgten politische Tristesse und das klare Scheitern an der Sperrklausel. Viele Beobachter der Partei machten deren Schicksal am Abschneiden bei der Bundestagswahl 2013 fest. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Leitfrage, wie die Piraten im Rahmen der Bundestagswahl 2013 in den Medien abgebildet wurden. Konnte die Partei medial Aufmerksamkeit erzeugen? Mit welchen Themen setzten die Medien die Piraten in Verbindung? 4  Vgl. Barbara Pfetsch, Strukturbedingungen der Inszenierung von Politik in den Medien. Die Perspektive von politischen Sprechern und Journalisten, in: Oskar Niedermayer / Bettina Westle (Hrsg.), Demokratie und Partizipation. Festschrift für Max Kasse, Wiesbaden 2000, S. 211–232, hier: S. 213. 5  Vgl. Jan Eric Blumenstiel, Merkels Triumph und der Alptraum der FDP. Das Ergebnis der Bundestagswahl 2013, in: Rüdiger Schmitt-Beck u. a. (Hrsg.), Zwischen Fragmentierung und Konzentration. Die Bundestagswahl 2013, Baden-Baden 2014, S. 101–117, hier: S. 116. 6  Vgl. Karl-Rudolf Korte / Matthias Bianchi, Haben die Medien die Wahl entschieden? Besonderheiten der medialen Wahlkommunikation, in: Eckhard Jesse / Roland Sturm (Hrsg.), Bilanz der Bundestagswahl 2013. Voraussetzungen, Ergebnisse, Folgen, Baden-Baden 2014, S. 335–357, hier: S. 336. 7  Vgl. Charlotte Kellermann, Trends and Constellations. Klassische Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens bei den Bundestagswahlen 1990–2005, BadenBaden 2008, S. 84.



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Der Beitrag geht diesen Fragen mittels einer Inhaltsanalyse von Print­ artikeln nach. Der Hypothesenbildung folgt das Beschreiben des Untersuchungsdesigns, bevor die empirischen Befunde interpretiert werden, die sich der quantitativen wie der qualitativen Berichterstattung über die Piraten zuwenden. II. Arbeitshypothesen der Inhaltsanalyse Die Ausgangssituation der Piraten innerhalb der Parteienkonkurrenz ist nach ihren kurzzeitigen Wahlerfolgen in den Jahren 2011 und 2012 durch die konsequent umgesetzte Strategie der Minorisierung der etablierten Parteien, vor allem links der Mitte, ungünstig. Ihr bewusster Verzicht, die Piratenpartei zu erwähnen, sie in ihre strategischen Überlegungen mit einzubeziehen oder sie generell stärker als Konkurrent zu beachten, dient dem Ziel der Herrschafts- und Statusabsicherung innerhalb des Parlaments durch eine Konkurrenzbeschränkung im Parteienwettbewerb.8 Mit dem Anwenden dieser strategischen Mittel zur Minorisierung einer Konkurrenzpartei geht oft eine inhaltliche Absorption einher, um die durch eine Parteineugründung aufgezeigte mögliche Repräsentationslücke zu schließen. Eine durch die Parteienkonkurrenz begünstigte, medial aufgreifbare Angriffsfläche wie zur Bundestagswahl 2009, einerseits über den „Schlafwagenwahlkampf“ und den damit verbundenen hohen Nachrichtenwert einer neuen, jungen politischen Partei, andererseits aufgrund der in die Freiheit des Internets eingreifenden und durch die Regierung initiierten Netzsperrendebatte, bot sich den Piraten bei dieser Wahl nicht – trotz des NSA-Skandals.9 Das mediale Aufgreifen der Enthüllungen Edward Snowdens führte beim Wähler nicht zu politischer Verantwortlichkeit der Parteien, gab es doch keinen Hauptverantwortlichen im Parteienspektrum für den NSA-Skandal. Dementsprechend sind die etablierten Parteien nur in geringem Maße mit den Enthüllungen in Verbindung gebracht worden und erlitten lediglich 8  Vgl. Manfred Knoche / Monika Lindgens, Fünf-Prozent-Hürde und Medienbar­ riere. Die Grünen im Bundestagswahlkampf 1987, Neue Politik, Medienpräsenz und Resonanz der Wählerschaft, in: Max Kaase / Hans-Dieter Klingemann (Hrsg.), Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1987, Opladen 1990, S. 569–618, hier: S. 579. 9  Die mannigfaltigen Gründe dafür liegen im mangelhaften programmatischen Umsetzen des Themas bei den Piraten selbst, die quantitativ fehlende mediale Darstellung der eigenen Positionen, der Ausgrenzung respektive thematischen Absorption durch die etablierten Parteien sowie das strategisch geschlossene Auftreten dieser gegenüber den Piraten, was letztgenannten keine Angriffsfläche / kein Feindbild sowie mediale Beachtung verschaffte. Zudem war mit den Grünen und Linken eine parlamentarische Vertretung vorhanden, die sich für den persönlichen Datenschutz einsetzte.

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schwache Sympathieverluste beim Wähler. Die Piraten konnten nur im gleichen Ausmaß leichte Gewinne erzielen.10 Daraus ergibt sich die erste Hypothese der quantitativ geringen Berichterstattung über die Piraten im Vergleich zu anderen (etablierten) Parteien oder weiteren Akteuren respektive tagespolitischen Entwicklungen der Netzwelt. Zudem ist der mediale „Hype“ um die Piraten, der nach dem ersten Parlamentseinzug in Berlin im September 2011 einsetzte, schnell abgeebbt. Nach der anfänglichen Euphorie der Medien über den Sieg von Basisdemokratie, Transparenz, Andersartigkeit, Aufmüpfigkeit und alternativer Authentizität geriet die Partei zunehmend ins mediale Kreuzfeuer.11 Kritische Berichte über rechtsextreme und sexistische Tendenzen, Personalquerelen, die programmatische Ziellosigkeit und die mangelhafte Organisation des Parteiapparats nahmen sukzessive zu.12 Die zweite Hypothese im qualitativen Bereich geht von einer negativ geprägten Berichterstattung über die Piraten aus. III. Untersuchungsdesgin Nach dem Fernsehen / Radio tragen in Wahlkampfzeiten die Presse- und Printerzeugnisse – noch vor dem Internet – zur politischen Informationsund Meinungsbildung des Wählers bei.13 Der Inhalt aller Artikel im Zeitraum vom 26. August bis 5. Oktober 2013, in denen die Piratenpartei oder deren Führungskräfte vorkamen, wurde qualitativ und quantitativ analysiert. Die heiße Phase des Wahlkampfes ist für eine solche Inhaltanalyse nicht nur wegen der besonders intensiven politischen Auseinandersetzung und dem damit verbundenen Bild der Partei in den Medien sinnvoll, sondern auch wegen der vermehrten Berichterstattung über in der 17. Legislaturperiode nicht im Bundestag vertretene Parteien. In Wahlkampfzeiten verdichtet sich das mediale Interesse an den Parteien, die das Potenzial haben, die FünfProzent-Hürde zu überwinden und mit den etablierten Parteien zu konkurrieren. Am 26. August begann die heiße Phase des Wahlkampfes, in der die Parteien zunehmend Werbung in den Medien schalteten und diese das Thema Bundestagswahl verstärkt aufgriffen. In dieser Phase fand auch die 10  Vgl. Thomas Plischke, Ereignisse und Meinungsbilder der Wähler, in: R. SchmittBeck (Anm. 5), S. 89–100, hier: S. 97. 11  Vgl. Jan Thomsen, Berlin Abgeordnetenhaus. Diensträder für Piraten, 14. Oktober 2011, unter: www.berliner-zeitung.de / berlin / abgeordnetenhaus-dienstraederfuer-piraten,10809148,11010984.html (4. November 2014). 12  Vgl. Alexander Hensel / Stephan Klecha / Franz Walter, Meuterei auf der Deutschland. Ziele und Chancen der Piratenpartei, Berlin 2012, S. 32. 13  Vgl. Joss Roßmann / Tobias Gummer / Christof Wolf, Twitter im Wahlkampf, in: R. Schmitt-Beck (Anm. 5), S. 61–71, hier: S. 61.



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maßgebliche Wählermobilisierung und politische Beteiligung statt, da das allgemeine Interesse an der Wahl stieg.14 Bei der Untersuchung handelt es sich um eine Vollerhebung der Tageszeitungen „Sächsische Zeitung“ (sozialdemokratisch), „Süddeutsche Zeitung /  SZ“ (links-liberal), „Frankfurter Allgemeine Zeitung / FAZ“ (liberal-konservativ), „Bild“ (konservativ) und den Wochenmagazinen „Der Spiegel“ (linksliberal) und „Focus“ (liberal-konservativ).15 Die Artikel aus diesen Zeitungen bilden die Grundgesamtheit der Untersuchung. Die Inhaltanalyse als empirische Methode, um systematisch und nachvollziehbar sowohl inhaltliche wie formale Charakteristika von Printartikeln zu untersuchen, ermöglicht eine Antwort auf die Leitfrage.16 Die vier Tageszeitungen sowie die beiden Wochenmagazine sind einerseits aufgrund ihrer Auflagenstärke sowie ihres Verbreitungsgebiets und damit der Präsenz beim Wähler ausgewählt worden, andererseits wegen ihrer redaktionellen Leitlinien, die das Links-RechtsSchema abdecken. Die bayerische Landtagswahl eine Woche vor der Bundestagswahl und das überdurchschnittliche Abschneiden der Piraten in sächsischen Großstädten bei bundesweiten Wahlen sind weitere Gründe, die SZ und die Sächsische Zeitung jeweils mit den Regionalteilen München und Dresden in die Untersuchung aufzunehmen, um Aussagen über die lokale Kampagnenfähigkeit in den für die Piraten wahltaktisch bedeutsamen Ballungsräumen treffen zu können. Um quantitative Verzerrungen zu Gunsten der Piraten zu vermeiden, ist keine Berliner-Tageszeitung in die Untersuchung aufgenommen worden. Da die Berichterstattung über die Piraten wegen der bayerischen Landtagswahl in allen Medien zugenommen hat, erfolgt kein gesondertes Auswerten dieser elektoralen Ebene. Vielmehr trägt dies zu einen repräsentativerem Bild der Partei im Untersuchungszeitraum bei. Der Inhaltsanalyse liegt eine bewusste Auswahl des Untersuchungszeitraums und der zu untersuchenden Medien zugrunde. Hauptstichwörter bzw. Zugriffskriterien für die Artikelsuche waren: Piratenpartei, Pirat(en), Netzpartei, Internetpartei, Schlömer, Nocun, Maurer, Lauer und Paul. Das Selektionsinteresse der Inhaltsanalyse liegt zum einen im quantitativen Darstellen der Piraten: Wie oft und wo kommen sie in den Printmedien 14  Vgl. Julia Partheymüller, Die Dynamik von Mobilisierung und Meinungswandel im Wahlkampf, in: R. Schmitt-Beck (Anm. 5), S. 73–87, hier:: S. 75. 15  Die Einordnung der redaktionellen Leitlinien orientiert sich an dem verbreiteten Einordnen dieser Printmedien in Inhaltsanalysen. Vgl. Bettina Westle / Ina Bieber, Wahlkampf der Geschlechter? Inhaltsanalyse von Printmedien im Bundestagswahlkampf 2005, in: Steffen Kühnel / Oskar Niedermayer / Bettina Westle (Hrsg.), Wähler in Deutschland. Sozialer und politischer Wandel, Gender und Wahlverhalten, Wiesbaden 2009, S. 166–197, hier: S. 171. 16  Vgl. Markus Maurer / Carsten Reinemann, Medieninhalte. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 35.

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vor? Zum anderen geht es um die qualitative Darstellung der Partei: Wird positiv oder negativ über sie berichtet? Die Bezugsebene bildet die generelle Darstellung / Nennung der Piraten in den untersuchten Printmedien. Der iterative Prozess der Kategoriensystembildung ist über eine theoretischheuristische Segmentierung erarbeitet worden.17 Die Beschränkung auf einzelne Aspekte / Kategorien setzt voraus, die Komplexität der untersuchten Artikel zu reduzieren. Dies ermöglicht generelle und strukturelle Aussagen zu einer großen Menge an Untersuchungsmaterial.18 Die gebildeten Kategorien bestimmen die Merkmale, nach denen die Untersuchung durchgeführt wird. Als Analyseeinheit dient jeweils der gesamte Artikel, der ein Hauptstichwort enthält. Demzufolge werden alle Artikel mit einem Zugriffskriterium codiert. Formale Kategorien sind der Zeitungsname, das Erscheinungsdatum, die Platzierung, die Artikelaufmachung, das Artikelausmaß, der Artikelumfang und der Urheber. Anhand dieser Kategorien lässt sich nicht nur die Häufigkeit der Berichterstattung mit Nennung der Piratenpartei überprüfen, sondern auch die jeweilige Gestaltung. Offenkundig besteht ein Unterschied, ob Artikel über die Piraten nur im hinteren Zeitungsteil oder auf Seite eins vorkommen sowie ob der Artikel einzeilig und kurz oder der Hauptaufmacher der Seite und sehr lang ist. Neben der suggestiven Wirkung beeinflusst dies die Wahrnehmung und die Bereitschaft, den Artikel zu lesen. Zusätzlich zu den formalen bilden die inhaltlichen Kategorien den zweiten Teil der Untersuchung. Sie zeigen auf, wie über die Piraten berichtet wird. Entscheidend ist nicht nur der Tenor zur Piratenpartei, ob positiv oder negativ, sondern auch, welche Themen mit der Partei in Verbindung gebracht werden. Außerdem ist zu untersuchen, welche Gliederung der Partei angesprochen und welche weiteren Parteien in den Artikeln genannt werden. Bei den inhaltlichen Kategorien besteht ein erhöhtes Klassifikationsinteresse, da sie sich auf spezifische Attributbeschreibungen konzentrieren und sich inhaltlich ähnliche Ausprägungen nicht differenziert erfassen lassen. Das Kategoriensystem wurde in einem Pretest auf alle Artikel (34) der SZ, der FAZ, des Spiegel und des Focus im Zeitraum von 5. bis 21. August 2013, die das Stichwort Piraten(-partei) enthielten, angewandt und leicht angepasst. Codiert wurde die Grundgesamtheit der Artikel jeweils durch den Autor dieses Beitrags. Einer geringeren Inter-Codier-Reliabilität wurde durch ein ausgearbeitetes und festes Codierungsschema sowie einer Doppel17  Vgl. Helena Bilandzic / Friederike Koschel / Bertram Scheufele, Theoretischheuristische Segmentierung im Prozess der empiriegeleiteten Kategorienbildung, in: Werner Wirth / Edmund Lauf (Hrsg.), Inhaltsanalyse. Perspektiven, Probleme, Potenziale, Köln 2001, S. 98–116. 18  Vgl. M. Maurer / C. Reinemann (Anm. 15), S. 36.



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Tabelle 1 Gekürztes Kategorienschema der Inhaltsanalyse Variable

Kategorienname

Kategorienausprägung

V1

Zeitung

Sächsische Zeitung, SZ, FAZ, Bild, Spiegel, Focus

V2

Datum

Erscheinungsdatum

V3

Platzierung

Titelseite, Seite 2 / 3 / 4, anders platziert

V4

Aufmachung

Hauptaufmacher, mehrspaltiger Artikel, einspaltiger Artikel

V5

Artikelausmaß

Anzahl der Zeilen

V6

Artikelumfang

Anzahl der Wörter

V7

Urheber

Autor, Redaktion, Umfrage, Sonstige

V8

Tenor zur Piratenpartei

positiv, neutral, negativ, positiv und negativ, nicht zu erkennen

V9

Nennung / Prominenz der Überschrift, Unterüberschrift, Text Piratenpartei

V10

Fokus des Artikels

Personen der Piratenpartei, Piratenpartei, politisches System insgesamt, Politik im Allgemeinen, Wahlkampf

V11

Gliederung

Bundespartei, Bundesvorstand, Landes­ verbände, Fraktionen, Kommunalverbände

V12

politische Themen

Asylpolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, Bildungspolitik, Drogen- und Suchtpolitik, Europapolitik, Gesellschaftspolitik, Innen­politik / Bürgerrechte, Netzpolitik, Sozial­politik, Umweltpolitik, Wahlen, Wirtschafts- und Finanzpolitik

V13

weitere Parteinennungen

CDU / CSU, SPD, FDP, Linke, Grüne, Sonstige Parteien

V14

Nennung / Prominenz Netzpolitik

Überschrift, Unterüberschrift, Text

Quelle: Eigene Darstellung.

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codierung in Form eines Inter-Codier-Reliabilitätstests von 15 zufällig ausgewählten Artikeln zu unterschiedlichen Zeitpunkten vorgebeugt.19 Differierende Bewertungen ergaben sich lediglich bei den inhaltlichen Kategorien zweier Artikel. Diese beruhten auf der Möglichkeit der Mehrfachnennung in einzelnen Kategorien. Da nur eine Person die Codierung vorgenommen hat, ist dennoch eine erhöhte Fehlerquote auf der Nennungsebene der inhaltlichen Kategorien V8, V10 und V12 möglich, die die thematische Ausrichtung der Artikel umfassen. IV. Die quantitative Berichterstattung über die Piraten Im Untersuchungszeitraum gab es 175 Artikel die den Zugriffskriterien entsprachen. Davon entfielen auf den Focus fünf (drei Prozent), die BildZeitung 17 (zehn Prozent), den Spiegel 19 (elf Prozent), die Sächsische Zeitung 29 (16 Prozent), die SZ 49 (28 Prozent) und die FAZ 59 Artikel (32 Prozent). Die relative Häufigkeit der Nennung der Piraten ist bei den untersuchten Medien nicht auf deren redaktionelle Leitlinie und dem Übereinstimmen dieser mit der politischen Ausrichtung der Piraten zurückzuführen, sondern hängt stark von der Art des Mediums ab, das von einem Boulevardblatt bis zu überregionalen Qualitäts-Tageszeitungen reicht. 29,6 Prozent der Artikel sind auf den Seiten eins bis vier abgedruckt. Auf die Seiten fünf bis zehn entfallen 19,3 Prozent und auf den Regionalteil 20 Prozent. Darüber hinaus befanden sich je 5,1 Prozent der Artikel im Feuilleton und Politikteil sowie 10,3 Prozent in Extra-Beilagen. Zwischen den Zeitungen und Magazinen sind bei der Platzierung erhebliche Unterschiede festzustellen. Bei der Sächsischen Zeitung und der SZ sind jeweils 45 Prozent der Artikel im Regionalteil (Dresden / Bayern [München]) abgedruckt. Beide Zeitungen sind die einzigen in der Untersuchung, die einen Regionalteil besitzen. Dies zeigt die vergleichsweise hohe regionale Berichterstattung über die Piraten in Großstädten, die hierbei vor allem durch die Teilnahme / Organisation von Demonstrationen gegen einen Überwachungsstaat oder gegen Rechtsextremismus auf sich aufmerksam machten, jedoch auch mit kommunalpolitischen Themen in Erscheinung traten. Demgegenüber ist der Anteil der Artikel unter den ersten vier Seiten bei der FAZ mit 46 Prozent leicht und erwartungsgemäß bei der Bild-Zeitung mit 82 Prozent stark überdurchschnittlich. Auffällig ist der hohe Anteil an Artikeln in ExtraBeilagen zur Wahl. Thematisch am breitesten verteilt sind die Artikel in der FAZ und im Spiegel: Neben dem hohen Anteil auf den ersten zehn Seiten bzw. des Politikteils, in dem beim Focus sämtliche Artikel platziert sind, 19  Vgl. Klaus Merten, Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis, 2., verb. Aufl., Opladen 1995, S. 302–305.



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finden sich dort gehäuft Artikel im Medien- und Kulturteil sowie im Feuilleton. Bei der FAZ werden die Zugriffskriterien sogar im Wirtschaftsteil erwähnt. Die meisten Artikel erscheinen also im jeweiligen Politikteil der untersuchten Medien. Zudem ist eine starke Berichterstattung in regionalen Ballungsräumen sowie in Extra-Beilagen zur Wahl festzustellen. Die Anzahl der Artikel über die Piraten ist im Vergleich zur direkten bzw. etablierten Parteienkonkurrenz gering. Ein Blick auf die FAZ und SZ, die im Betrachtungszeitraum mit 59 respektive 49 Artikeln über die Piraten die Spitzenplätze unter den hier untersuchten Medien eingenommen haben, verdeutlicht dies. Die zu der Zeit etablierten Kleinparteien FDP (FAZ: 771 / SZ: 418), Grüne (FAZ: 495 / SZ: 341) und Die Linke (FAZ: 267 / SZ: 215) sind weitaus häufiger in Artikeln genannt, ebenso die AfD (FAZ: 137 / SZ: 67) als direkte Konkurrenz unter den nicht etablierten Kleinparteien. Eine ähnlich umfangreiche Nennung erfuhren die Freien Wähler (FAZ: 86 / SZ: 33) und die NPD (FAZ: 51 / SZ: 23). Lediglich gegenüber weiteren nicht etablierten Klein- und Kleinstparteien wie beispielsweise der ÖDP (FAZ: 10) konnte sich die Piratenpartei quantitativ abheben.20 Das quantitative Darstellen aller Parteien in den Medien entspricht nicht nur der aktuellen Verankerung im Parteiensystem sowie der strukturellen in den Parlamenten, sondern auch den prognostizierten Umfrageergebnissen vor einer Wahl. Je erfolgreicher also die Piraten in Umfragen bzw. Wahlen abschneiden, desto stärker ist die Berichterstattung über sie. Ursache dafür ist unter anderem der „Verkaufszwang“, dem Medien unterliegen. Sie führen daher für die Mehrheit der Leser relevante, aktuelle und den Wähleranteilen entsprechende Parteiberichterstattungen durch.21 Des Weiteren fehlt es den Piraten an Konzepten, die mediale Aufmerksamkeit für sich zu steigern. Die Partei könnte beispielsweise über das Herausbilden eines klaren Machtzentrums organisatorisch klare Verantwortlichkeiten und Ansprechpartner für die Medien schaffen, die parteiinterne Medienarbeit professionalisieren oder über Spitzenkandidaten das mediale Bedürfnis nach Personenberichterstattung befriedigen. Die Hauptschlagwörter wurden im Rahmen der Artikelaufmachung zu 41 Prozent in einspaltigen Artikeln gefunden, zu 25 Prozent im Hauptaufmacher der Seite, zu 18 Prozent in mehrspaltigen Artikeln unter einer Viertelseite und zu 16 Prozent in mehrspaltigen Artikeln über einer Viertelseite. Wie zu erwarten, sind die Zugriffskriterien in den Wochenmagazinen über20  Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Archiv, 2015, unter: http://fazarchiv.faz. net /  sowie Süddeutsche Zeitung, Archiv, 2015, unter: www.sueddeutsche.de / app / tem plates / service / dizarchiv /  (23. Januar 2015). Suchbegriffe waren FDP, Grüne, Die Linke, AfD, Freie Wähler, NPD, ÖDP. 21  Vgl. M. Knoche / M. Lindgens (Anm. 8), S. 610.

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durchschnittlich oft in den Hauptaufmachern einer Seite genannt, während bei der SZ und am stärksten bei der Bild die Nennung in einspaltigen Artikeln erfolgte. Folgen hat diese Aufteilung vor allem in Kombination mit der Nennung / Prominenz der Zugriffskriterien im Artikel. Während in der Grundgesamtheit in 19 Prozent der Artikel ein Hauptschlagwort in der Über- bzw. Unterüberschrift des Artikels vorkam und der Leser damit einen direkten Bezug zur Piratenpartei herstellen kann, erfolgte in 81 Prozent der Artikel das Nennen lediglich im Text. Erst bei Lektüre des gesamten Artikels stößt der Leser damit auf einen Terminus, der mit der Piratenpartei in Beziehung steht. Unter den 33 von 175 Artikeln, in denen über die Überbzw. Unterüberschrift ein offensichtlicher und direkter Bezug hergestellt werden kann, ist jedoch der Anteil der einspaltigen (49 Prozent) sowie der mehrspaltigen Artikel unter einer Viertelseite (27 Prozent) erhöht. Der für den Leser offensichtlichen Berichterstattung über die Partei wird demnach weniger Platz eingeräumt. Mit Blick auf die hohe Anzahl an Zugriffskriterien, die sich nur im Text befinden, zeigt sich, dass die Piratenpartei meist nur unterschwellig in diesem Erwähnung findet. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn die Kategorie „Fokus des Artikels“ hinzugenommen wird. Der überwiegende Teil der untersuchten Artikel legt sein Augenmerk auf den Wahlkampf, sei es auf die bevorstehende bzw. zurückliegende Bundestagswahl, sei es auf den Wahlkampf im Allgemeinen und seine spezifischen Ausformungen. Knapp über die Hälfte der Artikel (51 Prozent) hat diesen Schwerpunkt. Dies überrascht angesichts des Untersuchungszeitraums wenig. Es folgen Personen der Piraten mit 15 Prozent, die Politik im Allgemeinen mit 14 Prozent und die Piratenpartei selbst mit neun Prozent. Nur in 17 der 142 Artikel, in denen die Hauptschlagwörter lediglich im Text vorkamen, liegt der Fokus auf der Piratenpartei oder Personen dieser. Mehrheitlich, nämlich zu 75 Prozent, ging es um den Wahlkampf und die Politik im Allgemeinen. Demnach werden die Piraten zwar im Zuge des Wahlkampfes und der Berichterstattung über die Bundestagswahl erwähnt (im Vergleich zum Untersuchungszeitraum des Pretests sogar quantitativ häufiger), aber sie stehen nur in einer geringen Anzahl an Artikeln (42 von 175) im Mittelpunkt der Berichterstattung. Vielmehr werden sie aufgrund ihrer Stellung als „größere“ der nicht-etablierten Kleinparteien namentlich und gesondert im Text erwähnt. Dies zeigt auch der hohe Anteil an Umfragen und Statistiken als Urheber der untersuchten Artikel. Knapp die Hälfte der Artikel sind von Autoren geschrieben, vor Redaktionen, die ein knappes Viertel der Artikel zu verantworten haben. Ein Siebtel der Artikel geht auf Statistiken und Umfragen zu Wahlen zurück, in denen die Piraten neben der AfD meist als einzige nichtetablierte Kleinpartei ausgewiesen werden.



Hanfkragen der Piratenpartei?!

185

Auch der Zeitpunkt der Berichterstattung spricht eine deutliche Sprache: In den zwei Tagen vor und den drei Tagen nach der Bundestagswahl sind zwei von fünf Artikeln mit den kontrollierten Zugriffskriterien erschienen, symptomatisch mehr nach als vor der Bundestagswahl. Gleiches gilt für die eine Woche vor der Bundestagswahl durchgeführte Landtagswahl in Bayern. Die Piraten tauchten in den Medien verstärkt in den Wahlanalysen und Statistiken zur Wahl im Politikteil oder Extra-Beilagen nach der Wahl und innerhalb des Textes auf. Lediglich ein Drittel der Artikel ist im Zeitraum vom 26. August bis zum 15. September 2013, also bis eine Woche vor der Bundestagswahl erschienen.22 Noch deutlicher ist jedoch die rapide Abnahme der Berichterstattung nach der Wahl. In der letzten Woche des Betrachtungszeitraums sind nur vier Artikel für die Untersuchung relevant, ab dem 3. Oktober keiner. Auch im Langzeitvergleich nimmt die quantitative Berichterstattung über die Piratenpartei deutlich ab, was jedoch nicht zwangsläufig auf die qualitative Berichterstattung zutrifft, wie den Tenor der Artikel, falls Artikel zu den Piraten erscheinen. Die quantitativ intensivste Berichterstattung über die Piraten fällt in die Zeit ihrer Wahlerfolge auf Landesebene im ersten Halbjahr 2012. Sie waren vor ihrem Parlamentseinzug in Berlin medial kaum präsent. Mit dem Ausbleiben weiterer Erfolge nahm das mediale Interesse an der Partei spürbar ab. Die Piraten haben sich ihre mediale Aufmerksamkeit über Wahlerfolge „verdient“, die zukünftige me­ diale Berichterstattung hängt also maßgeblich von weiteren Erfolgen ab.23 Die Grundgesamtheit der Artikel behandelt schwerpunktmäßig folgende Themen, in denen der Piratenpartei eine gesonderte Bedeutung zukam: die Bondage-Affäre der damaligen Landesvorsitzenden und saarländischen Landtagsabgeordneten Jasmin Maurer; das im Sprachtest unverständliche Parteiprogramm der Piraten zur Bundestagswahl; Wahlinhalte der Piraten zur bayerischen Landtagswahl und der Bundestagswahl; die Teilnahme an Demonstrationen gegen die globale Überwachungs- und Spionageaffäre sowie gegen Rechtsextremismus; der ferngesteuerte Drohnenflug durch ein Mitglied der Piratenpartei auf einer CDU-Wahlkampfveranstaltung; das Wahlergebnis bei der bayerischen Landtagswahl sowie der Bundestagswahl; das deutliche Verfehlen bzw. voraussichtliche Scheitern der Piraten an der Fünf-Prozent-Hürde bei beiden Wahlen; das Abschneiden der Piraten im Rahmen der U18-Wahlen an Schulen und der Rücktritt des Bundesvorsitzenden Bernd Schlömer nach der Bundestagswahl. Diese Ereignisse spiegeln sich bei der Analyse der Urheber, des Erscheinungszeitpunktes, dem Fokus der Artikel, der Platzierung und 22  Durch die bayerische Landtagswahl wird die quantitative Häufung eine Woche vor der Bundestagswahl, gerade in Bezug auf den 16. und 17. September 2013 leicht verfälscht. 23  Vgl. Ina Bieber / Sigrid Roßteutscher / Philipp Scherer, Die Wähler der Kleinparteien, in: R. Schmitt-Beck (Anm. 5), S. 155–167, hier: S. 158 f.

186

Erik Schlegel Tabelle 2 Artikelausmaß und -umfang der untersuchten Artikel in den einzelnen Printmedien Zeitung

durchschnittliches Artikelausmaß

durchschnittlicher Artikelumfang

Bild

  36 Zeilen

  100 Wörter

Sächsische Zeitung

  46 Zeilen

   250 Wörter

SZ

  88 Zeilen

  507 Wörter

Focus

  90 Zeilen

  468 Wörter

FAZ

112 Zeilen

  620 Wörter

Spiegel

190 Zeilen

1 024 Wörter

Quelle: Eigene Darstellung.

der Nennung / Prominenz der Piratenpartei in den Artikeln wider. Es ist beispielsweise den guten Ergebnissen der Piratenpartei bei den U18-Wahlen geschuldet, dass sie im Medien-, Gesellschafts- sowie Kulturteil Erwähnung findet, jedoch mit einer geringen Prominenz im Text. Dagegen fand der Rücktritt des Bundesvorsitzenden nach der Wahl, mehrheitlich in einspaltigen Artikeln, mit einer erhöhten Prominenz der Partei Beachtung. Vor diesem Hintergrund sind auch das Artikelausmaß (Anzahl der Zeilen) und der Artikelumfang (Anzahl der Wörter) zu sehen. Wie zu erwarten, sind diese beim Boulevardblatt Bild am geringsten und beim Wochenmagazin Spiegel am höchsten. Aufgrund des hohen Anteils an Umfragen bei den Artikeln des Focus liegt dieser bei Artikelausmaß und -umfang gleichauf mit der SZ, aber noch hinter der FAZ. Die Artikel des Spiegel umfassen im Durchschnitt 190 Zeilen bei 1024 Wörtern, die der Bild-Zeitung 36 Zeilen bei 100 Wörtern. Eine hohe Prominenz hat die Piratenpartei mehrheitlich in einspaltigen Artikeln. Dies zeigt sich vor allem beim Artikelausmaß und -umfang. Bei Artikeln, in denen es hauptsächlich um die Piratenpartei bzw. die Parteiführung geht und die in der Über- oder Unterüberschrift einen Bezug zur Piratenpartei erkennen lassen, beträgt das durchschnittliche Artikelausmaß 65 Zeilen bei 341 Wörtern, bei solchen, die einen direkten Bezug zu den Piraten herstellen, 81 Zeilen bei 429 Wörtern. Kommen die Zugriffskriterien nur im Text vor, ist dieser im Durchschnitt 100 Zeilen lang und umfasst 549 Wörter. Der Großteil der untersuchten Artikel mit größerem Artikelausmaß und -umfang erwähnt die Piraten nur, ohne sie selbst zum Thema zu machen.



Hanfkragen der Piratenpartei?!

187

V. Die qualitative Berichterstattung über die Piraten Zudem ist von Interesse, wie über die Piraten berichtet wird. Entscheidend für den medialen Eindruck beim Leser und das Beeinflussen der Wahlabsichten ist der Tenor zur Piratenpartei in den Artikeln. Dieser ist positiv, wenn den Piraten Attribute zugeschrieben werden, die sie als jung, dynamisch, authentisch, ehrlich, unverbraucht oder erfolgreich ausweisen. Negativ wird hingegen ein Artikel bewertet, in dem die Piraten als chaotisch, selbstverliebt, bedeutungslos oder unorganisiert dargestellt werden. Auch das Thematisieren des deutlichen Scheiterns an der Fünf-ProzentHürde, der mangelnden Konkurrenz durch die Piraten, ihre interne „Selbstzerfleischung“, generelle Probleme / Querelen und die Charakterisierung als Protestpartei beeinflussen den Leser, wirken sich auf die allgemeine Wählbarkeit der Partei negativ aus und werden dementsprechend gewertet. Die Ausformungen „stark“ und „leicht“ beziehen sich jeweils auf das mehrfache bzw. einfache Nennen der Attribute in den Artikeln. Beispiele negativer Attributzuschreibungen sind: „Besonders kläglich war die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei den Piraten. […] Da besangen ahnungslose Troubadoure einer beschränkten Weltsicht sich selbst als Verkünder einer Morgenröte des demokratischen Diskurses.“24 Sowie: „Schlecht organisiert, unreif, unklare Ziele, chaotisch, vereinfachend in ihren Theorien, meilenweit von ihren Zielen entfernt.“25 Positiv wäre etwa die Darstellung: „Junge Politik für alle Schichten“.26 Als „neutral“ wird ein Artikel bewertet, der den Piraten im Text keine Attribute zuschreibt, trotz eines Textbezugs zu ihnen, als „positiv und negativ“, wenn entsprechende Attribute auftauchen. „Nicht zu erkennen“ ist der Tenor, wenn kein Textbezug besteht, beispielsweise beim Abbilden von Umfragen. In der Mehrzahl der Artikel ist der Tenor zur Piratenpartei neutral (37,1 Prozent). Dennoch weisen 30,2 Prozent negative Attributzuschreibungen auf, davon 9,1 Prozent mit stark negativem Tenor. Dementgegen stehen 9,7 Prozent mit positivem Grundtenor. Typisch ist der hohe Anteil an Artikeln, zu denen keine Aussage getroffen werden konnte (16,6 Prozent), mangels thematischen Bezug zur Partei oder ihrer bloßen Nennung. Sowohl positive wie auch negative Attribute finden sich in 6,3 Prozent der Artikel. Insgesamt überwiegt zwar die neutrale Berichterstattung, sie wird jedoch von einem negativen Unterton begleitet. Dieses Bild verstärkt sich bei den Arti24  Joachim Käppner, Rebellensperre. Warum die Fünf-Prozent-Hürde gut und gerecht bleibt, in: Süddeutsche Zeitung vom 30. September 2013, S. 11. 25  Hartmut Palmer, Es lebe der Pragmatismus. Was die Grünen und die CDU gemeinsam haben, in: Süddeutsche Zeitung vom 3. September 2013, S. 15. 26  Sarah Kanning, Die Wähler haben das Wort, in: Süddeutsche Zeitung vom 14. / 15. September 2013, S. 49.

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Erik Schlegel Tabelle 3 Tenor zur Piratenpartei mit unterschiedlich starkem Parteibezug

Tenor zur Piratenpartei

Grund­ gesamtheit der Artikel

Artikel mit Bezug zur Partei

stark positiv

0,6 Prozent

2,4 Prozent

3 Prozent

0 Prozent

leicht positiv

9,1 Prozent

4,8 Prozent

12,1 Prozent

8,5 Prozent

neutral

37,1 Prozent

26,2 Prozent

24,2 Prozent

40,1 Prozent

leicht negativ

21,1 Prozent

30,9 Prozent

36,4 Prozent

17,6 Prozent

stark negativ

9,1 Prozent

19 Prozent

6,1 Prozent

9,9 Prozent

positiv / negativ

6,3 Prozent

14,3 Prozent

15,1 Prozent

4,2 Prozent

16,6 Prozent

2,4 Prozent

3 Prozent

19,7 Prozent

175 Artikel

42 Artikel

nicht zu erkennen Insgesamt

Artikel mit hoher Prominenz der Partei

33 Artikel

Artikel mit Zugriffskriterium im Text

142 Artikel

Quelle: Eigene Darstellung.

keln, die sich hauptsächlich mit der Partei und ihren Protagonisten beschäftigen. In diesen 42 Beiträgen überwiegt zu 50 Prozent ein negativer Tenor, davon stark negativ 19 Prozent, während 26,2 Prozent neutral und 7,1 Prozent positiv ausfallen. Tabelle 3 verdeutlicht, je direkter ein Beitrag sich auf die Partei bezieht, desto negativer fällt der Tenor zu ihr aus. Zu einer leicht positiveren Gesamtdarstellung kommt es bei Artikeln mit hoher Prominenz sowie einem direkten Bezug zur Partei. Der neutrale, bisweilen negative Grundtenor wird auch aus den oben genannten Themen ersichtlich, mit denen die Piraten hauptsächlich in Verbindung gebracht wurden. Die vordergründig neutrale Berichterstattung hängt zudem mit der singulären Nennung der Piraten ohne explizite Wertung zusammen, was sich am erhöhten Anteil neutraler Artikel in Beiträgen mit Zugriffskriterien zeigt, die nur im Text auftauchen. Anders als bei der quantitativen ergibt die qualitative Auswertung einen signifikanten Zusammenhang zwischen der redaktionellen Leitlinie der Tageszeitungen, dem Einordnen der Piraten links der Mitte und einer positiveren Berichterstattung. Bei den Wochenmagazinen ist ein Beurteilen aufgrund der geringen Anzahl der Artikel im Focus nicht möglich. Bei der positiven Berichterstattung ist eine graduelle Abnahme entlang des Links-Rechts-Schemas feststellbar. Am positivsten wird über die Partei



Hanfkragen der Piratenpartei?!

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Tabelle 4 Tenor zur Piratenpartei in den Artikeln der untersuchten Tageszeitungen27 Zeitung

positiver Tenor

negativer Tenor

neutraler Tenor

nicht zu erkennen

Sächsische Zeitung

17,2 Prozent

27,6 Prozent

17,2 Prozent

24,1 Prozent

SZ

12,2 Prozent

20,4 Prozent

42,9 Prozent

20,4 Prozent

FAZ

3,6 Prozent

33,9 Prozent

41,1 Prozent

17,9 Prozent

Bild

0 Prozent

52,9 Prozent

41,2 Prozent

0 Prozent

Quelle: Eigene Darstellung.

in der Sächsischen Zeitung berichtet, in der Bild-Zeitung findet sich hingegen kein einziger Artikel mit positivem Tenor. Umgekehrt sind die meisten Artikel mit negativem Tenor in der Bild-Zeitung zu finden, am wenigsten in der SZ. Die Sächsische Zeitung fällt insofern auf, als sie entweder klare oder keine Aussagen zur Partei trifft, wodurch der Anteil neutraler Artikel deutlich reduziert ist. Bei der Bild-Zeitung ist hingegen für jeden Artikel eine Aussage möglich, da oft eine plakative Aufmachung und Sprache vorherrscht, beispielsweise über Rubriken wie „Gewinner und Verlierer des Tages“. Trotz der Untersuchung einzelner Tageszeitungen und dem Gewichten der Prominenz der Piraten in den Beiträgen überwiegt bei jeder Zeitung und jedem Wochenmagazin der negative den positiven Tenor. Die Grundgesamtheit der Artikel weist zumeist einen Bezug zur Bundespartei auf (64,6 Prozent). Es folgen mit weitem Abstand die Landes- und Kommunalverbände (26,3 / 14,3 Prozent), vor den Landtagsfraktionen (9,1 Prozent) und dem Bundesvorstand (7,4 Prozent). Unter Berücksichtigung des Tenors der Artikel zur Partei zeigen sich quantitative Unterschiede der angesprochenen Gliederung in den Artikeln. Während Kommunalverbände überdurchschnittlich oft in Artikeln mit positivem Tenor Erwähnung finden, werden die Landtagsfraktionen und in noch stärkerem Maß der Bundesvorstand in Beiträgen mit negativem Tenor genannt. Der Bundesvorstand sowie die Landtagsfraktionen bieten kaum Möglichkeiten für die Partei, sich öffentlichkeitswirksam zu profilieren. Die Landtagsfraktionen vermögen es fast gar nicht mit Inhalten, sondern nahezu ausschließlich mit Personaldebatten in die Medien zu kommen; gleiches gilt für den Bundesvorstand. Dies spiegelt das fehlende kommunikative und organisatorische Machtzentrum der Partei wider. Der negative Grundtenor in den Medien ist offenkun27  Der

Rest zu 100 Prozent entfiel auf die Antwortoption „positiv und negativ“.

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Erik Schlegel

dig nicht auf eine falsche Berichterstattung zurückzuführen, sondern auf interne Probleme der Piraten. Ihre Darstellung ist selbstverschuldet, unter anderem aufgrund des absoluten Transparenzgebots in Partei und Fraktionen. Kommunalpolitisch greift der örtliche Bürgerinitiativen-Charakter der Piraten,28 der ihnen lokal vor Ort (in den Ballungsräumen) nicht nur eine erhöhte Kampagnenfähigkeit einbringt, sondern auch eine tendenziell positivere Berichterstattung. Aufgrund der propagierten Ideologiefreiheit der Piraten, die auf den politischen Protest der Partei gegenüber der aktuellen (Netz-)Politik sowie den Versuch, eine alternative Politik zu etablieren, zurückgeht,29 kommt es medial kaum zu einer ideologischen Einordnung. Vor diesem Hintergrund ist es für sie entscheidend, mit einem Thema verbunden zu werden, im Idealfall ihrem Markenkern der Netzpolitik oder einem inhaltlich verwandten Thema. Nur so kann eine Positionierung oder Profilierung beim Leser erfolgen, die ein dauerhaftes Parteiimage nach sich zieht. In drei von vier Beiträgen im Untersuchungszeitraum ist der Wahlkampf Thema des Artikels. Es folgen die Netzpolitik mit 19,4 und die Innenpolitik / Bürgerrechte mit 13,7 Prozent. In 15 respektive 14 von 175 Beiträgen wird die Sozial­ politik bzw. Gesellschaftspolitik angesprochen. Bei Artikeln, in denen die Hauptschlagwörter nur im Text auftauchen, ist der Wert des Themas Wahlkampf nochmals zu Ungunsten aller anderen Themen erhöht. Hingegen ist bei Artikeln, in denen es hauptsächlich um die Piraten geht, der Wahlkampf weiterhin das alles überlagernde Thema, jedoch nehmen die Netzpolitik, die Innenpolitik / Bürgerrechte, die Sozialpolitik, die Drogen- und Suchtpolitik und die Gesellschaftspolitik ein deutlich größeren Raum ein. Die Piraten werden demnach im Wahlkampf mit ihren Kernthemen in Verbindung gebracht. Jedoch nimmt der Anteil dieser Artikel einen marginalen Teil der Grundgesamtheit ein. Demgegenüber schafft es die Partei nicht, in der allgemeinen Berichterstattung über die Netzpolitik ein eigenständiges Profil zu vermitteln. Rein quantitativ sind Akteure der Internetwirtschaft wie Google, Facebook oder Twitter hier führend, die eine breitere Nennung im Bereich Netzpolitik erfahren. Selbst der NSA-Skandal oder das Thema Datenschutz erfährt im Untersuchungszeitraum eine größere Aufmerksamkeit in den Medien als die Piraten, die es nicht vermocht haben, ihre Position zu diesen Netzthemen 28  Vgl. Marie Katharina Wagner, Die Piraten. Von einem Lebensgefühl zum Machtfaktor, München 2012, S. 128. 29  Vgl. Adriana Wipperling, Protestparteien in Regierungsverantwortung. Die Grünen, die Alternative Liste, die STATT Partei und die Schill-Partei in ihrer ersten Legislaturperiode als kleine Koalitionspartner, 2006, S. 34, unter: http://opus.kobv.de /  ubp / volltexte / 2008 / 2703 / pdf / wipperling_diss.pdf (18. August 2014).



Hanfkragen der Piratenpartei?!

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medienwirksam darzustellen. Eine unilaterale Verknüpfung des Themas Netzpolitik mit den Piraten besteht nicht. Sie werden auch nicht mit neuen netzbasierten Wirtschaftsmodellen oder dem aufkommenden Tauschhandel (Crowdinvesting, Car-Sharing) in Verbindung gebracht, die Partei bietet hier programmatisch zu wenig an. Statt sich an die politische Spitze der digitalen Bewegung zu setzen, ist die Piratenpartei von ihr überholt worden und lediglich ein kleiner Teil dieser. Die mediale Berichterstattung über die mit den Piraten in Verbindung gebrachten Themen spiegelt diese Entwicklung wider. Eine Reduktion der Partei auf eine Netzpartei ist nicht festzustellen. Ihre thematischen Erweiterungen werden durchaus im Rahmen der Berichterstattung genannt. Den typischen Charakter der Berichterstattung über die Partei zeigt Folgendes: In weit über der Hälfte aller untersuchten Beiträge wurden CDU / CSU, SPD, FDP, Grüne, Linke und Sonstige Parteien neben den Piraten im Text erwähnt. Beiträge, die ausschließlich die Piraten aufführen, gab es nur zu 15,4 Prozent. Selbst in Beiträgen mit hoher Prominenz der Piraten, durch das Nennen der Hauptschlagwörter in Über- oder Unterüberschrift, wird nur in etwa über einem Drittel der Beiträge (36,3 Prozent) keine andere Partei genannt. In Artikeln, die maßgeblich die Partei oder die Parteiführung zum Gegenstand haben, sind es hingegen gut die Hälfte (52,4 Prozent). Schafft es die Partei, medial vermehrt inhaltlich wahrgenommen und dargestellt zu werden, erleichtert dies die Profilbildung: Andere Parteien werden nicht genannt, Alleinstellungsmerkmale der Piraten hingegen herausgearbeitet. Am häufigsten werden die Unionsparteien mit den Piraten im Text erwähnt, nämlich in 66,9 Prozent der Artikel. Zum einen aufgrund der politischen Polpositionen beider Parteien im Bereich der Netzpolitik, zum anderen aufgrund des ferngesteuerten Drohnenfluges durch ein Piratenmitglied auf einer CDU-Wahlkampfveranstaltung. Diese ist die einzige von den Piraten initiierte Aktion im Betrachtungszeitraum, die den Markenkern der Partei sichtbar machte, ihre Kernklientel mobilisierte und einen medialen Wiederhall fand, wenngleich dieser im Allgemeinen negativ war. Das Nennen der anderen Parteien ist einerseits auf das Hauptthema der Artikel – den Wahlkampf – zurückzuführen, andererseits aufgrund der vorherrschenden singulären Nennung der Piraten im Text ohne hohe Prominenz dieser. Die erhöhten Werte der Grünen (61,1 Prozent) und Liberalen (59,4 Prozent) gehen auf inhaltliche Schnittmengen zurück. Neben der geringeren Profilbildung der Piraten durch Artikel, in denen andere Parteien genannt werden, führen diese auch zu einer erhöhten Konkurrenzsituation. Durch das Nennen der Piratenpartei wird diese dem Wähler nicht nur in Erinnerung gerufen, sie regt auch zum direkten Vergleich

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Erik Schlegel

der genannten Parteien an. Die Piraten konkurrieren damit viel stärker mit den anderen Parteien, als wenn sich ein Beitrag nur mit ihnen befasst. Diese Konkurrenz bzw. Nichtkonkurrenz durch das Abschneiden der Partei bei Wahlen und dem Scheitern an Parlamentshürden zeigt sich dem Leser auch in den Umfragen und Prognosen zur Wahl. In diesem Zusammenhang kann dies für die Piraten zum Einsetzen des sogenannten Fallbeileffekts führen.30 Der eigentlich positiven Nennung und Prominenz der Piraten in Artikeln steht somit die Zunahme der direkten Konkurrenz mit den anderen Parteien gegenüber. VI. Die Medien und die Piraten – Eine Beziehung auf Zeit! Die Piraten haben vor allem im quantitativen Bereich mit Medienbarrieren zu kämpfen,31 dennoch wird die Partei aufgrund ihrer Parlamentsvertretungen auf Landesebene, ihrem anfänglich hohen Nachrichtenwert und ihres in Umfragen mess- und ausweisbaren Wählerstimmenanteils nicht vollständig ausgeblendet. Eine mediale Fünf-Prozent-Hürde ist nicht zu leugnen, wodurch Hypothese eins bestätigt wird. Die Quantität der Berichterstattung richtet sich nach dem Erfolg der Piraten bei Wahlen. Über das journalistische Selektionsverhalten werden vorrangig nicht die Inhalte der Piraten erwähnt, sondern das Bild einer Partei gezeichnet, die in erster Linie mit sich selbst beschäftigt ist. Dennoch überwiegt der neutrale den negativen Tenor in den untersuchten Artikeln. Je stärker jedoch ein Artikel auf die Berichterstattung über die Piraten fokussiert, desto stärker der negative Tenor. Somit bestätigt sich auch Hypothese zwei, vor allem für Artikel mit Bezug zur Piratenpartei. Eine etwaige Kompetenzvermittlung, die über den Bereich der Netzpolitik hinausgeht, ist nicht festzustellen. Selbst in der Netzpolitik spielt das Darstellen der Piraten eine untergeordnete Rolle. Bevor ein medial begleiteter Parteibindungsprozess an die Piraten stattfinden konnte, scheinen deren Themen bereits durch die etablierten Parteien absorbiert und deren Wertorientierungen nicht ausreichend in der Bevölkerung ausgeprägt zu sein. Eine hinreichende mediale Verankerung ist jedenfalls nicht zu konstatieren. Die Quantität der Berichterstattung über die Piraten wird mangels Wahlerfolgen zukünftig weiter rückläufig sein. Umso wichtiger ist es für die Partei, verstärkt thematisch und vor allem mit einem positiveren Grundtenor in den Artikeln wahrgenommen zu werden. Offen bleibt die bundesweite 30  Vgl. Alexander Gallus, Beeinflussen Umfragen Wahlergebnisse. Demoskopie und Demokratie im neu-alten Widerstreit, in: E. Jesse / R. Sturm (Anm. 6), S. 359– 380, hier: S. 374. 31  Vgl. M. Knoche / M. Lindgens (Anm. 8), S. 608.



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kommunale Verankerung in den Medien, die sich bei der Sächsischen Zeitung und der SZ teilweise angedeutet hat. Die regionale Berichterstattung über die Piraten eröffnet nicht nur ein weiteres Forschungsfeld, sondern erlaubt auch Aussagen zu ihrer lokalen Verankerung aufgrund des Bürgerinitiativen-Charakters der Partei auf kommunaler Ebene und lässt gleichzeitig eine differenzierte Gesamtbetrachtung der Partei zu.

Zwischen „Patchwork“-Christen, Laizisten und Muslimen Das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes unter Reformdruck Von Bastian Scholz I. Quo vadis Staatskirchenrecht? Das deutsche Staatskirchenrecht ist ein „verfassungs- und vertragsrechtlich begründetes freiheitliches Kooperationssystem“1 zwischen Staat und Kirche. Nie zuvor hatte ein deutscher Nationalstaat den christlichen Großkonfessionen mehr öffentlichen Einfluss und eine privilegiertere verfassungsrechtliche Stellung zugesprochen. Unverkennbar trägt die (politische) Kultur des Gemeinwesens christliche Züge: Die Sonntagsruhe ist verfassungsrechtlich geschützt. Christliche Hochfeste strukturieren den Jahreszyklus. Bei Staatsbegräbnissen gehen staatliche und kirchliche Rituale ineinander über. Öffentliches Glockengeläut und konfessioneller Religionsunterricht sind akzeptiert: „Trotz Widersprüchen von einzelnen Gruppierungen ist diese lebensweltliche Präsenz von Religion in hohem Maße selbstverständlich, oft so selbstverständlich, dass sie überhaupt nicht als etwas christlichreligiös Besonderes ins Bewusstsein dringt.“2 Das deutsche Kooperationsmodell ist historisch gewachsen. Ausgangspunkt war die gewünschte „korporative Parität der großen christlichen Konfessionen“3 zu Beginn der Bundesrepublik, um den Dualismus zwischen Katholizismus und Protestantismus einzuhegen und beiden Entfaltungsräume zu eröffnen. Religionsfreiheit zu gewähren, war ein Mittel der Konflikt1  Joseph Listl, Das Verhältnis von Kirche und Staat in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders. u. a. (Hrsg.), Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983, S. 1050–1072, hier: S. 1054. 2  Karl-Fritz Daiber, Religion unter den Bedingungen der Moderne. Die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1995, S. 99. 3  Werner Heun, Trennung, Neutralität oder Gleichheit? Das Verhältnis von Staat und Religion und die Gleichheit der Religionen im Rechtsvergleich, in: Martin Honecker (Hrsg.), Gleichheit der Religionen im Grundgesetz?, Paderborn u. a. 2011, S. 50–67, hier: S. 57.

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Bastian Scholz

schlichtung.4 Heute steht das deutsche Staatskirchenrecht abermals vor der Aufgabe, Kontroversen zwischen weltanschaulichen Gruppen zu moderieren: Neben 24,3 Millionen Katholiken und 23,4 Millionen Protestanten (Stand: 2012) sind die größte Gruppe der Konfessionslosen (annähernd 29 Millionen) sowie vier Millionen Muslime getreten. Das „deutsche am Paritätsgedanken orientierte Kooperationsmodell“5 gerät unter Druck. Welche gesellschaftlichen Trends üben Reformdruck auf das deutsche Staatskirchenrecht aus, und welche Veränderungen sind zu erwarten? Der Aufsatz klärt, ob das Staatskirchenrecht in der pluralistischen und säkularen Gesellschaft noch Rückhalt genießt. Wollen die Deutschen eine „politische“ Kirche oder ihren Rückzug aus der Arena gesellschaftlicher Kontroversen ins Spirituelle? Welche politischen Kräfte wollen am staatskirchenrechtlichen Status quo festhalten, welche nicht? Von besonderem Interesse ist, wie die ursprünglich christlich geprägte Gesellschaft dem Islam begegnet, der in Deutschland an Bedeutung gewinnt: Behindert das hergebrachte Staatskirchenrecht die gesellschaftliche Eingliederung der Muslime, oder kann es sogar der Schlüssel zu gelingender Integration sein? Der Aufsatz widmet sich drei religionsrelevanten Entwicklungen der deutschen Gesellschaft, die Auswirkungen auf das bisherige Staatskirchenrecht haben könnten: Entkirchlichung und Säkularisierung der deutschen Mehrheitsgesellschaft (Abschnitt II.), vehement vorgetragene politische Forderungen nach strikterer Trennung von Staat und Kirche durch Bündnis 90 / Die Grünen und DIE LINKE (Abschnitt III.1.) im Widerspruch zu den „Volksparteien“ CDU / CSU und SPD (Abschnitt III.2.) sowie schließlich der Einfluss des Islam auf die christliche (politische) Kultur (Abschnitt IV.). II. Emotionale Entkirchlichung trotz hoher sozialer Wertschätzung Glaube individualisiert sich. Das religiöse Angebot wird pluralistischer. Säkularisierung des öffentlichen Lebens greift Raum. Zu Beginn der Bundesrepublik war es geradezu „obligatorisch“, einer der beiden christlichen Konfessionen anzugehören: Eine Bevölkerungszählung vom 13. September 1950 identifizierte unter 47.695.672 Bundesbürgern 24.430.815 Protestanten (51,2 Prozent) und 21.576.179 Katholiken (45,2 Prozent).6 Heute sind es 4  Vgl. Hans Maier, Die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Karlies Abmeier u. a. (Hrsg.), Religion im öffentlichen Raum, Paderborn u. a. 2013, S. 13– 26, hier: S. 21. 5  W. Heun (Anm. 3), S. 60. 6  Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1952, Stuttgart / Köln 1952, S. 28.



Zwischen „Patchwork“-Christen, Laizisten und Muslimen

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zusammen kaum noch 60 Prozent. Die Austrittszahlen sind auf Rekordniveau – jährlich verlassen rund 500.000 Personen die Kirchen  –7, die Gottesdienste sonntags abgesehen von der greisen Kernklientel fast leer. Kaum abgenommen hat hingegen das allgemeine religiöse Empfinden der Bevölkerung: In einer Umfrage bezeichneten sich 2010 52 Prozent der Westdeutschen als prinzipiell religiöse Menschen, geringfügig weniger als 1985 (58 Prozent).8 Keine Studie kann in der deutschen Gesellschaft eine mehrheitlich antichristliche, antireligiöse oder radikal atheistische Stimmung feststellen.9 Mit dem Christentum assoziiert eine große Mehrheit der Bevölkerung Nächstenliebe (80 Prozent), Achtung der Menschenrechte und Wohltätigkeit (71) sowie Friedfertigkeit (65).10 Wer sich nach der Einstellung zur Organisation Kirche erkundigt, erhält kritischere Reaktionen: Gefragt, von welchen gesellschaftlichen Kräften die wichtigsten Impulse für die Gestaltung der Zukunft ausgehen, verwiesen im Mai 2011 nur vier Prozent auf die katholische, zwei Prozent auf die evangelische Kirche. An der Spitze lagen Ingenieure und Techniker (53 Prozent), Naturwissenschaftler (47) und Universitäten (47). Dieses deutliche Missverhältnis zeigt, wie wenig die Deutschen Kirchen und Theologie heute mit modernen Wissenschaften in Verbindung bringen. Selbst von den Katholiken glaubt nur eine knappe Mehrheit (51 Prozent) an die Dreifaltigkeit, von den Protestanten lediglich 36 Prozent:11 „[N]eben die steigende Zahl an Konfessionslosen [tritt] eine steigende Zahl an sogenannten religiös Indifferenten“12. Die Menschen stellen sich aus dem pluralistischen Religionsangebot ihre individuelle Glaubens- und Frömmigkeitsmixtur zusammen. Sie übernehmen christliche Anschauungen, die ihnen einleuchten, und verwerfen Missliebiges, insbesondere autoritäre Zwänge für die persönliche Lebensführung. So entsteht ein „regelrechtes Bastel- und Patchwork-Christentum“13. 7  Matthias Kamann, Klingelbeutel voll, Kirche bald leer, unter: www.welt.de /  138402321 (16. März 2015). 8  Vgl. Thomas Petersen, Christentum und Politik – Die Geschichte einer schleichenden Entfremdung, in: Philipp W. Hildmann / Stefan Rößle (Hrsg.), Staat und Kirche im 21. Jahrhundert, München 2012, S. 161–173, hier: S. 163. 9  Vgl. Viola Neu, „Religion, Kirchen und Gesellschaft“, 2012, S. 36, unter: www. kas.de / wf / doc / kas_31750-544-1-30.pdf?120801142318 (4. Februar 2015). 10  Daten einer Umfrage des „Instituts für Demoskopie Allensbach“ aus dem Jahr 2006; vgl. T. Petersen (Anm. 8), S. 168 f. 11  Vgl. ebd., S. 165. 12  Gert Pickel, Religiöser Wandel als Herausforderung an die deutsche politische Kultur – Religiöse Pluralisierung und Säkularisierung als Auslöser einer (neuen) Religionspolitik?, in: Zeitschrift für Politik, 61 (2014) 2, S. 136–159, hier: S. 144, Herv. i. O. 13  H. Maier (Anm. 4), S. 14.

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Einhellig erwarten die Deutschen von den Kirchen politische Zurückhaltung: In den „alten Bundesländern“ erklärten 2012 nur 38 Prozent, in den „neuen“ 42 Prozent, die Kirchen sollten zu politischen Fragen Stellung beziehen.14 In Westdeutschland ist eine „generationale[] Säkularisierung“15 zu beobachten. Die Weitergabe religiöser – in der Regel: christlicher – Sozialisation sinkt mit jeder neuen Generation. Während 2006 86 Prozent der über 60-Jährigen angaben, religiös sozialisiert worden zu sein, schrumpfte dieser Anteil mit sinkendem Alter der Befragten: 74 Prozent bei den 46- bis 60-Jährigen, 66 Prozent bei den 36- bis 45-Jährigen, 69 Prozent bei den 25- bis 35-Jährigen, nur 44 Prozent bei den 18- bis 25-Jährigen.16 Je jünger die Befragten waren, desto niedriger fiel die durchschnittliche Kirchenbindung aus. Der katholische Theologe und Soziologe Karl Gabriel diagnostiziert in Westdeutschland „Volkskirchen im Übergang“17. Die westdeutsche „Kultur der Konfessionsmitgliedschaft“18 gleicht sich der ostdeutschen „Kultur der Konfessionslosigkeit“19 an: Religiös sozialisiert wurde in den „neuen Bundesländern“ eine Mehrheit nur bei den 2006 über 61-Jährigen (60 Prozent). Schon in der nächsten Generation brach die religiöse Erziehung durch den staatlich verordneten Atheismus der DDR ein: 33 Prozent bei den 46- bis 60-Jährigen, lediglich ein Viertel bei allen Altersklassen unter 45 Jahren.20 Die „erwartete religiöse Renaissance“21 unter den Ostdeutschen nach dem Ende der SED-Diktatur ist indes ausgeblieben; drei Viertel sind konfes­ sionslos. Weil die Entkirchlichung im protestantischen Norden schneller voranschreitet als im katholischen Süden, charakterisiert heute ein Süd-NordGefälle religiöser Prägung die politische und gesellschaftliche Kultur.22

14  Vgl.

G. Pickel (Anm. 12), S. 148. Die Situation der Religion in Deutschland – Rückkehr des Religiösen oder voranschreitende Säkularisierung?, in: ders. / Oliver Hidalgo (Hrsg.), Religion und Politik im vereinigten Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen?, Wiesbaden 2013, S. 65–101, hier: S. 85. 16  Vgl. ebd. 17  Zit. nach: H. Maier (Anm. 4), S. 15. 18  G. Pickel (Anm. 12), S. 142, Hervorhebung zwecks besserer Lesbarkeit getilgt. 19  Ebd., Hervorhebung zwecks besserer Lesbarkeit getilgt. 20  Vgl. ders. (Anm. 15), S. 85. 21  Martin Heckel, Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen „Staatskirchenrechts“ oder „Religionsverfassungsrechts“?, in: Archiv des öffentlichen Rechts, 134 (2009), S. 309–390, hier: S. 313. 22  Vgl. Alf Mintzel, Herausforderungen des säkularisierten Staates heute. Kruzifixdebatte, Moscheenbau, Marktl, Konkordatslehrstühle und andere Formen freundlicher Kooperation, in: Gian Enrico Rusconi (Hrsg.), Der säkularisierte Staat im postsäkularen Zeitalter, Berlin 2010, S. 199–235, hier: S. 234 f. 15  Ders.,



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III. Parteipolitische Gegner und Befürworter des Staatskirchenrechts 1. „Weiche“ und „harte“ Laizisten: Bündnis 90 / Die Grünen und DIE LINKE

Um das grundgesetzliche Staatskirchenrecht zu ändern, brauchen Kritiker mehrheitsfähige Partner im parteipolitischen Raum, die auf absehbare Zeit fehlen. Laizistische Strömungen finden sich unter den Bundestagsparteien eher bei den „kleinen“ Parteien. Das Grundsatzprogramm von Bündnis 90 / Die Grünen von 2002 verliert nur wenige Worte zu den Kirchen, die es positiv als historisch bewährte, „wertvolle Bündnispartner“23 charakterisiert: „Dazu gehört insbesondere der ökumenische Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Dazu gehört das Eintreten gegen Fremdenfeindlichkeit, für internationale Gerechtigkeit und nicht zuletzt auch das ethische Engagement in Fragen der modernen Gentechnik.“24 Die Grünen bekennen sich zur Trennung von Staat und Kirche, anders als etwa bei CDU / CSU und – abgeschwächt – SPD fehlt allerdings der Treueschwur zum staatskirchenrechtlichen Status quo. Indem die Partei im gleichen Atemzug einen eigenen Absatz dem Islam widmet, der vermeintlich „die europäische Geschichte durch seine Beiträge zur Bewahrung des europäischen Erbes mit geprägt“25 habe, und an seinem Beispiel die weltanschauliche Ausgrenzung einzelner Religionsgemeinschaften „aus dem religiösen Pluralismus unserer Kultur“26 dekliniert, offenbart sie ihre Stoßrichtung gegen einseitige Privilegien der christlichen Großkirchen. Im Vorfeld des 98. Deutschen Katholikentags vom 16. bis 20. Mai 2012 in Mannheim plädierten mehrere katholische Bundestagsabgeordnete der Grünen, die Staatsleistungen an die Kirchen einzustellen und die Kirchensteuer in eine freiwillige „Kulturabgabe“ umzuwandeln.27 Sie verkannten die rechtsverbindliche „historische[] Entschädigungssituation“28, die bis heute aus den Säkularisationen des Reichsdeputationshauptschlusses von 23  BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, Grundsatzprogramm „Die Zukunft ist grün“, 15.–17. März 2002, S. 120, unter: www.gruene.de / fileadmin / user_upload / Dokumente /  Grundsatzprogramm-2002.pdf (4. Februar 2015). 24  Ebd., S.  120 f. 25  Ebd., S. 121. 26  Ebd. 27  Vgl. Philipp W. Hildmann, „Das Bild ist bunter geworden“ – Eine Einführung in die Debatte über das Verhältnis von Staat und Kirchen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: ders. / S. Rößle (Anm. 8), S. 7–18, hier: S. 8. 28  Ludwig Spaenle: Aktuelle politische Entwicklungen im Verhältnis von Staat und Kirche, in: P. W. Hildmann / S. Rößle (Anm. 8), S. 137–148, hier: S. 145.

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1803 resultiert. Jene verjährt nicht, sondern könnte ausschließlich dann aufgehoben werden, wenn der Staat die Kirchen auszahlt. Dieser Schritt würde die staatlichen Haushalte einmalig immens belasten.29 Im Mai 2011 forderte der Bundesverband der „Grünen Jugend“, „den Gottesbezug ersatzlos aus der [Grundgesetz-]Präambel zu streichen“30. Seit dem Frühjahr 2013 sammelt der laizistische „Bundesweite Arbeitskreis Säkulare Grüne“ Anhänger in der Partei.31 Reformbedarf beim kirchlichen Arbeitsrecht sah das Bundestagswahlprogramm von 2013: „Daher wollen wir für sämtliche Beschäftigungsverhältnisse jenseits des Bereichs der Verkündigung das kirchliche Arbeitsrecht abschaffen.“32 Weitaus kirchenkritischer geriert sich DIE LINKE. Schon in ihren frühen „Programmatischen Eckpunkten“ vom Oktober 2011 forderte die Parteifu­ sion aus PDS und WASG das Ende der Rechtsprivilegien für die Kirchen im Sinne einer strikten Trennung vom Staat: „Das religiöse und weltanschauliche Bekenntnis ist ein Recht und die Freiheit des Individuums, Teil des intimen Privatbereichs jedes Menschen.“33 Das Parteiprogramm von 2011 konkretisierte diese Aussage. Auf der einen Seite bekräftigte die Partei die Bedeutung der Religionsfreiheit und des gesellschaftlichen Wirkens der Religionsgemeinschaften, „ihre[r] soziale[n] Tätigkeit und ihre[r] Unab­ hängigkeit“34. Auf der anderen Seite verstand sich DIE LINKE strikt laizistisch: „Laizismus bedeutet für uns die notwendige institutionelle Trennung von Kirche und Staat.“35 Sonderarbeitsrecht und konfessionellen Religionsunterricht in den Schulen wollte sie abschaffen.36 Um gleichwohl eine Brücke zu Kirchen und Christen zu schlagen, bezog sich DIE LINKE auf das geschichtliche Erbe ihrer Vorgängerpartei SED: „Wir stellen uns unserer historischen Verantwortung und haben die Lehren 29  Vgl.

ebd., S. 145 f. nach: Frank Schenker, Laizismus- und Säkularismusdebatte in den bundesdeutschen Parteien, in: Zeitschrift für Politik, 61 (2014) 2, S. 209–231, hier: S. 215. 31  Vgl. ebd. 32  BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN, Bundestagswahlprogramm 2013 „Zeit für den grünen Wandel. Teilhaben. Einmischen. Zukunft schaffen.“, 26.–28. April 2013, S. 93. unter: www.gruene.de / fileadmin / user_upload / Dokumente / Wahlprogramm / Wahlpro gramm-barrierefrei.pdf (4. Februar 2015). 33  Zit. nach: Sebastian Prinz, Das Verhältnis der Linkspartei zu den Kirchen und die kirchenpolitischen Positionen der Partei, in: Deutschland Archiv, 44 (2011) 2, S. 286–294, hier: S. 287. 34  DIE LINKE, Parteiprogramm, 21.–23. Oktober 2011, S. 57. unter: www.dielinke.de / fileadmin / download / dokumente / programm_der_partei_die_linke_ erfurt2011. pdf (4. Februar 2015). 35  Ebd., S. 56. 36  Vgl. ebd., S. 56 f. 30  Zit.



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aus dem in der DDR begangenen Unrecht gegenüber Gläubigen gezogen. Bereits im Jahr 1990 hat der Parteivorstand der PDS sich zur Verantwortung an einer verfehlten Politik der SED bekannt, die tragische Schicksale, Benachteiligungen, Verdächtigungen und ohnmächtige Betroffenheit auslöste und die Gläubigen, Kirchen und Religionsgemeinschaften um Versöhnung gebeten.“37 Unbeirrt lehnen Kirchenvertreter bis heute eine Zusammenarbeit mit der LINKEN wegen ihrer SED-Vergangenheit ab. So äußerte sich etwa 2009 der katholische Prälat Karl Jüsten, Leiter des Kommissariats der Deutschen Bischöfe: „[D]ie Linkspartei hat noch immer nicht geklärt, wie ihr Verhältnis in der damaligen DDR zu den Menschenrechten war, insbesondere aber auch wie sie mit den Kirchen und mit den Christinnen und Christen in der DDR umgegangen war. Deshalb kann die Linkspartei für uns keine normale Partei sein“38. Der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider ergänzte in einem Interview mit der Zeitung „Neues Deutschland“ am 12. April 2011 für die evangelische Seite, „bei der LINKEN [fehlt] immer noch eine klare Aussage zu 40 Jahren DDR-Verfolgung der Kirchen. Daran kommt die Partei nicht vorbei!“39 Aufsehen erregte das Wahlprogramm des Landesverbands NordrheinWestfalen zur Landtagswahl am 9. Mai 2010, in dem die Partei das christlich geprägte Landesbildungsideal angriff: Der konfessionelle Religionsunterricht sollte abgeschafft, die Ehrfurcht vor Gott als Ziel der Erziehung aus der Landesverfassung und dem nordrhein-westfälischen Schulgesetz gestrichen werden.40 Das Land sollte aus vermeintlich sozialen Gründen aufhören, Schulen und Kindertagesstätten in kirchlicher Trägerschaft zu finanzieren: „Die kirchlichen Kitas und Schulen haben sich zu Instrumenten sozialer und kultureller Auslese entwickelt. Diese Einrichtungen mit erheblich geringerem Anteil von Migrantinnen und Migranten werden nicht nur von gläubigen Eltern bevorzugt, sondern zunehmend auch von solchen, die für ihre Kinder nach einer Einrichtung weitgehend ohne Einwandererkinder suchen.“41 Am 12. April 2011 brachte die Linksfraktion den Antrag in den Bundestag ein, kirchliches Sonderarbeitsrecht abzuschaffen und das Streikrecht für 37  Ebd. 38  Zit.

nach: S. Prinz (Anm. 33), hier: S. 286. nach: ebd. 40  Vgl. DIE LINKE, Programm zur nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 9. Mai 2010 „Original sozial – konsequent solidarisch“, 8. November 2009, S. 43 f., unter: www.dielinke-nrw.de / fileadmin / kundendaten / www.dielinke-nrw.de / LTW / Lang wahlprogramm-endfassung_komplett.pdf (4. Februar 2015). 41  Ebd., S. 43. 39  Zit.

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Beschäftigte kirchlicher Arbeitgeber einzuführen.42 Am 29. Februar 2012 folgte ein Gesetzentwurf, der das Ende der Staatsleistungen an die Kirchen vorsah.43 Im April 2013 gründete sich in der Partei eine „Bundesarbeitsgemeinschaft Laizismus“, die aus den drei Landesarbeitsgemeinschaften in Bayern, Thüringen und Nordrhein-Westfalen hervorging. Sie richtete sich gegen „die völlig undemokratischen Folgen des heute vorherrschenden Verständnisses und der aktuellen Handhabung der vom Grundgesetz gebotenen Trennung von Staat und Kirche“44. Geschichtsvergessen wie juristisch zweifelhaft forderte die Gruppe, alle Konkordate und Kirchenverträge seitens des Staates entschädigungslos zu kündigen. Die Lizenzierung der Bundesarbeitsgemeinschaft durch den Parteivorstand steht aus, weil dafür acht Landesverbände vorliegen müssen.45 Gleichwohl nahm die Partei in ihr Programm zur Bundestagswahl 2013 Kernforderungen der Laizisten auf: „Verfassungen dürfen keine religiösen Bezüge aufweisen. […] Wir wollen den seit 1919 bestehenden Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen endlich umsetzen. Die Kirchensteuer gehört abgeschafft.“46 Gegen diese konfrontativen Initiativen wirken kirchenfreundliche Plä­ doyers einzelner prominenter Parteivertreter wie Feigenblätter. Der Frak­ tionsvorsitzende der LINKEN im Bundestag, Gregor Gysi, registrierte 2007 Übereinstimmungen zwischen sozialistischen und christlich-jüdischen Idealen und erkannte das moralische Wächteramt der Kirchen in der Gesellschaft an. In einem gemeinsamen Positionspapier mit den damaligen Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst Ende 2010 erklärte er die Kirchen zu potenziellen Partnern der LINKEN.47 Profiliertester evangelischer Christ der Partei ist der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow. Wiederholt warnte er seine Partei, „antireligiös zu agieren. Wir haben Bündnispartner, die in Kirchen gebunden sind. Die dürfen wir nicht verlieren.“48 Der katholischen Kirche zollte er Respekt für ihre weltanschauliche Resistenz in der DDR. Er empfand „riesige“ Freude über den Papstbesuch in Thüringen am 42  Vgl.

BT-Drs. 17 / 5523. L. Spaenle (Anm. 28), S. 141 f. 44  Erklärung zur Gründung einer Bundesarbeitsgemeinschaft Laizismus in und bei der Partei DIE LINKE, zit. nach: F. Schenker (Anm. 30), S. 214. 45  Vgl. ebd., S. 213 f., 218. 46  DIE LINKE, Wahlprogramm „100 Prozent sozial“ zur Bundestagswahl vom 22. September 2013, 14.–16. Juni 2013, S. 85, unter: www.die-linke.de / fileadmin / down load / wahlen2013 / bundestagswahlprogramm / bundestagswahlprogramm2013_langfas sung.pdf (4. Februar 2015). 47  Vgl. S. Prinz (Anm. 33), S. 290 f., 293. 48  Zit. nach: ebd., S. 290. 43  Vgl.



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23. / 24. September 2011.49 Heftige Kritik äußerte Ramelow am Bundestagswahlprogramm 2013, dem er aus religionspolitischen Gründen die Zustimmung verweigerte: „Die PDS hatte ein höheres Maß an Toleranz im Umgang mit Christen als die Linkspartei.“50 Wenngleich sozialpolitische Berührungspunkte zwischen LINKEN und Kirchen zu eruieren wären, verhindern die mangelhafte Aufarbeitung der SED-Vergangenheit der Partei nicht nur in der Kirchenpolitik sowie die regelmäßigen Angriffe auf kirchliche Besitzstände bis heute ein nüchternes Dialog- und Kooperationsverhältnis: „Wer […] die Fundamente der hergebrachten und bewährten Beziehungen zwischen dem Staat und den Kirchen abschaffen und die Kirchen aus der Öffentlichkeit verdrängen will, muss mit kirchlicher Gegenwehr rechnen. Eine Partei, die künftig noch breitere Bevölkerungskreise ansprechen will, würde sich ‚sektiererisch‘ verhalten, wenn sie die Kirchenbindung der Bevölkerungsmehrheit – zumindest im Westen – ignorieren würde.“51

25 Jahre nach der „Wende“ ist die SED-Nachfolgerin für beide Kirchen keine „normale“ Partei. 2. „Große Koalition“ der „Kirchenfreunde“: CDU / CSU und SPD

Die beiden „Volksparteien“ CDU / CSU und SPD profilieren sich als Verfechter des staatlich-kirchlichen Kooperationsmodells und verlässliche Partner der Kirchen. Die höchste wechselseitige Affinität besteht traditionell zwischen Kirchen und Unionsparteien. Das Grundsatzprogramm der CDU von 2007 erklärt die „Sozialethik der christlichen Kirchen“52 zu einer geistigen Grundlage der Partei, die konfessionelle Parität sowie das besondere Kooperationsverhältnis von Staat und Kirche zum festen Bestandteil der deutschen politischen Kultur.53 Als Partei der Sozialen Marktwirtschaft und einer Politik aus christlicher Verantwortung nennt die CDU Maximen ihres sozialpolitischen Handelns, die von beiden Kirchen geteilt werden: soziale Partnerschaft in Unternehmen, Tarifautonomie, betriebliche Mitbestimmung, Würde des arbeitenden Menschen.54 Die CDU wünscht keinerlei Änderung am Staatskirchenrecht: „Wir bekennen uns zur Präambel des Grundgesetzes 49  Vgl.

ebd. nach: F. Schenker (Anm. 30), S. 225. 51  S. Prinz (Anm. 33), S. 294. 52  CDU, Grundsatzprogramm „Freiheit und Sicherheit. Grundsätze für Deutschland“, 3. / 4. Dezember 2007, S. 5, unter: www.cdu.de / sites / default / files / media / doku mente / 071203-beschluss-grundsatzprogramm-6-navigierbar.pdf (4. Februar 2015). 53  Vgl. ebd., S. 14. 54  Vgl. ebd., S. 50. 50  Zit.

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und damit zu unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen. Das Grundgesetz beruht auf Werten, die christlichen Ursprungs sind. […] Christliche Symbole müssen im öffentlichen Raum sichtbar bleiben. Sie sind ebenso zu schützen wie die christlichen Sonn- und Feiertage.“55 Am staatlichen Kirchensteuereinzug will die Partei festhalten.56 Bekenntnisse gleichen Inhalts legt die Schwesterpartei CSU ab, die sich der Tradition eines „christlichen Humanismus“57 verpflichtet sieht. Ihr Grundsatzprogramm von 2007 besagt: „Die Trennung von Staat und Kirche ist für uns ebenso wichtig wie ihre rechtlich geregelte Kooperation. Die CSU tritt für die öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten von Religionsgemeinschaften und Kirchen ein und lehnt ein laizistisches Öffentlichkeits- und Staatsverständnis ab.“58 In Rückschau auf das Kruzifixurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995 erklärt die CSU Religionsunterricht und Kreuze in allen öffentlichen Gebäuden für „unverzichtbar“59. Sie beruft sich auf den berühmten Leitsatz Ernst-Wolfgang Böckenfördes, die Kirchen seien für ein funktionierendes Staatswesen konstitutiv, weil jenes auf moralischen Werten basiere, die es selbst nicht erzeugen könne: „Deshalb müssen die christlichen Wurzeln unserer Gesellschaftsordnung bewahrt und gefördert werden. Dafür steht das ‚C‘ in unserem Namen.“60 Beide Unionsparteien gerieren sich als originäre Partner der Kirchen, von denen keine Gefahr für das bestehende Staatskirchenrecht ausgehe. Zuspruch erfuhr diese Position durch das Votum des Deutschen Juristentags vom 21. bis 24. September 2010, von Änderungen des Staatskirchenrechts abzuraten.61 Gleichwohl mutet das Attribut „christlich“ in vielen Neologismen der Parteiprogramme von CDU und CSU – „christlich-abendländisches Europa“, „christlich-jüdische Tradition“ – mehr als kulturelle Abgrenzungsdenn als positiv-religiöse Glaubensformel an, auf die sich nicht-christliche wie christliche Mitglieder und Wähler einigen können sollen, „ohne ein klares Bekenntnis zum Glauben selbst abgeben zu müssen.“62 In ihrem gemeinsamen Bundestagswahlprogramm 2013 bekräftigte die Union abermals ihre politische Partnerschaft mit den Kirchen, etwa beim Thema Religionsunterricht: „Religionsunterricht muss als eigenständiges Fach an unse55  Ebd.,

S. 87. ebd., S. 88. 57  CSU, Grundsatzprogramm „Chancen für alle! In Freiheit und Verantwortung gemeinsam Zukunft gestalten“, 28. September 2007, S. 42, unter: www.csu.de /  common / _migrated / csucontent / grundsatzprogramm.pdf (4. Februar 2015). 58  Ebd., S. 29. 59  Ebd. 60  Ebd. 61  Vgl. L. Spaenle (Anm. 28), S. 138, 143. 62  T. Petersen (Anm. 8), S. 168. 56  Vgl.



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ren Schulen verankert sein. Wer wie die Grünen die Abschaffung des konfessionsgebundenen Religionsunterrichts fordert, ebnet den Weg zu einer Aushöhlung der für unsere Gesellschaft prägenden christlichen Werte. […] Andere Unterrichtsinhalte wie Philosophie oder Ethik sind kein Ersatz für den Religionsunterricht und erfüllen schwerlich den Auftrag unseres Grundgesetzes.“63 Deutlich zurückhaltender, wenngleich um ein kooperatives Verhältnis zu den Kirchen bemüht, agiert die SPD. In ihrem Grundsatzprogramm von 2007 zählen die Sozialdemokraten die Kirchen als „Träger der Zivilgesell­ schaft“64 neben Gewerkschaften, anderen Religionsgemeinschaften sowie Sozial- und Umweltverbänden zu „unsere[n] Partner[n] auf dem Weg zu einer humanen, zukunftsfähigen Gesellschaft“65. Das jüdisch-christliche wie humanistische Erbe Europas begründe einen besonderen öffentlichen Auftrag der Kirchen: „Für uns ist das Wirken der Kirchen, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch nichts zu ersetzen, insbesondere wo sie zur Verantwortung für die Mitmenschen und das Gemeinwohl ermutigen und Tugenden und Werte vermitteln, von denen die Demokratie lebt. Wir suchen das Gespräch mit ihnen und […] die Zusammenarbeit in freier Partnerschaft.“66 Oberstes Gebot sei die weltanschauliche Neutralität und Toleranz des Staates. Das SPD-Wahlprogramm 2013 ging ausschließlich beim Thema des kirchlichen Arbeitsrechts auf Konfrontationskurs mit den Kirchen, wenn es die Stärkung der Arbeitnehmerrechte in kirchlichen Arbeitsverhältnissen ankündigte: „Das Streikrecht ist elementares Grundrecht aller […] Arbeitnehmer und muss auch im kirchlichen Bereich gelten.“67 Konsens ist die kooperative Haltung in der Partei nicht: Im Oktober 2010 formierte sich eine Gruppe erklärter „Laizistinnen und Laizisten in der SPD“ mit dem Anspruch, „Vertretung und Sprachrohr der konfessionsfreien, atheistischen, agnostischen und humanistischen Mitglieder der SPD“68 zu 63  CDU / CSU, Regierungsprogramm 2013–2017 „Gemeinsam erfolgreich für Deutschland“, 2013, S. 22, unter: www.cdu.de / sites / default / files / media / dokumente /  regierungsprogramm-2013-2017-langfassung-20130911.pdf (4. Februar 2015). 64  SPD, Grundsatzprogramm „Hamburger Programm“, 28. Oktober 2007, S. 31, unter: www.spd.de / linkableblob / 1778 / data / hamburger_programm.pdf (4. Februar 2015). 65  Ebd. 66  Ebd., S. 39. 67  SPD, Regierungsprogramm 2013–2017 „Das WIR entscheidet“, 2013, S. 22, unter: www.spd.de / linkableblob / 96686 / data / 20130415_regierungsprogramm_2013_ 2017.pdf (4. Februar 2015). 68  Wolfgang Thierse, Anachronistische Forderungen. Was steckt hinter dem Arbeitskreis von Laizisten in der SPD?, in: Herder-Korrespondenz, 65 (2011) 1, S. 11–15, hier: S. 15, zit. nach: P. W. Hildmann (Anm. 27), S. 7 f.

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sein. Sie begehrten offizielle Anerkennung als Parteiarbeitskreis. Ihr Forderungskatalog war ein Generalangriff auf die politischen Interessen der Kirchen: Umwandlung der theologischen Fakultäten an den Universitäten in religionswissenschaftliche Institute, Aberkennung des kirchlichen Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts, Ende des staatlichen Kirchensteuereinzugs, aller kirchlichen „Steuerprivilegien“ und der staatlichen Zahlungen an die Kirchen, Ersetzung des Religionsunterrichts durch einen „neutrale[n] Religionskunde- und Ethikunterricht“69 für alle Schüler, generell Streichung religiöser Bildungsziele sowie aller religiösen Bezüge – Gottesdienste, Gebete – in staatlichen Schulen.70 Schüler dürften nur noch ergänzend am konfessionsgebundenen Religionsunterricht teilnehmen.71 Weiter sollten kirchliche Vertreter der Rundfunkräte verwiesen, die staatliche Finanzierung der Militärseelsorge eingestellt werden sowie der Kirchenaustritt gebührenfrei und nicht mehr beim Standesamt erfolgen. Den Vatikan wollten die SPD-Laizisten international fortan nur noch als Nichtregierungsorganisation, nicht länger als Staat anerkennen. Beim Bundesparteivorstand reüssierte die Initiative nicht. Um das Verhältnis zu den Kirchen nicht zu belasten, blieb die Anerkennung als offizieller Parteiarbeitskreis nach Beratung im Parteivorstand im Mai 2011 aus. Das Votum war einstimmig, obwohl parallel der „Arbeitskreis Christinnen und Christen in der SPD“ und der „Arbeitskreis Jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten“ existieren.72 Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel erklärte: „Der Parteivorstand hat schlicht beschlossen, dass kein Arbeitskreis in seinem Auftrag die strikte Trennung von Kirche und Staat propagieren soll, weil es nicht Mehrheitsmeinung in unserer Partei ist.“73 Solange das gilt, ist eine Reform des Staatskirchenrechts zulasten der christlichen Konfessionen politisch unwahrscheinlich. IV. Islam in Deutschland: Eine neue staatskirchenrechtliche Debatte Christliche Prägung der politischen Kultur bewahren zu wollen, legitimiert nicht, andere Bekenntnisse zu diskriminieren und ihnen die Rechtsstellung der Kirchen zu verweigern. Allen Religionsgemeinschaften stehen etwa der öffentlich-rechtliche Körperschaftsstatus sowie bekenntnisgebunde69  Zit.

nach: F. Schenker (Anm. 30), S. 220. L. Spaenle (Anm. 28), S. 139. 71  Vgl. F. Schenker (Anm. 30), S. 220. 72  Vgl. ebd., S. 212 f. 73  Sigmar Gabriel, Facebook-Eintrag, 14. Februar 2012; zit. nach: ebd., S. 212. 70  Vgl.



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ner Religionsunterricht prinzipiell offen, sofern sie rechtliche Mindestanforderungen erfüllen.74 Ressentiments der deutschen Mehrheitsbevölkerung richten sich heute nicht mehr diffus gegen eingewanderte Ausländer in toto, sondern gegen in Deutschland lebende Muslime. Die Folge scheint paradox: In der säkularen Gesellschaft wird Religion wieder zum negativen Unterscheidungsmerkmal.75 Seit der Jahrtausendwende mehren sich Konflikte zwischen der christlich geprägten Mehrheitskultur und dem extremistischen Islamismus. Dramatische Beispiele sind der 11. September 2001, weitere Terrorakte in Madrid 2004, London 2005 und Mumbai 2008, der Mohammed-Karikaturenstreit 2005 sowie der Mordanschlag auf die Redakteure des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Januar 2015. Keine andere Religion beurteilen die Deutschen so negativ wie den Islam: 58 Prozent der Westund 62 Prozent der Ostdeutschen geben an, eine „sehr“ oder „eher negative“ Haltung zu Muslimen einzunehmen. Positiv beurteilen sie nur 34 (West) bzw. 26 Prozent (Ost).76 Jeder Vierte fordert, Muslime nicht mehr nach Deutschland einwandern zu lassen.77 Mit höherem Bildungsabschluss nimmt die „Islamfeindlichkeit“ zwar ab, jedoch keinesfalls so deutlich wie etwa bei Befragungen zur allgemeinen Fremdenfeindlichkeit: 2014 gaben 52 Prozent der Abiturienten und 46 Prozent der Personen mit Hochschulabschluss in einer repräsenta­ tiven Umfrage an, sich durch den Islam bedroht zu fühlen (alle Befragten: 57 Prozent). Abiturienten stimmten zu 45, Akademiker zu 40 Prozent der These zu, der Islam passe nicht in die westliche Welt (alle Befragten: 61 Prozent).78 Wer in einer repräsentativen Erhebung die Frage stellt, ob Deutschland durch das Christentum und christliche Werte geprägt sei, erhält ein bipolares Meinungsbild: 2006 meinten 38 Prozent, die christliche Prägung sei „stark“ oder „sehr stark“, 48 Prozent hielten sie für „weniger stark“ und acht Prozent für „kaum“ oder „gar nicht vorhanden“. Annähernd gleich große Blöcke forderten die rechtliche Privilegierung des Christentums (40 Prozent) sowie die Gleichberechtigung aller Religionen (39). Konkret befragt, ob sie einem gesetzlichen islamischen Feiertag zustimmen würden, um der ge74  Vgl.

L. Spaenle (Anm. 28), S. 143 f. G. Pickel (Anm. 12), S. 137. 76  Vgl. ebd., hier: S. 152 f. 77  Vgl. Bertelsmann Stiftung, Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Sonderauswertung Islam 2015. Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick, 8. Januar 2015, S. 8, unter: www.bertelsmann-stiftung.de / fileadmin / files / Projekte / 51_Religions monitor / Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf (15. Januar 2015). 78  Vgl. ebd., S. 8, 10. 75  Vgl.

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wünschten Gleichberechtigung der Religionen Rechnung zu tragen, lehnte 2010 eine überwältigende Mehrheit ab: 77 Prozent der West- und 81 Prozent der Ostdeutschen. Die meisten sind gegen den Bau von Moscheen in Deutschland (65 bzw. 74 Prozent), mehr noch gegen den Bau von Minaretten (75 bzw. 80).79 „Islamfeindlichkeit“ wird zum „‚salonfähigenʻ gesellschaftlichen Trend“80, der bis in die Mitte der Gesellschaft reicht: „Der Islam wird aus der gesellschaftlichen Toleranz […] ausgeschlossen.“81 Es herrschen Stereotype vor: Der Islam gilt als „gewalttätig, fanatisch und vor allem frauenfeindlich“82. Ganz gleich, wie weit sie sich von der Kirche entfernt hat, taugt der Mehrheit der Deutschen das Staatskirchenrecht als „kollektiver Identitätsentwurf“83 der christlich geprägten Gesellschaft, als Abwehrinstrument gegen die vermeintliche muslimische Bedrohung. Das findet etwa in Debatten um eine christliche „Leitkultur“ Ausdruck.84 Quer durch die Bevölkerung schließen sich die Reihen um das bisherige deutsche Staatskirchenrecht, verstanden als „Gefahrenabwehrrecht“85. Seine ursprünglich moderierende Zielsetzung zum Ausgleich zwischen den (christlichen) Konfessionen wird zwecks Abgrenzung von fremden Bekenntnissen verfälscht.86 Die Religion, insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Islam, wird wieder zur gesellschaft­ lichen Konfliktlinie.87 Vor wenigen Jahren war der Begriff der „Religionspolitik“ in Deutschland ungebräuchlich, weil der Widerspruch zur grundgesetzlichen Religionsund Kirchenfreiheit vor staatlichen Eingriffen eklatant war. Heute, in Zeiten der religiösen Pluralisierung und des westlich-islamischen Konflikts, gibt der Staat seine Passivität partiell auf: 79  Vgl.

G. Pickel (Anm. 12), S. 155. Stiftung (Anm. 77), S. 9.

80  Bertelsmann 81  Ebd. 82  G.

Pickel (Anm. 12), S. 155. Heinig, Herausforderungen des deutschen Staatskirchen- und Religionsrechts aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Irene Dingel / Christiane Tietz (Hrsg.), Kirche und Staat in Deutschland, Frankreich und den USA. Geschichte und Gegenwart einer spannungsreichen Beziehung, Göttingen / Bristol 2012, S. 121–137, hier: S. 133. 84  Vgl. Hermann-Josef Große Kracht, Ist ohne Kirchen kein Staat zu machen? Zur historischen Entwicklung von Religion und Politik in Deutschland, in: Johannes Varwick / Stefan Schieren (Hrsg.), Religion in Politik und Gesellschaft. Eine Einführung, Schwalbach am Taunus 2013, S. 8–30, hier: S. 25. 85  Martin Honecker, Das deutsche Staatskirchenrecht in geschichtlicher und gegenwärtiger Perspektive, in: ders. (Anm. 3), S. 8–16, hier: S. 14. 86  Vgl. M. Heckel (Anm. 21), S. 313. 87  Vgl. Antonius Liedhegener, „Religionspolitik“ in Deutschland im europäischen Kontext, in: Zeitschrift für Politik, 61 (2014) 2, S. 123–135, hier: S. 127. 83  Hans-Michael



Zwischen „Patchwork“-Christen, Laizisten und Muslimen

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„Der Begriff der Religionspolitik im engeren Sinne meint all jene politischen Entscheidungsprozesse über religionsrelevante Sachverhalte innerhalb eines gegebenen politischen Systems, die im Kern auf der Anwendung des demokratischen Mehrheitsprinzips beruhen. [… Sie] stellt also darauf ab, dass das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften seitens des politischen Systems durch Parlaments- und Mehrheitsbeschlüsse mehr oder weniger einseitig ausgestaltet werden kann oder – normativ gewendet – auszugestalten sei.“88

Religionspolitische Entscheidungen mit „deutlich minderheitenfeindliche[n] Züge[n]“89 waren die Kopftuchverbote für Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen in acht Bundesländern ab 2004, während es christlichem Personal weiterhin gestattet blieb, Kreuze sichtbar am Körper zu tragen. In der Konsequenz hat das Bundesverfassungsgericht diese Regelungen am 13. März 2015 teilweise für verfassungswidrig erklärt.90 Der Staat steht vor der Aufgabe, das derzeit „asymmetrische religionspolitische Arrangement“91 aufzulösen, um dem wachsenden Anteil von Muslimen an der deutschen Gesellschaft Rechnung zu tragen und den Islam ins Religionsverfassungsrecht zu integrieren. Bislang fügt sich dieser leidlich in das bestehende Staatskirchenrecht, weil er nicht jenen Organisations- und Strukturanforderungen an Religionsgemeinschaften genügt, von denen die Verfassungsväter mit Blick auf die christlichen Kirchen 1949 obligatorisch ausgegangen waren.92 Die staatsanaloge Konzeption der Kirchen ist dem Islam wesensfremd. Wer ihm dieses Charakteristikum zum juristischen Nachteil auslegt, pervertiert die Intention des Staatskirchenrechts, Religionsgemeinschaften kooperativ und gemeinwohlorientiert in das Staats- und 88  Ebd.,

S. 132. Das Feld der „Religionspolitik“ – ein explorativer Vergleich der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz seit 1990, in: Zeitschrift für Politik, 61 (2014) 2, S. 182–208, hier: S. 197. 90  Dietmar Hipp, Urteil zu Kopftuchverboten: Karlsruhe kritisiert Bevorzugung des Christentums, in: Spiegel Online vom 13. März 2015, unter: www.spiegel.de /  schulspiegel / wissen / analyse-kopftuch-urteil-christentum-unzulaessig-bevorzugt-a1023460.html (16. März 2015). 91  Ulrich Willems, Status, Privileg und (vermeintlicher) Vorteil. Überlegungen zu den Auswirkungen asymmetrischer religionspolitischer Arrangements auf die politische Rolle von Religionsgemeinschaften und die Durchsetzung religiöser Interessen, in: Hans G. Kippenberg / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Die verrechtlichte Religion. Der Öffentlichkeitsstatus von Religionsgemeinschaften, Tübingen 2008, S. 157– 185, hier: o. S., zit. nach: Karl Gabriel, Der Beitrag von Christentum und Kirchen zur Sozialkultur der Bundesrepublik, in: J. Varwick / S. Schieren (Anm. 84), S. 31–54, hier: S. 44. 92  Vgl. Stephen Monsma, Staat und Kirche in den USA und der Bundesrepublik Deutschland: auf dem Weg zur Konvergenz?, in: Heinz-Dieter Meyer u. a. (Red.), Religion und Politik. Zwischen Universalismus und Partikularismus, Opladen 2000, S. 81–107, hier: S. 101–103. 89  Ders.,

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Gesellschaftswesen zu integrieren und keine künstlichen Hürden für den Zugang zu religionsverfassungsrechtlichen Privilegien aufzubauen. Etwa durch die „Deutsche Islamkonferenz“ (DIK) hilft der Staat dem Islam bereits, Mindeststrukturen zu errichten, um an den Vorteilen teilhaben zu können, die das Grundgesetz Religionsgemeinschaften offeriert.93 Anspruch der DIK ist es, „in einem breiten und strukturierten Dialog zwischen politischen Verantwortungsträgern auf Bundes- und Länderebene und den […] Vertreterinnen und Vertretern der unterschiedlichsten Richtungen und Gruppierungen muslimischer Einwohner Deutschlands neue Wege für eine bessere Zusammenarbeit und (religions-)politische Integration des Islam in Deutschland zu erkunden.“94 Nordrhein-Westfalen etwa führte am 22. Dezember 2011 islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach ein.95 Das aufs Christentum fixierte Staatskirchenrecht zu einem „pluralitätskompatiblen modernen Religionsverfassungsrecht“96 fortzuschreiben, ist die Zukunftsaufgabe staatlicher Religionspolitik. Die Kirchen sind aufgerufen, diesen Prozess gewohnt kooperativ zu begleiten und ihren verfassungsrechtlichen Sonderstatus auf eine erneuerte Legitimationsgrundlage zu stellen. Um andere Gruppen zu integrieren, fordern Verfechter einer falsch verstandenen religiösen Neutralität des Grundgesetzes, „dass der Staat seine kulturellen Wurzeln verleugnet, dass sich seine bisher wohlwollend-kooperative (‚positiveʻ) religiös-weltanschauliche Neutralität zur distanzierten Laizität wandelt“97. Das Grundgesetz schließt diese Form des Staat-KircheSystems aus, indem es etwa durch den Sonntagsschutz oder den Bestandsschutz für vor 1949 „geborene“ Körperschaften des öffentlichen Rechts punktuelle „Neutralitätsverstöße“98 legalisiert, um die christliche Prägung der politischen Kultur Deutschlands kenntlich zu machen. Das Religionsverfassungsrecht bewahrt als „kulturelle[s] Gedächtnis unserer Gesellschaft“99 davor, diese christlichen Einflüsse zu vergessen. Zugleich verschließt es sich anderen religiösen Strömungen nicht. 93  Vgl. Heinrich de Wall, Das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes: Zeitgemäß und zukunftssicher? Rechtliche Perspektiven, in: P. W. Hildmann / S. Rößle (Anm. 8), S. 47–58, hier: S. 55 f. 94  A. Liedhegener (Anm. 89), S. 202. 95  Vgl. ebd., S. 198. 96  H.-J. Große Kracht (Anm. 84), S. 26. 97  Christoph Link, Kirchliche Rechtsgeschichte. Kirche, Staat und Recht in der europäischen Geschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert, München 2010, S. 252. 98  Christian Waldhoff, Was bedeutet religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates?, in: M. Honecker (Anm. 3), S. 17–29, hier: S. 18. 99  H.-M. Heinig (Anm. 83), S. 137.



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V. Das Staatskirchenrecht von 1949 ist nicht Problem, sondern Lösung Reformdruck auf das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes kommt aus drei Richtungen. Erstens entzieht die wachsende Säkularisierung und Entkirchlichung der christlichen Mehrheitsgesellschaft den verfassungsrechtlichen Privilegien der Kirchen zunehmend die Legitimationsgrundlage. Die Deutschen achten christliche Werte und Sozialleistungen hoch, gehen zu den Kirchen jedoch auf Distanz. Ihnen gelingt es nicht mehr, ihre Mitglieder für ihre Interessen zu mobilisieren. Einen entgegengesetzten Effekt übt zweitens der Bedeutungszuwachs des Islam in Deutschland aus. Mit einer fremden Religion konfrontiert, entdeckt die säkulare Gesellschaft das Staatskirchen- als Gefahrenabwehrrecht neu. Islamkritik und Skepsis an dessen Vereinbarkeit mit der westlich-demokratischen Kultur reichen heute weit in bürgerliche und akademische Kreise. In dieser Lage zwischen Entkirchlichung und „Islamfeindlichkeit“ ereignet sich drittens eine nicht minder polarisierte politische Debatte. Während Grüne und Linke Laizismus oder zumindest den schrittweisen Rückbau des Staatskirchenrechts anstreben, gerieren sich die „Volksparteien“ Union und SPD als kompromisslose Verfechter des Status quo. Beide Seiten liegen falsch. In der neuen Gemengelage aus Entkirchlichung, religiöser Pluralisierung und wachsender Kritik am deutschen Kooperationssystem von Staat und Kirche ist das Staatskirchenrecht von 1949 nicht Problem, sondern Teil der Lösung. Es gehört nicht abgewickelt, sondern fortentwickelt. Das Staatskirchenrecht verdient eine – staatlicherseits initiierte – breit angelegte gesellschaftspolitische Debatte über seinen Sinn und Nutzen, etwaige Anachronismen und Reformmöglichkeiten. In der kritischen Auseinandersetzung liegt für die Unterstützer und Nutznießer des deutschen StaatKirche-Arrangements die Möglichkeit, dieses neu zu legitimieren, für seine Kritiker die Chance, ausgleichende Regeln zu installieren. Von Linken und Grünen fordert diese Debatte mehr Konstruktivität und Geschichtsbewusstsein, von Union und SPD eine differenziertere Haltung als bislang. Neben den Kirchen sind alle weiteren relevanten Religionsgesellschaften in Deutschland zu beteiligen. Sämtliche Einzelaspekte des Staatskirchenrechts gehören einer kritischen, obgleich wohlwollenden Prüfung unterzogen. Besondere Aufmerksamkeit gebührt Kritik und Anmerkungen von Religionen abseits der beiden christlichen Großkirchen, denn Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert größtmögliche Religionsfreiheit für jedermann. Meinungsverschiedenheit zwischen den Religionen und gesellschaftlichen Gruppen taugen schlecht als Munition in einem sakral-laizistischen oder westlich-islamischen Konflikt, sondern legen den Finger dort in die Wunde, wo das grundgesetzliche Ideal nicht (mehr) vollständig erfüllt wird. Das hehre Ziel

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sollte ein erneuerter gesellschaftlicher und inter-religiöser Konsens über das deutsche Staatskirchenrecht sein. Gelingt dessen Evolution zu einem pluralitätskompatiblen modernen Religionsverfassungsrecht unter Einschluss des Islam, bietet es weiterhin alle Ingredienzen, dem bunter gewordenen reli­ giösen Leben der deutschen Gesellschaft rechtlichen Raum zur Entfaltung zu eröffnen.

Gefahr durch Extremismus

Sonderfall der Länderberichterstattung Die Verfassungsschutzberichte in Brandenburg und Bayern Von Stephan Weinrich I. Ursprung und Erstellung der Verfassungsschutzberichte Seit über fünf Dekaden stellen die Bundesinnenminister der nationalen und internationalen Presse einen jährlichen Verfassungsschutzbericht vor. Weder der Versuch war erfolgreich, die Berichte abzuschaffen, noch verhinderten die zahlreichen Skandale der sogenannten Geheimdienste die Etablierung einer solchen Publikation. Nachdem in den 1960er Jahren die Berichterstattung auf Bundesebene angelaufen war, publizierte Niedersachsen als erstes Bundesland einen eigenen Bericht. Seit 2014 veröffentlicht als letztes Bundesland selbst das Saarland einen Bericht. Die Einführung einer föderativ organisierten Berichterstattung geht zurück auf die Ständige Konferenz der Innenminister der Länder. Deren Konzeption „Verfassungsschutz durch Aufklärung“ sieht vor, die Bevölkerung über das Verhalten demokratiefeindlicher Organisationen aufzuklären und die gesetzlichen Grundlagen und Aufgaben des Verfassungsschutzes darzulegen.1 Zudem soll die Arbeit der Nachrichtendienstbehörden besser legitimiert und transparenter gestaltet werden. Eine Abstimmung der Verfassungsschutzberichte zwischen den Bundesländern findet nicht statt: einerseits, weil eine gesetzliche Bestimmung zur Absprache nicht existiert, andererseits deshalb, weil der Entstehungsprozess einer solchen Publikation eine Absprache erschwert.2 Obwohl die Länder ihre Publikationen unabhängig voneinander erstellen und veröffentlichen, arbeiten sie dennoch im sogenannten Verfassungsschutzverbund zusammen. Hierbei handelt es sich weniger um eine institutionalisierte Koordination als 1  Vgl. Eckhard Jesse, Die Verfassungsschutzberichte des Landes Hessen im Vergleich, in: Landesamt für Verfassungsschutz Hessen (Hrsg.): Verfassungsschutz in der freiheitlichen Demokratie. 60 Jahre Landesamt für Verfassungsschutz Hessen. Festschrift zum 60-jährigen Jubiläum, Wiesbaden 2011, S. 39–50, hier: S. 40. 2  Der gesamte Verwaltungsvorgang zur Anfertigung der Verfassungsschutzberichte müsste zwischen den Behörden zeitlich koordiniert werden, da deren Erstellung und Veröffentlichung zu unterschiedlichen Terminen erfolgt.

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vielmehr um einen kollegialen Austausch auf verschiedenen Fachebenen. Besagte Abstimmungen sollen helfen, eine einvernehmliche Position aller Landesämter beim behördlichen Benehmen gegenüber extremistischen Bestrebungen zu ermöglichen. Abgeglichen werden die Erkenntnisse über Beobachtungsobjekte, die in den Berichten verwendeten Definitionen, Verdachtsfälle, Zahlen sowie „Sprachregelungen“. Wer die verschiedenen Berichte vergleicht, wird Gemeinsamkeiten erkennen. Einen gewissen Sonderfall bilden dagegen die Verfassungsschutzberichte von Brandenburg und Bayern. Beide Länder werden seit der Wiedervereinigung maßgeblich von einer Partei regiert: in Brandenburg von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und in Bayern von der Christlich-Sozialen Union (CSU). In dieser politischen Reinkultur haben sich zwei Länderberichte etabliert, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Bereits die Veröffentlichungspraxis beider Publikationen differiert. Während der märkische Nachrichtendienst alle bisherigen Publikationen auf seiner Internetseite anbietet, halten die bayerischen Verfassungsschützer unter Begründung des Datenschutzes ihre Berichte zurück. Der interessierte Bürger kann lediglich die fünf letzten Berichtszeiträume online einsehen. Deutliche Unterschiede sind weiterhin bei den Beobachtungsobjekten, der Sprache, den Definitionen von extremistischen Phänomenen und der Struktur der Berichte nachvollziehbar. Mit Blick auf die gemeinsamen Abstimmungen im Verfassungsschutzverbund will dieser Beitrag prüfen, ob zwischen den Nachrichtendienstberichten von Brandenburg und Bayern Gemeinsamkeiten existieren. Im Vordergrund steht der parteiförmige Extremismus. Sind Berührungspunkte in der Bewertung des parteiförmigen Links- und Rechtsextremismus zu erkennen? Welche Parteien werden von beiden Publikationen analysiert und wie werden sie beurteilt? Wie sehen die Unterschiede aus, und was ist der Grund dafür? Haben die Berichte einen Wandel erfahren? Nach einem Grundlagenkapitel über die Verfassungsschutzberichte werden zunächst die Unterschiede zwischen den Berichten aus Potsdam und München wechselseitig offengelegt. Schwerpunkt der Gegenüberstellung sind die Bewertung des parlamentsorientierten Extremismus und die Standpunkte der Innenminister. Daran angeschlossen werden die Gründe für die Differenzen beleuchtet. Sind alle Gegensätze offengelegt, fällt der Blick auf die Gemeinsamkeiten und den Wandel der Berichte. Abschließend wird die Notwendigkeit einer Länderberichterstattung begründet.



Die Verfassungsschutzberichte in Brandenburg und Bayern

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II. Grundlagen des Verfassungsschutzberichtes Zur Verteidigung seiner demokratischen Ordnung hat der deutsche Verfassungsstaat in der Wahl seiner Mittel einen breiten, allerdings nicht rechtsfreien Spielraum.3 Neben administrativen und gerichtlichen Maßnahmen räumen die Bundesregierung und die Regierungen der Länder zur Abwehr demokratiefeindlicher Phänomene der sogenannten geistig-politischen Auseinandersetzung Vorrang ein.4 Diese findet auf einer argumentativen Ebene statt, wodurch der Demokratieschutz in den Raum des nicht-gewaltsamen politischen Handelns vorverlagert wird. Denn ebenso wie gewaltorientierter Extremismus ist dessen gewaltlose Form gleichsam eine Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung. Es ist die Aufgabe der Verfassungsschutzberichte, die Politik und Gesellschaft über demokratiefeindliche Konzepte aufzuklären, um einen Beitrag für das argumentative Ringen mit dem Extremismus zu leisten. Die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für das Anfertigen und die Veröffentlichung solcher Berichte ist in den Verfassungsschutzgesetzen der Länder und des Bundes festgelegt. Erstellt wird der Bericht von den Nachrichtendiensten, Herausgeber sind die Innenministerien. Folglich ist das Innenministerium als Filter zwischen den Informationen der Nachrichtendienste und der zu unterrichtenden Öffentlichkeit gesetzlich festgeschrieben.5 In der über 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sind zwei Parteien verboten worden: die Sozialistische Reichspartei als Nachfolgeorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei und die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), die ihr Vorbild in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) sah.6 Beide Verbote wurden in den 1950er Jahren erlassen, keine zehn Jahre nach der Gründung der zweiten deutschen Republik. Wiewohl in den folgenden Jahrzehnten von Verbotsanträgen gegenüber Vereinigungen eher sparsam Gebrauch gemacht wurde, kann kaum von einer fehlenden Entschlossenheit der streitbaren Demokratie gesprochen werden.7 Vielmehr ist in der zurückhaltenden Verwendung der 3  Vgl. Christiane Hubo, Verfassungsschutz des Staates durch geistig-politische Auseinandersetzung. Ein Beitrag zum Handeln des Staates gegen Rechts, Göttingen 1998, S. 245. 4  Vgl. ebd., S. 41. 5  Vgl. Gregor Wiedemann, Verfassungsschutz durch Aufklärung? Zum Widerspruch von politischer Bildungsarbeit und geheimdienstlicher Extremismuspräven­ tion, in: Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.), Wer schützt die Verfassung? Kritik zu den Verfassungsschutzbehörden und Perspektiven jenseits der Ämter, Dresden 2013, S. 123–136, hier: S. 124. 6  Vgl. Uwe Backes / Eckhard Jesse, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1993, S. 419. 7  Vgl. ebd., S. 416.

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administrativen staatlichen Mittel ein Wandel weg vom Legalitätsprinzip hin zum Opportunitätsprinzip zu erkennen.8 Zu Beginn der noch jungen Demokratie galt die Maßgabe, die streitbare Demokratie müsse gegen ihre Feinde Anwendung finden. Es war von den Verfassungsvätern vorgesehen und demnach legal, die Rüstkammer der wehrhaften Demokratie gegen die Widersacher der Verfassung einzusetzen. Freilich ist es auch gegenwärtig rechtens, jenen Bestrebungen entschlossen entgegenzutreten, die eine Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung forcieren. Mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Liberalität gegenüber alternativen politischen Konzepten setzte sich dennoch „zunehmend […] die Meinung durch, es sei aus politischen Gründen opportuner, gegen den Extremismus nicht alle rechtlich möglichen Vorkehrungen zu treffen“9. Insofern sollen staatliche Gegenmaßnahmen erst bei einer bestimmten Qualität von verfassungsfeindlichen Angriffen zum Einsatz kommen, die das Bundesverfassungsgericht als „aktiv-kämpferische“ umschrieben hat.10 Indem die Verfassungsschutzberichte extremistische Bestrebungen lediglich beim Namen nennen, ohne diese aus dem politischen Leben auszuschließen, soll dem politischen Extremismus und damit alternativen Konzepten ein Höchstmaß an Freiheitsspielraum eingeräumt werden.11 Damit sind die Nachrichtendienstberichte ein Ausfluss des Opportunitätsprinzips. Es obliegt den Verfassungsschutzberichten als originär amtliche Publikation eine Fehlwahrnehmung zwischen dem Links- und Rechtsextremismus zu verhindern.12 Folglich muss der Staat bei der geistig-politischen Auseinandersetzung seiner Neutralitätspflicht gerecht werden, um sich bei der Positionierung gegenüber demokratiefeindlichen Konzepten nicht in parteipolitischen Dogmen zu verlieren. Die Nachrichtendienstberichte sollen sich insofern nicht als Meinungsäußerung einer politischen Gruppierung darstellen. Allerdings scheinen Anspruch und Wirklichkeit nicht immer deckungsgleich, was die Berichte starker Kritik aussetzt. Während Extremisten eine solche Publikation in ihrer herkömmlichen Fassung ablehnen,13 verweist die 8  Vgl.

9  Ebd.

ebd.

10  Vgl. Lars Oliver Michaelis, Politische Parteien unter der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Die Streitbare Demokratie zwischen Toleranz und Abwehrbereitschaft, Baden-Baden 2000, S. 53. 11  Vgl. Eckhard Jesse, Die Verfassungsschutzberichte der Bundesländer. Deskription, Analyse, Vergleich, in: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hrsg.), Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 19, Baden-Baden 2008, S. 13–34, hier: S. 15. 12  Vgl. Christoph Gusy, Der Verfassungsschutzbericht, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 5 (1986) 1, S. 6–12, hier: S. 6. 13  Vgl. Uwe Backes / Eckhard Jesse, Vergleichende Extremismusforschung, Baden-Baden 2005, S. 392.



Die Verfassungsschutzberichte in Brandenburg und Bayern

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Wissenschaft auf Missstände und bietet Verbesserungsvorschläge an. Diese reichen von einem alternativen Verfassungsschutzbericht bis hin zu Reform­ ideen. Nicht selten mit einem polemischen Duktus glauben Kritiker, den Berichten einen politischen Missbrauch nachweisen zu können.14 Vor allem die teils deutlichen Unterschiede zwischen den Länderberichten gelten als Ergebnis einer unzulässigen Beeinflussung durch die Politik. III. Die unterschiedliche Bewertung des parteiförmigen Extremismus Die Unterschiede zwischen der brandenburgischen und bayerischen Berichterstattung stechen besonders im Bereich des Linksextremismus hervor. So entschied sich die erste märkische Landesregierung um Manfred Stolpe (SPD) für folgende Art der Aufarbeitung mit dem Unrecht während des DDR-Regimes: In Brandenburg sollte „unter der verführerischen Überschrift von Toleranz und einer neuen politischen Kultur mit allen freundlich [umgegangen werden] – mit der Opposition, mit der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und sogar mit den alten Genossen, denn sie waren demokratisch gewählt.“15 In den Grenzen dieses „Brandenburger Weges“ etablierte sich der dortige Verfassungsschutzbericht. Die Vorworte der Innenminister – unabhängig der Parteizugehörigkeit – sind von einem engagierten Eintreten gegen den Rechtsextremismus geprägt. Wiederum die linke Spielart wird unregelmäßig und mit wenigen Worten diskutiert. Einen anderen Akzent setzte der sozialdemokratische Innenminister Dietmar Woidke: Er bezeichnet linksextremistische Parteien als politisch impotent16 und anhaltend erfolglos17. Auf der Seite des parteipolitischen Linksextremismus sind mit der Einführung der Berichte die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die KPD und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) unter dem Etikett „Marxistisch-Leninistische Parteien und deren Nebenorganisationen“ gelistet. Dieser wenig trennscharfe Oberbegriff entfiel mit dem Bericht für 1999. Dort heißt es „Parteien und sonstige Organisationen“ und ab 2001 schlicht „Organisationen“18. Im Jahr 2008 machte der christdemokratische 14  Vgl. Joachim Wagner, Verfassungsschutz und Öffentlichkeit, in: Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Verfassungsschutz in der Demokratie. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Köln 1990, S. 201–222, hier: S. 214. 15  Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, „Brandenburger Weg“, unter: www.politische-bildung-brandenburg.de / node / 7365# (26. Januar 2015). 16  Vgl. Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2011, S. 5. 17  Vgl. ebd. 18  Rechtsextremistische Parteien werden unter „Parteien und deren Nebenorganisationen“ zusammengefasst.

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Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) deutlich, dass „Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung noch mit der Partei ‚Die Linke‘ verbunden“19 seien. Dennoch sucht der Leser die PDS oder einen ihrer Ableger vergeblich; bis in die Gegenwart ist die Links-Außen-Partei kein Beobachtungsobjekt. Auch die DKP, KPD und MLPD sind zwischen 2006 und 2008 während der Amtszeit Schönbohms20 kein Gegenstand der Berichterstattung21. Eine Änderung der Beobachtungsobjekte erfolgte mit der Abwahl der rot-schwarzen Koalition im Jahr 2009 und der anschließenden Regierung aus SPD und der Partei „Die Linke“. Unter der Verantwortung des neuen Kabinetts ist erneut die DKP Gegenstand der Berichterstattung. Ihr „erklärtes Ziel [ist] bis heute der ‚Sozialismus als erste Stufe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft‘. Hierbei beruft sie sich auf Marx, Engels und Lenin“22. Weithin drastischer formulierten die Autoren für 2004. Sie meinten, „die DKP vertritt die traditions-kommunistische Richtung des Links­ extremismus“23. Eine Begründung für die Streichung der Kommunisten unter Schönbohm gibt Dietmar Woidke im Jahr 2011. Er schreibt, „die roten Parteisekten im brandenburgischen Verfassungsschutzbericht [wurden] mit redlich verdienter Nichtachtung gestraft“24. Grundsätzlich, so der Bericht, seien die Strukturen des parteiförmigen Linksextremismus überaltert. Die „Deutsche Kommunistische Partei [wird] in der Versenkung“25 gesehen und zugleich als „zu alt für die Revolution“26 befunden. Die verbliebenen Anhänger sind „letzte Dino­saurier“27 oder Vertreter eines „Rentner-Extremismus“28. Paradox erscheint die zurückhaltende Bewertung des Linksextremismus nach der Wiederaufnahme der DKP in den Verfassungsschutzbericht. Die lin19  Vgl. Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2008, S. 4. 20  Jörg Schönbohm war von 1999 bis 2009 brandenburgischer Minister des Inneren. 21  Es wird lediglich auf ihre Existenz verwiesen. 22  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2011, S. 132. 23  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2004, S. 100. 24  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Anm. 22), S. 5. 25  Ebd., S. 133. 26  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2012, S. 5. 27  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Anm. 22), S. 8. 28  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2008, S. 130.



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ke Spielart wird als eine Ideologie beschrieben, „die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richtet“29. Anhänger des Linksextremismus vereint die Idee „von der Gleichheit aller Menschen […] und das Versprechen vollkommener politischer und sozialer Freiheit seiner Mitglieder“30. Dagegen heißt es im Berichtsjahr 2004: „Linksextremisten sehen im freiheitlichen Rechtsstaat ein ‚imperialistisches, rassistisches und faschistisches System‘, das es zu beseitigen gilt“31. Zudem verstoße die Diktatur des Proleta­ riats gegen Gewaltenteilung, Parteienpluralismus, Mehrheitsentscheidungen, Recht auf Opposition und Meinungsfreiheit.32 Für die Münchner Verfassungsschützer war bis zum Berichtszeitraum 1991 der Linksextremismus hingegen Arbeitsschwerpunkt. Nicht zuletzt standen die Parteien am linken Rand im Fokus der süddeutschen Sicherheitsbehörde. Ihre ideologische und teilweise monetäre Abhängigkeit vom DDR-Regime galt während des Kalten Krieges als erhöhtes Gefahrenpotenzial für die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik. Mit der Wiedervereinigung änderte sich diese Bewertung. Das Versiegen der Finanzquellen manövrierte die linksextremistischen Parteien in eine Krise; ihr vormals unterstelltes Potenzial war rückläufig. Dennoch war der Bedeutungsverlust für die Nachrichtendienstmitarbeiter kein Anlass, die Kommunisten aus dem Bericht zu streichen. Ohne Unterbrechung werden DKP und MLPD bis in die Gegenwart als Beobachtungsobjekt geführt. Ähnliches kann für die PDS und deren Nachfolgeorganisationen gesagt werden. Die Mitarbeiter der bayerischen Sicherheitsbehörde befürchteten Anfang der 1990er Jahre, die als PDS firmierende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) würde an die Stelle der bedeutungslos gewordenen DKP treten und sich zu einer Gefahr für die Entwicklung des vereinigten Deutschlands entpuppt.33 Zunächst wurde die PDS als Prüffall aufgenommen. Bereits zu diesem Zeitpunkt galt die Linksaußen-Partei als ein „Kristallisationspunkt für kommunistisches Gedankengut verschiedenster Schattierungen“34. Insbesondere die in den westdeutschen Bundesländern gegründeten Landesverbände der SED-Erbin waren von aktiven Linksextremisten unterwandert. Vielleich mit Blick auf Brandenburg schreibt Günther Beckstein: „Versuche, diese Partei ‚demokratisch zu reden‘, enthalten die große Gefahr, dass die notwendige 29  Ebd.,

30  Ebd.

S. 131.

31  Ministerium

des Inneren des Landes Brandenburg (Anm. 23), S. 84. ebd. 33  Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Bayern 1990, S. 3. 34  Ebd., S. 3. 32  Vgl.

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Abgrenzung gegenüber dem Linksextremismus nicht mehr deutlich genug vorgenommen wird.“35 In jenen Tagen war die PDS der Berichtsschwerpunkt für die bayerische Publikation.36 Sie wird als „umbenannte SED“37 demaskiert und ihr Ziel in der Beseitigung des Kapitalismus und „die Überwindung des mit ihm verbundenen politischen Systems der Freiheit und der Demokratie“38 erkannt. Später heißt es weniger deutlich: Die Partei „Die Linke“ halte „am Ziel einer grundlegenden Umgestaltung der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung fest“39. Ein klares Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, so der Bericht weiter, fehle. Auch die Fusion mit der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit änderte diese Bewertung zunächst nicht. Forderungen der Partei „Die Linke“, die direktdemokratischen Elemente der Verfassung auszubauen, bewerten die Münchener Verfassungsschützer als Versuch, die deutschen Parlamente zu schwächen und so die repräsentative Demokratie als Grundlage des bundesrepublikanischen Staatssystems auszuhöhlen.40 Dennoch sind Änderungen erkennbar. Laut den Autoren nimmt die LinksAußen-Partei eine Sonderstellung ein. Im Jahresüberblick für 2009 wird die Partei „Die Linke“ als größte linksextremistische Organisation bewertet. Ein Jahr später wird den Sozialisten eine „formale Distanzierung vom Kommunismus“41 bescheinigt. Gegenwärtig entfernen bundesweit die Verfassungsschutzbehörden der Länder schrittweise die Analyse der Gesamtpartei „Die Linke“ aus ihren Berichten. Einige Landesämter informieren weiterhin über deren extremistische Strömungen, andere streichen die Berichterstattung gänzlich. Wer glaubt, der bayerische Bericht wird die Gesamtpartei „Die Linke“ langfristig führen, der irrt. Ab dem Berichtsjahr 2013 kann der Leser lediglich Informationen über „Offene extremistische Strukturen“42 in der Partei „Die Linke“ einsehen. Dazu zählen sechs Arbeitsgemeinschaften oder Nebenorganisationen. Noch im Jahr 2011 sah der damalige und gegenwärtige Innenminister Joachim Hermann (CSU) keinen Grund, die Sozialis35  Bayerisches Staatsministerium Bayern 1994, S. 3. 36  Vgl. ebd. 37  Bayerisches Staatsministerium 2006, S. 150. 38  Ebd. 39  Bayerisches Staatsministerium 2011, S. 176. 40  Ebd., S. 178. 41  Bayerisches Staatsministerium Bayern 2009, S. 151. 42  Bayerisches Staatsministerium Bayern 2013, S. 157.

des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht



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ten aus der Berichterstattung zu streichen. Ihre Beobachtung sei „nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten“43. Nach wie vor im bayerischen Bericht für 2013 als Gesamtpartei analysiert wird die DKP und deren rund 340 Mitglieder. Ihr „Ziel ist der Umsturz der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung.“44 Die von den Kommunisten veröffentlichten Zeitschriften nutzen die bayerischen Verfassungsschützer als Quelle und Beleg für die demokratiefeindliche Ausrichtung der Partei. Zu kritisieren sind die häufig fehlenden Nachweise der aus den Publikationen entnommenen Zitate. Unter dem Gliederungspunkt „Umfeld der DKP“ werden die Aktivitäten der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) dargelegt. Sie gilt in Bayern als linksextremistisch beeinflusst.45 Grundsätzlich bleibt die Bewertung der kommunistischen Parteien konstant. 1992 wird der Linksextremismus von der rechten Spielart als Arbeitsschwerpunkt der Münchener Sicherheitsbehörde abgelöst. Vor allem die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen waren ausschlaggebend für diesen Wechsel.46 Im Gegensatz zur bayerischen Publikation ist seit der Einführung der Berichte in Brandenburg der Rechtsextremismus Arbeitsschwerpunkt der Potsdamer Verfassungsschutzbehörde. Dennoch sei Brandenburg entgegen mancher vorschneller Behauptung weder ein „braunes Land“47 noch der Rechtsextremismus das Symbol dafür48. Als Beweis für diese Behauptung benennt Innenminister Alwin Ziel (SPD) eine nicht näher bezeichnete Wählerumfrage und eine soziologische Erhebung. Beide Untersuchungen würden bestätigen, der parteiförmige Rechtsextremismus spiele im brandenburgischen Leben keine Rolle.49 Diese Bewertung erfährt bei Jörg Schönbohm einen Wandel. Er stellt 2001 fest, „die meisten Fragen, die den brandenburgischen Verfassungsschutz erreichen, beziehen sich auf den Rechtsextremis­ mus.“50 Bestätigung erhält er von Winfriede Schreiber, von 2004 bis 2013 Präsidentin des Brandenburger Verfassungsschutzes. Ihrer Einschätzung 43  Bayerisches

Staatsministerium des Inneren (Anm. 39), S. 4. Staatsministerium des Inneren (Anm. 42), S. 171. 45  Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Anm. 39), S. 215. 46  Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Bayern 1992, S. 3. 47  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 1998, S. 5. 48  Vgl. ebd., S. 3. 49  Vgl. ebd., S. 52. 50  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Land Brandenburg 2001, S. 2. 44  Bayerisches

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nach geht „die größte Gefahr für ein friedliches Miteinander […] in Brandenburg noch immer vom Rechtsextremismus aus“51. Die Bewertung des Rechtsextremismus zwischen den Innenministern Ziel und Schönbohm begründet sich einerseits durch den Einzug der Deutschen Volksunion (DVU) in das märkische Parlament im Jahr 1999, andererseits durch die Wahl Udo Voigts zum Bundesvorsitzenden der Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Die von Voigt eingeleitete Öffnung der NPD für Neonationalsozialisten führte zu einem Anwachsen der Mitgliederzahlen des Brandenburger Landesverbandes von 20 auf 200 Personen. Den Verfassungsschützern blieb die Verbindung zwischen der Radikalisierung der Partei und deren Mitgliederzuwachs nicht verborgen. Die Zusammenarbeit zwischen der NPD und den Neonationalsozialisten bedurfte ihrer Meinung nach besondere Aufmerksamkeit, „weil sie die Reste einer demokratischen NPD-Fassade einreißt und eine erhöhte Gefahr für die Demokratie“52 berge. Auch der Themenwandel bei der NPD, weg von „revisionistischen“ Feldern hin zu sozialen Schwerpunkten, ist Gegenstand der Analyse.53 Irritierend sind die Kapitelüberschriften zur NPD. Sie rekurrieren in ironischer Weise auf die Propaganda des Nationalsozialismus: „Partei ohne Raum: NPD strauchelt im Häuserkampf“54 ist ebenso zu lesen wie: „DVU: Von der NPD abgewickelt und einverleibt“55. Die Kapitelüberschriften der bayerischen Verfassungsschutzberichte sind dementgegen sachlich formuliert. Unter der Überschrift „Parteien, Organisationen und Verlage“ sind hauptsächlich die NPD, DVU und die Republikaner (REP) verzeichnet. Nicht selten enthalten Textbeiträge wortgleiche oder inhaltliche Übernahmen aus vorangegangenen Berichtzeiträumen. Zudem heben die Informationen zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die Bundesebene ab. Die Auswertung von Wahlergebnissen, beispielsweise der NPD in Mecklenburg-Vorpommern oder Rheinland-Pfalz, lassen keinen Zusammenhang zu Bayern erkennen. Als „fester Bestandteil des ideologischen Spektrums der NPD“56 werden im bayerischen Bericht „Neonazistische und nationalrevolutionäre Thesen“ 51  Bayerisches

Staatsministerium des Inneren (Anm. 37), S. 6. S. 23. 53  Vgl. Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Land Brandenburg 1995, S. 53. 54  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2009, S. 47. 55  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2010, S. 11 u. S. 17. 56  Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Anm. 37), S. 96. 52  Ebd.,



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identifiziert, ihr „Staats- und Menschenbild [steht] in krassem Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung.“57 Während der Brandenburger Bericht 2007 einen „wankenden Extremistenpakt“58 zwischen NPD und der DVU in Brandenburg erkennt, spricht der bayerische Bericht von einer spürbaren Wirkung des „Deutschland-Paktes“. „Schon bei vergangenen Wahlen h[a]tte der Verzicht auf Konkurrenzkandidaturen zu Erfolgen von DVU bzw. NPD beigetragen.“59 In jener Zeit mehrten sich bei der NPD in Brandenburg „die Anzeichen dafür, dass sie diesen Pakt eher als lästig denn als erwünscht betrachtet“60. Die Unterschiede in der Bewertung des parteiförmigen Extremismus haben zwei Ursachen. Erstens: In Deutschland agiert der parteiförmige Extremismus in seiner Struktur ebenso föderal wie die Verfassungsschutzbehörden. Während der Bundesverfassungsschutzbericht einen Querschnitt anbietet, sind die Berichte der Landesbehörden an das entsprechende Bundesland angepasst. Demnach kann der Verfassungsschutz in Sachsen bei der Bewertung der Extremismusarten zu einem anderen Ergebnis kommen, als der Verfassungsschutz in Baden-Württemberg. Gleiches gilt für die Sicherheitsbehörden in Brandenburg und Bayern. Insbesondere an der Scheidelinie zwischen West- und Ostdeutschland ist die differierende Beurteilung extremistischer Parteien auffällig. So schwankt die Bewertung der Partei „Die Linke“ zwischen extremistisch und demokratisch. Während die Links-Außen-Partei in den alten Bundesländern aufgrund ihrer Unterwanderung durch ehemaligen DKP-Mitgliedern und andere linksextremistische Gruppen als radikal bewertet wurde, bescheinigen die Sicherheitsbehörden in den neuen Bundesländern der Partei „Die Linke“ weitestgehend eine pragmatische Parteiarbeit. Die ungleiche Wertung des parteiförmigen Extremismus beschränkt sich nicht auf den Linksextremismus. Nur ist sie dort deutlicher zu erkennen als bei den Parteien am rechten Rand. Auch der Rechtsextremismus wird in Abhängigkeit seines Wirkungsortes verschieden bewertet. Beispielsweise existieren NPD-Landesverbände, die aufgrund interner Querelen zerstrittenen sind oder verstärkt von Neonationalsozialisten infiltriert werden. Dementgegen versuchen vor allem die Landesverbände in den neuen Bundesländern ihr Wirken auf die parlamentarische Arbeit auszurichten. 57  Ebd.,

S. 96.

58  Ministerium

des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2010, S. 7. 59  Bayerisches Staatsministerium des Inneren (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Bayern 2007, S. 103. 60  Ministerium des Inneren des Landes Brandenburg (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht Brandenburg 2007, S. 43.

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Zweitens: Einige Verfassungsschützer sehen sich mit dem Dilemma konfrontiert, Hinweise auf extremistische Bestrebungen beispielsweise der Partei „Die Linke“ zu besitzen, haben aber Skrupel, eine Partei im Verfassungsschutzbericht aufzuführen, die von einem Viertel der wählenden Bevölkerung getragen wird. Es ist wohl juristisch und politisch schwer zu vermitteln, eine Partei als demokratiefeindlich zu kennzeichnen, die Landräte oder Bürgermeister stellt. Wie ihre Kollegen in anderen Parteien arbeiten Funktionäre der Linkspartei offenbar gleichsam pragmatisch und nach den demokratischen Spielregeln. IV. Gemeinsamkeiten und Wandel der beiden Berichte Die größte Schnittmenge zwischen den Länderberichten aus Brandenburg und Bayern findet sich im Bereich des parteiförmigen Rechtsextremismus. In beiden Ländern sind oder waren die NPD, DVU und REP Beobachtungsobjekte. Auch in der allgemeinen Bewertung dieser Parteien ist ein Konsens zu finden. Die Nationaldemokraten werden beiderseits als Sammelbecken für gewaltbereite Skinheads und Neonationalsozialisten identifiziert. Zudem versuche die NPD, über bürgerliche Themen ihre rechtsextremistischen Anschauungen zu verbreiten. Unter dem Motto „Sozial geht nur national“ beschäftigen sich die Nationaldemokraten verstärkt mit sozialpolitischen Themen. Seit Mitte der 1990er Jahre bewerten die Potsdamer und Münchener Sicherheitsbehörden die Agitation zur sozialen Frage als Knotenpunkt nationaler Politik. Ebenso findet sich die polemische Sprachregelung „Neonazis“ – anstatt Neonationalsozialistisch – in beiden Publikationen. Nachdem die Volksunion 1999 den Einzug in den märkischen Landtag schaffte, änderte sich deren Bewertung durch die Potsdamer Verfassungsschützer nicht. Der Bundesvorsitzende Gerhard Frey sowie die von ihm veröffentlichten demokratiefeindlichen Publikationen wurden durchweg als treibende Kraft und Sprachrohr der Partei gesehen. Beide Sicherheitsbehörden erkennen die verfassungsfeindlichen Ziele der DVU weniger in deren Parteiprogramm als vielmehr in der Verlagsarbeit von Frey. Die REP sind ab 2005 in beiden Ländern kein Beobachtungsobjekt mehr. Im Bereich des parlamentsorientierten Linksextremismus sind wenige Gemeinsamkeiten augenfällig. Obwohl der Brandenburger Bericht die DKP und MLPD nicht durchgängig als Beobachtungsobjekt führte, sind die Kommunisten dennoch in beiden Ländern Gegenstand der Berichterstattung. Der bayerische Landesverband der DKP ist personell stärker aufgestellt und entwickelt mehr Aktivität als sein brandenburgischer Ableger, wiewohl die Verfassungsschützer beider Behörden einen innerparteilichen Richtungsstreit bei den Kommunisten erkennen.



Die Verfassungsschutzberichte in Brandenburg und Bayern

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In den 1990er Jahren ist das Layout beider Berichte konventionell gestaltet. Offenbar orientierte sich die märkische Sicherheitsbehörde zunächst an den westdeutschen Publikationen; womöglich auch an der bayerischen. Über die Jahre wird die Aufmachung der Publikationen ansprechender gestaltet. Bilder und Tabellen schaffen eine professionelle Erscheinung der Berichte. Dennoch lässt die stetige Weiterentwicklung, vor allem des Brandenburger Berichtes, die vormaligen Gemeinsamkeiten im Aufbau verschwimmen. Zunächst einzigartig im Verfassungsschutzverbund war das Begleitwort der Leiterin des Brandenburgischen Inlandsnachrichtendienstes, das mit dem Bericht 2006 eingeführt und bis 2011 beibehalten wurde. Zunächst orientieren sich die einleitenden Worte ausschließlich an der Bedrohungslage, die vom Rechtsextremismus ausging. Später wird neutral über den Extremismus im Allgemeinen berichtet. Auch im bayerischen Länderbericht wird vereinzelt ein Statement des Verfassungsschutzpräsidenten abgedruckt, das beispielsweise über den Nationalsozialistischen Untergrund sowie über strukturelle Änderung innerhalb des Nachrichtendienstes informiert. Eine Analyse der Ereignisse im Berichtszeitraum, wie in der Brandenburger Publikation, ist nicht zu erkennen. In der Gesamtschau hat sich der stärkste Wandel des Brandenburger Berichtes in der Amtszeit von Winfriede Schreiber als Leiterin des Verfassungsschutzes vollzogen. Unter ihrer Leitung sind die Informationen über linksextremistische Parteien zunächst entfallen, später wurden sie wieder Teil der Berichterstattung. Überdies erfuhr das Layout und die Sprache der Textbeiträge eine Überarbeitung. Besonders sticht die essayhafte Schreibweise der Autoren hervor. Zudem bietet eine gesättigte Materialsammlung ausführliches Kartenmaterial, Diagramme und Fotos. Allen voran die Aktivitäten der NPD werden gegenwärtig verständlich für den Leser aufgearbeitet. Das Verhältnis zum Linksextremismus erscheint ambivalent. Es oszilliert zwischen Verharmlosung und notwendiger Pflichtbekundung. Während bundesweit die PDS zu Beginn der 1990er Jahre zurückhaltend bewertet wurde, entschied sich der Brandenburger Nachrichtendienst gegen eine Aufnahme der Links-Außen-Partei in seine Publikationen. Offenbar waren die hiesigen Analysten auf dem linken Auge blind. Eine klare Vorhersage, wie sich die SED-Erbin im bundesrepublikanischen System entwickeln würde, war nicht zu leisten. Die Sozialisten hätten in Potsdam als Prüffall aufgenommen werden müssen. Der bayerische Verfassungsschutzbericht hat seit der Wiedervereinigung einen weniger deutlichen Wandel erfahren. Die Münchener Ausgabe zeichnet sich im Hinblick auf die Bewertung des parteipolitischen Extremismus durch Beständigkeit aus. Die meisten Parteien, die sich zu Beginn der 1990er Jahre im dortigen Verfassungsschutzbericht wiederfanden, sind auch gegenwärtig Gegenstand der Berichterstattung. Ähnliches kann für die Auf-

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machung der Berichte gesagt werden. Was die Vergleichbarkeit verbessert, ist dennoch abträglich für die Lesbarkeit. Hauptsächlich die häufigen Wortwiederholungen stören. Dennoch ist der Übertrag von Textteilen vorangegangener Berichtsjahre ein stückweit nachvollziehbar. Sollen Responsionen vermieden werden, müssen die Textbeiträge über Bestrebungen extremistischer Parteien mit jedem Jahr neu formuliert werden. Insbesondere bei Organisationen mit wenigen oder gar keinen Aktivitäten ist die wiederkehrende sprachliche „Neuerfindung des Rades“ aufwendig. V. Bilanz der Verfassungsschutz-Berichterstattung Das Konzept der streitbaren Demokratie hat sich bewährt. Dennoch gibt es eine Vielzahl von Bestrebungen, die das wertgebundene System der Bundesrepublik beseitigen wollen. Jene Kräfte aufzuzeigen, ist die Aufgabe der Verfassungsschutzberichte. Wiewohl die Kritik an den Berichten kaum versiegen wird, sind die Publikationen der Inlandsnachrichtendienste ein probates Mittel, die Öffentlichkeit über die Gefahren für das politische System zu informieren. Lediglich das Land Hessen hat während einer rot-grünen Regierungszeit die Berichterstattung eingestellt. Hingegen hat der Stadtstaat Bremen im Jahr 2002 erstmals einen eigenen Bericht veröffentlicht. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Länderberichten können als Beleg für die Leistungsfähigkeit eines föderalistisch organisierten Verfassungsschutzes herangezogen werden. Allein ein bundeseinheitlicher Bericht würde die länderspezifischen Gegensätze des parteipolitischen Extremismus nicht angemessen analysieren. Außerdem wäre der Umfang einer solchen Darstellung nicht zweckdienlich. Er müsste die „Freien Nationalisten Hof“ oder den „Fränkischen Heimatschutz“ ebenso analysieren, wie die „Anti“Kampagnen der „Freien Kräfte Neuruppin / Osthavelland“. Wer die Verfassungsschutzberichte für Bayern und Brandenburg nebeneinander legt, kommt zu einem ambivalenten Urteil. Einerseits informieren die Publikationen ausführlich und sachkundig über demokratiefeindliche Bestrebungen. Die Münchener Verfassungsschützer stellen ihre Erkenntnisse eher konventionell dar, wohingegen der Potsdamer Bericht ab 2006 stärker dem Zeitgeist unterworfen ist. Vor allem die jährlich wechselnden Kategorien wie die essayhafte Schreibweise der märkischen Publikationen erschweren deren Vergleichbarkeit. Andererseits genügt offenbar nicht jedes Urteil über den parteiförmigen Extremismus rechtstaatlichen Prinzipien, sondern wird durch politische und juristische Rücksichtnahme konterkariert. Dies gilt insbesondere für die Bewertung des Linksextremismus im Zusammenhang mit unterschiedlichen Regierungskoalitionen in Brandenburg. Ein Missstand, der einer allseitigen Akzeptanz der Verfassungsschutzberichte entgegen steht.

Wehrhafte Demokratie von links? Otto Kirchheimer in der Weimarer Republik Von Patrick Stellbrink I. Liberalismus versus Sozialdemokratie? Die Emigrationsforschung geht von der Liberalisierung des politischen Denkens der ins Exil getriebenen deutschen Sozialdemokraten aus, die bei ihrer Rückkehr zur Verwestlichung der politischen Kultur Deutschlands beigetragen hätten.1 Insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika und im Vereinigten Königreich habe diese Verwestlichung ihren Ursprung, wo ein Großteil der für diesen Transfer relevanten Rechts- und Sozialwissenschaftler während der nationalsozialistischen Herrschaft verbleibt. Entgegen einer im Deutschland der Zwischenkriegszeit weit verbreiteten Tradition, Demokratie und Liberalismus unter Einbeziehung des Grundrechts- und Rechtsstaatsverständnisses als entgegengesetzte Pole zu betrachten, ist dem angloamerikanischen politischen Denken die Synthese beider Formen frühzeitig gelungen.2 Gleichwohl geht die Forschung wenig differenziert vor, wenn sie hierdurch impliziert, sozialdemokratische Denker hätten beide Denkströmungen vor dem 30. Januar 1933 nicht miteinander verbunden und deren Verschmelzung setze erst mit der politisch-kulturellen Erfahrung im Exil ein.3 Überdies liegt dieser Interpretation die These zugrunde, im Denken der exilierten Rechts- und Sozialwissenschaftler existiere eine tiefe Kluft zwischen der von ihnen vertretenen politischen Position vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten und hernach. Wenn am Beispiel des Rechts- und Politikwissenschaftlers Otto Kirchheimer dieser Wandel 1  Vgl. Alfons Söllner, Fluchtpunkte. Studien zur politischen Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, Baden-Baden 2006, insbes. S. 11–27; ders., Politikwissenschaften, in: Claus-Dieter Krohn u. a. (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933–1945, 2. Aufl., Darmstadt 2008, S. 836–845; Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB, München 2003. 2  Vgl. Klaus Grimmer, Demokratie und Grundrechte. Elemente zu einer Theorie des Grundgesetzes, Berlin 1980, insbes. S. 26–30. 3  Vgl. u. a. J.  Angster (Anm. 1), S. 271–351; Werner Röder, Emigration nach 1933, in: Martin Broszat / Horst Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, 2. Aufl., München 1986, S. 231–247.

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nachvollzogen wird, rührt das an einem prinzipiellen wissenschaftstheoretischen Problem, inwiefern der Einzelfall eine Theorie zu Fall bringen kann. Es ist mit diesem Beitrag demgemäß nicht intendiert, die Emigrationsforschung, wie Marx es mit Hegel getan hat, vom Kopf auf die Füße zu stellen; freilich muss sie auf einem stabilen theoretischen Fundament stehen, weshalb sie für Einzelschicksale zu sensibilisieren ist. Ferner vermisst man an ihrem wissenssoziologischen Zugang den konkreten ideengeschichtlichen Gehalt. Im Vordergrund steht das Nachvollziehen der Entstehung, Verbreitung und Verwendung wissenschaftlicher Einsicht, weniger der Inhalt dieser Erkenntnis selbst. Dass ein wissenssoziologischer Zugang zum Wandel des politischen Denkens des zu Weimarer Zeiten als Linkssozialist geltenden Kirchheimer nicht zielführend ist, zeigt die Debatte um den Linksschmittianismus;4 ein Begriff, unter den neben Kirchheimer auch Jürgen Habermas subsumiert wird. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Carl Schmitt und Kirchheimer gerät hier in den Vordergrund, wohingegen die normativen und inhaltlichen Unterschiede verschwimmen, was oftmals der Desavouierung eines politischen Denkers dient. Deshalb steht im Folgenden das Rechtsstaats- und Demokratieverständnis Kirchheimers aus ideengeschichtlicher Perspektive im Zentrum, unter besonderer Berücksichtigung des historischen und intellektuellen Diskurses, in den er interveniert. Findet die postulierte Liberalisierung seines politischen Denkens folglich erst in der Zeit der Emigration statt oder lassen sich bereits zuvor Wandlungen in dieser Hinsicht aufzeigen? Es wird die These vertreten, dass inhaltliche Gründe dafür sprechen, Kirchheimer bereits in der Weimarer Republik eine Liberalisierung seiner Auffassungen zuzugestehen. Um diese Entwicklung hervorzuheben, differenziere ich drei wesentliche Phasen im Schaffen Kirchheimers vor 1933, wenngleich der mittleren Phase lediglich ein Übergangscharakter zuzubilligen ist. Um dem Mythos der Kohärenz zu entgehen,5 ist es mithin nicht mein Anliegen, verschiedene Versatzstücke eines Denkers zu einer harmonischen Einheit zu verschmelzen; auch sollen keine Kontinuitäten losgelöst von der krisenhaften Entwicklung der politischen Zustände nachgezeichnet werden. Gerade der Blick auf die Geschehnisse in Deutschland ab 1930 zeigt, wie sich situationsbedingte Neuformulierungen politischen Denkens mit prinzipiellen Erwägun4  Vgl. neuerdings Riccardo Bavaj, Otto Kirchheimers Parlamentarismuskritik in der Weimarer Republik. Ein Fall von „Linksschmittianismus“?, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 55 (2007) 1, S. 33–51; Frank Schale, Parlamentarismus und Demokratie beim frühen Otto Kirchheimer, in: ders. / Robert Christian van Ooyen (Hrsg.), Kritische Verfassungspolitologie. Das Staatsverständnis von Otto Kirchheimer, Baden-Baden 2011, S. 141–175. 5  Vgl. Quentin Skinner, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: History and Theory, 8 (1969) 1, S. 3–53.



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gen über Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu einer Synthese verbinden, die meine Behauptung unterstreicht, wonach Kirchheimer seine Ansichten in den Jahren 1930–1933 liberalisiert, ohne aber seine sozialistischen Grundüberzeugungen gänzlich zu verleugnen. II. Demokratie oder Parlamentarismus? Kirchheimer studiert in Münster, Köln und Berlin Rechts- und Staatswissenschaften bei den Staatsrechtslehrern Rudolf Smend und Hermann Heller. Er wird 1928 bei Schmitt mit der Arbeit Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus promoviert. Dies hat ihn des Öfteren in den Verruf gebracht, ein linker Schüler der Konservativen Revolution zu sein. Und in der Tat sind die Anleihen bei Schmitt in Kirchheimers früher Schaffensphase nicht zu übersehen. In seiner Dissertation unterzieht er die liberale Demokratie einer eingehenden Kritik, die er in Anlehnung an den Austromarxisten Max Adler als politische oder formale Demokratie bezeichnet und der er die soziale Demokratie respektive die Wertdemokratie entgegensetzt.6 Dies muss zugleich als Widerspruch zu der von Hans Kelsen verfochtenen formalen Demokratietheorie gelesen werden, die nicht Wert an sich, sondern nur für sich ist, kurzum: eine bloße Methode zur friedlichen Austragung von Wertkonflikten und zur Rechtsgewinnung.7 Die formale Demokratie ist Ausdruck des von Karl Marx und Friedrich Engels angedeuteten und von Otto Bauer ausformulierten Gleichgewichts der Klassenkräfte,8 das sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland wie in Österreich eingestellt habe, „in dem die eine Klasse nicht mehr stark genug, die andere noch nicht stark genug ist, an der Ausschließlichkeit ihres politischen Systems festzuhalten“9. Zwar wird der formalen Demokratie nur Übergangscharakter attestiert, doch lässt sich daraus nicht schlussfolgern, dass sie einerseits nicht der entsprechende Ausdruck einer bestimmten geschichtlichen Phase ist und anderseits mit dem Übergang zur sozialen die Errungenschaften der politischen Demokratie wegfallen. Der Wan6  Vgl. Otto Kirchheimer, Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus, in: ders., Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung, Frankfurt  a. M. 1976, S. 32–52, hier: S. 34. 7  Vgl. Hans Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, in: ders., Verteidigung der Demokratie. Abhandlungen zur Demokratietheorie, Tübingen 2006, S. 49–228. 8  Vgl. Otto Bauer, Das Gleichgewicht der Klassenkräfte, in: Hans-Jörg Sandkühler / Rafael de la Vega (Hrsg.), Austromarxismus. Texte zu „Ideologie und Klassenkampf“, Frankfurt a. M. 1970, S. 79–97. 9  Vgl. Otto Kirchheimer, Bedeutungswandel des Parlamentarismus, in: ders. (Anm. 6), S. 58–63, hier: S. 3.

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del ist für Kirchheimer freilich nicht auf reformistischem Wege zu bewerkstelligen, den die deutsche Sozialdemokratie seit dem Revisionismusstreit beschritten hat. Die Lehre vom doppelten Fortschritt, wonach der Fortschritt der Humanität mit dem Fortschritt der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung einhergeht, muss für ihn Illusion bleiben, ebenso wie die Annahme, der Sozialismus ließe sich per parlamentarischem Gesetz einführen.10 Nicht die Einführung des Sozialismus auf dem Verwaltungsweg, sondern „unser Wollen ist es, was den Raum schafft für die Verfassung der sozialistischen Wirklichkeit“11. Dieser ihm im Nachhinein zuzuschreibende Realismus steht im auffälligen Kontrast zu den gängigen Vorstellungen innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, die sich nach den Wahlen vom September 1928 gestärkt sieht. Das von Fritz Naphtali verfochtene Konzept der Wirtschaftsdemokratie ist hierfür beredter Ausdruck,12 zeigt aber zugleich den in der Arbeiterschaft vorhandenen Optimismus, den Kirchheimer scharf geißelt. Denn bereits kurz nach der Wahl beginnt der Abmarsch der Parteien des Bürgerblocks nach rechts, wie vor allem der Ruhreisenstreit und die Wahl des Prälaten Ludwig Kaas zum Parteivorsitzenden der Zentrumspartei belegt,13 während die Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 bedrohlich ihre Schatten vorauswirft. Kirchheimers Trennung von Parlamentarismus und Demokratie mag vordergründig das Urteil rechtfertigen, er wandle auf den Bahnen Schmitts in prinzipieller Gegnerschaft zur liberalen Demokratie. Diese Entgegensetzung findet sich gleichwohl nicht nur bei den Feinden von Weimar, sondern ebenfalls bei den Befürwortern der Republik wie Hans Kelsen oder Richard Thoma. Sie dient der Verdeutlichung zweier unterschiedlicher politischer Strömungen, die in Spannung zueinander stehen. Während die Demokratie die Herrschaft der Massen repräsentiere, sei der Parlamentarismus eine bürgerliche Herrschaftsform des 19. Jahrhunderts.14 Mit der Transition zur Weimarer Republik sei ein Bedeutungs- bzw. Funktionswandel des Parlamentarismus zu konstatieren, der der geistesgeschichtlichen Lage ähnelt, wie sie Schmitt entwirft.15 Kirchheimer stellt zwar die politische Demokratisierung des Wahlrechts fest, die gesellschaftliche Demokratisierung sei hingegen ausgeblieben, was einer Verzerrung des Volkswillens aufgrund der 10  Vgl.

ders. (Anm. 6), S. 39. Das Problem der Verfassung, in: ders. (Anm. 6), S. 64–68, hier: S. 68. 12  Vgl. Fritz Naphtali (Hrsg.), Wirtschaftsdemokratie. Ihr Weg, Wesen und Ziel, Berlin 1928. 13  Vgl. Detlef Lehnert, Die Weimarer Republik. Parteienstaat und Massengesellschaft, Stuttgart 1999, S. 180–185. 14  Vgl. O. Kirchheimer (Anm. 9), S. 58 f. 15  Vgl. Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 8. Aufl., Berlin 1996. 11  Ders.,



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Herrschaft der Bourgeoisie über die Presse gleichkäme.16 Die Fähigkeit des Parlaments, durch diskursive Auseinandersetzungen richtige und wahre Entscheidungen zu treffen, setze die politische Einheit des Bürgertums voraus, die mit dem Einzug der Arbeiterklasse aufgehoben worden sei. Damit scheint die Rationalität des Parlamentarismus Makulatur.17 Schmitt dient die Gegenüberstellung lediglich zur Desavouierung der parlamentarischen Demokratie, die in der Endphase der Republik zu einem Plädoyer für die autoritäre Präsidialdiktatur gerinnt. Die normative Überhöhung des demokratischen Ideals führt dieses selbst ad absurdum. Kirchheimers Kritik geht in eine andere Richtung. Sie lebt von der Einsicht, wonach die Mehrheit im Parlament nicht mit der politischen Macht zusammenfallen muss.18 Das Festhalten an der Idee der Demokratie ist als Forderung zu verstehen, die Lücke zwischen Theorie und Praxis zu schließen. Die politische Demokratie erübrigt nicht die Demokratisierung der Gesellschaft. Es zeigt sich eine Analogie in der Methode bei Differenz der politischen Ziele. Der Begriff des Rechtsstaats und die Interpretation der Grundrechte folgen diesem Schema. Am Beispiel der Entstehung der Weimarer Reichsverfassung versucht Kirchheimer den Nachweis zu führen, sie gehe sowohl über die demokratischen Verfassungen des Westens hinaus als sie sich auch von bolschewistischen Elementen distanziere. Während in den westlichen Verfassungen liberale Freiheitsrechte dem Schutz des Individuums zur Abwehr staatlicher Eingriffe dienten, habe die Nationalversammlung in den Grundrechten ursprünglich ein verbindlich zu schaffendes Programm gesehen: „Sie definieren das sachliche Arbeitsgebiet des Staates.“19 Es handelt sich folglich nicht mehr nur um negative, den Staat ausgrenzende Rechte des Einzelnen, sondern um positive Bestimmungen. Anders ausgedrückt: Anstatt üblicherweise in den Grundrechten die Freiheit vom Staat zu erblicken, sieht Kirchheimer in ihnen einen Ansatzpunkt, Freiheit durch den Staat im Sinne einer sozialen Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu ermöglichen. Ihre Ursache hat diese Verschiebung klassischer Grundrechtsinterpretationen in der im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einsetzenden Verschränkung von Staat und Gesellschaft, die ihren Höhepunkt im Ersten Weltkrieg und der Expansion der Kriegswirtschaft findet. Nicht zuletzt die Arbeiterbewegung hat zur Lösung der aufkommenden sozialen Frage die Trennung beider Bereiche als überkommen zurückgewiesen. Liberale Grundrechtsvorstellungen basieren auf der strengen Unter16  Vgl.

O. Kirchheimer (Anm. 9), S. 61 f. ebd., S. 62. 18  Vgl. ebd. 19  Ders., Weimar – und was dann? Analyse einer Verfassung, in: ders., Politik und Verfassung, Frankfurt a. M. 1964, S. 9–56, hier: S. 31. 17  Vgl.

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scheidung der staatlichen von der privaten Sphäre; sie konstruieren einen freien Bereich für den Einzelnen, der für den Staat tabu ist. Kirchheimer bestreitet die historische Rolle liberaler Grundrechte keineswegs, die der staatlichen Willkür im Zeitalter des Absolutismus Einhalt gebietet. Doch mit der Etablierung des bürgerlichen Rechtsstaats, in dem der Staat „seinem eigenen Willen verpflichtende Vorschriften“20 gibt, sieht er diese Schutzrechte als obsolet an, weil die Rechtsordnung keine Ausnahmebehandlung mehr kenne. Überdies sei seit der Entwicklung der Massenverbände und Massenparteien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das liberale Individuum nicht mehr existent, sodass diese Art von Grundrechten zunehmend ins Leere laufe.21 An die Stelle des atomisierten und sich als autonom verstehenden Individuums, das mittels vorstaatlicher Rechte einen staatsfreien Bereich konstituiert, innerhalb dessen es schalten und walten kann, wie es ihm beliebt, tritt der vergesellschaftete Mensch, der sich durch das feste Band zwischen politischen und sozialen Freiheiten auszeichnet. Der Mensch wird nicht mehr nur in seiner Rolle als Wirtschaftsbürger oder Staatsbürger wahrgenommen, sondern in seiner Totalität. Die Weimarer Staatsrechtslehre hat die Grundrechte zunächst nicht als Beschränkung des parlamentarischen Gesetzgebers, sondern als Fixierung des Legalitätsprinzips angesehen, wonach Eingriffe des Staats nur auf der Grundlage von Gesetzen möglich sind.22 Diese Sicherungsfunktion der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung setzt einen rationalen Gesetzesbegriff voraus, der die Ununterscheidbarkeit von Verfassungs- und Parlamentsgesetz beinhaltet. Infolge des Inflationsjahres 1923 und der Debatten um die Fürstenenteignung setzt ein Funktionswandel der Grundrechte ein: Sie sollen nicht mehr nur der Kontrolle der Exekutive dienen, sondern auch dem Schutz vor der Legislative. Auf diesen Wandel hebt Kirchheimer ab, wenn er vom Funktionswandel des Legalitätsprinzips spricht.23 Soziale Grundrechte, wie er sie favorisiert, sollen als normativer, von der staatlichen Rechtsordnung ausgehender Ansatzpunkt gesellschaftlicher Demokratisierung dienen. Aus diesem Blickwinkel wird die Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie verständlich. Warum er allerdings liberale gegen soziale Grundrechte ausspielt, ist nicht ersichtlich, kommt er doch gleichfalls zu dem Schluss, dass die soziale Demokratie die politische nicht abschafft, sondern sie – hegelianisch gesprochen – dialektisch aufhebt.24 Kirchheimer muss freilich das 20  Georg Jellinek, Die rechtliche Natur der Staatenverträge, Wien 1880, S. 6, Herv.  i. O. 21  Vgl. O. Kirchheimer (Anm. 19), S. 33. 22  Vgl. Christoph Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, Tübingen 1997, S. 275 f. 23  Vgl. Otto Kirchheimer, Legalität und Legitimität, in: ders., Politische Herrschaft. Fünf Beiträge zur Lehre vom Staat, Frankfurt a. M. 1967, S. 7–29, hier: S. 9. 24  Vgl. ebd., S. 12.



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Scheitern der Weimarer Reichsverfassung eingestehen, weil sie sich nicht klar genug vom bürgerlichen Rechtsstaat abhebe. Sie sei in Anlehnung an Schmitt eine Verfassung ohne Entscheidung.25 Die in der Verfassung enthaltenen Grundrechte stellen aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft keinen Kompromiss dar, sondern ein zusammenhangsloses Nebeneinander unterschiedlicher Wertsysteme.26 Der Rechtsstaat soll Ausdruck dieses herrschenden Klassengleichgewichts sein. Er hat für Kirchheimer lediglich einen Übergangswert, obschon „die Arbeitnehmer dort, wo ihnen bisher jeglicher Einfluß versagt war, die Einführung rechtsstaatlicher Formen als Fortschritt begrüßen“27. Er attestiert ihm als Ausfluss des Liberalismus keinen politischen Eigengehalt; die Verrechtlichung politischer Entscheidungen diene allein der Rechtssicherheit für den sich entwickelnden Kapitalismus. Der Funktionswandel betrifft aber nicht nur den Parlamentarismus, sondern auch den Rechtsstaat.28 Das rechtsstaatliche Prinzip „als Grenzscheide zweier kämpfenden Gruppen […], die beide weit davon entfernt sind, in ihm das endgültige Gesetz der Machtverteilung zu empfinden“29, stehe heutigentags zwischen dem Proletariat und dem Bürgertum. Es solle der Lösung von sozialen und politischen Machtfragen durch das Recht dienen. Mit Schmitt ist sich Kirchheimer darin einig, dass der rechtlichen Norm die Entscheidung für eine politisch-soziale Ordnung zwingend vorausgeht. In einer ersten Phase, die von seiner Dissertation bis in das Jahr 1930 reicht, ist der Einfluss Schmitts auf das politische Denken von Kirchheimer offenkundig. Insbesondere in der methodischen Vorgehensweise sind Überschneidungen vorhanden, weniger bis gar nicht in den politischen Zielsetzungen. Wenn der Vorwurf des Linksschmittianismus ertönt, wird auf diesen Umstand zumeist wenig Rücksicht genommen. Der Formalismus verwischt die inhaltlichen Unterschiede – ein tiefsitzendes Ärgernis in der Debatte um das Verhältnis der Linken zu Schmitt. Die Frage, die sich stellt, lautet, inwiefern diese methodische Nähe zu Schmitt es bereits rechtfertigt, Kirchheimer als prinzipiellen Gegner der parlamentarischen Demokratie zu begreifen. In der Entgegensetzung von politischer und sozialer Demokratie ist nämlich nicht die Absage an die parlamentarische Demokratie per se enthalten, sondern nur die Problematisierung der Mehrheitsherrschaft in einer sozial heterogenen Gesellschaft. Laut Kirchheimer geht die politische Demokratie in einer sozialistischen Gesellschaft in der sozialen Demokratie 25  Vgl.

ders. (Anm. 19), S. 52–56. ders., Verfassungswirklichkeit und politische Zukunft der Arbeiterklasse, in: ders. (Anm. 6), S. 69‑76, hier: S. 72. 27  Ders. (Anm. 19), S. 46. 28  Vgl. ders. (Anm. 6), S. 37. 29  Ders. (Anm. 9), S. 63. 26  Vgl.

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auf, schafft sie aber keinesfalls ab respektive kann sie überhaupt erst verwirklichen. An ebendiesem Punkt zeigen sich die Unterschiede zu seiner späteren Entwicklung. III. Ambivalente Zeiten Der Übergang zur zweiten Phase des politischen Denkens Kirchheimers in der Weimarer Republik ist nicht leicht als fixes Datum festzuschreiben. Bereits vor der Demission des Kabinetts Hermann Müller 1930 zweifelt er, ob die Weimarer Demokratie die von ihr in den Reihen der Sozialdemokratie geweckten Erwartungen würde realisieren können. Deshalb neigt er dazu, die Unentschiedenheit der Verfassung zu betonen. Der SPD rät er dementsprechend, sich nicht allzu lange in ihr einzurichten, da die bürgerliche Regression der Verfassung bereits mit ihrer Verabschiedung begonnen habe. Spätestens mit dem Übergang von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialsystem wird die demokratische Rechtsordnung selbst zum Orientierungspunkt für Kirchheimer. Legitimität ergibt sich fortan allein aus der Verfassung als Hort der Legalität. Angesichts der vorherigen Kritik an der Reichsverfassung und des von Schmitt entlehnten dezisionistischen Habitus ist der Kontrast deutlich zu erkennen. Bei dieser mit der Regierungszeit Brünings zusammenfallenden Periode handelt es sich um eine Übergangsphase, in der sich neue mit alten Ideen verbinden. Nach 1930 werden wesentliche Punkte seiner vorherigen Analysen zurückgenommen, ohne aber die zum Kern seines Denkens erkorene Frage gänzlich fallen zu lassen, inwieweit die parlamentarische Demokratie der von der Sozialdemokratie anvisierten sozialistischen Gesellschaft dienlich ist. Der ambivalente Charakter der einsetzenden Neuorientierung zeigt sich in der Gegenüberstellung seiner Schriften aus dem Jahr 1930. In Weimar – und was dann? findet sich sowohl die typische Entgegensetzung von Demokratie und liberalen Grundrechten als auch die Kritik der politischen Demokratie vor dem Hintergrund des Ideals einer sozialen. „Nur wenn man die soziale Homogenität, die das Prinzip der sachlichen Wertgemeinschaft der Demokratie in unserer heutigen Zeit darstellt, berücksichtigt, ist das Majoritätsprinzip verständlich.“30 In seinem Beitrag zum Verfassungstag am 11. August 1930 zeigt sich eine deutliche Differenz. Hintergrund dieser Schrift ist der Tolerierungskurs der Sozialdemokratie und die sukzessive Ausschaltung des Parlaments. Mit Blick auf die Expansion der Notverordnungen in Relation zu den durch den Reichstag verabschiedeten Gesetzen wird deutlich, weshalb Kirchheimer von der Aufhebung der Legalität sprechen muss. Sind es 1930 noch 98 parlamentarische Gesetze im Verhältnis zu 5 Notver30  Ders.

(Anm. 19), S. 17 f.



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ordnungen, so hat sich der Sachverhalt bis 1932 nahezu umgekehrt, nämlich auf 5 zu 66.31 Folglich fällt seine Kritik am Kurs der SPD heftig aus, doch lässt sich eine gewisse Romantik in der Beschreibung der politischen und gesellschaftlichen Zustände der Goldenen Zwanziger ablesen. Kirchheimer sieht die Abkehr des Bürgertums von der demokratischen Verfassung mit dem Antritt Heinrich Brünings als gegeben an, auch wenn die Sozialdemokratie an eine Rückkehr zu einer „bürgerlich-proletarischen Arbeitsgemein­ schaft“32 glauben will. Solange sich Bürgertum und sozialdemokratische Arbeiterbewegung zusammenfänden, existiere „wenigstens ein Stück Demo­ kratie“33. Nicht nur der Kompromisscharakter der parlamentarischen Demokratie ist nunmehr obsolet, sondern auch die Abhängigkeit und Kontrolle der Regierung vom Parlament. Angesichts dieser Entwicklung hält Kirchheimer fest, die Weimarer Demokratie auch gegen die bürgerliche Klasse zu verteidigen. „Die Sozialdemokratie […] wird ihren Anhängern gegenüber auch keinen Zweifel darüber aufkommen lassen dürfen, daß die Zeit der Kompromisse vorüber ist und die Zeit der staatserhaltenden Selbsterhaltung begonnen hat.“34 Dass mithilfe des Art. 48 Abs. 2 WRV nunmehr unter Ausschaltung des Parlaments regiert wird, muss Kirchheimer als Bestätigung der antidemokratischen Gesinnung der bürgerlichen Parteien der Weimarer Koalition (Zentrum und DDP) wahrnehmen. Er leitet daraus die Relativität der Institution des Parlaments für die bürgerliche Klasse ab. Je mehr vonseiten des Bürgertums des Parlaments nicht mehr bedurft wird, desto deutlicher macht er sich zu dessen Anwalt. Die spezielle Ermächtigung des Art. 48 Abs. 2 WRV hebt zwar die Legalität nicht auf, solange die darin enthaltenen Grenzen nicht überschritten werden. Sobald aber der Maßnahmecharakter abgestreift und die Notverordnung zu einer dauerhaften Einrichtung wird, lässt sich der traditionelle Legalitätsbegriff nicht mehr hierauf anwenden.35 Die vermeintliche Legitimität des Reichspräsidenten muss die Legalität des demokratischen Gesetzgebungsstaats verdrängen, kann folglich keineswegs als kommissarische Diktatur zur Wiederherstellung ordentlicher Verfassungszustände herhalten.36 Kirchheimer sieht in dem autoritären Notverordnungsre31  Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Bd.: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914– 1949, 3. Aufl., München 2008, S. 519. 32  Otto Kirchheimer, Artikel 48 und die Wandlungen des Verfassungssystems. Auch ein Beitrag zum Verfassungstag, in: ders. (Anm. 6), S. 91–95, hier: S. 91. 33  Ebd., S. 93. 34  Ebd., S. 95. 35  Vgl. ders. (Anm. 23), S. 11. 36  Vgl. Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 7. Aufl., Berlin 2006.

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gime Paul von Hindenburgs die Gefahren einer Verselbstständigung der Diktatur, deren Genese nach der Einsetzung Adolf Hitlers als Reichskanzler in Fortentwicklung von Marxens Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte in den Reihen der deutschsprachigen Sozialdemokratie unter dem Stichwort des Bonapartismus bekannt wird.37 Die Annahme, wonach sich die bürgerliche Klasse der Massenbasis des Nationalsozialismus bedient, indem sie ihm die politische Herrschaft überlässt, um ihre soziale Herrschaft zu erhalten, scheint für die politische Linke angesichts der Entwicklungen zu Beginn der 1930er Jahre naheliegend. Kirchheimer nähert sich fürderhin einem positivistischen Verständnis des Rechts an. Die Weimarer Reichsverfassung habe den Rechtsstaat erfüllt und entleert, indem sie zum einen vorhandene rechtliche Lücken geschlossen habe und zum anderen aber der Voraussetzung des bürgerlichen Rechtsstaats – die Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft – verlustig gegangen sei.38 Der Rechtsstaat ist für ihn in dieser Phase rein formeller Natur, insofern staatliches Handeln auf Gesetzen beruht; er hat kein politisches Formprinzip, sondern ist nur Bewahrer bestehender Gesellschaftsordnungen. Die Enteignung kann Kirchheimer zufolge dem Rechtsstaatsprinzip nicht entgegenstehen, solange sie auf dem Weg des parlamentarisch beschlossenen Gesetzes erfolgt. Indem das Reichsgericht den Rechtsstaatsbegriff jedoch materialisiert, nahezu jeden staatlichen Akt, der in die private Rechtssphäre eingreift, automatisch als Enteignung deklariert, wird jeder Form von So­ zialstaatlichkeit und Umverteilung eine Absage erteilt sowie dem sich im Parlament niederschlagenden Volkswillen die Gefolgschaft verweigert. Kirchheimer erkennt in der richterlichen Kontrolle der gesamten Staatstätigkeit eine antiparlamentarische Stoßrichtung. „Es wird dem Staat generell verboten […], Zielsetzungen politischer Art zu verfolgen, sofern sie den gegenwärtigen Besitzstand der sozialen Gruppen zugunsten der einen oder der anderen verändern könnten.“39 Eine gewisse Ehrenbezeugung gegenüber den Sicherungen und Möglichkeiten des formellen Rechtsstaats lässt sich nun nicht mehr leugnen, vergleicht man sie mit den voluntaristischen Stellungnahmen Kirchheimers aus seiner Dissertation. Die Arbeiterbewegung könne sich der durch die bürgerliche Gesellschaft garantierte Rationalität des Gesetzes zunutze machen; diese sei freilich eng an die Formalität des Rechts gebunden. Die Materialisierung des Rechts im Namen subjektiver 37  Vgl. etwa Otto Bauer, Demokratie und Sozialismus, in: H. Sandkühler / R. de la Vega (Anm. 8), S. 98–119, hier: S. 102–105; übergreifend Richard Saage, Faschismus. Konzeptionen und historische Kontexte. Eine Einführung, Wiesbaden 2007, insbes. S. 64–73. 38  Vgl. Otto Kirchheimer, Reichsgericht und Enteignung. Reichsverfassungswidrigkeit des Preußischen Fluchtliniengesetztes?, in: ders. (Anm. 6), S. 77–90, hier: S. 80. 39  Ebd., S. 83.



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Werte sei demzufolge als Einbruch in das Vernunftrecht zu deuten, die nicht erst mit der technischen Rationalität im Nationalsozialismus einsetze.40 Eng daran gekoppelt ist sein Verständnis von der Überordnung der Legislative hinsichtlich aller übrigen staatlichen Gewalten. Hierbei folgt er der französischen Tradition des Parlamentarismus, die qua Vergegenwärtigung der Nation im politischen Körper des Parlaments seit der Französischen Revolution alle Gewalten als von der Legislative abgeleitet begreift.41 Rechtsstaatlichkeit heißt in diesem Kontext Gesetzesmäßigkeit der Verwaltung, nicht Beschränkung des Gesetzgebers qua naturrechtlicher Spekulation. IV. Die Schlinge zieht sich zu Während die Führung der SPD bis in den Januar 1933 hinein die Hauptaufgabe in der Verteidigung der Verfassung sieht, ziehen jüngere Politiker und Intellektuelle diesen Kurs zunehmend in Zweifel.42 Der Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff betrachtet den Kampf für ein Staatswesen, welches nicht mehr dasjenige der Arbeiterbewegung ist, als zum Scheitern verurteilt: „Nicht der Buchstabe von Weimar ist unser Kampf, sondern eine arbeitsfähige Demokratie.“43 Auch Hermann Heller nimmt für die Notwendigkeit einer Reform der Verfassung Partei, in der er die „autoritäre Überordnung des Staates über die Gesellschaft, namentlich über die Wirtschaft“44, propagiert. Andere, wie der zeitweilige Direktor der Deutschen Hochschule für Politik, Hans Simons, plädieren für die Einrichtung einer zweiten Kammer und finden sich dabei in Übereinstimmung mit den Befürwortern eines berufsständischen Parlaments.45 Mit dieser Idee eines mittelalterlich anmutenden Ständestaats wird innerhalb der Rechten um Franz von Papen und dessen Innenminister Wilhelm von Gayl geliebäugelt.46 Die mitunter be40  Vgl. ders., Die Rechtsordnung des Nationalsozialismus, in: ders., Funktionen des Staates und der Verfassung. 10 Analysen, Frankfurt a. M. 1972, S. 115–142. 41  Vgl. Philip Manow, Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Frankfurt a. M., insbes. S. 57–119. 42  Vgl. Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930–1933, Berlin / Bonn 1987, S. 802–809. 43  Carlo Mierendorff, Die Republik von morgen, in: Sozialistische Monatshefte vom 19. September 1932, S. 738–744, hier: S. 744. 44  Hermann Heller, Ziele und Grenzen einer deutschen Verfassungsreform, in: Neue Blätter für den Sozialismus, 3 (1932) 11, S. 576–580, hier: S. 576. 45  Vgl. Hans Simons, Verfassungsreform! Wie soll sie aussehen?, in: Neue Blätter für den Sozialismus, 3 (1932) 11, S. 580–588. 46  Vgl. Eberhard Kolb / Wolfram Pyta, Die Staatsnotstandsplanung unter den Regierungen Papen und Schleicher, in: Heinrich August Winkler (Hrsg.), Die deutsche Staatskrise 1930–1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 155–181.

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kanntesten Vorschläge kommen von Ernst Fraenkel: „Solange eine Mehrheit grundsätzlich staatsfeindlicher, in sich uneiniger Parteien im Parlament besteht, kann ein Präsident, wie immer er auch heißen mag, gar nichts anderes tun, als den rein destruktiven Beschlüssen dieses Parlaments auszuweichen.“47 Dementsprechend sieht er die Notwendigkeit, das Misstrauensvotum gegen den Reichskanzler mit der gleichzeitigen Präsentation eines von der Mehrheit des Parlaments getragenen Ersatzes zu verbinden. So berechtigt diese Analyse im Kern sein mag, sie vernachlässigt doch das innere Bestreben der alten Eliten in Militär, Wirtschaft, Bürokratie und im Kreis um den Reichspräsidenten, das Parlament und die Parteien sukzessive auszuschalten.48 Keineswegs wird Hindenburg passiv in diese Rolle gedrängt, nimmt sie widerwillig und nur zur Wiederherstellung parlamentarischer Arbeitsfähigkeit an. Zwar erkennen die genannten Autoren einerseits die Schwäche des Parlamentarismus, insbesondere die Dualität der Exekutive und die Existenz eines destruktiven Misstrauensvotums, doch wie soll ein Kompromiss in einem durch die bürgerkriegsähnlichen Zustände seit 1930 zerrissenen Volk möglich sein, wenn seine Repräsentanten dazu selbst nicht in der Lage sind? Eine Stärkung des parlamentarischen Systems kann der Appell ans Volk, den sie erhoffen, nicht bewirken. Andererseits laufen die Vorschläge von Mierrendorf, Heller, Simons und Fraenkel auf eine Stärkung der Exekutive zuungunsten des Reichstags hinaus. Es geht ihnen vorrangig darum, die Stabilität und Entscheidungsfähigkeit der Regierung zu stärken, anstatt die sozialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen des Parlamentarismus zu schaffen. Solange der Ablauf geordneter Regierungspraxis gewahrt bleibt, sind sie bereit, das Verhältnis von Legislative und Exekutive zulasten des Parlaments neu zu bestimmen.49 Im Gegensatz zu Reformvorschlägen, die lediglich einige Verfassungsartikel anbelangen, bekräftigt Kirchheimer die Unabdingbarkeit gesellschaftlicher Reformen. Er warnt davor, die innenwie außenpolitische Krise der Republik einzig und allein der Verfassung anzulasten. Das äußert sich vor allem im Beharren auf die Grenzen möglicher Verfassungsreformen.50 Die Umgehung des Parlaments, die auch sozi47  Ernst Fraenkel, Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1: Recht und Politik in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1999, S. 516–529, hier: S. 518. 48  Vgl. Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, 5. Aufl., Düsseldorf 1978; ferner H. Wehler (Anm. 31), S. 588–593. 49  Vgl. Stefan Vogt, Nationaler Sozialismus und Soziale Demokratie. Die sozialdemokratische Junge Rechte 1918–1945, Bonn 2006, insbes. S. 296–310. 50  Vgl. Otto Kirchheimer, Die Verfassungsreform, in: ders. (Anm. 6), S. 96–113, hier: S. 101.



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aldemokratischen Vorschlägen zugrunde liegt, wird mit Vehemenz verworfen. Die Verfassung besitze keinen intrinsischen Wert, der losgelöst von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen existiere. „Denn letztlich sind nicht die Revolutionen Geschöpfe der Verfassung, sondern die Verfassungen meist das Denkmal einer gelungenen Revolution.“51 Spätestens mit der Absetzung der sozialdemokratischen (geschäftsführenden) Regierung in Preußen wird Kirchheimer zum unbestrittenen Verteidiger parlamentarischer Demokratie. Das zeigt sich in der Entgegnung auf Reformvorschläge, die beispielsweise auf die Errichtung der Präsidialkabinette abzielen. Ohne Zweifel hat der Übergang von der parlamentarischen Demokratie zur Präsidialherrschaft qua Kompetenzverlagerung einen negativen Einfluss auf die demokratische Legitimität der Regierung zur Folge, weswegen Kirchheimer es ablehnen muss, das blockierte Parlament durch eine plebiszitäre Demokratie des Reichspräsidenten zu umgehen. „Eine Präsi­ dialdemokratie bleibt nur in einem sozial weitgehend homogenen Land Demokratie; in den deutschen Verhältnissen würde sie zur Diktatur eines Mannes oder einer Schicht über politische und soziale Gegner ausarten.“52 Neu an dieser Formulierung ist die Akzeptanz parlamentarischer Demokratie für heterogene Gesellschaften. Zudem insistiert er darauf, dass der Reichspräsident den Weg zur autoritären Präsidialdiktatur bewusst einschlägt, eine Rückkehr zur normalen Verfassungslage nicht intendiert ist. Je schärfer die Krise ihren Niederschlag in der politischen Landschaft findet, desto deutlicher wird die Distanz Kirchheimers zu Schmitt. Obendrein ist diese Entfremdung als Ausweis der zwar zögerlichen, doch nicht minder aufrichtigen Hinwendung zu liberaler Demokratie und Rechtsstaatlichkeit anzusehen. Der Grundsatz, wonach Demokratie im Wesentlichen auf substanzieller respektive sozialer Homogenität beruht, wird nunmehr endgültig aufgegeben, weil „die Behauptung Carl Schmitts von der Unmöglichkeit der Demokratie in einer heterogenen Gesellschaft nicht hinreichend begründet“53 sei. Die Gleichheit allein könne weder die Demokratie noch die für sie charakteristische Mehrheitsherrschaft rechtfertigen. In bemerkenswerter Annäherung an die formale Demokratietheorie Kelsens, in der sich „die durchaus negative und tief innerst antiheroische Idee der Gleichheit in den Dienst der ebenso negativen Forderung der Freiheit“54 stellt, sieht Kirchheimer nunmehr erst in der Synthese von Freiheit und Gleichheit die Demokratie als gerechtfertigt an, verstanden als jeweilige Übereinstim51  Ders.,

Verfassungsreform und Sozialdemokratie, in: ders. (Anm. 40), S. 79–99. (Anm. 50), S. 101. 53  Ders., Bemerkungen zu Carl Schmitts „Legalität und Legitimität“, in: ders. (Anm. 6), S. 114–151, hier: S. 22. 54  H. Kelsen (Anm. 7), S. 154, Herv. i. O. 52  Ders.

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mung des ungehinderten Subjektwillens mit dem Staatswillen.55 Das Verhältnis von Homogenität und Heterogenität in der Definition der Demokratie unterliegt einem deutlichen Wandel. Kirchheimer gesteht Sonderinteressen nunmehr eine Existenzberechtigung zu, wenn er auch die Zunahme an Freiheit betont, die mit einem geringeren Maß einhergeht. Dies folgt aus seiner Bestimmung der Demokratie als Verbindung von Freiheit und Gleichheit, wonach nicht alle frei sein können, so doch möglichst viele frei sein sollen. „Eine völlige Aufhebung der Meinungsverschiedenheiten ist jedoch nur als Utopie denkbar, weil hier die Aufhebung des Tatbestands der Individualität impliziert wäre.“56 Gerade weil das Faktum der Heterogenität gegeben ist, nötigt es die Demokratie zur maximalen Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit. Hierdurch ergibt sich die größtmögliche Annäherung an das Prinzip der gleichen Chance; jedem Einzelnen muss die Möglichkeit gewährt werden, sich mit seinem Willen in Übereinstimmung mit dem Staatswillen zu befinden. Das Prinzip der gleichen Chance ist das Junktim von Freiheit und Gleichheit im Denken Kirchheimers. „Obgleich sie [die Demokratie] die Utopie einer völligen Realisierung der ‚gleichen Chance‘ […] nicht verwirklichen kann, ist sie die einzige Staatsform, die eine institutionelle Garantie eines noch so einschneidenden Machtwechsels bei völliger Kontinuität der Rechtsordnung vorsieht.“57 Seine Deutung von Rechtsstaatlichkeit und der damit in Verbindung stehenden Freiheitsrechte lässt sich in dieser letzten Phase näher bestimmen. Sie erfahren eine Konkretisierung und Materialisierung. Kirchheimer differenziert in Folge dessen zwischen der Freiheit im Staat (politische Freiheit) und der Freiheit vom Staat (individuelle Freiheit). Letztgenannte unterteilt er wiederum in die staatsbürgerliche Freiheit, die der politischen Willensbildung dient und Presse-, Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit umfasst, und in Rechte der privaten Freiheitssphäre, worunter er Religions- und vor allem Eigentumsfreiheit fasst. Kirchheimer bricht hier den klassischen Kanon liberaler Grundrechte auf, um die Differenz zum Eigentumsrecht deutlich zu machen und die Staatsbürgerrechte wie die politischen Rechte als Voraussetzung politischer wie sozialer Demokratie zu rechtfertigen.58 Der radikale Kritiker der bürgerlichen Demokratie vor 1930 entpuppt sich hernach als ihr energischster Bewahrer. Kirchheimer teilt die Schmitt’sche Unterscheidung von Verfassung und Verfassungsgesetz, die nach 1945 in die Konzeption streitbarer Demokratie eingeflossen ist, wendet sie aber demokratietheoretisch. Die Verfassung als Entscheidung für Freiheit und 55  Vgl.

O. Kirchheimer (Anm. 53), S. 114. S. 117. 57  Ebd., S. 142, Herv. i. O. 58  Vgl. ebd., S. 114 f. 56  Ebd.,



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Gleichheit kann nur insofern verändert werden, wie es der „Geist der Verfassung“, nämlich die gleiche Freiheit für alle bei der politischen Willensbildung zu gewährleisten, zulässt. Veränderungen auf der Grundlage von Art. 76 WRV seien allein dann legitim, wenn „ein Minimum der Realisierung des Freiheits- und Gleichheitsprinzips gewahrt bleibt“59. Bestimmte Normen müssen als unabänderlich gelten, nämlich die politischen Freiheitsrechte und die zugehörigen staatsbürgerlichen Rechte, die „ein ‚relativistisches Heiligtum‘ bilde[n], [deren] Zerstörung die Demokratie selbst vernichtet“60. Der Selbstpreisgabe der Demokratie, „nach dem die Aufhebung der politischen Freiheit sich demokratisch begründen lasse, widerspricht die […] Bestimmung der Freiheit als einer unveräußerlichen institutionellen Chance, seinen Willen mit dem des Staates in Einklang zu setzen – der Freiheit und Gleichheit also als jeweiliger Freiheit und Gleichheit“61. Die Demokratie lässt sich folglich nicht auf demokratischem Wege abschaffen, weil sich die Individuen ihre Freiheit und Gleichheit als „Gleichfreiheit“62 gegenseitig gewähren, ergo kann die Mehrheit von morgen nicht ihrer politischen Freiheiten durch die Majorität von gestern beraubt werden. Die Verteidigung der Demokratie lässt sich mit demokratischen Mitteln führen und entgeht somit dem von Kelsen aufgestellten Paradox, demgemäß derjenige, der für die Demokratie ist, „sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken und zur Diktatur greifen [darf], um die Demokratie zu retten“63. Indem Kirchheimer die Uneingeschränktheit des Volkssouveränitätsprinzips im Namen von Freiheit und Gleichheit betont, weicht er einerseits dem Fatalismus Kelsens aus und entgeht andererseits der Hermeneutik des Verdachts, die in der Betonung der Volkssouveränität stets das Totalitäre zu sehen glaubt.64 Das Volk als Staatsorgan besitzt nicht die Rechte, die das Volk als pouvoir constituant innehat. Das Demokratieprinzip kann somit nicht auf demokratischem Weg abgeschafft werden, weil das Volk als Staatsorgan nicht über das Volk der Volkssouveränität bestimmen kann, von dem es selbst abgeleitet ist. Gleichermaßen muss Kirchheimer das Schmittsche, an Rousseau angelehnte, dieses aber bewusst karikierende Demokratieverständnis zurückweisen, das die Verdrängung der Legalität zugunsten der Legitimität eines akklamierenden Volkes und eines demokratisch gewählten Diktators verspricht. Hierbei handelt es sich aus der Sicht des 59  Ebd.,

S. 133. S. 134. 61  Ebd., S. 133, Herv. i. O. 62  Vgl. Étienne Balibar, Gleichfreiheit. Politische Essays, Berlin 2012. 63  Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, in: ders. (Anm. 7), S. 229–237, hier: S. 237. 64  Vgl. etwa Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie I, Göttingen 2013, insbes. S. 86–103. 60  Ebd.,

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Pluralisten Kirchheimer nicht mehr um Demokratie, weil diese zwar nicht logisch zwingend an die Existenz eines Parlaments, wohl aber aufgrund der Heterogenität der Gesellschaft an eine Vielzahl von Repräsentanten gebunden bleibt.65 V. Das Paradox der Demokratie – ein gordischer Knoten? Wenn eine rechtstaatliche Demokratie einer gelungenen Verbindung zwischen den Elementen von Freiheit und Gleichheit entspricht, so lässt sich Kirchheimer als deren Verteidiger gegen die autoritäre Umwandlung der Weimarer Republik begreifen. Im Rückblick auf die erste deutsche Demokratie wird eine differenzierte Bewertung der Endphase deutlich. Während die Regierung Brüning die Demokratie abschafft, aber den Rechtsstaat weitgehend aufrechterhält, lassen die Regierungen seit Papen diesen letzten Anker fallen. Deshalb kommt es zu Beginn der 1930er Jahre bei Kirchheimer zunächst zu einer Verteidigung der Demokratie vor 1930, um ab 1932 in seine Verteidigung auch die rechtsstaatliche Komponente einzubeziehen. Die Demokratie lässt sich Kirchheimer fortschreibend nicht demokratisch aufheben, weil dies den notwendigen Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit verkennt. Die Souveränität des Volkes kann sich mitnichten gegen dieses selbst wenden; sie dient als Schutzmechanismus gegen den sich ab 1930 verselbstständigen Staatsapparat, der den Boden für den Nationalsozialismus legt. Hitler wird nicht zum Reichskanzler gewählt, er wird vonseiten der Exekutive eingesetzt. Folglich sind die Staatsapparate streng an die Verfassung zu binden, nicht aber das Volk: „Es wäre lächerlich anzunehmen, die Nation binde sich selbst durch die Regeln oder die Verfassung, die sie ihren Beauftragten gibt.“66 Die Demokratie will Kirchheimer folglich gegen ihre eigenen Repräsentanten verteidigen, die sich anschicken, die Entscheidung des Volkes für Gleichheit und Freiheit zu unterlaufen. Phasenübergreifend ist das Offenlegen der Spannung, die zwischen den Normen der Verfassung und der politischen und sozialen Wirklichkeit klafft. Im Widerspruch zu Schmitt, der diese Vorgehensweise dazu nutzt, die demokratische und rechtsstaatliche Verfassung Weimars in die Aporie zu führen, indem er das Ideal parlamentarischer Demokratie angesichts ihrer unzureichenden Realisierung der Lächerlichkeit preisgibt, ist es Kirchheimers Bestreben, die Wirklichkeit dem Ideal anzunähern. „[M]an kann die 65  Vgl.

O. Kirchheimer (Anm. 53), S. 149. Joseph Sieyés, Was ist der Dritte Stand?, in: ders., Politische Schriften 1788–1790, 2.  Aufl., München 1981, S. 117–195, hier: S. 167; hierzu Ingeborg Maus, Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011, insbes. S. 44–61. 66  Emmanuel



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Legalordnung jeweils den tatsächlichen Machtverhältnissen anpassen, man kann aber die Machtverhältnisse auch so umzugestalten versuchen, daß eine sinnvolle Ausfüllung der Legalordnung möglich ist.“67 Spiegelt sich in den Schriften bis 1930 noch der Unmut über die Weimarer Rechtsordnung wider, die einer bewussten Entscheidung für den Sozialismus ausgewichen ist, so wird für Kirchheimer in den letzten Tagen der Republik eines mehr als deutlich: Die Veränderung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sei die notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der Verfassung. Nicht die Norm habe sich der Realität zu beugen, sondern die Wirklichkeit dem Recht. Das diene sowohl der Rechtssicherheit, die auch für die Arbeiterbewegung angesichts des aufziehenden Faschismus einen nicht zu unterschätzenden Schutz gewährleiste, als auch der Allgemeinheit und Gültigkeit von Verfassungsnormen, die andernfalls zum Spielball gesellschaftlicher Kräfte würden. Ohne die Bedingungen von Gesellschaft zu verändern – das ist die Erkenntnis Kirchheimers angesichts der Demontage der ersten deutschen Demokratie durch wirtschaftliche und politische Eliten –, ist weder Demokratie noch Rechtsstaatlichkeit dauerhaft möglich. Die Verteidigung der Errungenschaften liberaler Demokratie kann für ihn nur auf dem Boden einer sozialistischen Gesellschaft gelingen. Bereits in der ersten untersuchten Phase wurde bestritten, dass das Verhältnis zur bürgerlichen Demokratie ein rein instrumentelles ist, nur als Mittel zum Zweck, wenn das heißen würde, die Erreichung des Zwecks impliziere die Aufhebung des Mittels. Die Rechtfertigung der Demokratie erfolgt ab 1932 deutlicher sowohl intrinsisch als Verwirklichung der Prinzipien von Freiheit und Gleichheit als auch „mittelbar ‚instrumentalʻ “68 im Hinblick auf die Werteverwirklichung des Sozialismus. Der Vorwurf des Linksschmittianismus vor 1930 bzw. 1932 lässt sich hingegen kaum rechtfertigen, sind doch die politischen Intentionen gänzlich andere. Begriffe sind keine überzeitlichen Ideen, sondern durch ihren Kontext determiniert. Das Ziel sozialer Demokratie wird nicht zugunsten formaler Demokratie aufgehoben, sondern vorübergehend unter dem Eindruck der Zerstörung der demokratischen Rechtsordnung beiseitegeschoben. Hierzu muss Kirchheimer einerseits die Unabdingbarkeit der politischen für die soziale Demokratie deutlicher machen und andererseits die Unaufhebbarkeit von Heterogenität in der bestehenden Gesellschaft eingestehen, deren modus vivendi die parlamentarisch-rechtsstaatliche Demokratie ist. Ist die Weimarer Republik noch ausgezeichnet durch die Diskrepanz zwischen ihrer Verfassungsordnung und den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, kurzum: zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit, führt das 67  Ders.

68  Ders.

(Anm. 51), S. 84. (Anm. 53), S. 119.

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Prinzip technischer Rationalität im Nationalsozialismus zur Überwindung dieser Kluft. Was von einer demokratischen Verfassung aus positiv zu bewerten ist, führt im Führerstaat zum Niedergang des Rechts als ein reines Herrschaftsinstrument. Kirchheimer wird in den letzten Tagen der Republik die Heiligkeit der Rechtsidee bewusst, „weil dieses Recht zwar Klassenrecht ist, aber doch eben Klassenrecht“69. Die liberale Erkenntnis der Notwendigkeit der Unterwerfung sowohl des Individuums als auch des Staats unter das Recht kommt freilich zu spät.

69  Gustav

i. O.

Radbruch, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Heidelberg 2003, S. 174, Herv.

Mit Israel zur staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft Die Initiative Sozialistisches Forum und die antideutsche Israelsolidarität Von Rudi Bigalke I. Die Initiative Sozialistisches Forum im Kreise der Antideutschen „Ob jede Kritik am Staat Israel antisemitisch ist, kann nur mit einem glasklaren Ja beantwortet werden.“1 Diese Aussage stammt von Joachim Bruhn, führendes Mitglied der Initiative Sozialistisches Forum (ISF) aus Freiburg. Die ISF versteht sich als ein „Arbeits- und Aktionskreis unabhängiger Linkskommunisten“, der – geschult an Karl Marx, dem Rätekommunismus und der Kritischen Theorie – für die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft eintritt.2 Anhänger und Gegner schätzen bzw. charakterisieren die ISF als ideologische Avantgarde eines Spektrums der extremen Linken, das sich als antideutsch versteht.3 Die Antideutschen entstanden im Zuge der Wiedervereinigung und kämpften unter dem Ruf „Nie wieder Deutschland“ gegen die Schimäre eines „Vierten Reichs“. Während ein Großteil der Szene auf das lose Bündnis „Radikale Linke“ und die dazugehörige „Niewieder-Deutschland-Bewegung“ zurückgeht,4 gründete sich die ISF bereits 1981 in Freiburg. Zur Gründungsgruppe zählen zunächst ehemalige Mitglieder des Sozialistischen Büros (SB), das in den 1970er Jahren als das größ1  Joachim Bruhn, ‚Jede Kritik am Staat Israel ist antisemitisch‘, in: T-34 Informationen für das westliche Ruhrgebiet der AntiFa Duisburg (2003) Juli / August. 2  Vgl. ISF, ISF-Flyer, Oktober 2003, unter: www.ca-ira.net / res / isf-flyer.pdf (10. Februar 2015). 3  Der Begriff „antideutsch“ ist ein Prädikat, das die Szene während der Proteste gegen die Wiedervereinigung als Selbstzuschreibung aufgriff. Vgl. dazu den programmatischen Aufsatz: Jürgen Elsässer, Weshalb die Linke anti-deutsch sein muß, in: AK, (1990) 315, S. 32. 4  Vgl. Radikale Linke (Hrsg.), „Deutschland? Nie wieder!“ Kongreß der Radikalen Linken. Reden und Diskussionsbeiträge zum Kongreß an Pfingsten 1990 und auf der Demo „Nie wieder Deutschland“ am 2. Mai 1990 in Frankfurt am Main, Frankfurt a. M. 1990.

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te Sammelbecken für alle Arten des undogmatischen Linksextremismus zählte. Ferner schlossen sich Personenkreise um die trotzkistische Organisation Gruppe Internationaler Marxisten (GIM) und einige Mitglieder der anarchistischen Gruppe Gewaltfreie Aktion Freiburg (GAF) an.5 Die Antideutschen als eine unbedeutende Sekte innerhalb des politischen Linksextremismus zu charakterisieren, verkennt die Tatsache, dass mittlerweile nicht nur das gesamte Spektrum der „autonomen Antifa“ in ein antiimperialistisches und ein antideutsches Lager gespalten ist. Vielmehr konnten die Antideutschen innerhalb des Milieus der bürgerlich-demokratischen Mitte einen gewissen Einfluss geltend machen. So besetzt ein – gewiss der moderatere – Teil der Antideutschen mittlerweile universitäre Posten6, publiziert in Medien wie „Die Welt“7 oder wird realpolitisch über Kampagnen wie Stop the Bomb8 aktiv, ohne dass der antideutsche Hintergrund der Protagonisten hinreichend zur Kenntnis genommen wird. Die ISF konnte sich in diesem Spektrum über die Jahre als ideologische Stichwortgeberin und wichtigste Verlegerin der antideutschen Szene etablieren. Im hauseigenen ça ira-Verlag veröffentlicht und vertreibt die Initiative seit 1983 theoretisch anspruchsvolle Werke, die sich einer „Kritik der politischen Ökonomie“ im Sinne Marx verschrieben haben. Zudem gab der Freiburger Arbeitskreis Anfang der 1990er Jahre mit der kurzlebigen Zeitschrift „Kritik & Krise“ die Richtung für ein Spektrum vor, welches in der Haltung zum Staat Israel „das entscheidende Kriterium dafür [sieht], wo genau die Grenzlinie zwischen deutsch und antideutsch zu ziehen ist“9. Die ISF vertritt mit dem Periodikum „Bahamas“ die radikalsten Ansichten in der antideutschen Szene, was sich vor allem in der bedingungslosen Solidarität mit dem Staat Israel verdeutlicht. Wer die „Bahamas“ als eigentliches Flaggschiff der antideutschen Szene sieht, darf dabei nicht verkennen, welch enormen Einfluss gerade die frühzeitigen Schriften der ISF, und hier besonders die Zeitschrift „Kritik & Krise“, auf die Gruppe der „Bahamas“ hatten. Daher soll exemplarisch an den Schriften der ISF untersucht und 5  Vgl. Joachim Bruhn, Who are the Anti-Germans? Interview by Stephen Cheng, Mai 2007, unter: www.ca-ira.net / isf / beitraege / pdf / bruhn-who.are.the.anti-germans. pdf (15. Januar 2015). 6  So etwa Samuel Salzborn als Professor für Grundlagen der Sozialwissenschaften am Institut für Politikwissenschaft der Universität Göttingen. 7  Vgl. Thomas von der Osten-Sacken, Jenseits der PKK. Der Westen muss die Freie Syrische Armee mit Waffen ausrüsten, 23.10.2014, unter: www.welt.de / print /  die_welt / debatte / article133560099 / Jenseits-der-PKK.html (14. April 2015). 8  Vgl. für die Eigendarstellung der Kampagne: http://at.stopthebomb.net / de / ueberuns.html (14. April 2015). 9  Manfred Dahlmann, Antideutsche wissen es besser, in: Jungle World vom 30. November 2005, S. 19.



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aufgezeigt werden, welchen Platz der jüdische Staat im Diskurs des antideutschen Linksextremismus einnimmt. Die Besonderheit der ISF ist der postmarxistische Ansatz, aus dem die Gruppe alle weiteren Positionen und Ziele ableitet – die Wertkritik. Da der wertkritische Ansatz das theoretische Grundgerüst der Freiburger darstellt, ist ferner zu fragen, was die Wertkritik auszeichnet und wie Antisemitismus aus wertkritischer Perspektive entsteht. Durch ihre pro-zionistische Einstellung konstruieren die Antideutschen im Allgemeinen und die ISF im Besonderen eine Konfliktlinie, in der sie gegen alles opponieren, was unter das Schlagwort der „deutschen Ideologie“ gefasst werden könnte. Dazu zählen die Freiburger Materialisten nicht zuletzt ein linksextremistisches Spektrum, das durch ein antiimperialistisches Weltbild geprägt ist. Was kennzeichnet die „deutsche Ideologie“ und wie bewertet die ISF linksextreme Bestrebungen, die sich besonders durch ein antizionistisches Leitbild definieren? Welche Folgewirkungen ergeben sich insgesamt für das antideutsche Spektrum? Den Ansatz der Wertkritik darzustellen ist unabdingbare Voraussetzung dafür, die Programmatik der ISF und die Haltung zum Staat Israel zu bestimmen (Abschnitt II.). Die Herrschaft des Werts bestimmt nicht nur die ökonomischen Prozesse einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, sondern zugleich die politische Dimension. Auf dieser Grundlage leitet sich aus den Schriften der ISF ein spezielles Verständnis des Antisemitismus ab (Abschnitt III.). So zeigt sich der Hass auf die Juden nach 1945 nicht länger als rassische Komponente, sondern erscheint immer öfter im antizionistischen Gewand. So war es möglich, die „deutsche Ideologie“ auch über die Niederlage von 1945 zu retten und weiterhin an der Vernichtung der Juden zu arbeiten. Dass vor allem linksextreme Gruppen eine Gegnerschaft zum israelischen Staat einnehmen und sich dadurch als Handlanger der „deutschen Ideologie“ erweisen, würdigt die ISF mit vernichtender Kritik (Abschnitt IV.). In den letzten beiden Teilen kann aus dem Zusammenspiel von wertkritischer Antisemitismusbestimmung und der Schelte eines linken Antizionismus das Israelverständnis der ISF als wichtige Vertreterin der antideutschen Szene analysiert (Abschnitt V.), bevor abschließend die Folgewirkungen für die antideutsche Szene betrachtet werden (Abschnitt VI.). II. Grundpositionen der ISF: Die Kritik der Wertform Die ISF nimmt innerhalb der extremen Linken eine undogmatische Position ein. Sie arbeitet nicht auf der Grundlage eines als wissenschaftlich verstandenen Marxismus-Leninismus auf die kommunistische Revolution der Arbeiterklasse hin, mithin nicht auf die Errichtung eines sozialistischen Staates. Die ISF hat sich vielmehr „ein kategorisches Programm der Ab-

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schaffung“ auferlegt. Dieses folgt der materialistischen Kritik einer Gesellschaft, „in der, wie früher alle Wege nach Rom, so heute alle Wege hinein in den Staat führen“10 – in die wertverwertende Vergesellschaftung. Die Anhänger der Wertkritik sprechen von einem „doppelten Marx“. Während sie die Marxsche Geschichtsphilosophie und Klassentheorie ablehnen, offenbart sich die Kritik der Warengesellschaft als Zentrum des wertkritischen Ansatzes. Der Ware kommt dabei ein Doppelcharakter zu: Sie ist sowohl Gebrauchsgegenstand als auch Wertträger. Ergibt sich der Gebrauchswert einer Ware aus der abstrakt menschlichen Arbeit, die in ihr materialisiert ist, zeigt sich der eigentliche Wert in dem Ausdruck der Ware als Tauschwert. Die Wertform ist dadurch immer zugleich Produkt eines Verhältnisses der Menschen selbst, die sich erst unter dem „Fetischcharakter der Ware“ gesellschaftlich konstituieren.11 Die Wertkritik begreift alle Formen gesellschaftlicher Zusammenhänge als allgemeinen „Verblendungszusammenhang“, den die Wertform auf die Menschen ausübt. Während sich die einfache Wertform im allgemeinen Warentausch zunächst als gegenständliche Form reproduziert, nimmt sie mit dem Übergang von der Äquivalent- zur Geldform einen abstrakten Charakter an. Das Geld als Ausdrucksform des „Werts“ setzt sich sowohl an den Anfang- als auch Endpunkt der Kapitalbewegung (G-W-G). Nicht länger die Ware wird verwertet, sondern der „Wert“ in seiner Geldform verwertet sich selbst und wird in der Folge zum „automatischen Subjekt“ – zu einer subjektlosen Herrschaft des „Werts“.12 Im Unterschied zu anderen wertkritischen Gruppen wie etwa der Nürnberger „Krisis“ oder den österreichischen „Streifzüge“ versteht die ISF den „Wert“ nicht allein als ökonomische Größe, sondern gleichzeitig als Denkform, die alle Prozesse in der warenproduzierenden Gesellschaft bestimmt und an ihrem Ende immer auf einen virulenten Antisemitismus hinausläuft. Damit begründet die ISF eine eigene wertkritische Haltung, die sich später als „antideutsche Wertkritik“ etablieren konnte. Was genau diese Denkform auszeichnet, lassen die Freiburger Materialisten allerdings unbeantwortet. Vielmehr setzen sie alles daran, den „Wert“ zu mystifizieren „als de[n] Name[n] eines Etwas, dessen gesellschaftlich spezifische und dessen uneinholbar besondere Qualität in nichts anderem als eben darin besteht, nicht denkbar zu sein“13. 10  ISF

(Anm. 2). Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 85 f. 12  Vgl. ebd., S. 167–169. 13  ISF, Das Konzept Materialismus, in: ISF (Hrsg.), Das Konzept Materialismus. Pamphlete und Traktate, Freiburg 2009, S. 243–253, hier: S. 246. 11  Vgl.



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Der „Wert“ sei einerseits nicht denkbar, andererseits die Totalität einer Gesellschaft, die sich durch nichts anderes als eben genau durch jene Denkform des „Werts“ bestimme. Die Denkform stehe für das Paradox einer Vergesellschaftung, die sich sogleich als die Negation eben dieser Vergesellschaftung zeige – als Selbstwiderspruch der menschlichen Gattung in ihrer Spaltung in Herrscher und Beherrschte, Ausbeuter und Ausgebeutete.14 Die Ausführungen der ISF erinnern eher an einen esoterischen Okkultismus, denn eine klare Bestimmung dessen, was unter „Wert“ und Denkform tatsächlich zu verstehen ist. Vielmehr scheint es, als wolle die Initiative ihre Ideologie bewusst hinter dem Schleier einer theologischen Mystifikation verstecken. Scheut sie doch nicht den Vergleich zwischen einer göttlichen Existenz im religiösen einerseits und im bürgerlich-kapitalistischen Sinne andererseits: „Das Kapital als ‚automatisches Subjekt‘ begreifen zu wollen, kommt daher nicht zufällig dem Versuch gleich, Gott zu denken“15. Was der Gott im Christentum sei, sei der „Wert“ in der bürgerlichen Gesellschaft – ihre Gemeinsamkeit: die Unbegreifbarkeit. In der Herrschaft des Menschen über den Menschen erfahre der „Wert“ seine gesellschaftliche Kategorie. Die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und der damit einhergehende Bruch der Gattung sei eine Symbiose aus Ökonomie und Politik, die in Form der staatlichen Souveränität ihre polit-ökonomische Ausformung finde. Das Kapital habe es geschafft, die Menschen als „Subjekte“ zu konstituieren, die sich souverän und frei wähnten, während sie Bedürfnisse befriedigten, die einzig die „Verwertung des Werts“ vorantrieben.16 Die Denkform des „Werts“ ist laut ISF nicht zu denken, die Herrschaft des „Werts“ als „automatisches Subjekt“ nicht zu fassen – die Freiburger Gruppe konstruiert eine Ideologie, die sich in ihrer okkultistischen Spielart selbst zu widersprechen scheint. Wie kann die ISF behaupten, ein Gegenstand sei nicht zu verstehen, wenn sie ihn nicht höchst selbst verstanden hat? Wie kann sie verkünden, alles sei vom „Wert“ determiniert, ohne selbst in diese Fänge zu gelangen? Die Strategie der ISF ist es, die gesellschaftlichen Formen des „Werts“ nicht begreifen zu wollen, dürfe es doch „keine vernünftige und wahre Theorie eines unvernünftigen und unwahren Gegenstandes geben“17. Vielmehr hat sie sich ein materialistisches Verständnis von Kritik auferlegt, das in seiner antideutsch-wertkritischen Ausformung als Ideologiekritik daher kommt. Theorie sei das Gegenteil von Kritik. Theorie bedeute, den „Wert“ 14  Vgl. dies., Der Theoretiker ist der Wert. Eine ideologiekritische Skizze der Wert- und Krisentheorie der Krisis-Gruppe, Freiburg 2000, S. 18 f. 15  Ebd., S. 30. 16  Vgl. ebd., S. 108 f. 17  Ebd., S. 39.

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zu denken und das Kapital zu rationalisieren. Alle Versuche, den „Wert“ zu erkennen und zu verstehen, müssten deshalb auf eine Ideologisierung desselben hinauslaufen. Die Kritik sei dagegen die einzige und letzte Möglichkeit, die das Kapital gelassen habe, sich aus der Zwangsherrschaft des „Werts“ zu befreien und die damit einhergehende Spaltung der Gattung aufzulösen. Jede politische Praxis, die nicht Herrschaft des „Werts“ als „automatisches Subjekt“ erkennt, müsse diese notgedrungen reproduzieren. In diesem Sinne versteht sich die ISF als materialistischer Kritiker im Sinne einer Ideologiekritik, die auf den Moment baut, da „die Individuen, im Zuge des Zusammenbruchs wider Willen und ohne Zutun, entsubjektiviert, mit den Charaktermasken auch das notwendig falsche Bewusstsein fahren lassen“18. Als „Denken der revolutionären Situation“ soll die Ideologiekritik der ISF die Grundlagen zur Selbstabschaffung des „Werts“ vermitteln und damit zugleich die notwendigen Bedingungen des Kommunismus aus dessen negativen Schattenbild ausleuchten. Daher wird der Kommunismus der ISF nicht die Umsetzung einer Theorie oder die Bewahrheitung einer Idee sein, sondern der Punkt, an dem die Kritik in die Krise umschlägt.19 So mystisch und unbegreiflich die Ideologie der antideutschen Wertkritik daherkommt, so abstrakt muss die Strategie zur Umsetzung der Kritik bleiben. Die Ideologiekritik der ISF bezieht sich nicht auf einen positiven Gegenstand an sich, sondern zieht ihre Legitimation aus einer Negativität, die zwar in allen wertverwertenden Gesellschaften angelegt sei, ihren Fixpunkt aber in einer „deutschen Denkform“, einer „deutschen Ideologie“ wiederfindet. Die materialistische Kritik, verstanden als Ideologiekritik, richtet sich daher gegen alles, was die ISF als „typisch deutsch“ auszumachen glaubt – zu allererst die unabwendbare Neigung der Deutschen zum Antisemitismus. Sie ist der Kern dessen, was unter antideutsch zu verstehen ist. III. Von der wertverwertenden Gesellschaft zum Antisemitismus Die ISF konstruiert ihre ganzheitliche Vorstellung vom Denken und Handeln allein auf der Grundlage der Wertkritik, wodurch sich weitreichende Folgen ergeben. So nimmt die Kritik eines virulenten Antisemitismus in den Schriften der Freiburger einen hohen Stellenwert ein. Mit dem Themenheft „Logik des Antisemitismus“ veröffentlichte die ISF bereits im Sommer 18  Ebd.,

S. 112. dies., Kritik zur Krise radikalisieren!, in: dies. (Hrsg.), Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken, Freiburg 1990, S. 50–62. 19  Vgl.



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1991 in der Doppelausgabe 4 / 5 der hauseigenen Zeitschrift „Kritik & Krise“ einer der bis heute wichtigsten Beiträge antideutscher Antisemitismusund Antizionismuskritik.20 Antisemitismus sei kein bloßes Vorurteil im Sinne einer rassistischen Weltsicht, sondern beziehe seine Logik aus einer spezifischen Denkform und daraus abzuleitenden Praxis der bürgerlichen Gesellschaft. Es sei die wertverwertende Gesellschaftsformation, die „den Antisemitismus ausbrütet wie die Raupe den Faden spinnt“21. Bei dem Großteil ihrer Argumentation bezieht sich die ISF auf den US-Amerikaner Moishe Postone. Dieser veröffentlichte im Jahr 1979 den Aufsatz „Nationalsozialismus und Antisemitismus“, in welchem der Historiker eine gänzlich neue, weil wertkritische Begründung der jüdischen Massenvernichtung herausarbeitet. Mit Entstehung der antideutschen Strömung besinnt sich die ISF auf Postones Ansatz und druckt ihn in „Kritik & Krise“ abermals ab.22 Seitdem konnte sich „Nationalsozialismus und Antisemitismus“ als wahrer Klassiker „antideutscher Wertkritik“ etablieren. Die Massenvernichtung der europäischen Juden müsse aus der spezifischen Vermittlung einer materialistischen Erkenntnistheorie erklärt und als das Zentrum der nationalsozialistischen Ideologie verstanden werden: „Die Ausrottung der Juden musste nicht nur total sein, sondern war sich selbst Zweck – Ausrottung um der Ausrottung willen –, ein Zweck, der absolute Priorität beanspruchte.“23 Aus der wertkritischen Unterteilung in konkreten Gebrauchs- und abstrakten Tauschwert, die sich vor allem in der Aufteilung als schaffendes einerseits bzw. raffendes Kapital andererseits widerspiegele, arbeitet Postone ein antikapitalistisches Moment der nationalsozialistischen Massenvernichtung heraus. Der Antisemitismus zeige sich aus dieser Perspektive als ein Aufstand der konkreten, schöpferischen, natürlichen Arbeit gegen das abstrakte, „parasitäre“, zinstragende Kapitalverhältnis. Während sich die konkrete Seite im organischen Überbau als Volk, Gemeinschaft, Rasse verdingliche, finde die abstrakte Form des Kapitalverhältnis seine Vergegenständlichung in der Gestalt des Juden; aus dem naturalisierten Gegensatz von Konkretem und Abstraktem forme sich der rassische Gegensatz von „Ariern“ und Juden.24 Die abstrakte Seite des Kapitalverhältnisses sei als alleiniger Repräsentant der zerstörerischen, mächtigen, internationa20  Vgl.

Kritik & Krise. Materialien gegen Ökonomie und Politik, 4 / 5 (1991). Antizionismus heute. Vorwort zur ersten Auflage, in: dies. (Hrsg.), Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und die linksdeutsche Ideologie, Freiburg 2002, S. 17–24, hier: S. 22. 22  Vgl. Moishe Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Kritik & Krise. Materialien gegen Ökonomie und Politik, 4 / 5 (1991), S. 6–10. 23  Ebd., S. 6. 24  Vgl. ebd., S. 8–9. 21  ISF,

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len Herrschaft des Kapitals anzusehen und in der Person des Juden das Grundübel aller konkreten, gesellschaftlichen Probleme auszumachen. Die Überwindung des Kapitalismus werde daher in der Überwindung des Abstrakten – in der Überwindung der Juden gesucht. Aus der wertkritischen Haltung Postones erklärt sich Auschwitz als „eine Fabrik zur ‚Vernichtung des Werts‘, das heißt, zur Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten“, um dabei „die letzten Reste des konkreten gegenständlichen ‚Gebrauchswerts‘ abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife“25. Kritik erfährt das Konzept von Ulrich Enderwitz, der Postone linken Strukturalismus vorwirft. Der Ansatz verkürze die Herrschaft des „Werts“ lediglich auf seine ökonomische Perspektive und klammere die politischgesellschaftliche Komponente aus. Dadurch bewege sich Postone unwissentlich im „transzendentalen Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft“ – sprich in der faschistischen Gesellschaftsformation.26 Auch als Antwort auf Postone veröffentlicht Enderwitz 1991 im ça ira Verlag der ISF die Monographie „Antisemitismus und Volksstaat“, in welchem er den wahnhaften Antisemitismus während des Nationalsozialismus auf eine Sonderwegthese der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsentwicklung in Deutschland zurückführt.27 Das Buch avanciert in der jungen antideutschen Szene zur inoffiziellen Bibel, begründet Enderwitz doch erstmalig aus einer wertkritischen Haltung, warum die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gerade in Deutschland in die Barbarei umschlagen konnte, während die Selbstverwertung des Werts in anderen europäischen Nationen keineswegs zur „negativen Aufhebung des Kapitals“ drängte. Enderwitz führt den wahnhaften Antisemitismus auf einen Sonderweg zurück, den Deutschland als eine verspätete Nation und kapitalistische Gesellschaft nehmen musste. So habe sich nur eine unterentwickelte liberalbürgerliche Klasse ausbilden können, die sich in anderen Ländern als politische Repräsentanz einer kapitalbestimmenden Gruppe formiert habe. Folglich „springt der deutsche Fürstenstaat vorbürgerlicher Prägung für das säumige Bürgertum in die Bresche“ und wird zum „politischen Repräsentanten und ideologischen Promotor des Kapitals“28. Das verspätete Bürgertum werde sogleich als nationales Staatsbürgertum in das sich staatskapitalistisch generierende Ganze integriert. Der allmählich aufkeimende Antisemitismus Anfang 25  Ebd.,

S. 9. Enderwitz, Linker Strukturalismus. Einige Überlegungen zu Postones Antisemitismus-Thesen, in: Kritik & Krise. Materialien gegen Politik und Ökonomie, 6 (1993), S. 45–49, hier: S. 49. 27  Vgl. ders., Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, Freiburg 1991. 28  Ebd., S. 89. 26  Ulrich



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des 20. Jahrhunderts übernehme dabei zweierlei Aufgaben. Während das liberale Bürgertum mittels des Menetekels „Jude“ zur „staatspolitischen Ordnung gerufen wird“29, müsse der Staat der ausgebeuteten Klasse – dem Volk – einen Strohmann präsentieren, an dem sich der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit ausleben könne. Würde es doch erst möglich, die Verbindung von Staatsmacht und Arbeit als Volksstaat einzuleiten, wenn das Volk vom staatlichen Verwertungsprogramm als Kurzschluss von Kapital und Staatsmacht abgelenkt werde. In diesem vorgeschobenen Prozess entwickle sich nicht nur der Volksstaat zur Volksgemeinschaft, sondern es gehe damit gleichzeitig eine funktionelle Wandlung des Antisemitismus einher. Habe die Judenfeindschaft zunächst die Aufgabe einer klassenkämpferischen Posse übernommen, um den Pakt zwischen Kapital und Staatsmacht zu verschleiern, nehme der Antisemitismus durch die Antinomie zwischen staatlicher Kapitalakkumulation einerseits und „pseudosozialistischer“ Volks­bewegung andererseits immer wahnhaftere Formen an. Unfähig die Widersprüchlichkeit aufzulösen, projiziere der „faschistische Führerstaat“ die eigenen Unzulänglichkeiten auf den Juden. Während sich die staatskapitalistische Variante in Form des jüdischen Kapitalmonopols zeige, finde das „quasisozialistische Sendungsbewusstsein“ im sowjetkommunistischen Judentum sein Äquivalent. Im nationalsozialistischen Wahn werde im Juden letztlich die eigene ideologische Widersprüchlichkeit umgebracht und in den Vernichtungslagern der „Endkampf gegen die nationalsozialistische Ordnung“ geschlagen.30 Wenn die Alliierten das NS-Regime zum Einsturz gebracht haben, so doch nicht die Herrschaft des „Werts“ als ökonomische und vor allem politische Größe. Folglich habe der Antisemitismus nichts an seiner Aktualität eingebüßt, wie Joachim Bruhn begründet.31 Die Menschen in der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft würden sich nicht als gleiche Individuen anerkennen, sondern nur als Vertragspartner zur Verwertung des „Werts“. Sie formieren sich als bürgerliche Subjekte, die Identität nicht aus sich selbst heraus – als Gattungswesen schlechthin – gewinnen können, vielmehr speise sich die Quelle ihrer Identität einzig aus der Beziehung Ware-Tausch. Als Handlanger des „automatischen Subjekts“ – der prozessualen Selbstverwertung des Werts – treten sich die Herren der Verträge als subjektivierte Tauschwerte unter der Schirmherrschaft der staatlichen Souveränität entgegen. Die Gleichheit „existiert nur in Form ihrer Vergleichung durch das Recht, dessen letzte Instanz der Souverän und dessen erstes die Akkumula29  Ebd.,

S. 107. ebd., S. 147. 31  Vgl. Joachim Bruhn, Unmensch und Übermensch. Über Rassismus und Antisemitismus, in: Kritik & Krise. Materialien gegen Ökonomie und Politik, 4 / 5 (1991), S. 14–22. 30  Vgl.

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tion ist“32. Ihre Gleichheit werde letztlich zur Gleichgültigkeit. Die Form der Individuen als Subjekte sei ihr ganzer Inhalt, das Alles und Nichts, woran sie sich halten können. Jede ökonomische Krise führe sodann zur glatten Panik vor der eigenen Entwertung und individuellen Überflüssigkeit. Sei die Subjekt-Identität zunächst durch Ausgrenzung alles Unproduktiven gesichert worden – Homosexuelle, Behinderte, Sinti und Roma –, so gehe das bürgerliche Subjekt in Zeiten der Krise in den Angriffsmodus. Ausgerottet werden solle, was die eigene Identität bedrohe – die geheimnisvollen Kräfte des Abstrakten. Der Antisemitismus solle die Implosion der Subjekte verhindern und die Nichtigkeit der Identität durch Vernichtung kurieren.33 Hier argumentiert Bruhn ganz auf der Linie Postones: Mit den Juden solle die Abstraktheit zerstört werden, die die imaginierte Identität als bürgerliches Subjekt zu zerstören drohe. Einen neuen Weg geht Bruhn jedoch, indem er wie Postone nicht nur die Ausrottung alles Abstrakten hervorhebt, sondern zugleich auch den Neidcharakter dieser Handlung in den Vordergrund stellt. Der Jude stehe für das Geheimnis ein, welches das bürgerliche Subjekt mit seiner Nicht-Identität zu fassen suche. Es sei das Geheimnis, eine bürgerliche Gesellschaft ohne Krisen und Ausnahmezustand zu errichten, und dabei das „Wesen, das die Identität von Identität und Nicht-Identität verkörpert, das die praktische Wirklichkeit einer logischen Unmöglichkeit verleiblicht, dies ‚jüdische Wesen‘ […] aus dem jüdischen Schein, und das heißt: aus den leibhaftigen Menschen heraus[zu]reißen“. Am Ende jedoch lägen zahllose „Leichen und namenlose Tote […] in der Bahn dieser an sich aussichtslosen Jagd auf Identität, die nicht enden kann, bevor alle Juden umgebracht worden sind“.34 IV. Vom Antisemitismus zur „linksdeutschen Ideologie“ Die teils mystischen Ausführungen der ISF lüften erst dort ihren Schleier, wo es darum geht, die „vermittlungslose Feindschaft“ der Ideologiekritik gegen eine spezifische Denkform der warenproduzierenden Gesellschaftsformation in Stellung zu bringen – gegen die „deutsche Ideologie“. Für die ISF ist der Antisemitismus zwar jeder wertverwertenden Gesellschaft eingeschrieben, doch seien es die Deutschen, die „die Klassen negativ aufhebend[e] volksgemeinschaftliche[e] Ausrottungsaktion“ in das Grundgesetz als Gründungsverbrechen bis heute eingeschrieben haben.35 Wenn die ISF ihren 32  Ebd.,

S. 17. ebd., S. 18. 34  Ebd., S. 20. 35  ISF, Zuvor: Kritik der deutschen Ideologie, in: dies. (Hrsg.), Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten, Freiburg 2001, S. 7–14, hier: S. 11. 33  Vgl.



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materialistische Kritik eigens als eine antideutsche verstanden haben will, dann deshalb, weil „der Volksgemeinschaft der Onkel Adolfs und Tante Emmas die weltweite Vernichtung misslang“. Aus diesem Grund „ist Antisemitismus in Deutschland Mordbereitschaft im Wartestand“36. Die ISF erkennt in der „deutschen Ideologie“ ein Wesen, das trotz Demokratie, trotz westlicher Wertbindung jederzeit in die Barbarei zurückfallen wird. Dieses „deutsche Wesen“ begründe die „deutsche Volksgemeinschaft in ihrem einstweilen noch zwangsdemokratisierten Zustand“37. Demokratie und bürgerliche Freiheiten seien lediglich das Resultat eines politischen Kalküls, die deutsche Volksgemeinschaft durch einen aufgenötigten Liberalismus politisch über die militärische Niederlage von 1945 zu retten.38 Die Deutschen würden die Reste der bürgerlichen Vernunft ad absurdum führen, sei es doch die „deutsche Ideologie“ gewesen, die die „zutiefst negative Dialektik installierte, die die bürgerliche Gesellschaft vom Sturm auf die Bastille zur Wannseekonferenz im Januar 1942 führen sollte“39. Das „deutsche Wesen“ sei ein Unwesen, das „als Deutscher [nicht nur] das genaue Gegenteil eines Menschen darstellt“40. Vielmehr würde das sich als Mensch aufspielende Wesen versuchen, den ihm inhärenten Antisemitismus – den Hass auf das unproduktive, kosmopolitische und abstrakte Prinzip des Juden  – als allgemein-anthropologische Bestimmung des Menschseins auszugeben.41 Die materialistisch verstandene Kritik der ISF hat sich die Aufgabe gesetzt, dieses „deutsche Wesen“ aus der Geschichte der bürgerlichen Vernunft zu denunzieren, als eine Denkform, der Antisemitismus und Rassismus nicht allein ökonomisch, politisch oder kulturell anhängen, sondern als notwendig falsches Bewusstsein stets eingeschrieben sei.42 So ist es wenig verwunderlich, wenn die Freiburger Kritiker verkünden, jeden linken Ansatz zu verwerfen, „der nicht in der Reflexion auf den Nazifaschismus gründet. Der kommende Materialismus wird antideutsch sein, oder er wird nicht materialistisch sein.“43 Umso harscher fällt die Kritik des linken Antizionismus aus. Unlängst habe es „die Linke“ versäumt, mit dem Untergang des Sozialismus die Zukunft der Revolution voranzutreiben. 36  Dies.

(Anm. 21), S. 17. (Anm. 35), S. 8. 38  Vgl. dies., Wehrhafte Demokratie, freiheitlicher Staat, in: dies. (Anm. 35), S. 15–18, hier: 15 f. 39  Dies. (Anm. 35), S. 7. 40  Dies., Deutsche Logik, in: dies. (Anm. 35), S. 28–32, hier: S. 31. 41  Vgl. dies., Artikel 16 (2), in: dies. (Anm. 35), S. 38–41, hier: S. 41. 42  Vgl. dies., Die Gemeinschaft der Guten. Der antifaschistische Staat und seine Nazis, in: dies. (Anm. 35), S. 136–145, hier: S. 145. 43  Dies. (Anm. 2). 37  Dies.

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Noch immer klammere sie sich an althergebrachte Dogmen, von denen der Antizionismus nur besonders verschlagen sei. Ohne Umschweife kann die ISF daher feststellen: „Das objektive Interesse, das sie [die Linke] dem Volk unterjubelt, ist in Wirklichkeit ihr eigenes – ein völkisches.“44 So sei es nur konsequent, wenn sich „die Linke“ nach Auschwitz hinter einem linken Antizionismus verstecke. Sei sie schließlich dadurch mit jener „deutschen Ideologie“ im Bunde, die den heutigen Antisemitismus „nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz“ vorantreibe: Sie „wird den Juden Auschwitz nie verzeihen und ihnen nie vergeben, dass sie die Deutschen um die Volksgemeinschaft betrogen haben.“45 Antizionismus heute sei nichts weiter als die globalisierte Form des Antisemitismus nach Auschwitz und „Israel der Jude unter den Staaten“46. Hat die ISF den Antisemitismus erst einmal aus der Wertformanalyse abgeleitet, kann sie den Antizionismus auf dieselbe Stufe stellen. Durch die Wertform manifestiere sich die Symbiose aus Kapital und Staat. Während im Antisemitismus den Juden abgestritten werden solle, mit „ehrlicher“ Arbeit „ehrliches“ Geld zu verdienen, bestreite der Antizionismus auf der anderen Seite die Fähigkeit der Juden, sich als Volk in einem eigenen Staat zusammenzuschließen. Beide, Antisemitismus und Antizionismus, vertreten dasselbe Anliegen – im Juden den Sündenbock für den inneren Antagonismus der staatskapitalistischen Produktion zu überspielen. In einer wertverwertenden Weltgemeinschaft, die den Virus des Antisemitismus in sich trage, sei die jüdische Staatsgründung die verspätete Notwehr eines Volkes, das immer wieder als Ersatzobjekt für die inneren Zerrissenheit der staatskapitalistischen Antinomie herhalten müsse: „Hätte es keinen Juden gegeben, Kapital und Staat hätten sie erfinden müssen“47. Umso konsequenter könne nur gegen den „moralischen Bankrott ‚der Linken‘ in puncto Israel wie in Sachen Antisemitismus“ polemisiert werden.48 Wenn diese auf das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ poche, so stehe sie für das genaue Gegenteil davon ein, was die freie Assoziation von Individuen wohl beschreiben würde. Als nichts anderes als „konterrevolutio­ när“ kennzeichnet die ISF jene linksextremen Bestrebungen, die das revolutionäre Objekt nicht unter autonomen Individuen suchen, sondern in einer Politik, die einer Blut-und-Boden-Ideologie in nichts nachstünde. Umso 44  Dies., Furchtbare Antisemiten ehrbare Antizionisten. Thesen über die linksdeutsche Ideologie, Israel und den Klassenkampf am falschen Objekt, in: Kritik & Krise. Materialien gegen Ökonomie und Politik, 4 / 5 (1991), S. 37–51, hier: S. 38. 45  Ebd. 46  Dies., Zuvor: der Kommunismus und Israel, in: dies. (Anm. 21), S. 7–16, hier: S. 9. 47  Dies. (Anm. 44), S. 43. 48  Ebd., S. 49.



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dringender sei es geboten, das Bild des kollektiven Kritikers zu forcieren.49 Habe sich im Antizionismus doch zunächst der Wunsch des linken Lagers manifestiert, im „nationalen Kollektiv“ aufzugehen und mit Anerkennung des „Gründungsverbrechens“ ein Teil der „Beute“ für sich abzuschöpfen. Der Antizionismus schmücke sich lediglich mit den Federn eines linken Internationalismus, um die Kategorien von Volk, Nation und Kultur unter dem Mantel einer emanzipatorischen Politik wieder hoffähig zu machen.50 Als Kritiker dieser „linksdeutschen Ideologie“ erkennt die ISF in den „linken Antizionisten die legitimen Enkel der Volksgemeinschaft […], Metropolenlinke, die den ‚Faschismus‘ Israels, den die Altvorderen bewunderten und beneideten, zur Abwechslung verdammen und verabscheuen, um sich ihrem genealogischen Auftrag würdig zu erweisen, der darin besteht, das nationale Wir um jeden Preis für bessere Zeiten zu konservieren“51. Materielle Kritik nach dem Massenmord an den europäischen Juden könne daher nur als Ideologiekritik auftreten. Einzig in der Denunziation der negativen Denkform kapitalistischer und vor allem staatsförmiger Vergesellschaftung finde eine emanzipative Linke heute noch Zuflucht – alles andere sei „deutsche Ideologie“.52 V. Mit Israel zur staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft „Positive Identifikationen zu bieten, das ist Gegenaufklärung“53, verkündet die ISF. Ihr Programm versteht sich als materialistische Kritik, die sich ohne weitergehende Motivation und Gründe zum kritischen Kommunismus wandeln soll. Ihr Bezugspunkt ist die Negativität eines Gesellschaftstraumes, der schon einmal in einen nationalsozialistischen Albtraum umgeschlagen sei, und in der „deutschen Ideologie“ noch immer Bestand habe. Das Kriterium theoretischer wie praktischer Wahrheit liege damit in dem Wesen einer freien Assoziation, die sich nicht aus der positiven Bezugnahme auf das gesellschaftliche Sein, sondern nur aus der negativen Wendung gegen die „etatistische Kapitalvergesellschaftung“ zu bestimmen habe – aus Israel. Israel steht in den Schriften der ISF nicht einfach für einen bürgerlichkapitalistischen Staat. Vielmehr sei Israel als Zusammenschluss der Überlebenden des Holocausts das unfreiwillige Menetekel einer kommunistischen Revolution, die sich einzig als Negativfolie bestimmen lasse. Der jüdische Staat gebe das kategorische Minimalprogramm vor, das zur Vollendung des 49  Vgl.

dies. (Anm. 19). dies. (Anm. 21), S. 18. 51  Dies. (Anm. 44), S. 50. 52  Vgl. dies., S. 41. 53  Dies. (Anm. 14), S. 110. 50  Vgl.

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Kommunismus – die staaten- und klassenlose Weltgesellschaft – umzusetzen sei. Müsse der Staat der Holocaustüberlebenden doch als Anschauungsmaterial für sämtliche Gräuel herhalten, zu denen moderne bürgerlich-kapitalistische Nationalstaaten in der Lage seien, wenn sie beginnen, ihren inneren Antagonismus aufzulösen – beginnen, „deutsch“ zu werden.54 Für die ISF stellt Israel eine Anomalie, eine „tautologische Nation“ dar. Geboren aus der Negativität der wertverwertenden Vergesellschaftung sei Israel „der einzige Staat dieser Welt, der eine unbezweifelbare Legitimität beanspruchen kann“. Er sei der „ungleichzeitige Staat, der als Reaktion auf das Dementi aller Versprechen der bürgerlichen Nationalrevolution“ vor allem eins sei – eine verspätete „Notwehr gegen den Massenmord an den europäischen Juden.“55 So mystisch und okkult die Wertform der bürgerlichkapitalistischen Vergesellschaftung daherkomme, so rätselhaft könne nur die Staatlichkeit Israels verstanden werden. Die Staatsgründung sei das „unbewusste Bewusstsein“, das angesichts der Unbegreifbarkeit des Kapitals entwickelt werden müsse, um es nicht sogleich in der Denkform zu rationalisieren. Israel sei der Übergangsprozess einer Gesellschaft, der in der absoluten Negativität des Kapitals seinen Anfang genommen habe und vor diesem Hintergrund auf seine Abschaffung in der herrschaftslosen Weltgesellschaft hinarbeite. Auf dieser Grundlage kann die ISF verkünden, „dass Ariel Scharon, natürlich ohne es zu wollen, näher dran ist am Kommunismus als seine Kritiker, dass er, auf seine, ihm als General einzig mögliche Weise, den antifaschistischen Kampf führt“56. Im Kommunismus erkennt die ISF zweierlei Aufgaben: Während es zum einen Rache für die Toten einer in die Barbarei umgeschlagenen Kapitalvergesellschaftung geben müsse, gelte es zum anderen, jeden Menschen nach seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten zu behandeln. Diese Balance habe Israel mit der Staatsgründung vollzogen. Aus der negativen Geschichtsphilosophie zeige sich der Zionismus Israels und der Materialismus der ISF als zwei Seiten ein- und derselben Medaille. Während die Freiburger durch eine unermüdliche Textproduktion ihre Kritik in die Welt tragen, habe es Israel geschafft, das „unbewusste Bewusstsein“ als den Zusammenhang von Katastrophe und Prävention in die richtigen Bahnen zu lenken. Gleich einem Schlafwandler steuere Israel ein Ziel an, das Marx mit der „Kritik der politischen Ökonomie“ vorgezeichnet habe. Wenn die ISF die „Entsubjektivierung“ zu Individuen aus ihren Schriften heraus betreibt, dann sei dieser Schritt auf staatlicher Ebene für Israel bereits vollzogen.57 Im Kampf gegen den „islamfaschistischen 54  Vgl.

dies. (Anm. 46), S. 7. S. 10. 56  Ebd., S. 13. 57  Ebd., S. 16. 55  Ebd.,



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Mob“ der palästinensischen Hamas sei die Selbstbehauptung der israelischen Gesellschaft daher der „bewaffnete Versuch der Juden, den Kommunismus noch lebend zu erreichen.“58 VI. Israel und die Antideutschen Seit die ISF mit den programmatischen Aufsatz „Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten“ in der Doppelausgabe 4 / 5 von „Kritik & Krise“ 1991 an die linksextreme Szene herantrat, hat sie den israelsolidarischen Imperativ in zahllosen Artikeln und Interventionen immer weiter vorangetrieben. Nicht zuletzt durch den Schulterschuss mit der Berliner Gruppe um das Periodikum „Bahamas“ konnte sich das Bekenntnis zu einer bedingungslosen Solidarität mit dem Staat Israel bis zum heutigen Tage als Lackmustest innerhalb des politischen Linksextremismus etablieren. Während auf der einen Seite antiimperialistische Gruppen durch ein antizionistisches Weltbild hervortreten, entwickelte sich auf der anderen Seite eine antideutsche Szene, die die „deutsche Ideologie“ als die Wiege des Bösen versteht, während der Staat Israel zur quasi-religiösen Heilstätte verklärt wird. Dies reicht von Lobeshymnen und Verteidigungsschriften in Zeitungen, Zeitschriften und Monographien59 über die Planung und Durchführung von Konferenzen und Demonstrationen60 bis zur direkten Einflussnahme auf die deutsche bzw. österreichische Politik mittels der Initiative Stop the Bomb, die sich gegen die iranische Proliferation einsetzt und aus dem Umfeld der antideutschen Gruppe „Café Critique“ in Wien hervorging.61 Bisweilen nehmen die Solidaritätsbekundungen obskure Formen an, bei denen der Verdacht naheliegt, die Antideutschen würden sich im Staat Israel eine neue Identität suchen, um der selbstauferlegten Vaterlandslosigkeit zu entkommen. Insbesondere auf den antideutschen Demonstrationen kommt 58  Ebd.,

S. 13.

59  Exemplarisch

seien hier hervorgehoben: die Wochenzeitung „Jungle World“, das Periodikum „Bahamas“ und die Monographie Stephan Grigats, Die Einsamkeit Israels. Zionismus, die israelische Linke und die iranische Bedrohung, Hamburg 2014. 60  Die „Bahamas“ veranstaltete vom 5. bis zum 6. Dezember 2014 eine Konferenz über „Das Unbehagen in der Zivilisation“. Vgl. Redaktion Bahamas, Das Unbehagen in der Zivilisation, in: Bahamas, (2015) 70, S. 27–30. Zur letzten Demonstration rief das Bündnis gegen Israelkritik NRW (BGI) am 6. September 2014 in Köln auf, der lediglich 150 Personen folgten. Vgl. BGI, Es gibt kein Menschenrecht auf Israelkritik. Gegen den antisemitischen Konsens, unter: www.bginrw.wordpress. com /  (10. Februar 2015). 61  Vgl. das Interview mit: Stephan Grigat, Der Iran als Bedrohung. Ein Gespräch mit Stephan Grigat, unter: www.cafecritique.priv.at / pdf / IranAlsBedrohung.pdf (19. Mai 2015).

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die Solidarität mit dem jüdischen Staat angesichts der Israelfahnen, Wimpeln und Bekenntnis-Buttons einer dem Antisemitismus gewendeten Über­ identifikation gleich. Dies geht so weit, dass einige Kreise der autonomen „Antifa“ sich mit Pilgerreisen nach Israel, koscherem Essen oder israelischem Hip-Hop eher als eine linksgewendete Kopie der „Deutsch-Israelischen Gesellschaft“ begreifen, denn als die von der ISF proklamierten antideutschen Kritiker.62 Aus dieser Perspektive deuten sich in den letzten Jahren Tendenzen an, die auf eine Spaltung der antideutschen Szene hinweisen. Während auf der einen Seite die alte ideologische Avantgarde der Ideologiekritiker steht – die ISF, die 2012 gegründete „sans phrase – Zeitschrift für Ideologiekritik“ sowie das Periodikum „Bahamas“63 –, formiert sich auf der anderen Seite ein Personenkreis, der sich zunehmend als verlängerter Arm der IsraelLobby versteht und den Schulterschluss mit konservativen Gruppen und jüdischen Verbänden sucht. Neben den Gruppen „Bündnis gegen Antisemitismus“, die schwerpunktmäßig im Ruhrgebiet angesiedelt sind, konnte sich als Vorzeigeobjekt dieser realpolitischen Strategie vor allem die Initiative Stop the Bomb etablieren. Zwar hat sich der deutsche Ableger um Michael Spaney und Andreas Benl bereits deutlich von den antideutschen Wurzeln der Kampagne entfernt, doch ist etwa der Initiator und wissenschaftliche Leiter der österreichischen Gruppe, Stephan Grigat, nach wie vor feste Bezugsgröße in antideutschen Zusammenhänge, und versteht Stop the Bomb als Mittel auf dem Weg zur staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft.64 Die Zukunft der Antideutschen wird sich am israelisch-iranischen Konflikt entscheiden, ist doch ein Großteil des Engagements der „realpolitischen Gruppen“ auf das iranische Atomprogramm gerichtet. Die Freiburger Ideologiekritik um Joachim Bruhn steht dieser Entwicklung zwar mit Argwohn, aber dennoch gelassen gegenüber. Er betont in einem Interview, für die ISF könne es eine aktive Solidarität mit Israel nur in Eintracht mit einer materialistischen Kritik an der kapitalistischen Vergesellschaftung im Allgemeinen und den deutschen Verhältnissen im Besonderen geben. Dagegen sei eine Art „Völkerfreundschaft“ zwischen Israel und Deutschland abzulehnen. 62  Vgl. für die Kritik dieses Phänomens innerhalb der eigenen Szene: Stephan Grigat, Mit Wimpeln und Mützchen, in: Jungle World vom 7. August 2008, S. 18– 23. 63  So legte die „Bahamas“ im Jahr die Selbstzuschreibung „antideutsch“ ab und versteht sich seither ausschließlich als ideologiekritisch. Vgl. Justus Wertmüller, Ideologiekritisch und sonst nichts. Drei notwendige Vorankündigungen zur Konferenz, in: Bahamas, (2009) 57, S. 29. 64  Vgl. Kritik versus Realpolitik? Die Zukunft der Israelsolidarität. Podiumsdiskussion mit Stephan Grigat und Justus Wertmüller, nachzuhören unter: http:// nokrauts.org / audio.php (12. Februar 2015).



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Die ISF werde als Kollektiv von fünf bis acht Personen weiterhin zwei Mal im Monat öffentliche Vorträge veranstalten bzw. Schriften im „ça ira-Verlag“ publizieren und vertreiben, die sich ganz einer materialistischen Kritik und nicht eine deutsch-israelische „Volksfront“ verschrieben haben.65 Die Aussage Bruhns verdeutlicht, welchen Platz der jüdische Staat letztlich in dem ideologischen Konstrukt der ISF einnimmt – Israel ist lediglich Mittel zum Zweck. Die Juden sind ein Rädchen im Getriebe einer linksextremistischen Ideologie, die sich die Freiburger Gruppe auferlegt hat. Wie so viele extremistische Bestrebungen hat auch die ISF die verborgenen Gesetzmäßigkeiten hinter den gesellschaftlichen Abläufen erkannt. Auf dieser Grundlage stellt sie ihr Welterklärungsmuster auf. Dass Israel eine solch zentrale Rolle im antideutschen Diskurs einnimmt, geht weniger auf eine religiös-kulturelle Verbindung mit dem Staat der Juden zurück, sondern vielmehr auf den wertkritischen Ansatz, mit dem alle gesellschaftlichen Zusammenhänge geordnet und erklärt werden sollen. Indem die ISF jede Kritik mit der Reflexion auf die Zeit des Nationalsozialismus begründet und dabei die Judenvernichtung in den Mittelpunkt ihrer Kritik rückt, gibt sie die bedingungslose Solidarität der Antideutschen mit dem Staat der Holocaustüberlebenden als Ausdruck purer Ideologie zu erkennen – eine Ideologie, die als materialistische Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse daherkommt und sich dabei „für Juden als Juden nur insofern interessiert, als sie Opfer des Antisemitismus waren und sind“66, wie Stephan Grigat ungeschminkt zu Protokoll gibt. Eine zwangsrekrutierte Erfüllungsgehilfin auf dem Weg zur staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft – nicht mehr und nicht weniger steckt hinter der antideutschen Solidarität zum israelischen Staat.

65  Vgl.

J. Bruhn (Anm. 5). (Anm. 62), S. 21.

66  S. Grigat

Mit der richtigen Strategie in die Mitte der Gesellschaft? Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen Von Lisa Karge I. Kommunale Verankerung als Garantie für zukünftige Wahlerfolge? Der Freistaat Sachsen gilt als Hochburg und organisatorisches Zentrum der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Seit 2008 ist die Partei mit Abgeordneten in jedem der zehn Kreistage vertreten und gewann bei den Gemeinderats- und Stadtratswahlen 2009, auch aufgrund des Wegfalls der Fünf-Prozent-Hürde, 74 von insgesamt über 8000 Mandaten.1 In den Jahren 2004 und 2009 wurde die NPD in den sächsischen Landtag gewählt. Dadurch erhielt die Partei zusätzlich finanzielle Mittel, die den Ausbau der Parteistrukturen im Freistaat auf 13 Kreis- und 20 Ortsverbände ermöglichten.2 Entgegen wissenschaftlicher Erkenntnisse, die kommunalen Wahlentscheidungen eine eigene Logik attestieren,3 geht die NPD von dem entscheidenden Einfluss der kommunalen Verankerung ihrer Mandatsträger für den Erfolg auf Landes- und auf Bundesebene aus. „Die übliche Hierarchie Bund, Land, Europa und Kommune wurde von der NPD umgedreht. Die neue Behandlung der kommunalen Ebene als Fundament für die anderen Wahlen zahlt sich für die NPD aus, wie die Wahlerfolge zeigen.“4 Zur Landtagswahl in Sachsen im August 2014 misslang der Partei mit 4,9 Prozent der Stimmen der erneute Einzug in das Parlament, wodurch die 1  Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.), Gemeinderatswahl 2009, 2009, unter: www.statistik.sachsen.de / wpr_neu / pkg_w04_nav.prc_index?p_an w_kz=GR09 (10. Januar 2015). 2  Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz des Freistaates Sachsen (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2013, Dresden 2014, S. 23 f. 3  Vgl. Katharina Beier u. a., Die NPD in den kommunalen Parlamenten Mecklenburg-Vorpommerns, Greifswald 2006, S. 18. 4  Geschichte der NPD. Teil 4, Der Wiederaufstieg in den 90er Jahren, o. J., unter: https: /  / npd.de / teil-4-wiederaufstieg-in-den-90er-jahren /  (10. Januar 2015).

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Bedeutung der kommunalen Ebene für die NPD wieder gewachsen ist. Die Ideologie der Partei soll über lokal integrierte und angesehene Akteure gesellschaftsfähig gemacht werden. Die Mandatsträger werden angehalten, sich als Kümmerer vor Ort zu inszenieren, indem sie die Probleme der Bürger in die parlamentarischen Vertretungen tragen und sich für deren Lösung einsetzen. Kann anhand der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Vorgehen der NPD-Mandatsträger in den kommunalen Parlamenten auf eine überregionale Strategie geschlossen werden? Am Beispiel der parlamentarischen Debatten in den Kreistagen der drei Landkreise Bautzen, Meißen und Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in der vergangenen Legislaturperiode von Juni 2008 bis Ende Mai 2014 wird diese Frage beantwortet. Diese drei Landkreise gelten als Hochburgen der NPD innerhalb Sachsens. In den Kreisen Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Bautzen erzielte die Partei bei den vergangenen Landtagswahlen Ende August 2014 mit 7,7 Prozent und 7,2 Prozent der Stimmen landesweit ihre besten Ergebnisse. Im Landkreis Meißen erhielt die NPD durchschnittlich 5,6 Prozent der Stimmen und gilt zusätzlich durch Ansiedlung ihrer Landesgeschäftsstelle sowie des Parteiorgans Deutsche Stimme in Riesa als sächsisches Zentrum der Partei.5 Die Grundlage für die Untersuchung bilden die Niederschriften der einzelnen Kreistage. Die Datenlage gibt darüber Aufschluss, wann und zu welchen Themen sich NPD-Kreistagsmitglieder zu Wort melden. Sie stellen die Äußerungen der Räte zwar nur verkürzt dar, sind aber die einzigen Quellen, welche die Aussagen der NPD zu allen Themen weitgehend ohne Bewertung erfassen. Für eine leichtere inhaltliche Zuordnung der Redebeiträge wurden folgende neun Kategorien gebildet: Historisches, Kultur, Wirtschaft / Finanzen, Asylpolitik / Zuwanderung, Soziales, Infrastruktur / Verkehr, Umwelt, Inneres (womit sowohl innenpolitische Aspekte als auch das Geschehen innerhalb der Vertretungen gemeint ist) und politische Einstellung / Extremismus. Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sind die Parlamentsdokumente erst ab April 2009 öffentlich zugänglich, im Landkreis Bautzen sogar erst ab Oktober 2009, sodass die Kommunalpolitik der NPD in diesen Kreisen erst ab den genannten Daten betrachtet werden kann.6 Neben einer kurzen Einordnung der Kommunalpolitik in die „Vier-Säulen-Strategie“ der NPD werden vor der Analyse der Niederschriften die 5  Vgl. Statistisches Landesamt Sachsen (Hrsg.), Landtagswahl 2014, 2014, unter: www.statistik.sachsen.de / wpr_neu / pkg_s10_ergli_lw.prc_ergli_lw_v2?p_bz_bzid=LW 14&p_art=2 (10. Januar 2015). 6  Im Landkreis Bautzen werden dadurch drei Sitzungen weniger und im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge sechs Sitzungen weniger als im Landkreis Meißen untersucht.



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politischen Mehrheitsverhältnisse sowie die NPD-Mandatsträger kurz vorgestellt. Die Untersuchung der Niederschriften soll dann Aufschluss darüber geben, wie oft und zu welchen Themen sich die Kreisräte in den kommunalen Parlamenten äußern. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es zwischen diesen Äußerungen? Welche inhaltlichen Prioritäten setzen sie durch das Einbringen eigener Anträge? Abschließend folgt eine Zusammenfassung der Ergebnisse und ein kurzer Ausblick. II. Einzug in kommunale Parlamente als Teil der NPD-Gesamtstrategie Nachdem Udo Voigt 1996 den NPD-Parteivorsitz übernahm, wurde neben einem neuen Parteiprogramm ein Strategiepapier erarbeitet, welches auf dem Bundesparteitag in Stavenhagen 1998 beschlossen wurde und das bis heute strategische Leitlinie der Partei ist.7 Das Konzept umfasst die Säulen „Kampf um die Straße“, „Kampf um die Köpfe“ und „Kampf um die Parlamente“ und wurde nach dem Wahlerfolg 2004 in Sachsen um die Säule „Kampf um den organisierten Willen“ ergänzt.8 Mit dem „Kampf um die Straße“ verfolgt die NPD das Ziel, durch die Mobilisierung von Anhängern auf Demonstrationen oder Aufmärschen eine Massenwirkung zu erreichen. Neben der Stärkung der Zusammengehörigkeitsgefühls nach innen soll die Programmatik der NPD verbreitet und dadurch öffentlicher Raum gewonnen sowie durch das geschlossene Auftreten vieler Personen eine gewisse Druckstimmung nach außen aufgebaut werden.9 Der „Kampf um die Köpfe“ sieht mehr Bildungsarbeit innerhalb der Partei vor, zum Beispiel über Schulungen und den Austausch strategischer Schriften.10 Darüber hinaus soll „die ‚völkisch-nationale Programmatik‘ zu einem ‚integralen Bestandteil des täglichen politischen Kampfes‘ werden, wodurch eine Einbindung von Persönlichkeiten und die Schaffung von intellektuellen Netzwerken über die alten Parteigrenzen hinaus ermöglicht werden soll“11. Die Säule „Kampf um den organisierten Willen“ bezweckt einen größeren Erfolg des „nationalen Lagers“ bei Wahlen durch die Vereinigung rechtsex7  Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Der „zweite Frühling“ der NPD. Entwicklung, Ideologie, Organisation und Strategie einer rechtsextremistischen Partei, Sankt Augustin / Berlin 2008, S. 26. 8  Vgl. ebd., S. 45. 9  Vgl. ebd., S. 43. 10  Vgl. Marc Brandstetter, Die vier Säulen der NPD, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 50 (2006) 9, S. 1029–1031, hier: S. 1029. 11  Ebd., S. 1030.

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tremer und rechtsradikaler Parteien.12 Auch mit den Freien Kameradschaften wurde der Schulterschluss für die „Volksfront von rechts“ gesucht.13 Im Jahr 2005 wurde der sogenannte „Deutschlandpakt“ zwischen NPD und DVU geschlossen, gemäß dem die beiden Parteien bis 2009 nicht mehr gegeneinander kandidieren wollten.14 Im Jahr 2009 scheiterte der Pakt aufgrund personeller Differenzen; 2010 folgte die Selbstauflösung der DVU und ihre „Verschmelzung“ mit der NPD.15 Seit den Wahlerfolgen der NPD im Jahr 2004 legt die Parteispitze Priorität auf die Umsetzung der Säule „Kampf um die Parlamente“, mit der „eine dauerhafte Etablierung in Kommunal- und Landesparlamenten erreicht und der Sprung in den Bundestag vorbereitet werden sollte“16. Ohne die Teilnahme an Wahlen verliere man „den Bezug zum Volk“17, so Voigt in der Deutschen Stimme. Die Bevölkerung würde das Vertrauen in die Gruppierung verlieren.18 Durch parlamentarische Präsenz kann die Partei ihre Ziele nach außen tragen, die politische Willensbildung beeinflussen und daraus folgend neue Mitglieder rekrutieren.19 Die kommunale Ebene spielt für die NPD eine besondere Rolle, da dort aufgrund der fehlenden Prozenthürde der Gewinn von Mandaten am wahrscheinlichsten ist. Lange Zeit galten die kommunalen Mandatsträger der NPD als faul, inkompetent und zerstritten.20 Sie waren bei den Plenarsitzungen meist abwesend und hatten somit keinen Einfluss auf das politische 12  Vgl. Eckhard Jesse, Das Auf und Ab der NPD, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 55 (2005) 42, S. 31–38, hier: S. 35. 13  Vgl. Christoph Schulze, Vier-Säulen-Konzept, o. J., unter: www.netz-gegen-na zis.de / lexikontext / vier-saeulen-konzept (10. Januar 2015). 14  Vgl. ebd. 15  Vgl. Landesamt für Verfassungsschutz des Freistaates Sachsen, Mitglieder der DVU stimmen für Selbstauflösung und Verschmelzung mit der NPD, 2010, unter: http://www.verfassungsschutz.sachsen.de / 1205.htm (10. Januar 2015). 16  Oskar Niedermayer, Nationaldemokratische Partei Deutschlands, 2012, unter: www.bpb.de / politik / grundfragen / parteien-in-deutschland / 42205 / nationaldemokrati sche-partei-deutschlands (10. Januar 2015). 17  Udo Voigt, zit. nach: Marc Brandstetter, Die NPD unter Udo Voigt. Organisation, Ideologie, Strategie, Baden-Baden 2013, S. 303. 18  Christoph Schulze, Das Viersäulenkonzept der NPD, in: Stephan Braun / Alexander Geisler / Martin Gerster (Hrsg.), Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 92–108, hier: S. 101. 19  Vgl. Robert Philippsberg, Die Strategie der NPD. Regionale Umsetzung in Ost- und Westdeutschland, Baden-Baden 2009, S. 51. 20  Vgl. David Begrich u. a., Wider die Normalisierung: Die extreme Rechte nach den Kommunalwahlen in sieben Bundesländern, in: Hintergrundpapier, 2009, unter: https: /  / secure.komplex-rlp.de / home / fachkraefte / arex_wider_die_normalisierung.pdf. phtml?PHPSESSID=a16bf1b0a6785b099037e30bfae42d0f (25. Mai 2015), S. 5.



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Geschehen und die zu treffenden Entscheidungen.21 Falls sie doch anwesend waren, trugen sie nicht viel zur thematischen Diskussion bei, wirkten mit der Situation überfordert und verbanden „ihre Tätigkeiten häufig mit dem unverfrorenen Ausnutzen der materiellen Möglichkeiten ihres Mandats“.22 Damit diesem Image entgegengewirkt und die Parlamente besser für die eigenen Zwecke genutzt werden können, wurden die Mandatsträger von der Parteispitze angehalten, regelmäßig an den Sitzungen der Gemeindevertretungen teilzunehmen, sich mehr mit den lokalen Problemen zu beschäftigen und sich für ihre Lösung zu engagieren, um sich so bei den Bürgern zu profilieren.23 Der ehemalige Parteichef Holger Apfel erklärte dieses Ziel unter dem Titel der „seriösen Radikalität“ folgendermaßen: „Es geht um eine zukunftsorientierte und volksnahe Ausrichtung der NPD. Es geht um die Profilierung als Kümmererpartei, um die Verständlichkeit unserer Botschaften und die Vermittlung von Identifikation. Wir dürfen keine Partei von Sektierern und keine Bürgerschrecktruppe sein, dürfen nicht durch Kleidung und Auftreten Selbstausgrenzung betreiben.“24 Zur Schulung der kommunalen Mandatsträger und zum Austausch untereinander wurde im Jahr 2003 die „Kommunalpolitische Vereinigung“ der NPD gegründet. In der Organisation sollen einheitliche Strategien für die Abgeordneten entwickelt und inhaltliche Papiere (Anträge, Anfragen etc.) erstellt werden, die flächendeckend in allen Parlamenten verwendet werden können.25 Zusätzlich veröffentlichte die NPD zwei Broschüren, in denen politische Positionen und Argumente vorformuliert wurden und die Tipps für die Mandatsträger enthalten, zum Beispiel zur Kleiderordnung in der Öffentlichkeit oder Beteiligungsmöglichkeiten im Parlament.26 Das Bemühen um ein gemäßigteres Auftreten ist keine Abkehr von den Grundüberzeugungen der NPD; es sorgte aber für einen innerparteilichen Konflikt über die inhaltliche Ausrichtung der Partei und das Verhältnis zu Kamerad21  Vgl.

ebd. Benno Hafeneger, / Sven Schönfelder, Politische Strategien gegen die extreme Rechte in Parlamenten. Folgen für die kommunale Politik und lokale Demokratie, Berlin 2007, S. 13. 23  Vgl. Christian Berisha, Leitfaden für NPD-Kommunalpolitiker und Mandatsträger bei der öffentlichen politischen Arbeit, Lüneburg o. J., S. 13. 24  Holger Apfel im Interview mit Karl Richter, „Volksnah und zukunftsorientiert“ – NPD-Vorsitzender Holger Apfel im Gespräch, 2011, unter: www.npd-hannover. de / index.php / menue / 58 / thema / 69 / id / 2287 / anzeigemonat / 12 / akat / 1 / anzeigejahr / 20 11 / infotext / Volksnah_und_zukunftsorientiert / Bundesweite_Nachrichten.html (25. Mai 2015). 25  Vgl. Kommunalpolitische Vereinigung (Hrsg.), Über uns, o.  J., unter: www. kommunalpolitische-vereinigung.de / index.php / ueber-uns1 (11. Januar 2015). 26  Vgl. C. Berisha (Anm. 23) und Jürgen Gansel, Wortgewandt. Argumente für Mandats- und Funktionsträger, Berlin 2012. 22  Vgl.

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schaften und Freien Kräften.27 Dazu sagte Andreas Molau, damals noch Mitglied der NPD, in einem Interview mit der Deutschen Stimme: „Gelegentlich sollte man auch über die ,ansprechende‘ Verpackung unseres zeitlosen nationalistischen Inhalts nachdenken. […] Deshalb ist es auch nicht ehrenrührig, wenn man daran erinnert, daß der Köder dem Fisch bzw. dem Wähler gefallen muß und nicht dem Angler.“28 Trotz der Gewichtung der parlamentarischen Repräsentation als Grundpfeiler der Parteistrategie pflegt die NPD ein rein instrumentelles Verhältnis zum Parlamentarismus, da sie von einem langfristigen Scheitern des aktuellen politischen Systems ausgeht. Daher müsse sie die aktuellen Strukturen nutzen, um aufzuzeigen, wie ein anderes System aussehen könnte.29 Aus diesem Grund kommt die Forschungsgruppe um Katharina Beier, die die NPD in den kommunalen Parlamenten Mecklenburg-Vorpommerns untersuchte, zu dem Schluss: „Insofern ist es aus Sicht der NPD völlig unwichtig, wie gut oder schlecht ihre Arbeit nach den Maßstäben der demokratischen Parteien und Wählergemeinschaften ausfällt; es zählt allein, ob es ihr gelingt, aus ihrer Präsenz in den Kommunalparlamenten außerparlamentarisch Profit zu schlagen.“30 Es geht der Partei weniger um die Mitgestaltung kommunaler Entscheidungen, als vielmehr um das Verbreiten der eigenen Programmatik. Darüber hinaus steht „der Kampf um die Parlamente“ im Widerspruch zu den anderen Säulen.31 Die NPD arbeitet im Rahmen des „Kampfes um die Straße“ eng mit Anhängern der Kameradschaften, Freien Kräfte und Skinheads zusammen. Im „Kampf um den organisierten Willen“ sucht die NPD den Schulterschluss mit radikalen Kräften. In den Medien erzeugen die Demonstrationen von Rechtsextremen immer wieder negative Schlagzeilen und den Protest zivilgesellschaftlicher Organisationen. Dies steht dem Bild der seriösen Kommunalpolitiker, das die NPD in der Bevölkerung erzeugen will, entgegen und schafft ein unlösbares Problem: „Das Grunddilemma der NPD ist […], dass sie zwei inhomogene Gruppen vereinigen muss, die beide einzeln nicht stark genug sind, um ihr ein Überleben zu sichern.“32 27  Vgl.

Landesamt für Verfassungsschutz des Freistaates Sachsen (Anm. 2), S. 40. Molau, zit. nach: Benjamin Mayer, NPD-Strategiedebatte: Zwischen bürgerlicher Fassade und NS-Strukturen, 2011, unter: www.publikative.org / 2011 / 08 /  02 / npd-strategie-analyse-200 /  (10. Januar 2015). 29  Vgl. NPD-Parteivorstand (Hrsg.), Eine Standortbestimmung – Der deutsche Weg, 2009, unter: www.npd-wetterau.de / index.php / menue / 61 / thema / 69 / id / 913 / anz eigemonat / 04 / akat / 1 / anzeigejahr / 2009 / infotext / Eine_Standortbestimmung-Der_ deutsche_Weg / Aktuelles.html (11. Januar 2015). 30  K. Beier u. a. (Anm. 3), S. 170. 31  Vgl. M. Brandstetter (Anm. 10), S. 1030. 32  Marc Brandstetter, Die „neue“ NPD zwischen Systemfeindschaft und bürgerlicher Fassade, Berlin 2013, S. 11. 28  Andreas



Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen

271

Für die kommunalen Mandatsträger leitet sich der Anspruch ab, mit ihrem Auftreten in den Sitzungen der Kreistage sowohl den ideologischen Vorstellungen der Anhänger der rechtsextremen Szene als auch dem Image einer bürgerlichen Partei gerecht zu werden. III. NPD-Mandatsträger und Ausgangssituation in den Landkreisen Im Rahmen der Kreisgebietsreform 2008 wurde die Anzahl der sächsischen Landkreise von 22 auf zehn reduziert. Die Wahlen zu den neuen Kreistagen fanden am 8. Juni 2008 statt. In allen Landkreisen gewann die CDU die meisten Stimmen (vgl. Tabelle 1). In den untersuchten Landkreisen konnte sich DIE LINKE an zweiter Stelle durchsetzen, gefolgt von SPD und FDP. In allen drei Kommunen gewann die NPD mehr Stimmen als Bündnis 90 / Die Grünen.33 Zeitgleich mit den Wahlen zum Kreistag fanden die Landratswahlen statt. Im Landkreis Bautzen konnte sich Michael Harig durchsetzen, im Landkreis Meißen Arndt Steinbach und im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Michael Geisler (alle CDU). Der Landrat ist Vorsitzender der Kreisverwaltung und leitet die Kreistagssitzungen, die in der Regel viermal jährlich stattfinden. Die NPD gewann im Landkreis Bautzen 5,5 Prozent der abgegebenen Stimmen und damit fünf Mandate. Die Kommunalpolitiker der Partei bildeTabelle 1 Wahlergebnisse der Kreistagswahl am 8. Juni 2008 in Prozent Landkreis

CDU

Linke

SPD

FDP

Bautzen

39,1

18,1

11,7

Meißen

44,8

18,1

10

Sächsische SchweizOsterzgebirge

43,9

18,3

7,4

Grüne

NPD

Sonstige

7,5

3,3

5,5

14,8

8,5

5

5,7

 7,9

7,9

3,6

7,5

11,4

Quelle: Eigene Darstellung nach Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.), Kreistagswahlen am 8. Juni 2008, unter: www.statistik.sachsen.de / wpr_alt / pkg_w04_nav.prc_index?p_anw_kz=KT08 (10. Januar 2015). 33  Vgl. Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen (Hrsg.), Kreistagswahl 2008. Wahlberechtigte, Wähler, Stimmzettel, Stimmen- und Sitzverteilung bei der Wahl am 8. Juni 2008 in den Kreisen des Freistaates Sachsen, 2008, unter: www.statistik. sachsen.de / wpr_alt / pkg_w04_nav.prc_index?p_anw_kz=KT08 (10. Januar 2015).

272

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ten eine Fraktion, deren Vorsitz Frank Lüdke übernahm. Im Landkreis Meißen gewann die NPD mit 5,7 Prozent ebenfalls fünf Mandate. In der neuen Geschäftsordnung des Kreistages wurde die Mindestmitgliederzahl einer Fraktion zu Lasten der kleinen Parteien auf sechs Mitglieder festgeschrieben, sodass die NPD diesen Status nicht erhielt. Vorsitzender der Gruppe ist Peter Schreiber. Ebenfalls Mitglied der Fraktion waren die beiden damaligen Landtagsabgeordneten Holger Apfel und Jürgen Gansel. Holger Apfel war von 2004 bis Ende 2013 Mitglied des Sächsischen Landtages und Vorsitzender der NPD-Fraktion. Am 12. November 2011 wurde Apfel zum Bundesvorsitzenden der Partei gewählt, legte dieses Amt aber wegen einer Burnout-Erkrankung und innerparteilicher Streitigkeiten im Dezember 2013 nieder. Am 24. Dezember trat Apfel aus der NPD aus – er nahm auch sein Landtags- und Kreistagsmandat nicht mehr wahr. Sein Nachfolger im Kreistag wurde Matthias Beier, der allerdings zu keiner Sitzung des Plenums erschien.34 Bereits im Juni 2009 schied Jan Szabo aus dem Meißner Kreistag aus, weil er im April seinen Wohnort nach Dresden verlegte. Da nur Bürger des Landkreises in den Kreistag wählbar sind, musste er sein Mandat niederlegen. Seine Nachfolge trat Stephan Klose aus Riesa an. Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge erlangte die NPD 7,5 Prozent der Stimmen und mit sechs Mandaten den Fraktionsstatus. Vorsitzender der Fraktion ist Johannes Müller, der die Partei von 2004 bis 2014 im sächsischen Landtag repräsentierte. Über die anderen Kreisräte der NPD gibt es nur wenige Informationen (vgl. Tabelle 2). Durchschnittlich waren die 16 Mandatsträger der drei Landkreise zu Beginn der Legislatur 40,6 Jahre alt, was dem Mittelwert aller NPD-Kandidaten der sächsischen Kreistagswahl 2008 entspricht.35 Damit sind die NPD-Aktivisten wesentlich jünger als Politiker anderer Parteien.36 Jüngstes Kreistagsmitglied ist Stephan Klose aus dem Kreistag Meißen, Jahrgang 1985. Vier der Mandatsträger haben studiert, die anderen üben einen Ausbildungsberuf aus. Christian Jahn ist Rentner. Die ehemaligen Landtagsabgeordneten Jürgen Gansel und Holger Apfel stammen als einzige Mandatsträger aus den alten Bundesländern.

34  Vgl. Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 26. Sitzung des Kreistages Meißen am 27.03.2014, Meißen 2014, S. 4. 35  Eigene Berechnung auf Grundlage der tabellarischen Auflistung alles NPDKandidaten zur Kreistagswahl 2008. 36  Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008, S. 385.



Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen

273

Tabelle 2 NPD-Mandatsträger der untersuchten Landkreise Landkreis

Kandidat

Geburts- Beruf jahr

Bautzen

Frank Lüdke

1963

Ingenieur für Kfz-Technik

Mario Ertel

1963

Lackiermeister

Christian Jahn

1950

Rentner

André Voges

1966

Kraftfahrer

Jörg Kretschmann 1956

Wachmann

Peter Schreiber

1973

Finanzwirt

Mirko Beier

1975

Fleischer, Baufacharbeiter

Holger Apfel

1970

Verlagskaufmann

Jürgen Gansel

1974

Historiker

Jan Szabo

1979

Hotelfachmann

Austritt aus Kreistag im Juni 2009

Stephan Klose

1985

Verlagskaufmann

Eintritt in Kreistag im Juni 2009

Matthias Beier

1985

Auszubildender

Eintritt in Kreistag im März 2014

Johannes Müller

1969

Arzt

Michael Jacobi

1953

Heizungs- und Belüftungsbauer

Mirko Liebscher

1974

Produktions­ mitarbeiter

Olaf Schiller

1973

Archivassistent

Steffen Richter

1965

Maschinen­ baukonstrukteur

Carmen Steglich

1974

Angestellte

Meißen

Sächsische SchweizOsterz­ gebirge

Besonderheiten

Austritt aus Kreistag im Dezember 2013

Quelle: Eigene Darstellung nach Kandidaten der NPD Sachsen zur Kommunalwahl 2008, 2008, unter: https://www.yumpu.com / de / document / view / 3293208 / kandidaten-der-npd-sachsen-zur-rechte-sachsen (10. Januar 2015).

274

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IV. Auftreten der NPD-Abgeordneten in den Kreistagen Zwischen den NPD-Mandatsträgern gab es innerhalb der Legislaturperiode keine öffentlich wahrnehmbaren Auseinandersetzungen. Das ist keine Selbstverständlichkeit und kann als Erfolg für die NPD gewertet werden. Ein anderes Bild zeigte sich zum Beispiel bei den Mitgliedern der NPD im Sächsischen Landtag, die nach einem Jahr bereits so zerstritten waren, dass drei der zwölf Abgeordneten die Fraktion im Dezember 2005 verließen.37 Zum angestrebten Image der engagierten Kommunalpolitiker gehört das regelmäßige Erscheinen zu den Sitzungen der kommunalen Parlamente,38 was die Mandatsträger in den untersuchten Landkreisen bis auf zwei Ausnahmen weitgehend erfüllten. Am häufigsten entschuldigten sich Abgeordnete im Kreistag Bautzen: André Voges fehlte in 14 von 24 betrachteten Sitzungen. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Mario Ertel entschuldigte sich von zehn Sitzungen. Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge hatte jeder NPD-Kreisrat durchschnittlich zwei Fehltermine zu verzeichnen. Im Landkreis Meißen entschuldigte sich Holger Apfel von drei Sitzungen und fehlte damit am meisten innerhalb der NPD-Gruppe. Frank Lüdke, Christian Jahn und Olaf Schiller waren bei allen Sitzungen anwesend.39 Neben eigenen Anträgen beteiligten sich die Mandatsträger der NPD in den drei Landkreisen an Diskussionen zu Beschlussvorlagen anderer Parteien. Die Forschergruppe um Sven Braune kommt in einer Studie, in der sie eine Vollerhebung aller schriftlichen und teilweise der mündlichen Initiativen der NPD in sächsischen Kommunen im Zeitraum von 2004 bis 2006 durchführte, zu dem Ergebnis: „Betrachtet man alle Kommunalparlamente Sachsens, in denen die NPD vertreten ist, ist insgesamt nur eine äußerst schwache Mitarbeit oder nur eine auf einem sehr geringen quantitativen und qualitativen Niveau festzustellen.“40 Diese Bilanz kann für die drei untersuchten Landkreise nicht bestätigt werden, da sich die NPD-Mandatsträger aktiv an der Debatte beteiligten. Mit 31 Wortmeldungen zu Beschlussvorlagen anderer Parteien meldeten sich die Räte in Bautzen am wenigsten zu 37  Vgl. Claudia Jerzak, Gruppeninterne Prozesse in der NPD-Landtags-Fraktion Sachsen, in: NiP-Redaktionskollektiv / Weiterdenken – Heinrich Böll Stiftung Sachsen (Hrsg.), Die NPD im Sächsischen Landtag. Analysen und Hintergründe 2008, Dresden 2008, S. 54–62, hier 57. 38  Vgl. C. Berisha (Anm. 23), S. 13. 39  Eigene Berechnung der Fehltermine auf Grundlage der Niederschriften der Kreistagssitzungen der Landkreise Bautzen, Meißen, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in der Legislaturperiode 2008–2014. 40  Sven Braune u. a., Die Politik der NPD in den Kommunalvertretungen Sachsens, in: Uwe Backes / Henrik Steglich (Hrsg.), Die NPD. Erfolgsbedingungen einer rechtsextremistischen Partei, Baden-Baden 2007, S. 175–207, hier S. 205.



Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen

275

Wort (vgl. Tabelle 3). Die NPD-Gruppe in Meißen beteiligte sich am häufigsten an der Debatte, was nicht allein durch die größere Anzahl der untersuchten Sitzungen zu erklären ist. Da die Partei in dem Landkreis keine eigenen Sachanträge auf die Tagesordnung setzen konnte, war dies die einzige Möglichkeit für die Kreisräte, ihre Ansichten darzulegen. Die Verteilung der Wortmeldungen der Mandatsträger zeigt ein ähnliches Vorgehen der NPD in den Kreistagen. Es sprach fast immer der Fraktionsbzw. Gruppenvorsitzende. In Bautzen beteiligten sich Frank Lüdke und Mario Ertel an der Diskussion, letztgenannter übernahm sechs von 32 Redebeiträgen. Die anderen Mitglieder der NPD-Fraktion wurden nicht aktiv. Im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge meldete sich Johannes Müller 34 Mal zu Wort und auch Mirko Liebscher, Steffen Richter und Michael Jacobi äußerten sich gelegentlich. Völlig passiv verhielten sich Carmen Steglich und Olaf Schiller, obwohl beide bei fast allen Sitzungen anwesend waren. Auch im Kreistag Meißen zeigte sich diese Tendenz, wenngleich deutlich abgeschwächter. Über die Hälfte der NPD-Kommentare stammten vom Gruppenvorsitzenden Peter Schreiber. Mit zwölf und neun Wortbeiträgen beteiligten sich auch Mirko Beier und Jürgen Gansel an der Diskussion. Zwei weitere Äußerungen stammten von Holger Apfel. Die anderen verzichteten auf Bemerkungen zu den Beschlussvorlagen anderer Parteien. Diese Verteilung bekräftigt das Ergebnis der Studie von Beier und anderen für die betrachteten Landkreise: „In Mecklenburg-Vorpommern bestätigt sich ein […] soziales Muster in der Kommunalpolitik der NPD, wonach es ganz wenige Einzelpersonen sind, auf denen die tägliche Politik lastet.“41 Eine inhaltliche Aufteilung der Redebeiträge ist ebenfalls erkennbar. In allen drei Kreisen meldeten sich die NPD-Räte am meisten in der Kategorie „Wirtschaft / Finanzen“ zu Wort. Vor allem thematisierten sie die jährlichen Haushaltsentwürfe, Bilanzen kommunaler Eigenbetriebe oder die Förderung bzw. Finanzierung konkreter Projekte. Danach veränderten sich die Prioritäten innerhalb der einzelnen Landkreise: Während bei der NPD im Meißner Kreistag an zweiter Stelle die Bereiche „Soziales“ und „Inneres“ folgten, bezog sich die Bautzner Fraktion vermehrt auf das Thema „Asylpolitik / Zuwanderung“. In der Sächsischen Schweiz behandelte die NPD in ihren Beiträgen gleichermaßen die Kategorien „Soziales“, „Inneres“ und „Infrastruktur / Verkehr“. Anders als beispielsweise im Dresdner Stadtrat spielten Bezüge zu historischen Ereignissen in keinem der drei Landkreise eine Rolle.42 Geraume Zeit galt die NPD als „Ein-Themen-Partei“, die sich nur 41  K. Beier

u. a. (Anm. 3), S. 157 f. zum Beispiel Landeshauptstadt Dresden (Hrsg.), Niederschrift zum öffentlichen Teil der 32. Sitzung des Stadtrates (SR / 032 / 2011), Dresden 2011, S. 44. 42  Vgl.

276

Lisa Karge Tabelle 3 Häufigkeit und thematische Einordnung der Redebeiträge der NPD-Mandatsträger nach Landkreisen Landkreis Landkreis Bautzen Meißen

Landkreis Sächsische SchweizOsterzgebirge

Insgesamt

Historisches

0

0

0

0

Kultur

1

2

3

6

11

14

11

36

Asylpolitik / Zuwanderung

7

7

3

17

Soziales

5

13

7

25

Inneres

3

13

7

23

Infrastruktur / Verkehr

1

0

7

8

Umwelt

1

0

3

4

Politische Einstellung /  Extremismus

3

1

2

6

32

50

43

125

Wirtschaft / Finanzen

Insgesamt

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Niederschriften der Kreistagssitzungen der Landkreise Bautzen, Meißen, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in der Legislaturperiode 2008–2014.

zur Asyl- bzw. Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik äußerte.43 In keinem der untersuchten Kreistage trat die NPD in der vergangenen Legislaturpe­ riode als solche auf. Getreu der Vorgabe, sich als Kümmerer zu etablieren, bemühten sich die Mandatsträger um ein breiteres Themen-Spektrum. Im Landkreis Bautzen ist neben der quantitativen Aufteilung der Redebeiträge keine inhaltliche Verteilung zu erkennen, da Ertel und Lüdke sich in den gleichen Kategorien zu Wort meldeten. Beide traten eher gemäßigt auf, verzichteten auf Provokationen innerhalb des Kreistages und stellten sich als Kommunalpolitiker dar, die sich um das Wohl der Bevölkerung und ihrer Region bemühen. In den meisten Fällen stimmten sie den Beschlussvorlagen der Verwaltung oder der anderen Parteien zu. Ähnlich wie die Abgeordneten anderer Parteien machten es sich Lüdke und Ertel zur Angewohnheit, bestimmte Details der Anträge noch einmal zu hinterfragen oder 43  Vgl.

K. Beier u. a. (Anm. 3), S. 158.



Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen

277

ihr Abstimmungsverhalten zu erklären. Ertel erkundigte sich etwa im Rahmen einer Beschlussvorlage zur Lagerung einer größeren Menge von Streusalz, wo das Salz eingelagert wird und welche Kosten dadurch entstehen.44 Zum Haushaltsplan für das Jahr 2013 äußerte der NPD-Fraktionsvorsitzende Lüdke seine Skepsis. Er sagte laut Niederschrift: „Die Höhe der Kreisumlage hat einen Stand erreicht, welche das maximal Mögliche erreicht und eine große Belastung der Städte und Gemeinden darstellt. […] Er stellt fest, dass der Landkreis Bautzen innerhalb des Freistaates eine gute Position einnimmt und eine gute Arbeit leistet.“45 Sieben Mal meldeten sich die beiden Räte zu dem NPD-Kernthema „Asylpolitik /  Zuwanderung“ zu Wort. Beide versuchten, ihre Argumente gegen die Einrichtung von Asylbewerberheimen weitgehend sachlich, also ohne beleidigende Begriffe oder andere Provokationen, zu begründen. Ertel informierte sich zum Beispiel nach der Finanzierung des Baus eines solchen Heimes und Lüdke hinterfragte den Sinn einer Integrationsleistung durch den Landkreis, solange der Aufenthaltsstatus der Asylbewerber ungeklärt sei.46 An anderer Stelle wollte Lüdke wissen, wie das vorgesehene Sicherheitskonzept in der Unterkunft durchgesetzt werden solle.47 Im März 2011 vermutete Ertel hinter dem Antrag der Fraktion SPD / Bündnis 90 / Die Grünen zur Heraufsetzung der Mindestfraktionsstärke auf sechs Kreisräte, dass „das Hauptziel darin besteht, seine Fraktion von der politischen Willensbildung auszuschließen.“48 Der Beschluss des Antrages käme einem „Redeverbot“ gleich.49 Die Kritik übt Ertel berechtigterweise, da derartige Veränderungen der Geschäftsordnung den Einfluss und die Rechte aller kleineren Parteien schmälern und eine inhaltliche Auseinandersetzung verhindern. Zugleich gehört die Darstellung als Opfer auch zur Taktik der NPD, die anderen Parteien als undemokratisch darzustellen.50 Stärker noch als die NPD im Kreistag Bautzen bemühten sich die Mitglieder der Fraktion im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge darum, 44  Vgl. Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 17. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2011, S. 4. 45  Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 26. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2013, S. 13. 46  Vgl. Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 15. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2010, S. 10 f. 47  Vgl. Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 20. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2011, S. 15. 48  Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 16. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2011, S. 13. 49  Ebd. 50  Vgl. Verein für demokratische Kultur in Berlin e. V. (Hrsg.), Strategien der NPD, 2010, unter: http://bvv.vdk-berlin.de / strategien-der-npd (11. Januar 2015).

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sich als engagierte Kommunalpolitiker zu inszenieren, die an einer konstruktiven Politik interessiert seien. Johannes Müller erklärte meist auf Grundlage sachlich dargelegter Argumente seine Haltung zum diskutierten Antrag, häufig stimmte er den Beschlussvorlagen zu. Oft bezog er sich auf die Landespolitik seiner oder anderer Parteien und erörterte die Anträge aus dieser Perspektive. Gelegentlich verband Müller dies mit Kritik an anderen Parteien. Der CDU warf er zum Beispiel Populismus vor, als diese die Entschädigungen für die ehrenamtliche Tätigkeit kürzen wollten. Laut Niederschrift sagte er: „Die CDU hat in der vergangenen Legislaturperiode des Landtages mit ihren Landespolitikern diese Kreisgebietsreform umgesetzt, was dazu führte, dass in langem Ringen die bisherige Entschädigungssatzung zustande gekommen ist.“51 Nur äußerst selten kommentierte einer der Kreisräte die NPD-typischen Themen, wie Asylpolitik oder den Bereich Extremismus. Wenn sie diese ansprachen, dann sogar in einer unvorhergesehenen Weise. So befürwortete Steffen Richter im Juni 2012, politisch verfolgten Menschen in Deutschland Asyl zu gewähren, obwohl das Grundrecht auf Asyl im Parteiprogramm abgelehnt wird.52 Er war gegen eine Willkommenskultur für Flüchtlinge, da diese unnötige Verwaltungskosten verursachen. Schließlich würden 98 Prozent der Asylbewerber wieder ausgewiesen werden. Die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen hielt er für unprofitabel und rechtswidrig.53 Anders war die Situation im Landkreis Meißen: Anhand der Redebeiträge der NPD-Gruppe lässt sich keine Absicht, neue Wähler durch ein gemäßigtes Auftreten zu gewinnen, erkennen. Keiner der Räte meldete sich in den Bereichen „Infrastruktur / Verkehr“ oder „Umwelt“ zu Wort, durch die die NPD Bürgernähe hätte vermitteln und sich die Akzeptanz der „Mitte der Gesellschaft“ verschaffen können. Vielmehr fielen die Mandatsträger durch provozierende Kommentare und Störungen der Sitzungen auf. Die meisten Wortmeldungen stammten von Peter Schreiber in der Kategorie „Wirtschaft / Finanzen“. Er hielt auch Reden zu sozialen Themen. In keinem Bereich beteiligte er sich ausschließlich sachlich und mit produk­ tiven Lösungsvorschlägen an der Debatte. Durch sein Fachwissen als Finanzwirt im Bereich „Wirtschaft / Finanzen“ gelang es ihm aber teilweise, diesen 51  Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Hrsg.), Protokoll der öffentlichen Sitzung des Kreistages am Montag, dem 29.03.2010, Pirna 2010, S. 13. 52  Vgl. Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Hrsg.), Protokoll der öffentlichen Sitzung des Kreistages am Montag, dem 25.06.2012, Pirna 2012, S. 21. Gegensätzliche Äußerungen in: NPD (Hrsg.), Arbeit. Familie. Vaterland. Das Parteiprogramm der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), Bamberg 2010, S. 13. 53  Vgl. Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Hrsg.), Protokoll der öffentlichen Sitzung des Kreistages am Montag, dem 25.06.2012, S. 13.



Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen

279

Eindruck zu vermitteln.54 Im Rahmen einer Diskussion zur Haushaltssatzung verkündete Schreiber das Scheitern des Plans aufgrund der politischen Rahmenbedingungen, „die sich unter den Stichpunkten Eurowahn, Scheinasylantenwut und mangelnde kommunale Finanzausstattung zusammenfassen ließen“55. Der Einführung eines Sozialtickets stimmte er in einer anderen Sitzung zu, verlangte aber den Ausschluss von Asylbewerbern für diese Vergünstigung.56 Schreiber übte Kritik an den anderen Parteien, als er es bedauerte, wegen des fehlenden Fraktionsstatus von der Erarbeitung von Kompromissen ausgeschlossen zu sein, da die NPD kein richtiges Antragsrecht habe.57 Anders verhielt sich Mirko Beier, der versuchte, die NPD vor allem im Bereich „Soziales“ als Kümmererpartei darzustellen. Er setzte sich für die Belange sozial Schwächerer ein, untermauerte seine Forderungen allerdings nicht mit konkreten Vorschlägen zur Umsetzung. Er befürwortete zum Beispiel Lern- und Lehrmittelfreiheit für Schüler sowie ein kostenfreies Mittagessen, erklärte aber nicht, wie diese Maßnahmen finanziert werden können.58 Am Ziel seiner Partei ließ er bereits in der konstituierenden Sitzung keinen Zweifel. In einer persönlichen Erklärung sagte er: „Deutlich mehr als 5 % der Wähler haben mit ihrem Votum klar gemacht, dass die etablierten Klüngel- und Selbstbedienungsparteien im Kreistag nicht länger unter sich sein sollen und dass die nationale Opposition Stachel im Fleisch eines volksfernen Parteiensystems sein soll.“59 Auch Jürgen Gansel verband die von ihm aufgegriffenen Themen mit Äußerungen, die das Plenum provozieren sollten. Statt sich an der politischen Diskussion zu beteiligen, griff er den politischen Gegner an, verurteilte Maßnahmen gegen Rechtsextremismus oder skandierte fremdenfeindliche Parolen.60 Dennoch hielten sich die beiden Landtagsabgeordneten 54  Vgl. Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 20. Sitzung des Kreistages Meißen am 20.12.2012, S. 10 f. 55  Ebd. 56  Vgl. Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 4. Sitzung des Kreistages Meißen am 13.03.2009, Meißen 2009, S. 18. 57  Vgl. Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 3. Sitzung des Kreistages Meißen am 18.12.2008, Meißen 2008, S. 4 und Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 18. Sitzung des Kreistages Meißen am 05.07.2012, Meißen 2012, S. 3. 58  Vgl. Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 13. Sitzung des Kreistages Meißen am 07.07.2011, Meißen 2011, S. 24. 59  Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche konstituierende Sitzung des Kreistages Meißen am 28.08.2008, Meißen 2008, S. 6. 60  Vgl. zum Beispiel Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift zum öffentlichen Teil der 19. Sitzung des Kreistages Meißen am 11.10.2012, S. 10 und Landkreis Meißen (Anm. 54), S. 6 f.

280

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Gansel und Apfel innerhalb des Kreistages mit Äußerungen zurück. Der Grund wird in der mehrfachen Ämterbelastung vermutet.61 Die Wortmeldungen der NPD im Meißner Kreistag dienten vor allem dazu, die anderen Kreisräte zu kritisieren, das Verhalten des Landrates in Frage zu stellen und sich auf die Landespolitik der NPD zu beziehen, wie es auch Johannes Müller in der Sächsischen Schweiz praktizierte. Die Zielgruppe der Meißner Kommunalpolitiker schien das eigene Klientel der rechtsextremen Szene zu sein, wie die fehlende konstruktive Arbeit der Gruppe zeigt. Trotz dieser Einstellung nahm die Meißner NPD im Vergleich zu den beiden anderen Landkreisen am aktivsten am Geschehen in den Kreistagen teil. V. Anträge der NPD in den kommunalen Parlamenten Von den drei untersuchten Landkreisen brachte die NPD nur im Kreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Sachanträge ein (vgl. Tabelle 4). Der Grund dafür sind die unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen und verschiedene Sitzungsabläufe. Im Landkreis Bautzen war die NPD durch den Fraktionsstatus berechtigt, Sachanträge, Änderungsanträge sowie Anträge zur Geschäftsordnung zu stellen.62 In der Regel wurde die Tagesordnung der Kreistagssitzungen von Beschlussvorlagen der Verwaltung dominiert. So brachte die CDU in der gesamten Legislatur nur einen Sachantrag, die Fraktion der SPD und Grünen insgesamt sechs und die LINKE mit 14 Initiativen die meisten Anträge ein.63 Die NPD stellte keinen einzigen Sachantrag. Die Diskussion zu den einzelnen Tagesordnungspunkten wurde eher zu einer Art Fragestunde für die Mandatsträger aller Parteien. Die beiden Anträge zur Geschäftsordnung, die die NPD im Untersuchungszeitraum initiierte, bezogen sich auf die Tagesordnung. In einem sprach sich Frank Lüdke dafür aus, einen Tagesordnungspunkt in öffentlicher Sitzung zu diskutieren, in dem anderen schlug er eine andere Reihenfolge für die Diskussion verschiedener Beschlussvorlagen vor.64 Beide Anträge wurden abgelehnt. Auch ei61  Beide waren in der untersuchten Legislatur Abgeordnete im Sächsischen Landtag, Jürgen Gansel saß zudem für die NPD im Riesaer Stadtrat. Holger Apfel war zunächst Landesvorsitzender, dann Bundesvorsitzender der Partei, Gansel war bis 2009 ebenfalls Mitglied im Parteivorstand und anschließend Pressesprecher des sächsischen Landesverbandes der NPD. 62  Vgl. Landkreis Bautzen (Hrsg.), Geschäftsordnung für den Kreistag Bautzen und die Ausschüsse, Bautzen 2008, S. 6 f. 63  Eigene Berechnungen auf Grundlage der Niederschriften des Kreistages Bautzen. 64  Vgl. Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 22. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2012, S. 1 und Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 30. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2013, S. 1.



Die Kommunalpolitik der NPD in drei sächsischen Kreistagen

281

Tabelle 4 Anzahl der Anträge, Änderungsanträge, Anträge zur Geschäftsordnung der NPD Landkreis

Anträge

Änderungsanträge

Anträge zur Geschäftsordnung

Initiativen insgesamt

Bautzen

0

2

2

4

Meißen

0

37

5

42

Sächsische SchweizOsterzgebirge

2

4

1

7

Quelle: Eigene Darstellung auf Grundlage der Niederschriften der Kreistagssitzungen der Landkreise Bautzen, Meißen, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge in der Legislaturperiode 2008–2014.

nen der Änderungsanträge stellte Lüdke. Dieser bezog sich auf die Haushaltssatzung 2010, forderte mehr Ausgaben im Bereich Personalkosten und enthielt acht Punkte, die einzeln abgestimmt wurden. Über einen der Punkte wurde nicht abgestimmt, da es sich laut Landrat Michael Harig nicht um einen Antrag handelte. Vier der Punkte bekamen einige Stimmen anderer Kreisräte und Punkt vier des Änderungsantrages zur Finanzlage des Industrieparks „Schwarze Pumpe“ wurde mehrheitlich angenommen.65 Den zweiten Änderungsantrag erläuterte Mario Ertel. Er forderte die Auflösung des Pachtvertrages mit dem Betreiber des Bautzner Flughafens oder, sofern das nicht möglich sei, dessen Verkauf. Dieser Antrag wurde abgelehnt.66 Im Landkreis Meißen konnte die NPD keine Fraktion bilden. Trotzdem wäre es den Mandatsträgern grundsätzlich möglich gewesen, Sachanträge in die Debatte einzubringen. In Anlehnung an die Sächsische Landkreisordnung wurde jedoch ein Antrag nur dann auf die Tagesordnung gesetzt, wenn dem mindestens ein Fünftel der Kreistagsmitglieder oder eine Fraktion zustimmte.67 Dieses Quorum konnte die NPD mit keinem ihrer Anträge erfüllen. In ihren fünf Anträgen zur Geschäftsordnung forderte die NPD eine namentliche Abstimmung. Der Vorgang macht deutlich, welcher Abgeordnete wie gestimmt hat, was die NPD für ihre Außenkommunikation verwenden kann. In allen fünf Fällen wurden die Geschäftsordnungsanträ65  Vgl. Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 11. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2010, S. 13 und 18. 66  Vgl. Landkreis Bautzen (Hrsg.), Niederschrift der 13. Sitzung des Kreistages Bautzen, Bautzen 2010, S. 8 f. 67  Vgl. Freistaat Sachsen (Hrsg.), Landkreisordnung für den Freistaat Sachsen (SächsLKrO), 2014, unter: www.kommunalforum-sachsen.de / dokumente / upload / 840 9c_s%C3%A4chslkro-2014.pdf (10. Januar 2015), S. 16.

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ge abgelehnt.68 Zusätzlich stellte die NPD insgesamt 37 Änderungsanträge, die ebenfalls abgelehnt wurden. Sie wurden immer wieder gebündelt eingebracht: Peter Schreiber stellte in der konstituierenden Sitzung drei Änderungsanträge zur Hauptsatzung und fünf zur Geschäftsordnung.69 In fast allen forderte die NPD mehr Rechte für die kleinen Parteien, die eigene eingeschlossen. Dazu gehörte zum Beispiel die Wahl von mehr Ausschussmitgliedern nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren, um nicht die großen Fraktionen zu begünstigen, die Herabsetzung der Mindestfraktionsstärke und die Entkopplung der Antragstellung an das genannte Quorum.70 Zugleich verlangte die Partei die „Bestellung eines Ausländerrückführungsbeauftragten“, da sich die NPD für die Belange deutscher Bürger einsetze. Laut Protokoll sagte Gansel dazu, dass „sich die NPD den eigenen Landsleuten verpflichtet fühle und Ausländerlobbyismus in jeder Form ablehne“71. Für einen Eklat sorgte Schreiber im März 2011, als er elf Änderungsanträge zum Leitbild des Landkreises einbrachte. In diesen forderte die NPD eine Ausrichtung des Leitbildes nach dem Motto „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“, durch das der Gedanke „der Volksgemeinschaft als tragendes Element“ in das Konzept einfließen sollte.72 In einem Kapitel mit der Überschrift „Landkreis Meißen … ein Hort deutscher Volkskultur“ sollte der Landkreis bekennen, zum „Wohle aller Deutschen“ am „Wiederaufstieg unseres Landes“ zu arbeiten und sich gegen die „identitätszerstörende und antisoziale Globalisierung“ aussprechen. Die Formulierung „Menschen mit Migrationshintergrund“ sollte aus dem gesamten Text gestrichen werden.73 Die restlichen Änderungsanträge der NPD im Kreistag Meißen waren meist ideologisch besetzt. Soziale Forderungen wurden immer mit Abwertungen gegenüber anderen verbunden, wie folgende Beispiele zeigen: In einem weiteren Änderungsantrag aus der konstituierenden Sitzung wurde ein Begrüßungsgeld für Neugeborene zwar befürwortet; dieses sollte aber nur an deutsche Kinder gezahlt werden.74 Dem Jugendhilfeplan könne die NPD nicht zustimmen, weil er nicht politisch neutral sei, sondern dem 68  Vgl. Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 3. Sitzung des Kreistages Meißen, S. 17–20 und Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 7. Sitzung des Kreistages Meißen am 17.12.2009, Meißen 2009, S. 20 sowie Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 27. Sitzung des Kreistages Meißen am 26.06.2014, Meißen 2014, S. 17. 69  Vgl. Landkreis Meißen (Anm. 59), S. 12, 15, 20. 70  Vgl. ebd., S. 14. 71  Ebd., S. 15. 72  Landkreis Meißen (Hrsg.), Niederschrift über die öffentliche 12. Sitzung des Kreistages Meißen am 31.03.2011, Meißen 2011, S. 9–14. 73  Ebd. 74  Vgl. Landkreis Meißen (Anm. 59), S. 63.



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Kampf gegen Rechts diene.75 Zur Haushaltssatzung 2010 schlug die NPD vor, 90 Prozent der Mittel nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu kürzen und stattdessen eine umfangreichere Förderung von Kindertagesstätten zu ermöglichen.76 Die wenigen Änderungsanträge ohne solch provokante Forderungen sahen etwa höhere Investitionen für Kitas, Schulen und den ÖPNV oder die Erstellung eines Mietspiegels vor.77 Diese Anträge wurden selten schriftlich begründet und enthielten keine realistischen Pläne zur Deckung der anfallenden Kosten, weshalb Landrat Steinbach über mehrere Vorschläge der NPD gar nicht abstimmen ließ.78 Es ging der NPD mit den Initiativen hauptsächlich um die Wirkung nach außen und weniger um eine konstruktive Kommunalpolitik. Durch den Fraktionsstatus, den die NPD im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge hatte, war sie berechtigt, Sach- sowie Änderungsanträge und Anträge zur Geschäftsordnung zu stellen, und nutze diese Möglichkeit nur zweimal.79 Im ersten Sachantrag forderte Johannes Müller im Namen seiner Partei, die Pläne einer Zentralisierung aller Rettungsleitstellen in Sachsen zu verwerfen und stattdessen den bisherigen Standort im Landkreis zu erhalten.80 Im zweiten wurde ein jährlicher Bericht zum PublicPrivate-Partnership-Projekt im Schloss Sonnenstein (dem Sitz der Verwaltung) und – falls nötig – eine kurzfristige mündliche Unterrichtung über wesentliche Veränderungen beantragt. Die Vorlage wurde in der Debatte zurückgezogen.81 Drei der vier Änderungsanträge wurden innerhalb einer Sitzung gestellt und forderten die Besetzung der Ausschüsse nach der Mandatsverteilung, das Tagen des Kreisrates in verschiedenen Städten des Kreises und ein Verbot der Handynutzung während der Sitzungen.82 Während 75  Vgl. Landkreis Meißen, Niederschrift über die öffentliche 3. Sitzung des Kreistages Meißen, S. 8. 76  Vgl. Landkreis Meißen, Niederschrift über die öffentliche 7. Sitzung des Kreistages Meißen, S. 20. 77  Vgl. Landkreis Meißen (Anm. 75), S. 16 f. 78  Vgl. ebd. 79  Zum Vergleich: Im gleichen Zeitraum stellte die CDU 18 Anträge und 22 Änderungsanträge, die Fraktion SPD / Grüne 29 Anträge bzw. 72 Änderungsanträge, DIE LINKE 34 Anträge und 59 Änderungsanträge sowie die FDP 12 Anträge und neun Änderungen und die Freien Wähler neun Anträge und fünf Änderungsanträge (eigene Berechnung). 80  Vgl. Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Hrsg.), Protokoll der öffentlichen Sitzung des Kreistages am Montag, dem 21.06.2010, Pirna 2010, S. 28 f. 81  Vgl. Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Hrsg.), Protokoll der öffentlichen Sitzung des Kreistages am Montag, dem 22.06.2009, Pirna 2009, S. 9–18. 82  Vgl. Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Hrsg.), Protokoll der öffentlichen Sitzung des Kreistages am Montag, dem 24.09.2012, Pirna 2012, S. 18.

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der vierte Änderungsantrag lediglich eine formale Anpassung in einem anderen Antrag vorsah, verlangte Steffen Richter im Antrag zur Geschäftsordnung die Absetzung eines Tagesordnungspunktes, unter dem über die dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern diskutiert werden sollte. Da das Asylverfahrensgesetz eine zentrale Unterbringung vorsah, meinte Richter laut Protokoll, der Antrag sei „nicht rechtskonform“83. Alle Anträge wurden abgelehnt. In den Anträgen der NPD-Gruppen der einzelnen Landkreise finden sich nur wenige Gemeinsamkeiten. Die Ursache für die Unterschiede sind nicht nur die verschiedenen Ausgangsbedingungen. So setzen sich zum Beispiel die Meißner Kreisräte und auch die NPD-Fraktion im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge für mehr Kompetenzen kleinerer Parteien in den Kreistagen ein. Offenbar gab es aber keine Absprachen zwischen den Mandatsträgern, wie die konkreten Forderungen zu bestimmten Auszählverfahren von Abstimmungen zeigen. Da es keine wortgleichen Beschlussvorlagen gibt, hat weder der Landesvorstand noch die Kommunalpolitische Vereinigung der NPD Musteranträge an die einzelnen Kommunen verteilt. Den beiden Fraktionen in Bautzen und der Sächsischen Schweiz ist ein eher gemäßigtes Auftreten, das sich auch in den Anträgen widerspiegelt, gemeinsam. Die Meißner Kreisräte nutzen hingegen jede Möglichkeit, das Plenum zu provozieren und die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In allen drei Landkreisen erhalten die Änderungs-, Geschäftsordnungs- oder Sachanträge der NPD hin und wieder Stimmen von Kreisräten anderer Parteien. Dies deutet auf eine stärkere Gewöhnung der Kommunalpolitiker an die Präsenz der NPD in den Vertretungen hin, als es auf Landesebene der Fall war. Dort sorgte jede Stimme eines Abgeordneten einer anderen Partei für eine NPD-Initiative für einen öffentlichen Eklat.84 VI. Kümmerer versus Provokateure – Kommunales Engagement ohne gemeinsame Strategie Die Bedeutung der parlamentarischen Repräsentation für die NPD wird anhand ihrer Priorisierung als ein Grundpfeiler ihres „Vier-Säulen-Konzeptes“ deutlich. Da die NPD außer in Mecklenburg-Vorpommern nur noch in kommunalen Parlamenten vertreten ist, kommt dieser Ebene eine Sonderrolle zu und die Mandatsträger versuchen, durch ein seriöses Auftreten neue Wähler zu gewinnen. In den drei untersuchten Landkreisen repräsentierten 16 Mandatsträger die NPD. Während die Partei im Landkreis Bautzen mit 83  Landkreis

Sächsische Schweiz-Osterzgebirge (Anm. 52), S. 5. Henrik Steglich, Die NPD in Sachsen. Organisatorische Voraussetzungen ihres Wahlerfolges 2004, 2. Aufl., Göttingen 2006, S. 132 f. 84  Vgl.



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fünf und im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge mit sechs Kreisräten jeweils eine Fraktion bilden konnte, gelang ihr das im Kreistag Meißen trotz fünf Räten nicht. Dies wirkte sich auch auf die Fähigkeit aus, in den Sitzungen Sachanträge stellen zu können, da dies an den Fraktionsstatus oder ein Quorum in Höhe von einem Fünftel geknüpft war. Ungeachtet der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen sind die Vorgehensweisen der NPD in den Kreistagen ähnlich. Die Mandatsträger waren bis auf zwei Ausnahmen bemüht, regelmäßig zu den Sitzungen zu erscheinen. In allen Vertretungen nahmen aktiv Mandatsträger der Partei an der Debatte teil. Meist meldete sich jeweils der Fraktions- bzw. Gruppenvorsitzende zu Wort und vertrat die Ansichten der NPD zu den diskutierten Beschlussvorlagen. Inhaltlich überschnitten sich die Prioritäten der Räte, da in allen Kreisen die Kategorie „Wirtschaft / Finanzen“ am häufigsten auftauchte. An zweiter Stelle folgten in Meißen und der Sächsischen Schweiz die Bereiche „Soziales“ und „Inneres“. Weitere Gemeinsamkeiten gab es in der Argumentation, wenn die Rechte der NPD oder allgemein kleinerer Parteien in den Kreistagen, die Asylproblematik oder die finanzielle Situation der Landkreise thematisiert wurden. Andererseits finden sich keine identischen Anträge, die auf ein gemeinsames Erarbeiten der Initiativen schließen lassen können. Das Vorgehen der NPD im Kreistag Meißen lässt sich ebenfalls nicht mit dem in den anderen Vertretungen vergleichen. Die Meißner engagierten sich durch ein provokantes Auftreten offenbar für die Erfüllung der Erwartungen ihrer Anhängerschaft und das Gewinnen neuer Wähler aus der rechtsextremen Szene. Die Fraktion im Landkreis Sächsische-Schweiz-Osterzgebirge bemühte sich, trotz einer großen lokalen Anhängerschaft aus dem extremistischen Milieu,85 sich als Kümmererpartei zu etablieren und von der „Mitte der Gesellschaft“ akzeptiert zu werden. Ähnlich agierte die Bautzner Fraktion, obwohl von ihr die wenigsten Impulse in den Kreistagsdebatten ausgingen. Anhand der untersuchten Beispiele ist keine überregionale kommunale Strategie der NPD in Sachsen zu erkennen. Es kann allenfalls von taktischen Bemühungen gesprochen werden, die sich in den einzelnen Kreistagen ähneln. Dennoch ist im Vergleich zu früheren Studien86 eine aktivere Mitarbeit in den Vertretungen festzustellen. Um die Ergebnisse der Untersuchung für Sachsen generalisieren zu können, ist allerdings eine Betrachtung der Kommunalpolitik der NPD in allen Kreistagen des Freistaates in einer weiterführenden Untersuchung nötig.

85  Vgl. 86  Vgl.

Landesamt für Verfassungsschutz des Freistaates Sachsen (Anm. 2), S. 140. S. Braune u. a. (Anm. 40) und K. Beier u. a. (Anm. 3).

Gottes Gebote in der Politik Christliche Kleinparteien und ihr Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat Von Alexander Kühn I. Deckmantel Politik Christliche Kleinparteien, wie die Partei Bibeltreuer Christen oder die Christliche Mitte, fristen in Deutschland ein Schattendasein. Bei Wahlen scheitern sie deutlich an den Hürden zur Wahlkampfkostenrückerstattung, die auf Bundesebene bei 0,5 Prozent und auf Landesebene bei einem Prozent liegen. Aufgrund ihres marginalen Einflusses finden sie in der Extremismus- und Parteienforschung wenig Beachtung. Abhandlungen, welche sich christlichen Kleinparteien widmen, sind kaum zu finden, jedenfalls ist der Forschungsstand veraltet.1 Die Organisationsform als Partei ist dabei weniger entscheidend, bietet sie doch lediglich einen alternativen Zugang zur Missionierung. Christliche Kleinparteien treten als „Politsekten“ auf: mit klarem religiösem Übergewicht gegenüber dem politischen Element. Parteitage finden in der Regel in Form von Gottesdiensten mit Gesang, Ritualen und Gebet statt.2 Folglich sind sie primär als Glaubensgemeinschaften zu verstehen, welche auf die Verbreitung ihrer Überzeugungen zielen. Während der Islamismus angesichts seiner Gewalttätigkeit, globalen Einflusses und Gegnerschaft zur Demokratie in der Wissenschaft vorrangige Behandlung findet, betrachtet die deutsche Wissenschaft christliche Gruppierungen kaum aus der Extremismusperspektive. Dies wird der Gefährlich1  Hierzu zählen: Kai Oliver Thielking, Zwischen Bibel und Grundgesetz. Christliche Kleinparteien in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1999; Dirk van den Boom, Politik diesseits der Macht? Zu Einfluß, Funktion und Stellung von Kleinparteien im politischen System der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1999; Guido Hoyer, Nicht etablierte christliche Parteien. Deutsche Zentrumspartei, Christliche Mitte, Christliche Partei Deutschlands und Partei Bibeltreuer Christen im Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 2001. 2  Vgl. Oda Lambrecht / Christian Baars, Mission Gottesreich, Fundamentalistische Christen in Deutschland, Berlin 2009, S. 172.

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keit ihrer Glaubensinhalte, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zur Demokratie, nicht gerecht. Der Beitrag geht daher folgender Frage nach: Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten weisen die Partei Bibeltreuer Christen und die Christliche Mitte als prominenteste Vertreter der christ­ lichen Kleinparteien in ihrem Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat auf? Ziel ist zu prüfen, ob beide Parteien die Demokratie ablehnen, begrüßen oder sie instrumentalisieren wollen. Streben die Parteien die Etablierung eines Gottesstaates an? Lehnen sie bestimmte Menschenrechte, beispielsweise das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere die Wahl der Religion und sexuellen Orientierung ab? Durch die Beantwortung dieser Fragen kann die Abhandlung gegebenenfalls einen Anstoß dafür liefern, über eine staatliche Beobachtung der Christliche Mitte und Partei Bibeltreuer Christen nachzudenken. Zur Klärung des Kernanliegens und der sich hieraus ergebenden Teilaspekte ist es notwendig, kurz zu klären, was unter dem Prinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu verstehen ist, genauer was den Minimalkonsens der Demokratie beschreibt. Der Extremismusbegriff muss knappe Erläuterung und Abgrenzung erfahren. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls der Begriff der Theokratie aufzuhellen, weil religiöse Extremismen zumeist auf deren Errichtung zielen. Auf dieser Basis erfolgen die Untersuchungen der Partei Bibeltreuer Christen und der Christlichen Mitte hinsichtlich ihres Verhältnisses zum demokratischen Verfassungsstaat, dem ein Vergleich, der die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Parteien aufzeigt, folgt. Die Analyse beschränkt sich auf die relevantesten und aussagekräftigsten Positionen der beiden Parteien, die sich teilweise überschneiden: Homosexualität, Pornographie, Schule und Heimunterricht, Rolle des Staates und Verhältnis zur Demokratie. II. Theoretischer Bezugsrahmen Der Charakter des demokratischen Verfassungsstaates wird durch dessen minimale Konstitutionsbedingungen festgelegt. Der politische Extremismus ist nach Uwe Backes und Eckhard Jesse die Gegenthese zum demokratischen Verfassungsstaat, folglich geht sein Definitionsbereich aus dessen Minimalbestimmungen hervor.3 Dieser Minimalkonsens der Demokratie beschreibt diejenigen Werte, welche keiner Abstimmung unterliegen, genauer den „Kernbestand unserer Staatsverfassung, den wir ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ nennen“4. Er umfasst eine konstitutionelle und 3  Vgl. Uwe Backes, Politischer Extremismus in demokratischen Verfassungsstaaten. Elemente einer normativen Rahmentheorie, Opladen 1989, S. 87. 4  Ebd., S. 88.



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eine demokratische Komponente. Zur erstgenannten sind „Regeln zur Begrenzung politischer Macht sowie […] [der] Schutz persönlicher Freiheitsrechte“ zu rechnen. Zweitgenannte umschließt „die fundamentale menschliche Gleichheit, die Souveränität des Volkes, die Repräsentation des Volkes durch gewählte Vertreter und die Umsetzung bzw. Einhaltung von Mehrheitsregeln und Minderheitenschutz“5. Das Bundesverfassungsgericht definierte im Rahmen des Verbotsprozesses gegen die Sozialistische Reichspartei die grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Sie umfasst „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“6

Folglich gelten alle Ziele, Haltungen, Handlungsweisen und Institutionen, die sich gegen diese Prinzipien wenden, als extremistisch.7 Jede extremistische Organisation und Denkweise bietet ähnliche Strukturelemente. Für Eckhard Jesse und Tom Thieme sind diese: „Fanatismus, Aktionismus, Dogmatismus, Verschwörungstheorien und Freund-Feind-Stereotype“. Daraus leiten Extremisten auf „organisatorisch-struktureller Ebene“ für sich Erfordernisse, beispielsweise „exklusive[] Gestaltungsansprüche, starke[] und starre[] Hierarchien, charismatische Führung, autoritäre[] Unterwerfung und rechtliche Privilegien“8 her. Armin Pfahl-Traughber benennt folgende Strukturmerkmale, die für alle extremistischen Ideologien zutreffen: exklusiver Erkenntnisanspruch, dogmatischer Absolutheitsanspruch, essentialistisches Deutungsmonopol, holistische Steuerungsabsicht, deterministisches Geschichtsbild, identitäre Gesellschaftskonzeption, dualistischer Rigorismus sowie fundamentale Verwerfungen.9 Steffen Kailitz ergänzt, allen extremistischen Bewegungen wohne „eine Identitätstheorie der Demokratie“ inne. Sie strebten nach der „Bewahrung oder Errichtung einer autoritären oder 5  Eckhard Jesse / Tom Thieme, Extremismus in den EU-Staaten. Theoretische und konzeptionelle Grundlagen, in: dies. (Hrsg.), Extremismus in den EU-Staaten, Wiesbaden 2011, S. 11–32, hier: S. 15. 6  Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes kann unter anderem nachvollzogen werden unter: BverGE 2, 12. unter: www.verfassungsschutz.sachsen.de /  975.htm (25. November 2014). 7  Vgl. E.  Jesse / T.  Thieme (Anm. 5), S. 15. 8  Ebd. 9  Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Gemeinsamkeiten im Denken der Feinde einer offenen Gesellschaft. Strukturmerkmale extremistischer Doktrine, in: ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2009 / 2010. Brühl 2010, S. 9–32, hier: S. 12–26.

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totalitären Diktatur“10. Die gewählten Methoden zur Umsetzung ihrer Ziele reichen von Legalitätswahrung (z. B. Islamische Gemeinde Millî Görüş) bis zur systematischen Anwendung von Gewalt (z. B. Nationalsozialistischer Untergrund).11 Ihren mäßigen Erfolg sehen Extremisten zumeist mit den Kabalen anonymer und konspirativer Kräfte erklärt, beispielsweise durch das „Weltjudentum“, das „Großkapital“12 oder die „Ungläubigen“. Religiöser Extremismus meint „nicht ein[e] besonders dogmatische und fundamentalistische Deutung des Glaubens“13. Vielmehr wollen religiösextremistische Bestrebungen den Geltungsanspruch der eigenen Glaubensinhalte, als Einzige den „wahren“ Glauben zu vertreten, auf die gesamte Gesellschaft übertragen. Dies impliziert das Annullieren der Säkularisation sowie die Installation der religiösen Ansichten im Staat. Letztlich wird die Errichtung einer Theokratie angestrebt, in der Volkssouveränität und Grundrechte keine Rolle spielen. Da ein transzendenter, fiktiver Gott nur schwerlich die Regierung übernehmen kann, läuft die Errichtung einer Theokratie zwangsweise auf eine Herrschaft von Religionsgelehrten hinaus, die in Gottes Namen agieren.14 Religiöser Extremismus lehnt die Minimalbedingungen des demokratischen Verfassungsstaates ab. Er ist eine Spielart des Extremismusbegriffs, der in der öffentlichen Wahrnehmung primär mit dem Islamismus verbunden wird.15 Diese einseitige Assoziation entspricht nicht dem Umfang und dem Gehalt des Begriffs. Religiös-extremistische Strömungen und Gruppierungen existieren im Judentum (z. B. Jewish Defense League), Hinduismus (z. B. Rashtriya Swayamsevak Sangh), Christentum (z. B. militante Abtreibungsgegner in den USA), Islam (z. B. Salafismus), Buddhismus (z. B. Aum Shinkrikyo) und anderen Religionen (z. B. Wotankult) gleichermaßen. Die Demokratie wird hier nicht von linker oder rechter Seite attackiert, sondern von einem zum Äußersten hin gerichteten System von Glaubensinhalten und -praktiken, welches die Minimalbedingungen der Demokratie negiert und die eigene Sichtweise auf die gesamte Gesellschaft übertragen will. Insofern inkludiert der religiöse Extremismus eine politi10  Steffen Kailitz, Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Wiesbaden 2004, S. 15. 11  Vgl. Isabell Canu, Der Streit um den Extremismusbegriff. Die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich mit anderen westlichen Demokratien, in: Eckhard Jesse / Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie, Extremismus, Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 103–125, hier:  S.107. 12  Vgl. Eckhard Jesse, Formen des politischen Extremismus. Westliche Demokratien Europas im Vergleich, in: E. Jesse / S. Kailitz (Anm. 11), S. 127–168, hier: S. 135. 13  Armin Pfahl-Traughber, Extremismus und Terrorismus. Eine Definition aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: ders. (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2008, Brühl 2008, S. 9–33, hier: S. 16. 14  Vgl. ebd., S. 17. 15  Vgl. E.  Jesse / T.  Thieme (Anm. 5), S. 17.



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sche Dimension, da der Anspruch, die Gesellschaft in toto zu bestimmen, politische Macht erfordert. Der Extremismus ist von gemeinsamen Eigenschaften gekennzeichnet, die unter anderem Pfahl-Traughber allgemein für den Extremismus16 und Stefan Braun speziell für die religiöse Variante entwickelten. Letztgenannte umfasst die Merkmale: religiöser Glaube, der sich vehement von anderen Weltanschauungen abgrenzt; theologischer Absolutheitsanspruch auf den privaten und gesellschaftlichen Bereich; apokalyptisches Ziel, welches eine Erlösung der Gläubigen und eine Bestrafung der Ungläubigen impliziert; eine von der Außenwelt abgegrenzte Binnenethik; Verschwörungstheorien, die für die geringen Erfolge der eigenen Gruppierung eine unbekannte Macht verantwortlich machen, welche zu bekämpfen ist; die Wahrnehmung einer spezifischen, religiös begründeten Bedrohung; totalitäre oder autoritäre Ansprüche auf den Staat bei einem Machtwechsel; Missbrauch einer religiösen Schrift zur Instrumentalisierung von Politik und Gesellschaft; die Darstellung der eigenen Lebenspraxis als Heilsweg, die nicht nur für das Individuum gilt, sondern die gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen posi­ tiv beeinflussen will.17 III. Partei Bibeltreuer Christen – Das Gewissen in der Politik Die konfessionsübergreifend angelegte Partei Bibeltreuer Christen (PBC) wurde am 22. November 1989 aus der Initiative von evangelikal-freikirchlichen Pastoren gegründet, deren Vorsitz Gerhard Heinzmann, Leiter des Internationalen Hilfswerks für Zigeuner e. V., übernahm. Im Vergleich zur Christlichen Liga, Christlichen Mitte und Zentrumspartei handelte es sich bei der 270018 Mitglieder starken Partei Bibeltreuer Christen nicht um eine Abspaltung von anderen Parteien, sondern um eine Neugründung.19 Der Parteiname wurde bewusst zur Abgrenzung von anderen christlichen Parteien gewählt, die lediglich den christlichen Bezug herausstellen, während die Partei Bibeltreuer Christen die Bibeltreue als primäres Merkmal exponiert.20 16  A.  Pfahl-Traughber

(Anm. 9), S. 9–32. Stefan Braun, Religiöser und separatistischer Extremismus. Neue Wesensformen bekannter antidemokratischer Bezüge, in: Beiträge zur Internationalen Politik & Sicherheit, (2005) 2, S. 29–39, hier: S. 32 f. 18  Diese Informationen gehen aus dem E-Mail-Verkehr vom Mai / Juni 2014 mit Detleff Karstens (Generalsekretär der Partei Bibeltreuer Christen) hervor. 19  Vgl. Kai Oliver Thielking, Zwischen Bibel und Grundgesetz. Christliche Kleinparteien in der Bundesrepublik Deutschland, Marburg 1999, S. 54. 20  Vgl. Guido Hoyer, Nicht etablierte christliche Parteien. Deutsche Zentrumspartei, Christliche Mitte, Christliche Partei Deutschlands und Partei Bibeltreuer Christen im Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 2001, S. 50. 17  Vgl.

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Ebenso niedrig wie die Mitgliederzahlen sind die Werte, welche die Partei bei Wahlen21 erreicht. Auf Bundesebene erzielte sie 2002 und 2005 ihre Spitzenwerte mit 0,2 Prozent. Zur Bundestagswahl 2013 verzeichnete die Partei Bibeltreuer Christen im Vergleich zur Wahl 2009 einen Zweitstimmenrückgang von 40370 auf 18542 Stimmen, womit sie weniger als 0,1 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte. Ihre stärksten Ergebnisse auf Länderebene erreichte die Partei stets in Baden-Württemberg. Im Jahr 2006 strich sie beispielsweise 0,7 Prozent ein. Auf europäischer Ebene besitzt die Partei keinen Einfluss und verliert stetig an Stimmen: Entschieden sich 2004 noch 0,4 Prozent (98651 Stimmen) für die Partei Bibeltreuer Christen waren es 2009 lediglich 0,3 Prozent (80688 Stimmen). Die Europawahl 2014 spiegelte für die Partei, bei einem Ergebnis von 0,2 Prozent (55336 Stimmen), einen erneuten Stimmenverlust wider. Erstens konzentrierte sich die Partei Bibeltreuer Christen im Wahlkampf primär auf die eigene Parteizeitung „Salz & Licht“, womit sie Wahlkampf um ihre Stammwähler betrieb. Zweitens konnte sie, durch die Plakatierung und die Aussagen in den Medien, nicht das Image einer radikalen pro-life, homo- und islamophoben Bewegung ablegen, die sie für einen breiteren, christlich verankerten Kreis wählbar gemacht hätte. Bei der Analyse der Partei rückt insbesondere ihre Haltung zur Homo­ sexualität in den Mittelpunkt. In ihrer Wahrnehmung ist sie wider die Natur und Folge der „ ‚Abwendung von Gott‘ “22. Gleichgeschlechtliche Liebe entspringe einer „geistliche[n] Verkümmerung“, die als „Mangelerscheinung des Glaubens, die […] Verkrüppelung der Seele und des ganzen Menschen zur Folge“23 habe. Sie sei als „Perversion“ zu verstehen, die ein „Strafgericht Gottes bereits im irdischen Leben“24 darstelle. Da Homosexualität nicht die Reproduktion der Menschen gewährleiste, diene sie „einzig der Selbstbefriedigung.“ Gesellschaften, die sich diesen „dominant selbstbefriedigenden Charakter“ annehmen, seien stets an dieser „inneren Fäulnis“25 zugrunde gegangen, wie der Untergang des Römischen Reichs zeige.26 Nach Meinung der Partei Bibeltreuer Christen verstößt Homosexualität 21  Alle Werte wurden der Internetpräsenz des Bundeswahleiters unter www. bundeswahlleiter.de entnommen. 22  PBC, Homosexualität. Informationen und Orientierungshilfen zum Thema Homosexualität, unter: www.pbc.de / index.php?id=1359 (26. November 2014). 23  PBC, Salz und Licht, (1998) 3–4, S. 6, zit. nach: REMID, Gott in den Bundestag. Zielsetzung und Programmatik der Parteien Christliche Mitte (CM) und Partei Bibeltreuer Christen (PBC), 2. Aufl., Marburg 2001, S. 30. 24  Herbert Masuch, Werte-Orientierung für Christsein in Familie, Beruf, Gesellschaft und Politik, Norderstedt 2006, S. 113. 25  PBC, Salz und Licht, (2011) 4, S. 10. 26  Vgl. ebd.



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„gegen das Grundgesetz und Gottes Gebote“27, allerdings klärt sie nicht, welche Artikel der Verfassung gemeint sind. Insbesondere die „göttliche Verurteilung und [… die] bekannten schrecklichen Folgen“ von Homosexualität beunruhigen die Partei. Der Grund, homosexuell zu sein, wird in der „Rebellion gegen Gottes Sexualordnung und [in der] versteckte[n] Liebe zur Sünde“28 gesehen. Gleichgeschlechtlichkeit sei weder beim Tier noch Menschen angelegt, sondern eine bewusste Strategie gegen Gott und daher veränderbar: Der „Versuch, seine sexuelle Identität an der Bibel auszurichten, [hat] begründete Aussicht auf Erfolg“. Das Eintreten für einen „Ausstieg aus der Homosexualität“ heißt dabei für die Partei Bibeltreuer Christen nicht, „den Homosexuellen […] [abzulehnen], wohl aber dessen Homo­ sexualität“29. Trotz derartiger Forderungen sieht sich die Partei in einer Opferrolle: „Wer äußert, Homosexualität nicht zum Inhalt seines Lebens zu machen, kommt leicht in die Verlegenheit, als ein Fundamentalist, ein Homophober oder gar ein Faschist beschimpft zu werden.“30 Dass der Vorwurf der Feindseligkeit gegenüber Homosexuellen auf sie zutrifft, ist am Eckpunkteprogramm der Partei Bibeltreuer Christen ablesbar: Darin fordert sie die „Wiedereinführung der Bestrafung von Kuppelei und homosexuellen Beziehungen mit Jugendlichen“31. Sie tritt damit für die Neuauflage des Paragraphs 180 StGB ein, der seit 1973 lediglich in abgeschwächter Form gilt.32 Vorehelicher Geschlechtsverkehr, Unzucht, wozu die Befriedigung des Geschlechtstriebes insbesondere homosexueller Menschen zählt, sowie die Verschaffung von sexuellen Gelegenheiten sollen aus Sicht der Partei Bibeltreuer Christen unter Strafe stehen. Die Partei verstößt mit diesen Forderungen gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in Art. 3 Abs. 3 GG und Art. 4 GG sowie die entsprechenden Richtlinien der Europäischen Union33. Ferner tritt die Partei für die Wiedereinführung des 1969 abgeschafften Verbotes von Pornografie ein. Diese „verhängnisvollen Entscheidungen der Vergangenheit“ müssten revidiert werden, um dem Innenweltschutz, den 27  H. Masuch

(Anm. 24), S. 79. S. 24. 29  PBC, Salz und Licht, (2009) 2, S. 6 f. 30  PBC (Anm. 25), S. 12. 31  PBC, Grundsätze und Eckpunkte der Partei Bibeltreuer Christen, Karlsruhe 2013, S. 20. 32  Kuppelei ist seit dem 4. Strafrechtsformgesetz von 1972 nur noch strafbar, wenn sie mit Drohung oder Gewalt, aus Gewinnsucht oder bei Minderjährigen stattfindet. Vgl. Kuppelei, unter: www.rechtslexikon.net / d / kuppelei / kuppelei.htm ­ (8. Mai 2014). 33  Hierzu zählen: Richtlinie 2000 / 43 / EG, 2000 / 78 / EG, 2002 / 73 / EG, 2004 / 113 /  EG. 28  Ebd.

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Schutz der Seele vor Verschmutzung, zu gewährleisten und die „Gesetzgebung wieder auf eine ethisch akzeptable Grundlage zu stellen.“ Die „öffentliche Darstellung sexueller Unzucht [… muss] in einem Rechtsstaat untersagt bleiben“, da sonst „das sittliche Gemeinwesen [… und] der Rechtsstaat in seinen Grundfesten langfristig zerstört“34 würden. Aus dem Blickwinkel der Partei Bibeltreuer Christen hat die Legalisierung der Prostitution „Deutschland zum größten Bordell und Menschenhandels- und Menschenumschlagplatzes in Europa gemacht.“35 Die wachsende Zahl von Sexualstraftaten sei dabei auf die zunehmende Sexualisierung unserer Gesellschaft zurückzuführen. Das „Stimulationslevel“36 sei, insbesondere in Medien, Politik und Werbung, wieder deutlich zu senken. Für die Partei Bibeltreuer Christen darf Kindern und Jugendlichen jeder Herkunft und Glaubensrichtung die Wahrheit nicht vorenthalten werden. Sie plädiert für „regelmäßige Bibelunterweisungen an den Schulen“37, da „Ehrfurcht und Respekt vor Gott und Seinem Wort […] für orientierungslose Jugendliche der beste Schutz vor Drogen, Alkoholmissbrauch und Kriminali­ tät“38 sei. Da „alle Dinge in Naturwissenschaft und Gesellschaft […] auf biblische Aussagen zurückzuführen“ seien, müsse die Bibel „in allen ­ Aussagen“39 in den Unterricht eingebunden werden. Die Wiedereinführung des Schulgebets und die Förderung von Schulen in freier Trägerschaft40 veranlasse die Schüler, Jesus und andere biblische Persönlichkeiten wieder als Vorbilder anzunehmen.41 Die Partei Bibeltreuer Christen bleibt bei der Forderung nach Bibelunterricht an Schulen nicht stehen: Sie spricht sich für Heim­ unterricht aus, wobei die „Verfolgung von Eltern, die ihre Kinder zuhause und nicht an öffentlichen Schulen unterrichten […], eine Verletzung fundamentaler Grundrechte“42 darstelle. Eltern hätten „jederzeit das Recht, ihre Kinder aus Gewissensgründen von einseitig ideologisch geprägten oder gar indoktrinierenden Unterrichtseinheiten (z. B. Sexualerziehung) fernzuhalten.“ Staatliche Gelder, die derzeit direkt an die Schulen fließen, sind nach Meinung der Partei an die Familien auszuzahlen unter der Bedingung, „eine adäquate Schulbildung für die Kinder zu gewährleisten“.43 Mit dem Geld sollen 34  PBC

(Anm. 31), S. 13. Salz und Licht, (2014) 1, S. 5. 36  PBC, Salz und Licht, (2008) 3, S. 7. 37  PBC, Salz und Licht, (2010) 3, S. 7. 38  PBC, Salz und Licht, (2008) 1, S. 6. 39  H. Masuch (Anm. 24), S. 111. 40  Vgl. K. O. Thielking (Anm. 19), S. 83. 41  Vgl. PBC, Salz und Licht, (2008) 1, S. 6. 42  PBC (Anm. 31), S. 7. 43  Ebd., S. 22. 35  PBC,



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Schulgebühren, beispielsweise für christliche Bekenntnisschulen, oder Heim­ unterricht finanziert werden. Durch die Forderung nach Bibelunterricht für alle Schüler verstößt die Partei Bibeltreuer Christen gegen die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit44 (Art. 7 Abs. 2 GG45). Die Befürwortung von Heimunterricht widerspricht Art. 7. Abs. 1 GG: „Das gesamte Schulwesen steht unter Aufsicht des Staates.“46 Darüber hinaus würde die Partei Bibeltreuer Christen, bei der Umsetzung ihrer Forderungen, die in den jeweiligen Landesverfassungen geregelte Schulpflicht brechen. Der Staat muss aus Sicht der Partei Bibeltreuer Christen regulierend in das Leben der Menschen eingreifen. Er sei ein „Diener des Bürgers“, der dafür sorgen müsse, „das Böse zu bestrafen und das Gute zu schützen und zu fördern“.47 Der Staat gewährleiste seinen Einwohnern, ein „freies, sicheres und sittliches Leben führen zu können“48, wobei Letztgenanntes auf den Innenweltschutz zielt. Der Staat müsse im Verständnis der Partei Bibeltreuer Christen über die Moral seiner Bürger wachen und gegebenenfalls steuernd eingreifend. Seit der sexuellen Revolution im Jahr 1968 und der damit verbundenen gesellschaftlichen Öffnung komme er dem jedoch nicht mehr nach. Vielmehr werde der Staat seitdem „missbraucht […], um die Bevölkerung zu indoktrinieren, mit dem Ziel die sittliche Ordnung aufzuheben.“ Beispiele hierfür seien „das Unterlaufen der Sexualethik, die antiautoritäre Pädagogik, der Feminismus, […] das Gender-Mainstreaming“49 und die Legalisierung der Abtreibung. Der deutsche Staat müsse diese Übertretungen des christlichen Glaubens zurücknehmen und sich der Gesellschaft in Form eines Sittenwächters annehmen. Die Partei Bibeltreuer Christen sieht dabei ihrer Motivation und ihr Potenzial in der Rettung der Menschen, da es Christen „nicht gleichgültig [… ist], wo ihre Landsleute die Ewigkeit zubringen“. Anliegen der Partei ist es, „jeden Bürger vor den diesseitigen und jenseitigen Folgen einer Abkehr von Gott klar zu warnen.“50 Sie versteht sich als auserwählt, jedes Individuum vor der Hölle zu bewahren. Die Partei drängt die Menschen, Gottes Gebote anzunehmen, womit sie auf eine totale Steuerung der Gesellschaft zielt, deren Berechtigung sie in ihrem exklusiven Wissen über die „Wahrheit“ begründet sieht. 44  Vgl.

G. Hoyer (Anm. 20), S. 55 f. heißt es: „Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, über die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen.“ 46  Ebd. 47  PBC, Salz und Licht, (2012) 2, S. 10. 48  PBC (Anm. 31), S. 4. 49  Ebd., S. 13. 50  H. Masuch (Anm. 24), S. 62. 45  Dort

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Trotz dieses exklusiven Erkenntnisanspruchs räumt die Partei Bibeltreuer Christen ein: Es gebe „konkurrierende Wahrheiten und Bewertungen in einer Demokratie und immer wieder [bestehen] Möglichkeiten, eingeschlagene Wege zu korrigieren.“51 In der Präambel ihres im Jahr 2013 neu aufgelegten Eckpunkteprogramms „bekennt sich [die Partei Bibeltreuer Christen] entsprechend zum freiheitlichen Rechtsstaat und zur parlamentarischen Demokratie […] und ebenso zum deutschen Grundgesetz“52. Sie schätzt die „pluralistische Gesellschaftsform […] als weise Staatsform“53 und fühlt sich zu „Deutschland als eine politisch souveräne und selbstbestimmte Nation freier Bürger“ verpflichtet. Dies ist für die Partei stets „mit dem Respekt vor jeder anderen Nation und Volksgruppe verbunden.“54 Sie strebe „keinen ‚Gottes­ staat‘ “55 an und befürworte „die Trennung von Kirche und Staat“56. Jedes Individuum solle „selbstbestimmt und in Verantwortung vor Gott“57 leben und die „Meinungs-, Presse- und Predigtfreiheit“58 sowie alle anderen Grundrechte genießen. Die Partei, die nicht „in das soziale Schema von rechts und links pass[t]“59, betrachtet sich als Vertreter aller Menschen. Sie strebt mit demokratischen Mitteln eine Wiederbelebung beziehungsweise eine Reparatur der christlichen Werte an. Sie will das Gewissen der Politik sein. IV. Christliche Mitte – Für ein Deutschland nach Gottes Geboten Die katholisch ausgerichtete Christliche Mitte (CM) wurde am 27. August 1988 in Köln als Abspaltung der Deutschen Zentrumspartei von Adelgunde Mertensacker60 und einigen ehemaligen Führungsmitgliedern gegründet. Trotz des Weiterbestehens der Deutschen Zentrumspartei sieht sich die Christliche Mitte als legitime Zentrumspartei und postuliert, das Zentrum sei in „Christliche Mitte“ umbenannt worden.61 Die aktuelle Mitgliederzahl 51  PBC,

Salz und Licht, (2012) 2, S. 3. (Anm. 31), S. 3. 53  PBC, Salz und Licht, (2013) 1, S. 9. 54  PBC (Anm. 31), S. 14. 55  PBC, Salz und Licht, (2013) 2, S. 8. 56  PBC (Anm. 31), S. 3. 57  Ebd., S. 9. 58  PBC, Salz und Licht, (2008) 4, S. 3. 59  PBC, Salz und Licht, (2012) 1, S. 11. 60  Mertensacker verstarb im Oktober 2013. Ihr Nachfolger Josef Happel ist nicht in dieses Amt gewählt worden, sondern als Stellvertreter nachgerückt. Eine Neubesetzung des Postens oder die Bestätigung Happels auf dem Bundesparteitag stehen aus (Stand: Frühjahr 2015). 61  G. Hoyer (Anm. 20), S. 22. 52  PBC



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der Christlichen Mitte lässt sich nicht exakt bestimmen, da die Partei seit Jahren die Rechenschaftsberichte an den Bundestag schuldig bleibt. Anlässlich der Europawahl 2014 gab die Partei auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung „einige tausend Mitglieder“62 an. Bei Bundestagswahlen63 erreichte die Partei im Jahr 1990 mit 9.824 beziehungsweise 0,08 Prozent der Wählerstimmen ihr stärkstes Ergebnis. 2005 kandidierte sie ausschließlich mit Direktkandidaten, was der Partei ihr schlechtestes Ergebnis auf Bundesebene, mit nur 1011 Stimmen, einbrachte. Zur Bundestagswahl 2013 wurde sie zwar zur Wahl zugelassen, jedoch stellte die Partei keine Kandidaten beziehungsweise keine Landesliste auf. Auch bei Landtagswahlen erreichte sie nie Ergebnisse über 0,1 Prozent. Der Blick auf die europäische Ebene offenbart das gleiche Bild: Die Christliche Mitte erlangte mit aufgerundeten 0,2 Prozent (66.766 Stimmen) zur Europawahl 1994 ihr stärkstes Ergebnis. Anlässlich der Auswertung der Europawahl 2009, bei der sie nur 39.953 Stimmen auf sich vereinen konnte, freut sich die Christliche Mitte „ihre Stellung gehalten“ zu haben. „Die CM durfte ihren Bekanntheitsgrad erheblich ausweiten, [und] zahlreiche neue Mitstreiter hinzugewinnen“64. Die Partei wünscht sich, nie die Sperrklausel zu überspringen: „Ich wünsche der CM, daß sie nie über die 5 %-Hürde kommt, denn das ist ein ‚Qualitätsbeweis‘. Wir dürfen nicht vergessen, daß JESUS CHRISTUS mit 12 Jüngern die Welt veränderte, während Ihn die Volksmehrheit ans Kreuz verwünschte.“65 Entgegen dem Ziel, die Politik an die Gebote Gottes zu binden, deutet die Christliche Mitte den geringen Zuspruch zu ihren Inhalten als Erfolg um. Gerade die Ablehnung durch die Mehrheit sei ein Zeichen für Qualität und ein Garant für den Sieg. Die Darstellung der Partei als „kleine Herde“, der, trotz eines übermächtigen Feindes, der Erfolg sicher sei, kann als Strategie gedeutet werden, die wenigen verbliebenen Mitglieder zum Bleiben zu animieren. Neben dem Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche und den Islam ist das entschiedene Eintreten gegen die Homosexualität Kernthema der Christlichen Mitte. Für die Partei handelt es sich bei gleichgeschlechtlicher Liebe um eine „Krankheit, da sie die Lebens- und Arterhaltungsfunktionen stört“. Zugleich sei aus psychologischer Perspektive eine Krankheit festzustellen: „und zwar eine erworbene Sexualneurose.“ Homosexuelle entwickeln „in 62  Theresia Smolka, Christliche Mitte – Für ein Deutschland nach GOTTES Geboten. Parteiprofil, unter: www.bpb.de / politik / wahlen / wer-steht-zur-wahl / europa wahl-2014 / 180965 / cm (26. November 2014). 63  Alle Werte wurden der Internetpräsenz des Bundeswahleiters unter www. bundeswahlleiter.de entnommen. 64  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2009) 8, S. 2. 65  CM, Kurier der Christlichen Mitte. (2007) 12, S. 3.

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der Regel eine pathologische Sex-Sucht, eine Hypersexualität in der ständigen Suche nach neuen Partnern und damit eine Versklavung an den naturwidrigen Sex-Trieb“.66 Weil „Homos weder in hormoneller noch anderer physischer Hinsicht abweichen von gesunden Menschen“, sei Homosexualität kein angeborenes Phänomen: „Es gibt keine Homo-Gene.“67 Folglich meint die Partei, homosexuelle Veranlagungen seien heilbar nach dem Prinzip: Was erlernt worden sei, könne auch wieder verlernt werden. Sie empfiehlt, diese „ungeordnete Neigung“68 einer Therapie zu unterziehen. Den Ursprung homosexueller Neigungen sieht die Christliche Mitte in der Beeinflussung durch falsche Informationen, welche die Jugendlichen in ihrer „gesunden“ Entwicklungsphase stören. Wer ihnen in diesem Zeitabschnitt die „Verirrung“ vermittle beziehungsweise die jungen Menschen zum „Outen“ dränge begehe ein Verbrechen.69 Homosexualität und die Meinung der Majorität, diese sei genuin, ist für die Christliche Mitte eine „epidemisch verbreitete Dummheit […], die Folge der freien Entscheidung gegen GOTT und Seine Gebote“70 sei. Sie stelle eine Verletzung der göttlichen Ordnung beziehungsweise der gesunden Lehre dar und sei ein Werk des Teufels71. Gott sehe für „diese Verirrung die Todesstrafe“72 vor. Die Christliche Mitte fordert zwar weder die Todesstrafe noch Haftstrafen für Homosexuelle in Deutschland, sie begrüßte jedoch die vom ugandischen Parlament ratifizierten Gesetze zur Diskriminierung von Homosexuellen, die gleichgeschlechtliche Liebe mit lebenslänglicher Haft und im Wiederholungsfall mit dem Tod belangen.73 Mittlerweile wurde das Gesetz durch das ugandische Verfassungsgericht gekippt.74 Dennoch: Durch diese Befürwortung und die Forderung im Grundsatzprogramm nach „Strafrechtsschutz vor der Homosexualität“75 knüpft die Christliche Mitte an rechtsextremes Gedankengut an. Dies untermauert der Artikel „Unreines Homo-Blut“76, in 66  Adelgunde Mertensacker, Wissenschaftliche Erkenntnisse zur Homosexualität. Flugblatt der CM, Lippstadt o. J. 67  Dies., Reform oder Umsturz. Sonderdruck, Lippstadt o. J., S. 13 f. 68  A. Mertensacker (Anm. 66). 69  Vgl. ebd. 70  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2009) 7, S. 2. 71  Vgl. ebd. 72  A. Mertensacker (Anm. 66). 73  Vgl. CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2010) 4, S. 4. 74  Vgl. Verfassungsgericht kippt Anti-Homosexuellen-Gesetz, 1. August 2014, unter: www.spiegel.de / politik / ausland / uganda-anti-homosexuellen-gesetz-gekipptvon-verfassungsgericht-a-984031.html (17. März 2015). 75  CM, Grundsatzprogramm, unter: www.christliche-mitte.de / index.php?option= com_content&view=article&id=14&Itemid=27 (27. November 2014). 76  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2009) 10, S. 4.



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dem – faktisch korrekt – die Tatsache aufgeworfen wird, wonach Homo­ sexuelle von der Blutspende ausgeschlossen sind.77 Die Herausstellung der Reinheit des Blutes heterosexueller Menschen verkörpert einen Anknüpfungspunkt an das Rassendenken im Rechtsextremismus. Zwar stellt dies keinen eindeutigen Beleg für die rechtsextremistische Gesinnung der Christlichen Mitte dar, jedoch bewegte sich die Partei auch in ihrer Vorgeschichte, durch die Forderung nach Exklusion Homosexueller von der Gesellschaft wie „Seuchenkranke“78, in der Nähe jener Ideologie.79 Weil die Christliche Mitte strafrechtliche Normen fordert, also bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe stellen will, plädiert sie de facto für ein Verbot der Homosexualität. Da die Wahl der sexuellen Orientierung allerdings Teil der Selbstbestimmung des Menschen ist, verstößt ihre Position gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die Partei missachtet damit in Teilen die im Grundgesetz gewährleisteten Menschenrechte. Im Rahmen des katholischen Konzepts der Ein-Ehe, welches die Christliche Mitte präferiert, und den damit verknüpften Verboten hinsichtlich der freien Entfaltung der Sexualität lehnt die Partei ebenfalls die Prostitution ab. Sie tritt gegen einen Staat ein, der Frauen, „die an vorbeifahrenden Autos wie Hamburger angeboten werden“80, als Dienstleistung in Anspruch nehme. Im Rahmen ihrer Jugendpolitik insistiert die Christliche Mitte ferner auf ein „Verbot der entwürdigenden Pornografie“81, womit ein Eingriff in Art. 5 GG, die Meinungs- und Pressefreiheit, Freiheit der Kunst und Wissenschaft, vorliegen würde. Die Christliche Mitte tritt zudem für das Recht auf Hausunterricht ein. Die in den Schulen gelehrte Sexualkunde rufe bei Kindern „irreparable Schäden für ihr gesamtes Leben“82 hervor, „wodurch sie […] in der Gefahr 77  Aus Gründen des Infektionsschutzes sind seit den 1990er Jahren Homosexuelle von der Blutspende ausgeschlossen. Das Risiko, den HI-Virus weiterzugeben ist insbesondere bei homosexuellen Männern, aber auch bei Drogenabhängigen oder Menschen mit häufig wechselnden Sexualpartnern, erhöht. 78  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2000) 7, zit. nach: G. Hoyer (Anm. 20), S. 32. 79  Vgl. Carsten Paals, Christlich motivierte Kleinparteien in Deutschland und ihr Verhältnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Eine Fallstudie anhand der „Christlichen Mitte“ und der „Partei Bibeltreuer Christen“, ZVR-online Dok, 45 (2012), Rn. 37, unter: www.zvr-online.com / archiv / 2012 / september-20123 / carstenpaals-christlich-motivierte-kleinparteien-in-deutschland-und-ihr-verhaeltnis-zurfreiheitlichen-demokratischen-grundordnung-eine-fallstudie-anhand-der-christlichenmitte-und-der-partei-bibeltreuer-christen /  (22. Mai 2015). 80  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2014) 5, S. 3. 81  CM (Anm. 75). 82  CM. Kurier der Christlichen Mitte, (2011) 3, S. 2.

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stehen, die Ewigkeit zu verlieren“. Die Schule sei heute ein „nicht zu unterschätzender Brennpunkt der Entchristlichung in unserem Land“83. Die Partei unterstützte die Verfassungsbeschwerde von 2006 über die in den Schulen gelehrten Inhalte, welche das Bundesverfassungsgericht mit einem Nichtannahmebeschluss beantwortete. Aus Sicht der Beschwerdeführer verletzt die grenzenlose Sexualerziehung in Schulen die Grundrechte. Ferner unterdrücke der Staat bewusst die Unterrichtung der Schöpfungs- zugunsten der Evolutionslehre. Er zersetze damit das christliche Familienbild.84 Um diesem Verfall entgegenzuwirken, sagt die Christliche Mitte „ja zum konfessionellen Religionsunterricht und nein zum interreligiösen- und IslamUnterricht in öffentlichen Schulen“85. Am besten sei es, die Kinder von der Schule abzumelden und daheim zu unterrichten. Die deutsche Schulpflicht müsse einer Bildungspflicht weichen, die Hausunterricht gestattet.86 Heutzutage würde „undemokratisch [… der] Schulzwang gegen privaten ­ Haus-Unterricht durchgesetzt“.87 Diese „öffentliche Zwangskasernierung“88 kommt für die Christliche Mitte einer Aufhebung der Grundrechte gleich, insbesondere wenn gegen einzelne Familien der „ideologische Zwangsstaat vor der Tür“89 steht. Dabei hätten internationale Studien bewiesen: Kinder, die heimischen Unterricht genössen, stünden ihren Altersgenossen in nichts nach, eher überträfen sie die klassischen Schulgänger noch.90 Mit ihren Ansinnen, Hausunterricht in Deutschland zu legalisieren und eine Pflicht für die christliche Religionslehre in Schulen einzuführen, verstößt die Christliche Mitte gegen Art. 7 GG, im Besonderen gegen die Absätze eins bis drei, wonach das Schulwesen Aufgabe des Staates ist und die Teilnahme am Religionsunterricht in der Entscheidung der Eltern liegt. Darüber hinaus ignoriert sie die Verantwortung des Staates, Chancengleichheit herzustellen, wozu die Schulpflicht wesentlich beiträgt. Mit Blick auf das Verhältnis zum demokratischen Verfassungsstaat erscheint die Christliche Mitte prima facie als treu zu Demokratie und Grundgesetz: „Die CHRISTLICHE MITTE bekennt sich zum demokratischen Rechtsstaat, zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung und fordert eine Politik ‚in Verantwortung vor GOTT‘.“ Wie der letzte Teilsatz andeutet, verlangt die Partei „alle staatlichen Gesetze an den Geboten GOTTES zu 83  CM

Kurier der Christlichen Mitte, (2007) 4, S. 3. CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2007) 3, S. 1. 85  CM (Anm. 75). 86  Vgl. CM, Melden Sie Ihre Kinder ab!. Flugblatt der CM, Lippstadt o. J. 87  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2014) 5, S. 3. 88  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2007) 2, S. 3. 89  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2007) 7, S. 2. 90  Vgl. CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2007) 4, S. 2. 84  Vgl.



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orientieren und das Leben an den göttlichen Grundgesetzen […] auszurich­ ten“91. Die Christliche Mitte nimmt für sich und das Christentum in Anspruch, die Wurzel der Demokratie zu sein, da „kein Staat […] die Freiheit und die mit ihr verbundenen Werte der Demokratie aus sich selbst heraus begründe[t]“92. Nur durch die christliche Prägung Europas hätten die europäische und insbesondere die deutsche Leitkultur entstehen können. Entgegen der Behauptung, die Demokratie und damit auch die Mehrheitsregel zu achten, ist Gottes Wort für die Christliche Mitte unantastbar und der Demokratie höhergestellt: „Auch wenn die Mehrheit es duldet, so kann eine ‚Mehrheit‘ in einem Land nicht ‚GOTTES Gebot außer Kraft setzen‘. Gottes Gebote unterliegen nicht demokratischen Spielregeln.“93 Daher könne „keine Legislative […] die Zehn Gebote abschaffen, weil das göttliche Gesetz ein Naturgesetz ist, welches das Bestehen jeder Gesellschaft gewährleistet“.94 Nicht demokratische Strukturen und die Einhaltung ihrer Spielregeln garantieren den Zusammenhalt innerhalb einer Gesellschaft, sondern die Beachtung der göttlichen Normen, die den demokratischen übergeordnet seien. Die Christliche Mitte zielt darauf, „das christliche Sittengesetz als politische Richtschnur anzuerkennen und damit Deutschland unter die Herrschaft JESUS CHRISTI zu stellen“.95 Die Partei verstößt damit gegen die in Art. 4 GG gewährte äußere Religionsfreiheit, welche die Freiheit des Glaubens als unverletzlich beschreibt. Da sie die Evolutionstheorie nicht nur als Gotteslästerung verneint, sondern sie als atheistische Ideologie betitelt, sind zudem, im Falle der Regierungsübernahme durch die Christliche Mitte, Einschränkungen in der Wissenschaft zu erwarten.96 Weil Gott seine Gebote öffentlich verkündet habe, „ist auch der Staat an die göttlichen Gesetze gebunden.“97 Er sei „verpflichtet, die wahre Religion zu fördern und die Gesellschaft vor der Verbreitung religiöser Irrlehren zu schützen“.98 Die Partei unterstreicht den unmittelbaren Geltungsanspruch der göttlichen Gebote als politische Doktrin.99 Zwar bleibt sie bei konkreten Gesetzesänderungen bewusst doppelsinnig, jedoch deutet die Forderung nach der Etablierung des Christentums als Staatsreligion darauf hin: Die 91  CM

(Anm. 75). Mertensacker, Moscheen in Deutschland. Stützpunkte islamischer Eroberung, Lippstadt 2001, S. 218. 93  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2012) 4, S. 4. 94  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2010) 2, S. 4. 95  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2007) 9, S. 1. 96  Vgl. C. Paals (Anm. 79), Rn. 34 f. 97  CM (Anm. 75). 98  CM, Kurier der Christlichen Mitte, (2012) 8, S. 3. 99  Vgl. C. Paals (Anm. 79), Rn. 43f. 92  Adelgunde

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Christliche Mitte strebt die Errichtung eines Gottesstaates an. Der Staat und die Gesetze seien dem religiösen Gesetz unterzuordnen, was nur durch die Aufhebung der Säkularisation und die Installation einer Theokratie möglich sei. Das Sakrale erlangt Vorzug, womit dessen Herrschaft über das Welt­ liche einhergeht. Die Christliche Mitte drängt auf eine identitäre Gesellschaftskonzeption: „‚ICH bin der HERR, dein GOTT’ bedeutet göttliche Hoheitsrechte über alle Bereiche des menschlichen Lebens. Das 1. Gebot […] ist das göttliche Grundgesetz jedes gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Die staatliche Ordnung steht und fällt mit der Anerkennung GOTTES als des HERRN eines jeden Volkes und damit auch des deutschen.“100

Die politisierte Religion wird bestimmendes Motiv in jeglichen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Die Zehn Gebote verstehen sich nicht als Orientierung oder Bezugspunkt, sondern als ultimatives Ziel. Die Christliche Mitte will zwar Akzeptanz und Vorrechte gegen die Demokratie erringen, jedoch geht das Ziel ihrer Arbeit, die Unterordnung des Staates unter die christliche Ideologie, darüber hinaus. V. Unterschiede und Gemeinsamkeiten Bei der Betrachtung des Verhältnisses der Partei Bibeltreuer Christen und der Christliche Mitte zum demokratischen Verfassungsstaat und seinen Minimalbedingungen ergeben sich einige Gemeinsamkeiten: Homosexualität ist für beide Parteien, aufgrund der fehlenden Reproduktionsleistung, widernatürlich. Ferner stelle diese „heilbare Krankheit“ einen Angriff auf die göttliche Ordnung dar. Die Partei Bibeltreuer Christen und Christliche Mitte treten für das Verbot der Homosexualität ein, beziehungsweise fordern deren Bestrafung. Sie verstoßen damit gegen Art. 3 GG und Art. 4 GG, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, welches eine Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung verbietet, sowie gegen die entsprechenden EU-Richtlinien. Die Christliche Mitte bedient sich dabei eines beleidigenden und verleumderischen Sprachstils, wie die Betitelung von Homo­ sexuellen als „Seuchenkranke“ oder die Betonung des unreinen Bluts homosexueller Menschen belegt. Zwar greift die Partei Bibeltreuer Christen auf derartige Mittel nicht zurück, jedoch verhält es sich am Ende gleich: Beide Parteien vertreten ein homophobes Weltbild und negieren das Menschenrecht auf die freie Wahl der sexuellen Orientierung. Einig sind sich die Partei Bibeltreuer Christen und die Christliche Mitte mit Blick auf das Verbot von Prostitution und Pornographie. Für beide ist 100  CM,

Kurier der Christlichen Mitte, (2011) 1, S. 1.



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das Stimulationslevel in den Medien und der Gesellschaft zu hoch, weshalb der Staat zum Schutz der Seele seiner Bürger regulierend eingreifen müsse. Demnach wären bei einer Regierungsübernahme der Partei Bibeltreuer Christen oder Christlichen Mitte eine Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit vorstellbar. Zentral für die Verbreitung des Glaubens ist für beide Parteien die Einführung eines für alle verpflichtenden Bibelunterrichtes an Schulen, da der Zugang zur Wahrheit, welche die Ewigkeit mit Gott ermögliche, jedem möglich sein müsse. Zudem bietet die Unterweisung in christlichen Inhalten Schutz vor der Verführung durch die verdorbene Gesellschaft, beispielsweise in Form der Sexualerziehung an Schulen. Daher ist der obligatorische Bibelunterricht nur eine Zwischenlösung. Besser sei es, die Kinder aus der Schule zu nehmen und zu Hause zu unterrichten. Die Partei Bibeltreuer Christen verlangt hierbei nach staatlicher Unterstützung, genauer nach einem finanziellen Ausgleich der Kosten. Die Partei Bibeltreuer Christen und die Christliche Mitte verstoßen mit ihren Forderungen gegen Art. 7 GG, der die staatliche Aufsicht des Schulwesens vorsieht. Beide Parteien beachten nicht: Eine in Ermangelung einer entsprechender Ausbildung lückenhafte und religiös gefärbte Bildung birgt die Gefahr, das Kind autoritär und fern von freiheitlichen Grundwerten zu erziehen, was einer, sicher nicht perfekten, aber zumindest beaufsichtigten und für alle gleich geltenden, staatlichen Bildung maßgeblich nachsteht. Neben den drei Themengebieten in denen die Partei Bibeltreuer Christen und die Christliche Mitte Gemeinsamkeiten ausweisen, existieren mit Blick auf das Verständnis von Staat und Demokratie Unterschiede: Der Staat muss nach Auffassung der Partei Bibeltreuer Christen regulierend in das Leben der Menschen eingreifen, um die Moral der Gesellschaft zu wahren, etwa indem er Pornographie verbietet. Dem Staat komme die Funktion eines „Sittenwächters“ zu, der sich steuernd in die Gesellschaft und die Öffentlichkeit einzuschalten habe, was zwangsläufig zu Kollisionen mit dem Grundgesetz führt. Die Partei Bibeltreuer Christen benennt hierbei nicht explizit das Christentum als Richtschnur, wenngleich ihre christliche Ausrichtung dies nahelegt. Die Christliche Mitte hingegen will den Staat an die Zehn Gebote Gottes binden. Die Etablierung des Christentums als Staatsreligion ist für die Partei logisch, da das Christentum die Grundlage der Demokratie bildet. Ohne die Lehren Jesu wären das heutige demokratische Europa und Deutschland nicht entstanden. Der Staat müsse zur Bewahrung seiner Identität die Einwohner vor Irrlehren schützen und den wahren Glauben begünstigen. Trotz der Inanspruchnahme, die Demokratie und ihre Eigenschaften maßgeblich geprägt zu haben, lehnt die Christliche Mitte einige ihrer Elemente ab,

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beispielsweise demokratische Mehrheitsregeln. Das Göttliche ist dem Weltlichen übergeordnet. Ergo sei es nicht möglich, Gott und seine „Werte“ abzuwählen. Die Partei zielt auf die Aufhebung der Säkularisation und die Errichtung einer Theokratie, in der die minimalen Konstitutionsbedingungen des demokratischen Verfassungsstaats irrelevant sind. Mit dieser Haltung positioniert sich die Christliche Mitte in Gegnerschaft zur Demokratie. Die Partei Bibeltreuer Christen arbeitet hingegen auf die Wiederbelebung beziehungsweise Instandsetzung der christlichen Werte hin, was in Teilen gegen das Grundgesetz verstößt. Sie wähnt sich im Besitz der „Wahrheit“, allerdings sieht sie sich, anders als die Christliche Mitte, in Konkurrenz mit anderen Weltanschauungen. Die Partei will das Gewissen in der Politik sein. Sie strebt im Vergleich zur Christlichen Mitte keinen Gottesstaat oder die Erlangung von Vorrechten an. Die Partei befürwortet die Säkularisation, den Pluralismus und achtet die Meinungen anderer Gruppierungen oder Anschauungen. Die Partei Bibeltreuer Christen bekennt sich zum Grundgesetz und zum freiheitlichen Rechtsstaat. Das beteuert die Christliche Mitte zwar ebenfalls, jedoch ist dies als bloßes Lippenbekenntnis zu werten, um einer potenziellen Beobachtung durch den Verfassungsschutz zu entgehen. Die Unterschiede zwischen der formalen Erklärung der Christlichen Mitte zur Demokratie und ihren tatsächlichen Inhalten sind zu beträchtlich, um sie lediglich als Fehlinterpretation abzutun. VI. Unterschätztes Potenzial Der Einfluss der Christlichen Mitte und der Partei Bibeltreuer Christen in der deutschen Parteienlandschaft sind marginal. Die Mitgliederzahlen sowie ihre Erfolge bei Wahlen sind unbedeutend und stellen keine unmittelbare Gefahr für die Demokratie dar. Mit Blick auf das Konzept der wehrhaften Demokratie darf jedoch das Potenzial ihrer Glaubensinhalte nicht verkannt werden. Zwar stoßen die Programme der beiden Parteien gegenwärtig nur bei einem sehr kleinen Teil der deutschen Bevölkerung auf Sympathie, jedoch bergen einige ihrer Inhalte, beispielsweise die Haltung zur Homosexualität, demokratiegefährdende Kraft. Sie können den Ausgangspunkt für eine Radikalisierung legen, wie er in anderen Spektren des politischen und religiösen Extremismus auftritt. Insbesondere ihre Einstellung zum demokratischen Verfassungsstaat ist entscheidend. Die Christliche Mitte lehnt die Demokratie ab und strebt die Errichtung eines Gottesstaates an. Sie muss daher dem Extremismus zugrechnet werden. Im Unterschied dazu begrüßt die Partei Bibeltreuer Christen den demokratischen Verfassungsstaat, ohne die Gewinnung von Privilegien anzustreben. Sie ist Teil des demokratischen Spektrums. Beide Parteien verbinden



Gottes Gebote in der Politik

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ihre Ablehnung der freien Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere bei der Wahl der sexuellen Orientierung und Religion, sowie ihre Forderung nach der Einschränkung eines Teils der Menschenrechte, wie hinsichtlich des Gleichbehandlungsgesetzes. Einig sind sie sich bei den Forderungen nach Einführung eines für Schüler verpflichtenden christlichen Bekenntnisunterrichtes und bei dem Recht auf Hausunterricht. Die Christliche Mitte und die Partei Bibeltreuer Christen finden in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte kaum Beachtung. Der Islamismus dominiert zu Recht, weil er gewaltbereite Vereinigungen und Personen hervorbringt, welche die Gesellschaft konkret bedrohen. Dennoch darf das Potenzial des – hier nur ausschnittsweise präsentierten – Gedankenguts der beiden Parteien nicht unterschätzt werden, steht doch am Anfang jeder Radikalisierung ein System von absolut gesetzten Überzeugungen.

Leaderless Resistance und Lone Wolves Rechtsextreme Theoretiker aus den USA und deren Einfluss in Europa Von Sebastian Gräfe I. Alte Feindbilder als Projektionsfläche „neuer“ Ideen Neben gemeinsamen Feindbildern wie dem Zionismus, dem Amerikanismus oder dem demokratischen Verfassungsstaat verbindet Rechtsextremisten auf internationaler Ebene dem Selbstverständnis nach auch ein positiv gewendetes Element: die Zugehörigkeit zu einer Rasse – und dies über Ländergrenzen hinweg. Es ist unwesentlich, ob diese Argumentation rein biologisch (Zugehörigkeit zur „weißen Rasse“) untermauert wird oder ob es eher subtiler und über kulturelle Aspekte geschieht, wie es Vertreter des sogenannten Ethnopluralismus versuchen.1 Um den mythologisch auf verschiedenste Weise aufgeladenen Begriff „Rasse“ dreht sich internationales rechtsextremes Gedankengut heute noch in vielen Fällen. So ist es möglich, ein einigendes Element über Ländergrenzen hinweg zu bedienen.2 Den Rechtsextremisten sind in einigen Staaten engere Grenzen gesetzt als in anderen, was das Veröffentlichen von verfassungsfeindlichem Gedankengut betrifft. Rechtsextreme Ideengeber haben in Staaten mit einer eher liberalen Gesetzgebung wie in den USA deutlich bessere Möglichkeiten, ihre Ideen und Propaganda zu verbreiten. Die in der rechtsextremen Szene erörterten Ansätze Leaderless Resistance und Lone Wolves wurden wesentlich von USamerikanischen Theoretikern (weiter-)entwickelt.3 Das Bekanntwerden des 1  Der Begriff Ethnopluralismus wurde erstmalig 1973 von Henning Eichberg formuliert. Er bezeichnet das Gebot der Bewahrung der „kulturellen Verschiedenheit der über ein eigenes Existenzrecht verfügenden ‚Rassen‘ “, Henning Eichberg, Ethnopluralismus, in: Junges Forum, 10 (1973) 5, S. 3–12. Später wurde dieser Gedanke von der französischen „neuen Rechten“ übernommen und auf das „Grundrecht auf Verschiedenheit“ verschärft. 2  Vgl. Race, in: Athena Leoussi (Hrsg.), Encyclopedia of Nationalism, New Brunswick / New Jersey 2001, S. 257 f. sowie Racism, in: ebd., S. 258 f. 3  Es soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass die untersuchten Ansätze ohne Vorarbeiten und historische Vorbilder der Rechtsextremisten aufkamen. Zur Entstehung, ideengeschichtlichen Rekonstruktion der „Theorien“ sowie zu verschiedenen

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in einer Zelle organisierten NSU – dessen Organisationsstruktur deutliche Parallelen zum Ansatz Leaderless Resistance aufweist4 – soll als aktueller Anlass genommen werden, um die theoretischen Ansätze und die dahinter stehenden Köpfe zu analysieren. Es geht nicht darum, ähnlich argumentierende rechtsextremistische Theoretiker in Verbindung zu setzen, um aus dieser Konstruktion dann einen künstlichen roten Faden herauszulesen. Selbst unter den genannten Personen gibt es teilweise große inhaltliche Differenzen.5 Es sollen vielmehr die Köpfe und Ideen vorgestellt und verglichen werden, die in den 1970er bis 1980er Jahren im rechtsextremistischen Bereich an Einfluss gewannen und deren Schriften seit den 1990er Jahren in der rechtsextremen Szene in Europa und speziell in Deutschland auf Resonanz stießen. Die Untersuchung geht folgender Leitfrage nach: Was beinhalten die Denkfiguren Leaderless Resistance und Lone Wolves? Um diese Frage zu klären, muss ein Blick auf die US-amerikanischen Theoretiker geworfen werden, die diese Ansätze (weiter-)entwickelten. Wer sind die Ideengeber der rechtsextremen Szene nach dem Zweiten Weltkrieg? Mit Blick auf Europa wird untersucht, welchen Einfluss die Ideengeber aus den USA auf die Szene in den europäischen Ländern haben. Wie nimmt das rechtsextreme Milieu die Ansätze Leaderless Resistance und Lone Wolves in Europa und besonders in Deutschland auf und welche theoretischen Neuerungen der Ideen kommen der Szene dabei zu Gute?6 Personen und Organisationen, für die die ursprüngliche Guerilla-Taktik von besonderer Bedeutung waren, vgl. u. a. George Michael, Lone Wolf Terror and the Rise of Leaderless Resistance, Nashville 2012, S. 7–28. 4  Vgl. Uwe Backes u. a., Rechts motivierte Mehrfach- und Intensivtäter in Sachsen, Göttingen 2014, S. 178 f., unter: http://www.hait.tu-dresden.de / dok / bst / Heft_69_ Backes.pdf (29. Mai 2015). 5  Ein wesentlicher inhaltlicher Konfliktpunkt unter Rechtsextremisten war und ist die Einstellung zum Nationalsozialismus. Neben eindeutig neo-nationalsozialistisch argumentierenden Theoretikern wie David Myatt sind an dieser Stelle die Personen und Ideen zu nennen, die sich klar vom Nationalsozialismus – zu Gunsten eines „dritten Weges“ oder anderweitig nationalrevolutionären Ansätzen – losgesagt haben. Ebenso unterschiedlich ist teilweise der Stellenwert der „Rasse“ bzw. der „Nation“. Zu den verschiedenen Ideologievarianten vgl. u. a. Armin Pfahl-Traughber, Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, 4.,  akt. Aufl., München 2006, S. 17–20. Louis Beam beispielsweise hebt sich dadurch ab, da es ihm nach eigener Aussage lediglich um die Betonung der Kampfformen geht, die gegen den Staat gerichtet werden sollen. Eine politisch rechts gefärbte Ideologie steht bei ihm nicht so sehr im Vordergrund wie bei den anderen Autoren. 6  Selbst wenn politische Extremisten ihre Aktionen mit einem theoretischen Überbau begründen, gibt es keine schlüssige Möglichkeit nachzuweisen, ob diese Gründe nicht vorgeschobener Natur sind. Dem Autor ist keine Untersuchung bekannt, die dieses Problem zu lösen vermochte.



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II. Warum gibt es keine (bekannten) rechtsextremen Ideengeber aus der Bundesrepublik? Um diese Frage zu beantworten, muss die Analyse neben soziologischen Kategorien wie der gesellschaftlichen Akzeptanz gegenüber rechtsextremen Gedankenguts ebenso den juristischen Rahmen einzelner Staaten betrachten. Entsprechende Unterschiede fallen beim Vergleich der Bundesrepublik mit den USA ins Auge. Das eine Land steht für eine restriktive, das andere für eine liberale Gesetzgebung gegenüber (rechts-)extremistischen Meinungs­ äußerungen. Das Grundgesetz sieht mit dem Konzept der streitbaren Demokratie – anders als beispielsweise der erste Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten zur Meinungsfreiheit – verschiedene Vorkehrungen zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vor. Diese hängen mit dem Scheitern der jungen Weimarer Demokratie und den Negativerfahrungen des Nationalsozialismus zusammen.7 Die Väter des Grundgesetzes reagierten damit auf die Wertneutralität und somit – in diesem Sinne – auf die Schwächen der Weimarer Verfassung. Heute können beispielsweise (ohne juristische Konsequenzen) keine volksverhetzenden oder die Werte des Grundgesetzes bzw. der Demokratie missachtenden Beiträge verbreitet werden, wie es in der Weimarer Republik möglich war.8 Dies ist aus juristischer Sicht wohl der Hauptgrund, warum es seit dem Zweiten Weltkrieg bzw. seit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 kaum mehr rechtsextremistische Schriften aus der Bundesrepublik gab, die auf internationaler Ebene auf große Resonanz stießen. Zwar gibt es auch intellektuelle Köpfe im rechtsextremistischen Spektrum hierzulande, jedoch stammen die bekanntesten Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg – die noch heute von Bedeutung sind – aus Ländern wie den USA. Im europäischen Raum griff 7  Zu den Elementen der streitbaren Demokratie zählen im Wesentlichen die Wertgebundenheit, die Abwehrbereitschaft sowie die Vorverlagerung des Demokratieschutzes. Vgl. hierzu u. a. Eckhard Jesse, Demokratieschutz, in: ders. / Roland Sturm (Hrsg.), Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. Historische Zugänge – Gegenwartsprobleme – Reformperspektiven, Opladen 2003, S. 449–474, hier: S. 454– 471; Carmen Everts, Die Konzeption der streitbaren Demokratie. Das „demokratische Dilemma“, in: Eckhard Jesse / Steffen Kailitz (Hrsg.), Prägekräfte des 20. Jahrhunderts. Demokratie – Extremismus – Totalitarismus, Baden-Baden 1997, S. 59–82. 8  Die Werte des Grundgesetzes bzw. des demokratischen Verfassungsstaates vereint eine konstitutionelle und eine demokratische Komponente. Die Demokratie ist an eine normative Grundlage in der Verfassung und an die Zustimmung der Mehrheit des Volkes gebunden. Zu deren Wesensmerkmalen gehören u. a. die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, die Rechtsstaatlichkeit, das Mehrheitsprinzip in Verbindung mit dem Minderheitenschutz, gesellschaftlicher wie politischer Pluralismus und das Repräsentativprinzip.

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besonders das Netzwerk Blood&Honour9 in Großbritannien und Skandinavien die Schriften und Ideen aus den USA auf und forderte die Umsetzung durch seine Mitglieder in europäischen Ländern.10 Aus soziologischer Sicht gilt: Rechtsextreme Ideengeber in Europa und besonders in der Bundesrepublik agierten nach Ende des Zweiten Weltkrieges in einer Gesellschaft, in der es keinen Rückhalt und Unterstützung zur Weiterentwicklung (neo-)nationalsozialistischen Gedankenguts gab. Die Demokratie war noch jung und so gab es kein Selbstverständnis wie beispielsweise in den USA, dass auch die Auseinandersetzung mit rechtsextremem Gedankengut Teil demokratischer Prozesse sein kann. Die Vorverlegung des Demokratieschutzes in der Bundesrepublik, die schon auf die Ankündigung oder Propagierung extremistischer Ideen oder Aktionen zielt, ist unter anderem eine Konsequenz aus den negativen Erkenntnissen mit der wertneutralen Weimarer Verfassung. Rechtsextreme Theoretiker in den USA stehen nicht vor diesen gesetzlichen Schranken, da die Menschen nicht in dem Maß schlechte Erfahrungen mit Nationalsozialisten auf dem eigenen Territorium gesammelt haben wie in Deutschland. Diese zwei Umstände erweisen sich für rechtsextremistische Vordenker in Staaten mit liberaler Gesetzgebung wie den USA bis heute als Vorteil, um erfolgreich ihre Propaganda verbreiten zu können.11 Durch die vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten und durch die zu beobachtenden Netzwerkbildungen zwischen den einzelnen Szenen in verschiedenen Ländern und über Kontinente hinweg, findet dabei faktisch und paradoxerweise eine Globalisierung der „Globalisierungsgegner von rechts“ statt. Unter deutschen Rechtsextremisten werden die in den 1970er und 1980er Jahren entwickelten Ansätze wie Leaderless Resistance und Lone Wolf erörtert. Der NSU setzte den ersten Ansatz – bewusst oder unbewusst – jahrelang erfolgreich um. 9  Im Folgenden wird unter dem Blood&Honour-Netzwerk die gleichnamige Organisation sowie deren Jugendableger White Youth und zum Teil die Gruppe Hammerskins verstanden. Personelle Überschneidungen sowie gemeinsame Aktivitäten der Gruppen lassen diesen Schluss zu. 10  Vgl. Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17 / 14600, S. 924–930. 11  Es gibt eine Reihe von Ansätzen und Forschungsfelder, die – sich ergänzend – einen umfangreichen Einblick in die sozialen, politischen und persönlichen Um­ stände geben, die rechtsextremistische und rechtsterroristische Aktivitäten fördern (und verhindern). Hierzu zählen u. a. die vergleichende und empirische Gewaltforschung, die Terrorismusforschung, die Critical Terrorism Studies und Studien zu individuellen und gruppenbezogenen Radikalisierungsprozessen. Vgl. u. a. Stefan Malthaner / Peter Waldmann, Radikale Milieus. Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen (Einleitung), in: Stefan Malthaner / Peter Waldmann (Hrsg.), Radikale ­Milieus: Das soziale Umfeld terroristischer Gruppen, Frankfurt a. M. 2012, S. 11–42, hier: S.  13 f.



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III. Die drei einflussreichsten Ideengeber: William Pierce, Louis Beam und Tom Metzger Der auf internationaler Ebene intellektuell vielleicht einflussreichste Rechtsextremist nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist der aus den USA stammende William Luther Pierce (1933–2002).12 Nicht erst seit dem Bombenanschlag auf das Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City mit 168 Todesopfern13 im Jahr 1995 durch Timothy McVeigh waren viele Augen auf ihn gerichtet. Pierce wurde seitdem von vielen Seiten unterstellt, er sei mitverantwortlich für den Anschlag. In dem 1978 unter dem Pseudonym Andrew MacDonald veröffentlichten Buch The Turner Diaries beschreibt Pierce in der Form eines Tagebuches die fiktive Geschichte von Earl Turner.14 Der Roman handelt von einem beginnenden Aufstand gegen die USRegierung, der im Buch als „weiße Revolution“ deklariert wird. Eine Gruppe Regierungsfeinde verübt dabei unter anderem einen Anschlag auf das FBIHauptgebäude in Washington D.C. Am Schluss des Buches opfert sich die Titelfigur selbst, indem Turner als lebende (radioaktive) Bombe ins Pentagon fliegt und somit zum Sieg der Revolution beiträgt. In dem Roman werden ebenfalls verschiedene Bombenbautechniken bis ins kleinste Detail beschrieben. McVeigh war begeisterter Leser des Buches und verbreitete es in seinem Bekanntenkreis. Zwar lässt sich keine direkte Kausalitätskette zwischen der Tat von McVeigh und den Turner Diaries von Pierce herstellen. Jedoch dürfte Pierce eine Verwirklichung seiner Ausführungen zumindest billigend in Kauf genommen haben, zumal er kurz nach dem Anschlag zweideutig sagte, er habe die Turner Diaries geschrieben, um seine Ideen verbreitet zu sehen.15 Doch Pierce ist nicht erst durch The Turner Diaries bekannt geworden und dadurch zu einer wichtigen Figur innerhalb des Rechtsextremismus aufgestiegen, sondern schon durch seine vorangegangen Aktivitäten.16 Mitte 12  Zum Folgenden vgl. Mark Miller, Dr. William Pierce und die „National Alliance“, in: Herbert Kloninger (Hrsg.), Aktuelle Aspekte des Rechtsterrorismus. Internationale Erscheinungsformen und Zusammenhänge, Brühl / Rheinland 2003, S. 65– 92, hier: S. 71–84. Zur Person William Pierce vgl. Robert Griffin, The Fame of a Dead Man’s Deeds: An Up-Close Portrait of White Nationalist William Pierce, Bloomington 2001. 13  Das Symbol 168:1 wird seither unter Rechtsextremisten als Code verwendet. Bei dem Attentat kamen 168 Personen und Timothy McVeigh ums Leben. Unter bestimmten Rechtsextremisten wird dies in Anlehnung an ein Sportergebnis als ein klarer Sieg gewertet. 14  Vgl. William Pierce (pseud. Andrew MacDonald), The Turner Diaries, Fort Lee 1978. 15  Vgl. M. Miller (Anm. 12), S. 73 f. 16  Zum Folgenden vgl. Thomas Grumke, Rechtsextremismus in den USA, Opladen 2001, S.112–119.

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der 1960er Jahre kündigte Pierce seine Anstellung als Professor für Physik an der Oregon State University, um im Anschluss für die American Nazi Party (ANP) und deren Gründer George Lincoln Rockwell zu arbeiten. 1970 rief er die National Youth Alliance ins Leben und vier Jahre später entstand unter seiner Ägide die National Alliance (NA), die zur damaligen Zeit zu einer der größten und einflussreichsten rechtsextremen Organisationen in den USA aufstieg. In den darauf folgenden Jahren konnte sie zudem viele Kontakte ins Ausland knüpfen. Durch einen hauseigenen Musikvertrieb (Resistance Records), einen Buchversand (National Vanguard Books) und eine professionelle Internetseite – auf der beispielsweise Rundbriefe und Radioansprachen von Pierce veröffentlicht wurden – gelang die NA schnell zu großer Bekanntschaft in der (internationalen) Szene. Ideologisch bedienen Pierce und die NA einen Rechtsextremismus, der Rassismus, Antisemitismus und Demokratiefeindlichkeit vereint. Ihre Ziele seien nur mit Gewalt zu erreichen. Die Betonung legt die Organisation immer wieder auf die Zusammenarbeit von Rechtsextremisten in verschiedenen Ländern. Der im Jahr 2002 verstorbene Pierce unterhielt viele Kontakte nach Europa, besonders nach Deutschland. In einem Grußwort in dem von Holger Apfel veröffentlichten Buch „Alles Große steht im Sturm“, welches zum 35. Jahrestag der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und zum 30. Jahrestag ihrer Jugendorganisation „Junge Nationaldemokraten“ (JN) 1999 veröffentlicht wurde, schreibt er: „Nationalisten in Deutschland, in Europa oder auch in Amerika stehen einem gemeinsamen Feind aller Völker gegenüber, dem internationalen Großkapital, das allen geschichtlich gewachsenen Nationen zugunsten eines multikulturellen ‚melt­ ing pot‘ den Todesstoß versetzen will. Unser Kampf gegen die Weltherrschaftsbestrebungen und den Wirtschaftsimperialismus multinationaler Konzerne wird hart und entbehrungsreich sein – doch das Ziel einer wieder zu ihren Wurzeln zurückfindenden Völkergemeinschaft wird es wert sein, diesen harten Kampf und alle damit verbundenen Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen.“17

Das gemeinsame Feindbild aller Rechtsextremisten sei die sogenannte Zionist Occupied Government (ZOG). Demnach seien im Prinzip alle Missstände auf der Welt auf den zu großen Einfluss von Juden zurückzuführen, sei es in der Gesellschaft, in der Wirtschaft oder eben in der – von „Zionisten unterwanderten“ – Politik (ZOG). Dieses „reaktivierte“ Feindbild hat keinesfalls nur für Neonationalsozialisten historisch-ideelle Anknüpfungspunkte, sondern es dient auch gegenwärtig als ein verbindendes Element der internationalen rechtsextremistischen Szene.18 Pierce gab dem 17  William Pierce, Grußwort, in: Holger Apfel (Hrsg.), Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer nationalen Partei, Stuttgart 1999 (ohne Seitenangabe). 18  Vgl. Mark Weitzmann, Antisemitismus und Holocaust-Leugnung: Permanente Elemente des globalen Rechtsextremismus, in: Thomas Greven / Thomas Grumke



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Misstrauen gegenüber Zionisten, den Juden allgemein und dem entsprechenden Feindbild einen neuen und gewissermaßen modernen Anstrich, was an der seitdem geläufigen Kritik mit synonym verwendeten Begriffen und Codes von Rechtsextremisten aus verschiedenen Ländern erkennbar ist. Der Rechtsextremismusexperte Thomas Grumke fasst diese Verbindung treffend zusammen: „Rechtsextremisten sehen also den Prozess der Globalisierung als planvoll gesteuerte Vernichtung von Kulturen, Traditionen und Werten (und letztlich von Nationen und Völkern) durch die […] mächtigen ‚Globalisten‘. Im von Rechtsextremisten international verstandenen Code sind ‚Globalisten‘ auch ‚Ostküste‘, ist der ‚Globalismus‘ auch ‚New World Order‘ (NWO) und sind die in diesen ‚Globalisierungsplan‘ verwickelten Regierungen auch ‚Zionist Occupied Government‘ (ZOG)“19

Neben dem Attentäter von Oklahoma-City fühlten sich weitere Personen durch die Schriften von Pierce inspiriert, ähnliche Taten zu begehen. Es gründete sich beispielsweise eine kleine Gruppe um den in rechtsextremistischen Kreisen mittlerweile zur Legende stilisierten Robert Jay Matthews, die durch verschiedene terroristische Aktionen einen Rassenkrieg auslösen wollte. Ziel war es, in diesem Kampf die „Weiße Rasse“ zu behaupten.20 Matthews nannte die Gruppe The Order (zeitweise The Secret Brotherhood), in direkter Anspielung auf die gleichnamige Gruppe in Pierce’s Hauptwerk The Turner Diaries. Nach einem Attentat auf einen jüdischen Radiomoderator und einer Serie von Banküberfällen zur Finanzierung weiterer Taten kam das FBI durch ein festgenommenes Gruppenmitglied im Jahr 1984 auch Matthews auf die Spur. Dieser entzog sich einem Zugriff und starb im Kugelhagel, was ihn in der rechtsextremistischen Szene zu einer Art Märtyrer machte. Die Gruppe hatte einen Anschlag auf die Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles geplant, und es lagen ebenfalls Pläne vor, die Trinkwasserversorgung drei amerikanischer Großstädte zu vergiften. Rechtsextremisten auf der anderen Seite des Atlantiks sollten in dieser Zeit immer mehr auf entsprechende Schriften aufmerksam werden, die Personen wie Matthews oder McVeigh gelesen und deren Ausführungen teilweise umgesetzt haben. Die Tendenz war eindeutig: Die rechtsextreme Szene sollte in Zukunft weniger durch Worte, sondern vielmehr durch Taten auffallen.21 (Hrsg.), Globalisierter Rechtsextremismus? Die extremistische Rechte in der Ära der Globalisierung, Wiesbaden 2006, S. 52–69, hier: S. 52–59. 19  Thomas Grumke, Die transnationale Infrastruktur der extremistischen Rechten, in: T.  Greven / T.  Grumke (Anm. 18), S. 130–159, hier: S. 131. 20  Im Folgenden vgl. Nick Lowless, White Riot. Die Combat 18-Story. Aufstieg und Untergang einer Nazi-Terror-Gruppe, Winsen 2010, S. 66–68. 21  Matthews war ein großer Anhänger von Pierce, der sich wiederum nach Matthews Tod über ihn wie folgt äußerte: „Er führte unseren Kampf auf eine ande-

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Ein langjähriger Bekannter von William Pierce und zeitweiliger Unterstützer der Gruppe The Order war der im Jahr 1946 in Texas geborene Louis Beam.22 Er wollte die grundsätzlich für gut empfundenen, aber in seinen Augen schlecht ausgeführten Aktionen von Matthews besser umsetzen. Das damalige Mitglied des von David Duke gegründeten Ku-KluxKlans (KKK) wurde in den USA maßgeblich durch einen Aufsatz mit dem Titel Leaderless Resistance (führerloser Widerstand) bekannt, den er 1983 schrieb und im Jahr 1992 veröffentlichte.23 Darin beschreibt Beam eine auf zwei Ebenen angesiedelte Strategie zur erfolgreichen Durchsetzung der „weißen Vorherrschaft“. Der Titel des Aufsatzes bezieht sich auf die Ebene des Untergrundes, in dem unabhängig voneinander agierende Zellen oder Einzeltäter – „einsame Wölfe“ – durch verschiedene terroristische Aktionen das politische System destabilisieren sollen.24 Dabei gäbe es keine zentrale Dachorganisation, eine Infiltration würde im schlimmsten Falle nur einer einzelnen Zelle schaden, und staatliche Repressionsmaßnahmen hätten keine große Angriffsfläche. Dadurch könne der legale Arm der Bewegung weiterarbeiten, ohne Eingriffe des Staates befürchten zu müssen. Die auf Vorarbeiten des amerikanischen Antikommunisten Colonel Louis Moss basierende Schrift wurde in den USA schnell bekannt und von rechtsextremistischen Gruppen wie Combat 18 in Europa und White Arian Resistance in den USA adaptiert. Von der positiven Aufnahme dieses Konzepts in der rechtsextremen Szene inspiriert, entwickelten die amerikanischen Rechtsextremisten Alex Curtis und Tom Metzger in den 1990er Jahren die Gedanken von Beam weiter – dies gipfelte in Ausführungen über Lone Wolves. Die von Metzger ins Leben gerufene Organisation White Arian Resistance (WAR) war durch kleine unabhängige Zellen organisiert und vermied die sonst übliche einheitliche und oftmals martialische Kleidung der Szene. Untergrundzellen sollten demnach im besten Falle aus einer Person bestehen, und diese sollten eigenständig terroristische Anschläge verüben, um so einen „Rassenkrieg“ auszulösen. Auf Bekennerschreiben solle ebenso verzichtet werden wie auf provokantes Auftreten in der Öffentlichkeit. WAR sollte nur durch Taten auffallen.25 re Ebene. Er setzte die Theorie in die Tat um. Das half uns auf unserem langen, steinigen Pfad.“ Ebd. S. 69. 22  Zur Person Louis Beam vgl. T.  Grumke (Anm. 16), S. 85–91. 23  Im Folgenden vgl. Louis Beam, Leaderless Resistance, in: The seditionist, 1 (1992) 6, S. 12 f., hier: S. 12. 24  Die zweite Ebene bezieht sich auf die legal arbeitenden Organisationen und Akteure. 25  Vgl. Interview with Tom Metzger, in: Blood&Honour, unter www.bloodandho nourworldwide.co.uk / magazine / issue40 / issue40p1.html (26. Oktober 2013).



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Der Rechtsextremist David Eden Lane (1938–2007) nahm Beams Ausführungen über den „führerlosen Widerstand“ zur Vorlage für seine Schriften und die darin auftauchende Wortneuschöpfung WOTAN (Will of the Aryan Nation), die die paramilitärische und zellenförmige Gruppe der White Power Bewegung darstellen soll.26 Lane – Mitglied von The Order und Fahrer des Fluchtfahrzeuges bei der Ermordung des jüdischen Radiomoderators Alan Berg – ist in der rechtsextremen Szene jedoch vor allem für seine aus 14 Wörtern bestehende Kurzfassung der rassistischen Komponente der rechtsextremen Ideologie bekannt. We must secure the existence of our ­people and a future for white children – zu Deutsch: Wir müssen die Existenz unseres Volkes und eine Zukunft für weiße Kinder sichern – ist ein einschlägiger Code innerhalb der rechtsextremen Szene. So hat die mittlerweile verbotene Rechtsrock-Band 14 Nothelfer aus dem sächsischen Pirna, die aus Mitgliedern der im Jahr 2001 verbotenen rechtsextremen Kameradschaft Skinhead Sächsische Schweiz und der Wiking Jugend bestand, ein Lied mit dem Namen 14 words eingespielt. Der Titel nimmt eindeutig Bezug auf David Lane.27 IV. Der Weg der Ideen von den USA nach Europa Die Gedanken und Theorien eines durch kleine Zellen ausgelösten Rassenkrieges der amerikanischen Rechtsextremisten William Pierce, Louis Beam und Tom Metzger wurden ab den 1980er Jahren zuerst von britischen und später von schwedischen, deutschen und anderen europäischen Rechtsextremisten rezipiert. Zu dieser Zeit machte sich in Großbritannien die aus Fußball-Hooligans, britischen Nordirland-Sympathisanten und Rechtsextremisten bestehende Gruppe Combat 18 mit gewalttätigen Aktionen einen Namen. Die ursprünglich als Saalschutz für die British National Party agierende Gruppe spaltete sich 1992 von der Partei ab, als diese ihnen zu gemäßigt werden drohte. Ein führendes Mitglied der Gruppe sagte dem Journalisten Nick Lowles in einem Interview mit Blick auf die Geschehnisse um The Order und die Ansätze von Pierce und Beam: „Diese Sachen passierten gerade mal zehn Jahre vor der Gründung von C18 [Combat 18]. Diese Geschehnisse waren zu unseren Lebzeiten aktuell. Es spielte sich 1984 ab, also zu einer Zeit, als viele von uns Teenager waren, und auch wenn sich die meisten nicht mehr an die Taten erinnern konnten, so waren sie doch 26  Vgl. Matthias Gardell, By the spear of Odin, The rise of Wotansvolk, Durham 2003, S. 98–100. 27  Vgl. Thomas Grumke / Bernd Wagner, Infrastruktur. Bands / Musiker, in: dies. (Hrsg.), Handbuch Rechtsradikalismus. Personen – Organisationen – Netzwerke vom Neonazismus bis in die Mitte der Gesellschaft, Opladen 2002, S. 463–482, hier: S.  463 f.

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nachvollziehbar, weil sie in einer modernen Gesellschaft passiert waren. Da war es schon schwerer, sich zu erklären, was früher in Nazi-Deutschland geschah. Robert Matthews war für mich ein Held. […] Das war der beste Weg, die Zellenstruktur und all das. Matthews hatte zwar nicht gewonnen, trotzdem war der Ansatz richtig, es konnte nur so weitergehen.“28

Das Großbritannien der 1980er und 1990er Jahre war geprägt durch ein hohes Maß an Sozialabbau, wachsende Arbeitslosigkeit und eine stärker werdende Zuwanderung, besonders nach dem Ende der Sowjetunion. Die Sündenböcke für diese Erscheinungen waren unter Rechtsextremisten, die zum größten Teil aus Personen der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht bestand, schnell ausgemacht: Juden, die jüdisch unterwanderte Regierung, Kommunisten, Anti-Faschisten und Ausländer.29 Der Terrorismusexperte Walter Laqueur weist im Jahr 1999 auf eine Tendenz hin, die – neben dem stärker werdenden Einfluss von Theorien über einen „Rassenkrieg“ – bei der Beurteilung des realen Gefahrenpotentials des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in Europa beachtet werden muss: „The circumstances that have generated right-wing terrorism will certainly not disappear; in some respects they will become aggravated, as in the case of unemployment. There will be an accumulation of rage, despair, and aggression that will find an outlet one way or another. At the same time, weapons more sophisticated and more murderous than Molotov cocktails will become far more accessible. This is the real danger.“30

Die Szene in Großbritannien und in anderen Teilen Europas radikalisierte sich, rüstete auf und wurde zunehmend aktionistischer. Die entsprechenden Ansätze von Rechtsextremisten wurden durch direkte Aufforderungen zum Töten von politischen Gegnern in szeneeigenen Zeitschriften skrupelloser.31 Dies stellt eine (Gewalt-)Spirale dar, bei der es aussichtslos ist, herauszuarbeiten, ob sich die entsprechenden Theoretiker an die gewalttätiger werdende Szene anpassten oder ob die Theorien für eine Radikalisierung sorgten. Da beide Elemente in der Realität nicht voneinander losgelöst betrachtet werden können und viele „Ideologen“ nicht vor der Anwendung von Gewalt zurückschreckten besteht eine Wechselbeziehung. Dabei nahmen die Personen um Combat 18 Anleihen von amerikanischen rechtsextremistischen 28  N. Lowless

(Anm. 20), S. 71. Hans-Georg Betz, Radical Right-Wing Populism in Western Europe, New York 1994. 30  Walter Laqueur, The New Terrorism. Fanaticism and the Arms of Mass Destruction, New York 1999, S. 126. 31  Vgl. das Projekt redwatch, bei dem im Internet Bilder und Adressen von politischen Gegnern abgebildet werden. Eine entsprechende Homepage wurde zwar im Jahr 2006 von britischen Behörden stillgelegt, mittlerweile existierten aber wieder solche Seiten über meist amerikanische Server. Vgl. N.  Lowless (Anm. 20), S. 55– 58. 29  Vgl.



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Denkern wie Pierce und Beam. Combat 18 gab verschiedene an Rechts­ extremisten adressierte Zeitschriften – sogenannte Fanzines – heraus, mit denen die Gruppe den weiteren Ausbau ihrer Strukturen finanzierte. Eine wichtige Rolle bei der Organisation der rechtsextremen Szene über Ländergrenzen hinweg und als Multiplikator von Ideen spielte die Gruppe Blood&Honour.32 Das 1987 von Ian Stuart Donaldson gegründete rechtsextreme Musiknetzwerk Blood&Honour übernahm Combat 18 – nach eigener Aussage – nach dem Tod des Gründers im Jahr 1993 als Folge interner Streitigkeiten. Es existiert vielmehr eine symbiotische Verbindung der Gruppen bzw. Netzwerke wegen personeller „Doppelmitgliedschaften“ und der Zusammenarbeit zu verschiedenen Anlässen. Nach dem Zusammengehen verstärkte das Netzwerk seine politischen Aktivitäten, und 1994 gründete sich in Berlin die erste „Division Deutschland“, gefolgt von weiteren Sektionen. Im Jahr 2000 veröffentlichte die skandinavische Sektion von Blood&Honour zwei von einem Max Hammer (pseud. Erik Blücher)33 signierte Schriften, die an Mitglieder des Netzwerkes gerichtet sind. Das C-18 Handbuch34 und der Text The Way Forward35 sind eine Art Kampfansage gegen die „zionistisch okkupierten Regierungen“ und Ausländer. Es lassen sich viele Parallelen zu den Schriften von Pierce und Beam aufzeigen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann eine neue Ära in der Zusammenarbeit und Vernetzung von Rechtsextremisten in Europa. Die in den 1980er Jahren bereits eingesetzte Entwicklung um die militanter und aktionistischer auftretenden Rechtsextremisten – zu dieser Zeit meist rechtsextreme Skinheads – bekam Anfang der 1990er Jahre europaweit einen Schub, in Deutschland beispielsweise durch die Anschläge auf Asylbewerberheime in Rostock und Hoyerswerda.36 Die Sicherheitsbehörden stellten sich jedoch 32  Im Folgenden vgl. Thomas Grumke / Bernd Wagner, Organisationen, in: dies. (Anm. 27), S. 353–442, hier: S. 357–360. 33  Max Hammer wird als Pseudonym von dem in Norwegen geborenen, langjährigen Rechtsextremisten Erik Blücher verwendet, der für die schwedische Sektion der Gruppe arbeitet. 34  Vgl. Blood&Honour Scandinavia, The National Socialist Political Soldiers Handbook. Combat 18 Field Manual, unter: www.aryanunity.com / handbook.html (27. Oktober 2013). 35  Vgl. Blood&Honour Scandinavia, The way forward, unter: www.bloodandho nour.com / downloads / TheWayForward.pdf (27. Oktober 2013). 36  Dabei muss für die Bundesrepublik und besonders für die Anschläge in den neuen Bundesländern die Entwicklung der rechtsextremen Szene in der DDR beachtet werden. Wie mittlerweile nachgewiesen wurde, gab es eine besonders in den 1980er Jahren gewachsene Skinheadkultur, die neben der Fremdenfeindlichkeit besonders eine ausgeprägte Oppositionsstellung zur politischen Führung der DDR aufwies. Die politische Umbruchsituation von 1989–91 mit all ihren Folgen bewirkte eine weitere Radikalisierung bzw. einen Ausbau der Strukturen in diesem Bereich.

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auf die neue Situation ein, und es kam folgerichtig zu verschiedenen Verbotsmaßnahmen. Zu dieser Zeit entdeckten die britischen Rechtsextremisten um die Gruppe Combat 18 und das Netzwerk Blood&Honour die Schriften von Louis Beam, Tom Metzger und William Pierce und deren Theorien vom „führerlosen Widerstand“ und von „einsam handelnden Wölfen“. Recht schnell erkannten deutsche Rechtsextremisten das Potential der Ansätze.37 Diese schienen geeignete Mittel für den politischen Kampf zu sein in der Zeit (besonders seit Anfang der 1990er Jahre), in der sich staatliche Sicherheitsbehörden beim Kampf gegen Rechtsextremismus auf Parteien und größere Gruppen konzentrierten und offensiv gegen diese vorgingen. V. Der Einfluss von US-amerikanischen Theoretikern auf die gewaltbereite rechtsextreme Szene in Europa Als im April 1999 innerhalb von 13 Tagen eine Serie von drei schweren Nagelbombenanschlägen in London durch den aus dem Umfeld der British National Party und Combat 18 kommenden David Copeland verübt wurde, war klar: Die Gewalteskalation im Rechtsterrorismus hatte eine neue Ebene erreicht.38 Copeland wurde durch die Turner Diaries inspiriert und benutzte eine im Internet verfügbare Anleitung für den Bombenbau. Auch in Skandinavien gab es kurz darauf immer mehr Sektionen von Blood&Honour und Combat 18, die offen zur systematischen Gewalt durch einzelne Täter oder kleine Zellen aufriefen. Bombenanschläge, Mordserien an politischen Gegnern und Ausländern sowie schwere Überfälle zur Finanzierung der Täter waren die Folge. In Deutschland kam es in den Jahren 2000 (Düsseldorf) und 2001 sowie 2004 (Köln) zu ähnlichen Anschlägen mit selbst gebauten Bomben wie in London.39 Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR sowie in anderen Ostblockstaaten darf nicht eindimensional als Transformationsfolge wie bei Beichelt / Minkenberg betrachtet werden. Vgl. Tom Thieme, Hammer, Sichel, Hakenkreuz: Parteipolitischer Extremismus in Osteuropa: Entstehungsbedingungen und Erscheinungsformen, BadenBaden 2007, S. 50–76; Timm Beichelt / Michael Minkenberg, Rechtsradikalismus in Transformationsgesellschaften. Entstehungsbedingungen und Erklärungsmodell, in: Osteuropa, 52 (2002) 3, S. 247–262, hier: S. 256. 37  Sächsische Rechtsextremisten wurden beispielsweise im März 2002 bei der Einreise von Tschechien gestoppt, als sie das Buch The Turner Diaries nach Deutschland einführen wollten. Vgl. U. Backes u. a. (Anm. 4), S. 179 f. 38  Vgl. die Chronologie der Anschläge von „einsamen Wölfen“ durch das Instituut voor Veiligheids- en Crisismanagement (Hrsg.), Lone-Wolf Terrorism, Rotterdam 2007, S. 105–110. 39  Die Auswertung des von den Sicherheitsbehörden sichergestellten Beweismaterials liefert Anhaltspunkte, dass der NSU mit den Bombenanschlägen in Düsseldorf im Jahr 2000 und in Köln im Jahr 2001 in Verbindung gebracht werden kann.



Rechtsextreme Theoretiker aus den USA und deren Einfluss in Europa 319

Schriften wie die Turner Diaries von William Pierce und Ansätze wie Leaderless Resistance von Louis Beam, die zu einem „Rassenkrieg“ aufrufen und Hinweise zu geeigneten Organisationsstrukturen und Anschlagsformen geben, stießen zu dieser Zeit in Europa auf Resonanz. In den Texten werden Organisationsformen beschrieben und empfohlen, die von großen, hierarchischen bzw. pyramidenförmig strukturierten Gruppen abraten. Sie rufen hingegen zur Bildung von kleinen Zellen ohne offiziellen Anführer (Leaderless Resistance) auf bzw. sehen in der zugespitzten Form der EinMann-Zelle – des Alleinkämpfers (Lone Wolf) – ein geeignetes Mittel der Kampfführung.40 In Europa griffen besonders Personen um Combat 18 sowie das Blood&Honour-Netzwerk die Ideen von William Pierce, Louis Beam und Tom Metzger in Europa auf und verbreiteten diese weiter. Der Weg nach Deutschland war durch die verschiedenen Ableger des Netzwerkes sowie aufgrund der vereinfachten und vielfältigen Kommunikationsmöglichkeiten des Internets sehr einfach und nur eine Frage der Zeit.41 Blood&Honour entwickelte sich in dieser Zeit von einem Musiknetzwerk zu einem gefestigten, ideologiestiftenden Teil der rechtsextremen Szene, der zum bewaffneten Kampf aufrief.42 Seit den 1990er Jahren sind Ansätze und Diskussionen im deutschen Rechtsextremismus aufgekommen, die Parallelen zu den genannten Schriften aufweisen – bzw. mit Anschlagsformen in Großbritannien und den USA, die wiederum oftmals von den genannten Aufsätzen und Büchern inspiriert waren.43 Das Bundesministerium des Innern beschreibt die Situation der 1990er Jahre in Deutschland – die Jahre, in denen das Trio Uwe Böhnhardt, Uwe Das Trio bekannte sich in ihrem Bekennervideo zu dem Bombenanschlag 2004 in Köln. 40  Es erscheint dem Autor nicht sinnvoll, die Kategorisierung von individualisiertem Terrorismus durch den Terrorismusforscher Petter Nesser zu übernehmen. Dieser unterteilt Leaderless Resistance in zwei Hauptkategorien: In solo terrorism (allein handelnder Terrorist mit Netzwerkverbindungen) und in Lone Wolf Terrorism (isoliertes Handeln). Dem Autor ist kein Lone Wolf-Terrorist bekannt, bei dem die von Nesser (implizit) unterstellte fehlende Einflussnahme durch verschiedene ideologische Versatzstücke oder andere Personenkreise (und sei es nicht auf persönlicher Ebene, sondern „nur“ durch das Internet) zuträfe. Die weitere Untergliederung der Kategorie Solo Terrorism in u. a. Top-Down Solo Terrorism (allein handelnder, von einer Organisation gesteuerter Terrorist) ist für die Untersuchung von Leaderless Resistance fehl am Platz. Vgl. Petter Nesser, Single Actor Terrorism: Scope, Characteristics and Explanations, in: Perspectives on Terrorism, 6 (2012) 6, S. 61–73, hier: S. 63. 41  Der Terrorismusexperte Simon stellt gar die These auf, dass die neuste „Welle“ des Terrorismus maßgeblich durch die Entwicklungen des Internets ausgelöst wurde. Vgl. Jeffrey Simon, Lone Wolf Terrorism, New York 2013, S. 26–27. 42  Vgl. Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17 / 14600, S. 925. 43  Vgl. J. Simon (Anm. 42), S. 34.

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Mundlos und Beate Zschäpe politisch sozialisiert wurde und in den Untergrund ging – bezogen auf den NSU, den Rechtsextremismus allgemein und dessen ideelle Anleihen wie folgt: „Entstehung und Existenz des NSU sind – aus heutiger Sicht und unter Berücksichtigung des derzeitigen Erkenntnisstandes – im Kontext der Entwicklung des Rechtsextremismus in den 1990er Jahren zu werten. In dieser Zeit ist der Rechtsextremismus jünger, aktionistischer und militanter geworden, ein Befund, der bis in die Gegenwart trägt. […] Zugleich kursierten im rechtsextremistischen Spektrum Texte, die zum bewaffneten Kampf aufrufen. Verbreitet und diskutiert wurden beispielsweise der von William Pierce (unter Pseudonym) in den ,Turner Diaries‘ propagierte Rassenkrieg und das von Louis Beam entworfene Konzept des ,leaderless resistance‘, welches autonome terroristische Aktionen voneinander unabhängiger Zellen vorsieht. In Schriften des neonazistischen Netzwerkes ,Blood&Honour‘ (in Deutschland im Jahr 2000 durch den Bundesminister des Innern verboten) wurden diese Ideen aufgenommen bzw. ähnliche Überlegungen angestellt und weiterverbreitet.“44

Anfang der 1990er Jahre tauchten in Deutschland das erste Mal Phänomene innerhalb der rechtsextremen Szene auf, die mit dem Wirken von Combat 18 und dem Blood&Honour-Netzwerk offenkundig in Zusammenhang stehen. So wurde ein Aufruf der NPD-Hochschulorganisation Nationaldemokratischer Hochschulbund (NHB) zur Schaffung von sogenannten „national befreiten Zonen“ 1991 in dem Strategiepapier „Schafft befreite Zonen“ veröffentlicht.45 Parallel zum britischen Projekt Redwatch entstanden 1992 die ersten Anti-Antifa-Aktivitäten als deutsche Ableger, die – wie die britischen Vorbilder – Listen mit Adressen und Bildern von politischen Gegnern veröffentlichten. Vor offenen Gewaltaufrufen schreckte die Szene nicht mehr zurück. Der Einfluss von rechtsextremistischen Theoretikern aus dem angelsächsischen Raum in Deutschland war nicht mehr zu verkennen, und auch hierzulande wurde die Szene aktionistischer und militanter. Vom Jahr 2002 an gab es wiederholt Gewaltaufrufe, bei denen eine Verbindung zu Blood&Honour und Combat 18 hergestellt werden konnte. Ein Beispiel dafür ist die im Totenkopf-Magazin übersetzte Version von Practical Revolution – Guidelines for White Survival. Darin wird zur Bildung von kleinen Zellen mit maximal vier Personen, zur illegalen Geldbeschaffung durch Bankraube sowie zur Bewaffnung und Ausbildung von Kämpfern aufgefordert.46 Das Bekanntwerden der Ansätze Leaderless Resistance und Lone Wolf und die vereinzelten Versuche der Umsetzung der Ideen ist besonders mit 44  Bundesministerium des Innern (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2011, Berlin 2012, S. 63–64. 45  Vgl. Anton Maegerle, Rechtsextremistische Gewalt und Terror, in: T. Grumke /  B.  Wagner (Anm. 27), S. 159–172, hier: 159–162. 46  Vgl. Deutscher Bundestag (Anm. 10), S. 235.



Rechtsextreme Theoretiker aus den USA und deren Einfluss in Europa 321

Blick auf das offensive Vorgehen des Staates gegenüber rechtsextremistischen Organisationen – wie Anfang der 1990er Jahre in Deutschland – keine Kurzschlussreaktion der Szene. Die in den Schriften erörterten losen Organisationsstrukturen erscheinen als geeignete Alternative zu einer großen Organisation oder Partei, die eine breite Angriffsfläche gegenüber staatlicher Repression bietet. Der immanente Vorteil solcher Ansätze wie Leaderless Resistance oder Lone Wolf besteht außerdem darin: Eine Kleinstgruppe von drei bis vier Personen oder gar ein Alleintäter muss keine oder kaum Diskussionen führen, die ideologische Differenzen innerhalb der Gruppe aufdecken würden.47 Die Ideen passten und passen zudem gut in eine Zeit, in der sich gewaltbereite Rechtsextremisten meist wenig von (auch ideologisch nahestehenden) Parteien erhoffen. Die Ansätze – die den politischen Kampf auf die Straße verlegen – treffen darüber hinaus den Nerv einer Szene, die militant, aktionistisch und gewaltbereit ist.

47  Vgl.

G. Michael (Anm. 3), S. 2.

Alltag in der DDR

Vom „Neuen Adam“ zum „Sozialistischen Menschen“ Der Traum vom „Neuen Menschen“ in der DDR Von Ulrike Madest I. Säkularisierung der biblischen Verheißung? Die Vision vom „Neuen Menschen“ ist Jahrhunderte alt. Ihr Ursprung wurzelt in der Bibel. So heißt es im Kolosserbrief: „[B]elügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat“ (Kol 3,9–10). Der Traum vom „Neuen Menschen“ war auch in der DDR lebendig. Davon zeugen unter anderem literarische Texte. Die jüdische Remigrantin und Schriftstellerin Anna Seghers verfasste 1950 einen Aufsatz mit dem Titel „Über die Entstehung des neuen Menschen“. Darin sehnt sie den inneren Wandel des Menschen herbei, der das nationalsozialistische Gedankengut abstreift und sich zum „Neuen Menschen“ in und mit der sozialistischen Gesellschaft transformiert. Sie schrieb: „Der neue Mensch fällt nicht vom reinen Himmel in die Demokratie. Er ist mit den Makeln und Flecken des Kapitalismus behaftet, wenn er die neue Gesellschaft und damit sich selbst nach so vielen Jahren Hitlerfaschismus aufzubauen beginnt.“1 Das Denkmuster des „Neuen Menschen“ fand sich noch 20 Jahre nach dem Ende des SED-Regimes in der Literatur über die DDR wieder. Davon legt Christa Wolfs autobiographischer Roman „Stadt der Engel“ Zeugnis ab: „Revolutionäre Maßnahmen können für die von ihnen Betroffenen hart sein, die Jakobiner waren nicht zimperlich, die Bolschewiki auch nicht. Wir hätten ja gar nicht bestritten, dass wir in einer Diktatur lebten, der Diktatur des Proletariats. Eine Übergangszeit, eine Inkubationszeit für den neuen Menschen, versteht ihr?“2 In der Reflexion sieht die Erzählerin das Diktaturge1  Anna Seghers, Über die Entstehung des neuen Menschen (1950), in: dies., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 13, Aufsätze, Ansprachen, Essays 1927– 1953, 2. Aufl., Berlin / Weimar 1984, S. 349–361, hier: S. 357. 2  Christa Wolf, Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, Berlin 2010, S. 258.

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füge der DDR als unvermeidbares Übel an. Es sei deshalb in Kauf zu nehmen, da mit dem „Neuen Menschen“ die Hoffnung auf ein besseres Leben verknüpft ist. Die Vision von der Erneuerung entpuppt sich als ein Anker in der Zukunft, ja als eine Art von Verheißung, die Hoffnung verspricht und Leiden lindert. Die beiden Beispiele aus der Literatur verdeutlichen die Präsenz der ideologischen Leitidee des „Neuen Menschen“ in der DDR, die seit Mitte der 1960er Jahren zunehmend unter dem Schlagwort der „sozialistischen Persönlichkeit“ einen neuen Namen fand. Angesichts der ursprünglich religiös formulierten Idee liegt der Verdacht nahe, zwischen der christlichen und der säkularen Denkfigur besteht eine entfernte Verwandtschaft. Ob dies tatsächlich der Fall ist, will der Aufsatz klären. Inwiefern handelt es sich beim „Neuen Menschen“ in der DDR um eine säkularisierte Vorstellung der biblischen Verheißung? Warum sollte der Mensch überhaupt neu werden? Wie erfolgt die Erneuerung? Und: Was ist der „Neue Mensch“? Wer die Frage nach Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten der christlichen Vorstellung vom „Neuen Menschen“ in der Moderne stellt, kommt nicht umhin, ihre Grundlinien nachzuzeichnen (Abschnitt II.). Darauf aufbauend gilt es die säkulare Idee in der DDR anhand der religiösen Konzeption zu kontrastieren, um Anknüpfungspunkte und Abweichungen offenzulegen (Abschnitt III.). Abschließend werden die Ergebnisse kurz zusammengefasst (Abschnitt IV.). II. Die Denkfigur des „Neuen Menschen“ im Christentum Seitdem sich der Mensch seiner selbst bewusst ist, betrachtet er sich als ein „Mängelwesen“.3 Auf die Frage nach den Gründen gibt die christliche Lehre folgende Antwort: Der Mensch sei nicht per se mit Mangeln behaftet, sondern seine Unvollkommenheit habe sich erst mit dem selbstverschuldeten Sündenfall eingestellt. Er sei den Verführungskünsten der Schlange verfallen, die ihm versprochen habe, so zu werden wie Gott, und habe die verbotenen Früchte des Baumes der Erkenntnis gegessen. Für diesen Akt der Selbstermächtigung habe der Mensch den Preis seiner Sterblichkeit bezahlt und seine Gottesunmittelbarkeit verloren (1 Mos 3). Fortan sehne er sich nach der Herstellung der ursprünglichen Gotteskindschaft (Röm 8,23). Im christlichen Glauben hängt der mit Gott versöhnte Mensch mit der Vorstellung des „Neuen Menschen“ zusammen. Diesen verkörpere Jesus Christus. Er bilde die antithetische Gestalt zu Adam: „Alter Mensch“ versus 3  Vgl. Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 13. Aufl., Wiesbaden 1997, S. 33–36, 354.



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„Neuer Mensch“, „erster Adam“ versus „letzter Adam“, „Urheber der Sünde“ versus „Überwinder der Sünde“, „irdischer Mensch“ versus „himmlischer Mensch“ (1 Kor 15,45–49; Röm 5,12–21). Nach christlichem Glaubensverständnis findet der „Neue Mensch“ durch die Gnade Gottes seine Grundvoraussetzung: Indem Gott Jesus auf die Erde schickte und dieser durch den Tod am Kreuz die Sünde des Menschen auf sich nahm und anschließend durch Gott auferweckt wurde, eröffnete er dem Gläubigen die Möglichkeit, sich zu erneuern. In den Paulusbriefen heißt es dazu: „Wir wissen ja, dass unser alter Mensch mit ihm gekreuzigt ist, damit der Leib der Sünde vernichtet werde, sodass wir hinfort der Sünde nicht dienen“ (Röm 6,6). Mit dem Tod Jesu versöhne sich Gott mit dem Menschen, der nicht länger Sklave der Sünde sein müsse (Röm 5,10; 6,18). Damit ist zugleich der Appell verbunden, sich von der alten sündigen Natur loszusagen und ein gottgefälliges Leben nach dem Vorbild Jesu zu führen: „Legt von euch ab den alten Menschen mit seinem früheren Wandel, der sich durch trügerische Begierden zugrunde richtet. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4,22–24). Nur wenn der Mensch sich Gott zuwende und dem Vorbild Jesu folge könne er den Weg zu seinem Heil einschlagen und nach dem Tod ewiges Leben im Reich Gottes empfangen (Röm 6,22). Als „Alter Adam“ bleibe ihm dieses Ziel versagt. Um die Erneuerung zu vollziehen, bedürfe es der radikalen Abkehr vom alten Leben und der Liquidation des „Alten Menschen“: „So tötet nun die Glieder, die auf Erden sind, Unzucht, Unreinheit, schändliche Leidenschaft, böse Begierde und die Habsucht, die Götzendienst ist“ (Kol 3,5). Der Wandel vom „Alten Adam“ zum „Neuen Menschen“ meint, dem christlichen Verständnis nach, nicht die bloße Änderung der Geisteshaltung und des Handelns, sondern führe in der Transformation zur geistlichen Neubzw. Wiedergeburt des Menschen (Joh 3,3–6). Dieser Prozess beginne nicht erst im Jenseits, sondern bereits im Diesseits. Seinen neuen Geist empfange der Christ mit der Taufe. Sie umfasse den Tod des „Alten Menschen“, die Reinigung von seiner sündigen Natur und die Auferstehung des geistlichen Menschen, der Jesus nachfolge (Röm 6,4–6). Die Wirklichkeit seines NeuSeins erfahre der Christ schließlich im Glauben. So sei der „Neue Mensch“ nicht ein Mensch, der noch wird, sondern bereits ist: „Wenn also ein Mensch zu Christus gehört, ist er schon ‚neue Schöpfung‘. Was er früher war, ist vorbei; etwas ganz Neues hat begonnen“ (2 Kor 5,17). Neben dieser präsentischen existiert in den Paulusbriefen noch eine zweite Deutung des „Neuen Menschen“: die futurische Interpretation. Sie bezieht sich auf die endgültige universale Erneuerung von Menschheit und Welt und bedeutet den Endzustand der gesamten Schöpfung, der mit der Wiederkunft Christi anbreche. In ihm stelle sich die ursprüngliche Gotteskindschaft der

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Menschheit wieder her, die bereits im Paradies bestanden habe (Röm 8,18–25; 1 Kor 15,23–28). Angesichts der beiden Deutungen steht der „Neue Mensch“ im Spannungsverhältnis zwischen Erfüllung („schon jetzt“) und Verheißung („noch nicht“).4 Fassen wir die Kernpunkte zusammen. Das Neuwerden des Menschen verkörpert im christlichen Denken ein Heilsziel, das sich in die religiöse Trias von Paradies, Sündenfall und Erlösung einbetten lässt. Im Paradies gäbe es einen ursprünglichen Zustand, wo der Mensch das Ebenbild Gottes repräsentiert. Mit dem selbstverschuldeten Sündenfall habe er sich aus diesem Zustand herausbegeben. Durch Gottes Gnade wäre es dem Menschen möglich geworden, seine sündige Natur abzustreifen und sich zu erneuern. Kraft eigenen Willens könne der Mensch, indem er ein gottgefälliges Leben führe, auf sein Heil hinarbeiten und am Ideal der Vollkommenheit teilhaben. Selbst Gott zu werden, bleibe ihm versagt. Während der Einzelne sein NeuSein bereits durch Taufe und Bekehrung erfahre, stünde das endgültige universale Neuwerden von Welt und Menschheit noch aus. III. Säkulares Heilsziel In der Ideologie des Marxismus-Leninismus stellt sich die Frage nach der Mangelhaftigkeit des Menschen nicht primär. Die Frage müsste vielmehr lauten, warum der Mensch unter klassengesellschaftlichen Verhältnissen nicht sein wahrhaft gutes Wesen entfalten kann. Schließlich lag dem marxistisch-leninistischen Denken die Überzeugung zugrunde: Der Mensch sei kein abstraktes Wesen, sondern ein Produkt der ökonomischen Verhältnisse. Er sei daher von Natur aus nicht böse, sondern erst die ausbeuterischen Verhältnisse haben den Menschen von seinem eigentlichen Wesen entfremdet und die schlechten Eigenschaften in ihm hervorgebracht.5 Aus diesem Denken folgt der Schluss: Sobald humane – das heißt im Marxismus-Leninismus: sozialistische – Verhältnisse hergestellt sind, werde sich auch der Mensch zu einem erneuerten, guten Menschen wandeln und zu seiner eigentlichen Natur zurückfinden. So hängt der Traum vom „Neuen Menschen“ in der DDR unmittelbar mit der Errichtung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft zusammen. Das Geschichtsschema von Karl Marx und Friedrich Engels, auf das sich die SED beruft, ist bekannt. Die gesellschaftliche Entwicklung laufe nach feststehenden Gesetzen ab, die sich in drei historische Etappen gliedern 4  Vgl. Gottfried Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, 2. Aufl., München 1994, S. 54. 5  Vgl. Wolfgang Eichhorn, Von der Entwicklung des sozialistischen Menschen, Berlin (Ost) 1964, S. 40–44.



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lassen: Urgesellschaft – Klassengesellschaft – klassenlose Gesellschaft. Die Urgesellschaft nimmt im Marxismus-Leninismus paradiesische Züge an. Schließlich seien alle Menschen gleich sowie frei von Ausbeutung und Unterdrückung gewesen, Armut habe nicht existiert und es habe keiner Soldaten, Polizisten oder Richter bedurft.6 Nach der Abkehr aus der Urgesellschaft folgt dieser Teleologie nach der Verfall in der Klassengesellschaft, in der sich der Mensch zunehmend von seinem ursprünglichen gesellschaftlichen Wesen entfernt. Jener Prozess erreiche im Kapitalismus seinen Höhepunkt. Er beginne sich jedoch mit dem Sozialismus allmählich aufzulösen und vollende sich schließlich mit dem geschichtlichen Endziel: dem Kommunismus. Angesichts des Verfalls in der Klassengesellschaft drängt sich die Frage auf, warum sich der Mensch überhaupt aus dem kommunistischen „Urparadies“ herausbegeben habe. In der DDR wurde der „Sündenfall“ wie folgt vermittelt. Die Anfangsperiode der Urgesellschaft sei von einer natürlichen Arbeitsteilung nach Alter und Geschlecht geprägt, die sich im Zuge von ackerbaubetreibenden und viehzüchtenden Stämmen zugunsten einer gesellschaftlichen Arbeitsteilung fortgesetzt habe. Dieser Prozess führte, so die Lehre in der DDR, zu einer erhöhten Arbeitsproduktivität mit einem Mehrprodukt sowie zum Güteraustausch. Dadurch sei es möglich geworden, sich die Produkte fremder Arbeit anzueignen. Aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und des Produktaustausches habe sich schließlich das Privateigentum an den Produktionsmitteln entwickelt, da die Stammesältesten und -führer das Gemeineigentum an sich gerissen, die Mitglieder der Gemeinschaft zu ihren Untertanen gemacht und damit den Keim für den Übergang zur Sklavenhaltergesellschaft und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gelegt hätten.7 Die entscheidende Ursache für den ökonomischen „Sündenfall“ liegt demzufolge weniger – wie vielleicht zunächst angenommen – im Privateigentum an den Produktionsmitteln als in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Seitdem stünden sich die Menschen nicht mehr als Menschen gegenüber, sondern als Zugehörige von Klassen: Herren und Sklaven, Feudalher6  Vgl. Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hrsg.), Marx Engels Werke, Bd. 21, Berlin (Ost) 1962, S. 25–173, hier: S. 95 f. 7  Vgl. Wolfgang Padberg, Wie der Mensch entstand, in: Alfred Kosing u. a., Weltall, Erde, Mensch. Ein Sammelwerk zur Entwicklungsgeschichte von Natur und Gesellschaft, 10.  Aufl., Berlin (Ost) 1962, S. 207–236, hier: S. 235; Zentraler Ausschuss für Jugendweihe in der Deutschen Demokratischen Republik (Hrsg.), Vom Sinn unseres Lebens, Berlin (Ost) 1983, S. 100 f.; Art. Urgesellschaft, in: Georg Klaus / Manfred Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 11. Aufl., Leipzig 1975, S.  1244 f.

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ren und Leibeigene, Kapitalisten und Proletarier. Was bedeutet jener Prozess aber für das Wesen des Menschen? Der Mensch leiste unfreie Arbeit, da er nicht mehr wie im Urzustand des Produktes wegen arbeite, sondern um von dem Produkt seiner Arbeit leben zu können. Diese Entwicklung begreift der Marxismus-Leninismus der DDR in Anknüpfung an Marx als tiefgreifende Zäsur in der Menschheitsgeschichte: als Entfremdung, die den Menschen in das Jammertal von Ausbeutern und Ausgebeuteten verweist. Indem der arbeitende Mensch sein Produkt veräußere, entfremde er sich nicht nur von seiner Selbstverwirklichung, sondern sogar von seiner menschlichen Natur. Im Kapitalismus erreiche dieser Entfremdungsprozess seinen Höhepunkt: Die tote Arbeit in Form des Kapitals herrsche über die lebendige Arbeit in Form des unmittelbaren Produzenten. Im Imperialismus, das letzte Stadium des Kapitalismus, verstärke sich dieser Entfremdungsprozess noch, indem das Monopolkapital mit dem Staat verschmelze und die wirtschaftliche sowie politische Ausbeutung sich bis aufs äußerste steigere.8 Der Arbeiter werde entwürdigt, physisch wie moralisch zerstört, in Kriegen massenweise vernichtet und der Entfaltung seiner schöpferischen Fähigkeiten beraubt.9 Die SED datierte die realgeschichtliche Entstehung des Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg. Seine aggressivsten Züge hätten sich jedoch erst mit dem „Hitlerfaschismus“ gezeigt, den die marxistisch-leninistische Partei in Anlehnung an Georgi Dimitroff als offene terroristische Diktatur des Finanzkapitals deklarierte. Damit führte sie das durch ihn heraufbeschworene Übel im Kern auf ökonomische Missstände zurück. Im Nationalsozialismus hätte das Streben nach Profit und Macht ein vorher unbekanntes Ausmaß erreicht, wofür er mithilfe der „faschistischen Diktatur“ nicht nur die Knechtung des eigenen Volkes, sondern auch die Unterjochung anderer Völker anstrebte.10 Doch wie kann sich der Mensch aus seinem selbstverschuldeten Unheil befreien und den Weg zu seinem ursprünglichen Zustand einschlagen? In der christlichen Lehre bedarf der Ausweg aus diesem Dilemma eines Erlösers. Indem Christus am Kreuz starb, habe er den „Alten Adam“ liquidiert und dem Menschen die Möglichkeit eröffnet, sich zu erneuern. Im Marxismus-Leninismus kommt diese Erlöserrolle der Arbeiterklasse zu. Als geknechtete Klasse im Kapitalismus sei sie zur historischen Mission auserwählt, durch die sozialistische Revolution die Kapitalisten zu enteignen, das 8  Entfremdung, in: Georg Klaus / Manfred Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1, 11. Aufl., Leipzig 1975, S. 324–330, hier: S. 324–326. 9  Art. Mensch, in: G.  Klaus / M.  Buhr (Anm. 7), S. 777 f., hier: S. 778. 10  Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin (Ost) 1963, S. 17–21.



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Privateigentum an den Produktionsmitteln in Gemeineigentum umzuwandeln und damit die Trennung von Kapital und Arbeit abzuschaffen. Dadurch leite sie die Aufhebung der Entfremdung des Menschen ein, die sich schließlich im Kommunismus als geschichtliches Endziel vollende.11 Insofern sei die proletarische Revolution nicht als bloßer Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse zu betrachten, sondern als Wendepunkt der gesamten Menschheitsgeschichte. Diesen Wendepunkt sah die SED mit der bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 eintreten. Zugleich galten die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Sowjetunion für sie als empirischer Beweis des marxistischen Geschichtsschemas, deren vorgezeichneten Weg früher oder später alle Völker gehen würden. Die deutsche Arbeiterklasse hätte ihn bereits vor Jahrzehnten eingeschlagen: beginnend mit der Gründung der deutschen Arbeiterbewegung durch Karl Marx und Friedrich Engels über die Schaffung der Massenpartei der deutschen Arbeiterklasse durch August Bebel und Karl Liebknecht bis hin zum heldenhaften Widerstand der KPD unter Führung Ernst Thälmanns, Wilhelm Piecks und Walter Ulbrichts gegen den „Hitlerfaschismus“. In diesem aufopferungsvollen letzten Klassenkampf hätte sich die deutsche Arbeiterklasse – mit Hilfe der Sowjetarmee – von ihren Ausbeutern befreit und die größte Revolution der deutschen Geschichte vollzogen, die zur Gründung des ersten „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ Deutschlands führte.12 Nach dieser Lesart hat sich in Ostdeutschland die „Diktatur des Proletariats“ – der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus – verwirklicht. Da der „Neue Mensch“ bereits in der Sowjetunion entstanden sei, war die deutsche Staatsführung davon überzeugt, der Wandel des alten (kapitalistischen) zum neuen (sozialistischen) Menschen werde sich nun auch auf deutschem Boden vollziehen. So verkündet Walter Ulbricht 1959: „Das bedeutendste Ereignis ist die Entwicklung der Menschen der sozialistischen Epoche. Im Schaffen für den Sozialismus bilden sich die neuen Menschen, erfolgt die Selbsterziehung. […] Immer mehr streifen die Menschen die alten, überholten Gewohnheiten aus der kapitalistischen Zeit ab. Die Menschen unserer Zeit sind als gleichberechtigte, von der kapitalistischen Sklaverei befreite Menschen von dem Drang nach neuen Erkenntnissen und größeren Leistungen, nach Lebenstüchtigkeit und Lebensfreude erfüllt.“13 11  Vgl. Sozialismus und Kommunismus, in: G. Klaus / M. Buhr (Anm. 7), S. 1114– 1127, hier: S. 1119. 12  Vgl. Programm der SED (Anm. 10), S. 30–37. 13  Walter Ulbricht, Der Weg zur Sicherung des Friedens und zur Erhöhung der materiellen und kulturellen Lebensbedingungen des Volkes. Aus dem Referat auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands am 15. Januar 1959, Berlin (Ost) 1959, S. 50, Herv. i. O.

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Im Vergleich zur Vorstellung vom „Neuen Menschen“ im Christentum springt ein grundlegender inhaltlicher Unterschied zur gleichnamigen Denkfigur in der marxistisch-leninistischen Ideologie der DDR ins Auge: Der Wechsel vom „Alten Menschen“ zum „Neuen Menschen“ bezieht sich nicht mehr auf einen überweltlich-jenseitigen, sondern auf einen innerweltlichdiesseitigen Wandel. Zwar verkörpert der „Neue Mensch“ im MarxismusLeninismus wie im Christentum ein Heilsziel, dieses hat sich jedoch als säkulare Vision vollständig dem Transzendenzbezug entsagt. So bildet die adaptierte Trias von Paradies, Sündenfall und Erlösung im ideologischen Denken historisch vergangene, gegenwärtige und in ferner Zukunft erreichbare Stadien der Menschheit ab (Urkommunismus, Klassengesellschaft und Sozialismus / Kommunismus). Erst wenn die Arbeiterklasse den Menschen in der Realgeschichte von seinen kapitalistischen Fesseln befreit und die neue Gesellschaft errichtet habe, könne der Mensch wieder zu seiner wahrhaft guten Natur (zurück) gelangen, in der er befreit ist von den Zwängen der Klassengesellschaft. Im Gegensatz zur christlichen Denkfigur ist der „Neue Mensch“ nicht mehr menschlicher Verfügbarkeit entzogen, sondern durch gesellschaftliche Anstrengungen planbar und realisierbar. Daraus ergibt sich zugleich die Negation der religiösen Auffassung, die Erneuerung des Menschen sei ein Teil des Schöpfungshandelns Gottes. Im ideologischen Denken der DDR ist sie vielmehr ein unvermeidliches Endergebnis der Geschichte. Ob er will oder nicht, der Mensch werde sich zwangsläufig zum sozialistischen und kommunistischen Menschen erneuern. An die Geburt des „Neuen Menschen“ brauche er daher nicht mehr zu glauben, sondern der Mensch könne sie mithilfe der vermeintlich einzig wahren wissenschaftlichen Weltanschauung selbst überprüfen. Daran anknüpfend: Der Wandel vom „Alten Menschen“ zum „Neuen Menschen“ verkörpert im marxistisch-leninistischen Denken die Transformation vom religiösen zum atheistischen Menschen. Schließlich sei die Religion ein Überbleibsel der alten Welt, das als reaktionäres Element auch mit dem erneuerten Menschen verschwinden müsse. Zudem hindere sie ihn daran, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen und sich von seinen Qualen auf Erden selbst zu erlösen. Ebenso sei auch der Sinn des menschlichen Lebens nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb der Welt zu suchen: im Wesen des Sozialismus und im stetigen Kampf für seine Vervollkommnung.14 14  Vgl. Matthäus Klein, Theoretische Probleme der marxistischen Ethik, in: Lene Berg u. a., Neues Leben, neue Menschen. Konferenz des Lehrstuhls Philosophie des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED über theoretische und praktische Probleme der sozialistischen Moral am 16. und 17. April 1957, Berlin (Ost) 1957, S. 11–55, hier: S. 44.



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In der christlichen Lehre ist Vollkommenheit ein absolut gesetztes Ideal, dem sich der Mensch nur nähern kann. Selbst Gott zu werden, bleibe ihm verwehrt. Mit Blick auf die gleichnamig propagierte Denkfigur in der DDR drängt sich die Frage auf, wie es sich hier mit dem Vervollkommnungsbzw. Vergöttlichungsmotiv verhält. Schließlich bedeutet die Adaption einer ursprünglich religiös formulierten Idee nicht, mit ihr würde automatisch eine inhaltliche Kontinuität einhergehen. Obgleich Publikationen mit offiziellem Charakter, wie etwa SED-Parteiprogramme oder DDR-Jugendweihebücher, den „Neuen Menschen“ nicht unmittelbar als vollkommen im Sinne von Makellosigkeit und Vollendung bezeichnen, lässt die äußerliche Betrachtung eine solche Kennzeichnung durchaus zu. Im Buch „Unsere Welt von morgen“, dessen vierte Auflage die Jugendlichen 1961 zur Jugendweihe geschenkt bekamen,15 gehen die Autoren davon aus, mit dem neuen Zeitalter des Sozialismus und Kommunismus würden sich auch die Bedürfnisse des Menschen verändern: Sie würden edler, schlichter und echter. Der „Neue Mensch“ verkörpere das humanistische und schöpferische Wesen schlechthin, der seiner Arbeit nicht aus Zwang, sondern als erstes Lebensbedürfnis nachgehen werde. Auch moralisch scheint er makellos zu sein. Eigenschaften des „Alten Menschen“, wie Gier, Geiz, Raffsucht, Genusssucht, Hang zum Luxus, Prunksucht, Prahlerei oder private Vorratswirtschaft habe er vollständig abgelegt. Sollten sie dennoch auftreten, wären sie höchstens ein Fall für die Psychiatrie.16 Neben dem Jugendweihebuch nimmt der Mensch der kommunistischen Epoche auch im Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands von 1976 vollkommene Züge an. So sei er Beherrscher der eigenen Natur, allseitig gebildet mit hohem Bewusstsein und vielseitig schöpferisch tätig. Weiter heißt es, seine Fähigkeiten, Ansprüche und Bedürfnisse würden sich durch einen großen Reichtum und Mannigfaltigkeit auszeichnen.17 In beiden Publikationen wird zudem das Bild vom Kommunismus als Reich wahrer Menschlichkeit, der Gleichheit und Brüderlichkeit, des Friedens und der Freiheit geprägt, das einem „Paradies auf Erden“ gleiche.18 Zumindest im Buch „Unsere Welt von morgen“ stellt dies keine Fremd-, sondern eine Selbstdeutung dar, wenn die Autoren vom Kommunismus als 15  Vgl. Katrin Löffler, Der „neue Mensch“ in der frühen DDR-Literatur und sein Kontext, in: dies. (Hrsg.), Der „neue Mensch“. Ein ideologisches Leitbild der frühen DDR-Literatur und sein Kontext, Leipzig 2013, S. 9–25, hier: S. 16. 16  Vgl. Karl Böhm / Rolf Dörge, Unsere Welt von morgen, 2. Aufl., Berlin (Ost) 1959, S. 468–485. 17  Vgl. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. IX. Parteitag der SED. Berlin, 18. bis 22. Mai 1976, Berlin (Ost) 1976, S. 74 f. 18  Vgl. K.  Böhm / R.  Dörge (Anm. 16), S. 486; Programm der SED (Anm. 17), S. 76.

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„paradiesische[n] Garten“19 sprechen. Letztlich impliziert bereits diese entworfene Utopie die Vorstellung eines vollendeten und makellosen Menschen, der kein Übel und Leid mehr hervorbringe, sich seiner vormaligen egoistischen Lebensweise vollständig entsagt habe und in Harmonie mit der Gesellschaft zusammenlebe. Insofern ist das Funktionieren des im ideologischen Denken vorgestellten „Paradies auf Erden“ an einen Menschen geknüpft, der die gesellschaftlichen über seine persönlichen Interessen stellt. Vor diesem Hintergrund scheint die Gegenposition des DDR-Philosophen Wolfgang Eichhorn, die er in seinem Buch „Vom Werden des sozialistischen Menschen“ einnimmt, zugleich eine Außenseiterposition zu sein. Eichhorn zufolge kann sich der Mensch zwar dem Ideal der absoluten Vollkommenheit nähern, aber es nie vollständig erreichen. So sei selbst der Mensch der sozialistischen und kommunistischen Epoche nicht frei von jeglichen Mängeln und Fehlern.20 Zu Ende gedacht bedeutet diese Position jedoch, dass angesichts der Unvollkommenheit des Menschen auch der Kommunismus nicht frei von Mängeln sein kann: Habsucht würde weiter existieren und den Boden für soziale Ungleichheit nähren. Das widerspräche jedoch der Botschaft der propagierten Ideologie im DDR-Sozialismus, da der Kommunismus dann nur ein Ideal wäre und nicht wie behauptet ein tatsächlich realisierbarer Endzustand: „Heute ist das Ideal des Kommunismus kein bloßer Traum mehr, sondern ein wissenschaftlich begründetes und realistisches Ziel revolutionärer Weltveränderung.“21 Wenn der „Neue Mensch“ im Kommunismus noch mit Makeln behaftet wäre, dann hätte das vielfach vorgebrachte Argument – der Kommunismus könne nicht funktionieren, da sich die Natur des Menschen nicht zu einer wahrhaft guten verändern lasse – schließlich ihr Gegenargument verloren. Entgegen der christlichen Auffassung scheint Vollkommenheit in der marxistisch-leninistischen Denkfigur des „Neuen Menschen“ daher kein Näherungsideal, sondern ein in ferner Zukunft historisch erreichbarer Endzustand zu sein: „Vollkommenheit ist nicht Richtmaß, sondern geschichtlich realisierbares Endziel.“22

19  K.  Böhm / R.  Dörge

(Anm. 16), S. 480. W. Eichhorn (Anm. 5), S. 57 f. 21  Zentraler Ausschuss für Jugendweihe in der DDR (Anm. 7), S. 202. 22  Barbara Zehnpfennig, Der ‚Neue Mensch‘ – von der religiösen zur säkularen Verheißung, in: Mathias Hildebrandt / Manfred Brocker / Hartmut Behr (Hrsg.), Säkularisierung und Resakralisierung in westlichen Gesellschaften. Ideengeschichtliche und theoretische Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 81–96, hier: S. 84. 20  Vgl.



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IV. Vom „Kapitalistischen Menschen“ zum „Sozialistischen Menschen“ In der marxistisch-leninistischen Ideologie der DDR bildet der „Kapitalistische Mensch“ die antithetische Gestalt zum „Sozialistischen Menschen“: Rückständigkeit versus Fortschrittlichkeit, Individualismus versus Kollektivismus, Pessimismus versus Optimismus, Wolfsmoral versus Humanität etc. Die Gegenüberstellung dieser beiden Menschentypen liegt ein manichäischer Gegensatz zugrunde: Der „Sozialistische Mensch“ verkörpert das Gute, während der „Kapitalistische Mensch“ das Böse schlechthin repräsentiert. Als Ziel der politischen DDR-Führung galt es daher, das Schlechte im Menschen zu überwinden und die „allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit“ zu fördern. Hinter diesem sperrigen Begriff verbarg sich im Wesentlichen das Ideal von einem Menschen, der über ein sozialistisches Bewusstsein verfügt, an der gesellschaftlichen Entwicklung aktiv mitwirkt, am kulturellen Leben teilnimmt, nach den Prinzipien der sozialistischen Moral lebt, sein Wissen sowie seine Talente ausbildet und vervollkommnet und sie zum Nutzen der Gesellschaft einsetzt und bereit ist, die sozialistische Staatsund Gesellschaftsordnung zu verteidigen.23 Daran anknüpfend drängt sich eine weitere strukturelle Ähnlichkeit zur religiösen Denkfigur auf: Die Erneuerung des Menschen bedarf der Liquidation des „Alten Menschen“. Im Fall des Christentums ist damit die Abkehr von einer an den Begierden und Sünden orientierte Lebensführung gemeint, im Fall des Marxismus-Leninismus in erster Linie der Bruch mit der kapitalistischen Gesinnung und Lebensweise. Wie in der christlichen Idee bezieht sich der Transformationsprozess auch im marxistisch-leninistischen Denkgefüge auf einen inneren Wandel, der sich im Verständnis des DDR-Wissenschaftlers Wolfgang Herger im Kampf gegen das Alte vollzieht: „In der Übergangsperiode muss daher ein ständiger Kampf gegen Reste kleinbürgerlicher und kapitalistischer Lebensweise geführt werden […]. Im Kampf gegen diese ideologischen Reste des Kapitalismus, gegen das Alte auf allen gesellschaftlichen Gebieten und bei der aktiven Teilnahme am Aufbau des Neuen, des So­ zialismus, entwickeln sich Tausende sozialistischer Persönlichkeiten, formt sich der neue Mensch in seinem Denken und in seine Taten.“24

Da dem Marxismus-Leninismus eine materialistische Weltanschauung zugrunde lag, müsste sich der Mensch erneuern bzw. sich zur „sozialistischen Persönlichkeit“ entwickeln, sobald die gesellschaftlichen Verhältnisse 23  Persönlichkeit,

in: G.  Klaus / M.  Buhr (Anm. 7), S. 921–923. Herger, Zu einigen Problemen der Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten, in: Georg Mende (Hrsg.), Über die Entwicklung sozialistischer Persönlichkeiten. Protokoll der Ethik-Konferenz des Instituts für Philosophie. Jena vom 19.  Dezember 1958, Berlin (Ost) 1960, S. 10–31, hier: S. 22. 24  Wolfgang

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nach der sozialistischen Revolution geändert sind. Die Frage, inwiefern eine solche Transformation tatsächlich stattfindet, wird somit zum Lackmustest für die Legitimität der aufgebauten Gesellschaftsordnung. Um den materialistischen Entwicklungsgesetzen gerecht zu werden, bieten sich zwei Möglichkeiten an: zum einen die Überinterpretation des bisher Erreichten und zum anderen den Versuch, den Menschen zum „Neuen Menschen“ zu erziehen.25 Beides war für die politische Führung der DDR eine Option. Wer allein Zeitungsartikel zum Thema „Neuer Mensch“ für bare Münze nimmt, kommt nicht umhin zu glauben, ständig und überall hätte sich der erneuerte Mensch im „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ entwickelt. So heißt es etwa in drei Artikeln verschiedener Jahre aus dem „Neuen Deutschland“: „Als neue Menschen kehrten wir Heimkehrer aus der Sowjetunion zurück“26; „Die Entwicklung des Maurers Heinz Krüger ist die Entwicklung Tausender von Bauarbeitern, die durch die Stalinallee zu neuen Menschen geformt wurden“27; und „Im täglichen Ringen um die Durchsetzung des Neuen, Fortschrittlichen entwickelt sich auch in den Dörfern der neue Mensch der sozialistischen Epoche, der mit hohem Bewusstsein, großem Wissen und Können für den Sieg des Sozialismus kämpft“28. Mithilfe des zweiten gedanklichen Auswegs versuchte sich die SED als Geburtshelfer des „Neuen Menschen“ zu erproben. Dies tat sie vornehmlich deshalb, da sie eine Diskrepanz zwischen den sozialistischen Produktionsverhältnissen und dem Bewusstsein sowie Verhalten großer Teile der Bevölkerung feststellte,29 die sich im Aufstand vom 17. Juni 1953 offenbarte, obgleich die DDR-Geschichtswissenschaft ihn nach außen hin als „konterrevolutionären Putsch imperialistischer Weltmächte“ deklarierte.30 Von offizieller politischer Seite wurde daher betont: Nach den veränderten Produktionsverhältnissen würden sich neue „sozialistische Persönlichkeiten“ nicht im reinen Selbstlauf entwickeln, sondern diese bildeten sich vielmehr erst in einem langwierigen Prozess heraus. Zudem besäßen die alten Vorstellungen des Kapitalismus eine erhebliche Zählebigkeit, da sie in vielfältigen 25  Vgl. Irma Hanke, Vom neuen Menschen zur sozialistischen Persönlichkeit. Zum Menschenbild der SED, in: Deutschland Archiv, 9  (1976) 5, S. 492–515, hier: S. 493. 26  Horst Meier, Erste Begegnung in Deutschland, in: Neues Deutschland vom 17. September 1949, S. 2. 27  Die Bauten der Stalinallee im Rohbau fertig, in: Neues Deutschland vom 27. September 1952, S. 6. 28  Herbert Hoffmann, Im Dorf entwickelt sich stürmisch das Neue, in: Neues Deutschland vom 6. Oktober 1960, S. 4. 29  Vgl. Christiane Lemke, Persönlichkeit und Gesellschaft. Zur Theorie der Persönlichkeit in der DDR, Opladen 1980, S. 19. 30  Vgl. Rolf Badstübner u. a., DDR. Werden und Wachsen. Zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (Ost) 1974, S. 240–242.



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Formen als Gewohnheiten, Vorstellungen, Gepflogenheiten und Traditionen weiterleben und damit eine große Hemmkraft für die Entwicklung des sozialistischen Denkens und Handelns darstellen. Nur mithilfe einer systematischen Erziehungsarbeit durch die marxistisch-leninistische Partei könne es gelingen, diese zu überwinden.31 Mit dem Bildungsgesetz von 1965 und dem Jugendgesetz von 1975, in denen explizit die Rede von der Entwicklung „sozialistischer Persönlichkeiten“ die Rede ist, erhielt das Erziehungsziel sogar ihre legislativen Grundlagen.32 Als Grundpfeiler des Denkens, Fühlens und Handels der „sozialistischen Persönlichkeit“ bezeichnet Gerhart Neuner, ehemaliger Präsident der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften: sozialistisches Bewusstsein, sozialistische Weltanschauung und sozialistische Moral.33 Normsetzenden Charakter für die sozialistische Moral besaßen insbesondere die „Zehn Gebote der sozialistischen Ethik und Moral“, die Walter Ulbricht 1958 auf dem V. Parteitag der SED verkündete und Eingang in das SED-Parteiprogramm von 1963 fanden. Ihre Intention ist unverkennbar: die Ablösung des Dekalogs des Alten Testaments. Sie lauteten: „1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen. 2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen. 3.  Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. 4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen. 5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen. 6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren. 7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen. 8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen. 9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten. 10. Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben.“34

Wer solche Gebote zum Maßstab einer moralisch guten Lebensweise erhebt, will den Menschen in seinem Wesen nicht nur verändern, sondern ihn 31  Vgl.

M. Klein (Anm. 14), S. 40. Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem, 25. Februar 1965, § 1 Abs. 1; Gesetz über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik. Jugendgesetz der DDR, 28. Januar 1974, § 2 Abs. 1. 33  Vgl. Gerhart Neuner, Zur Theorie der sozialistischen Allgemeinbildung, Berlin (Ost) 1974, S. 35 f. 34  Programm der SED (Anm. 10), S. 122 f. 32  Vgl.

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im Sinne einer sozialistischen Denk- und Handlungsweise perfektionieren: als geistig hochstehenden, moralisch reinen und höchst selbstlosen Menschen, der die Interessen der sozialistischen Gesellschaft über seine eigenen stellt. Ein moralisches und ethisches Handeln außerhalb der sozialistischen Ideologie ist nicht denkbar. Zudem vermittelt das achte Gebot unmissverständlich, die politisch-ideologische Erziehung solle bereits im Elternhaus beginnen und sich dann über Kindergarten, Schule, Hochschule, Wehrdienst sowie Betriebs-, Parteien- und Massenorganisationen weiter fortsetzen. Selbst der private Freizeitbereich war nicht ausgespart vom sozialistischen Erziehungsprogramm der DDR. So versuchte das SED-Regime über staatliche Institutionen, wie etwa Kinos, Theater, Museen, Sportvereine oder Tanzveranstaltungen, ideologischen Einfluss auszuüben. Zudem gab sie per Gesetz vor, was Jugendliche in ihrer Freizeit tun sollten: „ihr Leben kulturvoll zu gestalten, ihre Freizeit sinnvoll zu nutzen […] und schöpferisch an der Entwicklung von Kunst und Kultur mitzuwirken.“35 Der politische Herrschaftsanspruch durchdrang alle Lebensbereiche, bis hin zum privaten Bereich. Es gab für den Einzelnen keinen Raum mehr, über den der Staat keinen Einfluss ausübte. In dieser Hinsicht offenbart sich mit dem Erziehungsziel ein totalitäres Element der SED-Diktatur: Die Vision von der „totalen“ Erfassung des Menschen, der in allen Lebensbereichen unter dem Zugriff einer Partei stand und so Teil einer anthropologischen Revolution36 werden sollte. Die Erziehungsarbeit verlief aus politischer Sicht jedoch nicht problemfrei. Der vermeintliche Grund dafür war schnell in den noch bestehenden Muttermalen des Kapitalismus gefunden. Die ideologische Brille ließ eine andere Sichtweise nicht zu. In der offiziellen Begründung hieß es daher, die Elemente kapitalistischer Ideologie und Lebensweise wären selbst unter sozialistischen Bedingungen noch lange wirksam, ja sie könnten sogar erstarken, wenn die Menschen nicht richtig geführt würden. Zudem würden sich die überkommenen Denk- und Handlungsweisen durch Einflüsse „imperialistischer Propaganda“ aus Westdeutschland sowie durch den noch bestehenden privatkapitalistischen Sektor in der DDR nähren. Erschwerend wäre darüber hinaus die historische Vergangenheit für die Formung des „Sozialistischen Menschen“ hinzugekommen. Deutschland als ehemaliges Zentrum des „Faschismus“ hätte die schlimmsten Imperialisten, Aggressoren und Unterdrücker hervorgebracht und damit die Erziehungsarbeit vor große Herausforderungen gestellt.37 Nichtsdestotrotz konservierte sich im ideologischen Denken der DDR die perfide Vorstellung, jede Fehlentwicklung durch pädagogische Mittel korri35  Jugendgesetz

(Anm. 30), § 27. Emilio Gentile, Politics as Religion, Princeton 2006, S. 46. 37  Vgl. W. Eichhorn (Anm. 5), S. 43; W. Herger (Anm. 24), S. 14. 36  Vgl.



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gieren zu können. Damit zeichnet sich ein weiterer qualitativ inhaltlicher Unterschied zur christlichen Denkfigur ab: Der „Neue Mensch“ wird mittels Erziehungsmaßnahmen als formbar gedacht. Diese Illusion wirkte sich auf die erprobte Praxis in der DDR aus. So sollten in sogenannten Spezialheimen Jugendliche, die dem Ideal der „sozialistischen Persönlichkeit“ nicht entsprachen und im DDR-Sprachgebrauch als „schwererziehbar“ galten, umerzogen werden. Mithilfe von Arbeit, Disziplinarmaßnahmen, Kollektiv­ erziehung und politisch-ideologischer Indoktrinierung glaubten die Pädagogen der DDR-Jugendhilfe einen „Neuen Menschen“ entwickeln zu können, der sich wieder in die sozialistische Gesellschaft eingliedert, sich aktiv am Aufbau des Sozialismus beteiligt und die gesellschaftlichen über seine persönlichen Interessen stellt.38 Besonders harte Erziehungsmaßnahmen traten im Jugendwerkhof Torgau zutage, der zwischen 1964 und 1989 als einzige geschlossene Disziplinareinrichtung in der DDR galt. Dort fanden die Umerziehung unter Zwang und Gewalt statt – mit dem Ziel, negative Einflüsse auszumerzen und die Voraussetzungen für eine „normale“ Persönlichkeitsentwicklung zu schaffen.39 V. Zwischen Erfüllung und Verheißung Wie im christlichen Modell lässt sich der „Neue Mensch“ auch im DDRSozialismus nicht aus dem Spannungsverhältnis zwischen Erfüllung und Verheißung herauslösen. Einerseits beginne die Geschichte seines Neu-Seins bereits mit der sozialistischen Revolution des Proletariats. Sie eröffne demjenigen die Möglichkeit, der sozialistisch arbeitet, lernt und lebt, sich zur „sozialistischen Persönlichkeit“ zu erneuern. Insofern könne der Mensch durch eine sozialistische Denk- und Lebensweise bereits in der DDR die Transformation vom „Alten Menschen“ zum „Neuen Menschen“ einschlagen. Andererseits stünden das endgültige universale Heil und die damit verbundene Erneuerung von Mensch und Welt noch aus, die sich erst mit der Errichtung des Kommunismus überall auf der Welt realisieren. In diesem Endzustand der Geschichte vollende sich die universale kommunistische Gesellschaft mit dem „Neuen Menschen“. Insofern bezieht sich die Erneuerung auf die gesamte Menschheit.40 Schließlich werden laut marxistisch-leninistischer Weltanschauung früher oder später alle Völker den Weg 38  Vgl. Eberhard Mannschatz, Die Umerziehung von Kindern und Jugendlichen in den Heimen der Jugendhilfe. Referat auf dem Lehrgang der Leiter der Spezialheime der Jugendhilfe im März 1976 in Ludwigsfelde, Ludwigsfelde 1976, insbes. S. 12–16. 39  Vgl. Andreas Gatzemann, Die Erziehung zum „neuen“ Menschen im Jugendwerkhof Torgau. Ein Beitrag zum kulturellen Gedächtnis, Berlin 2008. 40  Vgl. G. Küenzlen (Anm. 4), S. 60.

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zum Kommunismus einschlagen. Das Bild vom erneuerten Menschen bezieht sich daher, wie in der religiösen Lehre, sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft. Angesichts dieses Spannungsfeldes stellt sich die Frage nach den Erfolgen der Erziehungstätigkeit in der DDR. Nach außen hin deklarierte Erich Honecker noch 1971 im vielfach rezitierten Satz, die „sozialistische Persönlichkeit“ sei einerseits bereits im DDR-Sozialismus entstanden, andererseits müssten die Menschen erst noch zu ihr erzogen werden: „Eines der edelsten Ziele und eine der größten Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft ist die allseitig entwickelte Persönlichkeit.“41 Spätestens die anschwellenden Flüchtlingsströme aus der DDR, die sich formierenden oppositionelle Kräfte und die Massendemonstrationen in zahlreichen ostdeutschen Städten im Herbst 1989 zeigen jedoch, alle mit dem Erziehungsziel verknüpften Anstrengungen seitens der politischen Führung waren gescheitert. Hatten sich die Probleme der sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung bereits vorher angekündigt? Zumindest wiesen Studien des Zentralinstituts für Jugendforschung der 1970er Jahre auf Defizite hin. So beklagten die Autoren gerade bei den Lehrlingen und jungen Arbeitern – dem Nachwuchs der Arbeiterklasse – eine ungenügende sozialistische Lebensweise, die sich unter anderem im geringen Bekenntnis zur marxistisch-leninistischen Weltanschauung und zunehmenden Desinteresse an einer Mitgliedschaft bzw. Mitarbeit in der FDJ geäußert hätte.42 VI. Religiöse Wurzeln der säkularen Denkfigur Die vorangegangenen Ausführungen zeigen: Beim Traum vom „Neuen Menschen“ in der DDR handelt es sich tatsächlich um die Säkularisierung der biblischen Verheißung. Nicht nur die christliche Religion, sondern auch die SED-Diktatur hat sich auf die Suche nach dem „Neuen Menschen“ begeben. Beide sehnen sich nach einem Menschen, der von seiner unvollkommenen Existenz erlöst ist. Während der christliche Glaube den „Alten Adam“ aufgrund seiner an Sünden und Begierden ausgerichtete Lebensweise als „Mängelwesen“ auffasst, sind es in der Denkfigur im DDR-Sozialismus die äußeren kapitalistischen Verhältnisse, die den Menschen von seiner wahrhaft guten Natur entfremden. Wie in der christlichen Lehre bedarf es 41  Erich Honecker, Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den VIII. Parteitag der SED, in: VIII. Parteitag der SED. Juni 1971. Aus Reden und Dokumenten, Berlin (Ost) 1971, S. 37. 42  Vgl. Barbara Bertram u. a., Jugend und Arbeit. Zur sozialistischen Persönlichkeitsentwicklung von Lehrlingen und jungen Arbeitern, Leipzig 1975, unter: http:// nbn-resolving.de / urn:nbn:de:0168-ssoar-373673 (29.  Januar 2015), S. 67–73.



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auch in der säkularen Denkfigur für die Erneuerung des Menschen einer Erlöserfigur. Diese Rolle kommt der Arbeiterklasse zu: Nachdem sie die gesellschaftlichen Verhältnisse sozialistisch revolutioniert hat, erneuert sich derjenige, der mit den alten Lebensgewohnheiten sowie den kapitalistischen Denk- und Verhaltensweisen bricht und sein Leben im Sinne der sozialistischen Ideale führt. Damit ebnet die Arbeiterklasse den Weg zum „Neuen Menschen“. Neben den strukturellen Kontinuitäten – Stichworte: Erneuerung als Heils­ ziel, Liquidation des „Alten Menschen“ und „Neuer Mensch“ im Spannungsverhältnis zwischen Erfüllung und Verheißung – ließen sich auch zahlreiche qualitativ-inhaltliche Unterschiede ausmachen, die dem ideologischen Leitbild in der DDR einen eigenständigen Charakter verleihen. Diese inhaltliche Differenz begründet sich mit der Verdiesseitigung religiöser Inhalte: Der Wandel vom „Alten Menschen“ zum „Neuen Menschen“ bezieht sich nicht auf einen transzendenten, sondern auf einen diesseitigen Wandel, der sich mit der sozialistischen Revolution in der DDR bereits in der empirischen Realisation befinde. Insofern ist der neue Mensch in der marxistischleninistischen Denkfigur ein durch gesellschaftliche Anstrengungen herstellbares und planmäßig erziehbares Endergebnis der Geschichte. Dafür ist der Mensch nicht mehr auf Gott, sondern auf seine eigene Schöpfungskraft angewiesen. Was lehrt uns dieser Befund? Zum einen entkräftet er die Säkularisierungsthese, da Säkularisierung nicht per se mit einem Niedergang des Religiösen einhergeht. Zum anderen zeigt er: Der Blick auf die Religion schärft den Blick für das Wesen der SED-Diktatur. So finden sich in den säkularen Vorstellungen Dimensionen genuiner Religion wieder, wie etwa die umfassende Sinndeutung von Mensch und Welt sowie die prophezeite Erlösung vom Übel des Kapitalismus bis hin zu dem wohl paradiesisch vorzustellenden Endzustand des Kommunismus.

Held der „Arbeiterklasse“ und Geist der Friedlichen Revolution? Die Rezeption von Martin Luther King in der DDR Von Eva Werner I. King-Rezipienten in der DDR Martin Luther King wurde in der DDR von Anfang der 1960er Jahre bis zur Friedlichen Revolution von unterschiedlichen Akteuren rezipiert. Großen Zuspruch erhielt King am 13. September 1964 von seinen Besuchern, als er in zwei zentralen Ost-Berliner Kirchen in Gottesdiensten predigte. Kirchen, SED und Blockparteien, sowie Friedens- und Bürgerrechtsbewegung rezipierten Martin Luther King, jedoch aus unterschiedlichen Perspektiven. In der Bürgerrechtsbewegung der DDR galt der amerikanische Bürgerrechtskämpfer als ein Vorbild, er rangierte an zweiter Stelle auf der Skala der Vorbilder.1 Die Unterschiedlichkeit der Perspektiven drängt die Frage auf, welche Intentionen die unterschiedlichen gesellschaftlichen Akteure mit ihrer jeweiligen King-Rezeption verfolgten. Die teils gegensätzlich intentionalen Perspektiven verlangen nach der Aufdeckung der Zusammenhänge zwischen diesen. Inwiefern beeinflusste die King-Rezeption der SED und Blockparteien die der Kirchen sowie der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung? Welche Akteure waren für die Thematisierung von Martin Luther King prädestiniert? Was waren die Gründe dafür? Aufgrund des amerikanisch-ostdeutschen Diskurses bewegt sich die KingRezeption der DDR im (ideologischen) Spannungsfeld der Supermächte des Kalten Krieges. Eine ausschließliche Begrenzung dieser Thematik auf die DDR ist wenig aufschlussreich. Sie reißt die Frage an, welche Impulsgeber aus dem Ausland King-Multiplikatoren in der DDR gewesen sind. In welcher Art und Weise thematisierten sie Martin Luther King bzw. aus welchen Gründen gaben sie den Impuls dazu? 1  Vgl. Christof Geisel, Auf der Suche nach einem dritten Weg. Das politische Selbstverständnis der DDR-Opposition in den 80er Jahren, Berlin 2005, S. 253.

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II. Facetten des Vorbildes Martin Luther King 1. Unser Held der Arbeiterklasse – Martin Luther King

Von Visionen eines Helden ergriffene Menschen identifizieren sich mit ihrem Vorbild und eifern diesem nach. Bei einer Heldeninszenierung werden (historische) Realität und zweckdienliche Konnotationen des Helden verknüpft, um die Wahrnehmung des Menschen mittels zugewiesener, eigens gestalteter Heldenbedeutung in eine gewünschte Perspektive zu lenken.2 Wie üblich unter Staaten, bediente sich die DDR der Heldeninszenierung. Ihre Heldenbühne reichte vom Widerstandsheld Ernst Thälmann, Radsportlerheld Gustav-Adolf („Täve“) Schur, Kosmonautenheld Siegmund Jähn bis zum Arbeiterheld Adolf Hennecke.3 Einer blieb bislang unerwähnt – der Friedensheld Martin Luther King. Der weltweit angesehene Friedensnobelpreisträger, sich für Völkerverständigung einsetzende Kritiker des von den USA geführten Vietnamkrieges eignete sich gut für die Instrumentalisierung des DDR-Regimes, propagierte dieses auch den Frieden und kritisierte die USA, vor allem dessen „Kriegslüsternheit“. Dreh- und Angelpunkt der sozialistischen Heldeninszenierung Kings bildet die politisch gefärbte Sprache in der DDR-Öffentlichkeit,4 bei der Frieden und Sozialismus bedeutungsgleich sind,5 wie im täglichen Schulleben der DDR rituell mit dem Pioniergruß „Für Frieden und Sozialismus – Seid bereit! – immer bereit“6 praktiziert. Angesichts des bedingungslosen Einklangs von Frieden und Sozialismus fördert Kings Rassismus-Kritik in den USA den Wahrheitsanspruch des Marxismus-Leninismus, wonach der Kapitalismus politische, ökonomische und militärische Missstände aufweise und deshalb der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen sei. Kings Charisma sowie dessen Führungskompetenzen eignen sich für die Inszenierung seiner Person zum dynamischen Bürgerrechtskämpfer der sozialistischen Arbeiterklasse, dessen Rolle mit der amerikanischen Bürgerrechtshymne „We shall 2  Vgl. Silke Satjukow / Rainer Gries, Zur Konstruktion des „sozialistischen Helden“. Geschichte und Bedeutung, in: dies. (Hrsg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, Berlin 2002, S. 15–34, hier: S. 19. 3  Vgl. Silke Satjukow / Rainer Gries, „Du sprichst mir dein Vertrauen aus …“ Ein Vorwort, in: ebd. S. 9–14. 4  Vgl. Ulla Fix, Sprache, Sprachgebrauch und Diskurse in der DDR, Berlin 2014, S. 22. 5  Vgl. Jonny Gottschalg / Gerhard Wolter, Jugendlexikon Wissenschaftlicher Kommunismus, 5., neubearb. Aufl., Leipzig 1987, S. 61. 6  Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR (Hrsg.), Wie Ernst Thälmann – treu und kühn. Handbuch für Freundschaftspionierleiter, Berlin (Ost) 1972, S. 14.



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overcome“ zur Überwindung des Kapitalismus vervollkommnet wurde. Die Heldenlegende von Martin Luther King fand in ostdeutschen Schulbüchern keinen Zugang7, jedoch „We shall overcome“. 2. Gefährliches oder erstrebenswertes Vorbild?

Martin Luther King war in der DDR begehrt, eine Fülle von Einladungen in die DDR ereilten ihn von unterschiedlichen Gastgebern.8 Mehrfach artikulierte Einladungsbekundungen zum Staatsbesuch in die DDR von Gerald Götting, Vorsitzender der Ost-CDU, lehnte Martin Luther King ab.9 Hingegen stimmte King den relativ zeitnahen Einladungen Heinrich Grübers nach Ost-Berlin zu10, der bis nach seiner Ausweisung kurz nach dem Mauerbau nach West-Berlin amtierender Pfarrer der Ost-Berliner Marienkirche gewesen war. Kings abendlicher Ost-Berlin-Besuch in der Marien- und Sophienkirche am 13. September 1964 mit über 3000 Besuchern11 entfachte eine hohe Welle der Begeisterung12, dem eine fragmentarische und zögerliche Berichterstattung staatlicher DDR-Medien folgte13. Solch eine King-Verehrung hinter dem Rücken der DDR-Obrigkeit war wohl nicht im Sinne des DDR-Regimes, hätte es doch lieber Martin Luther King selbst empfangen und ihr Ansehen damit erhöht. Die offizielle Erwähnung von Kings Kirchenbesuch in Ost-Berlin als „Besuch in der Hauptstadt der DDR“14 deckt sich mit der Aussage Göttings, Kontakte mit Martin Luther King hätten das Ansehen der DDR gefördert15. Primär- und Sekundärliteratur von und über King wurde in der DDR herausgegeben16, insbesondere vom christlichen Parteiverlag17. Die Herausgabe der King-Literatur ermöglichte die legale 7  Vgl.

Rudolf Dau u. a., Geschichte. Lehrbuch für Klasse 10, Berlin (Ost) 1983. Staatliches Rundfunkkomitee, Abendschau vom 12. September 1964, 19.25 Uhr, S. 2 DRA, Schriftgutbestand Fernsehen, Pressearchiv, Martin Luther King. 9  Vgl. Martin Luther King an Gerald Götting, 10. August 1964, ACDP VII012–5469. 10  Vgl. Staatliches Rundfunkkomitee (Anm. 8), S. 2. 11  Anneliese Vahl, Martin Luther King. Stationen auf dem Wege. Berichte und Selbstzeugnisse, Berlin (Ost) 1968, S. 73. 12  Vgl. „In diesem Glauben …“, in: Wort und Werk, (1964) 10, S. 1. 13  Vgl. Roland Stolte, Dr. Martin Luther King 1964 in Berlin [unveröffentlicht], S. 6. 14  Neue Zeit vom 16. Oktober 1964, EZA, Pressearchiv. 15  Vgl. Peter Joachim Lapp, Gerald Götting. CDU-Chef in der DDR. Eine politische Biographie, Aachen 2011, S. 135. 16  Stanislaw N. Kondraschow, Martin Luther King, Berlin (Ost) in zwei Auflagen; Anneliese Vahl, Martin Luther King, Berlin (Ost) in zwei Auflagen. 17  Martin Luther King, Warum wir nicht warten können, Berlin (Ost) in drei Auflagen; Martin Luther King, Die neue Richtung unseres Zeitalters. Nobelpreisrede 8  Vgl.

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Rezeption von King, wobei mancher Leser Kings Ideen zur Demokratisierung im eigenen Land anzuwenden suchte. Impulse lieferte die DDR-Regierung einem King-Enthusiasten mit der Ausstrahlung eines Martin-LutherKing-Films im DDR-Fernsehen Anfang der 1980er Jahre, sich diesen Film über die Bundesrepublik zu besorgen und über den Kirchlichen Filmdienst in den Kirchgemeinden DDR-weit aufführen zu lassen.18 Die DDR-Obrigkeit förderte regelrecht die King-Rezeption im eigenen Lande. Aber ihr war die Gefährlichkeit eines solchen Vorbildes bewusst, zeitiger als man vermuten mag. Knapp einen Monat vor der Ermordung von Martin Luther King warnte das DDR-Regime diesen, eine Einladung von Gewerkschaften zur Kundgebung am 1. Mai 1968 in West-Berlin anzunehmen.19 Bösen Überraschungen wollte die SED-Führung zuvorkommen – Martin Luther Kings Theoriegebäude und eines seiner Rezipienten wurde zum Forschungsobjekt erhoben.20 Verklärend rezipierten SED und Blockparteien Martin Luther King als einen Kampfgefährten der Arbeiterklasse. 3. Friedliche Revolution im Geiste Kings

Der weitgehend gewaltfreie Verlauf der Friedlichen Revolution 1989 lässt sich partiell auf die Verinnerlichung und Rezeption der schöpferischen gewaltfreien Widerstandsmethode von Martin Luther King zurückführen. Friedensgruppen und Kirchenkreise diskutierten bereits Jahre zuvor über in der Aula der Universität Oslo am 11. Dezember 1964, Berlin (Ost) in zwei Auflagen; Coretta Scott King, Mein Leben mit Martin Luther King, Berlin (Ost) in vier Auflagen; Martin Luther King Sen., Aufbruch in eine bessere Welt, Berlin (Ost) 1984; Günter Wirth, Martin Luther King, Reihe Christ in der Welt, in acht Auflagen; Hauptvorstand der CDU (Ost), Martin Luther Kings Vermächtnis, Berlin (Ost) 1968. 18  Vgl. Georg Meusel, Träumer und schöpferischer Extremist. Martin Luther King und dessen Ausstrahlung auf die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung in der DDR, unter: www.king-zentrum.de / zentrum / index2.php (17. Februar 2011). 19  Vgl. Gerald Götting an Martin Luther King, 2. April 1968, ACDP VII-012–5469. 20  Vgl. Karin Gläser, Zur Kritik protestantisch-theologischer und kirchlicher Auffassungen zu Wesen und Funktion revolutionärer und reaktionärer Gewalt, Güstrow 1981; Achim Lübbe, Zur Kritik der sozialpolitischen Theorie des Theodor Ebert, Halle (Saale) 1976; Eberhard Köhl, Die amerikanische Friedensbewegung und ihre Bedeutung für die Schaffung einer Volkskoalition gegen die Ultras in den USA, Potsdam 1966; Bärbel Gessner, Die Rolle der amerikanischen Friedensbewegung im Kampf gegen die Kriegspolitik der USA in Vietnam, Potsdam 1972; Studie zur Methode des gewaltfreien Widerstandes und deren Mißbrauchs für subversive Ziele durch feindlich-negative Kräfte bei der Inspirierung und Organisierung politischer Untergrundtätigkeit (Herausgeberort und -jahr unbekannt). Bei der letztgenannten Studie handelt es sich um eine vertrauliche Verschlusssache des MfS. Vgl. Theodor Ebert, Was ist und wie funktioniert gewaltfreier Widerstand? Anregungen für Fortgeschrittene, S. 9, unter: www.theodor-ebert.de / politischetexte. html (13. Februar 2015).



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gewaltfreie Strategien, die sich an Gandhis gewaltlosen Kampf über die britische Kolonialherrschaft in Indien sowie an Kings Civil Rights Movement in den USA orientierten.21 Neben der King-Inspiration spielte Sorge um Verantwortlichkeit unter Politikern und Amtsträgern der Kirche eine Rolle, in solch einer politischen Umbruchsituation Blutvergießen zu vermeiden. Im Gegensatz zu Kings Theorieansatz setzte die von der DDR und dem rechten Arm Moskau propagierte politische Widerstandskultur in der Bevölkerung nicht auf Gewaltfreiheit, sondern auf Feindbildaufbau und militärische Verteidigung. Während der Friedlichen Revolution wurde Martin Luther King in Predigten, Liedern, Filmen, einer Ausstellung und sogar auf einem Flugblatt zu einer Demonstration am 40. Jahrestag der DDR rezipiert. Territorial zeigt sich dies besonders im sächsischen, ebenso im brandenburgischen und thüringischen Raum. Am 7. Oktober 1989 bildete sich in Dresden relativ spontan eine Demonstration von 5000 bis 6000 Teilnehmern. Während dieser unorganisierten Protestveranstaltung wurden 1000 in der katholischen Pfarrei Dresden-Zschachwitz hergestellte Flugblätter mit folgendem Inhalt verteilt: „Strategie der Gewaltlosigkeit nach M. L. King: Mit gewaltlosen Aktionen verschiedenster Art so lange fortfahren, bis ein definitiv greifbares Resultat in Bezug auf mehr Menschlichkeit erreicht ist! Während einer Demonstration auf der Straße niemals Alkohol oder andere Rauschmittel zu sich nehmen und die Mitnahme und Einnahme durch andere verhindern! Nüchtern und in Absprache mögliche Gewalttäter und Provokateure erwarten und aussondern! Jede Aktion durch begleitendes Gebet untermauern!“22

Unverkennbar ist bei diesem Flugblatt Kings schöpferischer Widerstand und dessen religiös geprägter Imperativ. Einen Tag nach dem 40. Geburtstag der DDR sprach der in Wortspielerei geübte Theo Lehmann zum Jugendgottesdienst in Karl-Marx-Stadt von über 40 Jahre Wüstenzeit und einem Volk, das eine Mauer in der Hauptstadt seines Landes baute. Zwischen Bibel und DDR-Realität wechselnd schürt Lehmann Aufbruch-Stimmung. Er erklärt die an seinem damals weißen (!) Anzug angesteckte, kleine Spirale der Wimperntusche alias Zahnbürste als ein Symbol für das, was er von Martin Luther King gelernt habe, „dass man mal kurz verreisen müsse.“23 21  Vgl. Michael Richter, Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989 / 90, Bd. 2, Göttingen 2009, S. 1471; vgl. Matthias Kluge, Das Christliche Friedensseminar Königswalde bei Werdau. Ein Beitrag zu den Ursprüngen der ostdeutschen Friedensbewegung in Sachsen, Leipzig 2004, S. 435. 22  (Anonymus), Strategie der Gewaltlosigkeit nach M. L. King, zit. nach: Michael Richter / Erich Slobeslavsky, Die Gruppe der 20. Gesellschaftlicher Aufbruch und politische Opposition in Dresden 1989 / 90, Köln 1999, S. 38. 23  Theo Lehmann, Mord und Totschlag in der Kinderstube. Reden für junge Leute, Neukirchen-Vluyn 1991, S. 35.

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Mit „Reise“ ist Verhaftung gemeint. Ebenfalls am 8. Oktober 1989 fand in Hoyerswerda die Einweihung des Erweiterungsbaus des Martin-LutherKing-Hauses statt24, das sich versteckt inmitten der sozialistischen Vorzeigestadt des Braunkohleabbaus befindet. Die von 1968 an als Namensgeber alle Ehre erweisende Kirchgemeinde veranstaltete in der vorletzten Oktoberwoche 1989 eine Jugendwoche zum Thema „Ich habe einen Traum“ mit dem Karlsruher Evangelisten Herrmann Traub, dessen allabendliche Veranstaltungen täglich ca. 250 Jugendliche besuchten.25 Während dieser Zeit bis Anfang Dezember 1989 war die Ausstellung „Martin Luther King: Leben – Wirken – Hoffnung“ der Frankenhausener Friedensgruppe im King-Haus Hoyerswerda zu sehen, die zuvor, zum Republikgeburtstag, im Königswalder Friedensseminar bei Werdau präsent war.26 Am 9. Oktober 1989 predigte Jochen Sievers in der Reformierten Kirche Leipzig über Martin Luther King und visualisierte die Kernbotschaft in einem Plakat mit einem KingZitat. In einer Verknüpfung der Paulus-Worte mit dem Busboykott Martin Luther Kings appellierte Sievers an die Mündigkeit der DDR-Bevölkerung.27 Joachim Gauck bezog sich im Gottesdienst der Rostocker Marienkirche am 26. Oktober 1989 auf Martin Luther King, indem er zu Gewaltlosigkeit, Liebe und Durchsetzung politischer Reformen aufforderte.28 In Werdau mahnte Georg Meusel kurz vor Beginn der sich dem Gottesdienst anschließenden Demonstration am 3. November 1989 zur friedlichen Konfliktlösung im Sinne Martin Luther Kings.29 Musikalische Umrahmungen und Liederabende gestaltete Hans-Kurt Ebert während der Friedlichen Revolution in Leipzig und Umgebung, Dresden, Magdeburg, Potsdam und im thüringischen Raum mit seinem drei Jahre zuvor komponierten Song „An Martin Luther King“, mit dem er mittels christlicher Motivation zum gewaltlosen Auftreten für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden aufrief.30 Darüber hinaus 24  Vgl. Andreas Böer, Gemeindehaus wieder eingeweiht, in: Die Kirche (Görlitzer Ausgabe) vom 3. Dezember 1989, S. 4. 25  Vgl. Werner Müller, „Ich habe einen Traum“, in: Die Kirche (Görlitzer Ausgabe) vom 3. Dezember 1989, S. 4. 26  Vgl. Matthias Kluge an Bernd Gerber, 26. August 2003, MLKZ MKL 1. 27  Vgl. Hans-Jürgen Sievers, Friedensgebet am 9. Oktober in der Reformierten Kirche, in: Günter Hanisch / Gottfried Hänisch / Friedrich Magirius u. a., Dona nobis pacem. Herbst ’89 in Leipzig. Friedensgebete, Predigten und Fürbitten, 2., korr. Aufl., Berlin 1996, S. 43–45. 28  Vgl. Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst. Erinnerungen, München 2009, S. 210. 29  Vgl. Georg Meusel, Martin-Luther-King-Zentrum Werdau (Hrsg.), Wunde Punkte – Wendepunkte. Die Ereignisse der friedlichen Revolution 1989 / 90 im Raum Crimmitschau, Werdau, Weißbach-Werdau 1999, S. 19. 30  Vgl. Hans-Kurt Ebert, An Martin Luther King, 1985, Privatarchiv Hans-Kurt Ebert; Korrespondenz mit Bettina Ebert am 26. Oktober 2013.



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zeigte der Filmdienst des Evangelischen Jungmännerwerkes Magdeburg in den letzten beiden Jahren der DDR in zahlreichen Kirchgemeinden die Filme über Martin Luther King „… dann war mein Leben nicht umsonst“ sowie „Schlagt mir die Finger – ich werde nicht hassen“. III. Kirche als treibende Kraft der King-Rezeption 1. Pfarrer als prädestinierte King-Multiplikatoren?

Martin Luther King und ostdeutsche Pfarrer teilten nicht nur den gleichen Berufsstand, sondern waren beide weitgehend staatlicher Diskriminierung ausgesetzt, im Falle Kings durch den Rassismus und unter ostdeutschen Pfarrern häufig aufgrund mangelnder Staatsloyalität. Ein Teil der ostdeutschen Pfarrer wählte zwangsläufig diesen Beruf, da sie keine andere Möglichkeit zum Studium bekamen als diese. Gemein waren beiden – Martin Luther King und ostdeutschen Pfarrern – religiöse Verbundenheit und theologisch fundiertes Wissen sowie Kenntnisse des Marxismus-Leninismus.31 Die Ablehnung Kings kommunistischen Regimes gegenüber32 und die Mitwirkung ostdeutscher Pfarrer in der Oppositionsbewegung33 erweisen sich als weitere Gemeinsamkeit. Nährboden für die Rezeption von Kings-Gedankengut im kirchlichen Raum der DDR lieferte Kings Besuch in zwei OstBerliner Kirchen, den besonders viele kirchliche Mitarbeiter und Theolo­ giestudenten als Besucher wie als Mitwirkende erlebten. Der an diesen Gottesdiensten involvierte Paulinum-Chor bestand ausschließlich aus Predigerschülern und einer geringen Zahl kirchlicher Mitarbeiter.34 Kings charismatisches Auftreten und dessen Predigt mit aktueller Thematik inmitten einer interessierten Zuhörerschaft legt die Vermutung nahe, ein erheblicher Anteil der Besucher könnte sich zu King-Rezipienten, wenn nicht gar zu King-Multiplikatoren entwickelt haben. Diese Vermutung ist teilweise belegbar.35 Kirchliche Mitarbeiter und vor allem Pfarrer stand (innerkirchlich) 31  Vgl. Martin Luther King, Kraft zum Lieben. Betrachtungen und Reden des Friedensnobelpreisträgers, Göttingen 1968, S. 149–161; Mario Frank, Gauck. Eine Biographie, Berlin 2014, S. 86. 32  Vgl. Martin Luther King, Kraft zum Lieben. Betrachtungen und Reden des Friedensnobelpreisträgers, Göttingen 1968, S. 150. 33  Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2., erw. Aufl., Berlin 2000, S. 12. 34  Vgl. K. H., Chor im Dienste der Ökumene, in: Die Kirche (Berliner Ausgabe), 24 (1969) 8, S. 3. 35  Um nur einige zu nennen: Anneliese Kaminski (Vahl), Hans-Jürgen Sievers, Fritz Müller, Markus Meckel, Heinz Seehawer; vgl. Korrespondenzen mit Anneliese Kaminski vom 24. Januar 2013, mit Hans-Jürgen Sievers vom 5. Dezember 2012,

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eine Bühne für die Vermittlung der Ideen von Martin Luther King und seiner Person zur Verfügung, die aus dem christlichen Bildungsanspruch der Kirchen resultierte und den kirchlichen King-Rezipienten ein gewisses Maß an Spielraum gestalterischer und interpretativer Art einräumte. Darüber hinaus ermöglichten und begünstigten berufsbedingte Privilegien ostdeutscher Pfarrer den Zugang zu Veröffentlichungen von Martin Luther King aus dem anderen Teil Deutschlands, Privilegien, die sich auf kirchliche Partnerschaften inklusive finanzieller und materieller Unterstützungen gründeten. 2. Schützendes Dach der Kirche

Staatlicherseits reglementiertes Vereinsleben sowie unterdrückte Pressefreiheit verhinderten nahezu das Vorhandensein einer Öffentlichkeit, bei der Kings Gedankengut zensurfrei hätte weitergegeben werden können. Eine Ausnahme bildeten die Kirchen mit ihrem begrenzten Spielraum.36 Trotz staatlicher Repressionen waren sie aufgrund ihrer Vernetzung mit den Kirchen in der Bundesrepublik und anderer Länder, (eingeschränkten) Veröffentlichungsmöglichkeiten und der Herstellung von Öffentlichkeit privilegierte Akteure in der SED-Diktatur.37 Abgesehen davon, dass die Kirchenleitung kurz vor Kings Ost-Berlin-Besuch beängstigten Gefühlen unterworfen war38, konnte Martin Luther King in zwei evangelischen Kirchen Ost-Berlins predigen und begegnete anschließend in kleiner Runde kirchlichen Persönlichkeiten im Evangelischen Hospiz des östlichen Berlins39. Die über 10.000 Zuschauer erreichenden Filmaufführungen des Martin-LutherKing-Filmes „… dann war mein Leben nicht umsonst“ waren nur möglich, weil die Kirche Öffentlichkeit bot und sie über einen Evangelischen Filmdienst verfügte, der diesen Film unter der Bedingung eines christlich verfassten Vorwortes in kirchlichen Räumen ausstrahlte.40 Größtenteils Kirchenmusiker, kirchliche Mitarbeiter sowie kirchengebundene Musiker führten die beiden Martin-Luther-King-Oratorien in Kirchen, teils zu Kirchentamit Fritz Müller vom 28. Oktober 2011, mit Markus Meckel vom 2. März 2013, mit Heinz Seehawer vom 7. Dezember 2012. 36  Vgl. Jens Bulisch, Evangelische Presse in der DDR. „Die Zeichen der Zeit“ (1947–1990), Göttingen 2006, S. 29 f. 37  Vgl. Reinhard Henkys, Kirche, Staat und Westmedien, in: Horst Dähn / Joachim Heise (Hrsg.), Staat und Kirchen in der DDR, Frankfurt a. M. 2003, S. 45–54. 38  Vgl. Franz Gerhard Schmitt, Erinnerungen. Predigten von Gerhard Schmitt, übertragen und bearbeitet von Raimund Schmidt und Jörn-Michael Schmitt, Wismar 2009, S. 67. 39  Vgl. Martin Luther Kings Predigt in der St. Marienkirche, unter: www. marienkirche-berlin.de / c_2_73_0.php?ID=150 (26. April 2015). 40  Vgl. Klaus Ehlers, Kirchliche Filmarbeit in der DDR, in: Martin Ammon / Eckart Gottwald (Hrsg.), Kino und Kirche im Dialog, Göttingen 1996, S. 143–152.



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gen, auf, die in der Regel viele Zuhörer erreichte und begeisterte. Zu Jugendtagen und -gottesdiensten hörten junge Leute von Martin Luther King durch Wort und Musik. In kirchlichen Zeitschriften wurde King häufig rezipiert, und die Evangelische Verlagsanstalt veröffentlichte die in kirchlichen Kreisen begehrte Martin-Luther-King-Biographie, deren Impuls zur Herausgabe von der Kirche kam. Unter der Schutzklausel „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch“ herausgegebener Samisdat41 – demzufolge nur eingeschränktem Leserkreis zugänglich – veröffentlichte King-Zitate wie dieses von 1987: „Wer das Böse ohne Widerspruch hinnimmt, arbeitet in Wirklichkeit mit ihm zusammen.“42 Das schützende Dach der Kirche und die Vervielfältigungsmöglichkeiten der Kirche konnten den Druck eines während der Friedlichen Revolution in hoher Zahl verteilten Flugblattes, auf dem zum gewaltfreien Widerstand im Sinne Martin Luther Kings aufgerufen wurde, ermöglichen. Dieses Flugblatt wurde in kirchlichen Räumen gedruckt. Namensgebungen von Einrichtungen jeglicher Art unterlagen dem Staat oder der Kirche. Die Kirche machte davon mit dem Namen Martin Luther King insgesamt viermal im sächsischen und brandenburgischen Raum Gebrauch. Naheliegend ist die Verbreitung von Kings Gedankengut in deren Räumlichkeiten. 3. Antreiber für den Staat?

Eine vergleichende Betrachtung der King-Rezeptionen des Staates sowie der Kirchen inklusive Friedens- und Bürgerrechtsbewegung erhärtet den Verdacht, beide Akteure hätten sich mit der King-Rezeption im Wettstreit befunden – zeitlich, ideologisch und territorial. Sowohl Staat als auch Kirche luden Martin Luther King als ihren Gast ein. Ranghohe ostdeutsche Politiker, insbesondere Gerald Götting, pflegten mit King und dessen Witwe Briefwechsel von Anfang der 1960er Jahre bis 1989. Im gleichen Zeitraum korrespondierten Persönlichkeiten und Mitarbeitern der Kirche mit King und dessen Witwe, jedoch in höherer Zahl. Die evangelische Kirche startete 1978 an die Kirchgemeinden einen Aufruf zum Gedenken an Martin Luther King, der Staat beging 1979 das Martin-Luther-King-Gedenkjahr.43 Anlass der kirchlichen Martin-Luther-King-Ehrung 1978 war der zehnte Jahrestag der Ermordung von Martin Luther King, das staatliche King-Jahr 41  Vgl. Ehrhart Neubert, „Für alle, aber nicht für alles“. Kirche und Opposition in der DDR, in: Wolfgang Eichwede (Hrsg.), Samizdat. Alternative Kultur in Zen­ tral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000, S. 172–178, hier: S. 177. 42  Aktuell, 26.01.1987, S. 1, Berlin (Ost), unter: www.ddr-samisdat.de / samisdat /  issue / show / 281 (27. Mai 2015). 43  Vgl. Bund der Evangelischen Kirchen (BEK) der DDR an die Sonntagsblätter, ENA, Information der Pressestelle, 09. März 1978, EZA, Pressearchiv (unpaginiert).

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1979 auf den nicht mehr erlebten 50. Geburtstag Kings44, wobei die Rezeptionsperspektiven beider King-Ehrungen tendenziell variieren. Bezieht sich die Kirche auf den christlichen Aspekt und fördert zugleich die Verbreitung der Ideen von King, legt das DDR-Regime den Schwerpunkt auf den Mörder und die amerikanischen Geheimdienste als mutmaßliche Verschwörer und damit Schuldigen, dass Martin Luther King seinen 50. Geburtstag im Jahr 1979 nicht habe erleben dürfen. Diese interpretativen Diskrepanzen bestanden in abgeschwächter Form bereits in der DDR unmittelbar nach Kings Ermordung. Ein Sammelsurium von Presseartikeln der Staatssicherheit widmet sich ausschließliche dem Mörder und den Verschwörer Kings.45 Namensgebungen kirchlicher Einrichtungen erfolgten kurz nach Kings Ermordung46, die des Staates reichlich 20 Jahre später47. Auffällig ist die Vorreiterrolle der Kirche in der King-Rezeption. Möglicherweise fühlte sich der Staat gedrängt, das durch die Kirche kolportierte, beliebte Vorbild Martin Luther King ideologisch angenehm zurechtzubiegen, um Schaden seiner selbst zu vermeiden. Staatliche King-Rezeption vollzog sich zudem in Zentren sozialistischer Vorzeigekultur gemäß sozialistischer Heldeninszenierung: eine Martin-Luther-King-Schule im riesigen Neubaugebiet Berlin-Marzahn, eine Martin-Luther-King-Brigade im Halbleiterwerk Frankfurt (Oder) und eine Martin-Luther-King-Allee in Rostock48, um nur einige zu nennen. Das waren allesamt Orte, wo christliche und oppositionelle King-Rezeptionen marginal in Erscheinung traten.

44  Vgl. Ideen Martin Luther Kings leben in Aktionen von heute, in: Neues Deutschland vom 5. Februar 1979, DRA, Pressearchiv. 45  Vgl. BStU, MfS, ZAIG 10408, T. 2 v. 2, S. 244–337. 46  Das sind das Martin-Luther-King-Heim Klein Döbbern, die Kellerkirche „Dr. Martin Luther King“ Görlitz, das Bibelwochenheim „Martin Luther King“ Schmiedeberg und das Martin-Luther-King-Haus Hoyerswerda; vgl. Korrespondenz mit Heinz Seehawer vom 7. Dezember 2012; Ingrid und Frieder Schirrmeister, Gottes Dietrich öffnet Türen. Dietrich Heise – ein Leben für Jugendarbeit und Evangelisation in der DDR, Parchim 2007, S. 39; Günter Lorenz, „Das ist vom Herrn geschehen!“, in: Wort und Werk, (1970) 1, S. 3–4; Otto Freyer, Zur Geschichte des Martin Luther King Hauses (undatiert), www.woiteweb.de / guests / kinghaus / frame / hist.htm, S. 4 (23. Juli 2011). 47  Dazu zählen die Martin-Luther-King-Schule Berlin-Marzahn, die Kinderklinik „Dr. Martin Luther King“ Berlin-Friedrichshain; vgl. Wirken Martin Luther Kings für Frieden und Menschlichkeit gewürdigt, in: Neues Deutschland vom 11. Januar 1989; Uta Schmidt, Seine Liebe halt stets den Kindern, in: Neue Zeit vom 11. Januar.1989. 48  Vgl. Telegramm von Nier an Herder, 24. Januar 1987, PA AA, MfAA, ZR 1060 / 13.



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IV. Impulsgeber für die King-Rezeption in der DDR 1. Gastgeber Heinrich Grüber – der seinen Besuch nicht empfängt

Eine wichtige Zäsur, wenn nicht gar „die Zäsur“ für King-Rezipienten war der Besuch des Gottesdienstes von Martin Luther King am 13. September 1964 in der Marienkirche bzw. anschließend in der Sophienkirche Ost-Berlins, der ohne den Gastgeber Heinrich Grüber nicht möglich gewesen wäre. Eingeladen wurde Martin Luther King zeitnah auch von Regierungskreisen der DDR, aber King nahm die Einladung Heinrich Grübers an.49 Der von 1945 an der Marienkirche tätige Pfarrer Grüber war zum Zeitpunkt nur noch nominell Probst der Marienkirche, da ihm kurz nach dem Mauerbau der Zugang nach Ost-Berlin aufgrund staatskritischer Haltung verwehrt wurde. Typisch für Grüber war dessen Vermittlerrolle in politischen Angelegenheiten zu unterschiedlichen Zeiten, bei denen er sich nicht vereinnahmen ließ und Feindbilder abzubauen versuchte. Seine Biographie ist davon gezeichnet: unter Hitler drei Jahre KZ-Haft in Sachsenhausen und Dachau wegen der Rettung von Juden; versöhnliche, aber nicht strafmildernd beabsichtigende Aussage als deutscher Zeuge im EichmannProzess,50 Ausschlagung der Verleihung des Vaterländischen Verdienstordens durch die DDR,51 Ansehen in den USA aufgrund der Vermittlerrolle als Zeuge im Eichmann-Prozess sowie Beratertätigkeit für amerikanische Politiker im Vorfeld der Kubakrise. Mit Martin Luther King unterhielt Grüber von 1963 bis 1964 einen von gegenseitiger Respekterweisung, religiöser Verbundenheit und konstruktiven Vorschlägen geprägten Briefwechsel.52 Die Innigkeit zwischen beiden ist zu spüren. Eigentlich plante Heinrich Grüber 1962 während seiner zweiten USA-Reise Martin Luther King zu begegnen, was wegen der Turbulenzen in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung scheiterte.53 King erreichte mit seinem knapp fünfstündigen Abstecher von West- nach Ost-Berlin des insgesamt zweitätigen Berlin-Besuchs über 3.000 Besucher, denen er die fast gleiche Predigt wie einen Tag zuvor in der West-Berliner Waldbühne hielt und dabei ein sensibles Thema streifte – die Mauer: „Und hier sind auf beiden Seiten der Mauer Gottes Kinder, und keine durch Menschenhand gemachte Grenze 49  Vgl. Staatliches Rundfunkkomitee, Abendschau vom 12. September 1964, 19.25 Uhr, S. 2 DRA, Schriftgutbestand Fernsehen, Pressearchiv, Martin Luther King. 50  Vgl. R. Stolte (Anm. 13), S. 3 f. 51  Vgl. Gerhard Besier, Die evangelische Kirche in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts, Neukirchen-Vluyn 1994, Bd. 2, S. 167. 52  Vgl. GStA PK, VI. HA, Nl Grüber, Nr. 485. 53  Vgl. Heinrich Grüber, Meine Amerikareise (unpaginiert), GStA PK, VI. HA, Nl Grüber, Nr. 1164.

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kann diese Tatsache auslöschen.“54 Die Marienkirche war zum Zeitpunkt des King-Besuchs ohne amtierenden Pfarrer, bedingt durch den Mauerbau: Heinrich Grüber lebte und arbeitete fortan in West-Berlin, Pfarrer Werner Arnold war seit mehreren Monaten wegen Fluchthilfe in Untersuchungshaft55 und der andere Pfarrer war geflohen.56 Aber auch King spürte hautnah die Macht der Mauer während seines Berlin-Besuchs. Er sah sich die Spuren des Schusswechsels des in der Nacht vor seiner Ankunft in Berlin aus dem Ostteil der Stadt geflüchteten Michael Meyer an, der auf WestBerliner Seite schwerverletzt gerettet wurde.57 Über diesen Zwischenfall hinaus verspätete sich King in der Ost-Berliner Marienkirche, da ihm der Grenzübertritt am Checkpoint Charlie erschwert wurde.58 2. Theodor Eberts Alternative zum Bürgerkrieg

Das in hoher Auflage erschienene Taschenbuch „Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg“59 des westdeutschen Konflikt- und Friedensforschers Theodor Ebert lieferte Vertretern der ostdeutschen Friedensbewegung konstruktive Anstöße zu gewaltfreien Widerstandsmethoden für die Demokratisierung kommunistischer Gewaltsysteme. Obwohl nicht offiziell in der DDR erhältlich, erreichte dennoch Eberts Lektüre die interessierte Leserschaft in diesem Land. Theodor Ebert arbeitet in seiner Studie Aktionsformen gewaltfreien Widerstandes anhand einer systematischen Analyse gewaltfreier Aufstände heraus. Dabei widmete er sich auch der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, bei der er die Strategie Martin Luther Kings in der Bürgerrechtsbewegung sowie die Verknüpfung der Bergpredigt mit den gewaltfreien, direkten Aktionen untersucht. Kings Gegenmacht bildende Widerstandsmethode setzt auf Gelassenheit – man könnte auch sagen: Widerstandskraft – kalkuliertes Leiden wie eine Inhaftierung oder Gewaltanwendung anderer zu ertragen, ohne selbst Gewalt anzuwenden. Religiosität erleichtert die Erträglichkeit irdischer Ungerechtigkeiten aufgrund der Zu54  Martin Luther King, Predigt in der Ost-Berliner Marienkirche, 13.09.1964, MLKZ (unpaginiert). 55  Vgl. Jan Philipp Wölbern, Der Häftlingsfreikauf 1962 / 63–1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen, Analysen und Dokumente, Göttingen 2014, S. 82. 56  Vgl. St. Petri – St. Marien mitten in Berlin, Gemeindegeschichte, unter: www. marienkirche-berlin.de / c_2_73_O.php?ID=150 (17. Februar 2015). 57  Vgl. R. Stolte (Anm. 13), S. 2. 58  Vgl. Georg Meusel, Mit der Kreditkarte über die Mauer, in: Freitag vom 24. September 2004. 59  Theodor Ebert, Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg, Frankfurt a. M. / Hamburg 1970.



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versicht auf das Jenseits. Im Christlichen Friedensseminar Königswalde hielt Georg Meusel im Mai 1979 das Referat „Die gewaltfreie Aktion – Alternative zu Krieg und Gewalt, zu Gleichgültigkeit und Resignation“, dessen Titel den Bezug zu Eberts Theorie nahe legt.60 Theodor Ebert pflegte freundschaftliche Beziehungen zu dem in Ost-Berlin wohnenden KingMultiplikatoren Christfried Berger, der sich in seiner theologischen Abschlussarbeit den pazifistischen Ideen Leo Tolstois widmete und ein Bausoldatentreffen 1966 mitgestaltete, an dem der amerikanische Professor Charles West über Martin Luther Kings Gewaltlosigkeit und den Vietnamkrieg referierte61. Eberts pazifistische Publikation „Gewaltfreier Aufstand“ erreichte sogar Erich Honecker, denn dieser bekam ein Exemplar von Petra Kelly überreicht, wobei Honecker es stillschweigend in sein Bücherregal gestellt haben soll.62 3. Kondraschow – Korrespondent im Spannungsfeld der Supermächte

Ein Impulsgeber für die ostdeutsche unabhängige Friedensbewegung war die Biographie über Martin Luther King des über mehrere Jahre in den USA tätigen sowjetischen Auslandsjournalisten Stanislaw Kondraschow.63 Vordergründig erscheint diese Publikation aufgrund der Trilogie aus USA-kritischem Thema, sowjetischer Autorenschaft und ostdeutschen Rezipienten der Funktion ausgesetzt zu sein, mit der Kritik an der amerikanischen Politik die Feindschaft zwischen den Supermächten zu schüren. Doch das Gegenteil ist der Fall, der Spezialist für sowjetisch-amerikanische Beziehungen war als Vermittler zwischen den Völkern um Objektivität bemüht, das belegt seine King-Biographie und verleiht seinem 1990 geäußerten Zitat Glaubwürdigkeit: „Die Objektivität ist die Form ihrer Humanitas, weil die Unwahrheit Argwohn und Feindschaft nährt.“64 Zweifelsohne schildert Kondraschow in seiner King-Publikation den Rassismus in den USA und den Vietnamkrieg, er übt daran Kritik, aber er offenbart weitaus mehr: Der Autor erweist Martin Luther King wegen dessen moralischer Autorität tiefen Respekt. Eindrücklich berichtet Kondraschow von seinen Empfindungen gegenüber King, die ihn auf der Veranstaltung von Martin Luther King am 60  Vgl.

M. Kluge (Anm. 21), Dokumentenanhang, S. 93. Bernd Eisenfeld / Peter Schicketanz, Bausoldaten in der DDR. Die „Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte“ in der NVA, Berlin 2011, S. 389. 62  Vgl. T. Ebert (Anm. 20), S. 9. 63  S. N. Kondraschow, Martin Luther King, Berlin (Ost) 1972; ders., Martin Luther King, 2. Aufl., Berlin (Ost) 1973. Diese King-Biographien waren Übersetzungen von Gisela Lehmann der russischen Ausgabe von 1970 desselben Autors unter dem Titel Жизнь и змерть Мартина Лютера Кинга. 64  Stanislaw Kondraschow, Imperative der Vernunft, Moskau 1990, S. 4. 61  Vgl.

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4. April 1967 in der Riverside-Kirche in New York ereilten. Kondraschow liefert tiefgründige Erklärungen zur konstruktiven Methode der Gewaltlosigkeit und des schöpferischen Widerstands, er bekräftigt die Sinnlosigkeit von Kriegen und atomarer Aufrüstung. Pointiert zitiert er Martin Luther Kings nüchterne Erkenntnis zur Gefahr eines atomaren Desasters: „In den internationalen Beziehungen des Kernzeitalters [liegt] die wahre Alternative nicht zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit, sondern zwischen Gewaltlosigkeit und Nichtsein.“65 Dieses Zitat wurde von Pazifisten der ostdeutschen unabhängigen Friedensbewegung mehrfach herangezogen und erklärt, dass mancher ostdeutsche Pazifist wie etwa Georg Meusel die King-Biographie Kondraschows zum persönlichen Bestseller der ostdeutschen King-Publikationen erhob. Aber auch ostdeutsche, christliche Zeitschriften warben mehrfach für Kondraschows Werk. 4. Aufruf Coretta Kings im Perestroika-Jahr

In den letzten beiden Jahren des Bestehens der DDR ist eine verstärkte King-Rezeption staatlicherseits durch mehrfache Namensverleihungen, Gedenkveranstaltungen, Filmausstrahlungen und künstlerische Exponate zu verzeichnen. Bereits 1983 zog das DDR-Regime ins Kalkül, Coretta King als eine von mehreren amerikanischen Persönlichkeiten anlässlich der Lutherehrungen in die DDR einzuladen.66 Einladungsgründe für Coretta King waren gegeben – die Namensänderung ihres ursprünglich Michael King genannten Mannes67 sowie ihr in der DDR herausgegebenes Buch über ihn68. Aber wie war es ab 1987, nutzte die DDR-Obrigkeit den Namen Martin Luther King als Retter in der Not? Nein, denn Coretta King beauftragte im September 1986 die DDR-Regierung, den amerikanischen Bürgerrechtskämpfer fortan jährlich im Januar – entsprechend Kings Geburtstag  – in der DDR zu würdigen, sie bat sogar um die Einführung des MartinLuther-King-Feiertages, den Ronald Reagan in den USA im Januar 1986 ins Leben rief.69 In Abstimmung mit Moskau70 willigte die DDR-Regierung teilweise der auferlegten King-Verehrung zu. Allerdings bediente sich das 65  S. N.

Kondraschow (Anm. 63), S. 190 f. Brief Oskar Fischers an Dr. Horst Grunert vom 25. September 1980, PA AA MfAA ZR 829 / 84. 67  Clayborne Carson, The Papers of Martin Luther King, Jr., Stanford 1992, ­Volume I, S. 31. 68  C. King (Anm. 17). 69  Vgl. Coretta Scott King an Willi Stoph, 16. September 1986, PA AA, MfAA, ZR 1060 / 13. 70  Vgl. Telegramm von Nier an Herder, 24. Oktober 1986; Telegramm von Herder an Nier, 31. Oktober 1986, PA AA, MfAA, ZR 1060 / 13. 66  Vgl.



Die Rezeption von Martin Luther King in der DDR

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DDR-Regime mit der Durchführung einer Gedenkveranstaltung in der DDR mit eingeladenen Botschaftern aus den USA und der Teilnahme des DDRBotschafters in den USA an einer öffentlichen Veranstaltung zur Würdigung Kings lediglich zweier der insgesamt zehn Instrumentarien zur Ehrerbietung Kings, die von Coretta King empfohlen worden waren, und ergänzte sie um die Namensverleihungen einer Schule, Kinderklinik, Brigade und Allee nach dem amerikanischen Bürgerrechtskämpfer sowie die Fertigung eines Gemäldes und einer Plastik nach ihm.71 Darüber hinaus ließ Willi Stoph ein persönliches Antwortschreiben am Coretta King übermitteln.72 Diese Einwilligungen zur King-Ehrung in der DDR, die zudem sozialistischer Heldeninszenierung an Orten sozialistischen Prestiges dienten, können angesichts der Forderungen von Coretta King nur als Minimalkompromiss der DDR-Obrigkeit gelten, beanspruchte die Witwe Kings weitaus mehr: Aufruf zur Einstellung aller Gewalthandlungen; Glockenläuten; Feier­ tag; diplomatischer Empfang zu Ehren Kings; Schaffung eines StipendienFonds zum Studium für Philosophie und Taktik Dr. Kings für gewaltlose soziale Veränderungen am Martin-Luther-King-Zentrum in Atlanta sowie Besuch des Martin-Luther-King-Zentrums für Gewaltlose Soziale Veränderungen in Atlanta73. V. DDR-Regime als Wegbereiter der regimekritischen King-Rezeption Zur Legitimation der eigenen Herrschaft rezipierten SED und Blockparteien Martin Luther King als Friedensheld der „Arbeiterklasse“. Darüber hinaus brachten insbesondere SED und Blockparteien Primär- und Sekundärliteratur von Martin Luther King in der DDR heraus, die wiederum die Kirchen sowie die Friedens- und Bürgerrechtsbewegung zur Demokratisierung der SED-Diktatur nutzte. Während der Friedlichen Revolution wurde Martin Luther King durch Film, Predigten, Musik und im Flugblatt rezipiert, um das diktatorische System gewaltfrei aufzubrechen. Unter dem schützenden Dach der Kirche formierte sich die Opposition, unter denen sich eine Reihe von King-Multiplikatoren befand. Kirchliche Mitarbeiter waren aufgrund ihrer beruflichen Nähe zu Martin Luther King, der möglichen Begegnung Kings in Ost-Berlin sowie aufgrund von Freiräumen eingeschränkter Pressefreiheit im kirchlichen Raum als King-Multiplikatoren prädestiniert. 71  Vgl. Magdalene Geisler, Unermüdlicher Streiter für Frieden und Gerechtigkeit, in: Neue Zeit vom 11. Januar 1989, EZA, Pressearchiv. 72  Vgl. Oskar Fischer an Erich Hohenecker, 13. Januar 1987, S. 1, PA AA, MfAA, ZR 1060 / 13. 73  Vgl. C. King (Anm. 69).

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Neben der christlichen und demokratisierenden Perspektive in der KingRezeption zeigt sich die pazifistische Perspektive vor allem in den von ausländischen Impulsgebern kolportierten Darlegungen, die wiederum Zuspruch in den Friedensgruppen der DDR fanden. In Anlehnung an Martin Luther King bauten sie Feindbilder ab, setzten auf vertrauensbildende Maßnahmen und forcierten Entmilitarisierung und atomare Abrüstung – im Gegensatz zum SED-Regime.

Loyalitäten und Rivalitäten Kompetenzstreitigkeiten im SED-Kulturapparat Von Madeleine Petschke I. Kurt Hager versus Alfred Kurella Wer sich mit der Kulturpolitik im SED-Staat auseinandersetzt, stößt in der Forschungsliteratur in aller Regel zuerst auf ihren prominentesten Vertreter im Sekretariat des Zentralkomitees (ZK): Kurt Hager. In der 40-jährigen Geschichte der DDR hatte der gewiefte Opportunist die Geschicke in kulturellen Fragen knapp ein Viertel Jahrhundert gelenkt. Seine Karriere begann unter Walter Ulbricht und setzte sich bis zum Ende der Ära seines Prätendenten fort. Von den für die Kulturpolitik Verantwortlichen im Parteiund Staatsapparat hinterließ Hager, der Erich Honecker stets loyal verbunden war, somit zwangsläufig den prägendsten Eindruck bei den Künstlern und Schriftstellern sowie im Gedächtnis der Öffentlichkeit – damals wie heute. Der ZK-Sekretär repräsentierte jahrelang den kulturpolitischen Kurs und trug bedeutend zur Stagnation in dem Politikfeld bei. Viele seiner Entscheidungen speisten sich indes maßgeblich aus seinen Erfahrungen, die er zu Zeiten des altgedienten Funktionärs Alfred Kurella, dem früheren Leiter der Kulturkommission beim Politbüro, gesammelt hatte. Erst der Tod des „langjährige[n] Kulturpapst[es] der DDR“1 im Sommer 1975 befreite Hager aus der politischen Rivalität mit dem Ulbricht-Getreuen, den der ZK-Sekretär bei der Trauerfeier als einen Genossen würdigte, „der in sich die besten Eigenschaften eines Kommunisten vereinigte“2. Sowohl Kurella als auch Hager zeigte Machtambitionen, auf die sich wechselnde Loyalitäten wie Abhängigkeiten auf beiden Seiten in der Kulturverwaltung gründeten und die teils weitreichende organisatorische Konsequenzen forderten. Wer ging als Sieger aus diesen Konflikten hervor? Wo liegen die Ursprünge dieser Auseinandersetzungen? Welche Akteure gerieten in ihren Sog, und welche personellen wie strukturellen Veränderungen 1  Gustav

Just, Deutsch. Jahrgang 1921. Ein Lebensbericht, Berlin 2007, S. 131. Hager, zit. nach: Letztes Geleit für unseren Genossen Alfred Kurella. Trauerfeier des Zentralkomitees der SED in Berlin-Friedrichsfelde, in: Neues Deutschland vom 21. Juni 1975. 2  Kurt

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schlossen sich ihnen an? Zunächst richtet der Beitrag seinen Blick auf die kulturpolitischen Ereignisse im Scharnierjahr 1957. Danach stehen der Aufstieg und der Fall von Kurellas Kulturkommission respektive Hagers Ideologischer Kommission im Mittelpunkt; dem folgen eine bündige Zusammenfassung und ein knapper Ausblick. II. Hektische Betriebsamkeit in der Kulturpolitik Kurellas Karrieresprung in den Herbstmonaten des Jahres 1957 markiert einen Wendepunkt im kulturpolitischen Kurs der SED-Spitze. Überdies ging er Hand in Hand mit einer für den zielstrebigen Hager im Rückblick eher beschämenden Episode in seiner Laufbahn: Vor dem Hintergrund der Entstalinisierungsdebatte hatte sich der Funktionär ebenso wie der damalige ZK-Sekretär für Kultur, Paul Wandel, gegen den herrischen Führungsstil des Ersten Sekretärs gewandt.3 Kurz nachdem sich Ulbricht von Wolfgang Harich sein vermeintliches „Programm der Konterrevolution“4 Anfang November 1956 persönlich referieren ließ, heizte Hager, der sich vom Ersten Sekretär „oft zu Unrecht kritisiert fühlte“5, die gereizte Stimmung zwischen Politbüro und Sekretariat weiter an, indem er auf dem 29. ZK-Plenum erklärte: „Was den Apparat der Partei anbetrifft, so scheint es mir an der Zeit, dass wir wirklich ernsthaft prüfen, […] ob es richtig ist, dass er eine Kopie des Regierungsapparates darstellt. Schließlich besteht die Aufgabe des Parteiapparates nicht darin zu regieren, sondern anzuleiten.“6 Nach der deutschen Wiedervereinigung kommentierte Hager: „Ich trat in alle nur denkbaren Fettnäpfchen.“7 In den Folgemonaten initiierte Ulbricht mit sowjetischer Unterstützung eine Kampagne gegen „Dekadenz“ und „Revisionismus“, die der Erste Sekretär nicht nur in der kulturellen Szene, sondern ebenfalls in den eigenen 3  Vgl. Heike Amos, Politik und Organisation der SED-Zentrale 1949–1963. Struktur und Arbeitsweise von Politbüro, Sekretariat, Zentralkomitee und ZK-Apparat, Münster 2003, S. 422. Siehe dazu Rede von Kurt Hager auf der 26. Tagung des ZK der SED, 22. März 1956, in: BStU, MfS, SdM, Nr. 2377, Bl. 507; Rede von Paul Wandel auf der 26. Tagung des ZK der SED, 22. März 1956, in: BStU, MfS, SdM, Nr. 2377, Bl. 489 f. 4  Walter Ulbricht, zit. nach: Ernst Wollweber, Aus Erinnerungen. Ein Porträt Walter Ulbrichts, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 32 (1990) 3, S. 350–378, hier: S. 365. 5  E.  Wollweber (Anm. 4), S. 370. 6  Tagungen des ZK der SED, Kurt Hager: Diskussionsrede auf der 29. Tagung des ZK der SED vom 12. bis 14. November 1956, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 1 / 166. Siehe auch H. Amos (Anm. 3), S. 472 f. 7  Kurt Hager, Erinnerungen, Leipzig 1996, S. 219.



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Reihen entschlossen verfolgte. Der Ton hatte sich verschärft: Die programmatischen Reden waren weniger allgemein, mehr personengebunden. Auf kulturellem Gebiet galt es, die künstlerische Intelligenz konsequenter zu disziplinieren, die sich nach Auffassung von Alexander Abusch, dem stellvertretenden Kulturminister, im vergangenen Jahr „ausschließlich mit den Widersprüchen, die in unserer Übergangsperiode entstehen“, beschäftigt hätte.8 Bereits auf der ersten Tagung des ZK im neuen Jahr – wenige Wochen nach der Verhaftung der Intellektuellen Wolfgang Harich und Walter Janka – betonte der Erste Sekretär, volle „Schaffensfreiheit“ gebe es in der DDR lediglich für jene, die mit ihren Werken den „Interessen der Werktätigen, der Sache des sozialistischen Aufbaus und der Festigung“ der DDR dienen.9 Damit waren die Grenzen für die „Kulturschaffenden“ klar abgesteckt. Abschreckende Beispiele sollten helfen, „ideologisch schwankende“ Künstler und Schriftsteller wieder auf den Kurs der Partei zu bringen. Ferner übte Ulbricht Kritik an der vom ZK-Sekretär Paul Wandel angeleiteten und von Wilhelm „Willi“ Adam kommissarisch geführten Abteilung „Kunst, Literatur und kulturelle Massenarbeit“ im Zentralapparat der dik­ tatorischen Staatspartei. Der Erste Sekretär hatte Wandel vorgeworfen, „heikle[n] Fragen, die die Intelligenz bewegen, auszuweichen“. Zu weiteren charakteristischen Mängeln in der Arbeit der Partei mit den Intellektuellen zählte er „Schematismus sowie Versuche, die ganze Intelligenz über einen Kamm zu scheren.“ Ulbricht forderte, „mit der Methode des Administrierens“ Schluss zu machen.10 Diesen Worten folgte zunächst die Umstrukturierung der Abteilung unter dem Namen „Volksbildung und Kultur“. Ihr Personal verringerte sich erheblich.11 Der ZK-Sekretär, dem dieser „hektische Betrieb in der Kulturpolitik nicht [passte]“12, warb bei der Parteiführung erfolglos um die langersehnte Neubesetzung des Amtes des Abteilungsleiters. Der frühere Aspirant auf den Posten, Hans Riesner, hatte infolge anderer Verpflichtungen in der Dresdener SED-Bezirksleitung diese Aufgabe nicht wahrnehmen können. Zudem stand er auf jüngsten Beschluss 8  Alexander Abusch, Diskussionsrede auf der 32. Tagung des ZK der SED vom 10. bis 12. Juli 1957, in: Marianne Lange (Hrsg.), Zur sozialistischen Kulturrevolution, Bd. 2, Berlin (Ost) 1960, S. 273–278, hier: S. 277 f. 9  Walter Ulbricht, Grundfragen der Politik der SED. Zweiter Teil des Referats auf der 30. Tagung des ZK, in: Neues Deutschland vom 5. Februar 1957. 10  Tagungen des ZK der SED, Diskussionsbeitrag von Walter Ulbricht auf der 30. Tagung des Zentralkomitees vom 30. Januar bis 1. Februar 1957, in: SAPMOBArch, DY 30 / IV 2 / 1 / 170. 11  Vgl. Abteilung Kultur, Hausmitteilung an Paul Wandel von Hans Riesner. Betr.: Arbeitsweise, Aufgaben und Struktur der Abteilung Volksbildung und Kultur, 25. März 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 9.06 / 9. 12  E.  Wollweber (Anm. 4), S. 370.

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des Politbüros der Abteilung nunmehr lediglich als Stellvertreter zur Verfügung.13 Nachdem das oberste Parteigremium Wandels ersten Vorschlag, Abusch zum Leiter zu ernennen, abgelehnt hatte,14 spekulierte er über Erich Wendt, der „zu den wenigen alten Genossen“ gehöre, „die über eine umfassende Bildung und Kenntnis der kulturellen Fragen verfügen“.15 Auch diese Idee verlief im Sande.16 So geriet die ablehnende Haltung der Politbüroriege zur Schikane. Die Kritik an der Kulturverwaltung riss nicht ab, zumal der Devisenmangel auf kulturellem Gebiet im Sommer 1957 dramatische Formen annahm. Das Kulturministerium (MfK) konnte den Forderungen aus der Bundesrepublik Deutschland auf den Gebieten des Verlagswesens, des Theaters und der sogenannten kleinen musikalischen Rechte nicht mehr nachkommen. „Unsere Kulturpolitik“ müsse sich drastisch ändern, appellierte die Zentrale Kommission für Staatliche Kontrolle (ZKSK). Der stellvertretende Minister für Finanzen, Martin Schmidt, hatte Abusch bereits im November 1956 – vergebens – gebeten, sich dringend um die Erhöhung der Einnahmen in Valuta und die Senkung der Devisenverpflichtungen zu bemühen. „Das MfK hat seine Kontrollpflicht gegenüber den nachgeordneten Institutionen vernachlässigt“, urteilte die ZKSK. Deshalb fehle dem Ministerium auch der „Überblick über den Ernst der Lage“. Die bislang praktizierte Trennung der kulturpolitischen Fragen von ihren ökonomischen Folgen sei falsch. „Diese Verachtung ökonomischer Probleme kommt bereits darin zum Ausdruck, dass das Ansteigen der nicht transferierbaren Verpflichtungen geduldet wurde, ohne dabei die Gefahr zu erkennen, dass Schuldverhältnisse Abhängigkeitsverhältnisse nach sich ziehen.“ Ein von Anselm Glücksmann, dem Direktor des Büros für Urheberrechte, erarbeiteter Rettungsplan hatte vorgesehen, die Schulden in neun Jahresraten zu tilgen. Die Leiterin der Hauptabteilung „Kulturelle Beziehungen“, Maria Rentmeister, kürzte ihn allerdings derart, „dass die wesentlichen Zusammenhänge nicht mehr deutlich erkennbar sind“, und er den Umfang der gesamten Schulden verdeckte.17 13  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  7 / 57. TOP 2: Durchführung der Beschlüsse des Zentralkomitees über die Vereinfachung und Verbesserung der Arbeit des Zentralkomitees, 9. Februar 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 527. 14  Vgl. ebd. 15  Paul Wandel, zit. nach: Sekretariat der SED, Protokoll Nr.  8 / 57. TOP 11: Abteilungsleiter für die Abteilung Volksbildung und Kultur, 20. Februar 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 3 / 549, zit. in: Beatrice Vierneisel, Die Kulturabteilung des Zentralkomitees der SED 1949–1964, in: Günter Feist / Eckhart Gillen / dies. (Hrsg.), Kunstdokumentation SBZ / DDR 1945–1990: Aufsätze, Berichte, Materialien, Köln 1996, S. 788–820, hier: S. 803. 16  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  10 / 57. TOP 8: Personalfragen, 26. Februar 1957, in: SAPMO-BArch DY 30 / J IV 2 / 2 / 530.



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Die SED bezeichnete auf der 32. ZK-Tagung den Einsatz der „sozialisti­ sche[n] Literatur“ infolge ausdrücklich als „ungenügend“. Auf kulturpolitischem Gebiet sei die „Macht“ der Arbeiterklasse nicht angemessen genutzt worden. Die zuständigen Funktionäre hätten es versäumt, die Beschlüsse der Partei zu popularisieren; ein „ernsthafter Kampf“ um deren Durchsetzung würde nicht geführt. „Es machte sich eine mangelhafte Parteilichkeit in Bezug auf die sozialistische Vielfalt, Weite und Breite selbst bei vielen in den literaturverbreitenden Institutionen tätigen Genossen bemerkbar.“ Vielfach sei die Entwicklung in der Literatur und im Buchwesen dem „Selbstlauf“ überlassen worden.18 Der Lyriker Kurt Barthel beantragte daraufhin scheinbar unabhängig und spontan im Sinne der Partei, eine Kommission zur Überprüfung der literaturverbreitenden Institutionen zu bilden.19 Das ZK gab seinem Antrag angesichts des eklatanten Devisenmangels statt und beschloss zugleich die Einberufung einer Kulturkonferenz.20 17

Tatsächlich hatte die Politbüroriege schon knapp ein halbes Jahr zuvor vereinbart, eine „Kulturkommission beim Zentralkomitee“ aufzubauen. Sie sollte unter Leitung des ZK-Sekretärs für Kultur stehen. Als Mitglieder waren neben Abusch u. a. Johannes R. Becher, Willi Bredel und Hans Rodenberg vorgesehen. Das Politbüro hatte dem Gremium die Aufgabe übertragen, „grundsätzliche Entscheidungen des Zentralkomitees und des Politbüros in Fragen der Literatur und Kunst vorzubereiten und bei der Erfüllung der betreffenden Beschlüsse des Zentralkomitees mitzuhelfen“.21 Die Einrichtung dieser Kommission ließ jedoch auf sich warten. Auf diesem Plenum richtete sich Ulbrichts Ärger ferner abermals gegen Wandel, aber auch gegen den schwer gezeichneten DDR-Kulturminister, der wegen seiner Kontakte zu einigen oppositionellen Intellektuellen in das Fahrwasser von Ulbrichts „Revisionismus“-Kampagne geraten war. Titel und Amt hielt Becher nur noch pro forma inne. Die scharfe Kritik an den Methoden des MfK wies überdies deutlich auf einen operativen Wandel hin, dessen Tendenz der Kulturminister wenig später andeutete: „Diese Unzulänglichkeiten hatten 17  Abteilung Kultur, ZKSK: Bericht über die Ministerratsvorlage Nr. 206 über die Zahlung von Urheber- und Verlagsrechten an die Bundesrepublik Deutschland und an das Ausland, 20. August 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 9.06 / 306. 18  MfK, Bericht der Kulturkommission beim Politbüro der SED: Zur Lage in der Verbreitung der sozialistischen Literatur, ohne Datum (ca. November 1957), in: BArch, DR 1 / 7901. 19  Vgl. Kuba, Wie steht es mit der Ehrlichkeit des Schriftstellers. Diskussionsbeitrag auf der 32. Tagung des ZK der SED, in: Neues Deutschland vom 21. Juli 1957. 20  Vgl. Kommuniqué der 32. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Neues Deutschland vom 13. Juli 1957. 21  Politbüro, Protokoll Nr.  7 / 57. TOP 2: Durchführung der Beschlüsse des Zentralkomitees über die Vereinfachung und Verbesserung der Arbeit des Zentralkomitees, 9. Februar 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 527.

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ideologische Ursachen, […] womit auch ein Zögern verbunden war, dort ‚Gewalt anzuwenden‘, wo die Mittel der Überzeugung versagten.“ Wer sich vor der Gewaltanwendung im Interesse des Ganzen scheue, versündige sich am Interesse des Volkes.22 Die Frage, welche Konzeption die Partei auf kulturellem Gebiet verfolgen würde, blieb zudem lange Zeit unbeantwortet. Abusch hatte auf der 32. ZKTagung eine baldige „programmatische Darstellung der sozialistischen Kulturpolitik unserer Partei“ versprochen – mit dem Ziel „alle Tendenzen der ideologischen Koexistenz endlich zu beseitigen“23. Im Vorfeld der Kulturkonferenz bezeichnete Hager die „schöne Literatur“ nunmehr als „scharfe Waffe im Kampf für den Sozialismus“. Die SED lehne es ab, Werke herauszugeben, die „den morbiden, parasitären, verfaulenden und pessimistischen Geist der kapitalistischen Gesellschaft zum Ausdruck bringen“. Zugeständnisse an die bürgerliche Ideologie dürften nicht zugelassen werden.24 III. Kulturkommission versus Ideologische Kommission Auf der nachfolgenden ZK-Tagung im Oktober 1957 ließ sich der Erste Sekretär nicht beirren und machte Nägel mit Köpfen: Noch während des Plenums wurde Wandel von seiner Funktion entbunden und mit einer „strengen Rüge“ bedacht.25 Hager, der wie der ZK-Sekretär für Kultur Karl Schirdewan gegen Ulbricht unterstützt hatte, konnte sich diesem Schicksal nach reumütigen Äußerungen hingegen entziehen. Die SED-Führung übergab dem ZK-Sekretär für Wissenschaft die Anleitung der wieder selbständigen Abteilung „Volksbildung“ und etwa ein halbes Jahr später die Aufsicht über das Verlagswesen. Abusch ersetzte auf Ulbrichts Initiative Becher im Amt des Kulturministers. Den Bereich Kultur im Fachapparat des ZK leitete künftig Siegfried Wagner, obgleich das Politbüro Wandels Vorschlag noch im Januar abgelehnt hatte, ihn zum Leiter des Sektors „Kunst und Literatur“ der Kulturabteilung zu ernennen.26 22  Johannes R. Becher, zit. nach: Carsten Gansel (Hrsg.), Johannes Becher. Der gespaltene Dichter. Gedichte, Briefe, Dokumente 1945–1958, Berlin 1991, S. 213. 23  A. Abusch (Anm. 8), S. 277 f. 24  Stenografische Niederschrift des Referats des Genossen Professor Kurt Hager „Das Verlagswesen und die sozialistische Kulturpolitik“. Gehalten auf der Arbeitstagung mit Genossen aus den Verlagen im Hause des Verlags „Volk und Welt“ am 3. Oktober 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 1.01 / 406. 25  Vgl. Politbüro, Protokoll 44 / 57. TOP 3: Entwurf des Berichtes des Politbüros, 15. Oktober 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 564. 26  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  7 / 57. TOP 2: Durchführung der Beschlüsse des Zentralkomitees über die Vereinfachung und Verbesserung der Arbeit des Zentralkomitees, 9. Februar 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 527.



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Für die vom ZK beschlossene Kommission für Fragen der Kultur beim Politbüro war fortan der erst 1954 aus der UdSSR zurückgekehrte Alfred Kurella verantwortlich, welcher seither als Direktor im Leipziger Literaturinstitut „Johannes R. Becher“ gedient hatte. Entgegen der ursprünglichen Planung war damit nicht der ZK-Sekretär für Kultur,27 sondern ein Kandidat des Politbüros für das neue Gremium verantwortlich.28 Offenbar gedachte Ulbricht, deren kulturpolitische Arbeit im Parteiapparat auf diesem Wege besser zu kontrollieren. Kurella zeichneten „jesuitische Strenge“ und „Unerbittlichkeit“ aus.29 In seiner Kaderakte ist über ihn notiert: „Kurella ist zweifellos einer der befähigtsten Journalisten, über die unsere Partei verfügt, hat umfassende Kenntnisse auf dem politischen und literarischen Gebiete und kennt die Sowjetunion wohl besser als alle anderen Genossen, die in der Sowjetunion als Emigrant gelebt haben. Außerdem kann er wie kein zweiter Propaganda für die Sowjetunion machen.“30 Der ZK-Abteilungsleiter Wagner diente Kurellas Behörde formal als „Sekretär“. Ohne dessen Mitarbeiter, dem technischen Apparat und den parteiinternen Kommunikationswegen wären die Kommission und sein Vorsitzender wohl kaum in der Lage gewesen, ihre Aufgaben zu erfüllen. „Die Abteilung Kultur war und blieb das eigentliche operative kulturpolitische Organ im Apparat der Einheitspartei“31, erklärt Dieter Schiller. In den folgenden Monaten arbeitete das MfK auf Druck des Vorsitzenden der Kulturkommission an tief greifenden Veränderungen der Arbeitsweise im Ministerium und der Vereinfachung seiner Struktur, um die von der ZKSK angezeigten gravierenden Mängel zu beseitigen. Die organisatorischen Wandlungen betrafen in erster Linie die Zensurbehörde, die wenig später unter dem Namen HA „Literatur und Buchwesen“ firmierte. Bei dieser Umgestaltung handelte es sich nach Auffassung der Kulturabteilung „um eine erstrangige politische Frage“32, zumal die ideologisch-programmatische Kampagne des „Bitterfel27  Vgl. ebd. Über Kurellas Abdankung als Direktor des Literaturinstituts spekulierte die Autorin Brigitte Reimann bereits Ende September 1957, die in ihrem Tagebuch zirkulierende Gerüchte erwähnt. Vgl. Brigitte Reimann, Ich bedauere nichts. Tagebücher 1955–1963, 3. Aufl., Berlin 1993, S. 76. 28  Vgl. Politbüro, Protokoll 44 / 57. TOP 3: Entwurf des Berichtes des Politbüros, 15. Oktober 1957, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 564. 29  Werner Mittenzwei, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland von 1945 bis 2000, Leipzig 2001, S. 173. 30  Kaderbeurteilung über Alfred Kurella von 1949, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 11 / v.1929, zit. nach: H. Amos (Anm. 3), S. 560, Fn.  76. 31  Dieter Schiller, Kurellas Kulturkommission. Auftrag und Scheitern (1957–1962) (= hefte zur ddr-geschichte 74 / 2001), S. 9 f. 32  MfK, Vorlage für das Sekretariat des ZK der SED, 24. März 1958, in: BArch DR 1 / 8215, Herv. i. O. Vgl. auch Siegfried Lokatis, Die „ideologische Offensive der SED“, die Krise des Literaturapparates 1957 / 58 und die Gründung der Abteilung

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der Weges“ bei jener ökonomisch ausgerichteten Planung seine Schatten vorauswarf. In kürzester Zeit hatte Kurella unterstützt von Wagner und Abusch zwar die Fäden der Kulturpolitik an sich gerissen, doch die regelmäßig beklagte Inkompetenz der Kulturverwaltung rief bei dem Altkommunisten sowohl Verärgerung als auch ein gewisses Maß an Resignation hervor. Das gute Verhältnis zu Abuschs Ministerium erodierte, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Kulturkommission ihrer übergeordneten Stellung im Parteiund Staatsapparat äußerst bewusst war. So überschritt sie ihre Kompetenz als beratendes Organ regelmäßig. Kurellas Vorschläge nahmen den Charakter von Anweisungen an; und obgleich Abusch dieser Kommission ebenfalls angehörte, besaß der Minister nur wenig Einfluss. Im Februar 1958 distanzierte sich der scheinbar bekehrte Hager seinerseits von den Widersachern des Ersten Sekretärs, mit denen Erich Honecker auf der 35. ZK-Tagung hart ins Gericht ging. Begleitet von „lebhafte[n] ‚Sehr-richtig!-Rufe[n]‘“ äußerte sich Hager: „Ich meine, wer den Genossen Ulbricht angreift, greift damit die Politik unserer Partei an. […] Und hinter den Vorbehalten gegenüber dem Genossen Ulbricht steht letzten Endes der Vorbehalt gegenüber der von ihm verkörperten Politik und des ZK.“33 Der folgende V. SED-Parteitag läutete zwar zunächst ein Ende der parteiinternen Kämpfe ein, indem kritische Funktionäre schlicht abgelöst wurden. Doch mit den ersten Schritten auf dem von Ulbricht im April 1959 initiierten „Bitterfelder Weg“ verschlechterte sich das Arbeitsverhältnis zwischen Kurellas Behörde und Wagners Abteilung, die beide aufgrund der von der Zentralen Revisionskommission bemängelten Tätigkeit der Kulturverwaltung in der Kritik standen. So versuchte die Kulturabteilung – erfolglos –, ihre Position gegenüber der Kommission beim Politbüro aufzuwerten,34 während das oberste Parteigremium zugleich beschloss, eine „PropagandaKommission“ einzurichten, die später unter dem Vorsitz von Hager und der Bezeichnung „Ideologische Kommission“ Bekanntheit erlangte.35 Es dauerte nicht lange bis Wagner in dem ZK-Sekretär einen Verbündeten gegen den Kommissionsleiter in Kulturfragen fand. Literatur und Buchwesen, in: Simone Barck / Martina Langermann / ders. (Hrsg.), „Jedes Buch ein Abenteuer“. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997, S. 61–96, hier: S. 84–86. 33  Kurt Hager, Diskussionsbeitrag auf der 35. ZK-Tagung, 3. bis 6. Februar 1958, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 1 / 192. 34  Vgl. dazu Abteilung Kultur, Kommission für Literaturpropaganda bei der Kulturabteilung des ZK, gez. Willi Lewin, 14. Juli 1959, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 9.06 / 269. 35  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  34 / 59. TOP 5: Zusammensetzung der Propaganda-Kommission, 14. Juli 1959, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 658; Politbüro, Protokoll Nr. 3 / 60. TOP 9: Bildung einer ideologischen Kommission des Politbüros, 19. Januar 1960, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 684.



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Indes präsentierte Kurella den von der kulturpolitischen Kampagne enttäuschten Künstlern und Schriftstellern im April des Jahres 1960 Abuschs Ministerium als Sündenbock, obgleich es im MfK Überlegungen für eine neue „Programmerklärung über die Entwicklung der sozialistischen Nationalkultur“36 gab; sie wurde nie veröffentlicht. Viele Jahre später kommentierte Abusch dies mit den knappen Worten: Die Parteiführung „fand es richtiger“, die zweite Kulturkonferenz vorzubereiten.37 Offenbar hatte Kurella dem gesundheitlich angeschlagenen Kulturminister zu verstehen gegeben, seine Kommission würde ein optimiertes strategisches Konzept für die Kulturpolitik der DDR ausarbeiten. Er stellte seine Thesen einen Monat vor der Tagung öffentlich zur Diskussion.38 Überdies wog seine vom Neuen Deutschland aufgegriffene Attacke gegen das MfK auf der Kulturkonferenz schwer, nicht zuletzt deshalb, weil er gewiss über die ministerialen Pläne informiert war, die „staatliche Leitung der Kulturarbeit“ verbessern zu wollen.39 Kurella forderte nunmehr unverfroren: „Wir verlangen keine neue Programmerklärung des Ministeriums für Kultur – wie es sie früher gab –, aber ein klares Perspektivprogramm, das alle Gebiete des kulturellen Lebens umfasst“. Doch bis jetzt höre und sehe man davon nichts. „Das sind Leitungsmethoden, mit denen wir uns nicht einverstanden erklären können.“40 Abusch reagierte auf diese Kritik nicht. Sein Ministerium beschränkte sich in der Öffentlichkeitsarbeit darauf, stets auf die Beschlüsse der Kulturkonferenz zu verweisen.41 Zumindest im Kulturbund wussten die Mitglieder des Bundessekretariats jedoch um Abuschs Bemühungen, wie ein Schreiben von Gerhard Henniger und Karl-Heinz Schulmeister belegt.42 Allen vorherigen eigenverantwortlichen Bemühungen des MfK zum Trotz beauftragte das 36  Vgl. MfK, ZKSK: Vermerk. Betr.: Programmerklärung des Ministeriums für Kultur, 21. November 1959, in: BArch DR 1, 7869. 37  Alexander Abusch, Mit offenem Visier, Berlin (Ost) 1986, S. 334. 38  Vgl. Alfred Kurella, Erfahrungen und Probleme sozialistischer Kulturarbeit. Aus der Diskussionsgrundlage zur Vorbereitung der vom Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, vom Ministerium für Kultur und vom Deutschen Kulturbund für den 27. bis 29. April 1960 nach Berlin einberufenen Kulturkonferenz, in: Neues Deutschland vom 11. März 1960. 39  MfK, Erich Wendt: Maßnahmenplan zur Durchführung der Beschlüsse des 8. Plenums des Zentralkomitees der SED, 22. April 1960, in: SAPMO-BArch, DY  30 / IV 2 / 9.06 / 92. 40  Alfred Kurella, zit. nach: ND, Aufstieg zur gebildeten Nation. Sozialistisch leben, heißt kulturvoll leben, in: Neues Deutschland vom 30. April 1960. Siehe auch Günter Witt, Das Ministerium muss besser leiten. Beitrag auf der Kulturkonferenz, in: Ebd. 41  Siehe dazu etwa MfK, Direktive (Entwurf der Präambel) für den Arbeitsplan des Ministeriums für Kultur von September bis Dezember 1960, 15. August 1960, in: BArch, DR 1 / 7870. 42  Vgl. MfK, Brief an Alexander Abusch von Gerhard Henniger und Karl-Heinz Schulmeister, 13. November 1959, in: BArch, DR 1, 7869.

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Politbüro schließlich Kurellas Behörde, sich erneut mit dessen Arbeitsweise zu befassen, um eine Verbesserung herbeizuführen.43 Infolge dieser Kompetenzstreitigkeiten musste Abusch im Jahr des Mauerbaus seinen Posten an den 25 Jahre jüngeren Hans Bentzien abtreten, den Kurella aus dessen Tätigkeit in der Kulturkommission kannte. Ferner war Bruno Haid, der unsympathische MfS-Schützling, bereits einige Zeit zuvor als Leiter der Zensurbehörde eingesetzt worden. Nachdem Ulbricht auf dem 14. ZK-Plenum im November 1961 gefordert hatte, das Nebeneinander von Partei, Staat und Massenorganisationen zu beenden, begannen die Kulturfunktionäre, eine weitere Zentralisierung zu planen. Alfred Kurella glaubte, seine Behörde müsse ihren „operativen Charakter“ ausbauen. „Wir haben bisher geschwankt zwischen einem Charakter als ideologische Kommission, ähnlich der speziellen Ideologischen Kommission, so wie wir sie hier haben, und als operative Kommission, die aber keine Exekutive hat.“44 Bentziens Ministerium erarbeitete eine Analyse über die bisherige Zusammenarbeit in der Kulturverwaltung. Das Papier identifizierte zahlreiche Überschneidungen der Kompetenzbereiche.45 Wagner berichtete Kurella ebenso, der „Hauptmangel“ bestehe darin, die Verantwortlichkeit sei auf außerordentlich viele Genossen verteilt. „In der Abteilung Wissenschaft gibt es einen Sektor für Verlage, in der Abteilung Parteibetriebe / Finanzen einen Instrukteur für Buchhandel und in der Abteilung Kultur einen Instrukteur für schöne Literatur.“46 Bislang habe sich die Tätigkeit des MfK durch drei Punkte ausgezeichnet, meinte ferner der amtierende Cheflektor des Aufbau-Verlages Günter Caspar: „Erstens herrsche dort Unkenntnis, zweitens keine Erfahrung, drittens seien die Mitarbeiter des Ministeriums in seinem Gefühl Zensoren und Bürokraten“.47 Die vorherrschende Verantwortungslosigkeit und das schädigende Durcheinander beim MfK würden sich darin zeigen, dass alles auf den Staatssekretär, den Minister oder auf Abusch in seiner neuen Funktion im Ministerrat abgeschoben werde. „Dort gammelt’s, weil die sich mit Grundsatzfragen beschäftigen müs43  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  25 / 60. TOP 4: Bericht von der Kulturkonferenz des ZK, des Ministeriums für Kultur und des Deutschen Kulturbundes, 8. Juni 1960, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 706. 44  Kulturkommission beim Politbüro, Protokoll der Sitzung vom 18. Dezember 1961, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 2.109 / 16. 45  Vgl. MfK, Vorlage zur Verbesserung der Leitungstätigkeit im Verlags- und Buchwesen der Deutschen Demokratischen Republik, 12. Januar 1962, in: BArch, DR 1 / 8650. 46  Abteilung Kultur, Brief von Siegfried Wagner an Alfred Kurella, 31. März 1962, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV 2 / 9.06 /  270. 47  Günter Caspar, zit. nach: MfS, Abschrift: IM „Kant“, 17. Dezember 1962, in: BStU, MfS, AIM, Nr.  16574 / 89, A / 3, Bl. 86–89, hier: Bl.  87.



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sen.“ Deshalb gehe vom MfK eine schlechte Atmosphäre aus.48 Infolge der erneuten Umstrukturierung spielte Haids HV „Verlage und Buchhandel“ künftig „die Rolle des Überlektors“49. Diesen Bemühungen um eine geordnete Anleitung der Kulturpolitik wurde – für viele überraschend – letztlich Kurellas Kulturkommission beim Politbüro geopfert: Die Auflösung seiner Behörde verlief indes keinesfalls reibungslos, wenngleich Ulbricht über diese personelle und strukturelle Veränderung auf der 1. Tagung des ZK im Januar 1963 schwieg.50 So war die als unbefriedigend angesehene Anleitung der Abteilung „Kultur“ meist direkt auf Kurella zurückgefallen. Nach Aussage des Kulturministers hatte der Altkommunist zudem „in längeren Gesprächsrunden im Hotel ‚Johannishof‘“ den persönlichen Kontakt zu den „führenden Intellektuellen des Kulturlebens“ gesucht. Bentzien gibt an, die besprochenen Inhalte hätten dem Politbüro missfallen.51 Zudem hieß es, unter den „Kulturschaffenden“ herrsche der Eindruck, „dass die Partei bzw. der Staat einen gewissen Rückzug in Bezug auf bisherige kulturpolitische Auffassungen angetreten hat, und zwar unter dem Druck der Schriftsteller.“ Und jede nichtgeführte Diskussion werde als Zeichen der Schwäche oder der Unfähigkeit interpretiert, erörterte Klaus Gysi.52 Bei seiner letzten öffentlichen Stellungnahme als Leiter der Kulturkommission auf dem VI. Parteitag der SED, musste Kurella – basierend auf einer Vorlage der Abteilung „Kultur“53 – Fehler eingestehen: Die „ständige beharrliche Auseinandersetzung“ mit den Künstlern und Schriftstellern sei zu kurz gekommen. Unter „lebhaftem Beifall“ versprach er, dies nachzuholen.54 Doch zu diesem Zeitpunkt war die Auflösung seiner 48  Ebd.

49  GI „Kurt“, zit. nach: HA V / 1 / IV, Treffbericht: GI „Kurt“, 5. Dezember 1962, in: BStU, MfS, AIM, Nr.  3803 / 65, Bd. 4, Bl.  67. 50  Vgl. Tondokumentensammlung der SED, 1. Tagung des ZK der SED (konstituierende Sitzung): Wahl des Politbüros, der Kandidaten des Politbüros, der Sekretäre des ZK der SED, des Vorsitzenden, der Mitglieder und Kandidaten der Zentralen Parteikontrollkommission durch Walter Ulbricht, 21. Januar 1963, in: BArch, TonY 1 / 1357. 51  Hans Bentzien, „Schluss mit den Spinnereien“. Das Ende sozialistischer Kulturpolitik auf dem 11. Plenum [Manuskript], S. 9, in: Privatarchiv von Dr. Dietmar Keller (im Besitz der Verfasserin). 52  MfK, Brief an Erich Wendt von Klaus Gysi, 27. November 1962, in: BArch, DR  1 / 7805. 53  Vgl. Politbüro, Bericht der Abteilung Kultur beim ZK der SED an das Politbüro des ZK über „Die Lage in der Literatur und die Aufgaben des Deutschen Schriftstellerverbandes“, 3. Januar 1963, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2A / 943. 54  Vgl. Alfred Kurella, Die Verpflichtung des sozialistischen Künstlers. Aus dem Diskussionsbeitrag auf dem VI. Parteitag der SED, in: Neues Deutschland vom 21. Januar 1963.

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Kommission vom Politbüro bereits beschlossen. Als Kandidat des obersten Parteigremiums hatte Kurella auf der entscheidenden Sitzung den von Hager verlesenen Bericht lediglich zur Kenntnis nehmen dürfen.55 Ferner steht dieser Beschluss des Politbüros in einem engen Zusammenhang mit den Bemühungen von Ulbrichts „Kronprinzen“, „alle im weitesten Sinne kulturpolitischen Fragen bei Kurt Hager als verantwortlichen ZK-Sekretär zu konzentrieren“56. Kurella wurde allerdings nicht, wie behauptet,57 mit Auflösung der Kommission in den Ruhestand entlassen. Die Parteiführung degradierte ihn vielmehr zum Mitarbeiter in der Ideologischen Kommission beim Politbüro unter Vorsitz des 17 Jahre jüngeren Hager; über den Weg der Pensionierung löste die SED lediglich das Problem seiner Entlohnung. Die Verantwortlichkeit für die Abteilung „Kultur“ des ZK der SED lag nun in Hagers Aufgabenbereich.58 Kurella, der ebenfalls seine Position als Kandidat im Politbüro verloren hatte, war darin beratend (nicht mehr operativ) für die Bereiche Kultur und Künste zuständig. Seine Tätigkeit trug „gesellschaftlichen Charakter“, d. h. sie war an keine Diensträume und -zeiten gebunden. Er hatte zwar mit Hager in einem persönlichen Gespräch vereinbart, seine „neue Arbeitsposition“ bald und in entsprechender Weise öffentlich bekanntzugeben, „um vorhandenen Missdeutungen der Änderung meiner Arbeitsweise“, „die eine Desorientierung über Inhalt und Richtung der Kulturpolitik hervorrufen könnten“ zu verhindern.59 Doch dazu kam es nicht: Kurellas Absetzung, der offiziell wieder als freischaffender Schriftsteller arbeitete, erfolgte in der Öffentlichkeit seitens der Parteiführung lautlos. So wunderte sich der ein oder andere Literat noch Ende März 1963 auf einer Konferenz des Politbüros und des Präsidiums des Ministerrates mit den „Kulturschaffenden“ über das Schweigen seiner Behörde bei prinzipiellen Fragen.60 Des Weiteren ist einem Brief von Kurella an Ulbricht zu entnehmen, dass Hermann Matern die „überraschende Änderung [s]eines Arbeitsbereiches im ZK“ damit begründete, Kurella sei krank und leide „an schweren Kreislauf55  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  50 / 62. TOP 10: Erweiterung der Aufgaben der Ideologischen Kommission und Auflösung der Kulturkommission, 20. Dezember 1962, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 862. 56  Monika Kaiser, Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997, S. 215. 57  Vgl. H. Amos (Anm. 3), S. 615. 58  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr. 1 / 63. Anlage Nr. 1 [ohne Titel], 29. Januar 1963, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 865. 59  Nachlass Alfred Kurella, Brief an Kurt Hager von Alfred Kurella, 26. Januar 1963, in: SAPMO-BArch, NY 4143 / 10. 60  Vgl. MfS, Bericht über die Reaktion auf der Beratung des Politbüros mit Künstlern und Schriftstellern, 17. April 1963, in: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 739, Bl.  5–20, hier: Bl. 13.



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störungen“. Der Kulturfunktionär dementierte dies gegenüber dem Ersten Sekretär entschieden. Er sei kerngesund. Zudem bat Kurella Ulbricht darum, sein Anliegen gegenüber Hager zu unterstützen, ihm die Funktion des stellvertretenden Leiters der Ideologischen Kommission anzuvertrauen. „Ich meine damit nicht die ‚Festlegung eines Amtsbereiches‘, sondern lediglich eine formale Maßnahme politischen Charakters.“ Kurella erhoffte sich davon, allen Spekulationen aufgrund der „kommentarlosen Änderung meiner Position“ ein Ende zu bereiten.61 Die Erfüllung dieses Wunsches blieb ihm verwehrt. Er wurde auf den früheren Posten von Stephan Hermlin in der Deutschen Akademie der Künste delegiert. Die Aufgaben von Kurellas Behörde übernahm fortan die Ideologische Kommission beim Politbüro. Folglich erörterte sie nicht mehr nur Probleme der ideologischen und propagandistischen Arbeit der Partei, sondern befasste sich ebenso mit Grundfragen der Kulturpolitik, um Beschlüsse für das Politbüro und für das Sekretariat vorzubereiten.62 In seinem Buch Erinnerungen äußert sich Hager überrascht über seine Ernennung zum Verantwortlichen für Kultur: „Sollte ich ausgleichend wirken? Ich gab das Hin- und Herrätseln auf und begann, meine Pflichten als Mitglied des Politbüro wahrzunehmen.“63 Da der „Chefideologe“64 persönlich das Ende der Kulturkommission mit seiner Berichterstattung auf der Sitzung des Politbüros am 20. Dezember 1962 eingeleitet hatte,65 ist Hagers Verwunderung und Verärgerung66 keinesfalls glaubhaft. Er hatte entgegen seiner Behauptung67, sehr wohl Erfahrung im Umgang mit Schriftstellern und Künstlern. Hager war infolge der neuen Aufgabenverteilung zwar noch nicht de jure, aber zumindest de facto ZK-Sekretär für Kultur – eine Funktion, die seit Paul Wandels Entlassung kein anderer Spitzenpolitiker ausgefüllt hatte.68 Da nun 61  Nachlass Alfred Kurella, Brief an Walter Ulbricht von Alfred Kurella, 26. Januar 1963, in: SAPMO-BArch, NY 4143 / 10. 62  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  50 / 62. TOP 10: Erweiterung der Aufgaben der Ideologischen Kommission und Auflösung der Kulturkommission, 20. Dezember 1962, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 862. 63  K. Hager (Anm. 7), S. 259. 64  Hager verwehrt sich gegen diese Bezeichnung: „Eine derartige Funktion hat es in der SED nicht gegeben. Ich habe mich auch nie als ‚Chef-Ideologe‘ bezeichnet oder betrachtet.“ Ebd., S. 261. 65  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  50 / 62. TOP 10: Erweiterung der Aufgaben der Ideologischen Kommission und Auflösung der Kulturkommission, 20. Dezember 1962, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 862. 66  „Ich löste in dieser Funktion Alfred Kurella ab, was mir nicht recht war.“ K. Hager (Anm. 7), S. 258. 67  Vgl. ebd. 68  Hager schreibt, er sei auf der 1. ZK-Tagung am 21. Januar 1963 zum ZKSekretär für Kultur ernannt worden. Vgl. ebd. Die Akten im Archivbestand des

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alle Fäden der Kulturpolitik bei Hager zusammenliefen, war auch der Vorschlag des MfK hinfällig, eine leitende Instanz im ZK für die Fragen der Literaturpolitik zu bilden, um bei den führenden Stellen der Partei und des Staates eine einheitliche Auffassung zu schaffen.69 Allerdings bemängelte Bentzien einige Monate nach Auflösung von Kurellas Behörde, seitens der Ideologischen Kommission finde „keine einheitliche Anleitung der verantwortlichen Genossen für Kultur in den zentralen Stellen“ statt, die jedoch für „eine einheitliche Kulturpolitik unerlässlich“ sei.70 Auf der Künstler­ konferenz im März 1963, die „gegenwärtige Unklarheiten und falschen Auffassungen“71 gründlich zu klären gedachte, stellte der Erste Sekretär Hager als künftigen Ansprechpartner in Kulturfragen vor. Unter den Künstlern und Schriftstellern verbreitete sich die Ansicht, die „Ablösung“ von Kurella sei zwar bemerkenswert. Sie schlussfolgerten aber daraus, „die Kulturpolitik unserer Partei [sei] nicht in Ordnung und ‚zu eng‘.“ Einige zogen es vor, zu schweigen und abzuwarten.72 Wie das „Kahlschlag“-Plenum im Dezember 1965 schließlich verdeutlichte, leistete Hagers Behörde kaum bessere Arbeit als die Kulturkommission: Der geschasste Kurella argumentierte, jene „drei oder vier Organe“, die an der Spitze des Partei- und Staatsapparates für Kultur zuständig seien, würden nebeneinander bzw. teils gegeneinander arbeiten, „sodass der Eindruck von mindestens zwei Kulturpolitiken entstehen muss“. Besonders beschämte der altgediente Kulturfunktionär die Ideologische Kommission beim Politbüro, der er zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr angehörte: Seine Erfahrung habe ihm gezeigt, „dass es für sie praktisch unmöglich ist, diese Koordinierung [von Agitation und Propaganda] durchzuführen, ja auch nur Kultur im engeren Sinne von ‚Literatur und Kunst‘ erfolgreich Politbüros belegen dies jedoch nicht. So führt ein Protokoll auf, dass die Kulturabteilung nach dem VI. Parteitag nicht dem Sekretariat des ZK, sondern der Ideologischen Kommission beim Politbüro unterstand. Demzufolge war Hager für den kulturellen Bereich offiziell in seiner Funktion als Politbüromitglied zuständig und nicht in seiner Funktion als ZK-Sekretär. Vgl. Politbüro, Protokoll Nr. 5 / 63. Anlage Nr. 1: Leitung der Parteiarbeit nach dem Produktionsprinzip, 26. Februar 1963, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 869. 69  Vgl. Politbüro, Vorlage des Ministeriums für Kultur zur Lage und zu den nächsten Aufgaben auf dem Gebiet der Literatur, i. V. Erich Wendt, 3. Januar 1963, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2A / 943. 70  MfK, Hans Bentzien: Änderung der Arbeitsweise des Ministeriums für Kultur (ohne Datum, ca. September 1963), in: BArch, DR 1 / 8681. 71  Abteilung Kultur, Vorlage an das Politbüro: Berichtsvorlage, Die Lage in unserer Literatur und die nächsten Aufgaben des Deutschen Schriftstellerverbandes, 3.  Januar 1963, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 /  2A / 943. 72  MfS, Bericht über die Reaktion auf der Beratung des Politbüros mit Künstlern und Schriftstellern, 17. April 1963, in: BStU, MfS, ZAIG, Nr.  739, Bl. 5–20, hier: Bl. 13.



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anzuleiten“. Er empfahl ein „sozialistisches Leitungsorgan für Kultur“ zu bilden, „und wenn es nur eine bevollmächtigte ständige Arbeitsgruppe der Ideologischen Kommission ist“.73 Es sei an der Zeit, „das ganze Gebiet der Kultur neu zu durchdenken“, proklamierte Kurella.74 Er implizierte damit keinesfalls einen radikalen Politikwechsel, sondern die kontinuierliche Weiterentwicklung der „Bitterfelder Beschlüsse“. Der Altkommunist erntete dafür heftige Kritik von Hagers getreuem Abteilungsleiter für Kultur. Wagner beklagte in einem Brief an Honecker, Kurellas Diskussionsbeitrag enthalte „ernste Fehler“.75 Hager zeigte sich gegenüber der Kritik an seiner Kommission scheinbar einsichtig, fiel Wagner jedoch zugleich in den Rücken, indem er die Fehlerdiskussion auf die „Abteilung Kultur und andere Abteilungen des Zentralkomitees“ lenkte; gemeinsam hätten sie „die Ursachen der unserer Kulturpolitik entgegengesetzten Bestrebungen nicht rechtzeitig und gründlich aufgedeckt“.76 Daraufhin ernannte die SED-Spitze Arno Hochmuth zum Abteilungsleiter für Kultur. Hager beeindruckte wenig mit seinem Eingeständnis. Im Zuge der Gründung des „Strategischen Arbeitskreises“ beim Politbüro löste der Erste Sekretär die Ideologische Kommission im Herbst des darauf folgenden Jahres stillschweigend auf. Der Staatsratsvorsitzende legte augenscheinlich keinen Wert mehr auf den strategischen Rat des „Chefideologen“ in kulturpolitischen Fragen. Er pflichtete offenbar Kurellas Einschätzung bei, das Gremium sei relativ einflusslos.77 Darüber hinaus war Hager bereits einige Monate zuvor mit seinem Versuch gescheitert, eine „Partei- und Regierungskommission“ zu bilden, die „ein Dokument für ein einheitliches System der Kulturentwicklung“ erarbeiten sollte.78 Honeckers Verbündeter erklärte verbittert und fernab jeder Realität, die Auflösung der Ideologischen Kom73  Alfred Kurella, zit. nach: Politbüro, Protokoll der 11. Tagung des Zentralkomitees vom 15. bis 18. Dezember 1965, 20. Dezember 1965, in: BStU, MfS, SED-KL, Nr. 686, Bl. 157. Dieser Teil aus Kurellas Rede fehlte in seinem veröffentlichten Beitrag im Neuen Deutschland. Vgl. Alfred Kurella, Kultur kommt noch zu kurz. Diskussionsbeitrag auf dem 11. Plenum des ZK der SED, in: Neues Deutschland vom 19. Dezember 1965. 74  A. Kurella (Anm. 74), Bl. 156. 75  Abteilung Kultur, Brief von Siegfried Wagner an Erich Honecker, 27. Dezember 1965, in: SAPMO-BArch, DY 30 / IV A 2 / 9.06 / 7. Dieser Brief erreichte auch Kurt Hager. 76  Kurt Hager, zit. nach: Politbüro, Protokoll der 11. Tagung des Zentralkomitees vom 15. bis 18. Dezember 1965, 20. Dezember 1965, in: BStU, MfS, SED-KL, Nr. 686, Bl. 186. 77  Vgl. Alfred Kurella, zit. nach: ebd., Bl. 157. 78  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  10 / 66. TOP 7: Direktive zur Ausarbeitung eines Dokuments für ein einheitliches System der Kulturentwicklung im Perspektivraum und die Bildung einer Partei- und Regierungskommission zur Ausarbeitung dieses

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mission sei erfolgt, „weil befürchtet wurde, dass sie die Funktionen des Sekretariats des ZK übernehmen würde“.79 Hagers einzige hervorstechende Leistung nach dem „Kahlschlag“-Plenum, dem früheren IM „Kurt“ auf den Posten des Kulturministers zu verhelfen, war aufgrund Klaus Gysis schwach entwickeltem Organisationstalent höchst fragwürdig. IV. Sieg mit fahlem Beigeschmack Loyalitäten wie Rivalitäten zwischen den verantwortlichen Akteuren im SED-Kulturapparat prägten den kulturpolitischen Kurs in der DDR nachhaltig – vor allem in der Ulbricht-Ära. Dabei waren die Auseinandersetzungen in der Parteispitze von herausragender Bedeutung, die in aller Regel mit personellen wie strukturellen Konsequenzen für die Kulturabteilung und das MfK einhergingen. Generell nahmen sie maßgeblich Einfluss auf die Ausgestaltung der Kulturpolitik in organisatorischen, strategischen und operativen Belangen. Die konfligierenden Machtinteressen von Kurella und Hager gelten als Paradebeispiel, beeindrucken jedoch kaum mehr als etwa die intriganten Schikanen der SED-Führung gegen den ZK-Kultursekretär Paul Wandel oder den Kulturminister Abusch. Hager bewies den längeren Atem, doch gewann er erst nach Amtsantritt von Ulbrichts „Ziehsohn“ in der Funktion des Ersten Sekretärs wieder an Macht und Einfluss in der Kulturpolitik. Der Spitzenpolitiker mag damit zwar auf dem Papier als Sieger aus den jahrelangen Kompetenzstreitigkeiten hervorgegangen sein, allerdings wurde sein Triumph von einem fahlen Beigeschmack begleitet: Eine Vielzahl kulturpolitischer Entscheidungen, die bis zum Ende der Honecker-Ära wirkten, stammten nicht aus seiner Feder; sie wurzelten vielmehr in jener Zeit, in der Kurella und Ulbricht in Kulturfragen tonangebend waren. In strikter Abgrenzung zum kulturpolitischen Kurs des ehemaligen Ersten Sekretärs und in Absprache mit Honecker hatte Hager zunächst Hochmuth aus seinem Amt als Leiter der Kulturabteilung entfernt. Darüber hinaus ließ er die Kulturkommission wieder aufleben, während der „Strategische Arbeitskreis“ fortan der Vergangenheit angehörte. Folglich hatte die SED-Spitze nach dem Führungswechsel im Jahr 1971 in ihrem Zentralapparat jenen organisatorischen Zustand wiederhergestellt, der in grundlegenden Zügen bereits zwischen 1963 und 1966 existierte – und demnach mit der Übergabe der Amtsgeschäfte von Kurellas Kulturkommission an den Leiter der Ideologischen Kommission korrelierte, der in Personalunion als ZK-Sekretär fungierte. Vergleichbares gilt für die kulturpolitische Konzeption und kann Dokumentes, 22. März 1966, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 1049. Ulbricht war laut Protokoll nur bis Punkt 6 anwesend. 79  K. Hager (Anm. 7), S. 269.



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in wesentlichen Punkten auch für die angewandten Mittel wie Methoden des Partei- und Staatsapparates auf kulturellem Gebiet festgestellt werden. Die Kulturkommission entfaltete indes nie mehr eine solche Wirkkraft wie zu Zeiten Kurellas, der es sich nicht nehmen ließ, gegen Honeckers verwirrende Aussagen zur „Tabu“-Frage zu sticheln. Sie hielt sich im Gegensatz zu ihrem Pendant in der Ulbricht-Ära aus operativen Entscheidungen heraus, wohl auch deshalb, weil Hager nur widerstrebend delegierte. Er hätte „am liebsten alles selbst gemacht“80. Und obgleich der ZK-Sekretär anfangs ernste Anstrengungen unternahm, den „Bitterfelder Weg“ zu diskreditieren, hielt das MfK angesichts gravierender Probleme in der zweiten Hälfte der 1980er Jahren eine „Neubelebung der guten Ideen des Bitterfelder Weges“ für erforderlich.81 Mit diesem Akt wurde den beiden früheren SED-Spitzenpolitikern, Kurella und Ulbricht, eine posthume Genugtuung zuteil, die Hager nur schwer akzeptieren konnte, wie die später bis zur Unkenntlichkeit zensierte Passage indiziert.82 Insofern bedarf es dringend einer Korrektur der bisherigen Perzeption von Hager als dem ZK-Sekretär für Kultur.

80  Erika Hinckel, zit. nach: Interview am 2. Juli 1997 in Berlin, in: Joachim Ackermann, Die Kunst- und Kulturpolitik der SED 1961–1989, Berlin 2000, S. 88. 81  MfK, ohne Titel [Die Entwicklung von Literatur und Kunst seit dem X. Parteitag der SED], 1. Fassung, ohne Datum (ca. 1985), in: Privatarchiv von Dr. Dietmar Keller (im Besitz der Verfasserin). 82  In der letzten Version hieß es: „Erforderlich scheint eine Forcierung der besten Erfahrungen praxisorientierter und praxisverbundener künstlerischer Produktion für unsere Zeit“. MfK, Die Entwicklung von Literatur und Kunst seit dem X. Parteitag der SED, letzte Fassung, ohne Datum (ca. 1985), in: Privatarchiv von Dr. Dietmar Keller (im Besitz der Verfasserin).

Mit roten Zahlen in die Krise Die Wirtschaftspolitik unter Ulbricht und Honecker im Vorfeld der Systemkrisen 1953 und 1989 Von Benjamin Page I. Wirtschaftliche Prosperität als Garant für politische Stabilität Die Fibel zur marxistisch-leninistischen Schulung lehrte die Kandidaten der SED über politische Stabilität: „[Sie] ist auf Dauer nur durch soziale Stabilität, durch sozialen Fortschritt erreichbar. Diese wiederum kann nur auf der Basis eines kontinuierlichen und dynamischen Wirtschaftswachstums gesichert werden.“1 Diese Erkenntnis ist zunächst wenig überraschend: Staatliche Misswirtschaft und die daraus resultierende schlechte Versorgungslage der Bevölkerung waren seit jeher Faktoren politischer Instabilität. Als beispielsweise im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts der Brotpreis nur noch vom Hunger der Bürger übertroffen wurde, ließ die Revolution nicht lange auf sich warten.2 Ähnliche Exempel sind in der Historie zahlreich zu finden. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Soziale Wohlfahrt führt zu stabileren politischen Verhältnissen. Eine leistungsfähige Ökonomie ist dafür eine wesentliche Voraussetzung. Dieses Junktims zwischen wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabilität war sich die SED-Führung bewusst. Gleichwohl schien die SED-Wirtschaftspolitik insbesondere zu Beginn der 1950er und Ende der 1980er Jahre nicht in der Lage, eben jenen sozialen Fortschritt ökonomisch zu gewährleisten. War sie damit zugleich verantwortlich für die Systemkrisen 1953 und 1989? Inwieweit unterschied sich die Wirtschaftspolitik der Generalsekretäre Ulbricht und Honecker im Vorfeld der Regimekrisen? Welche zentralen Absichten verfolgten sie mit ihrer Wirtschaftspolitik? Um mögliche Parallelen und Unterschiede der SED-Wirtschaftspolitik zu Beginn der 1950er und am Ende der 1980er Jahre aufzuzeigen, sind zu1  Abt. Propaganda des ZK der SED (Hrsg.), Studienmaterial. Marxistisch-leninistische Schulung der Kandidaten der SED, 4. Aufl., Berlin (Ost) 1989, S. 100. 2  Vgl. Ernst Schulin, Die Französische Revolution, 4. Aufl., München 2004, S. 75.

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nächst die Rahmenbedingungen und die wirtschaftspolitischen Leitlinien sowie ihre praktische Ausgestaltung gegenüberzustellen. Anschließend analysiert der Beitrag die ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse und den Handlungsspielraum der jeweiligen Parteiführung. Schließlich rücken mit den beiden Generalsekretären die zentralen Entscheidungsträger des SEDStaates in den Mittelpunkt der Untersuchung – gemäß der Frage: Ulbricht und Honecker – zwei Generalsekretäre, eine Wirtschaftspolitik? II. Ökonomische Rahmenbedingungen Die SED-Geschichtsschreibung (v)erklärte die unterschiedliche ökonomische Entwicklung der beiden deutschen Staaten mit dem Verweis auf die starken Kriegsschäden auf dem Gebiet der SBZ / DDR. Allerdings verzerrte sie dabei die Realität.3 Der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands (SBZ) verfügte unmittelbar nach dem Krieg und im Vergleich zu den westlichen Besatzungszonen über eine gute ökonomische Ausgangssituation. Die sowjetischen Demontagen machten diesen „Startvorteil“ der SBZ jedoch zunichte. Das ostdeutsche Wirtschaftswachstum in der Nachkriegszeit beruhte in erster Linie auf einem überproportionalen Beschäftigungszuwachs und nicht auf den Gebrauch moderner Technologien.4 Mit der Gründung des sozialistischen deutschen Teilstaats verstummten die sowjetischen Reparationsforderungen nicht. Die SED-Führung war weiterhin an ihre Zahlungsverpflichtungen gebunden und musste zudem für die Besatzungskosten der Roten Armee auf deutschen Boden aufkommen.5 Über die Einhaltung der wirtschaftlichen und politischen Vorgaben aus Moskau wachte die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) in der DDR. Weisungen aus Moskau, vermittelt durch die Behörde, besaßen für die SED-Führung Befehlscharakter.6 Die Erinnerungen von Fritz Schenk, einem ehemaligen SED-Wirtschaftsfunktionär, belegen die herausgehobene Stellung der sowjetischen Behörde: „Bevor eine Angelegenheit dem Politbüro oder dem Ministerrat auch zur Kenntnis gebracht wurde, musste das volle Einverständnis der SKK vorliegen.“7 3  Vgl.

Erich Honecker, Aus meinem Leben, 8. Aufl., Berlin (Ost) 1981, S. 257. Lothar Baar / Rainer Karlsch / Werner Matschke, Kriegsschäden, Demontagen, Reparationen, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“, Bd. II, 2, Baden-Baden 1995, S. 868–988, hier: S. 912 f. 5  Vgl. ebd., S. 933. 6  Vgl. Elke Scherstjanoi, Einleitung. Die Sowjetische Kontrollkommission in Deutschland (1949–1953), in: Institut für Zeitgeschichte (Hrsg.), Das SKK-Statut. Zur Geschichte der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland 1949 bis 1953, München 1998, S. 1–106, hier: S. 15 f. 7  Fritz Schenk, Im Vorzimmer der Diktatur. 12 Jahre Pankow, Köln 1962, S. 138. 4  Vgl.



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Der sowjetische Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung der DDR war zu diesem Zeitpunkt dominant. Der Westen hingegen war in seinen Einflussmöglichkeiten stark beschnitten. Das Ansinnen, den deutsch-deutschen Handel zum beiderseitigen Vorteil zu betreiben, fand unter den Umständen der Blockbildung wenig Berücksichtigung. Unter der Ägide Honeckers war die Staats- und Parteiführung nach wie vor fest im sowjetischen Block verankert, gleichwohl hatte sich das Verhältnis zwischen Moskau und Ostberlin gewandelt. Reparationsverpflichtungen gehörten ebenso der Vergangenheit an wie die sowjetischen Statthalter in Karlshorst. Die DDR galt mittlerweile als Vorzeigeland des sowjetischen Blocks. Im Ranking der ökonomisch leistungsfähigsten Staaten des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) rangierte sie direkt hinter der UdSSR. Kein anderer Ostblockstaat bot seinen Bürgern ein höheres Lebensniveau.8 Trotz der Abriegelung des „Arbeiter- und Bauernstaates“ gen Westen folgte auf die Unterzeichnung des Grundlagenvertrags mit der Bundesrepublik im Jahre 1973 die Aufnahme in die Vereinten Nationen. Damit war der lange Weg der DDR zur internationalen Anerkennung beschritten. Die Entwicklung erleichterte es Ostberlin, Kredite im nicht-sozialistischen Ausland aufzunehmen. Abgesehen von den Obliegenheiten gegenüber dem RGW und insbesondere gegenüber der Sowjetunion besaß das Politbüro in ökonomischen Fragen weitreichende Kompetenzen. Der Unterschied ist offenkundig: Sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht überwog die wirtschaftspolitische Steuerungshoheit der späten 1980er Jahre jene der 1950er Jahre. III. Die wirtschaftspolitischen Programme der SED Auf der II. Parteikonferenz im Juli 1952 verkündete Ulbricht offiziell und in Absprache mit dem Kreml den Aufbau des Sozialismus in der DDR, den die SED seit Kriegsende forcierte. Im Mittelpunkt der geplanten ökonomischen Anstrengungen stand die militärische Bewaffnung des „friedliebenden Staates“, einerseits um die sozialistischen Errungenschaften zu schützen, andererseits als Reaktion auf den Koreakrieg und die Bemühungen des Westens zur Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). In seinem Grundsatzreferat verkündete der Generalsekretär die Beseitigung von Engpässen in allen Wirtschaftssektoren, die sowohl für den Rüstungskomplex als auch zur Einhaltung der ökonomischen Verpflichtungen gegenüber der Sowjetunion substanziell waren. Geologische Erkundungsarbeiten sollten die Rohstoffimportabhängigkeit mildern. Die 8  Vgl.

Günther Heydemann, Die Innenpolitik der DDR, München 2003, S. 25.

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„Mehrung des sozialistischen Eigentums“9, die Gewährleistung einer stabilen Energieversorgung sowie die „Steigerung der Arbeitsproduktivität“10 waren Anstrengungen, um den Wirkungsgrad der ostdeutschen Ökonomie zu erhöhen. Wer daraus den Rückschluss zieht, Ulbricht kündigte damit im Sommer 1952 ein umfangreiches Investitionsprogramm an, der irrt. Ein strenges „Sparsamkeitsregime in allen Zweigen der Volkswirtschaft“11 flankierte die Beschlüsse der Parteikonferenz. Die festgelegte wirtschaftspolitische Generallinie zielte auf Effizienz, die Konsumgüterversorgung der Bevölkerung war ihr untergeordnet. Wer von den Ausgaben für den Militär- und Sicherheitskomplex absieht, stellt fest: 19 Jahre später kehrte Generalsekretär Honecker die Prioritätenfolge seines Vorgängers um. Dem bloßen Versprechen auf eine blühende Zukunft sollten nun Taten folgen. So lautete die Direktive des VIII. Parteitags: „Das materielle und kulturelle Lebensniveau der Bevölkerung durch das Wachsen der Produktion, der Arbeitsproduktivität und der Effektivität weiter kontinuierlich zu erhöhen“12. Unter der programmatischen Zielsetzung der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ verbargen sich eine Steigerung der Realeinkommen, der Renten, der Konsumgüterproduktion, des Wohnungsbaus, bei stabilen Mieten und Verbraucherpreisen sowie der Ausbau des Dienstleistungsbereichs, des Bildungswesens, der Kindergärten und des Gesundheitswesens. Dabei ging die SED-Führung von dem Prinzip einer Wechselwirkung aus, die sowohl für die Wirtschaft als auch für den sozialen Bereich wachstumsfördernd sein sollte. Dem lag die Erwartung zugrunde, soziale Vorleistungen führten automatisch zu einem größeren Leistungswillen der Beschäftigten, was wiederum eine florierende Wirtschaft nach sich ziehen sollte.13 Für Honecker war dieses Konzept mehr als nur eine wirtschaftliche Ausrichtung, es war seiner Überzeugung nach der Garant für politische Stabilität: „Wir sind dabei davon ausgegangen: wenn wir in Bezug auf Lebensstandard nichts bringen, werden wir nicht die Unterstützung der Bevölkerung haben, um die Arbeitsproduktivität zu erhöhen“14. 9  Walter Ulbricht, Die gegenwärtige Lage und die neuen Aufgaben der SED (Mittwoch 9. Juli), in: Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 9. bis 12. Juli 1952 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, Berlin (Ost) 1952, S. 20–122, hier: S. 60. 10  Ebd., S. 102. 11  Ebd. 12  Direktive des VIII. Parteitages der SED zum Fünfjahrplan für die Entwicklung der Volkswirtschaft der DDR 1971 bis 1975, in: Berliner Zeitung (BZ) vom 23. Juni 1971, S. 3. 13  Vgl. Günter Mittag, Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin 1991, S. 239. 14  Reinhold Andert / Wolfgang Herzberg, Der Sturz: Erich Honecker im Kreuzverhör, 2. Aufl., Berlin 1991, S. 70.



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IV. Umsetzung und Folgen der wirtschaftspolitischen Beschlüsse Sowohl die Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik unter Ulbricht im Sommer 1952 als auch unter Honecker nach dem VIII. Parteitag 1971 zeugten von einer augenfälligen Gemeinsamkeit: der Begrenzung des privaten Sektors der Volkswirtschaft. Unter der Parole „Mehrung des sozialistischen Eigentums“15 verringerte die SED von 1952 auf 1953 den Anteil der privaten Betriebe am gesellschaftlichen Gesamtprodukt der DDR um sechs Prozentpunkte.16 Im selben Zeitraum schrumpfte die Zahl der Beschäftigten im privaten Sektor um fünf Prozentpunkte auf 42 Prozent.17 Obwohl diese Veränderung mit propagandistischem Getöse einherging, fiel sie im Gegensatz zu Honeckers Feldzug gegen die private Wirtschaft moderat aus. In nur drei Jahren unter der Führung des gebürtigen Saarländers war die Zahl der Privatbeschäftigten halbiert. Ihr Anteil am Nettoprodukt des Staates marginalisierte sich in kürzester Zeit – seit den 1980er Jahren fristete er mit knapp über vier Prozent ein Randdasein.18 Die Entscheidungen beruhten auf den Annahmen, der Rückgang des kapitalistischen Sektors bedeute ein Wachstum des sozialistischen bei gleichzeitig höherem Warenumsatz sowie größerer Planungssicherheit durch die zunehmende Zentralisierung. Dies erwies sich im Vorfeld beider Krisen als eine Fehleinschätzung. Die Verwirklichung der Parteikonferenzbeschlüsse bürdete den Ostdeutschen zu Beginn der 1950er Jahre große Lasten auf – in Form von finanziellen wie sozialen Einbußen. Wirtschaftliche Erfolgsmeldungen blieben indes aus. Weder die Schwerindustrie, das Hüttenwesen, die Elektrizitätsversorgung noch die Produktivität der Volkswirtschaft entwickelten sich wie vorgesehen.19 Der Ausbau der Kasernierten Volkspolizei zu einer Armee verursachte 1953 mit 200 Milliarden DM sechsmal mehr Kosten als zu Beginn des Jahres für den Posten veranschlagt wurde.20 Nach wie vor war 15  W. Ulbricht

(Anm. 9), S. 60. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik 1955, Berlin (Ost) 1956, S. 90. 17  Vgl. ebd., S. 105. 18  Vgl. Statistisches Amt der DDR (Hrsg.), Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik ’90, Berlin (Ost) 1990, S. 105. 19  Vgl. Denkschrift des Leiters der 3. Europa-Abteilung des Außenministeriums der UdSSR an den Außenminister der UdSSR zu den Lehren aus dem Prozeß gegen die Bande R. Slanskys für die DDR. 2. Januar 1953, in: Jan Foitzik (Hrsg.), Sowjetische Interessenpolitik in Deutschland 1944–1954. Dokumente, München 2012, S. 593–596, hier: S. 593 f. 20  Vgl. Elke Scherstjanoi, Wirtschaftspolitische Fehlentscheidungen im Vorfeld der Krise. Betrachtungen zur ostdeutsch-sowjetischen Herrschaftskooperation, in: Hendrik Bispinck u. a. (Hrsg.), Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004, S. 45–73, hier: S. 47. 16  Vgl.

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die DDR gezwungen, den Reparationsverpflichtungen gegenüber der UdSSR Folge zu leisten sowie die Besatzungskosten der Roten Armee in Deutschland aufzubringen. Auf diese Leistungen wollte der Kreml (noch) nicht verzichten. Die Sowjets kritisierten die „überplanmäßige Erhöhung des Lohnfonds“21, die ihrer Meinung nach die Zunahme der Kaufkraft der Bevölkerung fördere und auf diese Weise zu einer Verknappung des Warenangebots führe. Dem vermeintlichem Problem der überhöhten Kaufkraft entgegneten die Verantwortlichen mit erhöhten Verbraucherpreisen und reduzierten Subventionen.22 Obwohl der Generalsekretär an der Sozialverträglichkeit der sowjetischen „Vorschläge“ zweifelte, bestätigte sein Politbüro ein 33 Punkte umfassendes Sparprogramm. Die Sofortmaßnahmen beinhalteten u. a. die Abschaffung der Fahrpreisermäßigungen bei Bussen und Bahnen, der Vergünstigungen für Theater- und Kinobesuche, eine indirekte Erhöhung der Branntwein- und der Biersteuer sowie des Streichen jedweder Steuervergünstigung für Selbstständige. Ferner kam es zu Einsparungen im Sozialversicherungssystem. Die Kürzungen betrafen die Invalidenrente, die staatlichen Zuschüsse für Arzneimittel und Arzthonorare sowie die Sozialfürsorgeunterstützung.23 Dabei wurden die Einsparungen in einer Zeit durchgesetzt, in der die Bevölkerung unter dem Mangel an alltäglichen Gütern litt. Die DDR war seit Herbst 1952 auf sowjetische Lebensmittellieferungen angewiesen. In den ersten Monaten des Jahres 1953 fehlte es an Butter, Margarine, Gemüse, Fleisch und Zucker.24 Die am 2. Februar 1953 vom Politbüro ausgegebene „Verordnung zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und der Versorgung der Bevölkerung“25 sollte den Mangel beseitigen. Sie verschärfte die Krise jedoch zusehends. Die Parteiführung beschloss die Enteignung landwirtschaftlicher Güter, sobald die Besitzer gegen die Gesetze der DDR verstießen und die Bestimmungen über die ordnungsgemäße Bewirtschaftung grob verletzten.26 Diese Entscheidung führte nicht zu einem Anstieg der landwirtschaftlichen Produktion, sondern zur Flucht vieler Bauern in den Westen sowie 21  Aufzeichnung eines Gesprächs führender Vertreter der SKK mit der Führung der SED. 9. Januar 1953, in: J.  Foitzik (Anm. 19), S. 597–605, hier: S. 599. 22  Vgl. ebd. 23  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  4 / 53. Anlage Nr.  3: Sparprogramm, 20. Januar 1953, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 258. 24  Vgl. André Steiner, Von Plan zu Plan. Eine Wirtschaftsgeschichte der DDR, Bonn 2007, S. 76. 25  Politbüro, Protokoll Nr.  6 / 53. TOP 7: Verordnung zu Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und der Versorgung der Bevölkerung, 3. Februar 1953, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 260. 26  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.  6 / 53. Anlage Nr.  6: Verordnung zur Sicherung der landwirtschaftlichen Produktion und der Versorgung der Bevölkerung, 3. Februar 1953, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 260.



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zum Verwaisen ihrer Höfe. Nach sowjetischen Angaben flüchteten in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 mehr als 7500 ostdeutsche Bauern in die Bundesrepublik. In den zwölf Monaten des vorangegangenen Jahres waren es gerade einmal 4022 Bauern.27 Die Parteiführung war sich der Unzufriedenheit auf dem Lande bewusst. Als alarmierend bewerteten sie die Entwicklung nicht.28 Eine außerordentliche Sitzung des SED-Führungsgremiums Ende März 1953 widmete sich den „Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit den wichtigsten Nahrungsmitteln“29. Die DDR-Bürger mussten bald erkennen, die dort gefällten Entscheidungen trugen nicht zur Verbesserung ihrer Lage bei. Im Gegenteil: Der Wegfall der Rationierung bestimmter Waren durch Lebensmittelkarten verursachte in erster Linie höhere Lebenshaltungskosten. Die Bevölkerung sah sich auf diesem Wege mit enormen Preiserhöhungen konfrontiert. Ein Großteil der 3,6 Millionen Beschäftigten im privaten Sektor30 musste ab dem 1. Mai 1953 um seine Lebensmittelkarten fürchten. Wen die Partei von der Lebensmittelkartenvergabe ausschloss, hatte überdies mit zusätzlichen Kosten zu rechnen. Nachdem die Regimeeliten die Ausgaben der Bürger in die Höhe getrieben hatten, machten sie sich daran, die Einnahmen der Arbeiter zu reduzieren. Ganz im Sinne der sowjetischen Vorschläge zur Abschöpfung des zu hohen Geldumlaufs. Mitte April 1953 beschloss das Politbüro die „Erhöhung der Arbeitsproduktivität“31. Am 28. Mai 1953 hatten alle Institutionen die Entscheidung des Politbüros abgenickt. Es galt nun, „bis zum 30. Juni 1953 zunächst eine Erhöhung der für die Produktion entscheidenden Arbeitsnormen im Durchschnitt um mindestens zehn Prozent sicherzustellen.“32 Die 27  Über die Ereignisse in Deutschland im Juni 1953 (Gerichtet an Gen. Berija 1.  Juni 1953), in: Klaus-Dieter Müller / Joachim Scherrieble / Mike Schmeitzner (Hrsg.), Der 17. Juni 1953 im Spiegel sowjetischer Geheimdienstdokumente. 33 geheime Berichte des Bevollmächtigten des Innenministeriums der Sowjetunion in Deutschland vom 31. Mai bis zum 18. Juli 1953 über die Ereignisse in der DDR, Leipzig 2008, S. 19–32, hier: S. 29. 28  Vgl. Politbüro, Protokoll Nr.13 / 53. Anlage Nr.  6: Gesetz über die Entschuldung der Klein- und Mitttelbauern beim Eintritt in landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, 17. März 1953, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 270. 29  Politbüro, Protokoll Nr.  18 / 53. TOP 1: Maßnahmen zur Sicherung der Versorgung der Bevölkerung mit den wichtigsten Nahrungsmitteln, 26. März 1953, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 272. 30  Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik (Anm. 16), S. 90. 31  Politbüro, Protokoll Nr.  26 / 53. TOP 2: Vorbereitung der 13. Tagung des Zentralkomitees, 12. Mai 1953, in: SAPMO-BArch, DY 30 / J IV 2 / 2 / 280. 32  Erhöhung der Arbeitsnormen ein bedeutsamer Schritt auf dem Wege zur Steigerung der Arbeitsproduktivität, Kommuniqué über die Sitzung des Ministerrats am 28. Mai 1953, in: Neues Deutschland (ND) vom 29. Mai 1953, S. 1.

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Maßnahmen bewarb die Partei als einen bedeutsamen Schritt auf dem Weg zur „maximale(n) Befriedigung der materiellen und kulturellen Bedürfnisse“33 ihrer Bürger. Für die Werktätigen bedeutete dies ein höheres Arbeitspensum bei gleicher Entlohnung. Ein ausreichender „Leistungsgrundlohn“34 war nicht vorgesehen. Die sozialen Einschnitte in Kombination mit der unzureichenden Versorgungslage der Bürger führten zu einer Ausreisewelle von DDR-Bürgern, die nicht einmal während des Juni-Aufstandes oder unmittelbar danach übertroffen wurde. Alarmiert durch die hohen Flüchtlingszahlen im Frühjahr 1953, zwangen die Sowjets dem deutschen Politbüro ihr moderates politisches Konzept des „Neuen Kurses“ auf. Dies entsprach einer Kehrtwende um 180 Grad, die vor allem den privaten Sektor entlastete und die Streichungen der staatlichen Leistungen im sozialen Bereich revidierte. Der Entschluss der Arbeitsnormerhöhung blieb unangetastet. Dem von Moskau aufgezwungenen Kurs folgte ein Schuldeingeständnis der politischen Führung: „Der Ministerrat hat in seiner Sitzung vom 11. Juni 1953 eine Anzahl von Maßnahmen beschlossen, durch welche die auf den verschiedensten Gebieten begangenen Fehler der Regierung und der staatlichen Verwaltungsorgane korrigiert werden.“35 Das vermochte den Juni-Aufstand nicht mehr zu verhindern. Die Umsetzung der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ zeugt von einer nahezu spiegelbildlichen Entwicklung, wo Ulbricht einsparte, investierte Honecker. Der abrupte Wechsel in der Wirtschaftspolitik wirkte sich zunächst positiv auf die Entwicklung der DDR in den 1970er Jahren aus. Das Wohnungsbauprogramm versprach eine zügige Antwort auf die Wohnungsknappheit zu liefern. Die Mieten blieben dabei auf einem niedrigen Niveau und betrugen im Schnitt nie mehr als 2,6 Prozent eines durchschnittlichen monatlichen Haushaltseinkommens.36 Im Jahre 1989 lagen diese Ausgaben für einen Arbeiterhaushalt zwischen 38 und maximal 52 Mark.37 Die Waren des täglichen Bedarfs wurden staatlich subventioniert. Obgleich das Lohnniveau in der DDR stetig anstieg, galt dies nicht für die Preise der Grundnahrungsmittel. Der Anteil der für die Subventionen zur Preisstützung nötigen Mittel wuchs von Plan zu Plan. Im Wirtschaftszeitraum 1986 bis 1989 mussten für diesen Posten mehr als 20 Prozent der Staatseinnahmen aufgebracht werden.38 33  Ebd.

34  Vgl. Roman Chwalek, Richtlinien zur Ausarbeitung und Einführung technisch begründeter Arbeitsnormen, in: Neue Zeit (NZ) vom 17. Mai 1952, S. 2. 35  Kommuniqué über die Sitzung des Ministerrats der DDR vom 11. Juni 1953, in: Neues Deutschland (ND) vom 12. Juni 1953, S. 1. 36  Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.), Statistische Übersichten zur Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 – Bd. SBZ / DDR, Bonn 2006, S. 284. 37  Vgl. ebd., S. 319.



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Die positive Entwicklung blieb dem Westen nicht verborgen. Der DDRkritische SPIEGEL berichtete anlässlich des 25. Jahrestags der DDR-Gründung über diese Geschehnisse: „Der Spott über propagandistische Siegesmeldungen ist geblieben, aber das Selbstmitleid hat sich zunehmend in Selbstbewusstsein gewandelt.“39 Die „Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik“ schmälerte den Produktivitätsrückstand zur Bundesrepublik indes nur minimal.40 Die Aufbruchstimmung war bald verflogen. Wer die DDR in jener Zeit als „Konsumsozialismus“41 beschreibt, verkennt die Realität. Die SED-Führung gewährleistete den Konsum der Bevölkerung vor allem mit Waren des Grundbedarfs. Das Angebot in Exquisit- oder Delikatläden war nicht subventioniert und dementsprechend teuer. Höherwertige technische Gerätschaften waren stets Mangelware. Käufer eines „Trabants“ oder „Wartburgs“ mussten 1987 mindestens zwölf bzw. 14 Jahre auf ihr Auto warten.42 38

Im Vergleich zu der Situation in den Jahren 1952 / 53 herrschten in der DDR unter Honecker dennoch paradiesische Zustände. Hunger musste keine Bevölkerungsgruppe leiden. Langfristig wuchsen die Ansprüche der Bevölkerung über das Angebot der Grundversorgung hinaus. Der Vergleichsmaßstab der DDR-Bürger richtete sich nicht am sozialistischen Ausland aus, dem sie im Lebensstandard ein gutes Stück voraus waren, sondern an der Bundesrepublik. Mitte der 1970er war es offensichtlich, der erwünschte Nebeneffekt der Sozialpolitik kam nicht zum Tragen. Die Politik der Anhebung des Lebensniveaus überforderte die Staatskasse in immer höherem Maße. Die Verschuldung im In- und Ausland war ein unmittelbares Produkt von Honeckers Politik. War die DDR am Ende der Ulbricht-Ära nahezu schuldenfrei, erreichte ihre Auslandsverschuldung unter Honecker nie gekannte Dimensionen.43 Nach dem Sturz des ersten Generalsekretärs stieg sie auf zwei Milliarden Valuta-Mark, bis 1980 verzehnfachte sich die Schulden38  Bundestagsdrucksache

13 / 11000, 10. Juni 1998, S. 70. 25 Jahren: Die größte DDR der Welt. Spiegel-Report über die Planwirtschaft der Deutschen Demokratischen Republik, in: Der Spiegel, 27 (1974) 41, S. 38–57, hier: S. 41. 40  Vgl. Alexandra Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows. Der Versuch der Parteiführung, das SED-Regime durch konservatives Systemmanagement zu stabilisieren, Baden-Baden 2004, S. 48 f. 41  Vgl. Andreas Malycha, Die SED in der Ära Honecker: Machtstrukturen, Entscheidungsmechanismen und Konfliktfelder in der Staatspartei 1971 bis 1989, München 2014, S. 177 f. 42  Vgl. W48: Wartezeit für einen PKW 31. Dezember 1987, in: Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten: Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, 2. Aufl., Berlin 1998, S. 140. 43  Vgl. Beate Ihme-Tuchel, Die DDR, Darmstadt 2002, S. 87. 39  Nach

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last und erreichte mit 49 Milliarden 1989 ihren Höchststand.44 Die Verbindlichkeiten gegenüber der DDR-Staatsbank und den ihr unterstellten Kreditinstituten entwickelten sich ähnlich. Ausgehend von zwölf Milliarden OstMark Inlandsverschuldung im Jahre 1970 war 1989 das 15-fache dieser Summe an Schulden angehäuft.45 Die SED-Führung passte die zahlreichen sozialen Wohltaten nicht der ökonomischen Leistungsfähigkeit des Systems an. Hinzu kam in den 1980er Jahren eine fehlgeleitete Investitionspolitik, die zugunsten des Wohnungsbaus und der Mikroelektronik andere Branchen vernachlässigte. Die zunehmende Exportschwäche der DDR-Wirtschaft, aufgrund einer veralteten Produktpalette sowie einer für die DDR ungünstigen Preisbildung im RGW-Handel, schränkte den Zugang zu günstigen Rohstoffen ein. Diese Faktoren im Zusammenspiel mit einem Rückgang sowjetischer Erdöllieferungen brachte die DDR in den 1980er Jahren an den Rand des Bankrotts. V. Ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse und Handlungsspielräume Ulbricht konnte nur auf die finanzielle Unterstützung des Kremls hoffen oder zumindest auf ein Entgegenkommen bei Reparationsverpflichtungen. Die Entwicklungen im Vorfeld der Juni-Krise 1953 erwecken den Anschein, die unnachgiebige Umsetzung der Beschlüsse der II. Parteikonferenz sei alleinig dem Politbüro zuzuschreiben, während der Kreml mit dem „Neuen Kurs“ in letzter Minute versuchte, die aufgebrachten DDR-Bürger zu beschwichtigen. Dem war nicht so. Moskau drängte auf die Verabschiedung des Sparprogramms sowie auf Maßnahmen zur Erhöhung der Produktivität. Obwohl Ulbricht sich zu Beginn des Jahres 1953 mit den Worten „weitere Kürzungen können wir hier nicht vornehmen, denn das ruft bei den Arbeitern Unzufriedenheit hervor“46 gegen den sowjetischen „Vorschlag“ aussprach, die Fahrpreisermäßigungen abzuschaffen, blieb sein Einwand unberücksichtigt. Nur elf Tage später verabschiedete das Politbüro einstimmig ein umfangreiches Sparprogramm, das unter anderem die Fahrpreisermäßigungen zurücknahm und breite Teile der Bevölkerung vor große finanzielle Herausforderungen stellte. Diese Episode der deutsch-sowjetischen „Beratungen“ in Karlshorst belegt, Ulbricht war in erster Linie Moskau verbunden. Die Belange der Bürger waren denen der Sowjetunion untergeordnet. 44  Vgl. Charles Maier, Vom Plan zur Pleite. Der Zerfall des Sozialismus in Deutschland, in: Jürgen Kocka / Martin Sabrow (Hrsg.), Die DDR als Geschichte. Fragen – Hypothesen – Perspektiven, Berlin 1994, S. 108–115, hier: S. 110. 45  Bundestagsdrucksache (Anm. 38), S. 70. 46  Aufzeichnung eines Gesprächs führender Vertreter der SKK mit der Führung der SED. 9. Januar 1953, in: J. Foitzik (Anm. 19), S. 603.



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Als Stalins Nachfolger in Moskau unter dem Eindruck des zunehmenden Flüchtlingsstroms im Mai 1953 die „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der DDR“, später bekannt als „Neuer Kurs“, konzipierten, war weder der SED-Generalsekretär noch ein anderes deutsches Politbüromitglied involviert. Dies offenbart den begrenzten Entscheidungsspielraum der SED-Führung. Honeckers Ausgangsbedingungen 19 Jahre später waren hingegen vielversprechend und nicht mit der Situation der DDR zu Beginn der 1950er Jahre zu vergleichen. Die internationale Anerkennung sowie der ökonomische Erfolg der frühen 1970er Jahre verliehen Honecker Selbstbewusstsein und vergrößerten den finanziellen Handlungsspielraum der DDR. Er konnte nun Kreditquellen des „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet“ (NSW) zur Finanzierung seiner Wirtschaftspolitik heranziehen. Das Exportvolumen vervielfachte sich bis 1988 im Vergleich zu 1953 um das 33-fache.47 Wenn es um die Belange der DDR ging, trat er gegenüber Breschnew sowie seinen Nachfolgern Andropow und Tschernenko stets fordernd auf. Den letzten Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow behandelte er bisweilen mit dem Habitus eines Oberlehrers und voller Überzeugung, der „Sozialismus in den Farben der DDR“ sei dem sowjetischen Modell von Glasnost und Perestroika überlegen. Ein Verhalten, welches den SED-Generalsekretär in den 1950er Jahren mindestens das Amt gekostet hätte. Doch Honecker verkannte die Realität, wenn er wie ein Mantra wiederholte: „Unsere Republik gehört heute zu den zehn leistungsfähigsten Industrienationen der Welt, zu den knapp zwei Dutzend Ländern mit dem höchsten Lebensstandard.“48 Die Wirtschaftskraft fußte größtenteils auf dem Rohstoffhandel und dem Export von Maschinenbauerzeugnissen. Solange die Preisbildung des RGW günstigere Rohstoffpreise erzeugte als der Weltmarkt, war das ein einträgliches Geschäft. Dies gilt insbesondere für Rohöl. Damit war die DDR einerseits abhängig vom den sowjetischen Lieferungen, andererseits von der Entwicklung des Weltmarktpreises. Die Rohstoffpreise des RGW beflügelten im Zusammenspiel mit den beiden Ölkrisen in den 1970er Jahren den Außenhandel der DDR. Die Verzögerung bei der Preisbildung für Öl im sozia­ listischen Wirtschaftsraum ermöglichte der DDR, den begehrten Rohstoff unterhalb des Weltmarktpreises in der UdSSR einzukaufen und mit Gewinn in den Westen abzusetzen. In den 1980er Jahren verkehrte sich dieser Preismechanismus zum Nachteil, da der Preis für Öl sank und die Sowjetunion im gleichen Zuge ihre Öllieferungen von 19 auf 17 Millionen Tonnen reduzierte. Zudem schien 47  Vgl.

Statistisches Amt der DDR (Anm. 18), S. 32. Honecker, Festansprachen zum 40. Jahrestag der DDR, in: Neues Deutschland (ND) vom 9. Oktober 1989, S. 3. 48  Erich

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der Zugang zu weiteren ausländischen Krediten gefährdet. Als Polen und Rumänien ihre Zahlungsunfähigkeit erklärten, führte dies zum Kreditstopp westlicher Gläubiger gegenüber der DDR.49 Erst zwei vom bayerischen Ministerpräsident Franz Josef Strauß vermittelte Milliardenkredite in den Jahren 1983 und 1984 stellten die finanzielle Vertrauenswürdigkeit der DDR wieder her.50 Somit tat sich neben der Rohstoffabhängigkeit des devisenträchtigen Exportgeschäftes ein weiteres Abhängigkeitsverhältnis auf. Nicht nur in der Funktion als Bürge war der Westen zur wichtigsten Devisenquelle des SED-Regimes aufgestiegen, sondern auch als Handelspartner. Der Exportanteil des NSW verdoppelte sich zwischen 1952 und 1988. Ende der 1980er Jahre erreichte er 46 Prozent und übertraf damit erstmals die RGWStaaten hinsichtlich des Ausfuhrvolumens. Bei den Importen zeichnet sich ein ähnliches Bild ab.51 Diese Entwicklung belegt den Handlungsspielraum, über den die SED-Führung in Wirtschaftsfragen unter Honecker verfügte. War der erste Generalsekretär im Vorfeld der Krise 1953 ein „willfähriger Handlanger“ des Kremls, oblagen seinem Nachfolger weitreichende Kompetenzen bei der ökonomischen Gestaltung des Landes. Er geriet jedoch in andere Abhängigkeitsverhältnisse: Neben der nach wie vor bestehenden wirtschaftlichen Dependenz von der Sowjetunion sowie der Preisentwicklung für Rohstoffe im RGW und auf dem Weltmarkt gesellte sich 1978 die Abhängigkeit vom internationalen Finanzsystem hinzu, seitdem die DDR fällige Kredite und Zinsen durch die Aufnahme neuer Kredite finanzieren musste.52 Letztgenanntes veranlasste die Parteiführung, große Anstrengungen zur Devisenakquise zu unternehmen, wodurch einerseits die Handelsbeziehungen zum Westen intensiviert wurden, andererseits auch dubiose Geldbeschaffungsmaßnahmen aufblühten, wie bspw. der Verkauf von Häftlingen sowie enteigneter Antiquitäten und Kunstgegenständen oder der Handel mit Waffen und Blutkonserven.53 VI. Von Ulbrichts „Sparsamkeitsregime“ zu Honeckers „Fürsorgediktatur“ Wer annimmt, die DDR wäre zu Beginn der 1950er Jahre abhängig von der Sowjetunion gewesen, erfasst nicht annähernd den tatsächlichen Einfluss 49  Vgl.

A. Steiner (Anm. 30), S. 198. Andreas Malycha / Peter Jochen Winters, Die SED. Geschichte einer deutschen Partei, München 2009, S. 261. 51  Vgl. Statistisches Amt der DDR (Anm. 18), S. 33. 52  Vgl. Hans-Hermann Hertle, Die DDR an die Sowjetunion verkaufen? StasiAnalysen zum ökonomischen Niedergang der DDR, in: Deutschland Archiv (DA), 42 (2009) 3, S. 476–495, hier: S. 476. 53  Vgl. G. Heydemann (Anm. 8), S. 32. 50  Vgl.



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Moskaus. Die DDR stand nicht weniger als unter der direkten Vormundschaft des Kremls. Jede politische Entscheidung bedurfte der Zustimmung der Sowjets. Die SED-Führung widersetzte sich dieser Entwicklung nicht. Die Integration der DDR-Ökonomie in das sowjetische System durch die Intensivierung der Handelsbeziehungen mit der UdSSR und des RGW versprach den langfristigen Erhalt des SED-Regimes. Das war nicht nur das vorrangige Ziel Ulbrichts, sondern auch das von Honecker. Er erachtete wiederum die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ als wesentlichen Stabilitätsfaktor der DDR. Honecker war sich dieser Säule der SED-Herrschaft bewusst und versuchte sie mit großen Anstrengungen aufrechtzuhalten. Seine Periode als Generalsekretär war einerseits geprägt von sozialen Wohltaten, andererseits vom massiven Ausbau des staatlichen Repressionsapparats, der zweiten tragenden Säule des Regimes. Unter der Ägide Honeckers entstand einer der größten Inlandsgeheimdienste der Welt.54 Nach seiner Auffassung würden Einsparungen bei der Preisstützung oder bei dem Sicherheitsapparat zwangsläufig das Fundament der SED-Herrschaft gefährden. Bemerkenswert sind die Rückschlüsse, die beide Generalsekretäre aus der ersten Krise zogen. Für Honecker war der 17. Juni ein einschneidendes Erlebnis, welches seine Politik prägen sollte. Die „Sozialpolitik“ war nicht die einzige Lehre, die er aus dem Krisenjahr 1953 zog. Für ihn war der „Neue Kurs“ – die Rücknahme der einschneidenden Sparmaßnahmen in Kombina­ tion mit dem Eingeständnis der Partei, Fehler begangen zu haben – ebenfalls ein destabilisierender Faktor im Vorfeld des Juni-Aufstandes. Diese Erfahrung begründet seine ablehnende Haltung hinsichtlich jedweder politischen Reform. Sie waren für ihn nicht weniger als Schuldeingeständnisse. Die Partei war die führende Kraft bei der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, sie durfte nicht irren. Aus diesem Grund musste Honecker die sowjetische Politik von Glasnost und Perestroika boykottieren. Ein zweiter „Neuer Kurs“ konnte aus seiner Sicht ausschließlich in den Untergang führen. Das erklärt auch seine ablehnende Haltung gegenüber Gerhard Schürer, der ihm als Chef der Planungskommission und Kandidat des Politbüros in der bereits äußerst angespannten finanziellen Lage der DDR im Jahre 1988 den Vorschlag unterbreitete, die Subventionen für manche Güter sowie die Ausgaben für den Sicherheitsapparat zurückzufahren bzw. nicht weiter zu erhöhen.55 In einem Politbüro-Gutachten über die Vorschläge von Schürer heißt es: „Diesen Überlegungen des Genossen Schü54  Vgl. Jens Gieseke, Die hauptamtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit: Personalstruktur und Lebenswelt 1950–1989 / 90, Berlin 2000, S. 550. 55  Vgl. Gerhard Schürer, Überlegungen zur weiteren Arbeit am Volkswirtschaftsplan 1989 und darüber hinaus, Berlin, 26 April 1988, in: Hans-Hermann Hertle, Vor dem Bankrott der DDR, Berlin 1991, S. XXXIV–XLVI, hier: S. XL.

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rer zu folgen würde bedeuten, in einem umfassenden Maße Beschlüsse des VIII. Parteitages und des XI. Parteitags der SED in Frage zu stellen und somit die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“56. In der Lesart von Honecker rüttelte eine Revision seiner Sozialpolitik an den Pfeilern der SED-Herrschaft. Ulbricht hingegen war weitaus weniger von den Ereignissen des 17. Juni geprägt. Moderate ökonomische Reformen lehnte er nicht ab, wie sein letztes großes Wirtschaftsprojekt belegte. Im Rahmen der ab 1963 initiierter Reformperiode des „Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung“ (NÖSPL) versuchte die SED, die für das sozialistische Wirtschaftsmodell charakteristische Mengenplanung zu überwinden, um den wirtschaftlichen Rückstand zu den westlichen Industriestaaten zu verringern.57 Die größere ökonomische und rechtliche Selbstständigkeit der Industriebetriebe sollte eine wertorientierte Steuerung der volkswirtschaftlichen Produktionsprozesse ermöglichen. Von Honecker und der Mehrzahl der Politbüromitglieder wurde Ulbrichts Wirtschaftspolitik stets mit Misstrauen betrachtet. Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass das NÖSPL von vielen Wirtschaftsfunktionären und Ingenieuren durchaus positiv bewertet wurde.58 Unmittelbar nach dem Sturz Ulbrichts als Generalsekretär beendete Honecker dessen Dezentralisierungsbemühungen. Seiner Überzeugung nach verursachte die Abkehr vom demokratischen Zentralismus ein „Durcheinander“59 in der Volkswirtschaft. Von nun an war die Wirtschaftspolitik respektive die „Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik“ sakrosankt. Die volkswirtschaftlichen Leistungsbilanzen der DDR waren nur noch einem kleinen Kreis hochrangiger Funktionäre bekannt und glichen Staatsgeheimnissen. VII. Zwei Generalsekretäre auf unterschiedlichen Wegen in die Krise Die Versorgungsdefizite Ende 1952 und zu Beginn 1953 sind nicht mit denen der zweiten Hälfte der 1980er Jahre gleichzusetzen. Wer die ökono56  Günter Mittag, Vorlage für das Politbüro des ZK der SED. Betr.: Zur Prüfung des Materials des Vorsitzenden der Staatlichen Planungskommission, Genossen Gerhard Schürer: Überlegungen zur weiteren Arbeit am Volkswirtschaftsplan 1989 und darüber hinaus, Berlin 4. Mai 1988, in: ebd., S. I–XXXIII, hier: S. III. 57  Vgl. Siegfried Kupper, Zentralgelenkter sektoraler und regionaler Strukturwandel in der DDR-Planwirtschaft, in: Eberhard Kuhrt (Hrsg.), Die wirtschaftliche und ökologische Situation der DDR in den achtziger Jahren, Opladen 1996, S. 99–150, hier: S. 111. 58  Vgl. Jörg Roesler, Ostdeutsche Wirtschaft im Umbruch 1970–2000, Bonn 2003, S.  8 f. 59  R. Andert / W.  Herzberg (Anm. 14), S. 72.



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mische Entwicklung im Vorfeld der beiden Systemkrisen vergleicht, stößt auf die unterschiedlichen Zielvorgaben der Wirtschaftspolitik. Rentabilität und Effektivität bei strengen Einsparungen liegen zu Beginn der 1950er Jahre im Mittelpunkt der ökonomischen Planung. Das Beschneiden der sozialen Leistungen in Kombination mit der Arbeitsnormenerhöhung im Jahre 1953 brachte die Legitimation des Staates ins Wanken. Die negativen Auswirkungen der II. Parteikonferenz betraf im Frühjahr 1953 eine breite Masse des Volkes – vom Arbeiter über den Kleinbauern bis hin zum selbstständigen Unternehmer und dem Rentner. Die wirtschaftspolitischen Beschlüsse des Regimes waren die zentrale Ursache des Unmuts in der Bevölkerung und des daraus resultierenden Protests im Juni. Eine vergleichbare Situation existierte unter Honecker nicht. Vielmehr stand der Ausbau der Sozialleistungen im Vordergrund. Nach dem Sturz Ulbrichts gab es eine Zeit des Aufbruchs. Die „Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik“ schien in den ersten Jahren Früchte zu tragen. Die Bürger liebten das Regime nicht, sie arrangierten sich mit ihm. Die daraus entstandene „Zwangsehe“ basierte auf dem Tausch sozialer Leistungen gegen politische Stabilität. Der in der Kandidatenfibel der Einheitspartei genannte Grundsatz sollte sich bestätigen: „Politische Stabilität ist auf Dauer nur durch soziale Stabilität, durch sozialen Fortschritt erreichbar.“60 Bleibt jedoch der Fortschritt aus, bröckelt die Stabilität des Regimes. Mit Beginn der 1980er Jahre war das SED-Regime immer weniger in der Lage, diesen Fortschritt zu generieren. Der Erhalt des Status quo war nur noch mit ausländischen Krediten zu finanzieren, welche die DDR an den Rand des Bankrotts trieben. Im Vergleich zu 1953 war die SED-Wirtschaftspolitik nicht das Initial der Krise, sondern ein Faktor unter mehreren, die den Niedergang des Staates einleiteten. Es wäre ein Trugschluss, der SED-Spitze die Verantwortung für die wirtschaftlichen Fehlentscheidungen im Vorfeld des Juni-Aufstandes zu zuschreiben. Sie führten lediglich die Anordnungen des Kremls aus, ihr Mitspracherecht war zu Beginn der 1950er Jahre eng begrenzt. Während Honecker ab 1970 als Kapitän der DDR-Ökonomie anzusehen ist, der eine überwiegend selbstständige Wirtschaftspolitik verfolgte, war Ulbricht hingegen im Vorfeld der Krise von 1953 nur ein Steuermann der Wirtschaft, der die Kursvorgaben aus Moskau erhielt. Somit oblag dem von Honecker geleiteten Führungsgremium die Verantwortung für den eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurs der SED, dem von Ulbricht zumindest die geteilte.

60  Abt.

Propaganda des ZK der SED (Anm. 1), S. 100.

Warum der Wehrunterricht auf heftigen Protest stieß Die Militarisierung des Schulwesens der DDR in den 1970er Jahren Von Steffi Lehmann I. Ein neues Schulfach „Die Massenmedien der BRD nahmen die Einführung des Wehrunterrichts in der Deutschen Demokratischen Republik zum Anlaß, eine Hetzkampagne zu inszenieren und den Inhalt desselben zu entstellen […]. Nun greinen sie, dieser Wehrunterricht stünde im Widerspruch zu unserer Friedenspolitik, diene der Erziehung zu blindem Haß, zu Streitsucht und Brutalität. Nichts – das weiß jeder von uns – ist verlogener als eine solche Propaganda.“1 So äußerte sich der Minister für Nationale Verteidigung Heinz Hoffmann am 14. Oktober 1979 anlässlich des neu gefassten Verteidigungsgesetzes der DDR. Dies spiegelte lediglich die halbe Wahrheit wider. Tatsächlich löste die verstärkte Militarisierung in den 1970er Jahren nicht nur in Westdeutschland Unverständnis aus. Keine andere bildungspolitische Maßnahme sorgte in der DDR für derartige Unruhe und Ablehnung unter der eigenen Bevölkerung. Zwar durchzog die kommunistische SED-Erziehungsdoktrin vehement alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens,2 einschließlich des Strafrechts, den Wehrunterricht jedoch zeichnete eine Besonderheit aus: Er bildete den Ausgangspunkt einer um Antimilitarismus und Abrüstung bestrebten Reformbewegung in der DDR. Doch warum stieß das Schulfach der Wehrerziehung bei der Gesellschaft auf derart heftige Kritik, gehörten doch militärische Erziehung und Disziplin spätestens seit den 1960er Jahren unmissverständlich zum Schulalltag der DDR? Welche gesellschaftlichen Kräfte opponierten gegen die Einfüh1  Sozialismus und Frieden werden jederzeit zuverlässig geschützt. Rede des Ministers für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann, Mitglied des Politbüros des ZK der SED, zur Begründung des neu gefaßten Verteidigungsgesetzes, in: Neues Deutschland (ND) vom 14. Oktober 1978, S. 3. 2  Vgl. Matthias Rogg, Militärgeschichte der DDR – mehr als eine Fußnote?, in: Zeithistorische Forschungen, Online-Ausgabe, 2 (2005) 1, unter: www.zeithistorischeforschungen.de / 1-2005 / id=4659 (6. Januar 2015).

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rung des Unterrichtsfaches? Wie begründeten die Erziehungsfunktionäre dessen Notwendigkeit? Wie sah die Wehrerziehung in der Praxis aus? Was waren ihre Folgen? Zunächst gilt es, die Inhalte der Jugendpolitik bzw. das Erziehungskonzept aus den 1970er Jahren zu erklären. Danach folgt eine Darstellung über die Einführung und das Ziel der schulischen Wehrkunde. Nach den gesellschaftlichen Reaktionen über den Wehrunterricht sowie dessen Folgen beendet eine Zusammenfassung die Analyse. II. Jugendpolitik in den 1970er Jahren Am 28. Januar 1974 trat das dritte Jugendgesetz in Kraft, das bis zum Ende der DDR Gültigkeit besaß. In Paragraf eins erläuterte der Ministerrat die Hauptaufgabe der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“. Ziel sei es, „alle jungen Menschen zu Staatsbürgern zu erziehen, die den Ideen des Sozialismus treu ergeben sind, als Patrioten und Internationalisten denken und handeln, den Sozialismus stärken und gegen alle Feinde zuverlässig schützen“3. In den ersten beiden Jugendgesetzen vom Februar 1950 und vom Mai 1964 existierten andere Schwerpunkte. Das erste Gesetz versprach der vom Nationalsozialismus missbrauchten und ausgebeuteten Generation eine Verbesserung ihrer Lage. Vom Bau diverser Schul-, Sport- und Freizeiteinrichtungen erhoffte sich die Staatsführung eine identitätsstiftende Wirkung. Es galt, die Heranwachsenden von dem historischen Erfordernis einer sozialistischen und klassenlosen Gesellschaft zu überzeugen. Das gelingt, so die Erwartung der Machthaber, mit der Konsolidierung eines klaren Freund-Feind-Bildes, wobei der Bonner Regierung die Rolle des Klassenfeindes zukam. Ökonomische und polytechnische4 Inhalte bestimmten 14 Jahre später den Grundtenor des zweiten Jugendgesetzes, ergänzt durch das im Februar 1965 verabschiedete sozialistische Bildungsgesetz. Die SED ging nunmehr von einer identischen Interessenlage zwischen ihr und der jungen Generation aus, regte die Jugend zu mehr volkswirtschaftlicher Initiative an, beschwor öffentlich Vertrauen, um Eintracht zu suggerieren. Es schien, als kehrte die Staatsführung vor der Folie wirtschaftlicher Leistungsbilanzen in den 1960er Jahren vom allzu starren Feindbild ab: Phrasen vom „deutsche[n] Imperialismus“ oder „deutschen Monopolherren“5 waren ver3  Gesetz über die Teilnahme der Jugend an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft und über ihre allseitige Förderung in der Deutschen Demokratischen Republik – Jugendgesetz der DDR – vom 28. Januar 1974, Berlin (Ost) 1974, § 1, Abs. 1. 4  Die polytechnische Ausrichtung verband theoretischen Unterricht mit praktischer Ausbildung in industriellen oder landwirtschaftlichen Betrieben und stellte die Vermittlung mathematischer sowie naturwissenschaftlicher Kenntnisse in den Mittelpunkt.



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schwunden. Der stets plakativ bekundeten, tiefen Verbundenheit zur Sowjet­ union tat dies aber keinen Abbruch. Im Jahr 1974 wendete sich das Blatt erneut hin zu einer intensiveren Abwendungs-Politik von der Bundesrepublik und der gesamten westlichen Welt. Das letzte Jugendgesetz, konzipiert im Anfangsstadium der Ära Honecker, zeichnete mehr Pragmatik und eine verstärkte Orientierung auf sozialistische Internationalität aus. Konkret stand die Vision eines „unerschütterlichen Freundschafts- oder Bruderbundes“ mit der Sowjetunion im Mittelpunkt, den die junge Generation bedingungslos mittragen sollte. Die Betonung lag auf der Internalisierung kommunistischer Charaktereigenschaften wie Arbeitsliebe, Kollektivgeist und Verteidigungsbereitschaft im Rahmen des primären Erziehungsziels, der flächendeckenden Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten. Erich Honecker ging es in den 1970er Jahren vorrangig um internationale Reputation. Er verfolgte eine Wiederbelebung des politisch-ideologischen Klassenstandpunktes. Die DDR-Bevölkerung sah seinem Politikstil in den Anfangsjahren positiv entgegen, brachten der Ausbau sozialpolitischer und familienfreundlicher Maßnahmen, die Verbesserung der Versorgungslage sowie die internationale Anerkennungswelle zu Anfang des Jahrzehnts doch innen- wie außenpolitische Erleichterungen. Die Identifikation der jungen Bürger mit dem politischen System erreichte Anfang der 1970er Jahre ihren Höhepunkt.6 Der Schein trog. Innenpolitisch belastete die kontinuierlich wachsende Verschuldung der DDR den Staatshaushalt. Der Lebensstandard hielt dem Vergleich mit der Bundesrepublik weiterhin nicht stand. An diesem jedoch orientierte sich die ostdeutsche Gesellschaft. Die Hoffnungen der Heranwachsenden auf eine liberalere Jugendpolitik verebbten mit dem Ende der Weltfestspiele der Jugend vom Juli bis August 1973 in Berlin. 5

Trotz der neuen Ostpolitik unter Willy Brandt, der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages 1972, der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu westlichen Staaten 1973, der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen, der Aufnahme diplomatischer Verbindungen zu den USA und der Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte 1975 blieb eine Entspannungspolitik außerhalb der Konferenzräume aus.7 Der IX. Parteitag 1976 offenbarte die poli5  Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik. Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung vom 8. Februar 1950, Teil I, Nr.  15, Berlin (Ost) 1950, S. 95–99, hier: S. 95. 6  Vgl. Walter Friedrich, Mentalitätswandlungen der Jugend in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 40 (1990) B 16–17, S. 25–37, hier: S. 26. 7  Vgl. Hermann Weber, Die DDR 1945–1990, 4. Aufl., München 2006, S. 331 f.; Tina Kwiatkowski-Celofiga, Erziehung zur „allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeit“ und deren Folgen für den Schulalltag, in: Gerhard Barkleit / dies. (Hrsg.),

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tischen und gesellschaftlichen Widersprüche der SED-Friedenspolitik. Das außenpolitische Konzept der „friedlichen Koexistenz“8 wirkte für die Bevölkerung wie eine Farce.9 Die Regierung verkündete, sie trete dafür ein, die Beziehungen zur kapitalistischen Bundesrepublik unter den Normen des Völkerrechts zu entwickeln und sie als souveränen Staat mit einer anderen Gesellschaftsordnung zu behandeln. Sie versprach aus diesem Grund in aller Öffentlichkeit eine militärische Abrüstung,10 warnte aber gleichzeitig vor den „aggressiven Kräfte[n] des Imperialismus“, die „gefährlich und einflußreich“ agierten. Eine Friedenssicherung erfordere die „weitere Stärkung der Verteidigungsbereitschaft“11. Der bis zu Anfang der 1980er Jahre geplante Übergang zu einer kommunistischen Gesellschaftsordnung setzte die Konsolidierung eines Klassenstandpunktes voraus, der nicht nur psychisch, sondern auch physisch seinen Tribut forderte. Für die Jugendlichen blieb die Frage nach dem Sinn und der Funktionalität, mit ideologischer Aufrüstung in den Klassenzimmern eine Sicherung des Friedens zu erreichen, seit der Einführung der Wehrkunde im September 1978 offen. III. Die Einführung des Wehrunterrichts Die Direktiven für den obligatorischen Wehrunterricht der Klassen neun und zehn der Polytechnischen Oberschule erließ Bildungsministerin Margot Honecker am 1. Februar 1978. Gerüchte über die Einführung eines solchen Schulfaches kursierten schon zu Anfang des Jahrzehnts in der Bevölkerung. Laut dem Ministerium für Volksbildung förderte der Unterricht „die Entwicklung der Wehrbereitschaft und Wehrfähigkeit der Schüler“. Eines seiner Ziele sei, „die klassenmäßige, patriotische und internationalistische Haltung der Schüler weiter auszuprägen und die Wehrmotivation zu festigen“12. Dazu beitragen sollten neben dem Polit-Unterricht Aufenthalte in Wehrlagern für die Jungen und ein Lehrgang in Zivilverteidigung für die Mädchen. Verfolgte Schüler – gebrochene Biographien. Zum Erziehungs- und Bildungssystem der DDR, Dresden 2008, S. 11–29, hier: S. 19. 8  Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands im Palast der Republik in Berlin vom 18. bis 22. Mai 1976, Bd. 2, Berlin (Ost) 1976, S. 254. 9  Vgl. Information über erste Reaktionen unter der Bevölkerung der DDR auf die in Vorbereitung des IX. Parteitages veröffentlichten Materialien. Bericht O / 21 vom 3. Februar 1976, in: BStU, MfS, ZAIG, Bl. 1–9. 10  Vgl. Protokoll der Verhandlungen des IX. Parteitages (Anm. 8). 11  Ebd., S. 256. 12  Direktiven des Ministeriums für Volksbildung (der DDR) zur Einführung und Gestaltung des Wehrunterrichts an den allgemeinbildenden Oberschulen, in: Wolfgang Henrich (Hrsg.), Wehrkunde in der DDR. Die neue Regelung ab 1. September 1978, Bonn 1978, S. 25–33, hier: S. 25.



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Die sozialistische Wehrerziehung trug also der Herausbildung von Wehrbereitschaft und Wehrbefähigung Rechnung. Der Unterricht sollte helfen, das Bild der um Frieden bemühten Ostblockstaaten, der ruhmreichen Sowjet­ union und dem aggressiven Wesen des Imperialismus bzw. der westlichen Staaten in den jungen Köpfen zu verankern. Die praktischen Inhalte in Form militäraffiner Handlungen zielten auf die Senkung der Hemmschwelle im militärischen Ernstfall. Landesverteidigung, Vaterlandsliebe und Internationalismus bildeten eine dialektische Einheit im Rahmen der Jugend­ politik unter Honecker. Diverse Erziehungskampagnen nach sozialistischer Lesart (z. B. die sozialistische Namensweihe oder das sozialistische Eheversprechen) distanzierten die Gesellschaft seit den 1950er Jahren vom kirchlichen Glauben und zwangen zu politischen (Lippen-) Bekenntnissen. Besonders an die Schule angegliederte Zeremonien und Maßnahmen, wie die 1955 eingeführte Jugendweihe und die 1967 initiierten „Hans-BeimlerWettkämpfe“, erreichten eine große Adressaten-Gruppe. Seit dem Ende der 1950er Jahre existierte die formale Schulpflicht. Der Klassenverband diente fortan als Instrument zur kollektiven Druckerzeugung. Zunächst avancierten die „Hans-Beimler-Wettkämpfe“ in den 1960er Jahren zum Dreh- und Angelpunkt der sozialistischen Wehrerziehung unter Leitung der „Freien Deutschen Jugend“ (FDJ). Deren Zweck bestand darin, den vormilitärischen Leistungsstand aller 14- bis 16-Jährigen zu erfassen, bevor die männlichen Schüler und Lehrlinge mit Vollendung des 16. Lebensjahres in der „Gesellschaft für Sport und Technik“ (GST) weiterführende militärische Schulungen absolvierten. Da die DDR offiziell die Emanzipationsbestrebungen der Frau unterstützte und die Wettkämpfe bei der Entwicklung von wehrpolitischen und -sportlichen Kenntnissen und Fähigkeiten halfen, wurden Mädchen und junge Frauen nicht von der Teilnahme am Wehrsport befreit. Zur Vorbereitung der Wettstreite gab der Zentralrat der FDJ eine Grußbotschaft an alle Teilnehmer heraus, weshalb jährlich am 1. Dezember (dem Todestag Hans Beimlers) die Grundorganisationen zusammenkamen, um allen Schülern den Zweck und Sinn der Wettkämpfe zu erklären. Diese legten daraufhin den „Hans-Beimler-Eid“ ab. Parallelen zum Gelöbnis der Jugendweihe sind unverkennbar.13 Die Schüler verpflichteten sich, hohe Leistungen bei allen Wettkampfübungen anzustreben: „Wir, die Teilnehmer an den ‚Hans-Beimler-Wettkämpfen‘ geloben: […] Wir werden um hohe Leistungen ringen, um uns dem Vermächtnis der revolutionären Kämpfer würdig zu erweisen und durch unser Bekenntnis und unsere Tat 13  Vgl. Das Gelöbnis zur Jugendweihe, in: Heinz-Elmar Tenorth / Andreas Paetz /  Sonja Kudella, „Politisierung des Schulalltags in der DDR“. Skizze und erste Ergebnisse eines Forschungsvorhabens, in: Heinz-Hermann Krüger / Winfried Marotzki (Hrsg.), Pädagogik und Erziehungsalltag in der DDR. Zwischen Systemvorgaben und Pluralität, Opladen 1994, S. 209–233, hier: S. 220.

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die Bereitschaft bekunden, den Sozialismus jederzeit zuverlässig zu verteidigen […]. Das geloben wir.“14 Der Schwierigkeitsgrad der Übungen bei den Wettstreiten variierte je nach Alter und Geschlecht. Sie bestanden aus Geländeläufen, Kraftsportund Mehrkämpfen, bei denen sich 14-Jährige im Handgranatenzielwurf und Schießübungen probierten. Seit dem Amtsantritt Honeckers erweiterten wehrpolitische Veranstaltungen wie militärische Rundtischgespräche, Buchvorstellungen, literarische Diskussionskreise, Treffen mit Armeeangehörigen sowie die „Woche der Waffenbrüderschaft“, dessen Höhepunkt der „Marsch auf Waffenbrüderschaft“ bildete, das Wehrsportrepertoire. Jener Marsch beschloss ab Beginn der 1980er Jahre den Wehrunterricht für die zehnten Klassen in Wettkämpfen zwischen einzelnen Schulen. Auf einer Strecke von zehn Kilometern sollten durch die Überwindung von Hindernissen, Eilmärschen, Orientierungsläufen, Tarnung im Gelände und Lagerfeuerromantik das Kollektivbewusstsein im Klassenverband gestärkt werden. Die Wehrerziehung ist demzufolge kein Novum der 1970er Jahre, sie erfuhr Innovationen. Der schulische Wehrunterricht stieg Ende 1978 zu deren Zentrum auf. Galt bis 1978 die Verteidigung der DDR als Hauptmotiv für die Wehrerziehung, stand fortan der Schutz aller sozialistischen Bruderstaaten, basierend auf dem internationalistischen Konzept der Jugend- und Außenpolitik, an vorderster Stelle. Seit dem Machtwechsel von 1971 war die Aneignung wehrpolitischer Kenntnisse und Fähigkeiten omnipräsent in Schulen, Betrieben, Universitäten, selbst in Kindergärten und Vorschuleinrichtungen. Die Bevölkerung erfuhr durch Mundpropaganda vom kommenden Wehrunterricht und der Waffenausbildung in der Schule. Lehrer unterrichteten Eltern von Achtklässlern erstmals im Juni 1978 umfangreich über das kommende Schulfach.15 Im Vergleich zu vorangegangenen Militarisierungsmaßnahmen stieß aber bereits die Überlegung, die Wehrerziehung als Pflichtfach im Bildungswesen zu etablieren, auf Widerstand.16 Seit April 1978, zwei Monate nach Herausgabe der Direktive durch das Volksbildungsministeri14  Zentralrat der FDJ (Hrsg.), Der Hans-Beimler-Wettkampf der FDJ, Berlin (Ost) 1972 / 73, S. 3, zit. nach: Jürgen Hartwig / Albert Wimmel, Wehrerziehung und vormilitärische Ausbildung der Kinder und Jugend in der DDR, Stuttgart-Degerloch 1979, S. 142. 15  Vgl. Oskar Anweiler, Schulpolitik und Schulsystem in der DDR, Opladen 1988, S. 114. 16  Vgl. Peter Helmberger, Blauhemd und Kugelkreuz. Konflikte zwischen der SED und den christlichen Kirchen um die Jugendlichen in der SBZ / DDR, München 2008, S. 274; Bernd Eisenfeld / Peter Eisenfeld, Widerständiges Verhalten 1976–1982, in: Eberhard Kuhrt / Hannsjörg F. Buck / Gunter Holzweißig (Hrsg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft, Bd. 3, Opladen 1999, S. 83–139, hier: S. 85.



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um, formierte sich eine Protestwelle gegen das Unterrichtsfach, angeheizt durch ergebnislose Gespräche zwischen hochrangigen kirchlichen und staatlichen Amtsträgern. Die Konsultationen des Vorsitzenden der Berliner Bischofskonferenz Kardinal Alfred Bengsch, dem Vorsitzenden der Konferenz der Kirchenleitungen des Bundes der Evangelischen Kirchen, Albrecht Schönherr, dessen Stellvertreter Bischof Werner Krugehe und Präsident Kurt Domasch mit Erich Honecker und Willi Stoph führten nicht zu einer ernstzunehmenden Debatte um eine innen- und außenpolitische Entmilitarisierung.17 Entgegen den kirchlichen Erwartungen nach einer realistischen Chance zur Abrüstungspolitik und einem Rückzug des militärischen Einflusses aus dem gesellschaftlichen Leben verharrte die Parteiführung auf ihrem als Friedenssicherung getarnten wehrpolitischen Konzept. Sie krönte ihre militaristische Bildungspolitik mit einem neuen Schulfach. IV. Gesellschaftliche Reaktionen Nach Bekanntgabe der Einführung des Wehrunterrichts protestierten Eltern auf Schulversammlungen, woraufhin Direktoren und Lehrkräfte den Meinungsaustausch abbrachen. Christliche Studentenverbindungen prangerten die Strategie der SED an, keine öffentlichen Diskussionen zuzulassen. Petitionen und Flugblätter aus einigen Kirchgemeinden und von Einzelpersonen kursierten. Diese lieferten sich damit dem Verdacht staatsfeindlicher Hetze aus, die mit Freiheitsstrafe enden konnte. Lehrer äußerten ihre Skepsis, wie sie mit Verweigerern umgehen sollten, die dem Unterricht aus religiösen Gründen fern blieben. Hunderte Beschwerden erreichten staatliche Stellen, 2.500 die Kirchenleitungen.18 Von April bis Juni 1978 registrierte die Staatsführung 150 Schreiben aus der gesamten DDR gegen den Wehrunterricht, über ein Drittel der Verfasser berief sich auf christliche Grundsätze.19 Kirchenmitglieder sahen in dem Unterrichtsfach ein weiteres Instru17  Vgl. Vertrauensvoller Meinungsaustausch. Gespräch mit Kardinal Alfred Bengsch, in: Neue Zeit vom 13. Juni 1978, S. 1; Willi Stoph empfing Kirchenvertreter. Einsatz der Christen für den Frieden gewürdigt, in: Berliner Zeitung vom 20. Juni 1978, S. 2; Konstruktives, freimütiges Gespräch beim Vorsitzenden des Staatsrates. Erich Honecker empfing den Vorstand der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen in der DDR unter Leitung seines Vorsitzenden, Bischof D. Dr. Albrecht Schönherr / Beziehungen der Kirchen zum Staat von Sachlichkeit, Vertrauen und Freimütigkeit geprägt / Gemeinsames Engagement für die humanitäre Sache der Erhaltung und Sicherung des Friedens, in: ND vom 7. März 1978, S. 1. 18  Vgl. Bernd Eisenfeld, Wehrdienstverweigerung als Opposition, in: KlausDietmar Henke / Peter Steinbach / Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand und Opposi­ tion in der DDR, Köln / Weimar / Wien 1999, S. 241–257, hier: S. 244. 19  Vgl. Emmanuel Droit, Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949–1989), Köln / Weimar / Wien 2014, S. 310.

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ment, um junge Gläubige zu schikanieren und zum sozialistischen Bekenntnis zu zwingen. Die Debatte um die Wehrerziehung bestimmte 1978 den Kirchentag in Erfurt. Katholische und evangelische Geistliche bekundeten offiziell ihren Einspruch und klagten die nicht altersgerechte Erziehung der Kinder und Jugendlichen an, die durch den Wehrunterricht lernen würden, Gewalt als legitimes Mittel zu akzeptieren. Beide Kirchen sicherten ihren Anhängern, die den Wehrunterricht umgehen wollten, Unterstützung zu. Nachdem der Staatssekretär für Kirchenfragen, Hans Seigewasser, führende Vertreter beider Konfessionen am 1. Juni 1978 über die Inhalte und Ausrichtung des Wehrunterrichts persönlich informierte, reagierte die katholische Kirche am 12. Juni mit einer Stellungnahme.20 Darin legten die Bischöfe die Besorgnis jener Eltern dar, die den militärischen Erziehungszugriff auf ihre Kinder ablehnten. Es sei für einen Katholiken „ein Gewissensanliegen, zur Erziehung der Jugend im Geiste des Friedens beizutragen“. Weiter hieß es, „die militärische Ausbildung von Schülern ist mit einer solchen Erziehung zum Frieden nicht vereinbar“, denn sie „enthält unvermeidlich die Weckung eines Freund-Feind-Denkens und, wie die Erfahrung zeigt, die Weckung des Hasses – gerade bei noch nicht erwachsenen jungen Menschen“. Die katholische Kirche erkannte im Wehrunterricht, trotz Freiwilligkeit beim Waffengebrauch „eine Quelle der Diffamierung für jene […], die sich aus Gewissensgründen nicht imstande sehen, eine solche Ausbildung mitzumachen“21. Der Bund der Evangelischen Kirchen veröffentlichte am 14. Juni 1978 eine Orientierungshilfe und berichtete darin „über eine Maßnahme der Regierung, die zunächst nur vom Hörensagen bekannt wurde“22, bzw. vom Gespräch mit dem Staatssekretär. DDR-Presseorgane wie die „Berliner Zeitung“, das „Neue Deutschland“ oder die „Neue Zeit“ unterließen eine Berichterstattung über die ergebnislosen Aussprachen. Die evangelische Kirche erläuterte ihren Mitgliedern dafür explizit die Darstellung von Hans Seigewasser, wonach der Wehrunterricht „im gesamten Zusammenhang der Friedenspolitik gesehen werden“ müsse, trügen „Stabilität und Verteidigungsbereitschaft […] entscheidend zur Erhaltung und Sicherung des Friedens in der Mitte Europas“ bei. Die Einführung stehe mit denen in der DDR geltenden Gesetzen im Einklang und schaffe, angesichts anderer vormilitä20  Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Aufl., Bonn 1997, S. 305 f. 21  Stellungnahme der West-Berliner Bischofskonferenz in einem Schreiben von Kardinal Bengsch an die Regierung der DDR vom 12. Juni 1978, in: W. Henrich (Anm. 12), S. 40 f., hier: S. 40. 22  Orientierungshilfe der Evangelischen Kirchenleitungen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 14. Juni 1978, in: W. Henrich (Anm. 12), S. 33–38, hier: S. 33.



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rischer Maßnahmen, wie den Hans-Beimler-Wettkämpfen, „keine prinzipiell neuen Tatsachen“. Zudem befähige er „Christen zur praktischen Ausübung von Nächstenliebe im Katastrophenfall, zur wirksamen Hilfe für andere in Zivilverteidigung – Selbstschutz – Erster Hilfe“23. Die Ausbildung an den Waffen basiere auf Freiwilligkeit, die Regierung strebe eine Beteiligung von 100 Prozent an, so die Orientierungshilfe.24 Die Bedenken gegen das Fach waren laut den evangelischen Kirchenleitungen „durch das Gespräch am 1. Juni 1978 nicht beseitigt worden“. Im Falle der Einführung „in der vorgesehenen Weise haben die Vertreter der Kirche erklärt, daß sie für diejenigen Eltern und Erziehungsberechtigten eintreten werden, die sich aus Gewissensgründen, nicht in der Lage sehen, ihre Kinder an diesem Unterricht teilnehmen zu lassen“25. Beide Kirchen reagierten rascher und pragmatischer auf die Einführung des Wehrunterrichts als bei der Einführung der Jugendweihe Mitte der 1950er Jahre. Die evangelische Kirche präsentierte ihren Mitgliedern weitaus mehr Gründe, die gegen eine weitere Militarisierung im Schulwesen sprachen. Auf ihre Orientierungshilfe folgte am selben Tag eine Mitteilung an die Gemeinden in den Gliedkirchen, in der die evangelischen Kirchenleitungen dazu aufriefen, der Erziehung zum Frieden noch mehr Raum zu geben. So sollten „Vertrauen und Offenheit spürbar praktiziert werden, daß bei Lösung von Konflikten nicht die Macht das letzte Wort behält“26. Im Gegensatz dazu konkretisierte die Berliner Bischofskonferenz ihre Ansicht: „Zu unserem Bedauern und mit tiefer Sorge sehen wir nunmehr von neuem jene Tendenz bestätigt, die im ganzen Bildungs- und Erziehungswesen seit langem und konsequent einen staatlichen Totalanspruch auf den Menschen durchsetzen will.“ Auf dieses Bestreben würden die Betroffenen „immer wieder mit Unehrlichkeit, mit innerer und äußerer Flucht, bisweilen auch mit Protest“27 antworten. Während die katholische Kirche die Belastungen für junge Menschen als Hauptargument nannte, warnte die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen davor, der Wehrunterricht könne „außenpolitisch als demonstrativer Akt verstanden werden“ und würde der „Glaubwürdigkeit der Friedenspolitik der DDR“28 Schaden zufügen. Beide Konfessionen lehnten den Wehrun23  Ebd.

S. 34. ebd., S. 33 f. 25  Ebd., S. 35. 26  An die Gemeinden in den Gliedkirchen des Bundes der Evangelischen Kirchen in der Deutschen Demokratischen Republik vom 14. Juni 1978, in: W. Henrich (Anm. 12), S. 39. 27  Stellungnahme der West-Berliner Bischofskonferenz (Anm. 21), S. 41. 28  Orientierungshilfe der Evangelischen Kirchenleitungen (Anm. 22), S. 35. 24  Vgl.

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terricht in seinen Grundzügen ab. Der Staatsapparat kam den Kirchen ebenso wenig entgegen wie besorgten Eltern. Das Ministerium für Staatssicherheit leitete im Sommer 1978, als die kirchliche Protestwelle ihren Höhepunkt erreichte, großflächig konspirative Maßnahmen ein, um potentielle (kirchliche) Gegenreaktionen zu überwachen.29 Die SED ignorierte die Bedenken der gesellschaftlichen Kräfte, allen voran die der Kirchenleitungen. Der Wehrunterricht in den Schulen startete am 1. September 1978. V. Lehrstunden, Zivilverteidigung und Wehrlager Die schulische Wehrerziehung schuf die Voraussetzungen zu weiterführenden vormilitärischen Ausbildungen in den Erweiterten Oberschulen, Berufsschulen und Spezialschulen. Der Wehrunterricht setzte sich aus Stunden zu Fragen der Landesverteidigung, einem Lehrgang in Zivilverteidigung für die Mädchen am Ende der neunten Klasse und aus einer zwölftägigen (freiwilligen) Wehrausbildung in Lagern für die Jungen zusammen. Laut dem Bildungsministerium förderten die Lehrstunden „zu Fragen der sozialistischen Landesverteidigung“ die Wehrbereitschaft und mache die Schüler mit „ausgewählten Grundkenntnissen der Landesverteidigung vertraut“30. Am (meist) nachmittäglichen Unterricht hatten alle Schüler im FDJ-Hemd zu erscheinen. Ehemalige Offiziere der Nationalen Volksarmee (NVA) oder Landesverteidigung, Mitarbeiter von GST und FDJ sowie Staatsbürgerkundelehrer leiteten die Unterrichtseinheiten von acht Doppelstunden, jeweils vier in der neunten und zehnten Klasse. Die Lehrkräfte sprachen im Unterricht über die Anforderungen an Soldaten und Zivilstreitkräfte, militärische Berufe in der NVA, über mögliche Kriege oder das Bewaffnungs- und Aufrüstungspotential der sozialistischen Armeen.31 Eine Benotung gab es zwar nicht, aber auf dem Zeugnis vermerkten die Lehrer die Anwesenheit.32 Der Lehrplan für den 72-stündigen Lehrgang Zivilverteidigung der neunten Klasse sah vor, jeweils 15 Stunden in die Schutzausbildung (Retten und Bergen von Menschen usw.) und in die Selbst- und gegenseitige Hilfe (etwa Maßnahmen zur medizinischen Hilfeleistung) zu investieren. Je weitere 29  Vgl. Stefanie Virginia Gerlach, Staat und Kirche in der DDR. War die DDR ein totalitäres System?, Frankfurt a. M. 1999, S. 96 f. 30  Direktiven des Ministeriums für Volksbildung (Anm. 12), S. 27. 31  Vgl. J.  Hartwig / A.  Wimmel (Anm. 14), S. 58 f. 32  Vgl. Bernhard Gonnermann, u. a., Sozialistische Militärpolitik und Wehrbereitschaft. Militärpolitisches Grundwissen für die sozialistische Wehrerziehung, Berlin (Ost) 1987, S. 323; Ilona Katharina Schneider, Weltanschauliche Erziehung in der DDR. Normen – Praxis – Opposition. Eine kommentierte Dokumentation, Opladen 1995, S. 78 f.; Friedrich-Ebert-Stiftung, Wehrpropaganda und Wehrerziehung in der DDR, Bonn 1982, S. 20.



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14 Stunden entfielen auf die Gelände- und Sportausbildung (Ausdauer-, Kraft-, Schnelligkeits-, und Wurfübungen), fünf Stunden auf Ordnungseinheiten (Einzel- oder Gruppenausbildungen) und drei Stunden auf theore­ tische Grundlagen.33 Der Großteil des Lehrgangs war praktisch angelegt, der ideologische Teil stand im Lehrbuch der Klasse neun und stimmte die Schüler emotional auf die allseits existente Kriegsgefahr ein. So hieß es, „der Imperialismus [ist] seinem Wesen nach aggressiv“34 und unfähig, „sich mit Niederlagen und Rückschlägen abzufinden“, deshalb unternehme er „große Anstrengungen, um seine militärische Macht ständig zu verstärken“35. Klassenbewusstsein, das Hervorrufen von Ängsten und die Erhöhung der Bereitschaft, einen persönlichen Beitrag zum Schutz des Sozialismus zu leisten, bildeten die Ziele der Lehrstunden und des Lehrgangs. Eine Charaktereigenschaft der von der SED anvisierten sozialistischen Persönlichkeit sollte durch die Wehrideologie besonders internalisiert werden: Disziplin. Diese hilft, so das Lehrbuch für Zivilverteidigung der Klasse neun, „die sozialistische Militärkoalition zu stärken und mit allen Kräften auch unter Einsatz des eigenen Lebens, zu schützen und zu verteidigen“36. Unterlegt mit einem Exempel aus der Praxis: Erst wenn ein Soldat die Forderungen des Fahneneids erfülle, seinen rechtlich kodifizierten Pflichten nachginge, Befehle präzise, ohne zu zögern und tatkräftig ausführe und das Kollektiv achte, handle er diszipliniert.37 Disziplin nahm im Schulbetrieb eine hohe Stellung ein. Der Wehrunterricht verstärkte die Anforderungen an die Schüler, regelkonformes und anständiges Verhalten zu jeder Zeit und an jedem Ort zu praktizieren. Die Erziehung zu jenen Verhaltensmustern gehörte aus Perspektive der Lehrkräfte zu den schwierigsten Aufgaben der Pädagogik. Gleich welche Art der Disziplinlosigkeit auftrat, ob nach Anzahl der Beteiligten, nach dem Grad der Bewusstheit oder nach der Dauer der Störung differenziert, nutzten die Lehrkräfte das Schülerkollektiv, um ihr Erziehungsziel, die Verinnerlichung sozialistischer Charakteristika, durch Gruppendruck zu erreichen.38 Das eigens für den Wehrunterricht initiierte Wehrlager entsprach einem solchen Zweckkollektiv. Die Zeit im Ausbildungslager prägte ein geregelter Tagesablauf mit Weckrufen, Fahnenappellen, Märschen, 33  Vgl. Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium für Volksbildung, Lehrplan Lehrgang Zivilverteidigung Klasse 9, Berlin (Ost) 1985, S.  10 f. 34  Lehrbuch für Zivilverteidigung Klasse neun, Berlin (Ost) 1978, S. 9. 35  Ebd., S. 8. 36  Ebd., S. 27. 37  Vgl. ebd. 38  Vgl. Wolfgang Kessel, Das Führungsverhalten der Lehrer – eine entscheidende Bedingung für die Erziehung zur bewußten Disziplin, in: Zeitschrift für Pädagogik, 33 (1978) 3, S. 222–228, hier: S. 222 f., 228.

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Schutzausbildung mit Montur, Stubendiensten und Filmvorführungen an den Wochenenden immer in der Gruppe und unter Aufsicht.39 Die Neuntklässler führten Gelände- und Alarmübungen durch, militärische Befehle aus, probten das Verhalten im Ernstfall, erlernten den Umgang mit Luftdruckgewehren und Kalaschnikows und bewährten sich bei Ausdauer- und Hindernisläufen.40 Laut den Direktiven des Volksbildungsministeriums bestand der Sinn des Wehrlagers darin, die Jungen an die vormilitärische Ausbildung zu gewöhnen, damit diese die militärischen Grundregeln beherrschten und ihr sportliches Leistungsvermögen erhöhten.41 Die Wehrausbildung in den Lagern diene der „Entwicklung der Jungen zu sozialistischen Patrioten und proletarischen Internationalisten“42. Das Volksbildungsministerium definierte am 1. Februar 1979 die Inhalte der Wehrerziehung in einer Lagerdirektive, nachdem das Prinzip der Freiwilligkeit auf wenig Zuspruch stieß. Fortan mussten möglichst alle Jungen partizipieren. Die Vorgabe bestimmte „das gesamte Lagerleben […] praktisch, emotional wirksam, jugendgemäß und mit hohem Niveau zu gestalten“. Die Wehrausbildung im Lager solle für alle Teilnehmer „ein Erlebnis“ werden, „bei jedem Jungen einen nachhaltigen Eindruck“43 hinterlassen und die „Herausbildung solcher Persönlichkeitseigenschaften wie Mut, Einsatzbereitschaft, Diszipliniertheit, Kameradschaftlichkeit, Ausdauer, Ehrlichkeit und Solidarität“44 unterstützen. Um dem Wehrlager beizuwohnen, gaben Eltern für die Teilnahme ihres Sohnes eine schriftliche Einverständniserklärung ab. Geschah dies nicht freiwillig, führte die Schule mit den Eltern nachdrückliche Gespräche. Blieben auch diese ohne Wirkung, erhielten die Jungen entweder isoliert vom Rest der Klasse die Order, dem Hausmeister während der Lagerzeit zu helfen, oder sie saßen mit den Mädchen im Lehrgang Zivilverteidigung. Ablehnende Haltungen basierten meist auf religiösen Motiven. Absolute Verweigerungen blieben, aufgrund der Furcht vor Nachteilen und der vom Volksbildungsministerium festgelegten Teilnehmerquote von 100 Prozent sowie dem Druck auf die Schulleitungen, die Ausnahme. Erst ab dem Jahr 39  Vgl.

J.  Hartwig / A.  Wimmel (Anm. 14), S. 58 f.; E.  Droit (Anm. 19) S. 318 f. Michael Koch, „Gesetzmäßig gerechter Krieg“. Der Wehrunterricht in der DDR, in: Horch und Guck, 20 (2011) 72, S. 10–15, hier: S. 13. 41  Vgl. Direktive Nr. 4 des Ministers für Volksbildung zur Organisation, Vorbereitung und Durchführung der freiwilligen Wehrausbildung der Jungen der Klassen 9 im Lager – Lagerdirektive  – vom 1. Februar 1979, in: Hans-Jürgen Fuchs / Eberhard Petermann, Bildungspolitik in der DDR 1966–1990. Dokumente, Berlin 1991, S. 120 f., hier: S. 121. 42  Ebd., S. 121. 43  Ebd., S. 120. 44  Ebd., S. 121. 40  Vgl.



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1984 wurden die Schulen nachsichtiger und sahen davon ab, Jungen, die aus religiös-pazifistischen Elternhäusern stammten und damit das Schießen sowieso verweigerten, unter allen Umständen in das Wehrlager zu rekrutieren.45 Konformitätszwang mittels Normendruck durchdrang alle bildungspolitischen Ebenen. Durch die Etablierung der sozialistischen Wehrerziehung und die im Vergleich zu den 1960er Jahren zeitiger einsetzenden Bewertungskriterien für die weitere schulische Laufbahn, bildete das Bekenntnis zur Wehrideologie der SED in den 1970er Jahren eine Voraussetzung für die individuelle Lebensplanung. Protesthaltungen führten zu Konflikten, die im schlimmsten Fall nicht nur die Biografie der Schüler beeinträchtigte.46 Aufgrund des obligatorischen Charakters der schulischen Wehrerziehung war es wie bei den „Hans-Beimler-Wettkämpfen“ und in abgeschwächter Form bei der Jugendweihe fast unmöglich, dem Erziehungsanspruch auszuweichen. Mitte November 1978 beteuerte der Staatssekretär für Kirchenfragen gegenüber dem Bund der Evangelischen Kirchen, es käme zu keiner Diskriminierung von Jugendlichen, die dem Wehrunterricht entsagten. Die Verweigerer erhielten einen bloßen Vermerk. Bislang, so argumentierte die Regierung entgegen den Einwänden der Kritiker, hatten zudem sehr wenige abgelehnt. In den ersten Unterrichtsstunden fehlte tatsächlich kaum ein Jugendlicher, was wohl u. a. am Vermerk der Lehrkräfte bei der Zensuren-Vergabe in anderen Fächern und an Gesprächen über die künftige schulische Karriere lag. Nur wenige hundert Heranwachsende, vorwiegend aus religiösen Haushalten und Pfarrersfamilien unterließen eine Teilnahme am Wehrunterricht.47 Die Verweigerungsquote fiel, so wie es die Erziehungsfunktionäre beabsichtigten, sehr gering aus: In Ostberlin verweigerten den Unterricht 1979 elf Schüler, 1980 / 1981 lediglich 20 von über 30.000 Schülern in der Hauptstadt. In den ersten drei Jahren blieben dem Wehrunterricht in der gesamten DDR weniger als 0,2 Prozent fern, das entspricht 400 Neunt- und Zehntklässlern, vorwiegend Kinder von Ausreiseantragstellern oder Pastoren.48 Das Ministerium für Volksbildung schätzte die Zahl der verweigernden 45  Vgl. Jens Planer-Friedrich, Allseitig gebildete sozialistische Persönlichkeit. Das DDR-Schulwesen und seine Opfer – Ein Überblick, in: Horch und Guck, 20 (2011) 72, S. 16–20, hier: S. 20. 46  Vgl. Christian Sachse, (Vor)militärische Ausbildung in der DDR, in: Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (Hrsg.), In Linie angetreten. Die Volksbildung der DDR in ausgewählten Kapitel, Bd. 2, Berlin 1996, S. 211–315, hier: S. 263; I.  K.  Schneider (Anm. 32), S. 79; E.  Droit (Anm. 19), S. 316. 47  Vgl. E. Neubert (Anm. 20), S. 307 f. 48  Vgl. Bericht nach drei Jahren Wehrerziehung, in: BStU, MfS HA-XX / 4508 u. LAB, C REP 902 / 4629, zit. nach: E.  Droit (Anm. 19), S. 313.

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Zehntklässler zu Anfang der 1980er Jahre zwischen 0,08 und 0,14 Prozent.49 Im Bezirk Karl-Marx-Stadt blieben 1981 ca. 60 Schüler dem Unterricht fern, deren Eltern erfasste die Schule aktenkundig. Schulleitungen führten selbst nach der Entscheidung, den Wehrunterricht zu umgehen, Aussprachen und mahnten Erziehungsberechtigte, sie verstießen damit gegen die Schulpflicht und die Verfassung.50 Die Verweigerungsquote lag bei unter einem Prozent, ebenso beim Lehrgang für Zivilverteidigung. Aus religiösen und politischen Gründen nahmen im Schuljahr 1979 / 80 ca. 280 Schüler,51 1981 / 82 ca. 25052 und 1983 ca. 32053 Jugendliche nicht am Lehrgang teil. Der größte Widerstand gegen die vormilitärische Ausbildung kam von Lehrlingen. Zwischen 1985 und 1987 veranschlagte die ostdeutsche Geheimpolizei die Verweigerungsquote unter ihnen bei 2,2 bis 2,4 Prozent bzw. jährlich bei ca. 230.000 Auszubildenden.54 Mit der Einführung des Wehrunterrichts schuf sich die Staatsmacht ein weiteres nützliches Instrument zur Durchsetzung ihrer Erziehungsdoktrin. Im Durchschnitt absolvierten in den 1980er Jahren ca. 73.000 Jungen die Ausbildung in den Lagern, ca. 93.000 Mädchen und Jungen den Lehrgang Zivilverteidigung. VI. Erziehungsziel erreicht? Die Konsequenzen des sozialistischen Wehrunterrichts sind kurz- und langfristiger sowie quantitativer und qualitativer Natur. Gemessen an der sehr niedrigen Verweigerungsquote und der umfangreichen Erfassung der Schüler verzeichnete diese drastische Erziehungsmaßnahme Erfolge. Von 49  Vgl. Otto Wenzel, Kriegsbereit. Der Nationale Verteidigungsrat der DDR 1960 bis 1989, Köln 1995, S. 98; Bernd Eisenfeld / Peter Eisenfeld, Die Militarisierung von Erziehung und Gesellschaft in der DDR. Die politische Instrumentalisierung und Ächtung pazifistischer Einstellungen, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Mate­ rialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“. Bildung, Wissenschaft, Kultur, Bd. IV, 1, BadenBaden 1999, S. 640–742, hier: S. 706. 50  Vgl. Verweigerung des Wehrunterrichts vom 22. Mai 1981, zit. nach: Matthias Judt (Hrsg.), DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, Berlin 1997, S. 472; Matthias Rogg, Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR, Berlin 2008, S. 197. 51  Vgl. Einschätzung des Wehrunterrichts im Schuljahr 1979 / 80 und Probleme für die weitere Gestaltung des Wehrunterrichts, in: BArch, DR 2–50471, Bl. 2, 3. 52  Vgl. Information über die erstmalige Durchführung der Wehrausbildung im Lager und des Lehrgangs Zivilverteidigung in zwei Durchgängen im Schuljahr 1981 / 82, in: ebd., Bl. 1. 53  Vgl. Information über die Durchführung der Wehrausbildung im Lager und des Lehrgangs Zivilverteidigung im Schuljahr 1983 / 84. Vorlage vom Dezember 1984, in: ebd., Bl. 1. 54  Vgl. B. Eisenfeld (Anm. 18), S. 244.



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einem verblassten Feindbild des Westens, welches der Unterricht schließlich verstärken sollte, konnte keine Rede sein. Die Gründe dafür lagen in der Annahme bei einem Großteil der Heranwachsenden, eine deutsche Wiedervereinigung sei illusorisch und die Kriegsgefahr in den 1970er Jahren gewachsen. Dazu steuerten die omnipräsente Medienpropaganda und die Isolationspolitik ihren Anteil bei. Erst in den 1980er Jahren litt das propagierte westdeutsche Feindbild erheblich.55 Es existieren nur wenige aussagekräftige Studien,56 die über die unmittelbaren Folgen des Wehrunterrichts für die jugendliche Bewusstseinsentwicklung Aufschluss geben. Dazu zwei Beispiele: Eines davon betrifft die Untersuchung des Zentralinstituts für Jugendforschung vom Oktober 1980. In Rostock befragten dessen Mitarbeiter 520 männliche 17-Jährige im ersten Lehrjahr. Alle Probanden durchliefen den ersten Durchgang des Wehrunterrichts 1978 in der neunten Klasse, als 15-Jährige. In einem Fragebogen nahmen sie zwei Jahre später anonymisiert eine Selbsteinschätzung, u. a. zur Verteidigungsbereitschaft und dem vormilitärischen Kenntnisstand vor, die der schulische Wehrunterricht und vor allem das Wehrlager internalisieren sollten. Insgesamt gaben zwar 80 Prozent an, ihre Verteidigungsbereitschaft sei „sehr stark“ oder zumindest „stark“ ausgeprägt und über die Hälfte antwortete, sie hätte einen „stark“ ausgereiften Klassenstandpunkt, dennoch rangierten die wehrpolitischen Charakteristika bei der Einschätzung weit hinter Allgemeinbildung, Kollegialität und einer positiven Arbeitsmoral. Auch die Motiva­ tion, die DDR, unter Einsatz des eigenen Lebens zu verteidigen, stieg verglichen mit vorangegangenen Studien nach der Einführung des Wehrunterrichts nicht an.57 Acht Monate später befragten Soziologen der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR schriftlich Schüler der neunten Klasse aus 55  Vgl.

W. Friedrich (Anm. 6), S. 32. Meinungsinstitute in der DDR waren staatlich geförderte und finanzierte Einrichtungen, deren Ergebnisse der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung standen. Die Wissenschaftler mussten sich den politisch-ideologischen Vorgaben der SED anpassen, ihre Ergebnisse teilweise beschönigen, was mit heutigen Standards nicht vereinbar ist. Auch die Befragten selbst gaben bei einigen Fragen politisch konforme Antworten. Dennoch geben die in der DDR gefertigten Studien Aufschlüsse über Trends in der Jugendforschung und können u. a. aufgrund ihrer Geheimhaltung als weitgehend repräsentativ eingestuft werden, jedoch immer unter Berücksichtigung ihrer sozialistischen Lesart. Vgl. Florian Bunke, „Wir lernen und lehren im Geiste Lenins …“ Ziele Methoden und Wirksamkeit der politisch-ideologischen Erziehung in den Schulen der DDR, Oldenburg 2005, S. 80–82. 57  Vgl. Zentralinstitut für Jugendforschung, Zur Verteidigungsbereitschaft der Jugendlichen in der DDR. Ergebnisse einer Voruntersuchung bei Lehrlingen. Diskussionsgrundlage vom Januar 1981, Bl. 3 f., 8. unter: www.ssoar.info / ssoar / handle / do cument / 38171 (27. August 2014). 56  Die

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einer mittleren Industriestadt zu deren Erfahrungen im Wehrerziehungslager bzw. im Lehrgang Zivilverteidigung. Die Zustimmung zur Notwendigkeit eines Wehrlagers balancierte gleichgewichtig zwischen Befürwortern und Gegnern. Am kritischsten meldeten sich die Nicht-FDJ-Mitglieder zu Wort. Die Jungen empfanden die Lagerordnung und die Befehle durch die Vorgesetzten als sehr belastend. Zwar verschwanden die Schwierigkeiten mit den unbekannten militärischen Formen (Grüßen, Haltung, Meldung usw.) im Verlauf der Ausbildung, auf bleibendes Unverständnis stieß die Einhaltung disziplinarischer Maßnahmen, z. B. keinen Besuch zu empfangen oder das Marschieren zu den Mahlzeiten. Viele Jungen fanden, der militärische Drill sei übertrieben. Auch bei den Mädchen resultierten die meisten Probleme beim Lehrgang aus dem militärischen Ordnungs- und Befehlssystem. Allerdings: Jene Neuntklässler, die eine übergeordnete Funktion wie die des Gruppenführers erhielten, fanden sich am besten mit den militärischen Gegebenheiten zurecht.58 Die mittelbaren Folgewirkungen ergeben kein anderes Bild. Der erhoffte (freiwillige) Ansturm der Heranwachsenden auf das Militär blieb aus.59 Die Distanzierung und der Unmut der Jugend erreichten mit Ausklang der 1970er Jahre ihre Höhepunkte. Die einzig konkurrierende Institution auf dem Gebiet der Jugendpolitik – die Kirchen – gewann an Einfluss. Nicht zuletzt, weil sie sich prinzipiell gegen Militarisierungstendenzen aussprach und Verweigerern eine Plattform bot, erreichten Initiativen wie „Schwerter zu Pflugscharen“ oder die „Blues-Messen“ große Resonanz innerhalb der jungen Generation. So setzte die evangelische Kirche 1982 Impulse mit einem eigenen Pendant zur Wehrerziehung, dem Friedensunterricht. Junge Mitglieder der Gemeinden erlernten bei Kirchentreffen, Streitigkeiten vom christlichen Standpunkt heraus zu betrachten, verbale Lösungen zu formulieren und diese zu respektieren.60 Lediglich Kirchenkreise ermöglichten in der DDR Diskussionen über Menschenrechte, Abrüstung oder Wehrdienstverweigerung und übten eine große Anziehungskraft auf Heranwachsende aus.

58  Vgl. Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der DDR / Abteilung Soziologie des Bildungswesens, Forschungsbericht. Soziale Erfahrungen der Schuljugend in ihrer Bedeutung für deren Bewußtseinsentwicklung und Erziehung, Berlin (Ost) 1983, S. 25, 110–113. 59  Vgl. Stephan Fingerle, Waffen in Arbeiterhand? Die Rekrutierung des Offizierkorps der NVA und ihre Vorläufer, Berlin 2001, S. 297. 60  Vgl. Friedensunterricht contra Wehrkunde, in: Die Welt vom 19. Mai 1982.



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VII. Ein Pyrrhussieg für die SED Die kurzfristigen Folgen des 1978 eingeführten Wehrunterrichts für die sozialistische Bewusstseinsentwicklung der Jugend sind überschaubar. Die Verteidigungsbereitschaft der Heranwachsenden blieb beständig, der Stand vormilitärischer Kenntnisse unterentwickelt. Das westdeutsche Feindbild verlor erst allmählich an Kontur. Der Besuch des Wehrlagers endete oftmals mit unangenehmen Gefühlen. Quantitativ betrachtet erreichte die Regierung mit dem Schulfach langfristig den Großteil der Schulpflichtigen, was die niedrige Verweigerungsquote belegt. Trotz anfänglicher Schwierigkeiten das kurzfristige Ziel einer 100-prozentigen Teilnahme zu erreichen, blieb die Quantität wegen des obligatorischen Charakters des Faches in den Folgejahren konstant. Die evangelische Kirche gewann jedoch – langfristig und qualitativ betrachtet – zunehmend an Einfluss unter der jungen Generation, weil sie sich der totalen Vereinnahmung der Jugend im Sinne der SEDMilitärpolitik widersetzte. Genau aus diesem Grund stieß die beabsichtigte Einführung auf derartigen Widerstand: Der den Schülern auferlegte Zwang, die Wehrideologie der SED bedingungslos umzusetzen und der staatliche Absolutheitsanspruch im Erziehungswesen mit festgesetzten Teilnehmerquoten führten zu großflächigen Protesten. Beide Konfessionen gaben Handlungsempfehlungen und reihten sich an vorderster Stelle in die opponierenden gesellschaftlichen Kräfte ein, die ein Konglomerat aus Schülern, Lehrern, Kirchenvertretern, Eltern und engagierten Einzelpersonen ausmachten. Die Waffenausbildung im Schulwesen lief aus Sicht jener Oppositioneller der propagierten Friedenspolitik der SED zuwider. Diese wiederum legitimierte die verstärkte militärische Ausrichtung im Erziehungswesen damit, das globale Kräftegleichgewicht durch die Ausprägung kommunistischer Eigenschaften in Form von Vaterlandsliebe, militärischen Fertigkeiten und einem festen Klassenstandpunkt zu gewährleisten. In der Praxis glich der Wehrunterricht einer Werbeveranstaltung für die NVA, er sprach emotionale Ängste an und bereitete die Heranwachsenden physisch auf einen drohenden Krieg vor. Die schulische Wehrkunde war ein absurdes Produkt, basierend auf dem bildungspolitischen Monopolanspruch der SED, begründet durch deren Friedenspropaganda. Der Wehrunterricht entfachte in den 1970er Jahren eine Protestwelle, die zwar nicht zu dessen sofortiger Abschaffung führte, aber im Verlauf des Folgejahrzehnts an Dynamik und Stärke gewann.

Autorenverzeichnis Rudi Bigalke ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über das antideutsche Spektrum des politischen Links­ extremismus. Christoph Bruckmüller ([email protected]) ist Autor einer Disserta­ tion an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Entwicklung des schwedischen Parteiensystems. Niels Dehmel ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die Reform des personalisierten Verhältniswahlsystems. Florian Fößel ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg über den Dritten Weg der Sozialdemokratie in Großbritannien und Deutschland. Sebastian Gräfe ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über den Rechtsterrorismus in Deutschland. Tim Griebel ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehung von 2001 bis 2003. Julia Heydemann ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die Akteursqualität der EU. Eckhard Jesse ([email protected]) ist Professor (em.) für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz. Lisa Karge ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die Kommunalpolitik der NPD in Sachsen. Alexander Kühn ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über das Verhältnis christlicher Gruppierungen in Deutschland zum demokratischen Verfassungsstaat. Steffi Lehmann ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die Jugendpolitik in der DDR. Ulrike Madest ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über den Marxismus-Leninismus in der DDR. Peggy Matauschek ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über Alternativen zum hiesigen Verhältniswahlsystem.

412 Autorenverzeichnis Benjamin Page ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die DDR-Regimeeliten während der Krisen 1953 und 1989. Isabelle-Christine Panreck ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die mediale Debatte um den außenpolitischen Machtanspruch Deutschlands. Madeleine Petschke ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die SED-Kulturpolitik in der Ulbricht- und Honecker-Ära. Wolfram Ridder ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zur Bedeutung formaler und informeller Politikelemente für die regionale Interessenvertretung in der EU. Erik Schlegel ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die (Nicht-)Etablierung der Piratenpartei in das deutsche Parteiensystem. Bastian Scholz ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die system(de)stabilisierenden Beiträge der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche in Deutschland seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Patrick Stellbrink ([email protected]) ist Autor einer Disserta­ tion an der Technischen Universität Chemnitz über die Entstehung der Pluralismustheorie in der Sozialdemokratie der Weimarer Republik. Roland Sturm ([email protected]) ist Professor für Politikwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Stephan Weinrich ([email protected]) ist Autor einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die Verfassungsschutzberichte der Länder und des Bundes. Eva Werner ([email protected]) ist Autorin einer Dissertation an der Technischen Universität Chemnitz über die Rezeption von Martin Luther King in der DDR.

Personenverzeichnis Abusch, Alexander  361–364, 366–368, 374 Adam, Wilhelm  361 Adler, Max  231 Åkesson, Jimmie  136 Andropow, Juri Wladimirowitsch  387 Apfel, Holger  269, 272–275, 280, 312 Arnold, Werner  354 Auracher, Jelena  36 Backes, Uwe  288 Barthel, Klaus  363 Bauer, Otto  231 Baur, Uli  90 Beam, Louis  311, 314 f., 317–320 Bebel, August  331 Becher, Johannes R.  363–365 Beck, Kurt  170 f. Beckstein, Günther  221 Beier, Katharina  270, 275 Beier, Matthias  272 f. Beier, Mirko  273, 275, 279 Beimler, Hans  397 Bengsch, Alfred  399 Bentzien, Hans  368 f., 372 Berg, Alan  315 Berger, Christfried  355 Bhaskar, Roy  60, 66 Bigalke, Rudi  16 f. Blair, Tony  88, 155 Blücher, Erik  317 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  204 Böhnhardt, Uwe  319 Brandt, Willy  395 Braun, Stefan  291 Braune, Sven  274

Bredel, Willi  363 Breschnew, Leonid Iljitsch  387 Bretherton, Charlotte  45 Bruckmüller, Christoph  15 f. Bruhn, Joachim  247, 255 f., 262 f. Brüning, Heinrich  236 f. Cameron, David  88 Caspar, Günter  368 Chevenal, Francis  37 Copeland, David  318 Cosgrove, Carole  44 Crum, Ben  28, 31, 34 Curtis, Alex  314 Dehmel, Niels  15 Delors, Jacques  30 Domasch, Kurt  339 Donaldson, Ian Stuart  317 Duke, David  314 Ebert, Hans-Kurt  348 Ebert, Theodor  354 f. Eichhorn, Wolfgang  334 Enderwitz, Ulrich  254 Engels, Friedrich  220, 231, 328, 331 Ernst, Klaus  202 Ertel, Mario  273–277, 281 Farrell, David M.  130 Farrell, Henry  33 Fößel, Florian  15 f. Fraenkel, Ernst  240 Fromm, Erich  65 f. Gabriel, Karl  198 Gabriel, Sigmar  206

414 Personenverzeichnis Gaddafi, Muammar  84, 88, 90 Gandhi, Mahatma  347 Gansel, Jürgen  272 f., 275, 279 f., 282 Gauck, Joachim  348 Gayl, Wilhelm von  239 Geisler, Michael  271 Glücksmann, Anselm  362 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch  387 Götting, Gerald  345, 351 Gräfe, Sebastian  16, 18 Griebel, Tim  14 f., 20 Grigat, Stephan  262 f. Grover, Anand  53 Grüber, Heinrich  345, 353 f. Grumke, Thomas  313 Güllner, Manfred  175 Gysi, Gregor  202 Gysi, Klaus  369, 374 Habermas, Jürgen  230 Hager, Kurt  19, 359 f., 364, 366, 370–375 Haid, Bruno  368 f. Hammer, Max  317 Hanfeld, Michael  175 Harich, Wolfgang  360 f. Harig, Michael  271, 281 Hassel, Anke  165 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  230 Heidbreder, Eva  36 Heinzmann, Gerhard  291 Heller, Hermann  231, 239 f. Helmke, Gretchen  27 Hennecke, Adolf  344 Henniger, Gerhard  367 Herger, Wolfgang  335 Héritier, Adrienne  33 Hermann, Joachim  222 Hermlin, Stephan  371 Heydemann, Julia  14 Hindenburg, Paul von  338, 340 Hitler, Adolf  238, 244, 353

Hix, Simon  27, 28 Hobolt, Sara  36 Hochmuth, Arno  373 f. Hoffmann, Heinz  393 Holmberg, Sören  138 Honecker, Erich  19, 340, 355, 359, 366, 373–375, 377–381, 384 f., 387–391, 395, 399 Honecker, Margot, 396–398 Jacobi, Michael  273, 275 Jahn, Christian  272–274 Jähn, Siegmund  344 Janka, Walter  361 Jesse, Eckhard  19, 288 f. Jolly, Mette  37 Juholt, Håkan  141 Juncker, Jean-Claude  14, 35 Juppé, Alain  87 Jüsten, Karl  201 Kaas, Ludwig  232 Kailitz, Steffen  289 Karge, Lisa  16 f. Kelly, Petra  355 Kelsen, Hans  231 f., 241, 243 King, Coretta  356 f. King, Martin Luther  18, 343–358 King, Michael  356 Kirchheimer, Otto  17, 229–238, 240–246 Klose, Stephan  272 f. Kohl, Helmut  159 Kondraschow, Stanislaw  355 f. König, Thomas  32 Kretschmann, Jörg  273 Krugehe, Werner  399 Küfer, Isabelle  20 Kühn, Alexander  16–18 Kurella, Alfred  19, 359 f., 365–375 Lacan, Jacques  63, 65 Lafontaine, Oskar  160



Personenverzeichnis415

Lamy, Pascal  47 f., 55 Lane, Eden  315 Laqueur, Walter  316 Lauer, Christopher  179 Lehmann, Steffi  18 f. Lehmann, Theo  347 Levitski, Steven  27 Liebknecht, Karl  331 Liebscher, Mirko  273, 275 Lindh, Anna  141 Lipset, Seymour Martin  136 Löfven, Stefan  135, 141, 151 f. Lööf, Annie  136 Lötzsch, Gesine  202 Löw, Konrad  98 Lowless, Nick  315 Lüdke, Frank  272–277, 280 f. MacDonald, Andrew  311 Mader, Matthias  80 Madest, Ulrike  18 Martinsson, Johan  143 Marx, Karl  220, 230, 231, 238, 247 f., 260, 328, 330 f. Matauscheck, Peggy  15 f. Matern, Hermann  370 Matthews, Robert Jay  313 f., 316 Maurer, Jasmin  179, 185 Mayer, Tilman  20 McAllister, Ian  130 McVeigh, Timothy  311, 313 Merkel, Angela  87 Mertensacker, Adelgunde  296 Metzger, Tom  311, 314 f., 318 f. Meusel, Georg  348, 355 f. Meyer, Michael  354 Mierendorff, Carlo  239 Molau, Andreas  270 Morgenthau, Hans  65 Moss, Louis  314 Moury, Catherine  29, 33 Mubarak, Husni  86

Müller, Hermann  236 Müller, Johannes  272 f., 275, 278, 280, 283 Mundlos, Uwe  319, 320 Müntefering, Franz  170 f. Naphtali, Fritz  232 Neuner, Gerhart  337 Niedermeier, Hans-Peter  19 Nocun, Katharina  179 Nohlen, Dieter  116 Obama, Barack  87 f. Oscarsson, Henrik  138 Page, Benjamin  18 f. Panreck, Isabelle Christine  14 f. Papen, Franz von  239, 244 Paul, Joachim  179 Persson, Göran  141 Petschke, Madeleine  18 f. Pfahl-Traughber, Armin  289, 291 Pieck, Wilhelm  331 Pierce, William Luther  311–315, 317–320 Postone, Moishe  253 f., 256 Ramelow, Bodo  202 f. Rasmussen, Anne  33–36 Reagan, Ronald  356 Reinfeldt, Fredrik  139, 140, 143, 145, 150 Rentmeister, Maria  362 Richter, Steffen  273, 275, 278, 284 Ridder, Wolfram  14 Riesner, Hans  361 Rockwell, George Lincoln  312 Rodenberg, Hans  363 Rokkan, Stein  136 Rousseau, Jean-Jacques  243 Sahlin, Mona  141 Saleh, Ali Abdullah  86 Santer, Jacques  30

416 Personenverzeichnis Sarkozy, Nicolas  84–88, 90 Scharon, Ariel  260 Schenk, Fritz  378 Schiller, Christof  165 Schiller, Dieter  365 Schiller, Olaf  273–275 Schirdewan, Karl  364 Schlegel, Erik  15 f. Schlömer, Bernd  179, 185 Schmidt, Martin  362 Schmitt, Carl  230–233, 235 f., 241, 242–244 Schneider, Nikolaus  201 Schoen, Harald  80 Scholz, Bastian  15 f. Schönbohm, Jörg  220, 223 f. Schönherr, Albrecht  399 Schreiber, Peter  272 f., 275, 278 f., 282 Schreiber, Winfriede  223, 227 Schröder, Gerhard  75, 159–164, 172. Schulmeister, Karl-Heinz  367 Schur, Gustav-Adolf („Täve“)  344 Schürer, Gerhard  389 f. Seghers, Anna  325 Seigewasser, Hans  400 Sievers, Jochen  348 Simon, Florian  20 Simons, Hans  239 f. Smend, Rudolf  231 Snowden, Edward  177 Stalin, Josef Wissarionowitsch  387 Steglich, Carmen  273, 275 Steinbach, Arndt  271, 283 Stellbrink, Patrick  16 f. Stolpe, Manfred  219 Stoph, Willi  357, 399 Strauß, Franz Josef  388 Streeck, Wolfgang  162 Strohmeier, Gerd  19

Sturm, Roland  19 Szabo, Jan  272 f. Thälmann, Ernst  331, 344 Thieme, Tom  289 Thoma, Richard  232 Thorn, Gaston  29 Träger, Hendrik  118 Traub, Herrmann  348 Tschernjenko, Konstantin Ustinowitsch  387 Turner, Earl  311 Turowski, Jan  163 Twitchett, Kenneth  44 Ulbricht, Walter  19, 331, 337, 359– 361, 363–366, 368–371, 374 f., 377–381, 384–386, 388–391 Voges, André  273 f. Vogler, John  45 Voigt, Udo  224, 267 f. Voßkuhle, Andreas  97 Wagner, Siegfried  364–366, 368, 373 Wallström, Margot  141 Wandel, Paul  360–364, 371, 374 Weinrich, Stephan  16 f. Wendt, Erich  362 Werner, Eva  18 West, Charles  355 Westerberg, Per  151 Westerwelle, Guido  79, 84, 85, 87, 88–90 Woidke, Dietmar  219 f. Wolf, Christa  325 Ziel, Alwin  223 f. Zoellick, Robert  47 Zschäpe, Beate  320