Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht: Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen [1 ed.] 9783428549382, 9783428149384

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Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht: Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen [1 ed.]
 9783428549382, 9783428149384

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Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Band 31

Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn

Duncker & Humblot · Berlin

Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht

Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht Herausgeber im Auftrag der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Bonn: Dieter Blumenwitz †, Karl Doehring †, Gilbert H. Gornig, Christian Hillgruber, Hans-Detlef Horn, Bernhard Kempen, Eckart Klein, Hans v. Mangoldt, Dietrich Murswiek, Dietrich Rauschning

Band 31

Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen

Herausgegeben von Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Bände 1 – 19 der „Staats- und völkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht“ erschienen im Verlag Wissenschaft und Politik, Köln

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 1434-8705 ISBN 978-3-428-14938-4 (Print) ISBN 978-3-428-54938-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-84938-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die Anzahl der Menschen, die im letzten Jahrhundert auf der Flucht waren, wird auf 250 bis 300 Millionen geschätzt. Während die Auswanderungen im 19. Jahrhundert in der Regel freiwillig erfolgten, verließen im 20. Jahrhundert die Menschen ihre Heimat meist unfreiwillig. Heute, im 21. Jahrhundert, werden Wanderungsbewegungen vorwiegend durch politische Verwerfungen innerhalb oder zwischen den Staaten ausgelöst, eine große Rolle spielen ferner ethnische Konflikte und fundamentalistische Bewegungen, eine Vielzahl von Menschen flieht vor despotischen Machthabern und unberechenbaren, weithin islamistischen Terroristen. Die meisten Menschen verlassen aber nach wie vor aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat. Dabei ist zudem längst nachgewiesen, dass nicht alle Arbeit suchen, manche streben nur nach angenehmeren Lebensumständen oder besseren klimatischen Verhältnissen. Teilweise wurden die Wanderungsbewegungen noch durch niedrige Einwanderungshürden, günstige Aufenthaltsbedingungen oder gar euphorische Grenzöffnungen der Zielstaaten befördert. Für Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten oder für Menschen aus dem Süden und Osten Europas oder aus dem nördlichen und mittleren Afrika sind so die Staaten der Europäischen Union und insbesondere Deutschland zu einer bevorzugten Adresse geworden – und die Fluchtwege dorthin zu einem lukrativen Geschäft krimineller Schlepperbanden. Nur etwa ein Prozent der Flüchtlinge sind tatsächlich politisch Verfolgte und werden als asylberechtigt anerkannt, zwei Drittel der Asylbewerber sind Muslime und vier Fünftel alleinstehende junge Männer, die im Regelfall ihre gesamten Familien nachholen werden, sobald sie im Inland ein Bleiberecht erlangt haben. Im Jahr 2015 wurden 441.899 Erstanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entgegengenommen. Die Zahl der Folgeanträge im Jahr 2015 hat sich gegenüber dem vergleichbaren Vorjahreswert (29.762 Folgeanträge) um 16,8 % auf 34.750 Folgeanträge erhöht. Damit sind beim „Bamf“ in 2015 insgesamt 476.649 Asylanträge eingegangen; im Vergleich zum Vorjahr mit 202.834 Asylanträgen bedeutet dies eine Erhöhung der Antragszahlen um 135,0 %. Im Monat November 2015, als das hier dokumentierte Symposium stattfand, beantragten 55.950 Personen Asyl in der Bundesrepublik Deutschland (Zahlen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Aktuelle Zahlen zu Asyl, Ausgabe: Dezember 2015). Unbekannt ist nach wie vor die Zahl der illegal Eingereisten, die sich nicht registrieren ließen. Über die Anzahl der auf diese Weise ebenso ins Inland gelangten islamistischen Kämpfer kann man nur spekulieren. Die meisten der ausreisepflichtigen Migranten werden geduldet und nicht abgeschoben.

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Vorwort

Weltweit leben derzeit 85 Millionen Migranten, 13 Millionen Flüchtlinge und Asylsuchende und etwa 20 Millionen illegale Zuwanderer außerhalb ihres Geburtslandes. 30 Millionen Menschen gelten zudem nach Angaben der UN-Flüchtlingsorganisationen als innerstaatlich Vertriebene. Unterdessen leben also etwa 150 Millionen Menschen weltweit als Migranten in einem Staat, der nicht ihre ursprüngliche Heimat ist. Bereits lange bevor die Flüchtlingsströme nach Europa im Jahr 2015 ihren Höhepunkt erreichten, hatte die Studiengruppe für Politik und Völkerrecht die Flüchtlings- und Migrationsbewegung als Thema ihres 32. Symposiums festgelegt. Es fand in Verbindung mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen vom 29. bis 30. November 2015 in Berlin statt. Unter der Überschrift „Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht“ diskutierten Wissenschaftler aus fünf Ländern die aktuellen politischen und rechtlichen Fragen der bald als Flüchtlingskrise bezeichneten Migrationsbewegung. Martin Neumeyer (München) diskutiert die Migration aus historischem und politischem Blickwinkel. Gilbert H. Gornig (Marburg) widmet sich der Einreise, dem Aufenthalt und der Ausreise von Fremden unter besonderer Berücksichtigung von Flüchtlingen aus insbesondere völkerrechtlicher Sicht und kritisiert die aktuelle Flüchtlingspolitik. Adrianna A. Michel (Marburg) setzt sich mit dem schweren Schicksal der de facto und de iure Staatenlosen auseinander und grenzt die Staatenlosen von den Flüchtlingen ab. Peter Hilpold (Innsbruck, Österreich) geht der Frage eines Reformbedarfs der Genfer Flüchtlingskonvention angesichts der Flüchtlingskrise nach. Jurgita Baur (Zarasai, Litauen, und Frankfurt/Main) betrachtet das europäische Flüchtlingsrecht und widmet sich kritisch den Bemühungen, im Rahmen der europäischen Verträge die Flüchtlingsproblematik zu bewältigen. Sie verdeutlicht den Unterschied zwischen einem Asylberechtigten und einer Person, die subsidiär Schutzberechtigte ist. Katharina Senge (Berlin) erörtert die Migrationspolitik in Europa im Zeichen der Flüchtlingskrise. Friedemann Larsen (Marburg) unterzieht das sog. Kirchenasyl einer kritischen Betrachtung und stellt dessen Unvereinbarkeit mit dem deutschen Recht heraus. Norbert Bernsdorff (Kassel, Neustadt an der Weinstraße) behandelt die Grundfreiheiten und die Gefahr des Missbrauchs von Sozialleistungen anhand der nationalen und europäischen Rechtsprechung. Leider lagen den Herausgebern bei Redaktionsschluss nicht alle Referate zur Publikation vor. Die Herausgeber danken Herrn Ref. iur. Mathias Susˇnik für die Übersetzungsarbeiten. Marburg, im Dezember 2016

Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn

Foreword The number of People having fled in the past century is estimated at 250 to 300 million. Whilst emigration in the 19th century generally took place voluntarily, in the 20th century people left their homes mostly involuntarily. Today, in the 21st century, migration is predominantly provoked by political frictions within or between states; also ethnic conflicts and fundamentalist movements play a greater role, a great number of people flee from despotic rulers and continuously Islamic terrorists. But still, most people leave their homes due to economic reasons. At the same time it is long since proven that not all seek work, some only striving for more pleasant living and better climatic conditions. Partially migration was encouraged by low barriers to immigration, favourable residence conditions or even euphoric border openings by the countries of destination. For refugees from war zones or crisis areas or for people from South or East Europe or from Northern or Middle Africa these states of the European Union and especially Germany have become a preferred address – and the refugees going there have become a lucrative business for criminal gangs smuggling illegal immigrants. Only about one percent of the refugees are actually politically persecuted and therefore recognised as entitled to asylum; two thirds of those seeking asylum are Muslims and four-fifths single young men, who most likely will bring their entire family as soon as they have acquired a right of residence. In 2015 441,899 initial applications were received by the Federal Agency of Migration and Refugees. The number of follow-up applications in 2015 compared to the corresponding previous year’s figures (29,762 follow-up applications) has increased by 16.8 % to 34,750 follow-up applications. Thus, a total of 476,649 applications for asylum have been received by the “BAMF” in 2015; compared to the previous year (202,834 applications for asylum) this involves a 135.0 % increase of applications. In November 2015, when this documented symposium took place, 55,950 people sought asylum within the Federal Republic of Germany (figures published by the Federal Agency of Migration and Refugees, “Aktuelle Zahlen zu Asyl” ([current figures of asylum], edition: December 2015). The figures of unregistered people who illegally entered the country are still unknown. Most of the migrants obliged to leave the country are tolerated and not deported. Worldwide, 85 million migrants, 13 million refugees and asylum seekers and about 20 million illegal immigrants live outside their home country. Moreover, 30 million people are classified as internally displaced persons according to the UN refugee organisation. Thus, about 150 million people worldwide live as migrants in a state, which is not their original home.

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Foreword

Long before the streams of refugees to Europe reached their climax in 2015, the Study Group for Politics and International Law decided on the subject of the refugee and migrations flow for their 32nd Symposium. It took place in conjunction with the “Cultural Foundation of German displaced persons” (Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen) from 29 to 30 November 2015 in Berlin. Under the heading “Migration, asylum, refugees and law of aliens” scientists from five countries discussed the current political and legal issues of the migration flows, soon referred to as refugee crisis. Martin Neumeyer (München) discusses migration from an historical and political perspective. Gilbert H. Gornig (Marburg) deals with the entry, residence and departure of foreigners and particularly focuses on refugees from the point of view of international law and criticises the current refugee policy. Adrianna A. Michel (Marburg) adresses the hard fate of de facto and de iure stateless people and differentiates stateless people from refugees. Peter Hilpold (Innsbruck, Austria) considers the question if there is a need to reform the Geneva Convention on Refugees 1951 in the light of the refugee crisis. Jurgita Baur (Zarasai, Lithuania, and Frankfurt am Main) focuses on European refugee law and critically examines the efforts within the European Treaties in coping with the refugee crisis. She illustrates the differences between a person entitled to asylum and a person, who is entitled only subsidiary to protection. Katharina Senge (Berlin) discusses the migration policy in Europe in the light of the refugee crisis. Friedemann Larsen (Marburg) critically reviews the so called church asylum and outlines its incompatibility with German Law. Norbert Bernsdorff (Kassel, Neustadt an der Weinstraße) deals with fundamental freedoms and addresses the danger concerning the misuse of social benefits on the basis of national and European jurisdiction. Unfortunately, not all of the editor’s papers were available for publishing by the editorial deadline. The publishers would like to thank Mr. Ref. iur. Mathias Susˇnik for the translation work. Marburg, December 2016

Gilbert H. Gornig Hans-Detlef Horn

Inhaltsverzeichnis Martin Neumeyer Migration – historische und politische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gilbert H. Gornig Einreise, Aufenthalt und Ausreise von Fremden, unter besonderer Berücksichtigung von Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adrianna A. Michel Die de facto und de iure Staatenlosigkeit. Ein schweres Schicksal für die Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Peter Hilpold Die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 – Reformbedarf angesichts der Flüchtlingskrise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Jurgita Baur Europäisches Flüchtlingsrecht. Bemühungen im Rahmen der europäischen Verträge, die Flüchtlingsproblematik zu bewältigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Katharina Senge Migrationspolitik in Europa im Zeichen der Flüchtlingskrise . . . . . . . . . . . . . . . 139 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Friedemann Larsen „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“. Zur Renaissance des Kirchenasyls als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Norbert Bernsdorff Grundfreiheiten und Zuzug in die nationalen Sozialleistungssysteme . . . . . . . . . 175 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Content Martin Neumeyer Migration – Historical and Political Considerations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gilbert H. Gornig Entry, Residence and Departure of Foreigners with Particular Focus on Refugees Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Adrianna A. Michel De facto and de iure Statelessness. A Hard Fate for the Persons Concerned . . . 67 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Peter Hilpold Geneva Convention on Refugees 1951 – a Need to Reform in the Light of the Refugee Crisis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Jurgita Baur European Refugee Law. Efforts within the European Treaties in Coping with the Refugee Crisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Katharina Senge Migration Policy in Europe in the Light of the Refugee Crisis . . . . . . . . . . . . . . 139 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Friedemann Larsen “I have been a stranger, and you received me”. The Renaissance of Church Asylum as a Legal Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Norbert Bernsdorff Fundamental Freedoms and Dangers Concerning the Misuse of Social Benefits 175 Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 The Authors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 List of Names and Subject Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations AAZuV ABl. Abs. AdG AEMR AEUV AG AMRK Anm. AöR Art. AsylbLG AsylG AsylVfG AuAS AufenthG Aufl. AuR AuslZustV AWR BAfög BAG BAMF BayObLG Bd. Beil. Beschl. BGBl. BGHZ BT-Drs. BVerfGE BVerwGE BY CDU DDR Doc. DÖV dpa DRiZ DVBl. ebd.

Ausländer- und Asylverfahrenszuständigkeitsverordnung Amtsblatt Absatz Archiv der Gegenwart Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Amtsgericht Amerikanische Menschenrechtskonvention Anmerkung Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Asylbewerberleistungsgesetz Asylgesetz Asylverfahrensgesetz Schnelldienst Ausländer- und Asylrecht Aufenthaltsgesetz Auflage Arbeit und Recht (Zeitschrift) Auslandszuständigkeitsverordnung Association for the Study of the World Refugee Problem Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesarbeitsgemeinschaft Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bayerisches Oberstes Landesgericht Band Beilage Beschluss Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundestags-Drucksache Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts Bayern Christlich Demokratische Union Deutsche Demokratische Republik Document Die Öffentliche Verwaltung Deutsche Presse-Agentur Deutsche Richterzeitung Deutsche Verwaltungsblatt ebenda

12 ECOSOC ed. EGMR EKD EKMR EMRK EStG EU EuGH EUGrdRCh EuGRZ EuStAngÜbk EuZW FAS FAZ ff. Fn. GAMM GAOR GEAS GFK GHN GVBl. HärtefK HE HFKG HFKomV HK HLKO HRQ Hrsg. IAB ibid. ICJ IFLA IGH IJRL JM Joh. JZ KOM KuR LG lit. LNTS M-V m.w.N. NGO

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations Economic and Social Council Edition Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Evangelischen Kirche in Deutschland Europäische Menschenrechtskommission Europäische Menschenrechtskonvention Einkommensteuergesetz Europäische Union Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechtecharta Europäische Grundrechte-Zeitschrift Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit von 1997 Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Frankfurter Allgemeine Zeitung folgende Fußnote Gesamtansatz für Migration und Mobilität General Assembly Official Records Gemeinsames Europäisches Asylsystem Genfer Flüchtlingskonvention Grabitz/Hilf/Nettesheim Gesetz- und Verordnungsblatt Härtefallkommission Hessen Härtefallkommissionsgesetz Härtefallkommissionsverordnung Handkommentar Haager Landkriegsordnung Human Rights Quarterly Herausgeber Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ibidem International Court of Justice Informationsdienst für Lastenausgleich Internationaler Gerichtshof International Journal of Refugee Law juris – Die Monatszeitschrift Johannes Juristenzeitung Kommission Kunst und Recht (Zeitschrift) Landgericht littera League of Nations Treaty Series Mecklenburg-Vorpommern mit weiteren Nachweisen Nongovernmental Organisation

Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations NJW Nr. NRW NStZ NVwZ NVwZ-RR NWVBl. NZS ÖJZ OLG OVG PrALR Res. RGBl. RIAA RL Rn. Rs. Rz. S. sächs. SDÜ sess. SF SG SGb SGB Slg. SozSich SPD st. Rspr. STAG suppl. SZ TH u. a. UdSSR UN UNHCR UNTS Urt. v. VG vgl. VSSR VVDStRL ZAR ZESAR

Neue Juristische Wochenschrift Nummer Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Strafrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht + Rechtsprechungs-Report Nordrhein-Westfälische Verwaltungsblätter Neue Zeitschrift für Sozialrecht Österreichische Juristen-Zeitung Oberlandesgericht Oberverwaltungsgericht Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten Resolution Reichsgesetzblatt Reports of International Arbitral Awards Richtlinie Randnummer Rechtssache Randzeichen Seite sächsisch Schengener Durchführungsübereinkommen session Sozialer Fortschritt (Zeitschrift) Sozialgericht Die Sozialgerichtsbarkeit (Zeitschrift) Sozialgesetzbuch Sammlung Soziale Sicherheit (Zeitschrift) Sozialdemokratische Partei Deutschlands ständige Rechtsprechung Staatsangehörigkeitsgesetz Supplement Süddeutsche Zeitung Thüringen und andere Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken United Nations United Nations High Commissioner for Refugees United Nations Treaty Series Urteil vom Verwaltungsgericht vergleiche Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht

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Abkürzungsverzeichnis / List of Abbreviations

ZFSH/SGB Zeitschrift für die sozialrechtliche Praxis ZustVAuslR Zuständigkeitsverordnung Ausländerrecht ZuwFlAGDLVO Zuwanderungszuständigkeitslandesverordnung

Migration – historische und politische Überlegungen Von Martin Neumeyer I. Migration in Mitteleuropa Deutschland ist nicht erst in den letzten Jahren zum „Einwanderungsland“ geworden, sondern war aufgrund seiner zentralen Lage immer Ausgangspunkt und Zielland von Migration. Es ist seit der Völkerwanderung geprägt von Migrationsbewegungen und hat dabei in vielfältiger Weise Einflüsse der Nachbarkulturen, von Romanen, Slawen und Magyaren, aufgenommen. Auch geographisch bildet Deutschland das Zentrum und den Kreuzungspunkt Europas (ohne Russland). Der gegenwärtige Mittelpunkt der Europäischen Union liegt in Westerngrund (Unterfranken) nahe Frankfurt. In früheren Jahrhunderten war Deutschland infolge seiner politischen Zersplitterung, von verbreiteter Armut und starren Erbfolgeregelungen, eines der wichtigsten Auswanderungsländer. Allein Preußen betrieb eine gezielte Einwanderungspolitik, um das Land zu besiedeln und wirtschaftlich zu entwickeln und warb dabei insbesondere Religionsflüchtlinge (Hugenotten) an. Mit dem Wirtschaftsboom des Kaiserreichs Ende des 19. Jahrhunderts wurden Teile Deutschlands dann Auswanderungsziel für Bergleute und Landarbeiter aus Italien und Polen. II. Auswanderer und Heimatvertriebene Allerdings trieben dann die Inflation, die Weltwirtschaftskrise und die verlorenen Kriege wieder viele Deutsche nach Übersee. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte der verbliebene Rest Deutschlands schließlich die größte Zuwanderungswelle seiner Geschichte, den Zuzug von 12 Millionen Heimatvertriebenen. Die Vertriebenen aus dem Osten wurden vielerorts nur widerwillig aufgenommen und noch lange Zeit diskriminiert. Gleichzeitig haben sie in ihrer neuen „kalten Heimat“ ganz entscheidend zum Wiederaufbau und Wirtschaftaufschwung beigetragen. Dies gilt ganz besonders für das ländliche Bayern. Einheimische glaubten lange Zeit, dass Vertriebene bevorzugt behandelt würden (Lastenausgleich) und befürchteten zudem eine Umwälzung der konfessionellen Mehrheitsverhältnisse in ihrer Heimat.

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III. Gastarbeiter, Aussiedler, „Asylanten“ Ab Ende der fünfziger Jahre wurden im Zuge des Wirtschaftsbooms dann so genannte „Gastarbeiter“ aus dem Mittelmeerraum und Jugoslawien, aus der Türkei und Marokko angeworben. Zunächst zogen alleinstehende Männer nach Deutschland, die isoliert blieben und nur arbeiten und dann wieder gehen sollten: „Man wollte Arbeitskräfte und es kamen Menschen“.1 Fast gleichzeitig zur ersten größeren Wirtschaftskrise Anfang der siebziger Jahre setzte dann aber der verstärkte Familiennachzug ein. Erstmals stellte sich damit die Frage der „Integration“. In den achtziger Jahren lobte Kanzler Helmut Kohl „Rückkehrprämien“ aus, um die – immer stärker von Arbeitslosigkeit betroffenen – Ausländer zur Heimkehr zu bewegen. Er hatte kaum Erfolg. Vor knapp 40 Jahren kamen dann auch die ersten Flüchtlinge („boat people“) und die Spätaussiedler in Deutschland an. Diese Entwicklung kulminierte Anfang der neunziger Jahre mit plötzlich rapide ansteigenden Asylbewerberzahlen und den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Bosnien und später Kosovo. Gleichzeitig zogen in nur wenigen Jahren gut vier Millionen Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion (Russland, Mittelasien) – oft ohne Deutschkenntnisse – nach Deutschland. Diese Zuwanderungswelle führte in der Bevölkerung zu Abwehrreaktion („Das Boot ist voll“) und fremdenfeindlichen Exzessen im Ergebnis einigte sich Politik auf ein verschärftes Asylrecht. IV. Attraktives Einwanderungsland Im Zuge der „Vereinigungskrise“ verlor Deutschland anschließend an Attraktivität. Die Abwanderungszahlen überstiegen die Zuwanderung deutlich, wobei der Familiennachzug überwog. Mit dem Aufschwung infolge der Agenda 2010 und vor allem im Zuge der Finanzkrise entwickelte sich Deutschland binnen kurzer Zeit zum zweitbegehrtesten Zuwanderungsziel weltweit. Deutschland ist mittlerweile ein bedeutenderes Einwanderungsland als Kanada oder Australien: Allein 2014 kamen 1,23 Millionen Zuwanderer dauerhaft oder auf Zeit neu ins Land. Die Zuwanderer stammten – bis zur Flüchtlingskrise – zu 80 Prozent aus Europa, in erster Linie aus den Transformationsstaaten Osteuropas und dem von der Eurokrise gebeutelten Südeuropa. Da diese Zuwanderergruppe im Schnitt zehn Jahre jünger ist, trägt sie dazu bei, den demographischen Wandel abzumildern. Deutschland zieht zunehmend auch Studierende wegen des guten Rufs der Hochschulen – und ihrer Gebührenfreiheit – an. Sie bleiben häufig anschließend hier, um zu arbeiten oder eine Firma zu gründen.

1 „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ – Vorwort zu dem Buch „Siamo italiani – Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz“ von Alexander J. Seiler, 1965. Als „Überfremdung I“ in Max Frisch: Öffentlichkeit als Partner, 1967, S. 100. Auch in Berliner Zeitung 08. 01. 2005.

Migration – historische und politische Überlegungen

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V. Bereicherung statt Problem Ohne Migration würde die deutsche Gesellschaft hoffnungslos überaltern und infolge des damit verbundenen Fachkräftemangels bald an wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Viele Branchen, vor allem der Gesundheitssektor und der Pflegebereich, Erziehungsberufe, der Servicebereich und das Handwerk würden ohne Arbeitsmigranten zusammenbrechen. Vor knapp zwei Jahren herrschte große Furcht wegen vermeintlicher massenhafter „Armutszuwanderung“ aus Rumänien und Bulgarien. Alle Prognosen haben sich als unbegründet erwiesen. Allerdings gibt es hierzulande in der Tat eine Grauzone, in der arme und verzweifelte Migranten von Schleusern, „Vermittlern“ und Vermietern ausgebeutet und wie Leibeigene gehalten werden. Die „Zuwanderung in die Sozialsysteme“ betrifft kaum Neuzuwanderer, sondern erfolgt, wenn, dann vor allem über Familiennachzug. Die Gesellschaft ist sich mittlerweile bewusst, dass gesteuerte Zuwanderung eher Bereicherung als Bedrohung darstellt. Heute besteht Konsens darüber, dass Deutschland ein „Einwanderungsland“ ist. VI. Integration und kulturelle Vielfalt Zugleich haben die demokratischen Parteien den ideologischen Konflikt über Migration und Integration einschließend der linken Illusion einer „multikulturellen Gesellschaft“ überwunden. So sind sich heute alle einig, dass der Erwerb der deutschen Sprache Grundvoraussetzung für die Integration ist und sich Zuwanderer auch aktiv um ihre Integration bemühen müssen. Die Deutschen sind offen für Migration aus anderen Teilen Europas. Aber 61 Prozent lehnen Zuwanderer aus außereuropäischen Kulturkreisen und insbesondere islamischen Ländern ab. „Kulturelle Diversität“ ist nur insoweit akzeptabel als sie unseren Gesetzen und Grundwerten wie Freiheit, Toleranz und Gleichberechtigung der Geschlechter nicht entgegensteht. Die Zuwanderer sind bereit, einen gemeinsamen Wertekanon zu akzeptieren. Dabei hat sich gezeigt, dass unsere Gesellschaft durchaus in der Lage ist, Muslime erfolgreich zu integrieren, der Islam als solcher aber nicht zu unserem gemeinsamen Kulturerbe gehört. Unsere Kultur ist historisch geprägt durch das Christentum, die Aufklärung, Humanismus, griechische Philosophie und römisches Recht. Manche Kritiker stellen die Integrationsfähigkeit der Muslime im Westen generell in Frage. Allerdings ist die große Mehrheit hervorragend integriert. Man darf sie nicht nur auf ihre Religion reduzieren. VII. Vervierfachte Flüchtlingszahlen Parallel zur jüngsten Zuwanderungswelle erlebt Deutschland auch eine beispiellose Flüchtlingskrise: 2015 werden weit über eine Million neue Asylbewerber und Flüchtlinge in Deutschland erwartet. Bayern ist dabei als Grenzland zum Süden und Osten besonders betroffen, da die gängigen Flüchtlingsrouten über das Mittel-

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meer und Italien bzw. über die Balkanländer hier enden. Über das Mittelmeer kommen vor allem Afrikaner und Araber, über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute viele syrische Kriegsflüchtlinge, Iraker und Afghanen nach Deutschland. Schlepper verdienen Milliarden daran, dass legale Einreise in die Europäische Union weder für Arbeitsmigranten noch für die große Mehrzahl der Kriegsflüchtlinge derzeit kaum möglich ist. VIII. Europäische Ungleichgewichte Deutschland nimmt derzeit einen Großteil der Flüchtlinge (schon vor der Flüchtlingskrise seit Anfang September waren es 40 Prozent) innerhalb der EU auf, bei einem Bevölkerungsanteil von nun 15,9 Prozent. Es hat sich herumgesprochen, dass Deutschland Flüchtlinge fair behandelt, gut versorgt, die Bevölkerung mit Empathie reagiert und es hier keine starken fremdenfeindlichen Parteien gibt. Dagegen verweigert sich ein Großteil der EU-Staaten der Aufnahme von Flüchtlingen, schickt sie nicht registriert weiter oder behandelt sie absichtlich so schlecht, dass sie weiterreisen. Osteuropäer verweigern sich aus „kulturellen Gründen“ der Aufnahme von Muslimen, während viele Regierungen in Westeuropa den Aufstieg starker rechtspopulistischer Parteien fürchten. Wir brauchen unbedingt ein einheitliches Asylverfahren in Europa, vergleichbare Standards bei Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge und einen fairen Verteilungsschlüssel. Dieses ist in der gegenwärtigen Situation allerdings unrealistisch, da viele EUStaaten Deutschland wegen der einladenden Worte Merkels als Verursacher der gegenwärtigen Flüchtlingswelle sehen. IX. Herkunft und Motive Letztlich lassen sich Flüchtlinge und Asylbewerber in drei Gruppen einteilen: Kriegsflüchtlinge, Asylbewerber vom westlichen Balkan und junge alleinstehende Männer, vor allem aus Afrika. Bei Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien beträgt die Anerkennungsquote 100 Prozent – dazu kommen aber zunehmend auch Flüchtlinge aus anderen von Islamisten bedrohten Staaten wie Irak, Libyen und Jemen sowie aus Afghanistan und Pakistan. Auch politisch Verfolgte wie Flüchtlinge aus Eritrea erhalten in der Regel einen positiven Asylbescheid. Bei Flüchtlingen aus dem übrigem Afrika ist es oft schwierig, Asylgründe zu überprüfen. Asylbewerber aus Afrika stellen langfristig die größte Herausforderung dar, da die meisten Länder von Elend, Korruption und Gewalt – zunehmend auch religiöser Art – geprägt bleiben werden. Hinzu kommt die demographische Entwicklung: Die Geburtenrate liegt bei 4,7 Kindern pro Frau (Deutschland: 1,3). Im Jahr 2050 wird es in Afrika eine Milliarde Minderjährige geben. Zu erwarten ist deshalb eine gewaltige Wanderungsbewegung in entwickelte Länder. Bei Migranten aus den Staaten des westlichen Balkans liegt die Anerkennungsquote nahe Null. Sie haben keinen legalen Zugang zu hiesigen Ar-

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beitsmärkten und versuchen es über Asyl. Flüchtlinge werden häufig von falschen Gerüchten angelockt. Bayern möchte diese Gruppe in speziellen Aufnahmezentren von den übrigen Asylbewerbern trennen und sie deutlich schneller abschieben. Wir müssen mehr Druck auf die Herkunftsländer der Flüchtlinge – die fast alle Beitrittskandidaten zur EU sind – ausüben, damit sich die politische Kultur und die Perspektiven in der Region endlich verbessern. 93 Prozent der Bürger begrüßen die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und 80 Prozent die Aufnahme politisch Verfolgter. 69 Prozent möchten „Wirtschaftsflüchtlinge“ sofort abschieben. Allerdings überfordern mittlerweile auch die Kriegsflüchtlinge allein bereits die Aufnahmefähigkeit Deutschlands. Der Türkei fällt künftig die Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Krise zu. Schließlich stellt sich längst die Frage, wo Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft ihre Grenze hat. * Abstract Martin Neumeyer: Migration – Historical and Political Considerations (Migration – historische und politische Überlegungen), in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 15–20. In the end refugees and applicants for asylum can be distinguished into three groups: War refugees, applicants for asylum from the western Balkans and young solitary men, especially from Africa. The acceptance rate for civil-war refugees from Syria stands at 100 percent – moreover, refugee rates concerning other states under threat of Islamists like Iraq, Libya or Yemen as well as Afghanistan and Pakistan increase. Usually, politically persecuted refugees like people from Eritrea also receive a positive decision on asylum. However, reviewing reasons for asylum regarding other refugees throughout Africa remains difficult. On the long run, applicants for asylum from Africa constitute the greatest challenge, because most of the countries will remain marked by misery, corruption and violence – also increasingly of a religious nature. Furthermore, there is a demographic development: The birth-rate per woman stands at 4.7 percent (Germany: 1.3 percent). In 2050 there will be one billion minors in Africa. Thus, an immense migration movement towards developed countries is to be expected. The acceptance rate for migrants from the western Balkans stands next to zero. They have no legal access to the local labour market and hence try to apply for asylum. Refugees are often drawn by false rumours. Bavaria wants to separate this group in special reception centres from other refugees seeking asylum and wants to deport them more quickly. We have to pressure the countries of origin – almost all of them being candidates for accession to the EU – in order to finally achieve an improvement regarding the political culture and prospects throughout the region. 93 percent of the citizens embrace the idea of receiving war refugees and 80 percent receiving those politically persecuted. 69 percent want to deport “economic migrants” immediately. However, war refugees alone overexert Germany’s capacity. In future, Turkey will fill the key role in dealing with the crisis. After all, the question arises where the mainstream society has its limit concerning capacity and willingness to receive refugees.

Einreise, Aufenthalt und Ausreise von Fremden, unter besonderer Berücksichtigung von Flüchtlingen Von Gilbert H. Gornig Immer mehr Menschen auf der ganzen Welt verlassen ihre Heimat, um ihren Lebensmittelpunkt an einen anderen Ort zu verlegen. Meistens wählen Migranten Staaten, in denen der Lebensstandard erheblich höher ist als im eigenen Land. Viele suchen Arbeit, manche nur ein angenehmeres Leben, eine Vielzahl von Menschen flieht vor despotischen Machthabern und unberechenbaren Terroristen. Auch klimatische Verhältnisse können den Wunsch auszuwandern wecken. Häufig werden Familienmitglieder nachgeholt. Unterdessen leben mehr als 150 Millionen Menschen weltweit als Migranten in einem Staat, der nicht ihre ursprüngliche Heimat ist. Dies entspricht etwa der doppelten Bevölkerungszahl der Bundesrepublik Deutschland. Einige wollen nur für kurze Zeit an einem fremden Ort bleiben, andere für mehrere Jahre oder gar den Rest ihres Lebens. Heute leben in Deutschland etwa 7 Millionen Ausländer und darüber hinaus 8,6 Millionen Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft, aber einer direkten familiären Zuwanderungsgeschichte. Damit weist jede fünfte in Deutschland lebende Person einen Migrationshintergrund auf. In der Gruppe der unter Fünfjährigen ist es schon jede dritte.1 2005 lag die Anzahl der Zugewanderten noch bei 15,3 Millionen, das entsprach 18,6 Prozent der Gesamtbevölkerung. Im Jahr 2006 lebten etwa 15,1 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Seitdem ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund auf 19,6 Prozent gestiegen.2 2009 wanderten 606.000 Menschen mit ausländischem Pass nach Deutschland ein und 579.000 ohne deutsche Staatsangehörigkeit aus. Das entspricht einem Überhang von etwa 27.000 Zuwanderungen.3 2011 sind 958.000 Menschen nach Deutschland zugezogen. Das entspricht laut statistischem Bundesamt einem Anstieg von 20 Prozent gegenüber 2010. Demgegenüber stehen 679.000 Personen, die aus Deutschland fortzogen.4 Im Jahr 2015 erreichte der Flüchtlingsstrom nach Deutschland Rekordhöhen. Zahlen kann man hier nicht nennen, sie kennt keiner. 1

http://www.berlin-institut.org/publikationen/studien/neue-potenziale.html. http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/69050/16-millionen-migranten-in-deutsch land-16 - 07 - 2010. 3 Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 185 vom 26. 05. 2010. 4 https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/ 2012/05/PD12_171_ 12711.html. 2

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Staaten haben immer wieder versucht, Migration durch Gesetze zu steuern. In diesen Gesetzen wird die Einwanderung entweder erleichtert, wenn Bedarf ist, oder erschwert, wenn die einheimische Bevölkerung sich überfordert sieht. Die nationalen Gesetze über Einreise, Aufenthalt und Ausreise von Fremden sind völkerrechtlichen Beschränkungen unterworfen, die insbesondere eine Ausweisung des Fremden unter bestimmten Bedingungen untersagen. Auf das Grundgesetz und die nationalen fremdenrechtlichen Gesetze wird im Folgenden nur am Rande eingegangen. I. Völkerrechtliche Vorgaben 1. Zulassung, Abweisung, Ausweisung von Fremden5 a) Grundsatz der staatlichen Souveränität Die souveräne Gleichheit der Staaten, die die Grundlage der völkerrechtlichen Beziehungen zwischen den Staaten darstellt und in Art. 2 Ziff. 1 UN-Charta6 statuiert ist, berechtigt grundsätzlich jeden Staat zur selbstständigen Regelung der Bedingungen der Einreise, des Aufenthalts und der Entfernung von Ausländern und Staatenlosen. Kraft seiner Gebietshoheit kann also ein Staat im Allgemeinen nach seinem Ermessen darüber bestimmen, wem er den Zugang in sein Staatsgebiet eröffnen will. Kein Staat ist somit verpflichtet, Fremde in sein Staatsgebiet einreisen zu lassen oder ihnen dort einen zeitlich begrenzten oder unbegrenzten Aufenthalt zu gestatten. Jeder Staat kann damit grundsätzlich Fremde an der Grenze abweisen, aus dem Staatsgebiet ausweisen oder an einen anderen Staat ausliefern. So hat der Supreme Court der Vereinigten Staaten von Amerika schon im Jahre 1893 erklärt,7 dass das Recht zur Abweisung oder Ausweisung aller Ausländer oder einer beliebigen Kategorie von Ausländern im Krieg und im Frieden als natürliches und unveräußerliches Recht einer jeden souveränen und unabhängigen Nation bestehe, und eine wesentliche Voraussetzung für ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihr Wohl darstelle. Hier wird das staatliche Sicherheitsbedürfnis als Grundlage für ein unbegrenztes Recht des Staates herangezogen, Fremde am Betreten des Staatsgebietes zu hindern oder sie zum Verlassen des Staatsgebietes aufzufordern.8 Insbesondere die Zulassung von Einwanderern ist nach heute geltendem Völkerrecht in das Belieben der einzelnen Staaten gestellt und als innere Angelegenheit anzusehen. Es gibt nach allgemeinem Völkerrecht keine internationale Freizügigkeit, obwohl es überbevölkerte und 5 Vgl. hierzu auch G. Gornig, Einreise, Aufenthalt und Entfernen Fremder. Völkerrechtliche, europarechtliche und deutsche Regeln, in: G. Gornig/A. Michel/Chr. Bohle (Hrsg.), Interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Phänomen der Migration. Interdisziplinary Study of the Phenomenon of Migration. Schriftenreihe Europäische Studien, Band 6, 2016, S. 119 ff. 6 Text: BGBl. 1973 II, S. 431 ff.; BGBl. 1980 II, S. 1252. 7 Vgl. Fong Yue Ting v. United States (1893) 149 US 698. 8 Vgl. auch F. Berber, Völkerrecht, Bd. I, 2. Aufl., 1975, S. 384; für ihn ist das Ausweisungsrecht Ausfluss des staatlichen Grundrechts der Selbsterhaltung.

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unterbevölkerte Staaten gibt.9 Es ist geradezu ein Charakteristikum für das gegenwärtige Stadium des Völkerrechts, dass Staaten am Prinzip der Souveränität festhalten. Den Staaten bleibt mithin das Recht vorbehalten, über die Zusammensetzung ihrer Bevölkerung selbst zu bestimmen. Dieses Recht bedeutet die Macht der Staaten, ihre Homogenität wie ihre staatlich historische Identität aufrecht zu erhalten, die bei Gewährung internationaler Freizügigkeit gefährdet wäre. Es steht einem Ausländer grundsätzlich jederzeit frei, das Gebiet eines fremden Staates, auf dem er sich vorübergehend oder dauernd befindet, wieder zu verlassen, es sei denn, dass seine Freiheit der Bewegung in diesem Lande eingeschränkt ist, etwa wegen einer Straftat oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung. Die Ausreiseverweigerung von Ausländern darf allerdings nicht zu einer Verletzung des internationalen fremdenrechtlichen Mindeststandards führen und nicht willkürlich erfolgen. b) Beschränkungen des staatlichen Rechts, Fremde ab- und auszuweisen aa) Beschränkungen der Abweisung Nach herrschender Ansicht ist die Abweisung – darunter ist die Weigerung des Staates zu verstehen, Fremde in das Staatsgebiet einreisen zu lassen – ohne weiteres zulässig.10 Das Recht der Abweisung kann aber durch völkerrechtliche Verträge eingeschränkt werden, so durch Freundschafts-, Handels-, Schifffahrts-, Konsular-, Niederlassungs- und Einwanderungsverträge. Diese lassen aber in der Regel dem Aufnahmestaat die Freiheit, über das Vorliegen der Abweisungsgründe zu entscheiden. Im Schrifttum11 wird die Auffassung vertreten, dass nur vernünftige Gründe, wie etwa Kriminalität, Armut oder Krankheit der Fremden, kulturelle Überfremdung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die Abweisung rechtfertigen könnten. Es wird aber eingeräumt, dass letztlich der Aufnahmestaat über das Vorliegen der genannten sachlichen Abweisungsgründe entscheiden könne. Diese Ansicht kann aber nicht überzeugen. Aufgrund der staatlichen Souveränität und Integrität ist kein Staat verpflichtet Fremde einreisen zu lassen. Er hat das Recht der Abweisung an der Grenze, er hat auch grundsätzlich das Recht, seine Grenzen zu sichern und unerlaubtes Eindringen zu verhindern.12 Kein vernünftig agierender Staat und 9 Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte gewährt jedermann Freizügigkeiten innerhalb des Staatsgebiets und nur, wenn er sich rechtmäßig innerhalb des Staatsgebiets befindet. Ein Recht auf Zulassung eines Fremden in ein Staatsgebiet wird nicht gewährt, nur der Zugang in das eigene Staatsgebiet darf nicht willkürlich entzogen werden (Art. 12). 10 K. Doehring, Abweisung, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 1960, S. 10. 11 Vgl. K. Doehring (Anm. 10), in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, S. 10. 12 Die US-Regierung hat beschlossen, 10.000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Die Syrer müssten jedoch einen „robusten Sicherheitsprozess“ durchmachen, der zwölf bis achtzehn

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auch keine Staatenunion dürfen die Kontrolle ihrer Außengrenzen aufgeben. Der Staat muss wissen, wer kommt und welche Absichten er hat, da von einer Einreisemöglichkeit nicht nur Schutzbedürftige Gebrauch machen. Die vorbehaltlose Öffnung der deutschen Grenzen für Flüchtlinge ist also nicht geboten, sie widerspricht vielmehr den Grundsätzen staatlicher Souveränität und Integrität. Bürger der Schengen-Staaten können hingegen die Schengen-Binnengrenzen ohne Personenkontrollen überschreiten (Art. 2 Abs. 1 SDÜ). Die einzelnen Staaten können bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit jedoch weiterhin für einen begrenzten Zeitraum Kontrollen an den Binnengrenzen durchführen (Art. 2 Abs. 2 SDÜ).13 bb) Beschränkungen der Einzelausweisung (1) Allgemein Anders als die Abweisung darf nach herrschender Auffassung die Ausweisung nicht willkürlich erfolgen.14 Lässt ein Staat Fremde in sein Territorium einreisen, so ist er ihnen gegenüber zur Einhaltung des völkerrechtlichen Fremdenrechts verpflichtet. Der Fremde hat damit einen Status erlangt, den der Aufenthaltsstaat nicht einseitig beseitigen kann. Der Staat ist nur unter bestimmten Voraussetzungen berechtigt, einen Fremden auszuweisen, nämlich dann, wenn ein völkerrechtlich anerkannter Ausweisungsgrund vorliegt.15 Da das Ausweisungsrecht Ausfluss des staatlichen Grundrechts der Selbsterhaltung ist, kann es nur ausgeübt werden, wenn der Ausländer eine gegenwärtige oder künftige Gefahr für die äußere oder innere Sicherheit oder die öffentliche Ordnung (ordre public) des Aufenthaltsstaates darstellt. Da es sich bei der Ausweisung nicht um eine Strafe, sondern um eine sicherheitspolizeiliche Maßnahme handelt, darf der Ausländer nicht ausgewiesen werden, wenn sein Verbleiben auf dem Staatsgebiet keine gegenwärtige oder künftige Gefahr darstellt. Monate dauere. Die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Bürger habe oberste Priorität! Vgl. Die Welt vom 12. 09. 2015. 13 Schengener Durchführungsübereinkommen – SDÜ – Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 05. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. 05. 1990, Text: BGBl. 1993 II, S. 1013 ff., Sartorius II, Nr. 280; http://eur-lex.europa.eu/LexUri Serv/LexUriServ.do?uri=CELEX:42000A0922(02):de:HTML; Drittstaatsangehörige, die Inhaber eines nationalen Aufenthaltstitels eines Schengen-Staates sind, dürfen sich im Rahmen von dessen Gültigkeit für bis zu 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen auch im Hoheitsgebiet der übrigen Schengen-Staaten aufhalten. 14 Vgl. G. H. Hackworth, Digest of International Law, 1942, Bd. 3, S. 690 ff.; O. Kimminich, Der Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 96; ders., Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, 1962, S. 144. 15 Vgl. hierzu die Nachweise bei G. Gornig, Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht. Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen, 1987, S. 6 ff.

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Als Ausweisungsgründe werden genannt die Gefährdung oder Schädigung des Aufenthaltsstaats, strafbare Handlungen im Inland oder Ausland, Beleidigung des Aufenthaltsstaats, politische Umtriebe, ein Verhalten, das geeignet ist, die öffentliche Sittlichkeit des Aufenthaltsstaats zu gefährden, ferner das Vorliegen ansteckender Krankheiten, ein unsittlicher Lebenswandel, die wirtschaftliche Schädigung des Aufenthaltsstaats, Bettelei, Landstreicherei und auch die bloße Mittellosigkeit, schließlich der Ausbruch eines Krieges mit dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt. Eine völlig unbegründete Ausweisung, aber auch eine Ausweisung aus privaten Gründen, etwa zur Befriedigung privater Rache oder Ausschaltung von wirtschaftlicher Konkurrenz, ist somit völkerrechtswidrig. Die Gründe, die gemäß Staatenpraxis und Lehre eine Ausweisung rechtfertigen können, sind aber so vielfältig, dass eine Aufzählung immer nur beispielhaft sein kann. Da die Ausweisung dem Schutz des Aufenthaltsstaates dienen soll, sind die im Völkerrecht anerkannten Ausweisungsgründe jedenfalls den innerstaatlichen Rechtsordnungen zu entnehmen. Der Aufenthaltsstaat entscheidet grundsätzlich selbst, ob die sachlichen Gründe für eine Ausweisung vorliegen. Dabei wird in Zweifelsfällen nur eine vernünftige Abwägung der Interessen zu angemessenen Entscheidungen führen. Die Ausweisung darf nicht dazu missbraucht werden, ein aus strafrechtlichen Gründen erfolgendes Auslieferungsverfahren zu umgehen, um etwa die nicht zulässige Übergabe eines wegen seiner politischen Gesinnung von seinem Heimatstaat oder von einem dritten Staat herausverlangten Ausländers unter dem Deckmantel der Ausweisung zu erreichen.16 Diese Regeln, wonach die Ausweisung von Fremden nicht im freien Ermessen der Behörden des Aufenthaltsstaates liegt, sondern völkerrechtlichen Schranken unterworfen ist, sind Ausdruck einer heute bei allen Kulturnationen herrschenden Rechtsüberzeugung. (2) Vertragliche Beschränkungen Eine Reihe von bilateralen und multilateralen Verträgen befasst sich mit dem Recht der Ausweisung und regelt diese in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den dargelegten Prinzipien. So beschränkt das Internationale Übereinkommen von Havanna vom 20. Februar 192817 die Ausweisung auf Fälle, in denen sie aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erforderlich ist. Auch das Washingtoner Abkommen über die Rechtsstellung staatenloser Personen vom 28. September 195418 schützt in besonderer Weise vor Ausweisung. So weisen die Vertragsstaaten gemäß Art. 31 Abs. 1 keinen Staatenlosen aus, der sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet befindet, es sei denn aus Gründen der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung. Die Vertrags16

Vgl. K. Buschbeck, Verschleierte Auslieferung durch Ausweisung, 1973. Text: AJIL, Bd. 23 special supplement (1929), S. 234 f. 18 Text: BGBl. 1976 II,, S. 473 ff. 17

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staaten gewähren gemäß Art. 31 Abs. 3 einem solchen Staatenlosen eine angemessene Frist, in der er in einem anderen Land um rechtmäßige Zulassung nachsuchen kann. Die Vertragsstaaten behalten sich vor, während dieser Frist die ihnen erforderlich erscheinenden Maßnahmen innerstaatlicher Art zu ergreifen. Das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 194919 verbietet in Art. 49 Einzel- oder Massenausweisungen von Zivilpersonen: Zwangsweise Einzel- oder Massenumsiedlungen sowie Deportationen von geschützten Personen aus besetztem Gebiet nach dem Gebiet der Besetzungsmacht oder dem irgendeines anderen besetzten oder unbesetzten Staates sind ohne Rücksicht auf ihren Beweggrund verboten. Art. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 195520 lässt die Ausweisung eines Staatsangehörigen eines Vertragsstaates prinzipiell nur dann zu, wenn der Ausländer die staatliche Sicherheit gefährdet oder gegen die öffentliche Sicherheit, Ordnung und Moral verstoßen hat. (3) Adressat der Ausweisung Die Ausweisung richtet sich nur gegen Fremde, also sowohl die Angehörigen fremder Staaten als auch die Staatenlosen. Keinesfalls kann sie sich gegen Inländer richten.21 Werden Inländer zwangsweise zum Verlassen des Staatsgebietes genötigt, handelt es sich um eine Verbannung, die in der Praxis einiger Staaten, die ihren Staatsangehörigen bei Gelegenheit einer Auslandsreise die eigene Staatsangehörigkeit entzogen haben, immer wieder vorgekommen ist.22 Da aber grundsätzlich kein Staat verpflichtet ist, Fremde aufzunehmen, darf kein Staat eigene Staatsangehörige ausweisen. (4) Verfahren Unter Ausweisung ist die Anordnung eines Staates zu verstehen, mit der Fremde aufgefordert werden, das Staatsgebiet zu verlassen. Da die Ausweisung eine extreme und nur ausnahmsweise erfolgende Maßregel ist, müssen ihre Voraussetzungen gewissenhaft geprüft und die naheliegende Möglichkeit bzw. die Wahrscheinlichkeit einer Gefährdung feststehen.23 Infolgedessen müssen sich die Behörden des auswei-

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Text: BGBl. 1954 II, S. 917 ff.; Sartorius II, Nr. 54. Text: UNTS, Bd. 529, S. 141; BGBl. 1959 II, S. 998. 21 Vgl. Art. 22 Abs. 5 AMRK, der die Ausweisung der eigenen Staatsangehörigen ausdrücklich verbietet. 22 So wurde dem DDR-Sänger Wolf Biermann die Wiedereinreise in die DDR untersagt (vgl. AdG 1977, S. 20690 D 20), Alexander Solschenizyn die Wiedereinreise in die UdSSR (vgl. AdG 1974, S. 18759 A). 23 Vgl. Erklärung des US-Staatssekretärs Rout vom 28. 02. 1907, in: G. H. Hackworth, Digest of International Law, 1942, Bd. 3, S. 690. 20

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senden Staates um eine objektive Klärung der Tatsachen bemühen und dem von der Ausweisung bedrohten Ausländer eine Möglichkeit rechtlichen Gehörs geben.24 Eine Ausweisung kann auch deswegen völkerrechtswidrig sein, weil die Art ihrer Durchführung das Völkerrecht verletzt. Hierher gehört insbesondere unnötige Härte, mit der sie durchgeführt wird. Der verfahrensrechtliche Schutz vor einer unberechtigten Ausweisung ist in internationalen Konventionen unterschiedlich ausgestaltet. Die Ausweisung eines Staatenlosen darf nach dem Washingtoner Abkommen über die Rechtsstellung staatenloser Personen vom 28. September 195425 nur in Ausführung einer Entscheidung erfolgen, die in einem ordentlichen gesetzlichen Verfahren ergangen ist. Soweit nicht zwingende Gründe der Staatssicherheit dem entgegenstehen, ist dem Staatenlosen zu gestatten, Beweise zu seiner Entlastung beizubringen, Rechtsmittel einzulegen und sich zu diesem Zweck vor einer zuständigen Behörde oder vor einer oder mehreren Personen vertreten zu lassen, die von der zuständigen Behörde besonders bestimmt sind. Nach Art. 3 Abs. 2 des Europäischen Niederlassungsabkommens vom 13. Dezember 195526 dürfen Staatsangehörige der Vertragsstaaten27, die seit mehr als zwei Jahren ihren ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaats haben, nur ausgewiesen werden, wenn ihnen Gelegenheit zur „Gegenvorstellung“ und zur Einlegung eines Rechtsmittels geboten wurde, sofern nicht zwingende Gründe der Sicherheit des Staates eine Ausweisung erfordern. Die die Ausweisung begründenden Vorwürfe müssen nicht nur dem Ausländer selbst mitgeteilt werden, da er sie sonst gar nicht entkräften könnte, sondern auch auf Verlangen der Regierung des Heimatstaates des Auszuweisenden.28 Aus diesem Grunde genügt keinesfalls die Angabe des allgemeinen abstrakten gesetzlichen Grundes, wie etwa der Hinweis auf die Gefährdung der Sicherheit des Staates, sondern es müssen die konkreten Tatsachen angegeben werden, die diese Gefährdung konstituieren. Durch diese Konkretisierungspflicht wird die ausweisende Regierung selbst vor willkürlichen Entscheidungen und damit vor Ermessensmissbrauch geschützt. Nach Art. 13 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbürgR)29 kann ein Ausländer, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates aufhält, nur aufgrund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden. Es ist ihm, sofern nicht zwingende Gründe der nationalen Sicherheit entgegenstehen, Gelegenheit zu geben, die gegen seine Ausweisung sprechenden Gründe vorzubringen und diese Entscheidung durch die zuständige Behörde oder durch eine oder meh-

24 Vgl. hier auch schon die Erklärung des US State Departments vom 27. 04. 1925, G. H. Hackworth (Anm. 14), Bd. 3, S. 695. 25 Text: UNTS, Bd. 360, S. 117; BGBl. 1976 II, S. 474. 26 Text: UNTS, Bd. 529, S. 141; BGBl. 1959 II, S. 998. 27 Das sind Mitgliedsstaaten des Europarates. 28 Vgl. Erklärung Routs vom 28. 02. 1907, in: Hackworth (Anm. 14), Bd. 3, S. 690. 29 Text: BGBl. 1973 II, 1553.

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rere von dieser Behörde besonders bestimmte Personen nachprüfen und sich dabei anwaltlich vertreten zu lassen. Der Auszuweisende hat kein Recht, das Land auszuwählen, in das er deportiert werden will. Hat er sich aber die Einreiseerlaubnis für ein bestimmtes Land verschafft, so besteht im Allgemeinen kein Anlass, ihm die Ausreise dorthin zu verweigern. Am einfachsten wird die Ausweisung nach dem Heimatstaat des Auszuweisenden – soweit er bekannt ist – sein, da dieser verpflichtet ist, ihn aufzunehmen, was nicht immer geschieht. (5) Rechtsbehelfe, diplomatischer Schutz, Schadensersatz Im Falle der Verletzung der dem Ausweisungsrecht gesetzten Schranken durch den Aufenthaltsstaat hat sich der Ausgewiesene zunächst auf die innerstaatlichen Rechtsbehelfe zu berufen. Nach ihrer Erschöpfung, aber bei Aussichtslosigkeit innerstaatlicher Rechtsbehelfe auch schon vorher, kommt das diplomatische Schutzrecht des Heimatstaats des Ausgewiesenen zum Zuge, der gegebenenfalls den Aufenthaltsstaat im schiedsgerichtlichen oder gerichtlichen Verfahren zur Einhaltung des Rechts veranlassen kann.30 Es ist anerkannt, dass der Aufenthaltsstaat dem Ausgewiesenen gegenüber im Fall einer völkerrechtswidrigen Ausweisung zum Schadensersatz verpflichtet ist. Die umfangreiche Tätigkeit der Schiedsgerichte auf diesem Gebiet führt sogar dazu, dass schon dann ein Schadensersatz zuzusprechen ist, wenn der Aufenthaltsstaat eine genügende Begründung ablehnt oder wenn eine an sich berechtigte Ausweisung in inkorrekter Weise vorgenommen wurde.31 cc) Verbot von Massenausweisungen Während das Völkerrecht bei der Einzelausweisung dem Staat einen weiten Ermessensspielraum zuerkennt, ist die Massenausweisung oder Kollektivausweisung völkergewohnheitsrechtlich verboten.32 Eine Kollektivausweisung ist auch dann anzunehmen, wenn einzelne Ausweisungsbefehle ergehen, diese aber alle Angehörige einer Volksgruppe erfassen.33 Die Massenausweisung ist völkerrechtswidrig, da eine individuelle Prüfung der Ausreise bei ihr nicht mehr möglich ist. Es ist also völker-

30 Natürlich wird der Heimatstaat des Flüchtlings einen solchen Schutz nicht ausüben, wenn er selbst der Verfolgerstaat ist. In einem solchen Fall wird der Flüchtling allerdings nicht dessen diplomatischen Schutz begehren. 31 Vgl. Nachweise bei Hackworth (Anm. 14), Bd. 3, S. 690 ff. 32 Vgl. hierzu BT-Drucks. V/1679, S. 8; K. Doehring, Die Rechtsnatur der Massenausweisung unter besonderer Berücksichtigung der indirekten Ausweisung, in: ZaöRV, Bd. 45 (1985), S. 372 ff.; O. Kimminich (Anm. 14), Der Aufenthalt von Ausländern, S. 96 f.; ders. (Anm. 14), Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 13. 33 Vgl. auch T. Einarsen, Mass Flight: the Case for International Asylum, in: IJRL, Bd. 7 (1995), S. 4 ff.

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rechtlich verboten, beispielsweise alle Albaner oder Syrer aus Deutschland auszuweisen. Das Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 194934 verbietet in Art. 49 Massenausweisungen von Zivilpersonen. Art. 4 des Vierten Zusatzprotokolls der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)35 vom 16. September 1963 verbietet die Kollektivausweisung von Ausländern. Sie wird nur ausnahmsweise bei nationalen Notfällen zulässig sein, die auch sonst eine zeitweise Außerkraftsetzung einer Reihe von Menschenrechten gestatten, etwa nach Art. 15 Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 195036 im Fall eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstandes37, der das Leben der Nation bedroht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs38 und im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts39 im Zusammenhang mit Staatsgründungen und provisorischen Grenzveränderungen hat es wieder Massenvertreibungen gegeben, die sich durch nichts rechtfertigen lassen.40 Auch nach Art. 22 Abs. 9 Amerikanische Menschen34

Text: BGBl. 1954 II, S. 917 ff.; Sartorius II, Nr. 54. Text: BGBl. 2002 II, S. 1074 ff. 36 Text: UNTS, vol. 213, S. 221 ff.; BGBl. 1952 II, S. 686 ff. Neueste Fassung: Sartorius II, Nr. 130. 37 In Fällen von Naturkatastrophen, Krieg, Aufruhr oder ähnlichen unüberschaubaren Lagen kann der Notstand, auch Ausnahmezustand, ausgerufen werden. In der Regel hat dies zur Folge, dass die öffentliche Gewalt auf ihre Bindung an Gesetz und Recht insoweit verzichten kann, als es zur Bekämpfung des Notstandes erforderlich ist. So heißt es in Art. 15 Abs. 1 EMRK: „Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.“ 38 Auch das Potsdamer Abkommen vom 02. 08. 1945 (Text: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Ergänzungsblatt, Nr. 1, 1945, S. 13 ff.) kann nicht zur Rechtfertigung der Massenvertreibungen aus den deutschen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg herangezogen werden. Zweck der Bestimmung ist nicht die Sanktionierung oder gar Veranlassung von Massenausweisungen, sondern die Sicherung der humanen Durchführung einer bereits tatsächlich stattfindenden – völkerrechtswidrigen – Vertreibung deutscher Bevölkerungsteile. Zum anderen könnte eine Bevölkerungsausweisung nur durch einen Vertrag zwischen den betroffenen Staaten vereinbart werden, sollte man ein Recht auf die Heimat negieren. Aber weder Deutschland, noch die ausweisenden Staaten – mit Ausnahme der Sowjetunion – gehörten zu den Signatarmächten des Potsdamer Abkommens. Vgl. G. Gornig, Das Nördliche Ostpreußen, 2. Aufl., 1996, S. 133 ff., 139. 39 Vgl. etwa G. Gornig, „Ethnische Säuberungen“, Recht auf die Heimat und die Verantwortlichkeit der Vertreiber, in: AWR-Bulletin, 2000, S. 19 ff. 40 Vgl. zum völkerrechtlichen Vertreibungsverbot: G. Gornig, Rechtliche Würdigung von Vertreibung und Enteignung – dargestellt am Schicksal der Donauschwaben Jugoslawiens, in: AWR-Bulletin 1991, Heft 2, S. 72 ff.; ders., Aspekte der Wiedergutmachung der Vertreibung, in: R. Schnürch/H. Thomas (Hrsg.), Von Prag nach Sarajewo. Vertreibung und Wiedergutmachung, 1996, S. 57 ff.; ders., Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibung und entschädigungsloser Enteignung der Sudetendeutschen, in: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik, Heft 16, Mai 1996, S. 1 ff.; ders., Das Recht auf die Heimat. Auch ein 35

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rechtskonvention (AMRK)41 vom 22. November 1969 ist die Kollektivausweisung ausdrücklich verboten. 2. Zulassung, Abweisung, Ausweisung von Flüchtlingen Eine besondere Gruppe von Fremden sind Flüchtlinge, für die neben den allgemeinen Bestimmungen des völkerrechtlichen Fremdenrechts spezielle Regelungen zur Anwendung kommen. a) Begriff des Flüchtlings In den verschiedenen internationalen Übereinkommen nach dem Ersten Weltkrieg versuchte man, den Begriff des Flüchtlings zu definieren.42 Im Statut des Intergovernmental Committee for Refugees in der Fassung von 1943 wurden als Flüchtlinge alle Personen bezeichnet, die als Folge der Ereignisse in Europa gezwungen waren, ihren Wohnsitz mit Rücksicht auf eine Gefahr für Leben und Freiheit zu verlassen, die ihnen wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung drohte. Das Statut der Internationalen Flüchtlingsorganisation (IRO) vom 15. Dezember 194643 definierte Flüchtlinge als Personen, die sich außerhalb des Landes ihrer Nationalität oder ihres gewöhnlichen Aufenthalts befinden und Opfer des nationalsozialistischen oder des faschistischen Regimes oder ihnen nahestehender Regime sind. Ihnen gleichgestellt wurden Personen, die sich außerhalb des Landes ihrer Nationalität oder ihres früheren gewöhnlichen Aufenthalts befinden und infolge von Ereignissen, die nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eingetreten waren, nicht willens oder nicht in der Lage sind, den Schutz ihrer Heimatregierung in Anspruch zu nehmen.

Beitrag zu Vertreibung und Enteignung im Völkerrecht, in: IFLA Informationsdienst für Lastenausgleich, BVFG und anderes Kriegsfolgenrecht, Vermögensrückgabe und Entschädigung nach dem Einigungsvertrag 1997, Nr. 11, S. 121 ff.; ders., Das Verbot von Vertreibung und ethnischer Säuberung, in: B. Rill (Hrsg.), Gegen Völkermord und Vertreibung. Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts, Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, Bd. 28, Hanns-Seidel-Stiftung, 2001, S. 41 ff. 41 Text: B. Simma/U. Fastenrath (Hrsg.), Menschenrechte – ihr internationaler Schutz, 4. Aufl., 1998, S. 497 ff.; http://www.cidh.org/Basicos/ English/Basic3.American%20Conven tion.htm. 42 Vgl. G. S. Goodwin-Gill, The Refugee in International Law, 2. Aufl., 1996. 43 Die Internationale Flüchtlingsorganisation (engl. International Refugee Organization, IRO) als Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die 1946 als Nachfolgeorganisation der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) eingerichtet wurde und verantwortlich war für die Fürsorge für heimatlose Europäer infolge des Zweiten Weltkriegs, ferner für Überlebende des Holocaust und für ehemalige Zwangsarbeiter, organisierte die Rückführung dieser Menschen in ihre Heimatländer bzw. ihre Auswanderung in andere Staaten. Die IRO wurde später ersetzt durch das Büro des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR).

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Art. 6 der Satzung des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) vom 14. Dezember 195044 beschreibt den unter das Mandat des Hohen Kommissars für Flüchtlinge fallenden Personenkreis. Es werden hierbei zwei Hauptgruppen unterschieden: Zur ersten Kategorie gehören die Flüchtlinge, die bereits vor Inkrafttreten der IRO-Satzung internationalen Flüchtlingsstatus besaßen, sowie diejenigen Personen, die nach der IRO-Satzung Flüchtlinge waren. Zur zweiten Kategorie gehört jede Person, die sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung45 wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder politischen Überzeugung außerhalb des Landes ihrer Staatsangehörigkeit befindet und nicht in der Lage ist oder wegen solcher Furcht oder aus nicht in der persönlichen Bequemlichkeit liegenden Gründen nicht gewillt ist, den diplomatischen Schutz jenes Landes in Anspruch zu nehmen, ferner jene Person, die ohne eine eigene Staatsangehörigkeit zu besitzen, sich außerhalb des Landes ihres früheren gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht in der Lage oder wegen jener Furcht oder aus nicht in der persönlichen Bequemlichkeit liegenden Gründen nicht willens ist, in dieses Land zurückzukehren. Eine ähnliche Definition enthält die Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 195146 auf die immer wieder zurückzukommen sein wird. Diese internationale Flüchtlingskonvention galt ursprünglich nur für Flüchtlinge, die bereits vor Inkrafttreten der Genfer Flüchtlingskonvention den internationalen Flüchtlingsstatus besaßen, und diejenigen, die infolge von Ereignissen geflüchtet waren, die vor dem 1. Januar 1951 in Europa eingetreten waren (Art. 1 A, B). Sie wurde aber durch das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 16. Dezember 196647, das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat, auf Flüchtlinge in der ganzen Welt ausgedehnt, als sich die Hoffnungen der Schöpfer der Genfer Flüchtlingskonvention, das gewaltige Flüchtlingsproblem der Nachkriegszeit werde ein einmaliges Phänomen sein, als trügerisch erwies. In Art. 1 A wird der Begriff des Flüchtlings ähnlich definiert wie in der Satzung des UNHCR; es wird jedoch als weiterer Verfolgungsgrund die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe genannt und der Passus gestrichen, dass nicht 44 Text: http://www.unhcr.de/fileadmin/user_upload/dokumente/02_unhcr/01_UNHCR-Sat zung.pdf. 45 Vgl. M. Gibney, A „Well-founded Fear“ of Persecution, in: HRQ, Bd. 10 (1998), S. 109 ff. 46 Text: UNTS, Bd. 189, Nr. 2545. – Bereits im Jahre 1947 regte die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen den Abschluss einer Flüchtlingskonvention an. Der ECOSOC nahm die Anregung auf und legte einen Konventionsentwurf vor. Die Generalversammlung beschloss aber, die Konvention auf einer diplomatischen Konferenz ausarbeiten zu lassen. Auf der Konferenz, die vom 02. bis zum 28. 07. 1951 in Genf tagte, wurde das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) ausgearbeitet und am 28. 07. 1951 von den 26 Teilnehmerstaaten der Konferenz unterzeichnet. Der UNHCR nahm an den Beratungen ohne Stimmrecht teil. Text: K. Hailbronner, Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention und die Rechtsstellung von De-facto-Flüchtlingen, in: ZAR 1993, S. 3 ff. 47 Text: UNTS, Bd. 606, Nr. 8791.

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aus in der persönlichen Bequemlichkeit liegenden Gründen der diplomatische Schutz ausgeschlossen sein durfte: Flüchtling ist eine Person, die „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.“

Die Genfer Flüchtlingskonvention findet, und auch hier folgt sie in etwa dem Vorbild der Satzung des UNHCR, aber keine Anwendung auf Personen, bei denen aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke, dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben oder dass sie, bevor sie dort als Flüchtlinge aufgenommen wurden, sich Handlungen zu Schulden kommen ließen, die den Zielen und Grundsätzen der UN zuwiderliefen. Terroristen genießen daher nicht den Flüchtlingsstatus. Die Definitionen des Flüchtlingsbegriffes in den internationalen Vereinbarungen sind Zweckschöpfungen, da sie zugleich eine Aufgabenbegrenzung für die internationalen Organe darstellen. Sucht man nach einer allgemein gültigen Definition des Begriffs „Flüchtling“, so wird man Flüchtlinge als Personen bezeichnen, die den Staat, in dem sie vorher gelebt haben, wegen einer einem unterschiedlichen Verständnis des Verhältnisses von Staat und Einzelperson entspringenden Verfolgung oder Drohung mit Verfolgung verlassen haben und nicht den diplomatischen Schutz ihres Heimatstaates oder irgendeines anderen Staates genießen.48 b) Asylrecht aa) Begriff des Asyls Nach seinem historischen Herkommen versteht man unter Asyl die Gewährung von Schutz an fremde Staatsangehörige oder Staatenlose, die in ihrem Heimatsstaat und Herkunftsstaat politisch verfolgt werden oder denen bei ihrer Rückkehr in den Heimatstaat politische Verfolgung droht. Das Asyl ist dadurch gekennzeichnet, dass der Ausländer durch die Gewährung von Aufenthalt vor dem Zugriff des Herkunftsstaates geschützt wird. Asyl wird grundsätzlich nur als territoriales Asyl gewährt. Unter territorialem oder externem Asyl versteht man die Asylgewährung, die ein Staat einem Fremden 48 Vgl. auch M. Gottstein, Die Situation von Frauen als de-facto-Flüchtlinge vor dem Hintergrund frauenspezifischer Verfolgung, in: M. Karnetzki/H. Thomä-Venske (Hrsg.), Schutz für de-facto-Flüchtlinge, 1988, S. 139 ff.

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innerhalb seines Staatsgebietes gewährt. Diese Asylgewährung muss vom Heimatstaat des Flüchtlings akzeptiert werden und darf nicht als unfreundlicher Akt des asylgewährenden Staates qualifiziert werden. Die Asylgewährung stellt somit keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Heimatstaates des Flüchtlings dar und beeinträchtigt nicht die diplomatischen Beziehungen der betroffenen Staaten zueinander.49 Diplomatisches oder internes Asyl ist gegeben, wenn einem Flüchtling auf dem Territorium seines Heimat- bzw. Verfolgerstaates Zuflucht in bestimmten Gebäuden, in der Regel in Botschaftsgebäuden, gewährt wird. Nach allgemeinem Völkerrecht ist eine solche Asylgewährung wegen Verstoßes gegen das Verbot der Zweckentfremdung diplomatischer Missionen unzulässig. Auch die Wiener Diplomatenkonvention vom 18. April 196150 kennt keine Verpflichtung des Empfangsstaates, seinen Angehörigen und Fremden den Zugang zu ausländischen Missionen zu gestatten. Der Internationale Gerichtshof hat im Jahre 1950 im Asylum-Case51 die Existenz eines diplomatischen Asylrechts im regional-südamerikanischen Völkergewohnheitsrecht abgelehnt. Allerdings haben die lateinamerikanischen Staaten untereinander das Rechtsinstitut des diplomatischen Asyls durch Verträge anerkannt.52 Auch andere Staaten haben in der Praxis gelegentlich Zuflucht gewährt,53 man denke an den Fall des ungarischen Kardinals József Mindszenty, der 1956 in der US-amerikanischen Botschaft in Budapest Beherbergung erhielt, aber auch an die Flüchtlinge aus der DDR, die in den deutschen Botschaften in der Tschechoslowakei, Polen und Bulgarien Schutz erhielten. Man vermied allerdings in diesen Fällen von Asyl zu sprechen. Die Staatsmacht der Staaten, in denen die Botschaften lagen, konnte allerdings wegen der Exterritorialität54 des Botschaftsgebäudes nicht in das Gebäude eindringen, so dass die Flüchtlinge in diesen Gebäuden faktisch Asyl genossen.55 bb) Recht des Staates, Asyl zu gewähren Genauso wie der Staat grundsätzlich das Recht hat, Fremde an der Grenze abzuweisen oder aus dem Lande auszuweisen, hat er auch das Recht, ihnen Asyl zu gewähren. Es handelt sich dann um Flüchtlinge. Das politische Asylrecht ist somit 49 Vgl. N. Wühler, Asylrecht, in: I. Seidl-Hohenveldern, Lexikon des Rechts. Völkerrecht, 2. Aufl., 1992, S. 13. 50 Text: UNTS, vol. 500, S. 95 ff.; BGBl. 1964 II, S. 958 ff. 51 Text: ICJ Reports 1950, S. 265 ff. (Asylum Case). 52 Vgl. H. Kitschenberg, Das diplomatische Asyl unter besonderer Berücksichtigung des Asylstreits Kolumbien und Peru, 1965. 53 Vgl. hierzu auch A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 572, § 896 Fn. 40. 54 Exterritorialität (lat. ex terra – außerhalb des Bodens) bedeutet, dass das Gebäude nicht der örtlichen Hoheitsgewalt unterworfen ist. Missverständlich wird oft angenommen, das Gebäude läge außerhalb des Belegenheitsstaates und auf dem Territorium des Staates der Botschaft. 55 Zum Kirchenasyl vgl. P. Demand, Kirchenasyl – Rechtsinstitut oder Protestform, 1996.

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ebenfalls eine Folge der staatlichen Souveränität.56 Die Personalhoheit des Heimatstaates wird hier durch die Gebietshoheit des Aufenthaltsstaates begrenzt.57 In diesem Sinne ist Asylrecht ein Asylgewährungsrecht.58 Nach dem Asylrecht als Prinzip des Völkerrechts kann demnach ein Staat bei politischer Verfolgung einem Fremden das Betreten seines Territoriums erlauben, seinen Schutz in Form des Asyls gewähren und seine Auslieferung verweigern. Das Asylrecht ist somit im Völkerrecht ein Recht des Zuflucht gewährenden Staates gegenüber dem Herkunftsland des Flüchtlings und allen anderen Staaten mit der Folge, dass kein Staat einem anderen Staat die Asylgewährung zum Vorwurf machen darf. In der Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit heißt es, dass die Gewährung von Asyl an Flüchtlinge ein friedlicher und humanitärer Akt ist, der von keinem Mitgliedstaat als unfreundlicher Akt angesehen wird. Es besteht also keine Verpflichtung zur Asylgewährung und somit auch kein Anspruch des Individuums59 auf Asyl als Korrelat staatlicher Handlungsverpflichtung60. Anders als etwa im Bereich der Menschenrechte gilt somit im Bereich des Asylrechts noch die klassische Auffassung, wonach das Völkerrecht grundsätzlich nur für Staaten, nicht aber für Einzelpersonen Rechte und Pflichten begründet. Das Asylrecht im Völkerrecht ist ein Recht des Staates61; doch Staaten sind aber den völkerrechtlichen Verpflichtungen unterworfen, die es ihnen verbieten, Fremde aus dem Staatsgebiet zu entfernen.62 cc) Individualanspruch auf Asyl Es gibt es im Völkerrecht kein Individualrecht auf Asyl wie etwa in Art. 16a GG. (1) Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Angesprochen wird das Asyl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. Dezember 194863, einer – rechtlich unverbindlichen – Resolution 56 Vgl. etwa H.-I. v. Pollern, Das moderne Asylrecht. Völkerrecht und Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 129; A. Grahl-Madsen, Territorial Asylum, in: R. Bernhardt (Hrsg.), EPIL, Bd. 8 (1985), S. 42 ff. 57 H.-G. Maaßen, Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, 1997, S. 17. 58 H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 17. 59 Vgl. M. Waldstein, Das Asylgrundrecht im europäischen Kontext, 1993; Th. Veiter, Asylrecht als Menschenrecht, 1969. 60 Vgl. R. Marx, Eine menschenrechtliche Begründung des Asylrechts, 1984. 61 A. Bulmerincq, Das Asylrecht in seiner geschichtlichen Entwicklung, beurteilt vom Standpunkt des Rechts und dessen völkerrechtlicher Bedeutung für die Auslieferung flüchtiger Verbrecher. – Eine Abhandlung auf dem Gebiete der universellen Rechtsgeschichte und des positiven Völkerrechts, 1853; N. Wühler (Anm. 49), Asylrecht, in: Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Lexikon des Rechts. Völkerrecht, S. 13 f. 62 Vgl. N. Nathwani, The Purpose of Asylum, in: IJRL, Bd. 12 (2000), S. 354 ff. 63 Text: GAOR 3rd Sess., Resolutions part I, S. 71 ff.

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der Generalversammlung der Vereinten Nationen.64 In Art. 14 AEMR ist allen Menschen das Recht zugestanden, in anderen Ländern vor Verfolgungen Asyl zu suchen und zu genießen. Das dort verankerte Recht, Asyl zu suchen, bedeutet nicht mehr, als das Recht, sich auf die Flucht zu begeben.65 Der Genuss des Asyls kommt erst dann in Betracht, wenn der Staat zuvor Asyl gewährt hat. Art. 14 AEMR enthält somit keine allgemeine völkerrechtliche Pflicht der Staaten, Asyl zu gewähren. Art. 14 AEMR wurde kritisch beurteilt, da die Feststellung, dass ein Mensch Asyl in einem anderen Land genießen darf, lediglich bedeutet, dass das Asyl, welches einem Flüchtling von einem Staat gewährt wird, von anderen Staaten respektiert werden muss.66 Diese Pflicht bestand aber bereits nach dem herkömmlichen allgemeinen Völkerrecht, welches die Asylgewährung nicht als humanitäre Pflicht, sondern als Ausfluss der Souveränität des Staates betrachtet.67 Somit erfuhr das Asylrecht durch Art. 14 AEMR keinen Fortschritt. Da die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lediglich Empfehlungscharakter besitzt, ergibt sich aus ihr nur eine moralische Verpflichtung ohne jede rechtliche Verbindlichkeit. Die Tatsache, dass eine Asylgewährungspflicht zugunsten des Individuums nicht in die Allgemeine Menschenrechtserklärung aufgenommen wurde, lässt darauf schließen, dass selbst eine politisch-moralische Verpflichtung, welche die Staaten bei der späteren Vereinbarung von verbindlichen Menschenrechtspakten in Zugzwang hätte bringen können, von vornherein vermieden werden sollte.68 (2) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten In der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 195069 findet – und das ist konsequent – ein Individualrecht auf Asyl keine Verankerung, da das Asylrecht im Völkerrecht ein Recht des Staates und nicht ein Recht des Flüchtlings darstellt. Alle Versuche, in der Europäischen Menschenrechtskonvention ein individuelles Asylrecht zu verankern, sind gescheitert. Auch im Wege der Auslegung lässt sich aus diesem Menschenrechtsübereinkommen kein Individualrecht auf Asyl ableiten. Das Ministerkomitee des Europarates lehnte es im Jahre 1961 entgegen einer Empfehlung der Beratenden Versammlung

64 Die Deklaration über territoriales Asyl vom 14. 12. 1967 (Res. 2312 XXII), eine unverbindliche Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen, sieht vor, dass jeder, der Schutz vor Verfolgung sucht, Asyl genießen soll. 65 O. Kimminich (Anm. 14), Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 81. 66 O. Kimminich, Die Geschichte des Asylrechts, in: Amnesty International (Hrsg.), Bewährungsprobe für ein Grundrecht. Art. 16 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, 1978, S. 19 ff. 67 O. Kimminich (Anm. 14), Der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, S. 58. 68 E. Reichel, Das staatliche Asylrecht im Rahmen des Völkerrechts, 1987, S. 35. 69 Text: BGBl. 1950 II, S. 685 ff.

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des Europarates70 ausdrücklich ab, einen Asylartikel in das Zweite Protokoll zur EMRK aufzunehmen, obwohl in einem vorgelegten Vorschlag davon die Rede war, es werde das Recht „Asyl zu suchen und zu genießen“ garantiert. Es war also gerade kein subjektives Asylrecht gewünscht. (3) Genfer Flüchtlingskonvention Das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 definiert zwar den Begriff des politisch Verfolgten und regelt die Rechtsstellung des Flüchtlings, dem bereits Asyl gewährt worden ist, sie schreibt aber nicht vor, unter welchen Voraussetzungen ein Staat einem Flüchtling Asyl zu gewähren hat.71 Das Wort „Asyl“ wird in der Konvention lediglich beiläufig in der Präambel erwähnt, wodurch deutlich wird, dass die Gewährung eines Asylrechts nicht Gegenstand dieses Abkommens ist. Staaten entscheiden ohne verbindliche Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention darüber, ob sie einem Ausländer Asyl gewähren wollen. Das noch dargestellte Refoulement-Verbot in Art. 33 Genfer Flüchtlingskonvention bezieht sich lediglich auf die aufenthaltsrechtliche Stellung des Flüchtlings und beinhaltet auch dann, wenn man ihm über ein bloßes Abschiebungsverbot hinaus weitere Wirkungen beimisst, kein Asylrecht. Die Genfer Flüchtlingskonvention regelt lediglich den Umfang der Schutzgewährung gegenüber Flüchtlingen. Wenn nach dem nationalen Recht Personen, die nicht unter dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention fallen, Asyl gewährt wird, findet der Flüchtlingsschutz der Konvention unmittelbar keine Anwendung. (4) Asylrechtserklärung der Vereinten Nationen Ein weiteres Instrument, welches sich mit dem Asylrecht beschäftigt, ist die wiederum rechtlich unverbindliche Asylrechtserklärung der Vereinten Nationen, die United Nations Declaration on Territorial Asylum72, die am 14. Dezember 1967 verabschiedet wurde. Jedoch erfolgte auch hier keine Verbesserung der Rechtsstellung des Flüchtlings. In Art. 1 der Erklärung heißt es: „Das von einem Staat in Ausübung seiner Souveränität gewährte Asyl zugunsten von Personen, die berechtigt sind, sich auf Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu berufen, einschließlich von Personen, die gegen den Kolonialismus kämpfen, ist von allen anderen Staaten zu achten.“ Eine Einschränkung erfolgt in Absatz 2: „Auf das Recht, Asyl zu suchen und zu genießen, kann sich niemand berufen, bei dem schwerwiegende Gründe zu der Annahme vorliegen, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne jener völkerrechtlichen Instrumente begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Vorkeh70

Recommendation 293 (1961), ferner: 1236 (1994), 1278 (1995), Text: BT-Drs. 12/7893, S. 17, 19 und BT-Drs. 13/3275, S. 14. 71 V. Lieber, Grenzen des territorialen Asyls, in: AWR-Bulletin 1978, S. 163 ff. 72 Declaration on Territorial Asylum, G.A. Res. 2312 (XXII), 22 UN. GAOR Suppl. (No. 16) at 81, UN. Doc. A/6716 (1967).

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rungen gegen solche Verbrechen zu treffen“. Nach Absatz 3 ist es Sache des asylgewährenden Staates, die Gründe für die Asylgewährung zu würdigen. Eine Veränderung im Hinblick auf ein Individualrecht ist auch hier nicht erkennbar, da wiederum die Gewährung von Asyl an die staatliche Souveränität geknüpft wird, was dem bestehenden Völkerrecht entspricht. Die Staatengemeinschaft war nicht bereit, das Asylrecht als Individualrecht zu akzeptieren. Die fehlende Verankerung des Asylrechts in internationalen Vereinbarungen wurde vielfach als Nachteil des kodifizierten Flüchtlingsrechts angesehen.73 Mit der Konferenz der Vereinten Nationen über territoriales Asyl in Genf im Jahre 1977 wurde der Versuch unternommen, dieses Defizit durch eine Konvention über territoriales Asyl zu beheben. Der auf dieser Konferenz erörterte Konventionsentwurf war jedoch nicht konsensfähig. Die überwiegende Zahl der teilnehmenden Staaten lehnte den Vorschlag „to grant asylum in its territory to any person“ ab, darin ein zu großer Eingriff in die nationale Souveränität gesehen wurde,74 sodass die Konferenz letztlich erfolglos blieb. (5) Dublin und Schengen Das Dubliner Übereinkommen (DÜ)75 vom 15. Juni 1990 und die asylrechtlichen Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ)76 enthalten keine ausdrückliche Verpflichtung zur Asylgewährung.77 Die Übereinkommen verpflichten die Vertragsstaaten nur, jedem Asylbewerber, der in die Zuständigkeit des jeweiligen Vertragsstaats fällt ein Asylverfahren zu gewähren (Art. 3 Abs. 1 DÜ, Art. 29 Abs. 1 SDÜ).78 (6) Völkergewohnheitsrecht Nach dem Völkergewohnheitsrecht steht es grundsätzlich im freien Ermessen eines jeden Staates, ob und wem er Asyl gewährt. Der Widerstand der Staaten gegen die Aufnahme einer als Individualanspruch ausgestalteten völkerrechtlichen Verpflichtung zur Asylgewährung in internationalen Vereinbarungen dient als Beweis, dass die Staaten aus Sorge vor einer unkontrollierten Öffnung ihrer Grenzen 73

H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 21. M. Waldstein (Anm. 59), Das Asylgrundrecht im europäischen Kontext, S. 89. 75 Text: Amtsblatt Nr. C 254 vom 19/08/1997 S. 0001 – 0012; BGBl. 1994 II S. 792 ff. 76 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 06. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. 6. 1990, Text: Amtsblatt Nr. L 239 vom 22. 09. 2000, S. 0019 – 0062; BGBl. 1993 II, S. 1013 ff. 77 K. Hailbronner, Europäische Koordination der Aufnahme von De-facto-Flüchtlingen, in: L. Drüke/K. Weigelt (Hrsg.), Fluchtziel Europa – Strategien für eine neue Flüchtlingspolitik, 1993, S. 82 ff. (85); H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 23. 78 H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 23. 74

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für Flüchtlingsströme gerade keine völkerrechtliche Verpflichtung zur Asylgewährung und kein individuelles Recht auf Asyl wollten. Die Tatsache, dass vereinzelt nationale Rechtsvorschriften Flüchtlingen einen Individualanspruch auf Asyl einräumen, lässt nicht auf die für den Nachweis von Völkergewohnheitsrecht erforderliche völkerrechtliche Rechtsüberzeugung schließen. Das Scheitern der UN-Asylkonferenz 1977 und die Haltung der Staaten in der Folgezeit beweisen, dass derartige Bestrebungen heute in der Zeit von Asylmissbrauch und Massenflüchtlingsproblemen erst recht keine Aussicht auf Verwirklichung haben. (7) Allgemeiner Rechtsgrundsatz Die Tatsache der Ablehnung eines individuellen Asylanspruchs in den Gesetzen sehr vieler Staaten verdeutlicht, dass sich bei der Asylgewährung auch nicht um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz im Sinne des Art. 38 Abs.1 Ziff. c IGH Statut handelt. (8) Resümee: Keine Staatenpflicht und kein Menschenrecht Das geltende Völkerrecht enthält weder eine Pflicht der Staaten, Ausländern Asyl zu gewähren, noch ein individuelles, einklagbares Recht des Einzelnen auf Asylgewährung. Derartige Forderungen haben sich weder völkervertraglich noch völkergewohnheitsrechtlich durchsetzen können, auch wenn es auf der Ebene völkerrechtlicher Deklarationen und Resolutionen Ansätze für ein menschenrechtliches Individualrecht auf Asyl gibt. dd) Beschränkungen Auch wenn das Völkerrecht kein Individualrecht auf Asyl kennt, ist dieses doch in nationalen Gesetzen verankert. Auf internationaler Ebene gibt es daher Vereinbarungen, um das nationale Individualrecht auf Asylrecht zu beschränken. (1) Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung Art. 32 Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 195179 schränkt die den Staaten vom Völkerrecht grundsätzlich eingeräumte Freiheit zur Ausweisung von Ausländern ein und schreibt vor, dass Flüchtlinge nur aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ausgewiesen werden dürfen. Art. 32 bezieht sich allerdings nur auf Flüchtlinge, die sich rechtmäßig im Gebiet des ausweisenden Staates befin-

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Text: UNTS, Bd. 189, S. 137; BGBl. 1953 II, S. 560 ff., Sartorius II, Nr. 54. Der zeitlich und räumlich eingeschränkte Geltungsbereich der Konvention auf Tatbestände, die in Europa vor dem 01. 01. 1951 entstanden sind, machte den Abschluss des Protokolls vom 31. 01. 1967 (Text: UNTS, Bd. 606, S. 267; BGBl. 1969 II, S. 1294) erforderlich, das den Geltungsbereich der Konvention auf neu entstandene Flüchtlingsgruppen erstreckte. Dazu vgl. auch unten.

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den.80 Dazu gehören nicht diejenigen Flüchtlinge, die illegal die Grenze überschritten haben. (2) Prinzip des sicheren Drittstaates (a) Prinzip Nach dem Prinzip des sicheren Drittstaates erhalten Asylbewerber kein Asyl, wenn sie sich nach der Ausreise aus dem Heimatstaat in einem anderen Land aufgehalten haben, in dem sie vor politischer Verfolgung und vor Menschenrechtsverletzungen sicher waren bzw. Schutz hätten erhalten können.81 Ein vor politischer Verfolgung Flüchtender hat in dem ersten Staat um Schutz nachzusuchen, in dem dies möglich ist. Politische Verfolgung rechtfertigt nicht, dass ein Asyl suchender Ausländer um den halben Erdball reist, um in dem Staat um Asyl nachzusuchen, der der angenehmste ist.82 Der UNHCR hat das Prinzip des sicheren Drittstaates grundsätzlich als mit der Genfer Flüchtlingskonvention vereinbar anerkannt, auch wenn er hierzu bestimmte Voraussetzungen aufstellt,83 die der Drittstaat erfüllen muss, damit die Rückführung nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention verstößt. (b) Dublin und Schengen Das Dubliner Übereinkommen (DÜ)84 und die Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ)85 verpflichten die Vertragsstaaten nur, jedem Asylbewerber, der in die Zuständigkeit des jeweiligen Vertragsstaats fällt,

80 Vgl. K. Hailbronner, Asylrecht und Völkerrecht, in: W. G. Beitz/M. Wollenschläger (Hrsg.), Handbuch des Asylrechts, 1980, Bd. 1, S. 69 ff. (90); G. Gornig (Anm. 15), Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, S. 11. 81 H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 206. 82 Vgl. BT-Drs. 12/4450, S.20 zur amtlichen Begründung des § 26a AsylG. 83 UN High Commissioner for Refugees (UNHCR), Considerations on the „Safe Third Country“ Concept, July 1996, available at: http://www.refworld.org/docid/3ae6b3268.html [accessed 11 October 2015: „UNHCR has identified some factors for consideration in determining whether the return of a refugee or an asylum-seeker to a particular country can take place. These factors, which include both formal aspects and the practice of the State concerned, are: ratification of and compliance with the international refugee instruments, in particular compliance with the principle of non-refoulement; ratification of and compliance with international and regional human rights instruments; readiness to permit asylum-seekers to remain while their claims are being examined on the merits; adherence to recognized basic human rights standards for the treatment of asylum-seekers and refugees; and, notably, the State’s willingness and practice to accept returned asylum-seekers and refugees, consider their asylum claims in a fair manner and provide effective and adequate protection“. 84 Übereinkommen über die Bestimmung des zuständigen Staates für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften gestellten Asylantrags – Dubliner Übereinkommen, Text: Amtsblatt Nr. C 254 vom 19/08/1997 S. 0001 – 0012. 85 Text: ABl. EG L 239 vom 22. 9. 2000, S. 19 ff.

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ein Asylverfahren zu gewähren (Art. 3 Abs. 1 DÜ, Art. 29 Abs. 1 SDÜ).86 Das Dubliner Übereinkommen flankiert das Schengen-Abkommen, in dem der Wegfall von Personenkontrollen an den EU-Binnengrenzen vereinbart wird. Laut Dubliner Übereinkommen ist immer nur ein EU-Staat für ein Asylverfahren zuständig, damit nicht gleichzeitig oder nacheinander in mehreren EU-Staaten Asylanträge gestellt oder gezielt Staaten zur Antragstellung ausgesucht werden (sog. „Asyl-Shopping“). Welcher Staat zuständig ist, regeln im Vertrag vereinbarte Kriterien. Die Vertragsstaaten sind aber in der Ausgestaltung des Asylverfahrens frei.87 Es wird nicht in das prozessuale und materielle Asylrecht der Vertragsstaaten eingegriffen (Art. 3 Abs. 3, 5 DÜ, Art. 29 Abs. 2, Art. 32 SDÜ). Aufgrund dieser Übereinkommen ist der zuständige Staat nur verpflichtet, überhaupt ein Asylgesuch zu behandeln bzw. zu prüfen.88 Insgesamt sollte mit diesem Übereinkommen lediglich eine Zuständigkeitsregelung getroffen werden. Aus der Genfer Flüchtlingskonvention ergeben sich in der Tat keine Einwendungen gegen eine Festlegung auf das Prinzip der ausschließlichen Zuständigkeit und die Akzeptanz negativer Asylentscheidungen in anderen Vertragsstaaten. Die Übereinkommen von Dublin und Schengen sehen damit vor, dass die anderen Vertragsstaaten dem Asylbewerber verschlossen bleiben, wenn ein Vertragsstaat zur Durchführung des Asylverfahrens verpflichtet ist. Einem Asylbewerber, der bereits in einem anderen Vertragsstaat ein Asylverfahren erhalten hat oder hätte erhalten können, steht kein weiteres Asylverfahren zu. Es gilt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Asylentscheidungen. Damit steht keinem Flüchtling, der zu Fuß oder auf dem Landweg nach Deutschland kommt, ein Asylrecht zu. Einem Asylbewerber, dessen Asylgesuch bereits in einem Vertragsstaat abgelehnt worden ist, steht in einem anderen Vertragsstaat grundsätzlich auch kein Anspruch auf ein weiteres Asylanerkennungsverfahren zu. Heute entscheidet allerdings in der Praxis nicht mehr das europäische Recht darüber, wo ein Asylbewerber Aufnahme findet, sondern der Asylbewerber selbst, weil er sich in das Land seiner Wahl Zugang verschafft, größtenteils mit Hilfe anderer EUStaaten, die die Flüchtlinge einfach in das gewünschte Land, in der Regel Deutschland, weiterschieben, das den illegalen Grenzübertritt fördert. (c) In Deutschland In Deutschland wurde bis 2014 asylsuchenden Ausländern die Einreise verweigert, wenn sie aus einem sicheren Drittstaat kamen (in Deutschland: Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylG). Sichere Drittstaaten sind in erster Linie die Mitgliedstaaten der Europäischen Union.89 Ferner ist asylsuchenden Ausländern die Einreise zu verweigern, wenn sie zuvor in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung 86

H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 23. Auch die Genfer Flüchtlingskonvention überlässt es grundsätzlich den einzelnen Vertragsstaaten, in welcher Weise sie das Anerkennungsverfahren durchführen. 88 Vgl. Art. 30 SDÜ. 89 Ferner: Norwegen und die Schweiz, vgl. Anlage I zum AsylG (Stand: Ende 2015). 87

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sicher waren (in Deutschland: § 18 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 27 AsylG). Es wird vermutet, dass der Ausländer in einem sonstigen Drittstaat vor politischer Verfolgung sicher war, wenn sich dort länger als drei Monate aufgehalten hat (in Deutschland: § 27 Abs. 3 AsylG). Der Ausschluss vom Asylrecht hat Auswirkungen auf den aufenthaltsrechtlichen Status der Person. Wird ein Flüchtling nicht als Asylberechtigter anerkannt, genießt er keinen aufenthaltsrechtlichen Schutz. Asylbewerber, die nicht unmittelbar aus dem Heimatstaat, sondern über einen Drittstaat ins Land kommen wollen, werden wieder dorthin zurückgeschickt. Allerdings muss der Drittstaat verpflichtet sein, diese Person aufzunehmen. Nach allgemeinem Völkerrecht sind Staaten jedenfalls verpflichtet ihre eigenen Staatsangehörigen auch gegen deren Willen zurückzunehmen.90 Soweit Ausländer über einen Drittstaat einzureisen versuchen, ist der Drittstaat völkergewohnheitsrechtlich zur Rücknahme der zurückgewiesenen Person verpflichtet.91 Ist es allerdings dem Ausländer gelungen, in den Zielstaat einzureisen, besteht nach Völkergewohnheitsrecht noch keine Pflicht der Drittstaaten, den Eingereisten wieder aufzunehmen. Allerdings ist gut vertretbar, aus dem Prinzip der guten Nachbarschaft die Verpflichtung abzuleiten, Personen zurückzunehmen, die illegal aus einem anderen Staat eingereist sind.92 Die Verpflichtung zur Rücknahme wird in Europa durch Rücknahmeabkommen begründet.93 Sonderregelungen für die Rücknahme von Asylbewerbern finden sich im Dubliner Übereinkommen (Art. 10 Abs. 1 DÜ) und im Schengener Durchführungsübereinkommen (Art. 31 Abs. 3, Art. 33, 34 SDÜ). Bei Staatenlosen, deren Herkunft nicht feststellbar ist, greifen die Regeln nicht.94

90 K. Hailbronner, Rücknahme eigener und fremder Staatsangehöriger, 1996, S. 36 f.; H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 36 f. 91 K. Hailbronner (Anm. 90), Rücknahme eigener und fremder Staatsangehöriger, S. 76; H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 38 f. – Für den Bereich des Luftverkehr ist dies in Standard 3.36.1 von Anhang 9 zur Chicagoer Konvention über die internationale Zivilluftfahrt bestimmt. 92 Vgl. beispielsweise XIII Schlusskommuniqué der Wiener Konferenz von Januar 1991; ferner: H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 39. 93 Vgl. UNHCR, Zwischenstaatliche Vereinbarungen betreffend die Rückübernahme von Drittstaatsangehörigen, einschließlich Asylsuchenden, und die Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung eines Asylantrags zuständigen Staates, 2001, in: http://www.unhcr.de/filead min/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/1_international/1_8_rueckfuehrung/FR_int_rueck-HCR_Ru eckuebernahme.pdf. Vgl. zu den zwischen Deutschland und dem europäischen Ausland abgeschlossenen Übereinkommen: K. Hailbronner (Anm. 90), Rücknahme eigener und fremder Staatsangehöriger, S. 52 ff.; ferner: H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 39 f. 94 Vgl. H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 41.

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(3) Sicherer Herkunftsstaat (a) Prinzip Das Prinzip des sicheren Herkunftsstaates (in Deutschland: Art. 16a Abs. 3 GG; § 27a AsylG)95 verfolgt das Ziel, durch die listenmäßige Festlegung von Hauptherkunftsländern, in denen nach allgemeiner Erfahrung keine politische Verfolgung stattfindet, ein aufwändiges Individualprüfungsverfahren zu vermeiden. Allerdings muss die Verfolgungssituation in diesen Staaten geprüft werden, damit keine unzulässige geographische Begrenzung des Anwendungsbereichs der Genfer Flüchtlingskonvention vorliegt.96 Es sind zwei Verfahrensweisen möglich: (1) ein Staat wird als sicheres Herkunftsland bezeichnet mit der Folge, dass ein Asylsuchender keinen Zugang zum Asylverfahren hat; ihm wird aus diesem Grunde weder Einreise noch Aufenthalt noch Abschiebungsschutz gewährt (unwiderleglich Vermutung). (2) Ein Staat wird als sicherer Herkunftsstaat bezeichnet mit der Folge, dass das Asylverfahren beschleunigt und dem Ausländer die Pflicht zur Führung des Gegenbeweises auferlegt wird (widerlegliche Vermutung).97 (b) In Deutschland Durch Gesetz, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf, können Staaten bestimmt werden, bei denen auf Grund der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse gewährleistet erscheint, dass dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet. Es wird vermutet, dass ein Ausländer aus einem solchen Staat nicht verfolgt wird, solange er nicht substantiiert Tatsachen vorträgt, die die Annahme begründen, dass er entgegen dieser Vermutung politisch verfolgt wird (sicherer Herkunftsstaat) (Art. 16 Abs. 3 GG). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, wird anhand eines umfangreichen Kriterienkatalogs geprüft. Kriterien sind dabei unter anderem die Höhe der Anerkennungsquote in den vergangenen Jahren, die allgemeine politische Lage und Stabilität des Landes sowie die Achtung der Menschenrechte. Als sichere Herkunftsstaaten gelten – neben den Ländern der Europäischen 95

§ 29a AsylG: „(1) Der Asylantrag eines Ausländers aus einem Staat im Sinne des Artikels 16a Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes (sicherer Herkunftsstaat) ist als offensichtlich unbegründet abzulehnen, es sei denn, die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung droht. (2) Sichere Herkunftsstaaten sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die in Anlage II bezeichneten Staaten. (3) Die Bundesregierung bestimmt durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates, dass ein in Anlage II bezeichneter Staat nicht mehr als sicherer Herkunftsstaat gilt, wenn Veränderungen in den rechtlichen oder politischen Verhältnissen dieses Staates die Annahme begründen, dass die in Artikel 16a Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes bezeichneten Voraussetzungen entfallen sind. Die Verordnung tritt spätestens sechs Monate nach ihrem Inkrafttreten außer Kraft. 96 Dies nehmen an: J. Abr. Frowein/A. Zimmermann, Der völkerrechtliche Rahmen für die Reform des deutschen Asylrechts. Rechtsgutachten, 1993, S. 46 ff. 97 So H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 214 f.

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Union – die in Anlage II zum Asylgesetz genannten Ländern98 Albanien (seit 2015), Bosnien-Herzegowina (seit 2014), Ghana (seit 1993), Kosovo (seit 2015), Mazedoni en (seit 2014) Montenegro (seit 2015), Senegal (seit 1993, mit halbjähriger Ausnahme 1995), Serbien (seit 2014).99 Die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen wird in diesen Fällen und in anderen Fällen, die offensichtlich unbegründet sind oder als offensichtlich unbegründet gelten, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen; der Prüfungsumfang kann eingeschränkt werden und verspätetes Vorbringen unberücksichtigt bleiben. Das Nähere wird durch das Asylverfahrensgesetz bestimmt.100 (4) Inländische Fluchtalternative Da das Asylrecht vor einer landesweit ausweglosen Lage schützen soll, muss der Asylsuchende grundsätzlich eine landesweite Verfolgung dartun.101 Dem Ausländer wird (beispielsweise gemäß § 3e AsylG) die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (inländische Fluchtalternative).102 Ein Ausweichen in ein Gebiet des Heimatlandes ist dann unzumutbar, wenn es sich dabei etwa um ein menschenleeres, von einer Hungersnot betroffenes oder von Naturkata98

Als sichere Herkunftsländer gelten die in Anlage II zum AsylG aufgeführten Staaten. Stand: Ende 2015. 99 Auf der in Anlage II genannten Liste standen zwischenzeitlich auch die Länder Bulgarien (1993 – 2007), Gambia (1993 – 1995), Polen (1993 – 2007), Rumänien (1993 – 2007), Slowakei (1993 – 2007), Tschechien (1993 – 2007), Ungarn (1993 – 2007). Außer bei Gambia war bei allen anderen Ländern der Beitritt zur Europäischen Union der Grund für die Streichung von der Liste, da bei diesen eine Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention angenommen wird. 100 Umgesetzt wird Art. 16a Abs. 3 GG durch § 29a AsylG. Danach wird der Asylantrag eines Ausländers aus einem sicheren Herkunftsstaat als offensichtlich unbegründet abgelehnt, es sei denn, die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm in Abweichung von der allgemeinen Lage im Herkunftsland politische Verfolgung droht. Grundsätzlich ist also das abgekürzte Verfahren in Fällen offensichtlich unbegründeter Asylanträge anzuwenden, doch bleibt die Möglichkeit der Einzelfallprüfung bestehen, wenn der Tatsachenvortrag des Ausländers die Durchbrechung der Verfolgungssicherheit im konkreten Fall glaubhaft erscheinen lässt. 101 BVerfGE 80, S. 315 ff. (316, 345). 102 Bei der Prüfung der Frage, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt, sind gemäß § 3e AsylG die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Artikel 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen. Zu diesem Zweck sind genaue und aktuelle Informationen aus relevanten Quellen, wie etwa Informationen des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge oder des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen, einzuholen. Die inländische Fluchtalternative Westanatolien spielte stets eine große Rolle, als die Kurden politische Verfolgung in Ostanatolien als Asylgrund angaben.

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strophen heimgesuchtes Gebiet handelt. Die inländische zumutbare Fluchtalternative beseitigt damit das Recht auf Asyl. Verlangt wird eine auf verlässliche Tatsachenfeststellungen gestützte Prognose der Erreichbarkeit, damit sich die innerstaatliche Zufluchtsmöglichkeit nicht nur als theoretische Option, sondern dem Asylbewerber praktisch eröffnete Möglichkeit internen Schutzes darstellt. ee) Asylanerkennungsverfahren Die Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention ist nicht bereits jedem Ausländer zu gewähren, der politische Verfolgung behauptet. Maßgebend ist, ob tatsächlich politische Verfolgung besteht. Dies kann jedoch nur nach einer Prüfung des Asylbegehrens im Rahmen eines Anerkennungsverfahrens festgestellt werden. Die Anerkennung ist somit Voraussetzung für die Gewährung der Rechtsstellung nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Flüchtlingskonvention enthält allerdings keine Vorschrift über das Anerkennungsverfahren, sie überlässt es den Vertragsstaaten, das Verfahren, das sie aufgrund ihrer besonderen konstitutionellen und administrative Struktur für angemessen halten, einzuführen und anzuwenden. Die Verpflichtung zur Behandlung von Asylgesuchen und damit zur Entscheidung, ob dem Asylsuchenden Asyl zusteht, betrifft jeden Vertragsstaat der Genfer Flüchtlingskonvention. Zwar findet sich dort keine ausdrückliche Verpflichtung zur Behandlung von Asylgesuchen, diese Pflicht ergibt sich aber aus dem Regelungszweck der Genfer Flüchtlingskonvention.103 Kommt der Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat, in dem er bereits ein Asylverfahren durchlaufen hat oder hätte erhalten können, ist kein weiteres Asylverfahren erforderlich. Da das Asylgesuch des Asylbewerbers bereits an anderer Stelle behandelt worden ist oder hätte behandelt werden können, besteht kein schutzwürdiges Interesse des Asylbewerbers an einem weiteren Asylverfahren im Aufenthaltsstaat.104 Absatz 2 des Art. 16 a GG schließt nach der Gesetzesbegründung105 bei Einreise des Ausländers aus sicheren Drittstaaten konsequenterweise eine Berufung auf das Asylgrundrecht aus. Art. 19 Abs. 4 GG ist insoweit kein Hinderungsgrund mehr, da er nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ein subjektives Recht voraussetzt, das aber nicht gegeben ist. Eine Konsequenz findet sich schließlich auch in Art. 16a Abs. 2 Satz 3 GG, wonach in den Fällen des Satzes 1 aufenthaltsbeendende Maßnahmen „unabhängig von einem hiergegen eingelegten Rechtsbehelf vollzogen werden“. Etwas anderes gilt aber dann, wenn der Ausländer im Drittstaat zwar vor der Rückführung in den Verfolgerstaat sicher ist, er im Drittstaat aber – aus welchen Gründen auch immer – kein Asylverfahren erhält. Damit verletzten Griechen103 Vgl. BVerfGE 94, S. 49 ff. (91 f.). Ferner: UNHCR, Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 1979, Abs. 189. 104 H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 250. 105 Vgl. BT-Drs. 12/4152, S. 4.

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land, Makedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien und Österreich internationale Vereinbarungen, als sie 2015 kein Asylverfahren durchführten und die Flüchtlinge nach Deutschland weiterleiteten. Diese Weiterleitung erfolgte allerdings wegen der Willkommenspolitik und der ständig signalisierten Aufnahmebereitschaft der deutschen Bundeskanzlerin. Die Genfer Flüchtlingskonvention verlangt keine Anerkennung fremder Asylentscheidungen. Daher ist es erforderlich, dass insoweit völkerrechtliche Regelungen mit vertrauenswürdigen Vertragsstaaten mit angemessenen innerstaatlichen Normen vorhanden sind. Bei Nichtanerkennung eines Asylbewerbers im Drittland besteht kein Problem, wenn der Drittstaat die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention eingehalten hat. Ansonsten bleibt es dem Aufenthaltsstaat überlassen, ob er ein eigenes Asylverfahren durchführen möchte. Zu berücksichtigen ist, dass Asylbewerber keinen Anspruch haben, den Staat zu bestimmen, in welchem sie ein Asylverfahren erhalten wollen. Bei sicheren Herkunftsstaaten muss unterschieden werden, ob eine widerlegliche oder unwiderlegliche Vermutung für die Sicherheit besteht. Bei der unwiderleglichen Vermutung wird kein individuelles Asylverfahren durchgeführt. Es ist nämlich bereits durch die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat festgestellt worden, dass dem Ausländer in diesem Herkunftsstaat keine politische Verfolgung droht. Die Annahme einer unwiderleglichen Vermutung verstößt nicht gegen die Genfer Flüchtlingskonvention, sofern die Bestimmung zum sicheren Herkunftsstaat nicht willkürlich erfolgt ist, sondern das Ergebnis einer abstrakt-generellen Prüfung ist. Für straffällige Asylbewerber, die unter den Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt F Genfer Flüchtlingskonvention fallen, ist kein Asylverfahren durchzuführen, da auf diese die Genfer Flüchtlingskonvention keine Anwendung findet. Aufgrund der Politik der Bundeskanzlerin wurde 2015 nicht überprüft, ob ein Flüchtling ein Straffälliger oder gar ein Terrorist ist, da in der Regel keine Personalien aufgenommen werden. Es ist also nicht bekannt, ob Asylbewerber außerhalb des Schutzbereiches der Genfer Konvention liegen. Das Asylgesuch eines Fremden, der nicht im Besitz gültiger Identitätspapiere ist, kann nicht allein aus diesem Grund von einem asylrechtlichen Überprüfungsverfahren ausgeschlossen werden. Dies gilt auch dann, wenn die ausländischen Dokumente vorsätzlich vernichtet wurden, um im Rahmen des Asylverfahrens über ihre Identität zu täuschen. Aus der Genfer Flüchtlingskonvention kann nämlich nicht abgeleitet werden, dass diese Personengruppe von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen werden soll.106 Nur stellt sich die Frage, wie zu beurteilen ist, ob eine politische Verfolgung vorliegt, wenn der Flüchtling nicht Auskunft darüber gibt, durch

106 Dazu auch H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 258.

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welchen Staat er verfolgt wird. Es kann dann vermutet werden, dass er nicht politisch verfolgt wird, da er ansonsten den Verfolgerstaat benennen würde. Häufig stellen Ausreisepflichtige einen Asylantrag mit dem Ziel, die unmittelbar bevorstehende Aufenthaltsbewilligung zu vereiteln. Um diesen Missbrauch zu verhindern, haben einige Staaten107 die Regelung getroffen, dass Asylbewerber verpflichtet sind, innerhalb einer bestimmten Frist nach der Einreise bzw. innerhalb einer bestimmten Frist nach der Ausreise aus dem angeblichen Verfolgerstaat oder bei bereits bestehendem Aufenthalt im Inland nach Eintritt der den Asylanspruch begründenden Situation einen Asylantrag zu stellen. Diese Fristen sind völkerrechtlich nicht zu beanstanden, soweit der Ausländer nach der Einreise bzw. nach dem Bekanntwerden der die Flüchtlingseigenschaft begründenden Umstände die Möglichkeit hat, innerhalb eines angemessen langen Zeitraums um Asyl nachzusuchen.108 Zum Recht der Vertragsstaaten, das Asylverfahren autonom zu regeln, zählt auch die Befugnis, eine zügige Durchführung des Asylverfahrens zu sichern und die missbräuchliche Berufung auf das Asylrecht zu verhindern. Die Genfer Flüchtlingskonvention enthält keinerlei Bestimmungen über eine Überprüfung der Entscheidungen über Asylanträge. c) Refoulement-Verbot aa) Inhalt und Abgrenzung Die Abweisung an der Grenze und die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet kann heute eine Schranke auch darin finden, dass niemand in ein Land zurückgeschoben werden darf, in dem ihm eine Verletzung seiner fundamentalen Menschenrechte droht.109 Dieses – hinsichtlich des Inhalts und Umfangs – umstrittene Verbot hat unter dem Terminus Non-Refoulement-Prinzip Eingang in die völkerrechtliche Literatur gefunden. Das Non-Refoulement-Prinzip unterscheidet sich wesentlich vom Asylrecht.110 Während im Völkerrecht das Asylrecht ein Recht des Zuflucht gewährenden Staates gegenüber dem Herkunftsland des Flüchtlings und allen anderen Staaten ist mit der Folge, dass kein Staat einem anderen Staat die Asylgewährung zum Vorwurf machen darf, handelt es sich beim Non-Refoulement-Prinzip um eine völkerrechtliche 107 Vgl. § 30 Abs. 3 Nr. 2, 5, § 36 Abs. 1 AsylG in Deutschland. Weitere Nachweise bei H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 258 Fn. 48. 108 H.-G. Maaßen (Anm. 57), Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht, S. 259. 109 Vgl. R. Alleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, 1996. 110 Vgl. G. Gornig (Anm. 15), Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, S. 94; ders., Das „non-refoulement“-Prinzip, ein Menschenrecht in „statu nascendi“, in: EuGRZ 1986, S. 521 ff.; ders. (Anm. 48), Flüchtlinge und UNHCR, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch der Vereinten Nationen, S. 165 Rdnr 35.

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Pflicht des Staates, für deren Übertretung der Staat auf völkerrechtlicher Ebene zur Verantwortung gezogen werden kann. Während das Asylrecht also dem Staat eine Erlaubnis gibt, beinhaltet das Non-Refoulement-Prinzip ein Verbot. Während das politische Asylrecht als Recht des Staates eine Folge der staatlichen Souveränität ist, schränkt das Non-Refoulement-Prinzip den Staat in seinen souveränen Rechten ein. Das Asylrecht gibt dem Einzelnen auf völkerrechtlicher Ebene keinen Anspruch auf Asylgewährung. Das Non-Refoulement-Prinzip als Menschenrecht111 hingegen enthält einen Anspruch des Einzelnen auf Nichtentfernung. Als kleinsten gemeinsamen Nenner der Rechtsinstitute territoriales Asyl und Non-Refoulement-Prinzip findet sich mithin lediglich der Schutz, den der Aufenthaltsstaat einem Fremden gewährt, um ihn vor der Gefährdung seines Lebens, seines Leibes und seiner Freiheit durch den Verfolgerstaat zu bewahren. Keine Gemeinsamkeiten bestehen hinsichtlich des insgesamt geschützten Personenkreises, des Inhalts, der Anzahl und der Bedeutung der Verfolgungsgründe, des Inhalts, der Anzahl und der Bedeutung der gefährdeten Rechtsgüter sowie der Qualität des Schutzes. Wenn also der Flüchtling völkerrechtlich keinen Anspruch auf Asyl hat und er insofern rechtlos ist, so schützt ihn das Non-Refoulement-Prinzip wenigstens davor, nicht dem Verfolgerstaat ausgehändigt zu werden. bb) Verankerung (1) Allgemein Das non-refoulement-Prinzip findet sich in vier verschiedenen Vertragskategorien, nämlich in Flüchtlingskonventionen, Menschenrechtskonventionen, Auslieferungsverträgen und Verträgen über den bewaffneten Konflikt. Flüchtlingskonventionen, wie Art. 33 GFK, Art. 10 der Vereinbarung über Flüchtlingsseeleute vom 23. November 1957112 und Art. 2 der Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit vom 10. September 1969113 verbieten ausdrücklich die Abschiebung von Flüchtlingen in Staaten, in welchen ihnen politische oder ähnliche Verfolgung droht. Menschenrechtsverträge verankern das Refoulement-Verbot vor allem in der Form von Abschiebungsverboten bei drohender Folter oder unmenschlicher Behandlung wie Art. 3 EMRK, Art. 3 Folterkonvention114, Art. 7 IPbpR115. Der Art. 22 Abs. 8 AMRK116 enthält hingegen ein flüchtlingsähnli111

Vgl. G. Gornig (Anm. 110), EuGRZ 1986, S. 521 ff. Text: BGBl. 1961, II, S. 829 ff. 113 Text: UNTS, No. 14691; http://www.unhcr.de/fileadmin/rechtsinfos/fluechtlingsrecht/ 1_international/1_1_voelkerrecht/1_1_5/FR_int_vr_OAU-Konvention.pdf. 114 Text: BGBl. 1990 II, S. 246; http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/ user_upload/PDF-Dateien/Pakte_Konventionen/CAT/ cat_de.pdf. 115 Text: BGBl. 1973 II, S. 1553; http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/ 360794/publication File/3613/IntZivilpakt.pdf. 116 Text: http://www.wsi.uni-kiel.de/de/lehre/vorlesungen/archiv/ws-2010-11/giegerich/men schenrechtsschutz/Materialien/MenschenRSchutzAMRK.pdf. 112

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ches Abschiebungsverbot. Ferner verbieten auch Auslieferungsverträge Personen für politische Delikte oder bei drohender Gefahr politischer Verfolgung dem ersuchenden Staat auszuliefern. Schließlich gibt es noch Verträge über den bewaffneten Konflikt, die ein Refoulement-Verbot beinhalten. (2) Flüchtlingskonventionen Zunächst hat sich der Grundsatz herausgebildet, politische Flüchtlinge, die kein Asyl beantragt haben oder denen der Staat kein Asyl gewährt, vor Zurückweisung in den Verfolgerstaat zu schützen, um sie auf diese Weise groben Menschenrechtsverletzungen zu entziehen. So erkannten die Mitglieder des Völkerbundes sowie die Gerichte einzelner Staaten zwischen den beiden Weltkriegen an, dass Flüchtlinge um ihrer selbst willen vor Refoulement zu schützen seien. Die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet in seinem Art. 33 Abs. 1 GFK den vertragschließenden Staaten, einen Flüchtling in einen Staat auszuweisen oder zurückzuweisen, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. Das Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK schützt Flüchtlinge, die sich legal oder illegal im Zufluchtsland aufhalten. Art. 33 GFK schützt aber über den Wortlaut hinaus auch Flüchtlinge, die an der Grenze um Aufnahme ersuchen, ohne das Territorium des eventuellen Aufnahmestaates schon betreten zu haben. Dieses Ergebnis ist geboten, da sonst ein Flüchtling, der die Grenze illegal überquert hat, mehr Schutz genösse als jener, der sich vorschriftsmäßig bei den Grenzkontrollen meldet.117 Art. 33 GFK hat mithin zur Folge, dass ein Land dann einen Flüchtling nicht in Anwendung des Art. 32 der Konvention zurückweisen darf, wenn dieser praktisch keine andere Möglichkeit hätte, als sich in ein Land zu begeben, in dem sein Leben oder seine Freiheit aus den erwähnten Gründen bedroht ist. Unter Freiheit ist dabei die physische Freiheitsbeschränkung gemeint. Nicht erwähnt ist hingegen der Schutz vor Körperverletzung, insbesondere Folterungen. Da jedoch auch bei Bedrohung der Freiheit Art. 33 Abs. 1 der Flüchtlingskonvention eingreift, muss dies erst recht bei schwerer wiegenden Eingriffen in die körperliche Integrität gelten.118 Die GFK schützt auch dann vor einer Abschiebung, wenn der Flüchtling Gefahr läuft, vom aufnehmenden Staat in einen Drittstaat verbracht zu werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht wäre („Kettenabschiebung“ bzw. „indirektes refoulement“).119 117

Vgl. G. Gornig (Anm. 15), Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, S. 19 f. Vgl. G. Gornig (Anm. 15), Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, S. 23; W. Kälin, Das Prinzip des Non-Refoulement, 1982, S. 117. 119 W. Kälin (Anm. 118), Das Prinzip des Non-Refoulement, S. 110; G. Gornig (Anm. 15), Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, S. 19; J. Crawford/P. Hyndman, Three Heresies in the Application of the Refugee Convention, in: IJRL, Bd. 1 (1989), S. 155 ff. (171 ff.); K. Hailbronner, Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Koordinierung des Einreiseund Asylrechts, 1989, S. 40; V. Lieber, Die neuere Entwicklung des Asylrechts im Völkerrecht und im Staatsrecht, 1973, S. 23; St. Rosenmayr, Asylrecht, in: R. Machacek/W. Pahr/S. Stadler 118

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Die Art. 1 F und 33 Abs. 2 GFK statuieren detailliert Ausnahmen vom Refoulement-Verbot. Gemäß Art. 1 F der Flüchtlingskonvention finden die Bestimmungen der Konvention auf Personen keine Anwendung, bei denen aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben, sich ein schweres nicht-politisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmestaates zuschulden kommen ließen, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen wurden oder Handlungen ausführten, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwider laufen. Art. 33 Abs. 2 GFK lässt die Rückweisung eines Flüchtlings in den Verfolgerstaat ausnahmsweise zu, wenn aus schwerwiegenden Gründen anzunehmen ist, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Landes darstellt oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde. Das bedeutet, dass ein Land ausweisen kann, auch wenn die Ausweisung eine lebensbedrohende Verfolgung des Ausgewiesenen auslösen könnte. Während Art. 1 F GFK den Schutz der Konvention entzieht, wenn der politisch Verfolgte vor der Einreise in den Zufluchtsstaat straffällig geworden ist, hebt Art. 33 Abs. 2 GFK das Refoulement-Verbot bezüglich solcher Flüchtlinge auf, die sich eines Delikts schuldig gemacht haben, nachdem sie Zuflucht gesucht hatten. Art. 33 GFK bindet die Staaten, diese Norm kann aber auch als subjektives Recht verstanden werden. Das ergibt sich e contrario aus Art. 33 Abs. 2 GFK, der normiert, wann sich ein Flüchtling nicht auf die Begünstigung des Refoulement-Verbots berufen kann. (3) Menschenrechtskonventionen Im Gegensatz zu den Flüchtlingskonventionen enthalten Menschenrechtskonventionen grundsätzlich nicht nur objektives Recht, sie geben vielmehr in der Regel dem Individuum Ansprüche gegenüber dem Staat. Das Non-Refoulement-Prinzip hat lediglich Aufnahme in Art. 22 Abs. 8 AMRK vom 22. November 1969 gefunden. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen vom 19. Dezember 1966 und die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 enthalten allerdings mit den Folterverboten Bestimmungen, aus denen ein Refoulement-Verbot abgeleitet werden kann. Nach Ansicht der Beratenden Versammlung120 des Europarates untersagt das in Art. 3 EMRK verankerte Verbot der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung die Zurückweisung von Flüchtlingen in ein Land, in dem sie um ihr Leben oder ihre Freiheit fürchten müs(Hrsg.), 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. 3: Wesen und Werte, 1997, S. 535 ff. (542). 120 Assembleé Consultative du Conseil de l‘Europe. Recommendation 434 (1965), relative á l’application du droit d’asile aux refugies europeéns.

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sen.121 Art. 3 EMRK enthält keinen Gesetzesvorbehalt, der dem des Art. 33 Abs. 2 GFK vergleichbar wäre. Auch die Europäische Kommission für Menschenrechte leitete aus Art. 3 EMRK ein Rückweisungsverbot ab122. Sie vertrat die Auffassung, dass zwar Ausweisung, Auslieferung und Asylrecht nicht zu den von der Konvention direkt geregelten Materien gehören, die Vertragsstaaten der Konvention aber eingewilligt hätten, die ihnen vom allgemeinen Völkerrecht eingeräumten Rechte, über die Einreise und Ausreise frei zu verfügen, nicht mehr nach freiem Ermessen, sondern nur noch im Rahmen der von der Konvention auferlegten Verpflichtungen auszuüben. Auch das Oberverwaltungsgericht Münster123 erkannte an, dass das Verbot der unmenschlichen Behandlung in Art. 3 EMRK eine Zurückweisung in den Verfolgerstaat verbieten kann. Art. 3 EMRK schützt auch vor Abschiebungen in einen Staat, in dem selbst keine wie immer geartete Verfolgung droht, der aber in einen potenziellen Verfolgerstaat weiterschob („Kettenabschiebung“).124 Das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vom 10. Dezember 1984125 enthält in Art. 3 Abs. 1 eine Verankerung des Grundsatzes des Non-Refoulement. Ein Vertragsstaat darf nämlich eine Person nicht mehr in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden. Im Gegensatz zu den lediglich ein Folterverbot beinhaltenden internationalen Menschenrechtskatalogen enthält die Folterkonvention die Verankerung des Refoulement-Verbots. Die UN-Folterkonvention lehnt sich in Art. 3 Abs. 1 an den Wortlaut des Art. 33 GFK an und gibt damit ebenfalls keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob der Norm auch ein Verbot der Zurückweisung von Flüchtlingen an der Grenze entnommen werden kann.126

121 Vgl. dazu St. Rosenmayr (Anm. 119), in: R. Machacek/W. Pahr/S. Stadler, 50 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Grund- und Menschenrechte in Österreich, Bd. 3, S. 543 ff.; vgl. ferner: EGMR vom 17. 12. 1996 (Ahmed 71/1995/577/663). Art 3 EMRK stellt nicht nur auf Flüchtlinge, sondern auf Fremde allgemein ab, vgl. EGMR vom 07. 07. 1989 (Soering), in: EuGRZ 1989, 314 ff.; vom 20. 03. 1991 (Cruz Varas u. a.), in: EuGRZ 1991, S. 203 ff., sowie ÖJZ 1991, S. 519 ff.; vom 30. 10. 1991 (Vilvarajah u. a.), in: ÖJZ 1992, S. 309 ff.; vgl. auch Rosenmayr (Anm. 119), in: R. Machacek/W. Pahr/S. Stadler, S. 554. 122 Vgl. G. Gornig (Anm. 15), Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, S. 32 Fn. 17, mit zahlreichen Nachweisen. 123 OVG Münster, DÖV 1956, S. 381. 124 Vgl. dazu R. Alleweldt (Anm. 109), Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, S. 64 ff.; A. Zimmermann, Asylum Law in the Federal Republic of Germany in the Context of International Law, in: ZaöRV, Bd. 53 (1993), S. 49 ff.; E. Wiederin, Aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Fremdenpolizeirecht, 1993, S. 25; St. Rosenmayr, Asyl- und Auslieferungsrecht, in: Kritik und Fortschritt im Rechtsstaat, 1991, S. 194 ff. (201). 125 Text: BGBl. 1990 II, S. 247 ff. 126 Vgl. G. Gornig (Anm. 15), Das Refoulement-Verbot im Völkerrecht, S. 36 ff.

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(4) Auslieferungsabkommen Das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957127 erklärt in Art. 3 eine Auslieferung wegen einer politischen oder einer mit einer solchen zusammenhängenden strafbaren Handlung für unzulässig. So heißt es in Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2, dass die Auslieferung nicht bewilligt wird, wenn der ersuchte Staat ernstliche Gründe hat anzunehmen, dass das Auslieferungsersuchen wegen einer nach gemeinem Recht strafbaren Handlung gestellt worden ist, um eine Person aus rassischen, religiösen, nationalen oder auf politischen Anschauungen beruhenden Erwägungen zu verfolgen oder zu bestrafen, oder dass die verfolgte Person der Gefahr einer Erschwerung ihrer Lage aus einem dieser Gründe ausgesetzt wäre. (5) Verträge über den bewaffneten Konflikt Ein Zurückweisungsverbot findet sich in Art. 45 des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12. August 1949128. Er verbietet die Überstellung von Zivilpersonen in internationalen bewaffneten Konflikten an eine Macht, die nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, ihren Verpflichtungen nach der Konvention nachzukommen. Zudem verbietet diese Konvention in Art. 49 willkürliche Einzel- oder Massenausweisungen von Zivilpersonen. Das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus vom 27. Januar 1977129 verankert ebenfalls das Refoulement-Verbot. II. Aufenthalt von Fremden und Flüchtlingen 1. Fremdenrecht a) Allgemein Obwohl der Staat Fremde nach Belieben von seinem Gebiet fernhalten kann und ihre Heimatstaaten ihm gegenüber kein Recht auf Zulassung ihres Staatsangehörigen haben, erhalten die Fremden durch die Zulassung einen völkerrechtlichen Status, der vom Aufenthaltsstaat nicht ohne Verletzung des Völkerrechts beeinträchtigt werden kann. Das innerstaatliche Fremdenrecht kann faktisch diesem Status gerecht werden, über ihn hinausgehen oder hinter ihm zurückbleiben. Ob die Behandlung des Fremden rechtmäßig im Sinne des Völkerrechts ist, wird aber ausschließlich vom Völkerrecht bestimmt, da das Völkerrecht das interne Recht auf seine Rechtmäßigkeit kontrolliert und das interne Recht insoweit lediglich die Rolle einer rechtlich zu beurtei-

127 Text: UNTS, Bd. 359, S. 273 ff.; BGBl. 1964 II, S. 1371 ff.; http:// conventions.coe.int/ Treaty/ GER/Treaties/Html/024.htm. 128 Text: BGBl. 1954 II, S. 917 ff.; Sartorius II, Nr. 54. 129 Text: BGBl. 1978 II, S. 322 ff.

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lenden Tatsache spielt. Der Staat hat somit das völkerrechtliche Fremdenrecht zu respektieren. Grundsätzlich unterliegen alle Menschen, die sich auf dem Hoheitsgebiet eines Staates befinden, der Rechtsordnung dieses Staates. Damit gilt die Rechtsordnung dieses Staates auch für Fremde, die sich auf seinem Hoheitsgebiet befinden, wobei zugunsten bestimmter Personen wie Diplomaten und Angehörige der Streitkräfte, aber auch zugunsten von Staatsgästen die Vorteile einer persönlichen Immunität zugutekommen. b) Theorie vom internationalen Mindeststandard und Theorie von der Inländerbehandlung Das völkerrechtliche Fremdenrecht ergibt sich aus multilateralen Verträgen mit weltweiter oder regionaler Verbreitung, aus bilateralen Verträgen wie Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträgen sowie Kapital- und Investitionsschutzabkommen. Schließlich gilt zwischen den Staaten völkergewohnheitsrechtlich ein internationaler Mindeststandard, also gewohnheitsrechtliche Pflichten des Staates, die der Staat bei der Ausgestaltung des nationalen Fremden- und Ausländerrechts zu beachten hat.130 Die Theorie vom internationalen Mindeststandard entsprach der Position, die die westlichen Industriestaaten den lateinamerikanischen Staaten und später den Staaten der Dritten Welt entgegenhielten, um den Risiken der Inländergleichbehandlung entgegenzuwirken. Ein Staat kann den auf seinem Gebiet befindlichen Fremden nicht Pflichten auferlegen, die diese in Konflikt mit der fortbestehenden Treuepflicht gegenüber ihrem Heimatstaat bringen würde. So kann von den Ausländern grundsätzlich nicht die Erfüllung der Wehrpflicht verlangt werden, wenn sich der Dienst gegen sein Heimatland richtet. Ebenso wenig können den Ausländern andere Kriegsleistungen wie nationale Hilfsdienste131 und die Erfüllung anderer spezifisch politischer Pflichten zugemutet werden, wie Wahlpflicht, Schöffen- und Geschworenenpflicht. Die Auferlegung von Pflichten, die den Ausländer jedoch nicht in Konflikt mit seinem Heimatstaat bringen würde, ist denkbar, insbesondere ist der Ausländer auch der Steuerpflicht132 unterworfen. Diese trifft die niedergelassenen Fremden in gleicher Weise wie die eigenen Staatsangehörigen. Bei öffentlichen Notfällen ist eine Heranziehung der ansässigen Ausländer zu Hilfeleistungen nicht ausgeschlossen. Ebenso kann der im besetzten Gebiet ansässige Ausländer zur Beteiligung an den der Bevölkerung auferlegten Besatzungslasten herangezogen werden. Die Fremdenpolizei 130 Vgl. Harry Roberts (U.S.A.) v. United Mexican States, RIAA, in: Bd. 4, S. 80, A. Schnitzer, Mindeststandard, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer, Bd. 2, S. 537 f. 131 Vgl. hierzu G. Jänicke/K. Doehring, Die Wehrpflicht von Ausländern, in: ZaöRV, Bd. 16 (1955/56), S. 523 ff. 132 Zur Vermeidung der Doppelbesteuerung sind zahlreiche bilaterale Doppelbesteuerungsabkommen abgeschlossen worden.

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eines Staates ist völkerrechtlich nicht gehindert, zugelassenen Ausländern Sonderverpflichtungen aufzuerlegen, die mit Rücksicht auf die äußere und innere Sicherheit des Staates sowie auf seine öffentliche Ordnung geboten erscheinen, wie die polizeilichen Meldepflichten, die Vorlage eines Reisepasses bei Registrierung in Hotels, das Verbot des Erwerbs von Grundstücken in strategisch wichtigen Gegenden oder von Grundstücken überhaupt. Es darf dabei aber keine willkürliche Diskriminierung zwischen den verschiedenen Kategorien von Ausländern erfolgen. Der völkerrechtliche Mindeststandard bedarf der Präzisierung, soweit es um die Rechte geht, die der Fremde im Ausland genießt. Er umfasst - das Recht auf Rechtsfähigkeit, - die Gewissensfreiheit, - das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, - das Recht auf Eigentum und den Schutz von Eigentum, - das Recht, vor willkürlichen Verhaftungen geschützt zu sein, - das Recht, den innerstaatlichen Rechtsweg zu beschreiten, - die Gleichheit vor dem Gesetz, insgesamt also die Respektierung des Schutzes der Menschenwürde. Mangels besonderer vertraglicher Regelung133 ist der Aufenthaltsstaat nicht verpflichtet, Ausländern die freie berufliche oder gewerbliche Betätigung zu gestatten. Er ist daher berechtigt, im Falle der Erlaubnis, diese von Bedingungen abhängig zu machen. Der Aufenthaltsstaat ist nicht verpflichtet, Fremden spezifisch politische Rechte zu gewähren, insbesondere das aktive und passive Wahlrecht, die Zulassung zu öffentlichen Ämtern. Schließlich kann der Aufenthaltsstaat dem Fremden auch jede politische Betätigung untersagen. Er ist also nicht verpflichtet, ihm das Recht der freien Meinungsäußerung, das Versammlungsrecht, das Vereinsrecht und ähnliche Rechte uneingeschränkt zu gewährleisten.134 Dies steht im Einklang mit Art. 16 EMRK, wonach keine der Bestimmungen der Meinungsäußerungsfreiheit und Informationsfreiheit, der Versammlungs- und Vereinsfreiheit und des Verbots der Diskriminierung so ausgelegt werden darf, dass sie den Vertragsparteien es verbieten würde, die politische Tätigkeit von Ausländern Beschränkungen zu unterwerfen. Schließlich kann den Ausländern der Erwerb von Grundstücken, etwa zum Schutz gegenüber Fremden, verboten werden. Soweit sich Staaten auf internationaler Ebene zur Respektierung internationaler, universeller oder regionaler Menschenrechtspakte verpflichtet haben, haben sie sich teilweise auch zur Respektierung dieses internationalen Mindeststandards gegenüber Fremden verpflichtet. Allerdings ist die internationale Eigentumsgarantie noch nicht im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte enthalten und auch 133 134

Vgl. hier etwa die Bestimmungen des AEU-Vertrages. Vgl. hierzu die in Art. 19, 21 u. 22 IPbpR vorgesehenen Einschränkungen.

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auf europäischer Ebene nur in einem Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. In den Fällen, in denen der internationale Mindeststandard niedriger ist als die landesrechtlichen Verbürgungen gegenüber eigenen Staatsangehörigen, kann eine Gleichstellung der Fremden mit den Inländern in völkerrechtlichen Verträgen auf der Basis der Gegenseitigkeit verwirklicht werden. Der Ausländer wird sich daher eher auf eine Verletzung der Menschenrechte berufen als auf eine Verletzung des internationalen Mindeststandards, zumal ihm bei einer Berufung auf die Verletzung von Menschenrechten unter Umständen auch die Individualbeschwerde zusteht. In den Fällen, in denen der internationale Mindeststandard höher ist als die landesrechtlichen Verbürgungen, besteht eine Inländerdiskriminierung, die völkerrechtlich ohne Belang ist, wenn nicht gegen spezielle völkerrechtliche Verträge verstoßen wird. Die Theorie der Inländerbehandlung ist im lateinamerikanischen Bereich entwickelt worden. Ihr entspricht die Calvo-Doktrin. Die Theorie der Inländerbehandlung hat zur Folge, dass der Staat dem Fremden die gleiche Behandlung wie seinen eigenen Staatsangehörigen gewährt. Diese Theorie kann dem international vorgeschriebenen Mindeststandard gleichkommen, sie kann ihn übertreffen, aber sie kann auch hinter ihm zurück bleiben. Da es sich bei dem internationalen Standard um einen Minimumstandard handelt, ist eine ihn übertreffende Inländerbehandlung völkerrechtlich immer zulässig, wenngleich außerhalb einschlägiger vertraglicher Vereinbarungen kein völkerrechtlicher Anspruch auf sie besteht, während die hinter ihm zurückbleibende Inländerbehandlung der Fremden völkerrechtlich unzulässig ist. Somit kann sich kein Staat damit exkulpieren, dass er seine Inländer auch nicht anders behandelt. Die Theorie von der Inländerbehandlung hat sich jedoch im Völkergewohnheitsrecht nicht durchsetzen können. In einem Land kann auf einem Sachgebiet eine den internationalen Standard übertreffende, auf einem anderen Sachgebiet eine hinter ihm zurückbleibende Inländerregelung bestehen, was zur Folge hat, dass man sich vor Generalisierungen hüten muss und jeden einzelnen Fall nach allen Aspekten zu überprüfen hat. Ein Staat wird im Allgemeinen auch bei der Gewährung einer über den Minimumstandard hinausgehenden Inländerbehandlung zwischen den Angehörigen verschiedener Staaten nicht differenzieren dürfen, da er damit das Prinzip der Gleichbehandlung der Staaten verletzen würde, es sei denn, dass er kraft konkreter Verträge mit bestimmten Staaten zu solcher Besserbehandlung verpflichtet oder kraft Repressalienrechts zu solcher Diskriminierung berechtigt ist. Ausländer im Inland sind nämlich, im Gegensatz etwa zu Kriegsgefangenen, denen gegenüber Repressalien verboten sind135, legitimer Gegenstand von Repressalien, wegen ihrer leichten Erreichbarkeit sogar ein besonders beliebter Gegenstand von Repressalien. Im Rahmen einer Repressalie kann der Staat dann in den den Minimumstandard übertreffenden Status der Fremden eingrei-

135 Vgl. Art. 13 des Dritten Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen von 1949, Text: BGBl. 1954 II, S. 838 ff.

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fen, aber auch in einzelne Rechte des Minimumstandards, rechtfertigt doch die Repressalie ein ansonsten rechtswidriges Handeln. 2. Flüchtlingsrecht a) Rechtlicher Schutz der Flüchtlinge im Rahmen der Vereinten Nationen aa) United Nations Relief and Rehabilitation Administration Am 9. November 1943 hat eine der ersten Sonderorganisationen der noch im Entstehen begriffenen Vereinten Nationen ihre Tätigkeit zugunsten der Flüchtlinge und verschleppten Personen aufgenommen: Die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Der UNRRA kam die Aufgabe der Repatriierung der im Machtbereich der Achsenmächte verschleppten Personen zu. Bis zum Jahre 1947 wurden über 7 Millionen Menschen repatriiert. bb) Internationale Flüchtlingsorganisation In der Res. 8 (I) vom 12. Februar 1946 beauftragte die Generalversammlung den ECOSOC mit der Schaffung einer internationalen Organisation zur Lösung der Flüchtlingsfragen. Ein Komitee des ECOSOC arbeitete daraufhin den Entwurf der Satzung der „International Refugee Organization“ (IRO) aus136, die am 15. Dezember 1946 von der Generalversammlung137 angenommen wurde. Als Datum für den Beginn ihrer Tätigkeit hatte man den 1. Juli 1947 festgelegt. An diesem Tag wurden die UNRRA und das Intergovernmental Committee for Refugees aufgelöst. Der Aufgabenkreis der IRO umfasste die Gewährung von Unterhalt, ärztlicher Betreuung und Rechtsschutz sowie Umschulung, Repatriierung und Neuansiedlung oder Eingliederung der Flüchtlinge. cc) Hohes Kommissariat für Flüchtlinge Schon bald nach der Schaffung der IRO wurde deutlich, dass das weltweite Flüchtlingsproblem nicht bis zum Ende des Jahres 1951 gelöst werden konnte. Da die in der IRO-Satzung enthaltene Definition des „Flüchtlings“ unzulänglich war und die Hauptaufgabe einer internationalen Flüchtlingsorganisation nicht die Repatriierung sein konnte, beschloss am 3. Dezember 1949 die Generalversammlung138 die Errichtung eines Hohen Kommissariats für Flüchtlinge. Das am 14. Dezember 1950 von der Generalversammlung139 beschlossene Statut trat am 1. Januar 1951 in Kraft. Zunächst wurde das Amt nur für drei Jahre ins Leben gerufen, um europäi136 UN ECOSOCOR, 1st year, 2nd sess., special suppl. 1: Report of the Special Committee on Refugees and Displaced Persons, UN Doc. E/REF/75 (1946). 137 Vgl. Res. 62 (I) und 83 (I). 138 Res. 319 (IV). 139 Res. 428 (V).

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schen Flüchtlingen zu helfen, die vor dem 1. Januar 1951 ihr Heimatland verlassen mussten. Seit 1954 wurde aber das UNHCR-Mandat regelmäßig von der UN-Generalversammlung um fünf Jahre verlängert. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen wird auf Empfehlung des Generalsekretärs von der UN-Generalversammlung gewählt.140 Sein Hauptsitz ist in Genf. Die Arbeit des UNHCR soll gemäß Art. 2 der UNHCR-Satzung einen völlig unpolitischen Charakter haben. Sie soll humanitärer und sozialer Natur sein und sich in der Regel nur auf Gruppen beziehen. Damit wird verdeutlicht, dass die Betreuung einzelner Fälle grundsätzlich nicht zum Aufgabenbereich des UNHCR gehört, wenn er auch das Recht hat, im Bedarfsfalle wegen einer Einzelperson bei einer Regierung zu intervenieren. Der UNHCR hat dafür zu sorgen, dass Asylanträge von Personen, die geltend machen, Flüchtlinge zu sein, im Rahmen eines angemessenen Verfahrens geprüft werden, die Asylgewährung gefördert wird und Flüchtlinge nicht während des Verfahrens oder später in ein Land abgeschoben werden, in dem sie begründete Furcht vor Verfolgung haben könnten. Er hat die Aufgabe, die Annahme von internationalen Rechtsnormen für die Behandlung von Flüchtlingen sowie die wirksame Anwendung der Konventionen zu fördern. Er soll sicherstellen, dass Flüchtlinge nach anerkannten internationalen Normen behandelt werden, einen angemessenen Rechtsstatus erhalten und im Lande ihres ständigen Aufenthalts hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen und sozialen Rechte soweit wie möglich den Staatsangehörigen des Landes gleichgestellt werden, um ihre Eingliederung zu erleichtern. Auf weltweiter sowie lokaler Ebene soll der UNHCR sich dafür einsetzen, dass die anerkannten internationalen Grundsätze für die Behandlung von Flüchtlingen besser bekannt und verstanden werden. Er hat sich um den Schutz der Flüchtlinge vor Gewaltanwendung und missbräuchlicher Internierung zu bemühen und sich der Zusammenführung getrennter Flüchtlingsfamilien anzunehmen. Der UNHCR soll ferner zu dauerhaften Lösungen des Flüchtlingsproblems beitragen, die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen fördern und bei der Wiedereingliederung zurückgekehrter Flüchtlinge helfen. Sollte dieses Ziel nicht erreichbar sein, hat er die Regierungen der Asylländer in ihrem Bemühen zu unterstützen, Flüchtlingen die Eingliederung zu erleichtern und zur Verleihung der Staatsangehörigkeit an die Flüchtlinge zu ermuntern. Der UNHCR spielt schließlich eine führende Rolle bei der Koordinierung der Flüchtlingshilfe. Er kann im Rahmen anderer humanitärer Hilfsprogramme der UNO für Vertriebene sorgen und ermächtigt werden, denjenigen zu helfen, die in Folge der von Menschen verursachten Katastrophen ihre Heimat verlassen mussten und sich in einer Lage befinden, die der von Flüchtlingen gleicht. Die materiellen Hilfeleistungen des UNHCR umfassen Nothilfe, Unterstützung bei freiwilliger Repatriierung oder örtlicher Einglie-

140

Der UNHCR wurde 1954 und 1981 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

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derung, Wiederansiedlung durch Auswanderung in Drittländer, Schul- und Berufsausbildung sowie Rechtsbeistand und Beratung.141 b) Rechte und Pflichten der Flüchtlinge aa) Genfer Flüchtlingskonvention Die Rechte und Pflichten der Flüchtlinge sind speziell in der Genfer Flüchtlingskonvention statuiert, von denen hier einige beispielhaft aufgeführt werden.142 Jeder Flüchtling hat Pflichten gegenüber dem Land, in dem er sich befindet. Diese Pflichten erfordern es insbesondere, dass er sich den Gesetzen des Landes sowie den zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen fügt (Art. 2 GFK). In Bezug auf die Freiheit der Religionsausübung und der religiösen Kindererziehung sollen die vertragschließenden Staaten den auf ihren Gebieten lebenden Flüchtlingen dieselbe Behandlung angedeihen lassen, wie ihren eigenen Staatsangehörigen (Art. 4 GFK). Die Flüchtlinge genießen im Namen der für alle Ausländer anwendbaren Gesetze grundsätzlich Freizügigkeit innerhalb des Zufluchtsstaates (Art. 26 GFK). Die Flüchtlinge, die sich rechtmäßig in einem Staatsgebiet aufhalten, sollen hinsichtlich der Meinungen, die nicht politischen Zwecken und nicht Erwerbszwecken dienen, und hinsichtlich der Berufsverbände die günstigste Behandlung genießen, die den Staatsangehörigen eines fremden Landes unter den gleichen Umständen gewährt wird. Jeder Flüchtling hat freien Zugang zu den Gerichten (Art. 16 Abs. 1 GFK). Die Geschäfts- und Handlungsfähigkeit, die Familienrechte, das eheliche Güterrecht, Erbfolge und Erbrecht jeden Flüchtlings bestimmen sich nach dem Recht des Landes seines Wohnsitzes oder in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem Recht des Aufenthaltsstaates (Art. 12 GFK). Hinsichtlich des Erwerbs von beweglichem und unbeweglichem Eigentum und sonstigen diesbezüglichen Rechten sowie hinsichtlich von Miet-, Pacht- und sonstigen Verträgen über bewegliches und unbewegliches Vermögen soll jedem Flüchtling eine möglichst günstige und jedenfalls nicht weniger günstige Behandlung gewährt werden, als sie Ausländern im Allgemeinen unter den gleichen Umständen gewährt wird (Art. 13 GFK). Was die Ausübung nichtselbständiger Tätigkeit anbetrifft, gewähren die vertragsschließenden Staaten den sich rechtmäßig im Gebiet aufhaltenden Flüchtlingen die günstigste Behandlung, die den Staatsangehörigen eines fremden Landes unter den gleichen Bedingungen gewährt wird (Art. 17 GFK). Hinsichtlich der Ausübung einer selbständigen Tätigkeit genießen die Flüchtlinge eine möglichst günstige und jedenfalls nicht weniger günstige Behandlung, als sie Ausländern im Allgemeinen unter den gleichen Bedingungen gewährt wird (Art. 18 GFK). Den Flüchtlingen ist ferner für den Fall der Rationierung von Erzeugnissen, an denen Mangel herrscht (Art. 20 GFK), ferner auf dem Gebiet der Fürsorge (Art. 23 GFK) und hinsichtlich 141

Zu den weltweiten Aktivitäten des UNHCR vgl. G. Gornig, Flüchtlinge und UNHCR, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Handbuch der Vereinten Nationen, 1991, S. 159 ff. 142 Vgl. Chr. Amann, Die Rechte des Flüchtlings: die materiellen Rechte im Lichte der travaux préparatoires zur Genfer Flüchtlingskonvention und die Asylgewährung, 1994.

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des Unterrichts in Volksschulen die gleiche Behandlung wie eigenen Staatsangehörigen zu gewähren (Art. 22 Abs. 1 GFK). Hinsichtlich des Wohnungswesens sollen sie eine möglichst günstige und jedenfalls nicht weniger günstige Behandlung erfahren, als sie Ausländern im Allgemeinen unter den gleichen Bedingungen gewährt wird (Art. 21 GFK). Schließlich verpflichten sich die vertragsschließenden Staaten, jedem Flüchtling, der sich auf ihrem Gebiet befindet und keinen gültigen Reiseausweis besitzt, einen Personalausweis auszustellen (Art. 27 GFK). Dieser hat allerdings nur Gültigkeit im Inland. Um den Flüchtlingen Reisen ins Ausland zu ermöglichen, werden die vertragsschließenden Staaten den Flüchtlingen Reiseausweise ausstellen (Art. 28 GFK). Die Bestimmungen der Flüchtlingskonvention sind ohne Diskriminierung in Bezug auf Rasse, Religion oder Herkunftsland anzuwenden (Art. 3 GFK). Deutlich wird ferner, dass Flüchtlinge den allgemeinen Regeln des völkerrechtlichen Fremdenrechts unterliegen, soweit nicht Sonderregelungen zu ihren Gunsten bestehen. bb) Menschenrechtsvereinbarungen Eine völkerrechtliche Verpflichtung, bedürftigen Flüchtlingen Sozialleistungen zu gewähren, besteht grundsätzlich nicht. Sie kann weder multilateralen noch bilateralen völkerrechtlichen Verträgen, noch dem Völkergewohnheitsrecht oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnommen werden.143 Eine Ausnahme besteht für flüchtende Kinder nach der UN-Kinderrechtskonvention, die nach Art. 2 Abs. 1 für alle Kinder gilt144, unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds. Auch besteht keine völkerrechtliche Verpflichtung, Flüchtlingen eine Ausbildung oder Sprachkurse oder andere Maßnahmen zur Integration zu gewähren. Das in Art. 2 S. 1 Erstes Zusatzprotokolls zur EMRK vom 20. März 1952 gewährte Recht auf Bildung („Das Recht auf Bildung darf niemandem verwehrt werden“.) begründet keine Verpflichtung des Staates, Asylbewerbern in Hinblick auf den provisorischen Charakter des Aufenthaltsrecht derartige Bildungsmaßnahmen zu gewähren. Flüchtlinge, die staatliche Sozialleistungen erhalten, können verpflichtet werden gemeinnützige Arbeiten auszuführen. Im Fall der unentgeltlichen Unterbringung in einem Wohnheim oder in einem Aufnahmezentrum können sie durch die Übernahme von bestimmten Aufgaben wie Reinigungsdiensten dazu beizutragen, den Betrieb dieser Einrichtung aufrechtzuerhalten. Solche Verrichtungen sind im Hinblick auf Art. 4 Abs. 2 EMRK und dem wortgleichen Art. 8 Abs. 3 lit. a IPbpR („Niemand 143 Die Europäische Sozialcharta, die in Art. 13 ff. soziale Rechte garantiert, findet ebenso wie das Europäische Fürsorgeabkommen vom 11. 12. 1953 nur Anwendung auf Staatsangehörige der Vertragsstaaten die sich rechtmäßig in einem Vertragsstaat aufhalten. 144 Übereinkommen über die Rechte des Kindes, Text: BGBl. 1992 II, S. 121 ff.; http:// www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/.

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darf gezwungen werden, Zwangs- oder Pflichtarbeit zu verrichten.“) nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit zu qualifizieren. Als Zwangs- oder Pflichtarbeit ist nämlich nur die Arbeit oder Dienstleistung anzusehen, „die von einer Person unter Androhung irgendwelcher Strafe verlangt wird und für die sie sich nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hat“.145 Eine Strafandrohung besteht also nicht, wenn im Falle der Verweigerung dem Asylbewerbern Sozialleistungen oder das weitere Wohnen in der Unterkunft verweigert werden.146 Gemäß Art. 10 und 11 EMRK ist den Ausländern grundsätzlich Meinungsäußerungs- Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit garantiert. Diese Rechte müssen hinsichtlich politischer Aktivitäten im Zusammenhang mit Art. 16 EMRK gesehen werden. Diese Vorschrift bestimmt, dass die Artikel 10, 11 und 14 (Diskriminierungsverbot) nicht so auszulegen sind, als untersagten sie den Hohen Vertragsparteien, die politische Tätigkeit ausländischer Personen zu beschränken. Verfahrensrechtlich ist ein weiterer Schutz des Flüchtlings dadurch gegeben, dass die Ausweisung eines Flüchtlings nur in Ausführung einer Entscheidung erfolgen darf, die in einem gesetzlich geregelten Verfahren ergangen ist. Dem Flüchtling soll in diesem Zusammenhang gestattet werden, Beweise zu seiner Entlastung beizubringen, ein Rechtsmittel einzulegen und sich zu diesem Zweck vor einer zuständigen Behörde oder vor einer oder mehreren Personen, die von der zuständigen Behörde besonders bestimmt sind, vertreten zu lassen. III. Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland Der Rechtsstaat funktioniert nur, wenn auch die Politik die Bindung durch das Recht und die Gesetze anerkennt. Heute, insbesondere in Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise, setzt sich die Politik immer häufiger über das Recht, auch über das Völkerrecht, hinweg. Auch die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel ist an das Völkerrecht, die Verfassung und die Gesetze gebunden. Das Dublin-System der Verteilung des Asylsuchenden funktioniert nicht, weil die Bundeskanzlerin mit ihrer Politik der Willkommenskultur die Staaten Europas veranlasst hat, die Flüchtlinge nach Deutschland weiterzureichen. Viele Menschen in Afrika und in den asiatischen Ländern machen sich gerade wegen der Politik der offenen Tür auf den Weg nach Deutschland. Deutschland nimmt seit langem mehr Asylsuchende auf als es müsste. Nach den von der Bundesrepublik Deutschland angewendeten Standards wären mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung, also etwa 4.88 Milliarden Menschen, in Deutschland „asylberechtigt“. Die meisten der ankommenden Flüchtlinge haben aber keinen Anspruch auf Asyl, sie werden gleichwohl ins 145

Art. 2 Abs. 1 Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit vom 28. 6. 1930, Text: BGBl. 1956 II, S. 641 ff. 146 Vgl. EKMR, Beschwerde 7602/76, European Commission of Human Rights, Decisions and Reports 7, 161. Vgl. auch OVG Münster, DVBl. 1996, S. 319.

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Land gelassen. Es wird ihnen eine Bleibeperspektive gegeben, die rechtlich nicht besteht, da es in den meisten Fällen um Arbeitsmigration, schlimmstenfalls um eine Einwanderung in das deutsche Sozialsystem handelt. Auch stellt sich die Frage, ob die nach Deutschland eingewanderten Flüchtlinge sich rechtmäßig in Deutschland befinden. Das ist zu bezweifeln, da viele Flüchtlinge rechtswidrig ohne Kontrolle hereingelassen wurden und hereingelassen werden. Sie können also nach Art. 32 Genfer Flüchtlingskonvention ausgewiesen werden. Aber auch ein Asylberechtigter hat zunächst grundsätzlich keinen Anspruch für alle Zeiten im Lande zu bleiben, sondern nur solange die Verfolgungsgründe vorliegen.147 Der Hinweis, dass sich Terroristen unter die Flüchtlinge mischen könnten, wurde allenthalben heftig bestritten; heute vermutet man, dass vielleicht Hunderte diesen Weg genommen haben und nicht nur die unterdessen bekannten menschenverachtenden und getöteten Killer. Nun wird von den EU-Partnern verlangt, dass sie eine große Zahl der nach Deutschland hereingebetenen Flüchtlinge aufnehmen. Diese weisen ein solches Ansinnen weit von sich, zumal sie es gegenüber der eigenen Bevölkerung, bei der die deutsche Bundeskanzlerin einen massiven Ansehensverlust zu verzeichnen hat, nicht vertreten können. Damit wirklich die Grenze geschlossen bleiben, werden in Nachbarländern rechtsextreme bis rechtsradikale Parteien in die Regierungsverantwortung gewählt oder zumindest gestärkt. Die Einreise erfolgt entgegen der weltweit geltenden Regeln ohne sich ausweisen zu können, sogar ohne registriert zu werden. Damit wird die Souveränität der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Es heißt, das kurze Stück Grenze zwischen Deutschland und Österreich sei nicht zu sichern, gleichzeitig aber fordert man die Sicherung die Grenze zwischen der Türkei und dem Irak sowie Syrien. Als Preis zahlt man Milliarden an die Türkei und verspricht der Türkei, die sich immer weiter von einem rechtsstaatlichen System entfernt, die Mitgliedschaft in der Europäischen Union, übersieht aber, dass dann Millionen von Türken und Kurden in die Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der Freizügigkeit umsiedeln können; schon jetzt fliehen viele Kurden vor dem selbstherrlichen Kurdenbekämpfer Erdog˘ an. Straftaten der Flüchtlinge werden nicht zur Anzeige angenommen, Straftatbestände und Ordnungswidrigkeitentatbestände können ohne rechtliche Konsequenzen verwirklicht werden. Zivilrechtliche Ansprüche gegen Flüchtlinge werden nicht durchgesetzt. Landkreise übernehmen den Schadensersatz. Während deutsche Bürger für Bus und Bahn zahlen müssen, haben Asylbewerber freie Fahrt. Aus Angst vor Übergriffen werden Fahrkarten nicht kontrolliert. In Bäder, Busse, Bahnen verschafft man sich Zutritt ohne zu bezahlen und bei Protest heißt es, man sei Gast von Frau 147 Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen, heißt es in § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Die Schutzgewährung führt in Deutschland gemäß § 73 Abs. 2a AsylG zu einem Anspruch auf einen dreijährigen Aufenthaltstitel. Nach drei Jahren ist von der Ausländerbehörde eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn die Gründe für die Zuerkennung bzw. Anerkennung nicht weggefallen sind. Dies wird im Rahmen eines Widerrufverfahrens im Bundesamt geprüft. Vgl. hierzu insgesamt § 73 AsylG.

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Merkel. Damit wird nicht nur gegen einschlägige Gesetze verstoßen, sondern auch gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatz. Im Übrigen ist es längst erforderlich, dass bei der Täteranalyse neben der Staatsangehörigkeit auch der Migrationshintergrund erfasst wird, da viele Täter bereits die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. An den Grenzen, rings um Flüchtlingsunterkünfte, ja manchmal rings um den Flüchtling selbst, entstehen rechtsfreie Räume, die eines Rechtsstaates unwürdig sind. Es ist also kein Wunder, dass manche Bürger die Bundesrepublik Deutschland unterdessen als failed state betrachten. Viele Bürger warteten Jahrzehntelang auf verbesserte Infrastruktur, also bessere Straßen, besser ausgestattete Kindergärten, Schulen, Universitäten, aber es fehlte an Geld; plötzlich stehen aber Milliarden zur Verfügung, um die Flüchtlinge zu versorgen. Deutsche Familien, Obdachlose, Arbeitslose, die schon lange auf bessere Verhältnisse und mehr Unterstützung warten, gehen leer aus. Aber Versagen ist nicht nur der Bundeskanzlerin vorzuwerfen, sondern auch vielen Landesregierungen, die Straftaten von Fremden übersehen, Abzuschiebende nicht abschieben. Auch wenn schnelleres Abschieben versprochen wird, weiß man, dass dies teilweise wegen komplizierter Gesetze und des refoulement-Verbots nicht oder nur schwer möglich sein wird oder weil man das Herkunftsland vieler Flüchtlings nicht ausfindig machen kann. Sie durften doch teilweise unregistriert in die Bundesrepublik Deutschland einreisen und haben unterdessen längst ihre Ausweise vernichtet. Aber auch Heimatländer nehmen die Flüchtlinge nicht zurück, vor allem dann nicht, wenn sie sich in der Fremde strafbar gemacht haben. Es geht also in der Flüchtlingskrise nicht nur um die Bewältigung eines Problems, es geht auch um das Überleben unserer Rechtsstaatlichkeit, um das Überleben unseres Staates und seiner Werteordnung. Es waren die rechtsstaatlichen Spielregeln, die Deutschland erst so lebenswert gemacht haben, dass es für Millionen von Flüchtlingen das Ziel ihrer Träume wurde.148 Diese Errungenschaften sollten wir nicht leichtfertig verspielen. Es ist also kein Wunder, dass uns ausländische Zeitungen mit Häme überschütten, wenn wir gerade das nun tun. Die Politik der Bundesregierung ist schuld, dass die Menschen verunsichert sind, Angst haben, nachts aus dem Haus zu gehen, sich vor Einbrüchen fürchten, sich mit Selbstschutzsprays und Ähnlichem eindecken, Fußballstadien, Badeanstalten, Bahnhöfe, Fußgängerzonen, Busse, Züge, U-Bahnen, Volksfeste, Weihnachtsmärkte meiden, dass der Schulunterricht und der Sport ausfällt, weil die Hallen und Plätze mit Flüchtlingen belegt sind und dass man fürchtet, der Staat werde privates Eigentum an Wohnungen und Häusern beschlagnahmen, um dort Flüchtlinge unterzubringen. Man erwartet, dass wir unsere Lebensgewohnheiten den Einwanderern anpassen, nicht umgekehrt! Unsere Freiheiten und unsere Werte sind in Gefahr! Der Staat hat sich schützend vor seine Bürger zu stellen, 148 So M. Martens, Heilige Schrift. In Deutschland steht das Grundgesetz über der Bibel und dem Koran. Das sollten wir den Flüchtlingen von Anfang an klarmachen, in: FAS vom 15. 09. 2015, S. 8.

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dazu ist er aufgrund der Verfassung, insbesondere der Grundrechte, verpflichtet. Adressat der Schutzpflichten ist in erster Linie der Gesetzgeber, aber auch die Verwaltung und die Gerichte.149 Im Übrigen müsste nach der Wesentlichkeitsrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts150 der Bundesrepublik Deutschland eine solche Entscheidung, Hundertausende von Flüchtlingen, zum größten Teil ohne gesetzliche Grundlage, ins Land zu lassen, vom Parlament getroffen werden.151 Dieses muss unter Umständen in Zukunft auch Quoten für Migranten bestimmen. Nicht die Bundeskanzlerin allein kann über die Zuwanderung entscheiden und im Alleingang Deutschland eine neue Identität152 verschaffen und Probleme verursachen, die die Bürger, deren Kinder und Kindeskinder noch viele Jahrzehnte, wenn nicht gar für immer, beschäftigen werden153. Es drohen Parallelgesellschaften, in denen die deutsche Leitkultur, Werte des christlichen Abendlandes durch Werte des Islam und patriarchalische Strukturen ersetzt werden, die mit unseren tradierten Werten nicht in Einklang zu bringen sind. Denn immerhin kommen die Flüchtlinge aus einem fremden Kulturkreis mit uns fremden Sitten und Gebräuchen, mit einer Religion, die Frauen als minderwertig und dem Mann untertan betrachtet, die das Töten von Ungläubigen und erst recht ein Weniger wie Körperverletzungen, Diebstahl und Betrug billigt. Es sind Menschen, die keineswegs alle so glänzend ausgebildet sind, wie man uns anfangs weismachen wollte, die unter Umständen in unserem Land keinen Anschluss finden, keine Arbeit bekommen, vor allem dann nicht, wenn sich die Konjunktur abschwächt oder Parteien an die Macht kommen, die die Wirtschaft aus ideologischen Gründen knebeln. Sie werden dann in großer Zahl in die Kriminalität abdriften oder sich fanatischen „Gotteskriegern“ anschließen und damit das Land noch unsicherer machen.

149 Dazu J. Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band IX, 3. Aufl. 2011, S. 413 ff. (479 ff. Rn. 146 ff. [493 Rn. 170]). 150 Vgl. z. B. BVerfGE 49, 89 (126); 48, 210 (221); 47, 46 (78 ff.); 45, 400 (417 f.); 41, 251 (260); 40, 237 (249); 34, 165 (192 f.). Ferner: Chr. Degenhart, Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht, 30. Aufl. 2014, Rn. 330. 151 So völlig zu Recht Michael Kloepfer, vgl. dazu: R. Müller, Den Bund notfalls zwingen, in: FAZ vom 14. 10. 2015, S. 8. 152 Deutschland ist auf dem Weg zum Vielvölkerstaat, dazu trägt auch das liberale Staatsangehörigkeitsgesetz bei. – „Der Grundsatz der nationalen Identität basiert auf den Grundsätzen der deutschen Kulturnation und ihrer ebenso integralen wie einheitsstiftenden Kraft. Das Prinzip der nationalen Identität und ihrer Wahrung ist dem Verfassungsstaat vorgegeben und bei entsprechender Gefährdung kraft wehrhafter Verfassungsstaatlichkeit auch aktiv zu schützen“, so R. Scholz, Asylrecht kennt Obergrenze, in: Focus Nr. 43/15, 17. 10. 2015, S. 36. 153 „Einwanderer bringen nicht bloß ihre Kochrezepte mit, sondern auch ihre Weltanschauungen und Konflikte. Auch aus Kriegsgebieten fliehen nicht nur Pazifisten nach Deutschland. Und selbst Akademiker sind nicht gefeit gegen religiösen Fanatismus“. So B. Kohler, Der verspätete Vielvölkerstaat, in: FAZ vom 03. 09. 2015, S. 1.

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Und wieso soll nun die Integration klappen, obwohl sie doch bei Millionen von Fremden bislang nicht geklappt hat, nicht einmal bei allen DDR-Bürgern. Woher nehmen die Bundesregierung und manche Parteienvertreter nur ihren Optimismus, dass wir das schaffen! Glauben sie an das, was sie sagen, oder fehlt einfach der Wille und der Verstand die Realität wahrzunehmen. Oder geht es nur darum, der Kanzlerin zu erlauben ihr Gesicht zu wahren. Aber wegen ihr dürfen wir nicht unsere Identität opfern. Bei Kritik und Geltendmachung von Bedenken gegenüber der Flüchtlingspolitik werden weite Kreise der Bevölkerung als rechtsradikal, fremdenfeindlich, rassistisch, islamophob oder als Nazis denunziert. Das erinnert an Praktiken in Russland gegenüber Personen, die sich kritisch über Putins Politik in der Ukraine äußern. Den Medien, den Parteien, den Landesregierungen und der Bundesregierung und vor allem der Kanzlerin wird misstraut, vor allem weil Wahrheiten verschwiegen werden. Wie einst in der DDR oder heute in Russland unter Putin und in der Türkei unter Erdog˘ an muss man ausländische Zeitungen und Zeitschriften studieren oder ausländische Rundfunkprogramme einschalten, um wahrheitsgemäß über deutsche Politik und die Flüchtlinge informiert zu werden. Unzweifelhaft verurteilungswürdige Übergriffe auf die Flüchtlinge werden in größter Ausführlichkeit dokumentiert und kommentiert, während entsprechende Übergriffe der Flüchtlinge auf deutsche Bürger totgeschwiegen werden.154 Wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland müssen heute Kenntnisse in diesem Zusammenhang privat mündlich oder per Mobiltelefon weitergeleitet werden, was natürlich nicht immer zu korrekten Berichterstattung beiträgt. Meinungsäußerungsfreiheit, soweit sie überhaupt noch in diesem Bereich vorhanden ist, wird in vorauseilender Selbstzensur der Political Correctness geopfert. Dass die Allgemeinheit über die Ausländerkriminalität von der Bundesregierung und den Medien nicht bzw. unrichtig informiert wird, ist schon seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt. Hinweise, dass das Problem der Ausländerkriminalität nicht lösbar sei, wenn es ignoriert wird, werden mit dem Vorwurf der Ausländerfeindschaft und des Rassismus beantwortet. Heute lassen sich aber die Menschen davon nicht mehr beeindrucken. Eigentlich müsste man wissen, dass diese Verschleierungspolitik die Bevölkerung noch viel misstrauischer macht. Zudem haben wir von der erfolgreichen Revolution in der DDR gelernt: „Wir sind das Volk“. Die Bundeskanzlerin sei auch in diesem Zusammenhang an ihren Amtseid erinnert, der lautet: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen 154 Nach den Ereignissen auf der Domplatte in Köln in der Silvesternacht 2015 wurde bekannt, dass die Polizei nach klaren Leitlinien zum Sprachgebrauch handele, die von der Innenministerkonferenz verabschiedet worden seien, um nationale Minderheiten zu schützen. Vgl. Leitlinien für die Polizei des Landes Nordrhein-Westfalen zum Schutz nationaler Minderheiten vor Diskriminierungen, Runderlass des Innenministeriums v. 15. 12. 2008, Text: Ministerialblatt NRW 2009, S. 20, ferner: https://recht.nrw.de/. Dort heißt es unter Nummer 3: „Auf die Zugehörigkeit zu einer Minderheit wird in der internen und externen Berichterstattung nur hingewiesen, wenn sie für das Verständnis eines Sachverhaltes oder für die Herstellung eines sachlichen Bezuges zwingend erforderlich ist.“

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Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“ Es geht also darum, vom „deutschen“ Volk Schaden zu wenden und nicht von anderen Völkern zu Lasten der Deutschen. Merkels Kurs der offenen Grenzen ist eine Kapitulation des Rechtsstaats, wie sie bislang wohl nur einmal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu verzeichnen war, nämlich im Zusammenhang mit den Ostverträgen und der deutschen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition. Die Sicherheit des Zufluchtsstaates oder der in ihm lebenden Menschen genießen Vorrang gegenüber dem Asylrechtsschutz für politisch Verfolgte. Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu garantierende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet.155 Es wäre nicht zu verantworten, die Sicherheitsinteressen von Staat und Allgemeinheit schlechthin hinter dem Interesse der Asylbewerber an Verfolgungsschutz zurücktreten zu lassen.156 Weder das Völkerrecht noch das Verfassungsrecht gebieten eine solche umfassende Politik der Willkommenskultur; vielmehr ist diese zu beschränken, da mit ihr die wirklich politisch Verfolgten, die verfassungsrechtlich ein Individualrecht auf Asyl haben, benachteiligt werden. * Abstract Gilbert H. Gornig: Entry, Residence and Departure of Foreigners with Particular Focus on Refugees (Einreise, Aufenthalt und Ausreise von Fremden, unter besonderer Berücksichtigung von Flüchtlingen), in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 21–66. The sovereign equality of States, which is the basis for international relations between states and stipulated in Art. 2 Sec. 1 UN Charter entitles, in principle, every state to regulate the conditions of entry, residence and departure of foreigners and stateless persons independently. Unlike a rejection the expulsion of people is not arbitrary. A state letting foreigners enter into its territory has to abide by international legislation relating to aliens. In principle, all people located in a sovereign territory are subject to the state’s legal system. However, foreigners enjoy a minimum standard on the territory of the country of residence. While international law grants the state a margin of discretion on single expulsion, mass expulsion or collective expulsion are prohibited by customary international law. Refugees are a particular group of foreigners, being subject to specific regulations, like the Geneva Refugee Convention, in addition to the general rules of international legislation relating to aliens. Just like a state has the right to reject foreigners at the border or to expel them from the 155 156

BVerwGE 49, S. 202 ff. (209). Vgl. BVerwGE 49, S. 202 ff. (209).

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country, it has the right to grant foreigners asylum. In this case it is a matter of refugees. Thus, the political asylum law is also the result of state sovereignty. International law contains no individual rights to asylum. Nevertheless, individual claims to asylum are enshrined in national law. Internationally, agreements exist so as to limit the individual right to asylum, for instance for reasons of public security and order; moreover, the “safe third country” and “safe state of origin” concepts are accepted as well. The refugee status is not recognised, if a person has no well-founded fear for persecution or access to protection against persecution and if the person has the option to travel to this safe region safely and legally. Also, the person must then be received and has to be reasonably expected to settle there (internal flight alternative). Today, the rejection at the border and the expulsion from the sovereign territory can find its limits, because it is forbidden to send someone back to a country, where there is a risk of a violation of basic human rights (non-refoulement principle). Thus, the right to asylum grants a state authorisation, while the non-refoulement principle includes a prohibition. While a state’s right of political asylum is the result of state sovereignty, the non-refoulement principle restricts these sovereign rights. The Dublin system of spreading the asylum seekers across the states of the European Union does not work, because the policy of German Chancellor Angela Merkel has caused a welcoming culture with the effect of European states passing on refuges to Germany. Many people from Africa and from Asian countries decide to go to Germany due to this open door policy. For a long time now Germany has received more asylum seekers than required. A prospect of permanent residence is offered, which legally does not exist, because mostly the reason is labour migration or, at worst, immigration to the German social system. In countless cases, contrary to the regulations applying on a worldwide basis, the immigration of people took place without being able to identify them, even without registering them. Terrorists mingled among refugees. Crimes committed by refugees are not being reported to the authorities, civil claims against refugees are not enforced. The districts are held fully liable for compensation. Around refugees legal vacuums occur, unworthy of a constitutional state. Citizens fear for their safety in daily life. Many of them have been waiting for a better infrastructure for decades: Better roads, better equipped kindergartens, schools, universities; but money lacked. Suddenly billions are available, to provide for refugees. Rapid expulsion is not or hardly possible, due to complicated laws and the refoulement prohibition or because the home country of many refugees cannot be located. Home countries do not take refugees back, especially not if they made themselves liable to prosecution in a foreign country. Our freedoms and our values are endangered! The state is obliged to protect its citizens due to the constitution, especially on the basis of the fundamental rights. Apart from that, according to the “materiality” jurisdiction of the Federal Court, the decision of the Federal Republic of Germany to receive hundreds of thousands of refugees, mostly without a legal basis, should have been taken by the parliament. The German Chancellor cannot decide upon immigration alone and give Germany a new Identity single-handedly and cause problems, which will affect citizens, their children and children’s children for many decades, if not for ever. There is a danger of parallel societies replacing the German “dominant culture” and the values of the “Christian occident” by Islamic values and patriarchal structures, which are incompatible with our traditional values. When criticising or expressing concern about the refugee policy a wide sector of the population is denounced as extreme right-winged, xenophobic, islamophobic or as Nazis. The media, the parties, the state governments, the federal government and particularly the chancellor are mistrusted, especially since truths are kept secret. The safety of the refuge state or of the people living within it takes precedence over the protection of asylum law for those politically persecuted. The safety of the state, as drawn up peace

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and peacekeeping power, and the safety of its people which it has to ensure, are constitutional values, which rank equal to others and are indispensable, because the institution of the state deduces its actual and final justification from them. It would be unjustifiable to allow the security interests of the state and the general public, to become secondary to the interests of asylum seekers in the protection against persecution. Neither international law nor constitutional law demands a welcoming culture policy that comprehensive; rather it has to be limited, because it has the effect of disadvantaging people who really are politically persecuted, having a constitutional individual right to asylum. The refugee crisis is not only about tackling a problem, but also about the survival of the rule of law, about the survival of our state and its set of values. Constitutional rules have made Germany worth living in, making it the dream goal of millions of refugees. These are achievements that should not carelessly be squandered.

Die de facto und de iure Staatenlosigkeit. Ein schweres Schicksal für die Betroffenen Von Adrianna A. Michel I. Einleitung Es gibt keine Region der Welt, die frei von Problemen ist, die zu Staatenlosigkeit führen. Trotz umfangreicher völkerrechtlicher Bestimmungen über den Erwerb, den Verlust oder die Verweigerung der Staatsbürgerschaft haben Millionen von Menschen in aller Welt keine Staatsangehörigkeit. Sie sind staatenlos. Ist eine Person staatenlos, so wird sie von keinem Staat geschützt und genießt zunächst im Aufenthaltsstaat weder den Inländerstatus noch die Rechtsstellung, wie sie Ausländern gebührt. Viele der Staatenlosen1 haben aber auch schwere Schicksale hinter sich. Staatenlose sind nämlich häufig Opfer von Flucht und Vertreibung. Sie müssen ihre Heimat verlassen, müssen in ein neues, unbekanntes Leben flüchten. In ihren Heimatstaaten herrschen Krisen oder gar Krieg, Unterdrückung und Armut. Dies verdeutlicht, dass die Gründe und Ursachen dafür, warum Menschen keine Staatsangehörigkeit besitzen und folglich rechtlich keinem Staat zuzuordnen sind, vielfältig sind. Die Flüchtlingswelle, die insbesondere seit dem Jahre 2014 aufgrund der Krisen in Afrika und des syrischen Krieges überdimensionale Ausmaße angenommen hat und Europa vor große Herausforderungen stellt, führt auch dazu, dass die Problematik der Staatenlosigkeit stärker denn je in den Vordergrund getreten ist. Häufig sind die Flüchtlinge nämlich auch de facto staatenlos. Sie gehören faktisch keinem Heimatstaat mehr an. Das Recht auf eine Staatsangehörigkeit ist im Völkerrecht weitgehend anerkannt und verleiht eine Rechtsstellung, aus der verschiedene Rechte abgeleitet werden können. Dennoch gibt es Millionen von Menschen ohne Staatsangehörigkeit, besonders in einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Nach Schätzungen des United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR)2 gibt es weltweit rund 15 Millionen Staatenlose.3 Derzeit leben in Deutschland nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) knapp 14.000 Staatenlose. Laut UNO-Flücht1

Auch als Apatriden bezeichnet. Derzeit ist Filippo Grandi Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. 3 Diese Zahl kann nur als grobe Schätzung gewertet werden, da die Regierungen nur selten bereit sind, Informationen über Staatenlose offenzulegen oder erst gar nicht in der Lage sind, verlässliche Daten zu liefern. Vgl. W. E. Conclin, Statelessness. The Enigma of an International Community, 2014, S. 7. 2

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lingswerk sind in der Europäischen Union mindestens 600.000 Menschen staatenlos.4 Kinder sind besonders betroffen. Schätzungen zufolge ist etwa die Hälfte aller Staatenlosen Kinder. Dies liegt möglicherweise daran, dass Waisenkinder, verlassene Kinder oder auch uneheliche Kinder in Ländern mit stark patriarchalem Familienrecht oft staatenlos geboren werden. Eine weitere Ursache ist, dass Kinder aus bi-nationalen Ehen oder Kinder, die nicht im Herkunftsland ihrer Eltern zur Welt kommen, nicht in jedem Fall die Staatsangehörigkeit ihres Geburtslandes erhalten. Staatenlosigkeit kann auf diese Weise durch staatsangehörigkeitsrechtliche Kollisionsregelungen entstehen. Die Staatsangehörigkeit stellt in den meisten Staaten der Welt immer noch eine wesentliche Voraussetzung der Existenzsicherung dar, da mit der Staatsangehörigkeit auf positiver Seite zahlreiche Rechte des Einzelnen in seinem Heimatstaat verbunden sind. Ohne Staatsangehörigkeit kann man sich in dem Land, in dem man lebt, nicht als Wähler eintragen lassen und kein Reisedokument beantragen. In manchen Fällen können Personen, die staatenlos sind und sich außerhalb ihres Herkunftslandes oder des Landes befinden, in dem sie ihren früheren Aufenthalt hatten, für lange Zeit festgehalten werden, wenn sich die Herkunftsländer weigern, ihnen die Wiedereinreise in ihr Hoheitsgebiet zu gestatten. Oft werden den Personen, die ihre rechtmäßige Verbindung mit einem Staat nicht nachweisen können, grundlegende Rechte, wie das Recht auf Bildung, medizinische Versorgung und Beschäftigung, verweigert. Es zeigt sich, dass das Thema Staatsangehörigkeit politisch sensibel ist. Dies liegt daran, dass die Verleihung der Staatsangehörigkeit Ausdruck der Souveränität und Identität eines Staates ist. Es ist daher nicht überraschend, dass Differenzen in dieser Frage zu Spannungen und Konflikten sowohl innerhalb eines Staates als auch zwischen Staaten führen. Die Frage der Staatsangehörigkeit nimmt daher in der gegenwärtigen Entwicklung, die von Flüchtlingsströmen geprägt ist, eine weitreichende rechtliche, politische, soziale und zugleich kulturelle Bedeutung ein. Das Völkerrecht steht daher vor der großen Herausforderung, das Problem der Staatenlosigkeit zu bekämpfen. Die Problematik der Staatenlosigkeit wird aufzeigen, dass sie häufig mit einer rechtlichen Grauzone verbunden ist, die es zu überwinden gilt. Eine wesentliche Abgrenzung im Rahmen des Komplexes der Staatenlosigkeit ist, dass zwischen de iure und de facto Staatenlosen unterschieden wird. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, welche Konsequenzen diese Unterscheidung für das Schicksal der Betroffenen hat.

4 Siehe hierzu den Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung vom 29. 09. 2014, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/332394/43561799cc62b9c0c99ce7 95ae6331b9/rechtstellung-der-staatenlosen-data.pdf.

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II. Grundlagen der Staatsangehörigkeit 1. Begriff der Staatsangehörigkeit a) Geschichtliche Entwicklung des Instituts der Staatsangehörigkeit Bevor auf die Frage der inhaltlichen Ausgestaltung der Staatsangehörigkeit eingegangen wird, ist es zum besseren Verständnis erforderlich zu beleuchten, welche geschichtliche Entwicklung die Staatsangehörigkeit erfahren hat. Die Staatsangehörigkeit ist notwendigerweise zunächst einmal an die faktische Existenz eines Staatsvolkes geknüpft, das seit der „Drei-Elemente-Lehre“ von Georg Jellinek als konstituierendes Element eines Staates rechtlich anerkannt wird. Schon lange vor der Entstehung souveräner Nationalstaaten wurden Kriterien festgesetzt, die dazu dienten, dass sich einzelne Personenverbände als Einheit wahrnahmen und die Abgrenzung von anderen ermöglichten. Daher existierte die Unterscheidung zwischen „Angehörigen“ und „Fremden“, seitdem Menschen sich in Stämmen oder auch Familienverbänden zusammenfanden.5 Das Institut der Staatsbürgerschaft6 wurde erstmals im Jahre 212 n. Chr. in den römischen Bürgerrechten beschrieben. Römer war derjenige freie Bewohner, der von der Stadt Rom das römische Bürgerrecht verliehen bekam.7 Erst Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Staatsangehörigkeit Gegenstand konkreter gesetzlicher Regelungen.8 Der Grund für diese Entwicklung war, dass einerseits das Interesse der Abgrenzung des eigenen Nationalvolkes in Abgrenzung zu anderen Völkern aufkeimte, andererseits das Staatsvolk vermehrt die Staatsgewalt ausübte, was eine genaue Festlegung der hierfür berechtigten natürlichen Personen erforderte.9 5 Vgl. M. Deinhard, Das Recht der Staatsangehörigkeit unter dem Einfluss globaler Migrationserscheinungen, 2015, S. 97. 6 Das Bürgerrecht bezeichnete die Mitgliedschaft einer Person in einem politischen Verband und war Ausdruck eines gleichstufigen Zusammenlebens verschiedener Personen in einer Gruppe. Der Wandel im Staatsverständnis führte dazu, dass zwischen Staatsangehörigen und Staatsbürgern unterschieden wurde. So umfasst der Begriff der Staatsangehörigen diejenigen Personen, die einem bestimmten Staat angehören, während die Staatsbürgerschaft die Eigenschaft als Vollbürger beschreibt. Vgl. T. O. Hokema, Mehrfache Staatsangehörigkeit. Eine Betrachtung aus völkerrechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht, 2002, S. 37. 7 Vgl. H. Jellinek, Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, zugleich ein Beitrag zur Lehre von der Staatensukzession, 1951, S. 10 f.; G. A. E. Krohne, Die Ausbürgerung illoyaler Staatsangehöriger. Geltendes Verfassungsrecht, internationaler Rechtsvergleich und rechtspolitische Reformperspektiven, 2013, S. 5. 8 Vgl. G. A. E. Krohne (Anm. 7), Die Ausbürgerung illoyaler Staatsangehöriger, S. 5; M. Silagi, Vertreibung und Staatsangehörigkeit, 1999, S. 44; M. Deinhard (Anm. 5), Das Recht der Staatsangehörigkeit, S. 99 f. 9 Vgl. G. A. E. Krohne (Anm. 7), Die Ausbürgerung illoyaler Staatsangehöriger, S. 6.

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Der Begriff des Staatsbürgers und Staatsangehörigen ist historisch auf die Herausbildung von Nationen zurückzuführen. Als eine Nation wird eine Abstammungsgemeinschaft verstanden, die durch Kultur, Sprache, Sitte und Nachbarschaft verbunden ist.10 Der Begriff Bürger ging dem Begriff Staatsangehörigkeit voraus. Der Begriff des Staatsbürgers fand sich erst im 19. Jahrhundert. Als erste begriffliche Erwähnung des citoyen bzw. citizen im menschenrechtlichen Zusammenhang ist auf den Titel des Dokumentes vom 26. August 1789 „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ und auf einige Artikel der „Bill of Rights“ von 1791 – die ersten Grundrechtsartikel der US-amerikanischen Bundesverfassung – zu verweisen. Die Staatsangehörigkeit hat also ihren sprachlichen Ursprung im Bürgerverhältnis zu einem Herrschaftsgebilde, wie einem Stadtstaat, Fürstentum und Königreich, das ein verzweigtes System von gegenseitigen Treueverhältnissen umfasste.11 Die Anfänge der rechtlichen Etablierung des Begriffes der Staatsangehörigkeit in Deutschland gehen auf die Gründung des Deutschen Bundes im Jahre 1815 zurück. Die Bundesakte als völkerrechtlicher Vertrag bestimmte die Bildung eines Staatenbundes, der allerdings wiederum keine eigenen Staatsangehörigen kannte, da er keine rechtliche Verbindung zu den Individuen begründen konnte. Jedoch entwickelten die einzelnen Mitgliedstaaten nach dem Jahre 1815 normative Ansätze12 für eine eigene Staatsangehörigkeit.13 Ebenso fand während der Frankfurter Nationalversammlung 1848/1849 die Staatsangehörigkeit Eingang in die Paulskirchenverfassung.14 In Art. 3 der Verfassung des Norddeutschen Bundes, die am 1. Juli 1867 in Kraft trat, wurde schließlich die als Bundeszugehörigkeit bezeichnete Staatsangehörigkeit des Norddeutschen Bundes15 verkündet.16 Mit der Konstituierung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 ging die Bundeszugehörigkeit in die Reichszugehörigkeit über.17 Gleichzeitig wurde allerdings die Zugehörigkeit zu den Gliedstaaten als „Staatsangehörigkeit“18 bezeichnet.19 Mit dem „Gesetz über die Erwerbung und den 10

Vgl. M. S. Kraus, Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, 2013, S. 39. Vgl. M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 40 f. 12 Eine entsprechende Übersicht über die verschiedenen Staatsangehörigkeitsregelungen in Deutschland findet sich bei F. von Keller/P. Trautmann, Kommentar zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz vom 22. Juli 1913, 1914, S. 601 ff. 13 Vgl. M. Silagi (Anm. 8), Vertreibung und Staatsangehörigkeit, S. 45; D. Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, 2001, S. 162. 14 Vgl. M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 41; siehe hierzu auch: E. Hirsch Ballin, Citizens’ Rights and the Right to Be a Citizen, 2014, S. 11 ff. 15 Die norddeutsche Staatsangehörigkeit blieb föderativ, da sie aufgrund des Erwerbs der Staatsangehörigkeit in einem Bundesstaat von dem betroffenen Bundesstaat verliehen wurde. Vgl. D. Gosewinkel (Anm. 13), Einbürgern und Ausschließen, S. 167. 16 Vgl. M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 42. 17 D. Gosewinkel (Anm. 13), Einbürgern und Ausschließen, S. 166 f. 18 Diese „Staatsangehörigkeit in den Ländern“, die durch das „Reichs- und Staatsangehörigengesetz“ vom 22. 07. 1913 eingeführt wurde, wurde durch die „Verordnung über die 11

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Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit“, das am 1. Januar 1871 in den Staaten des früheren Norddeutschen Bundes20 in Kraft trat, wurde die bereits durch die Verfassung eingeführte Staatsangehörigkeit noch weiter konkretisiert.21 Eine erste weiterreichende zwischenstaatliche Internationalisierung der funktionalen Bedeutung der Staatsangehörigkeit brachten die sogenannten Bancroft-Verträge von 186822. Das Thema Staatenlosigkeit stand erstmals umfassend im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und politischen Emigranten innerhalb Europas im 19. Jahrhundert in der Diskussion.23 Noch weiter in den Fokus rückte die Problematik mit der Ausbreitung der Staatsangehörigkeit auf nationaler Ebene und ihrer Internationalisierung im ersten Drittel des 20. Jahrhundert.24 Die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg sorgte nämlich infolge des Versailler Friedensvertrages nicht nur für Flüchtlingsströme, sondern auch für die erste Ansammlung einer großen Anzahl von Staatenlosen.25 b) Die Staatsangehörigkeit im modernen Völkerrecht aa) Rechtsnatur Die Staatsangehörigkeit wirkt auf innerstaatlicher, aber auch auf völkerrechtlicher Ebene, dennoch kann sie nur als einheitlicher Begriff verstanden werden. Während das innerstaatliche Recht die Rechte und Pflichten, die mit der Staatsangehörigkeit verbunden sind, bestimmt, bildet das Völkerrecht den äußeren Rahmen, da die deutsche Staatsangehörigkeit“ vom 05. 02. 1934 förmlich wieder beseitigt. Vgl. M. Silagi (Anm. 8), Vertreibung und Staatsangehörigkeit, S. 48. 19 M. Silagi (Anm. 8), Vertreibung und Staatsangehörigkeit, S. 48. Bundes- und Gliedstaaten-Staatsangehörigkeit bestehen in Bundesstaaten nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern übereinander, sodass die Angehörigen des Bundesstaates in der Regel auch Angehörige eines bestimmten Gliedstaates sind. Vgl. Chr. Kreuzer, Staatsangehörigkeit und Staatensukzession. Die Bedeutung der Staatensukzession für die staatsangehörigkeitsrechtlichen Regelungen in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Jugoslawiens und der Tschechoslowakei, 1998, S. 23. 20 Württemberg, Baden und Hessen. Am 13. 05. 1871 wurde das Gesetz dann in Bayern und am 28. 01. 1873 schließlich in Elsass-Lothringen eingeführt. 21 M. Silagi (Anm. 8), Vertreibung und Staatsangehörigkeit, S. 47. Die Staatsangehörigkeit wurde seitdem mit der Geburt nach dem ius-sanguinis-Prinzip oder nachträglich erworben, vgl. M. Deinhard (Anm. 5), Das Recht der Staatsangehörigkeit, S. 107 f. 22 Zum Inhalt siehe: W. Fritzemeyer, Bancroft-Conventions, in: EPIL, Bd. 1 (1992), S. 338 ff. Die Bancroft-Verträge wurden im Jahre 1868 zwischen dem Norddeutschen Bund und Hessen, Baden, Württemberg und Bayern mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika geschlossen. Vgl. auch A. N. Makarov, Bancroft-Verträge, in: K. Strupp/H.-J. Schlochauer (Hrsg.), Wörterbuch des Völkerrechts, Bd. 1, 1960, S. 151 ff. 23 Vgl. M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 48. 24 Vgl. M. Stiller, Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit. Dargestellt anhand ausgewählter Beispiele aus Europa, Russland und den USA, 2011, S. 1 ff. 25 Vgl. M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 48.

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Rechtsfolgen der Staatsangehörigkeit nicht gegen Völkerrecht verstoßen dürfen.26 Im Ergebnis gibt es keine Staatsangehörigkeit nach Staatsrecht, die von der Staatsangehörigkeit nach Völkerrecht verschieden wäre. Es gibt lediglich unterschiedliche staatsrechtliche und völkerrechtliche Wirkungen derselben Staatsangehörigkeit.27 Hinsichtlich des Begriffs der Staatsangehörigkeit28 existieren zwei Grundansichten: Die eine qualifiziert die Staatsangehörigkeit als ein Rechtsverhältnis zwischen Bürger und Staat, die andere, die von der überwiegenden Ansicht vertreten wird, bewertet sie als rechtliche Eigenschaft29 im Sinne der Statustheorie.30 Die beiden Ansichten unterscheiden sich voneinander dahingehend, dass sich bei dem Verständnis der Staatsangehörigkeit als Rechtsverhältnis bereits unmittelbar Rechte und Pflichten sowohl für den Staat als auch für den Staatsbürger ergeben, wohingegen bei der Statustheorie die Rechte und Pflichten mittelbar begründet werden, indem sie durch weitere Rechtsverhältnisse vermittelt werden.31 Die Ansicht der Statustheorie ist vorzugswürdig, da der Einzelne im Verhältnis zum Staat kein anderes Rechtssubjekt ist, sondern nur Bestandteil des Rechtssubjekts Staat. Das rechtliche Treueband der Staatsangehörigkeit wirkt räumlich unbeschränkt, sodass jeder Staatsbürger über die räumlichen Grenzen hinaus durch die Staatsangehörigkeit der Personalhoheit des Heimatstaates unterworfen ist.32 Personalhoheit bedeutet die Ausübung der Staatsgewalt über das Staatsvolk. Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk wird durch die Staatsangehörigkeit vermittelt, die zugleich zur Unterstel-

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Vgl. T. O. Hokema (Anm. 6), Mehrfache Staatsangehörigkeit, S. 35 f. Vgl. M. Silagi (Anm. 8), Vertreibung und Staatsangehörigkeit, S. 42. 28 Die Staatsangehörigkeit wird häufig mit dem Begriff der Staatsbürgerschaft gleichgesetzt. Zutreffender ist es jedoch, die Staatsangehörigkeit als Voraussetzung für die Erlangung der Staatsbürgerschaft zu betrachten. Demnach handelt es sich bei der Staatsangehörigkeit um die Zuordnung zum Staatsvolk und die Begründung der Personalhoheit eines Staates. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland setzt jedoch beide Begriffe gleich. Vgl. G. A. E. Krohne (Anm. 7), Die Ausbürgerung illoyaler Staatsangehöriger, S. 8 f. 29 Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vertrat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1974 die Statustheorie. Vgl. BVerfGE 37, S. 217 ff. (239). Siehe hierzu auch BVerfGE 83, S. 37 (51), in der das BVerfG ausführt: „Die Zugehörigkeit zum Staatsvolk wird also grundsätzlich durch die Staatsangehörigkeit vermittelt. Die Staatsangehörigkeit ist die rechtliche Voraussetzung für den gleichen staatsbürgerlichen Status, der einerseits gleiche Pflichten und zum anderen und insbesondere aber auch die Rechte begründet, durch deren Ausübung die Staatsgewalt in der Demokratie ihre Legitimation erfa¨ hrt (…)“. 30 Vgl. S. Uslucan, Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit. Deutet sich in Europa ein migrationsbedingtes Recht auf Staatsangehörigkeit an – auch unter Hinnahme der Mehrstaatigkeit?, 2012, S. 192; G. A. E. Krohne (Anm. 7), Die Ausbürgerung illoyaler Staatsangehöriger, S. 7; K. Hailbronner/M. Kau, in: W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2010, Rn. 99; J. Kokott, in: M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, 7. Aufl., 2014, Art. 16 Rn. 15. 31 Vgl. G. A. E. Krohne (Anm. 7), Die Ausbürgerung illoyaler Staatsangehöriger, S. 7. 32 T. O. Hokema (Anm. 6), Mehrfache Staatsangehörigkeit, S. 33. 27

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lung des Staatsangehörigen unter die Personalhoheit eines Staates führt.33 Mit Hilfe der Personalhoheit regelt der Staat die Angelegenheiten seiner Staatsbürger.34 bb) Rechte und Pflichten (1) Allgemein Zum Verständnis des Begriffes der Staatsangehörigkeit ist das Verständnis der Verbindung der Staatsangehörigkeit zum Staatsvolk eine notwendige Voraussetzung. Das Staatsvolk bildet im völkerrechtlichen Sinne eine Schicksalsgemeinschaft von Menschen, die auf einem bestimmten Staatsgebiet nebeneinander leben. Die rechtliche Stellung dieser Schicksalsgemeinschaft bestimmt sich grundsätzlich nach der Rechtsordnung des eigenen Staates. Die Staatsangehörigen eines Staates unterliegen nämlich dessen voller Personalhoheit. Der Fremde unterliegt wie der Staatsangehörige auch der Territorialhoheit des Aufenthaltsstaates, jedoch kann er nicht gleichermaßen wie die Staatsangehörigen zu allen Pflichten herangezogen werden; ihm müssen daher auch nicht alle Rechte, die die Staatsangehörigen haben, zugesprochen werden.35 Über dieser innerstaatlichen Rechtsordnung schwebt allerdings das Völkerrecht, das die Staaten zu beachten haben. Eine völkerrechtliche Beschränkung der Staaten hinsichtlich der Behandlung seiner eigenen Staatsangehörigen folgt aus den allgemeinen Menschenrechten, die insoweit eine Art Schranke bilden.36 Die Staatsangehörigkeit hat daher innerstaatliche Aspekte, da die Staatsangehörigen in ihrer Gesamtheit das Staatsvolk darstellen und an der Willensbildung im Staat teilnehmen, soweit sie dazu berechtigt sind. Innerstaatlich ergeben sich aus der Staatsangehörigkeit bestimmte Rechte, wie das Recht zur Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen sowie Pflichten, wie etwa die Wehrpflicht.37 Die Staatsangehörigkeit wirkt aber auch nach außen, dies bedeutet, dass der Einzelne den diplomatischen Schutz38 seines Heimatstaates in Anspruch nehmen kann und nicht der Herrschaft eines anderen Staates unterstellt ist. Völkerrechtlich anerkannt ist auch, dass

33 Vgl. V. Epping, in: K. Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht. Ein Studienbuch, 6. Aufl., 2014, S. 93 Rn. 78; S. Uslucan (Anm. 30), Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit, S. 196. 34 D. Oehler, Personalhoheit, in: I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl., 2001, S. 306 f. (306). 35 Vgl. K. Doehring, Völkerrecht. Ein Lehrbuch, 2. Aufl., 2004, S. 31. 36 Vgl. K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 30. 37 Vgl. Chr. Kreuzer (Anm. 19), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 22; T. O. Hokema (Anm. 6), Mehrfache Staatsangehörigkeit, S. 33 f. 38 Im Rahmen von internationalen Beziehungen kann ein Staat nur für seine eigenen Staatsangehörigen diplomatischen Schutz ausüben. Vgl. K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 31.

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der Heimatstaat außerdem verpflichtet ist, seine Staatsangehörigen aufzunehmen und ihnen die Einreise sowie den Aufenthalt zu gestatten.39 Gegenüber Fremden müssen Staaten beachten, dass sie nicht in die Personalhoheit des fremden Staates eingreifen. Dies bedeutet, dass der Aufenthaltsstaat des Fremden keine Treuepflicht verlangen darf, da diese mit der Treuepflicht des Fremden zu seinem Heimatstaat kollidieren würde.40 (2) Diplomatischer Schutz Eine der wichtigsten völkerrechtlichen Auswirkungen der Staatsangehörigkeit ist das Recht des Heimatstaates, seine Staatsangehörigen gegenüber fremden Staaten zu schützen. Unter diplomatischem Schutz ist das Recht eines Heimatstaates zu verstehen, zugunsten seiner eigenen Staatsangehörigen und auf deren Ersuchen Ansprüche gegenüber dem Aufenthaltsstaat geltend zu machen, die sich aus der Verletzung völkerrechtlicher Bestimmungen über die Behandlung von Ausländern ergeben. Diese Verletzung kann in einer Missachtung des gewohnheitsrechtlichen Mindeststandards für die Behandlungen von Fremden liegen, aber auch in der Nichterfüllung oder Verletzung vertraglicher Verpflichtungen. In Frage kommen die Rechtsverweigerung, willkürliche Enteignungen ohne Entschädigung und Beschlagnahme oder Freiheitsentziehung ohne Urteil. Diplomatischer Schutz setzt also ein völkerrechtswidriges Verhalten des Aufenthaltsstaates gegenüber einem Angehörigen des schutzgewährenden Staates voraus. Generell ist der Schutz nicht auf bestimmte Tatbestände beschränkt, sondern kann verschiedene Notlagen betreffen, wie schwere Erkrankung, Opfer von Gewaltverbrechen, Verhaftung durch den Gaststaat und Hindernisse bei der Heimkehr wegen Ausweisverlust.41 Die Formen des diplomatischen Schutzes sind der Protest, die Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen, die Retorsion42 und die Repressalie43.44 Von Bedeutung ist, dass es sich bei dem diplomatischen Schutz nicht um den Anspruch eines Individuums, sondern vielmehr um einen Anspruch des Heimatstaates

39 Vgl. J. Kokott (Anm. 30), in: M. Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 16 Rn. 12 f.; K. Hailbronner, in: K. Hailbronner/G. Renner/H.-G. Maaßen (Hrsg.), Staatsangehörigkeitsrecht, 5. Aufl., 2010, S. 103. 40 Vgl. K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 31. 41 Vgl. T. Stein/Chr. von Buttlar, Völkerrecht, 13. Aufl., 2012, S. 201. 42 Als Retorsion bezeichnet man eine zwar unerfreuliche, aber nicht völkerrechtswidrige Maßnahme, die mit der Absicht vorgenommen wird, den anderen Staat zur Beendigung eines unfreundlichen oder aber rechtswidrigen Aktes zu veranlassen. 43 Die Repressalie ist mit einem Eingriff in die Rechtsgüter eines anderen Staates verbunden, um diesen entweder zur Erfüllung von Wiedergutmachungsansprüchen zu veranlassen oder den anderen Staat zu zwingen, sich wieder an die Völkerrechtsordnung zu halten. 44 T. Stein/Chr. von Buttlar (Anm. 41), Völkerrecht, S. 201.

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gegenüber dem Aufenthaltsstaat handelt.45 Aus dieser Mediatisierung46 folgt, dass der Staat ein eigenes Recht auf völkerrechtmäßige Behandlung seiner Staatsangehörigen besitzt.47 Der Staat ist dann in der Person seines Staatsangehörigen selbst verletzt. Vielfach vertreten wird aber auch, dass neben dem eigenen Rechtsanspruch des Staates ein Individualrecht des Staatsangehörigen auf Gewährung diplomatischen Schutzes tritt.48 Vor dem Hintergrund der allgemeinen Menschenrechte ist es überzeugender, dem einzelnen Staatsangehörigen ein solches Individualrecht zuzusprechen. Dies führt dazu, dass der Staat bei der Ausübung des diplomatischen Schutzes anderen Staaten gegenüber zwei Rechtsverletzungen geltend machen würde, nämlich diejenige des verletzten Staatsangehörigen und diejenige, als Staat in der Person des Staatsangehörigen verletzt zu sein.49 Voraussetzung für die Gewährung des diplomatischen Schutzes ist, dass das verletzte Individuum die Staatsangehörigkeit des schutzgewährenden Staates besitzt. Diese Staatsangehörigkeit muss nach allgemeinen Grundsätzen im Sinne des Kontinuitätsprinzips durchgängig vom Zeitpunkt der Schädigung bis zur Geltendmachung diplomatischen Schutzes bestehen.50 Darüber hinaus wird die faktische Bindung zum Heimatstaat, der genuine link51, gefordert. Diese enge Verbindung kann etwa fehlen, wenn der Staatsangehörige sich überwiegend nicht in seinem Heimatstaat aufhält und auch keine sonstigen Anknüpfungspunkte zum Heimatstaat bestehen. cc) Rechtsgrundlagen „Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln.“ Mit diesen knappen Worten verleiht Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) von 1948 jedem Menschen auf der ganzen Welt das Recht auf eine Rechtsbeziehung zu einem Staat, die nicht willkürlich 45

T. Stein/Chr. von Buttlar (Anm. 41), Völkerrecht, S. 202; A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht. Theorie und Praxis, 3. Aufl., 1984, § 47. 46 Der Staat stellt ein einheitliches Rechtssubjekt dar. Das Individuum wird lediglich als Glied eines Staates wahrgenommen. Hieraus folgt, dass die Durchsetzung individueller Rechte auf völkerrechtlicher Ebene nur dem Heimatstaat im Wege des diplomatischen Schutzes zusteht. Vgl. A. von Arnauld, in: I. von Münch/Ph. Kunig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. 1: Präambel bis Art. 69, 6. Aufl., 2012, Art. 16 Rn. 2. 47 F. Wittreck, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Bd. I (Art. 1 – 19), 3. Aufl., 2013, Art. 16 Rn. 22. 48 Näheres hierzu siehe bei K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 383 f. 49 So auch K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 382. 50 T. Stein/Chr. von Buttlar (Anm. 41), Völkerrecht, S. 204; K. Hailbronner/M. Kau (Anm. 30), in: W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, Rn. 118. 51 Die Voraussetzung der genuine connection bezieht sich primär nur auf den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung, da bei dem Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt allgemein anerkannt das Abstammungsprinzip gilt. Vgl. A. von Arnauld (Anm. 46), in: I. von Münch/Ph. Kunig, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1: Präambel bis Art. 69, Art. 16 Rn. 3.

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entzogen werden darf. Die AEMR ist für sich genommen nicht rechtsverbindlich, sie ist jedoch größtenteils zu Gewohnheitsrecht erstarkt und hat zudem verbindliche Verträge beeinflusst52, darunter Art. 4 des vom Europarat initiierten Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit von 1997 (EuStAngÜbk)53, das am 1. März 2000 in Kraft getreten ist.54 Nach Art. 14 des Europäischen Übereinkommens gestatten die Vertragsstaaten den Kindern, die bei der Geburt verschiedene Staatsangehörigkeiten erworben haben, die Beibehaltung dieser Staatsangehörigkeiten. Gemäß Art. 14 kann jeder Vertragsstaat selber bestimmen, ob seine Staatsangehörigen, die eine andere Staatsangehörigkeit besitzen oder zusätzlich erwerben, seine Staatsangehörigkeit behalten können oder wegen der anderen Staatsangehörigkeit verlieren. Im Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 198955 ist in Art. 7 das Recht des Kindes auf Staatsangehörigkeit enthalten. Auch der am 23. März 1976 in Kraft getretene Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 196656 räumt jedem Kind das Recht ein, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben. Zahlreiche weitere Abkommen regeln Staatsangehörigkeitsfragen, wie die panamerikanischen Konventionen von 1906 (Rio de Janeiro), von 1928 (Havanna), von 1933 (Montevideo), die multilaterale Haager Konvention von 193057, die UNKonvention vom 20. Februar 1957 über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen58 und die Europäische Konvention über die Verminderung von Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit vom 6. Mai 196359. Sie behandeln Einzelfragen des Staatsangehörigkeitsrechts. Zu erwähnen sind ferner Bestimmungen zahlreicher Friedensverträge, die Staatsangehörigkeitsfragen bei Gebietsabtretungen regeln. Die Staatsangehörigkeit kann in der Bundesrepublik Deutschland auf die in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte Volkssouveränität, die freie und gleiche Staatsbürger voraussetzt, zurückgeführt werden. Geregelt ist sie in Art. 116 Abs. 1 und 2 GG.

52 Vgl. A. von Arnauld (Anm. 46), in: I. von Münch/Ph. Kunig, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1: Präambel bis Art. 69, Art. 16 Rn. 4. 53 Text: BGBl. 2004 II, S. 578 ff. 54 Die Bundesrepublik Deutschland hat das Abkommen im Februar 2002 unterzeichnet und im Mai 2005 ratifiziert, sodass es schließlich am 01. 09. 2005 in Kraft getreten ist. 55 Text: BGBl. 1992 II, S. 121 ff. 56 Text: BGBl. 1973 II, S. 1534 ff. 57 Text: LNTS, Bd. 179, S. 89. 58 Text: BGBl. 1973 II, S. 1249 ff. 59 Text: BGBl. 1969 II, S. 1954 ff.

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2. Erwerb der Staatsangehörigkeit a) Allgemeines aa) Kompetenz zur Regelung der Staatsangehörigkeit Aus der Souveränität der Staaten folgt das Recht, über die eigenen Staatsangehörigkeitsregeln selber zu befinden.60 Jeder Staat darf folglich über seine eigene, nicht aber über eine fremde Staatsangehörigkeit rechtlich bestimmen, da ansonsten ein Verstoß gegen die Souveränität des anderen Staates eintreten könnte.61 Die Erwerbsund Verlustgründe der Staatsangehörigkeit bestimmt der Staat also nach seinem Ermessen, es handelt sich hierbei prinzipiell um seine „innere Angelegenheit“.62 Staaten unterliegen bei der Verleihung der Staatsangehörigkeit allerdings den sich aus dem Völkergewohnheitsrecht oder Völkervertragsrecht ergebenden Schranken, die sich insbesondere aus der Existenz und der Personalhoheit anderer Staaten63 ergeben.64 Neben den kollidierenden Rechten anderer Staaten liegt eine weitere Schranke in den allgemeinen Menschenrechten, die zwingend zu beachten sind.65 Beschränkungen des freien Ermessens der Staaten finden sich in zahlreichen völkerrechtlichen Vereinbarungen66, wie etwa in den bereits erwähnten Bancroft-Verträgen67 von 1868. Jedoch führt eine völkerrechtswidrige Verleihung der Staatsangehörigkeit nicht dazu, dass diese ungültig wird. Die anderen Staaten dürfen allerdings diese gegen geltendes Völkerrecht verstoßene Verleihung nicht anerkennen.68 Bei Verletzung 60 Vgl. S. Kanaan, Abkommen zur Mehrstaatigkeit: Europarechtsabkommen und ihr Einfluss auf die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung Deutschlands, 2012, S. 9. Die Staatsangehörigkeit wird nämlich als eine innere Angelegenheit gewertet. Vgl. Chr. Kreuzer (Anm. 19), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 24; F. Wittreck (Anm. 47), in: H. Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I (Art. 1 – 19), Art. 16 Rn. 16. 61 Vgl. S. Uslucan (Anm. 30), Zur Weiterentwicklungsfähigkeit des Menschenrechts auf Staatsangehörigkeit, S. 197; S. Kanaan (Anm. 60), Abkommen zur Mehrstaatigkeit, S. 11 f. 62 Vgl. Art. 1 Satz 1 Haager Abkommen vom 12. 04. 1930: „It is for each State to determine under its own law who are its nationals“. Das BVerfG (BVerfGE 1, S. 328 f.) betonte: „Auszugehen ist von dem völkerrechtlichen Grundsatz, daß jeder Staat grundsätzlich allein berufen ist, nach seinem Ermessen zu bestimmen, wie seine Staatsangehörigkeit erworben und verloren wird“. 63 Dies besagt, dass es den Staaten völkerrechtlich untersagt ist, die Regelung der Staatsangehörigkeit eines anderen Staates vorzunehmen, also einem Individuum eine fremde Staatsangehörigkeit zu erteilen oder zu entziehen. 64 Vgl. BVerfGE 77, S. 137 ff. (153 f.), sog. „Teso-Beschluss“. 65 Vgl. K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 32. 66 Vgl. A. N. Makarov, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 1947, S. 371 ff. 67 Sie regelten die Staatsangehörigkeit von Personen, die aus dem Gebiet des einen Teils in dasjenige des anderen Teils einwandern. Siehe hierzu: M. Silagi (Anm. 8), Vertreibung und Staatsangehörigkeit, S. 64. 68 P. Weis, Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, 1962, S. 5 f.; Chr. Kreuzer (Anm. 19), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 25 f.

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völkerrechtlicher Beschränkungen kann also der Staatsangehörigkeitszuweisung die internationale Anerkennung versagt werden. Völkerrechtlich anerkannt ist ferner die Regel, wonach kein Staat seine Staatsangehörigkeit an Personen verleihen darf, die zu ihm in keinerlei Beziehung stehen. Anderenfalls würde der Staat willkürlich handeln und somit gegen das Rechtsmissbrauchsverbot verstoßen.69 Als weitere Voraussetzung des Erwerbs der Staatsangehörigkeit wird daher seit der Nottebohm-Entscheidung des IGH70 die Effektivität der Staatsangehörigkeit gefordert. Der IGH stellte dort fest,71 dass die Staatsangehörigkeit ein rechtliches Band sei, das eine soziale Zugehörigkeit zum Staat, eine echte Verbundenheit mit dem Staat und das Bestehen gegenseitiger Rechte und Pflichten zur Grundlage habe. Dieses Band sei der juristische Ausdruck der Tatsache, dass der Staatsangehörige die engste Verbindung zu dem die Staatsangehörigkeit verleihenden Staat habe. Hieraus folgt, dass die Verleihung der Staatsangehörigkeit oder die Inanspruchnahme einer Person als Staatsangehöriger international nur dann akzeptiert wird, wenn zwischen dem Staat und der betreffenden Person eine engere tatsächliche Beziehung („genuine connection“) besteht.72 Diese engere tatsächliche Beziehung muss auf objektiv feststellbaren Verbindungen der Person zu seinem Staat beruhen. Als solche werden außer der Abstammung von einem Staatsangehörigen und dem Geburtsort auch der Antritt eines öffentlichen Amtes, der dauernde Wohnsitz im Inland, der Sitz der Geschäftstätigkeit sowie die Verehelichung eines Ausländers mit einem Staatsangehörigen und die Teilnahme am öffentlichen Leben, nicht aber der bloße Besitz von Grundstücken oder nur eine vorübergehende Beschäftigung im Inland anerkannt. bb) Optionsrecht und Optionspflicht Hinsichtlich der Annahme einer Staatsangehörigkeit kommen auch ein Optionsrecht und eine Optionspflicht in Betracht.73 Eine Option ist die Willensbekundung, die alte Staatsangehörigkeit im Falle eines Gebietswechsels beizubehalten oder die neue Staatsangehörigkeit anzunehmen.74 69

Vgl. S. Kanaan (Anm. 60), Abkommen zur Mehrstaatigkeit, S. 14. IGH, ICJ Reports 1955, S. 4 ff. (23). 71 Im Nottebohm-Fall verweigerte der IGH Liechtenstein das Recht, die Interessen des eingebürgerten liechtensteinischen Staatsangehörigen Nottebohm im Ausland zu schützen, da zwischen Nottebohm und Liechtenstein im Zeitpunkt der Einbürgerung keine echte Bindung („genuine link“) bestanden habe (IGH, ICJ Reports 1955, S. 26). 72 S. Kanaan (Anm. 60), Abkommen zur Mehrstaatigkeit, S. 15. 73 In § 29 Abs. 1 des deutschen Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) ist eine Optionspflicht bei Erreichen der Volljährigkeit geregelt. 74 R. Donner, The Regulation of Nationality in International Law, 1983, S. 186. Die Option kann dazu dienen, eine bisherige Staatsangehörigkeit beizubehalten, einen automatischen Erwerb rückgängig zu machen oder sich für eine neue Staatsangehörigkeit zu entscheiden, wobei hierbei wiederum zwischen einer positiven und negativen Option unterschieden wird. 70

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Sie wird von dem Individuum aufgrund und nach Maßgabe eines darüber geschlossenen völkerrechtlichen Vertrages ausgeübt. Das Optionsrecht ist damit das Recht, sich für die Beibehaltung der bisherigen Staatsangehörigkeit oder für den Erwerb der Staatsangehörigkeit des neuen Inhabers der Gebietshoheit zu entscheiden. Das Optionsrecht wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts in gebietsverändernden Verträgen, darunter auch in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg, dem Versailler Friedensvertrag, dem Friedensvertrag von St. Germain und dem Friedensvertrag von Trianon, normiert.75 Diese vertraglichen Fixierungen verdeutlichen, dass die Gewährung eines Optionsrechts der Bevölkerung eines abgetretenen Gebietes kein Grundsatz eines völkerrechtlichen Gewohnheitsrechts ist.76 Die Option dient vor allem dazu, Härten aufgrund eines automatischen Wechsels der Staatsangehörigkeit oder durch eine automatische Verleihung der Staatsangehörigkeit zu mildern und dem Einzelnen die Möglichkeit einzuräumen, selbst über seine Staatsangehörigkeit zu entscheiden. Ein Anspruch auf eine Option richtet sich entweder nach dem Domizil- oder nach dem Nationalitätsprinzip.77 b) Erwerbsformen Es können zwei Formen des Erwerbs der Staatsangehörigkeit unterschieden werden: der automatische Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt und der Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung. aa) Automatischer Erwerb durch Geburt Beim Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Geburt sind zwei Anknüpfungspunkte zu unterscheiden78: das Abstammungsprinzip („ius sanguinis“) und das Geburtslandprinzip („ius soli“).79 Das Abstammungsprinzip80 legt fest, dass sich die Staatsangehörigkeit des Kindes nach der Staatsangehörigkeit der Eltern, bei einem nichtKeinesfalls bedeutet die Option, dass der Betroffene die Wahl zwischen zwei Staatsangehörigkeiten hat. Vgl. Chr. Kreuzer (Anm. 19), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 52. 75 Zur Staatenpraxis siehe R. Donner (Anm. 76), The Regulation of Nationality in International Law, S. 196 ff. 76 H. Hecker, Staatsangehörigkeit, in: I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl., 2001, S. 393 ff. (394). 77 Hierunter versteht man die Anknüpfung an den Wohnsitz oder an die Abstammung. 78 Eine Ausnahme bildet das Recht des Vatikanstaates, in welchem die Staatsangehörigkeit durch die Bekleidung eines Amtes und den Wohnsitz im Staatsgebiet erworben wird. Vgl. P. Weis (Anm. 68), Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, S. 7. 79 R. Donner (Anm. 76), The Regulation of Nationality in International Law, S. 44 ff.; A. Bleckmann, Völkerrecht, 2001, Rn. 603. 80 In den einzelnen Mitgliedsländern des Deutschen Bundes wurde der Erwerb der Landeszugehörigkeit nach dem Abstammungsprinzip bestimmt. Vgl. M. Lang, Grundkonzeption und Entwicklung des deutschen Staatsangehörigkeitsrechts, 1990, S. 36 ff.

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ehelichen Kind nach der Staatsangehörigkeit der Mutter richtet. Dieses Prinzip hat zur Folge, dass jede Person die Staatsangehörigkeit ihres Geburtslandes erhält. Erfolgt die Geburt auf Schiffen oder in Flugzeugen, bestehen keine Probleme hinsichtlich des Erwerbs der Staatsangehörigkeit, wenn die Eltern aus einem Staat kommen, in dem das Abstammungsprinzip gilt. Das Kind erwirbt dann jedenfalls die Staatsangehörigkeit der Eltern. Kommen die Eltern jedoch aus einem Land, in dem das Geburtslandprinzip die Staatsangehörigkeit bestimmt, könnte unter Umständen das Kind staatenlos werden. Die meisten europäischen Staaten haben jedoch in ihren Staatenangehörigkeitsgesetzen für diesen Fall das Abstammungsprinzip zum maßgeblichen Anknüpfungspunkt erklärt. Nach britischem Recht erwirbt das Kind die Staatsangehörigkeit des Landes, in dem das Schiff oder Flugzeug registriert ist. bb) Einbürgerung Die zweite Möglichkeit des Erwerbs der Staatsangehörigkeit ist die Einbürgerung. Darunter versteht man einen förmlichen Akt eines Staates, durch den eine Person Staatsbürger dieses Staates wird. Es lassen sich zwei Einbürgerungsarten unterscheiden, die Einzeleinbürgerung und die Masseneinbürgerung. (1) Einzeleinbürgerung (a) Allgemein Die Einzeleinbürgerung setzt einen Antrag des Einzubürgernden voraus, sodass sie grundsätzlich nur mit Zustimmung des Betroffenen möglich ist. Es können aber auch bestimmte Handlungen auf den Willen des Einzubürgernden schließen lassen, die Staatsangehörigkeit zu erwerben. Staaten können auf diese Weise bei Personen, die freiwillig in ihren Staatsdienst eintreten, die Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes verleihen. Innerstaatlich werden an die Einbürgerung auf Antrag in der Regel noch weitere Voraussetzungen gestellt, wie etwa der längere Aufenthalt auf dem Staatsgebiet oder ausreichende Sprachkenntnisse. Solche weitergehenden Voraussetzungen entsprechen zwar dem Völkerrecht, sind aber nicht obligatorisch. Ein Anknüpfungspunkt für die Erteilung der Staatsangehörigkeit ist die Wohnsitzerlangung in einem Staat mit Willen der dauerhaften Niederlassung („animo manendi“).81 In Deutschland wurde durch das Gesetz zur Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vom 15. Juli 1999 die ius soli-Regelung eingeführt. Danach ist es möglich, dass in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben, wenn sich ein Elternteil seit acht Jahren rechtmäßig in der Bun-

81 Die Anknüpfung an den Grundbesitz in einem Staat allein reicht nicht aus. Vielmehr wird die engere Beziehung erst während der längeren Niederlassung eines Ausländers in einem Staat aufgebaut, die Beziehung zu dem bisherigen Heimatstaat dagegen abgebaut.

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desrepublik aufhält und eine Aufenthaltsberechtigung hat.82 Ziel der neuen Regelung soll eine bessere Integration sein.83 (b) Eheschließung Die Heirat eines fremden Staatsangehörigen als Anknüpfungspunkt für die Erteilung der Staatsangehörigkeit ist im Völkerrecht allgemein akzeptiert. Diese allgemeine Akzeptanz lässt sich mit dem damit verfolgten Zweck der Einheit von Ehe und Familie begründen. Der Staatsangehörigkeitserwerb durch die Eheschließung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Veränderungen erfahren, die unter anderem auf das sich veränderte Verständnis der Gleichberechtigung von Mann und Frau zurückzuführen sind. Früher erwarb die Ehefrau häufig ohne ihre Zustimmung mit der Heirat automatisch die Staatsangehörigkeit ihres Ehemannes.84 Das Staatsangehörigkeitsrecht des Heimatstaates bestimmte, ob die Ehefrau mit der Heirat ihre bisherige Staatsangehörigkeit verlor. Der Staatsangehörigkeitswechsel betraf somit nur die Ehefrauen, nicht den Ehemann. Diese Verfahrensweise war sowohl hinsichtlich der Gleichbehandlung von Mann und Frau als auch hinsichtlich der Freiwilligkeit des Staatsangehörigkeitserwerbs bedenklich, da die Einbürgerung der Frau nicht unter Berücksichtigung ihrer freien Selbstbestimmung erfolgte und deshalb als eine Form der Zwangseinbürgerung zu qualifizieren war. Eine neue Regelung, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau wahrte, wurde durch das Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen vom 20. Februar 195785 eingeführt. Nach Art. 1 des Übereinkommens hat weder die Eheschließung noch der nachträgliche Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit durch den Ehemann einen Einfluss auf die Staatsangehörigkeit der Ehefrau. Viele Staaten ermöglichen mittlerweile in ihren nationalen Gesetzen den Erwerb der Staatsangehörigkeit des Ehepartners. Hiernach steht es beiden Ehepartnern frei, die Staatsangehörigkeit des jeweils anderen Ehepartners anzunehmen. (c) Adoption Einen weiteren anerkannten Erwerbsgrund stellt die Adoption dar. Unter einer Adoption ist die Annahme eines Kindes nach bürgerlich-rechtlichen Vorschriften zu verstehen, indem sie ein Eltern-Kind-Verhältnis kraft Gesetzes unter dem gleichzeitigen Erlöschen der bisherigen Verwandtschaftsverhältnisse begründet.

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Vgl. § 4 Abs. 3 StAG. Vgl. hierzu K. Hailbronner, Das neue deutsche Staatsangehörigkeitsrecht, in: NVwZ 2001, S. 1329 ff. 84 Vgl. die Denkschrift zum Übereinkommen der Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen, BT-Drs. 7/254, S. 10. 85 Text: BGBl. 1973 II, S. 1250 ff. 83

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Die Staaten leiten aus der Adoption unterschiedliche Rechtsfolgen für die Staatsangehörigkeit des adoptierten Kindes ab. Während in einigen Staaten die Adoption zum automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit der Adoptiveltern führt, wird Adoptierten in anderen Staaten die Einbürgerung lediglich erleichtert. Diese unterschiedlichen Rechtsfolgen hängen mit der Frage zusammen, ob die Staaten in ihren Staatsangehörigkeitsgesetzen das ius soli-Prinzip oder das ius sanguinis-Prinzip zugrunde gelegt haben. Nur die Adoption eines Kindes durch Eltern, deren Staatsangehörigkeitsrecht dem ius sanguinis-Prinzip folgt, wird in der Regel einen automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit der Eltern zur Folge haben. Die Staatsangehörigkeit der Eltern stellt damit den notwendigen Anknüpfungspunkt für den Erwerb der Staatsangehörigkeit dar. Problematisch erweist sich hingegen der Staatsangehörigkeitserwerb in den Staaten, die ausschließlich dem ius soli-Prinzip folgen. Wird das Kind nicht in diesem Staat geboren, so fehlt der maßgebliche Anknüpfungspunkt für den automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit der Eltern, da die Staatsangehörigkeit nicht von der der Eltern abgeleitet werden kann. Ist das Kind allerdings auf dem Staatsgebiet geboren, auf dem es auch von Staatsangehörigen dieses Staates adoptiert wird, ist eine Antrags- oder Anspruchseinbürgerung nicht notwendig, da die Geburt auf diesem Staatsgebiet einen ausreichenden Anknüpfungspunkt für den automatischen Erwerb der Staatsangehörigkeit dieses Staates darstellt. (2) Masseneinbürgerung und Staatennachfolge Fraglich ist, ob Masseneinbürgerungen zulässig sind. Diskutiert wird, ob eine unmittelbare Verleihung der Staatsangehörigkeit durch Völkerrecht in den Fällen der Staatensukzession erfolgt.86 Geht ein Staat unter, verliert er seine Rechtspersönlichkeit und geht in der Regel mit dem Territorium und seiner Bevölkerung in einem anderen Staat auf. Ein nicht (mehr) existierender Staat kann auch keine Staatsangehörigkeit vermitteln. In diesem Fall könnte man von einem automatischen Erwerb des Gebiets und des Volkes durch den übernehmenden Staat ausgehen. Dies gilt auch für Staaten, die sich unter Aufgabe ihrer Souveränität zu einem Bundesstaat fusionieren. Schwieriger ist die Beurteilung der Rechtslage, wenn nur ein Teil eines Staatsgebiets in die Souveränität eines anderen Staates übergeht.87 Masseneinbürgerungen waren früher aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages, der einen Gebietswechsel zwischen dem gebietserwerbenden und dem gebietsabtretenden Staat vereinbarte, zulässig. So sind seit Mitte des 19. Jahrhunderts bei nahezu allen Gebietsveränderungen die staatsangehörigkeitsrechtlichen Probleme entweder 86

Siehe hierzu P. Weis, Nationality and Statelessness in International Law, 1956, S. 140 ff. Nach der Praxis der Staaten der Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien hatte der Wechsel der Souveränität über ein Gebiet auch den Wechsel der Staatsangehörigkeit der dort lebenden Personen zur Folge. Allerdings war Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit die Staatsangehörigkeit des Vorgängerstaates oder eine bestimmte Aufenthaltsdauer im Staatsgebiet. 87

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im Gebietswechselvertrag selbst, also in einem Zessionsvertrag, oder in einem Friedensvertrag geregelt worden.88 Die Rechtsprechung folgte im Wesentlichen einem automatischen Wechsel aufgrund des Domizilprinzips.89 Personen, die in dem vom Übergang betroffenen Gebiet ihren Wohnsitz hatten, verloren automatisch die Staatsangehörigkeit des Vorgängerstaates und erwarben die des Gebietsnachfolgers.90 Voraussetzung hierfür war jedoch, dass es sich um Angehörige des Gebietsvorgängers handeln musste. Allgemein anerkannt ist, dass im Falle einer völkerrechtlich unwirksamen Annexion Einbürgerungen der betroffenen Wohnbevölkerung nichtig und von dritten Staaten wegen Verstoßes gegen ius cogens nicht zu beachten sind. Dies gilt auch für Einbürgerungen unter einer occupatio bellica, also durch eine Besatzungsmacht.91 Daher ist es auch gemäß Art. 45 HLKO untersagt, die Bevölkerung eines besetzten Gebietes zu zwingen, der feindlichen Macht den Treueeid zu leisten.92 Für einen automatischen Staatsangehörigkeitswechsel im heutigen Völkerrecht spricht sich Hansjörg Jellinek93 aus und begründet dies damit, dass das betroffene Gebiet und die dortige Bevölkerung als eine Einheit zu sehen seien und dass durch einen automatischen Erwerb Massenausweisungen verhindert werden könnten.94 Diese Ansicht erscheint jedoch zweifelhaft, da ein solcher staatensukzessionsbedingter automatischer Staatsangehörigkeitswechsel heute der Stellung des Menschen im Völkerrecht und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker widerspricht. Deswegen wird ein automatischer Erwerb der Staatsangehörigkeit des übernehmenden Staates im Völkerrecht ablehnend beurteilt und stattdessen diese Problematik 88 Vgl. A. N. Makarov (Anm. 66), Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, S. 141. 89 Vgl. hierzu etwa die Entscheidung der King’s Bench im Fall Murray v. Parkes von 1942, Text: All. E.E. 1 (1942), S. 558 ff. 90 Chr. Kreuzer (Anm. 19), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 41 f.; eine Änderung dieser Praxis trat während der Dekolonialisierungsphase ein. Grundsätzlich blieb die Definition des neuen Staatsvolkes dem neuen unabhängigen Staat vorbehalten, der dadurch das Recht hatte, Angehörige der ehemaligen Kolonialmacht nicht als Teil seines Staatsvolkes akzeptieren zu müssen. 91 H. Hecker (Anm. 76), Staatsangehörigkeit, in: I. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, S. 394. 92 Als Beispiel für ein solches Vorgehen dient die Einbürgerung der Bewohner Südossetiens und Abchasiens durch den russischen Staat. Formal gehören beide Provinzen nämlich weiterhin zum Staat Georgien, sodass die Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft völkerrechtswidrig war. Die Verleihung der Staatsangehörigkeit verlangt, wie bereits erläutert, einen legitimen Anknüpfungspunkt, der hier nicht gegeben ist. Fraglich ist allerdings, ob die frühere sowjetische Staatsbürgerschaft als Anknüpfungspunkt ausreichend wäre. 93 Hansjörg Jellinek kommt nach Auswertung der Staatenpraxis zu dem Ergebnis, dass bis zum Ersten Weltkrieg der automatische Staatsangehörigkeitswechsel geltendes Recht war. Vgl. H. Jellinek (Anm. 7), Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, S. 24. 94 H. Jellinek (Anm. 7), Der automatische Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit durch völkerrechtliche Vorgänge, S. 50 ff., 67 f.

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mit der Zuerkennung eines Optionsrechts gelöst.95 Die Bewohner des übertragenen Gebietes behalten also zunächst ihre alte Staatsangehörigkeit, soweit der Staat noch fortbesteht. Den Staaten steht es jedoch frei, die Frage der Staatsangehörigkeit ihrer Bewohner vertraglich zu regeln.96 Überzeugender ist es daher davon auszugehen, dass es im Völkerrecht keine automatische Nachfolge gibt. Es wird aber vertreten, dass, sofern keine innerstaatlichen gesetzlichen Bestimmungen existieren, die völkerrechtliche Vermutung greift, dass ein automatischer Erwerb der Staatsangehörigkeit des Nachfolgestaates erfolgt.97 Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass der Grundsatz vom automatischen Staatsangehörigkeitswechsel der im Gebiet wohnhaften Bevölkerung aufgrund einer völkergewohnheitsrechtlichen Norm nicht als Teil des Völkergewohnheitsrechts nachweisbar ist. c) Wiedereinbürgerung Die Wiedereinbürgerung oder Reintegration kommt bei Personen in Betracht, die entweder den Verlust der Staatsangehörigkeit selbst erwirkt oder dieser ihnen zwangsweise auferlegt wurde. Sie stellt einen Sonderfall der Einbürgerung dar und ist nur mit der Zustimmung der betreffenden Person möglich. III. Staatenlosigkeit Bei den Staatenlosen muss zwischen der de iure und der de facto Staatenlosigkeit unterschieden werden. Diese allgemein anerkannte Unterscheidung wird auch in der Study of Statelessness98 der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1949 deutlich, in der zwischen diesen zwei grundsätzlichen Formen der Staatenlosigkeit differenziert wird. Im Folgenden wird aufgezeigt, welche Folgen an eine entsprechende Einordnung geknüpft sind. 1. De iure Staatenlosigkeit a) Begriff Personen, die von keinem Staat aufgrund seines Rechtes als dessen Staatsangehörige angesehen werden, gelten als de iure Staatenlose. Staatenlose unterstehen aus95

K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 36. Eine Pflicht zur vertraglichen Regelung bei völkerrechtlichen Gebietsverschiebungen ergibt sich zumindest durch das Staatenlosenübereinkommen vom 30. 06. 1961, da dadurch die Entstehung der Staatenlosigkeit in dem betroffenen Gebiet verhindert wird. 97 So P. Weis (Anm. 68), Staatsangehörigkeit und Staatenlosigkeit im gegenwärtigen Völkerrecht, S. 14. 98 Vgl. UN Doc E/1112, abrufbar unter: http://www.refworld.org/docid/3ae68c2d0.html; M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 68. 96

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schließlich der Gebietshoheit des Aufenthaltslandes. Jedes Band zu ihrem früheren Heimatland ist gelöst.99 Problematisch ist in diesem Zusammenhang, dass das Völkerrecht nur die Unterscheidung zwischen einem Staatsangehörigen und einem Staatenlosen kennt. Eine Person mit ungeklärter Staatsangehörigkeit ist kein Staatenloser. Gleichwohl wird im Internationalen Privatrecht durch Art. 5 Abs. 2 EGBGB die ungeklärte Staatsangehörigkeit mit einer fehlenden Staatsangehörigkeit gleichgesetzt. Die Beurteilung des Personalstatuts soll nach dem Recht des Staates, in dem sich die Person aufhält, beurteilt werden. b) Entstehungsgründe Ebenso wie die Verschiedenheit der einzelnen staatlichen Regelungen über den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit zur Folge haben kann, dass eine Person mehrere Staatsangehörigkeiten besitzt (Fall der positiven Kollision), kann sie auch zur Folge haben, dass eine Person keine Staatsangehörigkeit besitzt (Fall der negativen Kollision). Zwar haben sich die beiden Prinzipien des ius soli und des ius sanguinis bewährt, jedoch führt das Nebeneinander dieser Prinzipien zu zahlreichen Überschneidungen, die entweder zu Mehrstaatigkeit oder zu Staatenlosigkeit führen.100 aa) Geburt und Gesetzeskonflikte Die Staatenlosigkeit kann entweder gleich mit der Geburt oder durch spätere Ereignisse eintreten. Bereits bei Geburt kann die Staatenlosigkeit begründet werden, wenn eine Person, die in einem Staat, in dem das ius sanguinis gilt, geboren wird, während ihr ehelicher Vater oder ihre uneheliche Mutter einem Staat angehört, der das ius soli-Prinzip befolgt. Sofern in dem Geburtsland keine subsidiäre Regelung durch das ius soli-Prinzip vorgesehen ist oder im Land der Eltern keine subsidiäre Regelung durch das ius sanguinis-Prinzip, wird das Kind staatenlos. Um diesen Problemen vorzubeugen, schreibt das Übereinkommen zur Verminderung von Staatenlosigkeit von 1961101 die ius soli-Regelung vor.102 Staatenlosigkeit kann aber auch eintreten, wenn hinsichtlich der Beurteilung einer Staatsangehörigkeit mehrere Staatsangehörigkeitsgesetze in Betracht kommen und auf diese Weise in einem Kon99

W. Schätzel, De-facto-Staatsangehörigkeit und De-facto-Staatenlosigkeit, in: F. A. Freiherr von der Heydte/I. Seidl-Hohenveldern/St. Verosta/K. Zemanek (Hrsg.), Völkerrecht und rechtliches Weltbild. Festschrift für A. Verdross, 1960, S. 216 – 227 (226). 100 Vgl. T. Stein/Chr. von Buttlar (Anm. 41), Völkerrecht, S. 82; W. Schätzel (Anm. 99), De-facto-Staatsangehörigkeit und De-facto-Staatenlosigkeit, in: F. A. Freiherr von der Heydte/I. Seidl-Hohenveldern/St. Verosta/K. Zemanek, Völkerrecht und rechtliches Weltbild, S. 216; A. Bleckmann (Anm. 79), Völkerrecht, Rn. 604. 101 Text: BGBl. 1977 II, S. 597 ff. 102 Dieser Fall wurde auch im deutschen Staatsangehörigkeitsgesetz aufgenommen.

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flikt zueinander stehen. Dies ist dann der Fall, wenn sich keiner von mehreren in Betracht kommenden Heimatstaaten nach seinem Staatsangehörigkeitsgesetz als zuständig erachtet.103 Schließlich können auch diskriminierende Staatsangehörigkeitsgesetze, die etwa Personen einer bestimmten Religionszugehörigkeit oder einer bestimmten Ethnie vom Erhalt der Staatsangehörigkeit ausschließen, zu Staatenlosigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen führen. bb) Ausbürgerung Der Verlust der Staatsangehörigkeit knüpft an dieselben Regeln zum Erwerb der Staatsangehörigkeit. Dies bedeutet, dass Staaten auch hier aufgrund der staatlichen Souveränität grundsätzlich frei in ihrer Entscheidung sind, welche Staatsangehörigen sie ausbürgern wollen.104 Hieraus folgt, dass das geltende Völkerrecht kein generelles Verbot der Ausbürgerung annimmt.105 Allerdings ist im Völkerrecht allgemein anerkannt, dass willkürliche Ausbürgerungen106, die gegen den Willen des Einzelnen erfolgen, grundsätzlich unzulässig sind.107 Der Zwangsausbürgerung stehen heute nämlich zahlreiche Konventionen und insbesondere die Menschenrechte entgegen. Art. 15 Abs. 2 der (rechtlich unverbindlichen) AEMR spricht sich gegen eine willkürliche Entziehung der Staatsangehörigkeit aus und Art. 5 lit. d des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung vom 7. März 1966108 garantiert das Recht jedes Einzelnen auf Staatsangehörigkeit. Art. 9 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit untersagt eine Entziehung aus rassistischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen. Das Recht des Einzelnen auf Staatsangehörigkeit ist auch in Art. 7 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes von 1989 und in Art. 4 lit. a des Europäischen Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit geregelt. Jedoch lässt sich aus diesen Bestimmungen kein Recht des Einzelnen auf Verleihung der Staatsangehörigkeit gegenüber dem Staat des ständigen Aufenthalts ableiten.109

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M. Stiller (Anm. 24), Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit, S. 40 f. K. Doehring (Anm. 35), Völkerrecht, S. 37. 105 F. Wittreck (Anm. 47), in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I (Art. 1 – 19), Art. 16 Rn. 19. 106 Der nationalsozialistische Gesetzgeber forcierte die Staatenlosigkeit durch zahlreiche Ausbürgerungsmaßnahmen, wie etwa durch die elfte Verordnung vom 25. 11. 1941 betreffend die kollektive Ausbürgerung aller deutschen Juden mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland. Vgl. hierzu BVerfGE 23, S. 106 ff. 107 F. Wittreck (Anm. 47), in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Bd. I (Art. 1 – 19), Art. 16 Rn. 19. 108 Text: BGBl. 1969 II, S. 961 ff.; abrufbar unter: http://www.auswaertiges-amt.de/cae/ servlet/contentblob/360838/publicationFile/3632/BeseitigungRassendiskr.pdf. 109 Vgl. K. Hailbronner/M. Kau (Anm. 30), in: W. Graf Vitzthum, Völkerrecht, Rn. 109. 104

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cc) Staatensukzessionsrechtliche Vorgänge Wie bereits festgestellt, verstößt eine automatische Nachfolge bei sukzessionsrechtlichen Vorgängen gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es wird den Staaten aber zugestanden, aufgrund des Souveränitätsprinzips die Frage der Staatsangehörigkeit vertraglich zu regeln. Eine derartige Pflicht zur vertraglichen Regelung besteht jedoch nicht. Hinsichtlich der Regelung der Nachfolge in die Staatsangehörigkeit sind die Staaten nicht völlig frei. Die völkerrechtliche Grenze bilden die bereits erwähnten Abkommen, wie etwa das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit, das in Art. 10 die Verpflichtung statuiert, bei Gebietsabtretungen in den entsprechenden Verträgen Staatsangehörigkeitsregelungen aufzunehmen, die verhindern sollen, dass die durch die Abtretung Betroffenen staatenlos werden.110 Das Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit von 1997 verpflichtet in Art. 18 die Staaten, in Fällen der Staatennachfolge die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, die Vorschriften der Menschenrechte und die in Art. 4 und 5 des Übereinkommens und in Art. 18 Abs. 2 enthaltenen Grundsätze, zu denen die echte und tatsächliche Beziehung des Betroffenen zum Staat, der gewöhnliche Aufenthalt des Betroffenen zur Zeit der Staatennachfolge, der Wille des Betroffenen und die territoriale Herkunft des Betroffenen zählen, zu respektieren. Nach Art. 19 EuStAngÜbk besteht eine Pflicht zur Verhandlung und zu Vereinbarungen. Art. 20 EuStAngÜbk enthält den Grundsatz des Rechts auf Verbleib im Staatsgebiet und auf Gleichbehandlung der Personen in Bezug auf soziale und wirtschaftliche Rechte, die nicht Staatsangehörige des Vorgängerstaates waren. Eine besondere völkerrechtliche Problematik tritt auf, wenn Menschen in einem Gebiet leben, das nicht als Staat im völkerrechtlichen Sinne anerkannt ist111. Die Konsequenz hieraus ist, dass diese Menschen als Staatenlose zu qualifizieren sind. Staatenlosigkeit kann schließlich auch bei völkerrechtswidriger Annexion und bei Debellation ohne nachfolgende Annexion die Folge sein. c) Rechtliche Behandlung aa) Washingtoner Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954 Dem Entwurf der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 war ein Protokoll zur Staatenlosigkeit angehängt, welches aber nicht unterzeichnet wurde, sondern stattdessen zur späteren Diskussion ausgegliedert wurde. Dieses Protokoll wurde schließlich im Jahre 1954 als eigenständiges Abkommen, nämlich als „Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen vom 28. September 1954“112 verabschiedet. 110

Siehe hierzu T. O. Hokema (Anm. 6), Mehrfache Staatsangehörigkeit, S. 69. Wie etwa Abchasien, Nordzypern, Palästina, Südossetien, Taiwan und Transnistrien. 112 Text: BGBl. 1976 II, S. 474 ff.; E. Cieslar, Internationale Abkommen und Europäische Rechtsakte zum Familien- und Staatsangehörigkeitsrecht, 2009, S. 40 ff. Stand: 7. 10. 2015: 86 Vertragsstaaten. Deutschland ist dem Übereinkommen erst am 26. 10. 1976 beigetreten. Bisher 111

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In der Präambel des Übereinkommens wird bekräftigt, dass staatenlose Flüchtlinge durch das Abkommen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge113 erfasst werden und das Übereinkommen von 1954 auf sie daher keine Anwendung findet. Die Flüchtlingskonvention genießt damit Vorrang vor der Staatenlosekonvention und gewährt Flüchtlingen einen noch besseren Rechtsschutz als bloßen Staatenlosen114. In Art. 1 Abs. 1 des Staatenlosenübereinkommens wird der „Staatenlose“ definiert als „eine Person, die kein Staat auf Grund seines Rechtes als Staatsangehörigen ansieht“. In Art. 3 wird ausdrücklich bekräftigt, dass das Übereinkommen auf Staatenlose „ohne Unterschied der Rasse, der Religion oder des Herkunftslands“ anzuwenden ist. Die Vertragsstaaten haben den Staatenlosen in ihrem Hoheitsgebiet bürgerliche Rechte, wie die Religionsfreiheit (Art. 4), die Vereinigungsfreiheit (Art. 15), den Zugang zu den Gerichten (Art. 16), Freizügigkeit (Art. 26) sowie öffentliche Fürsorge und Unterstützung wie den eigenen Staatsangehörigen (Art. 24) zu gewähren. Hierzu gehört ferner die Erwerbstätigkeit (Art. 17, 18 und 19), das öffentliche Erziehungswesen (Art. 22), das Wohnungswesen (Art. 21) und die Bewegungsfreiheit (Art. 26). Jeder Staatenlose hat aber auch gegenüber dem Land, in dem er sich befindet, Pflichten, zu denen insbesondere die Verpflichtung gehört, die Gesetze und sonstigen Vorschriften sowie die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung getroffenen Maßnahmen zu beachten (Art. 2). Das Personalstatut eines Staatenlosen bestimmt sich nach den Gesetzen des Landes, seines Wohnsitzes oder, wenn er keinen Wohnsitz hat, nach den Gesetzen seines Aufenthaltslandes (Art. 12). Schließlich verpflichten sich die Vertragsstaaten, keinen Staatenlosen auszuweisen, der sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhält, es sei denn aus Gründen der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung (Art. 31 Abs. 1). In Art. 27 verpflichtet das Übereinkommen die Unterzeichnerstaaten dazu, Staatenlosen Personaldokumente auszustellen und ihnen damit einen legalen Aufenthalt auf ihrem Hoheitsgebiet zu ermöglichen. Die Pflicht zur Ausstellung eines Personalausweises ist selbstverständlich nicht gleichbedeutend mit der Verleihung der Staatsangehörigkeit, sodass keine Änderung der Rechtsstellung von Staatenlosen bewirkt wird und dadurch auch nicht das Recht auf diplomatischen Schutz verliehen wird. In der Schlussakte zum Übereinkommen wird festgestellt, dass der non-refoulement-Grundsatz115 allgemein anerkannt ist.116 Non-refoulement bedeutet, dass niehaben auch nicht alle EU-Mitgliedstaaten das Übereinkommen ratifiziert, darunter etwa Polen und Estland. 113 Text: BGBl. 1953 II, S. 560. 114 Insbesondere im Ausweisungsschutz. 115 Der Grundsatz ist entweder ausdrücklich oder durch Auslegung in den Bestimmungen zahlreicher völkerrechtlicher Verträge verankert, darunter Art. 33 des Abkommens der Vereinten Nationen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, Art. 3 des Übereinkommens der Vereinten Nationen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe und Art. 7 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie mehrere regionale Menschenrechtsübereinkommen. 116 In der Flüchtlingskonvention hingegen ist in Art. 33 das Refoulement-Verbot geregelt.

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mand in ein Gebiet zurückgeschickt werden darf, in dem ihm Verfolgung droht. Allerdings ist dabei der Grundsatz der inländischen Fluchtalternative zu berücksichtigen. Ein „refoulement“ in den Heimatstaat ist damit möglich, wenn es dort Gebiete gibt, in denen keine Verfolgung stattfindet. bb) Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 30. August 1961 Das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961117 enthält zwar keine Definition von Staatenlosigkeit, aber dafür zahlreiche Richtlinien zur Vermeidung von Staatenlosigkeit von neugeborenen Kindern und zum Schutz vor einem späteren Verlust der Staatsbürgerschaft. Die Artikel des Übereinkommens von 1961 verfolgen das Ziel, Staatenlosigkeit bei Geburt zu verhindern. Nach Art. 1 sind Verleihungstatbestände für ansonsten staatenlose Personen vorgesehen. Demnach wird die Staatsangehörigkeit verliehen, wenn der Betroffene bei der zuständigen Behörde einen entsprechenden Antrag stellt; anderenfalls bliebe er staatenlos. Die Grenze dieser Verleihung beschreibt Art. 1 Abs. 2, wonach der Vertragsstaat die Verleihung seiner Staatsangehörigkeit von einer Frist, die an einen mehrjährigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet geknüpft werden kann, abhängig machen kann. Nach Art. 10 des Übereinkommens haben die Vertragsstaaten sicherzustellen, dass niemand durch Gebietsabtretung staatenlos wird. Die Staaten sind aufgerufen, bilaterale oder multilaterale Verträge zu schließen, deren Bestimmungen gewährleisten, dass niemand infolge dieser Abtretung staatenlos wird. In Ermangelung solcher Verträge sollten die betreffenden Staaten den Personen, die andernfalls staatenlos würden, ihre Staatsangehörigkeit verleihen. Das Übereinkommen sieht die Errichtung einer Stelle vor, an die sich Personen, die sich auf dieses Übereinkommen berufen, mit der Bitte um Prüfung ihres Anspruches und um Unterstützung bei seiner Durchsetzung gegenüber der zuständigen Behörde wenden können. Diese Aufgabe wies die Generalversammlung dem UNHCR zu, der seitdem die Regierungen bei der Ausarbeitung und Umsetzung innerstaatlicher Rechtsvorschriften unterstützt und Schulungen für Staatsbedienstete anbietet. cc) Resümee Die rechtliche Folge der Staatenlosigkeit besteht darin, dass der Staatenlose keinem Staat angehört, er unterfällt also nicht der Personalhoheit eines Staates, lediglich der Gebietshoheit des Aufenthaltsstaates. Staatenlose sind zwar regelmäßig den öffentlich-rechtlichen Pflichten des Aufenthaltsstaates unterworfen, wie etwa den Steuerabgaben, genießen aber ohne besondere Regelung weder die Rechte der 117 Text: BGBl. 1977 II, S. 597 ff.; E. Cieslar (Anm. 112) Internationale Abkommen, S. 22 ff.

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Staatsangehörigen noch der Ausländer.118 Staatenlose Personen stehen nicht unter dem diplomatischen Schutz eines Staates. Sie haben daher in keinem Staat einen Rechtsanspruch auf Niederlassung und unterliegen häufig der Abschiebung. Sie sind also grundsätzlich international schutzlos. Der Aufenthaltsstaat kann Staatenlose in der Regel nach seinem Ermessen behandeln, er kann sie in Bezug auf Pflichten als Inländer, in Bezug auf Rechte als Ausländer behandeln. Obwohl Staatenlosigkeit im Völkerrecht als unerwünscht gilt, ist sie nicht völkerrechtswidrig. So spricht auch etwa die UN-Konvention von 1961 ausdrücklich nur von dem Ziel einer Verminderung der Staatenlosigkeit. Das Washingtoner Staatenlosenübereinkommen von 1954 hat eine wesentliche Verbesserung der Rechtsstellung der Staatenlosen in den Vertragsstaaten herbeigeführt. Es soll sicherstellen, dass Staatenlosen ihre Grundrechte und -freiheiten ohne jeden Unterschied gewährt werden. Hieraus folgt aber auch, dass Staatenlose in den Staaten, in denen das Abkommen nicht gilt, eine Position ohne Rechte haben. Im Vergleich zur Genfer Flüchtlingskonvention von 1951119, mit ihren 146 Vertragsstaaten ist die Zahl der Vertragsstaaten des Übereinkommens von 1954 immer noch deutlich geringer. Auffällig ist, dass nicht einmal alle EU-Mitgliedstaaten das Washingtoner Übereinkommen ratifiziert haben. Es kann festgehalten werden, dass sich die Flüchtlingskonvention und das Staatenlosenübereinkommen ergänzen, da sich der Personenkreis der Staatenlosen und der Flüchtlinge nur teilweise deckt und insbesondere Flüchtlinge häufig zunächst nicht staatenlos sind. Aufgrund der Definition der de iure Staatenlosen im Übereinkommen von 1954 muss eine Person, um als staatenlos anerkannt zu werden, den negativen Beweis führen, dass sie keine Staatsangehörigkeit eines Staates besitzt und damit gerade in keiner Rechtsbeziehung zu irgendeinem in Frage kommenden Staat steht. Wie vom Übereinkommen verlangt, haben manche Staaten Durchführungsvorschriften erlassen, in denen bestimmten staatlichen Stellen die Zuständigkeit übertragen wurde, Anträge auf Anerkennung als Staatenlose zu prüfen und darüber zu entscheiden. In vielen Staaten gibt es hingegen keine entsprechenden Regelungen. Im Jahre 2003 hat der UNHCR einen Report120 herausgegeben, in dem festgestellt wurde, dass die meisten der EU-Mitgliedstaaten noch keine eigenen Mechanismen zur Identifizierung und Anerkennung von Staatenlosen eingerichtet haben. Unbeschadet des Umfangs der Rechte, die Staatenlosen eingeräumt werden, sind diese kein gleichwertiger Ersatz für den Erwerb der Staatsangehörigkeit.

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K. Hailbronner (Anm. 39), in: K. Hailbronner/G. Renner/H. G. Maaßen, Staatsangehörigkeitsrecht, S. 148. 119 Text: BGBl. 1953 II, S. 560 ff. 120 „Report on the Implementation of the 1954 Convention within the European Union Member States“, abrufbar unter: http://www.refworld.org/pdfid/415c3cfb4.pdf.

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2. De facto Staatenlosigkeit a) Begriff De facto Staatenlose121 sind Personen, die zwar formell eine Staatsangehörigkeit besitzen, ihr Heimatstaat ihnen aber keinen diplomatischen Schutz gewährt122 und sie sich daher auf keine effektive Staatsangehörigkeit berufen können. Der diplomatische Schutz wird ihnen in den meisten Fällen aus politischen oder aus Gründen der Handlungsunfähigkeit versagt.123 Es kommt aber auch häufig vor, insbesondere bei Flüchtlingen, dass diese den diplomatischen Schutz ihres Heimatstaates freiwillig ablehnen. Dieser Verzicht hat aber keine Auswirkung auf ihre Staatsangehörigkeit im Heimatstaat, die sie weiterhin formal behalten. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat im Jahre 2005 den Begriff der „De facto Staatenlosen“ wie folgt definiert: „De facto stateless persons are persons outside the country of their nationality who are unable or, for valid reasons, are unwilling to avail themselves of the protection of that country. Persons who have more than one nationality are de facto stateless only if they are outside all the countries of their nationality and are unable, or for valid reasons, are unwilling to avail themselves of the protection of any of those countries“.124 Früher wurde vorausgesetzt, dass sich die de facto Staatenlosen nicht auf dem Territorium ihres Heimatstaates befinden dürfen. Diese weitergehende Voraussetzung gilt aber als überholt und verhindert eine Anpassung an die neueren Entwicklungen. Die neue Definition von de facto Staatenlosen umfasst auch Menschen, die innerhalb des Heimatlandes wohnen und gerade keine Flüchtlinge sind, dort jedoch formell keine Staatsangehörigkeit erlangen können.125 b) Entstehungsgründe Die Entstehungsgründe für die de facto Staatenlosigkeit sind vielseitig und häufig an schwere Schicksale geknüpft. De facto Staatenlosigkeit kann auftreten, wenn Personen, die zwar eigentlich formal eine Staatsangehörigkeit besitzen, diese nicht nachweisen können, weil ihnen etwa die entsprechenden Ausweisdokumente abhan121 Dieser Begriff taucht erstmals in der vom Generalsekretär der Vereinen Nationen erstellten Studie „A Study of Statelessness“ aus dem Jahre 1948 auf. Text der Studie (Resolution 116 [VI] D.) abrufbar unter: http://daccess-dds-ny.un.org/doc/Undoc/GEN/NR0/752/74/IMG/ NR075274.pdf?OpenElement (30. 05. 2010). 122 D. Blumenwitz, Art. 5 EGBGB, in: Staudingers Kommentar zum EGBGB, 1996, Rn. 449. 123 W. E. Conclin (Anm. 3), Statelessness. The Enigma of an International Community, S. 8. 124 H. Massey, in: UNHCR, „UNHCR and de facto statelessness“, April 2010, LPPR/2010/ 01, S. 61. 125 M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 74.

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dengekommen sind oder wenn Personen, die eine Staatsangehörigkeit haben, dem Staat als Flüchtling den Rücken kehren und mit ihm nichts mehr zu tun haben wollen. Als staatenlos gelten auch Personen, die nach ihrer Geburt in keinem Staat registriert wurden oder das Geburtsregister, aus dem sich ihre Eintragung ergeben hätte, infolge eines Krieges vernichtet wurde. Die Diskriminierung von Frauen in Form des Menschenhandels und Zwangs zur Prostitution lässt diese oft de facto staatenlos werden, da ihnen die Dokumente abgenommen werden. Auch Personen, die als Mitglied einer Minderheit in einem Grenzgebiet zwischen zwei Staaten geboren wurden und der tatsächliche Geburtsort unbekannt ist, können als staatenlos qualifiziert werden. Schließlich kommt eine Staatenlosigkeit in Betracht, wenn ein Staat einen Staatsangehörigen zwar nicht formell ausbürgert, ihn aber dennoch wie einen Fremden behandelt.126 c) Rechtliche Behandlung De facto Staatenlose sind in der Definition des Übereinkommens von 1954 nicht erfasst, da de facto Staatenlose als unprotected persons angesehen werden127, weil sie formell eine Staatsangehörigkeit besitzen.128 Als Argument, warum de facto Staatenlose bewusst nicht in die Konvention von 1954 aufgenommen wurden, wurde vorgetragen, dass eine eindeutige Definition der de facto Staatenlosen nicht möglich sei.129 Die Verfasser des Übereinkommens gingen zudem davon aus, dass alle Personen ohne effektive Staatsangehörigkeit, also alle de facto Staatenlosen, Flüchtlinge sind.130 Im Gegensatz zu dieser Einschätzung zeigte sich im Laufe der Zeit, dass es auch de facto Staatenlose gibt, die die Voraussetzungen eines Flüchtlings nicht erfüllen. Tatsächlich sind die meisten Staatenlosen, die die Hilfe des UNHCR benötigen, keine Flüchtlinge und haben daher auch keinen Anspruch auf Asyl. Ist eine Person staatenlos, so werden ihre Rechtsverhältnisse nach den Gesetzen des Staates beurteilt, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Der gewöhnliche Aufenthalt wird sich danach bestimmen lassen, wo die Person ihren Daseinsmittelpunkt hat, also den Mittelpunkt ihrer persönlichen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen Beziehungen. 126

Vgl. J. Kokott (Anm. 30), in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 16 Rn. 25; siehe zu den Entstehungsgründen auch S. Nonnenmacher/R. Cholewinski, The Nexus between Statelessness and Migration, in: A. Edwards/L. van Waas (ed.), Nationality and Statelessness under International Law, 2014, S. 247 ff. (249 f.). 127 Vgl. O. Kimminich/W. Fiedler, Staatenlose, in: I. Seidl-Hohenveldern (Hrsg.), Völkerrecht, 3. Aufl., 2001, S. 385 f. (385). 128 M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 69. 129 M. S. Kraus (Anm. 10), Menschenrechtliche Aspekte der Staatenlosigkeit, S. 72 f. 130 Diese Annahme wurde darauf gestützt, dass eine Person de facto staatenlos wurde, wenn sie aus dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besaß, aufgrund von Verfolgung durch den Staat floh, und dass die Verfolgung daher auf das Fehlen einer effektiven Staatsangehörigkeit zurückzuführen war.

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In der Schlussakte des Übereinkommens von 1954 wird die Frage der de facto Staatenlosen in Form einer nicht verbindlichen Empfehlung angesprochen, wonach „jeder Vertragsstaat, wenn er die Gründe, aus denen eine Person auf den Schutz des Staates verzichtet hat, dessen Staatsangehörige sie ist, als stichhaltig anerkennt, die Möglichkeit wohlwollend prüft, dieser Person die Behandlung zuteilwerden zu lassen, die das Übereinkommen für Staatenlose vorsieht“. Das Europäische Übereinkommen von 1997131 entwickelte diese Empfehlung weiter und schreibt vor, dass jeder Vertragsstaat in seinem innerstaatlichen Recht die Möglichkeit der Einbürgerung von Personen vorsieht, die sich rechtmäßig und gewöhnlich in seinem Hoheitsgebiet aufhalten. Außerdem begrenzt das Europäische Übereinkommen die vorgeschriebene Aufenthaltsdauer auf höchstens zehn Jahre, bevor eine Person einen Einbürgerungsantrag stellen kann. Ferner werden die Mitgliedstaaten in dem Übereinkommen dazu ermutigt, für Staatenlose und anerkannte Flüchtlinge beschleunigte Einbürgerungsverfahren in Erwägung zu ziehen. Auch in Deutschland wird eine Gleichstellung der de facto Staatenlosigkeit mit der de iure Staatenlosigkeit angestrebt. Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG wird daher so verstanden132, dass er einerseits verbietet, dass gegen oder ohne den Willen des Betroffenen Staatenlosigkeit eintritt, und andererseits gebietet, eine faktische Staatenlosigkeit zu vermeiden.133 3. Ausübung diplomatischen Schutzes bei Staatenlosen Die entscheidende Notwendigkeit für die Vermeidung von Staatenlosigkeit zeigt sich im fehlenden diplomatischen Schutz des Einzelnen.134 Staatenlose unterstehen daher dem Schutz des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen.135 Diesen Schutz kann der Hohe Kommissar aber nur in einem Aufenthaltsstaat, der dem Übereinkommen vom 1954 beigetreten ist, also nicht gegenüber einem anderen Staat, ausüben. Er umfasst nicht nur den Rechtsschutz, sondern auch die Wahrnehmung humanitärer Aufgaben.136 4. Abgrenzung von Staatenlosen und Flüchtlingen Die internationalen Abkommen differenzieren zwischen Staatenlosen und Flüchtlingen. Eine Differenzierung zwischen de iure Staatenlosen und Flüchtlingen ist problemlos möglich. Jedoch erweist sich eine eindeutige Trennung zwischen de facto Staatenlosen und Flüchtlingen häufig als schwierig. Dies liegt daran, dass beide teil131

Text: BGBl. 2004 II, S. 579 ff. So insbesondere vom Bundesverwaltungsgericht, vgl. BVerwGE, 118, S. 216 ff. 133 Vgl. J. Kokott (Anm. 30), in: M. Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 16 Rn. 25. 134 T. Stein/Chr. von Buttlar (Anm. 41), Völkerrecht, S. 82. 135 Die Übertragung des diplomatischen Schutzes auf den Flüchtlingskommissar erfolgte auf Grundlage von Art. 11 des Übereinkommens von 1961. 136 A. Verdross/B. Simma (Anm. 45), Universelles Völkerrecht, § 1257. 132

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weise identische Merkmale, wie etwa den fehlenden diplomatischen Schutz durch einen Staat, aufweisen. Wenn zu dieser Voraussetzung noch das Verlassen des Heimatstaates wegen Vertreibung oder Flucht aus Gründen der Verfolgung und Diskriminierung hinzukommt, ist die Flüchtlingseigenschaft begründet. So benennt auch die Genfer Flüchtlingskonvention in Art. 1 A Nr. 2 ausdrücklich Staatenlose als mögliche Flüchtlinge.137 Dies verdeutlicht, dass sich beide Personenkreise überschneiden. Alle Flüchtlinge sind stets de facto staatenlos, während aber nicht alle de facto Staatenlosen gleichzeitig Flüchtlinge sein müssen.138 5. Völkerrechtliche Maßnahmen zur Vermeidung von Staatenlosigkeit Der erste Anstoß für völkerrechtliche Maßnahmen zur Vermeidung von Staatenlosigkeit erfolgte durch die Haager Konferenz aus dem Jahre 1930. Sektion I der Schlussakte der Haager Konferenz von 1930 erklärt es als wünschenswert, „dass die Staaten in der Ausübung ihres Rechts, Fragen der Staatsangehörigkeit zu regeln, jede Bemühung unternehmen sollten, soweit als möglich Fälle der Staatenlosigkeit zu reduzieren“. Im Unterschied dazu enthält das auf der Haager Kodifikationskonferenz am 12. April 1930 abgeschlossene und im Jahre 1937 in Kraft getretene Abkommen über die Konflikte der Staatsangehörigkeit139 in den Artikeln 7, 8, 13, 14, 16 und 17 Bestimmungen, die auf die Reduzierung von Staatenlosigkeit abzielen. Das Haager Protokoll vom 12. April 1930 „on certain questions relating to the conflict of nationality law“140 ist bislang nur von wenigen Staaten ratifiziert worden, trat aber am 1. Juli 1937 in Kraft. Die Vollversammlung des Völkerbundes errichtete am 30. September 1938141 ein Hochkommissariat für alle Flüchtlinge, das am 1. Januar 1939 seine Arbeit aufnahm.142 Mit den Resolutionen aus den Jahren 1974 und 1976 in Verbindung mit den Artikeln 11 und 20 des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 wurde auf den UNHCR das Mandat übertragen, auch staatenlose Personen zu unterstützen und sich dafür einzusetzen, das Entstehen von Staatenlosigkeit zu verhindern beziehungsweise Staatenlosigkeit zu vermindern.143 Die UN-Generalversammlung hat den UNHCR damit beauftragt, die Umsetzung der Staatenlosenübereinkommen von 1954 und 1961 zu überwachen und den Beitritt der Staaten zu den beiden Übereinkommen aktiv zu fördern. Der UNHCR leistet seitdem rechtliche 137 Auch das deutsche Recht geht in § 3 AsylG davon aus, dass Staatenlose häufig gleichzeitig Flüchtlinge sind. 138 M. Stiller (Anm. 24), Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit, S. 44 f. 139 Text: LNTS, Bd. 179, S. 89 ff. 140 Text: LNTS, Bd. 179, S. 115. 141 Vgl. United Nations 1949, S. 104. 142 M. Stiller (Anm. 24), Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit, S. 146. 143 Vgl. E. Hirsch Ballin (Anm. 14), Citizens’ Rights and the Right to Be a Citizen, S. 89; M. Stiller (Anm. 24), Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit, S. 165.

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Hilfe und arbeitet mit Regierungen an der Vermeidung und Beendigung von Staatenlosigkeit.144 Der UNHCR hat im Jahre 2003 in 191 Ländern Befragungen durchgeführt, die einen umfassenden Überblick über die Situation weltweit gaben. Auf dieser Grundlage können Regierungen mit der Hilfe von UNHCR die Gesetzeslage anpassen. Nach Schätzungen der UN leben mindestens zehn Millionen Menschen weltweit ohne Staatsangehörigkeit. Innerhalb der nächsten zehn Jahre will der UNHCR dem Problem der Staatenlosigkeit mit der Kampagne „#Ibelong“ begegnen. Verschiedene internationale Dokumente wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948, das Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 und das Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 unterstreichen, dass niemandem aus rassischen, ethnischen, religiösen oder politischen Gründen die Staatsangehörigkeit aberkannt werden darf. Maßnahmen zur Verhinderung von Staatenlosigkeit als Folge von Gebietsübertragungen werden aufgezeigt und Regeln zur Gewährung der Staatsangehörigkeit für im Land geborene Personen geschaffen, die andernfalls staatenlos wären. Auf europäischer Ebene existiert die Konvention des Europarates über die Vermeidung von Staatenlosigkeit im Zusammenhang mit einer Staatennachfolge145, die am 1. Mai 2009 in Kraft getreten ist. Die Konvention baut auf dem Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit von 1997 auf, indem es noch detailliertere Regelungen entwickelt, die von den Staaten im Hinblick auf die Vermeidung oder zumindest größtmöglichen Reduzierung von Fällen der Staatenlosigkeit angewendet werden sollten, die sich durch Nachfolgestaaten ergeben. Die Konvention hat bisher eine geringe Resonanz erfahren, da sie lediglich von sechs Staaten, darunter etwa die Niederlande, aber noch nicht von Deutschland ratifiziert wurde. 6. Umgang mit Staatenlosigkeit in Deutschland Die Bundesrepublik Deutschland hat in dem „Gesetz zu dem Übereinkommen vom 28. September 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen“146 den Artikel 27 des Übereinkommens von 1954, der die Verpflichtung zur Ausstellung von Personaldokumenten für Staatenlose vorsieht, für nicht anwendbar erklärt. Stattdessen erhalten die Betroffenen einen „Reiseausweis für Staatenlose“. Außerdem entschied der Bundestag in dem Gesetz, im Gegensatz zur Präambel des Abkommens, dass nicht allen Staatenlosen, sondern nur Flüchtlingen „in Bezug auf öffentliche Fürsorge und Unterstützung die gleiche Behandlung wie ihren Staatsangehörigen“ zu gewähren ist. 144 Siehe zum Hintergrund des Mandates und der Aktivitäten des UNHCR: M. Manly, UNHCR’s mandate and activities to address statelessness, in: A. Edwards/L. van Waas (ed.), Nationality and Statelessness under International Law, 2014, S. 88 ff. 145 Text abrufbar unter: http://conventions.coe.int/Treaty/EN/Treaties/Html/200.htm; Stand 20. 09. 2015: sechs Vertragsstaaten. 146 Text: BGBl. 1976 II, S. 473 (Gesetz vom 22. 04. 1976).

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Ob eine Person staatenlos ist oder nicht, wird in Deutschland von der örtlich zuständigen Ausla¨ nderbeho¨ rde in einem Verwaltungsverfahren festgestellt.147 Die Frage der Staatenlosigkeit stellt sich in der Regel während des Verfahrens zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.148 Die Ausla¨ nderbeho¨ rde hat den Sachverhalt aufzuklären. Häufig werden Staatenlose von den deutschen Ausländerbehörden nicht als „staatenlos“ bezeichnet, vielmehr wird von einer „ungeklärten Staatsangehörigkeit“149 ausgegangen. Die Einstufung der ungeklärten Staatsangehörigkeit wird insbesondere angenommen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Antragsteller die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates hat, ein hinreichend sicherer Nachweis dafür jedoch fehlt.150 Bis die „ungeklärte Staatsangehörigkeit“ abgeklärt ist, erteilt die Ausländerbehörde eine Duldung des Aufenthaltes im Sinne des § 60 a Abs. 2 AufenthG. Im Rahmen des Verfahrens zur Aufklärung der Staatsangehörigkeit haben die Betroffenen eine Mitwirkungspflicht. Sie werden daher aufgefordert, alle vorhandenen Dokumente zum Nachweis der Identität vorzulegen und es kann auch von ihnen verlangt werden, dass sie bei der Auslandsvertretung des Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie möglicherweise besitzen, vorsprechen. Im Rahmen der Mitwirkungspflicht darf allerdings kein Hoheitsakt eines anderen Staates gefordert werden, wie etwa die Einleitung eines Einbürgerungsverfahrens in dem Staat, in dem der Betroffene sich früher aufgehalten hat. Sofern die Aufklärung der Staatsangehörigkeit nicht möglich ist oder die Existenz einer Staatsangehörigkeit nicht nachgewiesen werden kann, ist die Staatenlosigkeit festzustellen.151 Auf dieser Grundlage ist den Betroffenen eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen152 und ihnen der Zugang zu den im Staatenlosenu¨ bereinkommen von 1954 vorgesehenen Rechten zu ermöglichen. Hierzu zählt auch das Recht auf Erteilung eines Reiseausweises fu¨ r Staatenlose. Ferner greift der Ausweisungsschutz nach Art. 31 Abs. 1 des Staatenlosenübereinkommens, wonach eine Ausweisung nur noch aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erfolgen darf. Deutschland erleichtert Staatenlosen, die im Inland geboren werden, die Einbürgerung. Dies erfolgt rechtlich auf Grundlage von Art. 2 des Ausführungsgesetzes zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 29. Juni 1977153. Hiernach ist ein seit der Geburt Staatenloser auf seinen Antrag hin einzubürgern, wenn er im Geltungsbereich des Gesetzes geboren ist, dort seit fünf Jahren rechtmäßig seinen dauernden Aufent147

(6). 148

Holger Hoffmann, Welche Rechte haben Staatenlose?, in: Asylmagazin 10/2004, S. 5 ff.

Häufig wird Staatenlosen eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt. Dabei handelt es sich jedoch um keinen Rechtsbegriff, sondern nur um einen Arbeitsbegriff. 150 Hoffmann (Anm. 147), Welche Rechte haben Staatenlose?, in: Asylmagazin 10/2004, S. 6. 151 Hoffmann (Anm. 147), Welche Rechte haben Staatenlose?, in: Asylmagazin 10/2004, S. 7. 152 Auf Grundlage von § 25 Abs. 3 und 5 AufenthG. 153 Text: BGBl. 1977 II, S. 597 ff. 149

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halt hat und den Antrag vor der Vollendung des 21. Lebensjahres stellt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat ein Staatenloser seinen dauernden Aufenthalt in Deutschland, wenn er nicht nur vorübergehend hier lebt, sodass die Beendigung seines Aufenthalts ungewiss ist.154 Die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes liegt vor, wenn der Aufenthalt von der zuständigen Ausländerbehörde erlaubt worden ist155, sich der Staatenlose also im Besitz eines Aufenthaltstitels nach §§ 7 bis 9 a AufenthG befindet.156 Im Übrigen ist eine Einbürgerung bei Staatenlosen grundsätzlich nach einem sechsjährigen Aufenthalt in Deutschland möglich, wenn die weiteren Voraussetzungen für die Einbürgerung vorliegen. 7. Fallbeispiele der Staatenlosigkeit Weltweit leben nach Angaben des UNHCR157 die größten Gruppen von Staatenlosen in der Elfenbeinküste (700.000), der Dominikanischen Republik (210.000), dem Irak (120.000), Lettland (268.000), Myanmar (810.000), Russland (178.000), Syrien (160.000) und Thailand (506.000). Einige dieser Bevölkerungsgruppen sind im Zusammenhang mit ihrer sich seit langem hinziehenden Staatenlosigkeit schweren und systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, so in jüngster Zeit zum Beispiel die Rohingya in Myanmar.158 Im Sommer 1944 ließ Stalin über 210.000 Krimtataren von der Krim nach Mittelasien deportieren159, da ihnen vorgeworfen wurde, mit der Nazi-Besatzungsmacht kooperiert zu haben. Geschätzte 108.000 Krimtataren, die nach dem Inkrafttreten des ukrainischen Staatsbürgerschaftsgesetzes im November 1991 in die Ukraine zurückkehrten, stießen beim Erwerb der ukrainischen Staatsbürgerschaft auf zahlreiche Probleme.160 Etwa 28.000 von ihnen, die sich in anderen Ländern aus den Einwohnermelderegistern hatten streichen lassen, bevor sie die ukrainische Staatsbürgerschaft erwerben konnten, wurden de iure staatenlos. Zwar wurden die Krimtataren bevorzugt behandelt, indem ihnen individuelle Einbürgerungsverfahren eröffnet wurden, jedoch konnten die meisten Rückkehrer die mit diesen Verfahren verbundenen strengen Auflagen nicht erfüllen, weil etwa ein fünfjähriger Aufenthalt in der Ukraine, ein ausreichendes Einkommen und die Beherrschung der ukrainischen 154

Vgl. BVerwGE 92, S. 116 (123 f.). Ein dauernder Aufenthalt der Eltern erfordert hingegen keine förmliche Zustimmung der Ausländerbehörde. 156 Vgl. BVerwGE 92, S. 116 (127). 157 Diese Angaben stammen aus dem Jahre 2013. 158 Siehe hierzu den Bericht des Wissenschaftlichen Dienstes der Bundesregierung vom 29. 9. 2014, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/blob/332394/43561799cc62b9c0c99ce79 5ae6331b9/rechtstellung-der-staatenlosen-data.pdf. 159 O. Luchterhandt, Die Krim-Krise von 2014. Staats- und völkerrechtliche Aspekte, in: Osteuropa 64 (2014), Heft Nr. 5/6, S. 61 ff. (62); B. G. Williams, The Crimean Tatars. The Diaspora Experience and the Forging of a Nation, 2001, S. 372 f. 160 Näheres hierzu bei B. G. Williams (Anm. 159), The Crimean Tatars, S. 411 ff. 155

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Sprache Voraussetzung waren. Dies hatte zur Folge, dass der UNHCR und auch der Europarat die ukrainische Regierung ermutigten, ihr Staatsangehörigenrecht zu ändern, damit diese Probleme behoben werden konnten. Die Dismembration der Sowjetunion im Jahre 1990 führte zu Staatenlosigkeit. Viele Russen waren auch in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen angesiedelt.161 Nach den Unabhängigkeitserklärungen dieser ehemaligen sowjetischen Unionsrepubliken wurden den Angehörigen der russischen Minderheit oft keine nationalen Pässe ausgestellt.162 Die Einwohner Estlands und Lettlands, die erst während der Sowjetzeit in diese Länder kamen und nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit nicht für eine Staatsangehörigkeit der GUS-Staaten optierten, haben die Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft Estlands oder Lettlands durch Einbürgerung zu erhalten. Voraussetzung sind Kenntnisse in der estnischen beziehungsweise lettischen Sprache und der Geschichte des jeweiligen Landes.163 Auf diese Weise haben seit dem Jahre 1992 in Estland über 150.000 Einwohner die estnische Staatsbürgerschaft erhalten, die meisten davon ethnische Russen. Im Dezember 2011 waren aber immer noch 6,9 Prozent der Bevölkerung von Estland (94.654 Personen) ohne Staatsangehörigkeit. Nach dem 26. Februar 1992 in Estland geborene staatenlose Kinder erhalten aber mittlerweile unter bestimmten Bedingungen automatisch die estnische Staatsangehörigkeit.164 In Lettland soll es laut verschiedener Angaben immer noch zwischen 327.000 und 500.000 Einwohner – zumeist Angehörige der russischsprachigen Minderheit165 – geben, die als „Nicht-Staatsbürger“166 bei den Behörden eingetragen sind.167 Palästinenser konnten nach dem Nationality Law von 1952 die israelische Staatsbürgerschaft erhalten, wenn sie seit der Gründung Israels im Jahre 1948 im Staats161 Siehe hierzu Chr. Kreuzer (Anm. 19), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 77, insbesondere dort Anmerkung 2; R. Schmied-Kowarzik, Die Europäische Union und ihre ethnischen Minderheiten. Eine Studie unter besonderer Berücksichtigung von Slowenien und Lettland, 2007, S. 335 ff. 162 Vgl. Chr. Kreuzer (Anm. 19), Staatsangehörigkeit und Staatensukzession, S. 81 ff. 163 C. Schmidt, Der Minderheitenschutz in den baltischen Staaten – Dokumentation und Analysen – Estland, Lettland und Litauen, 1993, S. 19; R. Schmied-Kowarzik (Anm. 161), Die Europäische Union und ihre ethnischen Minderheiten, S. 414 f. 164 Siehe hierzu die offiziellen Daten und Fakten auf: http://estonia.eu/about-estonia/socie ty/citizenship.html. 165 Etwa 28,3 Prozent (652.204 Einwohner) der Bevölkerung Lettlands sind ethnische Russen. Vgl. F. J. Anton, Staatlichkeit und Demokratisierung in Lettland. Entwicklung – Stand – Perspektiven, 2009, S. 297. 166 In Lettland gab es zwei Gruppen von Staatenlosen, einmal die „Nicht-Staatsbürger“, zu denen ehemalige Staatsbürger der UdSSR gezählt wurden, und die anderen Staatenlosen. Diese Unterscheidung existiert mittlerweile nicht mehr. Beide Gruppen erhalten heute einen Staatenlosen-Pass. Gegenüber Staatsbürgern besitzen sie immer noch kein Wahlrecht und können Grund und Boden nur pachten, nicht aber käuflich erwerben. Vgl. F. J. Anton (Anm. 165), Staatlichkeit und Demokratisierung in Lettland, S. 300 f. 167 R. Schmied-Kowarzik (Anm. 161), Die Europäische Union und ihre ethnischen Minderheiten, S. 333.

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gebiet Israels lebten. Demnach blieben diejenigen Palästinenser, die im Westjordanland oder im Gazastreifen168 lebten, staatenlos. Die Bewohner der Autonomiegebiete erhalten von ihren Behörden einen palästinensischen Reisepass, den seit dem Jahre 1995 auch Israel anerkennt. In den meisten westlichen Ländern gelten Palästinenser aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen jedoch als staatenlos.169 IV. Fazit Staatenlose befinden sich in einer prekären rechtlichen Lage, da sie in keinem Staat staatsbürgerliche Rechte genießen und in keinem Staat Ansprüche auf Niederlassung oder diplomatischen Schutz geltend machen können. Dies führt auch häufig dazu, dass sie keine Chance auf Entwicklung, Integration und Selbstverwirklichung haben. Problematisch ist schließlich, dass Staatenlose keine öffentliche Identität haben und unter ständiger Bedrohung einer Abschiebung leben müssen. Die Staatsangehörigkeit hat einen unschätzbaren Wert, wenn sie auch für viele Menschen, die eine Staatsangehörigkeit besitzen, selbstverständlich ist. Die Staatsangehörigkeit gibt den Menschen nicht nur ein Gefühl der Identität, sondern begründet auch ihren Anspruch auf staatlichen Schutz und auf viele bürgerliche und politische Rechte. Die wichtigsten Rechte, die Staatenlosen in erster Linie verwehrt werden, sind der diplomatische Schutz und das Recht auf Niederlassung im Aufenthaltsstaat. Der Staatenlose ist überall ein Fremder und hat keinen Heimatstaat, der sich nach den allgemeinen Regeln völkerrechtlich für ihn einsetzen könnte.170 Unabhängig davon, ob die Betroffenen de iure oder de facto staatenlos sind, hat die Tatsache der Staatenlosigkeit für sie eine gemeinsame nachteilige Bedeutung. Sie können sich nämlich beide aus formalen oder faktischen Gründen nicht auf eine Staatsangehörigkeit berufen, Staatenlose unterstehen aber immer dem Schutz der Allgemeinen Menschenrechte. Sofern diese verletzt sind, etwa wegen Folter oder Diskriminierung, können sich Staatenlose an den UNHCR wenden, der für sie stellvertretend diplomatischen Schutz ausüben kann. De facto Staatenlose sind häufig auch gleichzeitig Flüchtlinge. Dies liegt daran, dass sich beide auf keinen diplomatischen Schutz ihres Heimatstaates berufen können und sich daher ihre Merkmale dahingehend überschneiden. Jede Person, die unter die Flüchtlingskonvention fällt, kann in allen Ländern, in denen diese Konvention gilt, von ihrem Flüchtlingsstatus Gebrauch machen, ohne Rücksicht darauf, ob sie de iure oder de facto staatenlos ist. Flüchtlinge leben dennoch häufig im Zeitraum bis zur Klärung ihrer Herkunft in einem Schwebezustand. Sie können nie sicher sein, dass sie vor einer Abschiebung geschützt sind. 168

Diese besetzten Gebiete zählen nicht zum israelischen Staatsgebiet. G. Dahm/J. Delbrück/R. Wolfrum, Völkerrecht, Bd. I/2, 2. Aufl., 2002, S. 34. 170 Vgl. A. von Arnauld (Anm. 46), in: I. von Münch/Ph. Kunig, Grundgesetz Kommentar, Bd. 1: Präambel bis Art. 69, Art. 16 Rn. 4. 169

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Das Staatenlosenübereinkommen von 1954 ist die zentrale völkerrechtliche Grundlage zum Schutz Staatenloser. Der Beitritt zum Übereinkommen von 1954 über die Rechtsstellung der Staatenlosen und dessen Umsetzung sowie der Erlass entsprechender Durchführungsvorschriften stellen sicher, dass die Rechte und Pflichten der de iure Staatenlosen eingehalten werden. Die Akzeptanz dieses Übereinkommens stellt auch ein Bekenntnis zu den Menschenrechten und den humanitären Standards dar. Ein Mangel der Konvention von 1954 ist, dass sie auf de iure Staatenlose beschränkt ist. Die in der Schlussakte enthaltene Empfehlung, de facto Staatenlose gleichermaßen zu behandeln, ist ebenfalls nicht umfassend und daher nicht ausreichend, weil nur diejenigen Staatenlosen erfasst sind, die selbst auf den staatlichen Schutz verzichtet haben, nicht aber jene, denen dieser Schutz durch den Heimatstaat versagt wurde.171 Folge hiervon ist, dass es weiterhin die unprotected persons gibt, die von keiner Konvention erfasst und daher schutzlos sind. De facto Staatenlose sind daher von der Toleranz des Aufnahmestaates abhängig. Sie können nur hoffen, dass sie nachweisen können, Flüchtling zu sein, denn dann stehen ihnen die Rechte aus der Genfer Flüchtlingskonvention zu. Bedenklich ist auch, dass von den 192 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nur 88 Staaten das Übereinkommen von 1954 ratifiziert haben, sodass die Akzeptanz des Übereinkommens und der damit einhergehenden Rechte der Staatenlosen immer noch zu gering ist und ausgeweitet werden muss. So sind etwa die USA bisher keinem der beiden Abkommen betreffend die Staatenlosigkeit beigetreten. Weder das Übereinkommen von 1954 noch das Übereinkommen von 1961 sehen Maßnahmen im Falle von Vertragsbrüchen vor. Auch bei der Umsetzung der Übereinkommen sind die Vertragsstaaten weitgehend frei. Die Probleme bei der Umsetzung entstehen dadurch, dass jedes Land sein eigenes komplexes Einwanderungsrecht hat. Der Europarat hat die Bedeutung der Übereinkommen von 1954 und 1961 dadurch unterstrichen, dass er im Jahre 1959 die Empfehlung an seine Mitgliedstaaten abgegeben hat, die beiden Konventionen anzunehmen.172 Die Unterscheidung in de iure und de facto Staatenlose, die auch als formal-juristische Lösung bezeichnet wird, führt zwar dazu, dass die Zahl der de iure Staatenlosen verringert wird, das Problem der de facto Staatenlosen aber nicht ausreichend bekämpft wird. Problematisch ist auch, dass die Abgrenzung zwischen de iure und de facto Staatenlosigkeit nicht immer eindeutig ist. Diese Abgrenzungsproblematik tritt etwa in den Fällen ein, in denen die Betroffenen innerhalb ihres Heimatstaates wohnen, aber nicht die Staatsangehörigkeit dieses Staates besitzen. Es stellt sich die Frage, ob diese Personen mit den de facto Staatenlosen gleichgestellt werden können oder ob nicht auch eine Zuordnung zu de iure Staatenlosen denkbar wäre. Ein weiteres Problem ist, dass insbesondere Flüchtlinge häufig über Jahre hindurch in einem 171 172

M. Stiller (Anm. 24), Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit, S. 163. M. Stiller (Anm. 24), Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit, S. 187.

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Schwebezustand leben müssen, wenn sie nicht als staatenlos anerkannt werden, weil sie „nur“ de facto staatenlos sind. Die größte Schwäche der völkerrechtlichen Regelungen zur Staatenlosigkeit ist darin begründet, dass es kein allgemein anerkanntes konkretes Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit gibt. Das Staatenlosenübereinkommen müsste nämlich nicht nur den Begriff des Staatenlosen definieren, sondern auch das Verfahren zur Feststellung der Staatenlosigkeit regeln. Letzteres bleibt daher Sache der Staaten, denen es frei steht entsprechende Rechtsvorschriften zu erlassen, welche nähere Regelungen zur Feststellung von Staatenlosigkeit enthalten. Die bestehenden Verträge haben zwar die Rechte von Staatenlosen verbessert, schafften es allerdings nicht, ihnen die traditionellen Staatsbürgerschaftsrechte, wie etwa das Wahlrecht und die Berechtigung zum diplomatischen Schutz, einzuräumen.173 Des Weiteren ist die Anwendung der Bestimmungen des Übereinkommens von 1954 kein Ersatz für die Verleihung der Staatsangehörigkeit. Die Staaten sollten daher die Eingliederung und Einbürgerung der in ihrem Hoheitsgebiet lebenden Staatenlosen durch ihre Staatsbürgerschaftsgesetze erleichtern. De iure Staatenlose können sich auf die Übereinkommen aus den Jahren 1954 und 1961 berufen und zahlreiche Rechte für sich beanspruchen. Allerdings haben immer noch nicht alle Staaten die beiden Abkommen unterzeichnet, sodass in den Ländern, die die Abkommen nicht ratifiziert haben, keine Schutzstandards für de iure Staatenlose bestehen. In diesen Fällen sind sie den de facto Staatenlosen gleichgestellt. Ob die völkerrechtlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Staatenlosigkeit ausreichend sind, wird sich erst in Zukunft erweisen. Da die Ursachen, die zu Staatenlosigkeit führen können, immer wieder eintreten können, wird es auch in Zukunft regelmäßig Personen geben, die keinem Staat der Welt zuzuordnen sind. Mit den beiden Abkommen zur Staatenlosigkeit und der Übertragung eines entsprechenden Mandats an den UNHCR wurden wichtige Weichen gestellt. Staatenlosigkeit kann dadurch effektiv bekämpft werden, dass sie erst gar nicht entsteht. Es ist daher wichtig, dass die Staaten daran mitwirken, dass eine vorhandene Staatsangehörigkeit erst gar nicht verloren wird. Eine fundamentale Bedingung hierfür ist die Registrierung der Geburt jedes Kindes, um zu gewährleisten, dass das Kind vor dem Gesetz anerkannt ist. Die Registrierung in Geburtsregistern ist daher von entscheidender Bedeutung für die Verhinderung des Eintretens von Staatenlosigkeit. Die Vereinten Nationen unterstützen Staaten bei Maßnahmen zur Verringerung der Staatenlosigkeit, indem sie einerseits Schritte gegen den Eintritt von Staatenlosigkeit unternehmen und andererseits die beiden Übereinkommen zur Staatenlosigkeit entsprechend den Vorgaben in ihren Staaten umsetzen. Hierbei ist wichtig, dass Staaten kompetente Stellen einrichten, die die Aufgabe der schnellen Identifizierung der Staatenlosigkeit übernehmen, um das Leid der Betroffenen zu verringern. Dann 173

E. Hirsch Ballin (Anm. 14), Citizens’ Rights and the Right to Be a Citizen, S. 88.

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müssen diese nicht mehr in Ungewissheit leben und können den durch das Staatenlosenübereinkommen von 1954 vermittelten Schutzstandard genießen. Wenn Personen staatenlos geworden sind, sollte dieser Zustand so bald wie möglich geändert werden. Die gesetzlichen Regelungen sollten so ausgestaltet werden, dass die betroffenen Personen wieder eine Staatsangehörigkeit erhalten können. Auch erleichterte Einbürgerungsbedingungen können dazu wesentlich beitragen. Staatenlosen muss das Gefühl von Stabilität und Rechtsidentität gegeben werden, denn auch Staatenlose müssen ein Anrecht auf Niederlassung, eine Gesundheitsvorsorge und ein Bildungsangebot haben. Die aktuelle Flüchtlingsproblematik mit Tausenden von de facto Staatenlosen zeigt die Notwendigkeit auf, das Völkerrecht hinsichtlich des Erwerbs der Staatsangehörigkeit und des Besitzes einer effektiven Staatsangehörigkeit weiterzuentwickeln sowie ein allgemein geltendes Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit einzuführen. * Abstract Adrianna A. Michel: De facto and de iure Statelessness. A Hard Fate for the Persons Concerned (Die de facto und de iure Staatenlosigkeit. Ein schweres Schicksal für die Betroffenen), in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 67–104. Stateless people find themselves in a precarious legal position, not enjoying their full rights as citizens in any state and being unable to assert their right to settle or diplomatic protection. Often, this leads to a situation which prevents development, integration and realisation of potential. Finally, it is problematic that stateless people have no public identity and live under permanent fear of deportation. Nationality is an invaluable asset, even if many people who have a nationality take it for granted. Not only does nationality give people the feeling of identity, but also entitles them to state protection and many civil and political rights. The most important rights, which stateless people are being denied primarily, are diplomatic protection and the right of establishment within the country of residence. Wherever stateless people go, they are foreigners and have no home country, which could support them in accordance with general principles of international law. Regardless of whether the concerned people are de iure or de facto stateless, statelessness has a common disadvantageous meaning for them. Due to formal and factual reasons, both cannot invoke statelessness. However, stateless people are always protected by general human rights. In the case of an abuse of these rights, for example as a result of torture or discrimination, stateless people can turn to UNHCR, which can exercise diplomatic protection substitutionally. Often, de facto stateless people are refugees at the same time. That is because both cannot invoke diplomatic protection from their home country; these features coincide. Every person, who falls under the scope of the Geneva Convention on Refugees, can make use of his refugee status in countries, in

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which the convention applies, regardless of if their de iure or de facto statelessness. Nevertheless, in the period until clarification of their origin refugees often live in limbo. They never can be sure of the protection against deportation. The Convention on Statelessness dated 1954 is the central basis under international law to protect stateless people. The accession to the 1954 Convention concerning the legal status of stateless people and its implementation, as well as the adoption of implementing provisions make sure that rights and obligations of de iure stateless people are abided by. The acceptance of this Convention also constitutes the commitment to human rights and humanitarian standards. A deficiency of the 1954 Convention is its limitation to de iure stateless people. The recommendation, appearing in the Final Act, to treat de facto stateless people equally is also not comprehensive and is therefore not sufficient; only those stateless people are included, who have renounced the state protection, but not those, who were refused protection by their home country. The result is, that there are still people, who are not covered by a convention and therefore, are unprotected. Thus, de facto stateless people are dependent on the tolerance of the host country. They can only hope being able to prove their refugee status. Then, they would be entitled to the rights arising from the Geneva Convention on Refugees. Additionally, it is alarming that only 88 of 192 member states of the United Nations have ratified the 1954 Convention, so that the acceptance of the Convention and the corresponding rights of stateless people are still little and have to be increased. Neither the 1954 Convention nor the 1961 Convention provide measures in case of a breach of contract. To a great extent, the contractual states are free concerning the implementation of these Conventions. The problems occurring at execution arise, because every country has its own complex immigration law. In 1954 the Council of Europe has emphasized the importance of the 1954 and 1961 Conventions by recommending to accept the Convention. Differentiating between de iure and de facto stateless people, which is also referred to as formal-legal solution, leads to a reduction in the number of de iure stateless people; however, the problem of de facto stateless people is not tackled sufficiently. It is also problematic that the differentiation between de iure and de facto statelessness is not always precise. For example, this problem of distinction especially occurs in cases where the concerned live within their home country, but do not possess the nationality of this state. The question rises whether these persons can be put on an equal footing with de facto stateless people or if an assignment to de iure stateless people is imaginable. Another problem is, that especially refugees have to live in limbo for years, if they are not approved as stateless due to being “only” de facto stateless. The greatest weakness of international rules concerning statelessness is that there is no general acknowledged and specific procedure for determining statelessness. The Convention on Statelessness would not only have to define the term, but would also have to regulate the procedure for determining statelessness. Thus, the latter stays a matter of states, which are free to issue legal regulations, containing detailed rules concerning the determination of statelessness. The existing treaties have admittedly improved the rights of stateless people, but have not managed to grant them traditional citizenship rights, like suffrage or the entitlement to diplomatic protection. Furthermore, the application of the provisions of the 1954 Convention is no substitute for granting the nationality. Thus, states should facilitate integration and naturalisation of stateless people living within their territory through their citizenship rules. De iure stateless people can invoke the 1954 and 1961 Conventions and claim a range of rights. However, to this day many states have not signed these Conventions, with the result

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that in countries, which have not ratified the treaty, protection standards for de iure stateless people do not exist. In these cases they are on an equal footing with de facto stateless people. Only the future will show, if international measures to combat statelessness are sufficient. Because causes, which lead to statelessness, can occur again and again, there will consistently be people, who cannot be allocated to any state of the world. With both conventions on statelessness and the transfer of the according mandate to the UNHCR important decisions were made to put things on the right track.

Die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 – Reformbedarf angesichts der Flüchtlingskrise? Von Peter Hilpold I. Einführung Europa ist gegenwärtig mit einer beispiellosen Flüchtlingskrise konfrontiert. Der Ansturm von Asylbewerbern, aber auch von reinen Wirtschaftsflüchtlingen hat ein noch nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Viele Staaten scheinen angesichts dieser Herausforderung hilflos. Hin- und hergerissen zwischen dem Erfordernis, angesichts offensichtlicher Not Solidarität zu zeigen und immer stärkeren Protesten von Seiten der Bevölkerung, die in Anbetracht dieses Massenzustroms existenzielle Ängste in Bezug auf die Langfristfolgen dieses Phänomens entwickelt, ändern die Regierungen laufend ihre Haltung. Sie schwanken zwischen Willkommenseuphorie und „DasBoot-ist-voll“-Mentalität, zwischen Preiß der Vielfalt und Sorge um die Integrationsfähigkeit derart großer Gruppen aus so unterschiedlichen kulturellen Realitäten, zwischen „Wir-schaffen-das“-Bekundungen und Rückgriff auf Stacheldraht. In dieser Situation wird gerne Ausschau gehalten nach einer Orientierungshilfe im Völkerrecht. Damit stößt man zwangsnotwendig auf die Genfer Flüchtlingskonvention 1951, dem einzigen quasi-universellen Instrument in diesem Bereich (die GFK weist gegenwärtig 147 Ratifikationen auf). Schon allein das Alter dieses Instruments kann aber auf den ersten Blick skeptisch stimmen: Seit der Festlegung dieser Konvention ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen und wir wissen, dass sich zwischenzeitlich nicht nur das Flüchtlingsphänomen grundlegend geändert hat, sondern auch das System der internationalen Beziehungen, die Bedeutung der Menschenrechte und die Position des Einzelnen im internationalen Recht. Das Verhältnis von Staat und Flüchtling bewegt sich in diesem völlig veränderten Gefüge. Damit stellt sich aber auch die Frage, ob die GFK noch zeitgemäß ist bzw. ob nach einem anderen Instrument gesucht werden sollte. II. Die Umstände der Entstehung der GFK und ihr Anwendungsbereich Massenfluchtbewegungen in Folge von Kriegen und internen Konflikten lassen sich bis in biblische Zeiten zurückverfolgen. Und dennoch haben die Fluchtbewegungen des 20. Jahrhunderts eine ganz neue Natur angenommen und eine bis

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dahin in dieser Form unbekannte Problematik geschaffen.1 Sie sind damit ein typisches Phänomen des 20. Jahrhunderts. So waren Fluchtbewegungen zuvor mit keinem derartigen Integrationsproblem verbunden gewesen. Die Flüchtlinge, welchen die Flucht vor den Verfolgern gelungen ist, konnten bis ins 19. Jahrhundert weitgehend mit offenen Grenzen rechnen. Erst die Einführung von Grenzkontrollen und Passpflichten hat den Flüchtling zu einem Fremdkörper im modernen Staatsverband gemacht, der ausschließliche und dafür besonders intensive Beziehungen zum Bürger verlangte. Die Offenheit der Grenzen, die im 19. Jahrhundert bestand, wurde im ganzen 20. Jahrhundert nicht mehr erreicht. Weiterhin schaffen moderne Fluchtbewegungen ganz neue kulturelle Integrationsherausforderungen.2 Aber auch die Natur der bewaffneten Konflikte hat sich verändert. So waren Kriege seit dem Beginn der Völkerwanderung im 4. Jahrhundert n. Chr. kein derartiger Motor für Fluchtbewegungen mehr wie im letzten Jahrhundert.3 Der Erste Weltkrieg deutete bereits einen grundlegenden Wandel an: Zwar wurde dieser Krieg primär noch als Kampf zwischen Streitkräften im Felde und auf See geführt, doch die weitreichenden Grenzverschiebungen im Gefolge der Zerstörung der Vielvölkerstaaten, insbesondere aber der erste von übersteigertem Nationalismus getriebene Völkermord der Geschichte, jener des Osmanischen Reichs an den Armeniern4, führte zu Massenfluchtbewegungen und im Gefolge, nach dem Ersten Weltkrieg, zu Bemühungen im Rahmen des Völkerbundsystems, internationale Regelungen zu schaffen, die die Not der Flüchtlinge lindern sollten. So behalf man sich im System des Völkerbundes seit 1922 mit den sog. NansenPässen für russische, spätere auch armenische, assyrische und türkische Flüchtlinge, welchen zumindest provisorischer Schutz, gerade auch vor Abschiebung in den Verfolgerstaat, gewährt wurde. Im Jahr 1933 gelang schließlich die Ausarbeitung und Verabschiedung einer internationalen Konvention unter den Auspizien des Völkerbundes – der ersten Flücht1 Wie Michael Stürmer schreibt, bewegten die „großen“ Völkerwanderungen, die zum Zusammenbruch des Römischen Reichs führten, „wahrscheinlich nur wenige hunderttausend Menschen, und dies über mehrere Generationen hinweg“. Vgl. M. Stürmer, Völkerwanderung und politische Stabilität in Geschichte und Gegenwart, in: S. Angenendt (Hrsg.), Migration und Flucht. Aufgaben und Strategien für Deutschland, Europa und die internationale Gemeinschaft. Bonn 1977, S. 27 – 33 (27), zitiert nach M. Wöhlcke, Transnationale Migration – Multilateraler Harmonisierungs- und Regelungsbedarf, SWP-Studie, Februar 2001, S. 7. 2 Siehe dazu M. Wöhlcke, Konsequenzen des globalen Bevölkerungswachstums für die internationale Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 10/1999, S. 21 – 29 (24): „Große Migrationsströme produzieren große Minderheiten, und diese assimilieren sich in der Regel schlecht, wenn sie aus einem extrem andersartigen soziokulturellen Umfeld stammen.“ 3 Die genauen Ursachen der Völkerwanderung des Altertums sind nach wie vor umstritten. Auch klimatische Änderungen dürften dabei eine erhebliche Rolle gespielt haben. 4 Vgl. dazu die Beiträge in Europa Ethnica 3 – 4/2013 sowie P. Hilpold, Schutzverantwortung und Humanitäre Intervention in historischer Perspektive, in: P. Hilpold (Hrsg.), Die Schutzverantwortung (R2P), Brill/Martinus Nijhoff: Leiden/Boston 2013, S. 59 – 122 (107 ff.).

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lingskonvention überhaupt. Die Meinungen in der Literatur über die Bedeutung und den Nutzen dieser Konvention gehen auseinander:5 So wird die geringe Zahl an Ratifikationen kritisiert (bis 1939 waren es acht, mit zahlreichen Vorbehalten), andererseits begründete dieses Abkommen – in seinem begrenzten Anwendungsbereich – ein umfassendes Schutzstatut des Flüchtlings und erstmals – in Art. 3 – ein völkervertraglich fundiertes Abschiebeverbot (non-refoulement).6 Dieses Abkommen bildete somit die primäre Basis für die Ausarbeitung der Genfer Flüchtlingskonvention nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein gravierendes Problem bestand darin, dass der Begriff des „Flüchtlings“ in der Völkerbundzeit nicht generell definiert worden ist, sondern es wurden stets ad-hocRegelungen für einzelne Gruppen geschaffen. Dies setzte stets mühsame Verhandlungen voraus, deren Erfolg nicht garantiert war. Besonders Juden bekamen die fehlende Bereitschaft der Staatengemeinschaft zu intensiverer Hilfe zu spüren. Die achtzehn Jahre von der Flüchtlingskonvention 1933 zur GFK 1951 sollten zu einer Abfolge historischer zivilisationsgeschichtlicher Katastrophen werden, denen der Völkerbund wenig entgegenzusetzen hatte. Das Jahr der Verabschiedung der Flüchtlingskonvention 1933 markierte auch den Zeitpunkt der Machtergreifung der Nationalsozialisten, deren politisch repressives und dezidiert antisemitisches Regime ein neues Flüchtlingsproblem heraufbeschwor. Zwischen 1933 und 1939 flohen 400.000 Personen aus Nazideutschland, 80 % davon Juden.7 Zugunsten dieser Flüchtlinge wurden 1936 provisorische Maßnahmen getroffen und 1938 sogar eine Konvention unterzeichnet (durch Belgien, Frankreich, die Niederlande, Norwegen, Spanien und Großbritannien), doch ratifiziert wurde dieses Abkommen nur von zwei Staaten (Belgien und Frankreich).8 Die Einreisebestimmungen für jüdische Emigranten wurden ab 1933 kontinuierlich verschärft. Schließlich gab Großbritannien im Jahr 1939 auch dem arabischen Druck in Palästina nach und unterband weitgehend die jüdische Zuwanderung.9 Auf der internationalen Konferenz in Evian vom 9. bis 15. Juli 1938 hatte der USamerikanischen Präsident Franklin D. Roosevelt noch versucht, die teilnehmenden 29 Staaten zu einer größeren Aufnahmebereitschaft zu bewegen, doch blieb dieser Versuch ohne greifbare Ergebnisse.10 Dies bewog Hitler zu Zynismus und Häme, als er die Frage stellte, wenn die Juden doch ein so wundervolles Volk seien, 5

Siehe dazu im Detail C. M. Skran, Historical Development of International Refugee Law, in: A. Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention Relating to the Status of Refugee and its 1967 Protokol, 2011, S. 3 – 36 (24 ff.). 6 Ibid. 7 Ibid., S. 26. 8 Ibid., S. 34. 9 Dies geschah im sog. „Weißbuch“ vom 17. 05. 1939 (auch „MacDonald“-Weißbuch genannt). Vgl. W. Schreiber/M. Wolfsson, Nahost – Geschichte und Struktur der Konflikts, Opladen: Leske & Budrich 1996, S. 109. 10 Vgl. Ch. Staas, Letzte Zuflucht, Zeit Geschichte v. 14. 11. 2008, http://www.zeit.de/zeitgeschichte/2008/04/auswanderung-palaestina.

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warum nähmen sie die Westmächte dann nicht auf?11 Und tatsächlich war das Verhalten vieler europäischer Staaten beschämend, wenn sie die Pass- und Visa-Bestimmungen fortlaufend verschärften und Deutschland schließlich, angeblich auf eine schwedisch-schweizerische Initiative hin, den J-Stempel für jüdische Pässe einführte, um diesen Staaten noch wirksamer schon an den Grenzen die Abweisung der Juden zu ermöglichen.12 Die gesamte Dimension der Judenverfolgung wurde erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges deutlich und damit wurde die dringende Notwendigkeit klar, rechtliche Instrumente zu konzipieren, die solche Verbrechen allein schon durch Gewährung geeigneter Fluchtmöglichkeiten verhindern sollten. Das Rückschiebungsverbot an der Grenze (und im Aufnahmeland) musste ausgeweitet und verstärkt werden! Die unmittelbare Nachkriegszeit war aber wiederum von einer völlig neuen, einzigartigen Flüchtlingssituation gekennzeichnet und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass diese Situation ebenso wie die Erfahrungen der Kriegs- und Zwischenkriegszeit die politische Grundhaltung prägte, die schließlich die GFK hervorbrachte. Etwa 12 Millionen Volksdeutsche wurden aus dem kommunistischen Herrschaftsbereich in Mittel- und Osteuropa vertrieben, über eine halbe Millionen Flüchtlinge dabei getötet.13 Hunderttausende Überlebende des nationalsozialistischen Holocaust irrten heimatlos in Europa auf der Suche nach einer menschenwürdigen Bleibe herum. Viele suchten wiederum Zuflucht in Palästina, aber erneut regte sich dagegen arabischer Widerstand. In dieser Situation bedurfte es neben ad-hocMaßnahmen, die durch das 1950 geschaffene UN-Flüchtlingskommissariat ermöglicht wurden, einer vertraglichen Regelung, die individuelle Hilfe gebieten, aber auch einen Rückfall in die Barbarei der Vorjahre verhindern sollte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war nämlich auch klar geworden, dass die ungeheuren Verbrechen

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Ibid., S. 5. So T. Einarsen, Drafting History of the 1951 Convention and the 1967 Protocol, in: A. Zimmermann (Hrsg.), The 1951 Convention, 1951, S. 45. 13 Für eine rezente, detaillierte Darstellung dieser Vorkommnisse siehe M. Levene, The Crisis of Genocide, Bd. II, OUP: Oxford 2013, S. 310. Zum Thema der Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa hat Gilbert Gornig zahlreiche Beiträge verfasst, siehe nur: Rechtliche Würdigung von Vertreibung und Enteignung – dargestellt am Schicksal der Donauschwaben Jugoslawiens, in: AWR-Bulletin 1991, Heft 2, S. 72 – 88; Völkerrechtswidrigkeit von Vertreibung und entschädigungsloser Enteignung unter besonderer Berücksichtigung der Sudetendeutschen. Aspekte der Wiedergutmachung, in: Literaturspiegel 1996, S. 1 – 25; Aspekte der Wiedergutmachung der Vertreibung, in: R. Schnürch, Roland/H. Thomas (Hrsg.), Von Prag nach Sarajewo. Vertreibung und Wiedergutmachung, Leopold StockerVerlag, Graz, Stuttgart 1996, S. 57 – 72, und Das Recht auf die Heimat. Auch ein Beitrag zu Vertreibung und Enteignung im Völkerrecht, in: IFLA Informationsdienst für Lastenausgleich, BVFG und anderes Kriegsfolgenrecht, Vermögensrückgabe und Entschädigung nach dem Einigungsvertrag 1997, Nr. 11, S. 121 – 128. 12

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des Faschismus zumindest nicht diese Dimension erreicht hätten, wenn Drittstaaten in großzügigerer Form Asyl gewährt hätten. Lange Zeit war aber strittig, ob Staaten überhaupt Asyl gewähren dürfen, ohne dabei in die Souveränität anderer Staaten einzugreifen. Dies war insbesondere so lange ein Problem, wie die Einzelperson als Eigentum ihres Heimatstaats angesehen worden ist, über welches dieser nach Gutdünken verfügen und jeden Zugriff durch andere Staaten darauf ausschließen durfte. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus 1948 hat aber jeden Zweifel ausgeräumt, dass eine solche Sichtweise in der UN-Ära nicht mehr haltbar war. Gemäß Art. 14 Abs. 1 dieser Erklärung steht es jedem frei, um Asyl nachzusuchen: „Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.“

Die Wiener Menschenrechtserklärung samt Aktionsprogramm enthält in Abs. 23 eine ähnliche Bestimmung. Damit wurde zwar noch kein Recht auf Asyl geschaffen (bzw. – angesichts der nichtverbindlichen Natur der Allgemeinen Menschenrechtserklärung – auch kein solches Recht bloß postuliert), doch steht seitdem die Zulässigkeit für den Einzelnen, ein solches Begehr zu äußern und das souveräne Recht eines jeden Staates, Asyl zu gewähren, außer Streit. Ein Staat, der Asyl gewährt, greift damit nicht in souveräne Rechte eines anderen Staates ein und es liegt nicht einmal ein unfreundlicher Akt vor. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Recht auf Asyl. Dies wurde anlässlich der Ausarbeitung der GFK auch unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, als festgehalten wurde, dass die Konvention zwar ein Recht des Staates enthalte, Asyl zu gewähren, nicht aber ein Recht des Einzelnen, Asyl zu erhalten.14 Die GFK enthält in Artikel 33 ein Rückschiebungsverbot in den Verfolgerstaat, jedoch kein Recht auf Asyl. Die Staatenpraxis hat sich nachfolgend, wie zu zeigen sein wird, als sehr großzügig erwiesen und damit ist diese grundlegende Einschränkung weitgehend in den Hintergrund getreten, doch kann kein Zweifel bestehen, dass der Staatenkonsens in dieser Frage ursprünglich ein sehr begrenzter war. Das Verbot der Rückschiebung in den Verfolgerstaat, das sog. „refoulement“-Verbot, bedeutet allein temporären Schutz vor dem Wüten despotischer, mörderischer Kräfte im Ausland, aber es ist nicht mit dauerhaften Bleiberechten verbunden. Nicht die Aufnahme im schutzgewährenden Staat und schon gar nicht die Schaffung dauerhafter Bande stehen hier im Vordergrund, sondern der Blick ist ganz auf die Situation im Verfolgerstaat gerichtet: Der Flüchtling muss vor dem sich dort zutragenden Unrecht abgeschirmt werden – wo, ist sekundär. So kann der Staat, der um Schutz ersucht worden ist, den Flüchtling auch an einen anderen Staat ausweisen, vorausgesetzt, es handelt sich um einen sog. „sicheren Drittstaat“. 14 W. Th. Worster, The Contemporary International Law Status of the Right to Receive Asylum, in: 26 International Journal of Refugee Law 2014, S. 477 – 499 (479).

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Die GFK war somit ein typisches Produkt der unmittelbaren Nachkriegszeit und die ursprüngliche Fassung dieser Konvention aus dem Jahre 1951 bringt diese Grundphilosophie auch sehr deutlich zum Ausdruck. So sollte diese nur auf Fluchtsituationen zur Anwendung kommen, die vor ihrem Inkrafttreten entstanden sind und zudem war ihr geographischer Anwendungsbereich auf Europa beschränkt. Es sollte sich somit um eine Regelung handeln, die in ihrer Wirkung temporär und geographisch beschränkt sein sollte. Keinesfalls sollte damit ein neuer Grundbaustein für ein international geltendes Flüchtlingsrecht geschaffen werden, das von Verfolgung determinierte Migrationsbewegungen steuern sollte. Es ist deutlich zu erkennen, dass diese Konvention vom Ost-West-Konflikt und von der damit geschaffenen Situation geprägt ist. Nachdem die Vertriebenenproblematik einigermaßen in den Griff gebracht worden war, waren die westeuropäischen Staaten nun mit einem besonderen Typus an Flüchtling konfrontiert: Es waren dies Individuen, die vor den kommunistischen Diktaturen in Mittel- und Osteuropa flohen, wobei die politische und die religiöse Gesinnung im Vordergrund standen, aber auch andere Faktoren hereinspielten, wie etwa die „Rasse“, die „Nationalität“ oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe. Die osteuropäischen Staaten hatten ihre Grenzen hermetisch abgeriegelt. Nach außen hin, um eine Intervention der expansionistischen kapitalistischen Staaten abzuwehren, tatsächlich aber war die Intention, Auswanderung oder Flucht aus den kommunistischen Herrschaftsgebieten zu verhindern, mindestens ebenso entscheidend für die Schaffung des „Eisernen Vorhangs“. Massenfluchtbewegungen waren auf dieser Grundlage also nicht zu erwarten, wohl aber ein kontinuierlicher Fluss von Flüchtlingen, die entschieden gegen das kommunistische Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell optierten und damit die politisch-ideologische Position des Westens durchaus stärkten.15 Diese Flüchtlinge – häufig Intellektuelle und Personen mit hoher beruflicher Qualifikation und Motivation – wurden im Westen mit offenen Armen aufgenommen. Die Definition des Flüchtlings in Art. 1 der GFK ist damit Produkt all dieser Einflüsse und Strömungen. Sie enthält einmal einen Verweis auf die Flüchtlinge, die bereits nach Maßgabe der Schutzinstrumente der Zwischenkriegszeit Schutz erfahren hatten und dann, in Absatz 2, eine allgemeine, sehr breit gehaltene Schutzbestimmung, die die Flüchtlingsproblematik erfasst, welche als Folge der Kriegsereignisse bzw. auch der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden ist: „Definition des Ausdrucks ,Flüchtling‘ A. Als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens ist anzusehen, wer … 2. sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu

15 Siehe dazu Parliament of Australia, A. Millbank, The Problem with the 1951 Refugee Convention, Research Paper 5/2000 – 01, http://www.aph.gov.au/About_Parliament/ Parliamen tary_Departments/Parliamentary_Library/pubs/rp/rp0001/01RP05.

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werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen;…“.

Es handelt sich damit um eine Definition, die auf den ersten Blick grundsätzlich von einer individuellen Notlage ausgeht, aber in der Praxis auch extensiv angewandt werden kann, so dass kollektive Verfolgungstatbestände und schließlich auch Bedrohungssituationen durch Krieg und ähnliche Gewaltereignisse darunter fallen, soweit damit ein spezifischer Verfolgungstatbestand verbunden ist.16 Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung während der Naziherrschaft würde vollumfänglich darunter fallen. Sie trägt aber auch der Flüchtlingsproblematik Rechnung, die in Gefolge des Ost-West-Konflikts (bzw. der massiven Repressionen in Osteuropa) entstanden ist. Ursprünglich war der Anwendungsbereich der Konvention zeitlich auf Ereignisse befristet, die vor dem 1. Januar 1951 eingetreten sind. Zudem konnten die Vertragsparteien zum Zeitpunkt der Unterzeichnung, Ratifikation oder des Beitritts den Anwendungsbereich auch geographisch auf Situationen einschränken, die in Europa eingetreten sind. Mit dem Protokoll vom 31. Januar 1967 sind diese Einschränkungen aufgehoben worden: Nunmehr gilt der Schutz weltweit, und zwar unabhängig davon, wann die Flüchtlingssituation entstanden ist. III. Kritik an der Genfer Flüchtlingskonvention An der GFK wird vielfältige Kritik geübt, auch da diese offenkundig nicht in der Lage ist, das moderne Flüchtlingsproblem in Europa in den Griff zu bekommen. Nachfolgend werden die wesentlichen Kritikpunkte angeführt und kurz erläutert. Da16

Vgl. dazu ausführlich V. Chetail, Armed Conflict and Forced Migration, in: A. Clapham/ P. Gaeta (eds.), The Oxford Handbook of International Law in Armed Conflict, Oxford: OUP 2014, S. 700 – 734 (722): „…even if the fear is individual by nature, such a fear might find its origin in a collective phenomenon affecting a whole group of persons indistinctively. Indeed a distinction must be drawn between the individual nature of the fear and the collective character of the persecution: the former does not exclude the latter. … The five grounds of persecution are primarily identified by reference to membership to a group of persons … They further coincide with the typical causes of most contemporary armed conflicts.“ Dies hat im Übrigen auch der US Court of Appeals bestätigt, als er in Bezug auf die Bombardierung serbischer Siedlungen in Bosnien durch kroatische Flugzeuge festhielt, dass man unterscheiden müsse, „between persons displaced by the inevitable ravages of war (e. g. the bombing of London by the German Luftwaffe during World War II), and those fleeing from hostile forces motivated by a desire to kill each and every member of that group (e. g. the destruction of the Jewish neighborhoods on the Eastern Front of Europe …, in World War II). In the first example, although the German forces intended to conquer and occupy London, they did not intend to kill every Londoner. In the latter example, the Nazi detachments did intend to kill every Jew, which made the persecution individual to each Jewish resident on an area invaded by the Nazis. The latter is persecution ,on account of‘ a protected status, while the former is not.“ Knezevic (USCA, 9th Cir. 2004), 1211 – 12, zitiert nach J. H. Hathawy/ M. Foster (Hrsg.), The Law of Refugee Status, 2014, S. 178.

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nach soll geprüft werden, ob diese Kritikpunkte tatsächlich zu einer Fundamentalkritik Anlass geben sollten. Im Einzelnen werden u. a. folgende Kritikpunkte vorgetragen:17 - Die GFK ist überholt, ebenso wie die Definition des Flüchtlings. Zutreffend ist, dass die Situation im Jahr 1951 von einer ganz anderen geopolitischen Konstellation geprägt war und dass der Ost-West-Konflikt – zumindest in Europa – eine völlig unterschiedliche Kategorie von Flüchtlingen hervorgebracht hat. Der osteuropäische Dissident, der in Westeuropa Schutz sucht, der Mauerflüchtling, der unter Einsatz seines Lebens einem menschenverachtenden Regime zu entkommen versucht, gehört – glücklicherweise – der Vergangenheit an. Andererseits hat die Praxis bei der Anwendung der GFK eine erstaunliche Flexibilität an den Tag gelegt, so dass beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe als Verfolgungstatbestand sehr extensiv ausgelegt worden ist und darunter auch der Schutz vor geschlechtlicher Diskriminierung oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einem spezifischen wirtschaftlichen oder sprachlichen Umfeldes verstanden worden ist.18 Ein Krieg als solcher eröffnet zwar noch nicht den Anwendungsbereich der GFK, doch können kriegerische Auseinandersetzungen – wie gezeigt – mit spezifischen Verfolgungstatbeständen verbunden sein, die dann wiederum unter den Definitionsbereich der GFK fallen. Zudem ist festzustellen, dass diese Kategorien oft ineinander übergehen (z. B. die rassische und die religiöse Verfolgung, die politische Gesinnung und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Kategorie), wodurch gleich mehrfach Anknüpfungspunkte an den Schutzbereich der GFK entstehen können. Die GFK bildete auch den Ausgangspunkt für weitergehende Schutzvorkehrungen auf nationaler bzw. regionaler Ebene, insbesondere im Wege des sog. „subsidiären Schutzes“. Besonders deutlich kann dies im EU-Bereich19 anhand der sog. „Qualifikations-Richtlinie“ (Richtlinie 2011/95/EU v. 13. Dezember 2011)20 gezeigt werden. Diese Richtlinie verweist in ihren Erwägungsgründen explizit auf die GFK und das New Yorker Protokoll aus dem Jahre 1967 als „wesentliche Bestandteile des internationalen Rechtsrahmens, auf dem der Schutz von Flüchtlingen beruht“.21 Gleichzeitig ergänzt sie diesen Schutz durch den sog. „subsidiären Schutz“.22 Gemäß Art. 2 lit. f) der RL 2011/95/EU haben jene Personen Anspruch auf subsidiä17 Siehe dazu Parliament of Australia, Adrienne Millbank, The Problem with the 1951 Refugee Convention, Research Paper 5/2000 – 01, http://www.aph.gov.au/About_Parliament/ Parliamentary_Departments/Parliamentary_Library/pubs/rp/rp0001/01RP05. 18 Vgl. D. Kugelmann, Refugees, in MPEPILonline ed. 2010, Abs. 11. 19 Vgl. dazu D. Thym, Kommentar zu Art. 77 – 80 AEUV, in: GHN, Das Recht der Europäischen Union, 10. Ergänzungslieferung 2010. 20 Auch Anerkennungs-RL genannt. 21 Siehe den 4. Erwägungsgrund der RL 2011/95/EU. 22 Siehe den 33. Erwägungsgrund der RL 2011/95/EU.

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ren Schutz, die Drittstaatsangehörige oder Staatenlose sind, die die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllen, die aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht haben, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland oder, bei Staatenlosen, in das Land ihres vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts, tatsächlich Gefahr liefen, einen „ernsthaften Schaden“ zu erleiden,23 und auf den Artikel 17 Abs. 1 und 2 keine Anwendung findet.24 Auf regionaler und nationaler Ebene wird das Recht des Flüchtlings, bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen den Flüchtlingsstatus zuerkannt zu erhalten, immer mehr einem Recht auf Asyl angenähert, was einzelne Autoren letzthin bewogen hat, von einem gewohnheitsrechtlich fundierten Anspruch auf Asyl zu sprechen.25 - Exil ist keine Lösung; die Flüchtlingsprobleme müssen intern geklärt werden Es ist zutreffend, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit – noch viel mehr als heute – von einem sehr starken staatlichen Souveränitätspanzer auszugehen war. Die Hintergründe von Verfolgung zu hinterfragen, war müßig. In einer politischen Realität in Europa, die von einer unmittelbaren Gefahr einer militärischen Eskalation, ja eines Atomkrieges geprägt war, wäre es völlig aussichtslos gewesen, durch direkte (politische) Interventionen die Verfolgungssituationen in Osteuropa unmittelbar zu beheben. Es war schon viel erreicht, wenn Abhilfe unmittelbar für die humanitäre Notlage gewährt werden konnte, während an der Überwindung der Ursache selbst nicht gearbeitet werden konnte. Mittlerweile hat sich diese Situation nachhaltig geändert; der Appell zur Einhaltung von Menschenrechten stellt keine unzulässige Intervention dar, was spätestens seit der Verabschiedung der Wiener Menschenrechtsdeklaration 1993 außer Streit steht.26 Es gibt mittlerweile vielfältige Interventionsmechanismen und Aufsichtsinstrumente (beispielsweise den Universal Periodic Review durch das Hochkommissariat für Menschenrechte), die vor 50 Jahren noch undenkbar gewesen wären. In 23

Dieser „ernsthafte Schaden“ ist in Art. 15 der RL definiert. Danach gilt als „ernsthafter Schaden“ „a) die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe oder b) Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung eines Antragstellers im Herkunftsland oder c) eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts“. 24 Diese Bestimmung regelt die sog. Ausschlussgründe (in Bezug auf die Gewährung „subsidiären Schutzes“), die sich auf schwere Straftaten und Gefährdungstatbestände beziehen. 25 W. Th. Worster, The Contemporary International Law Status of the Right to Receive Asylum, in: 26 International Journal of Refugee Law 4/2014, S. 477 – 499. Ob allerdings die Voraussetzungen für die Herausbildung einer solchen völkerrechtlichen Norm (insbesondere die Rechtsüberzeugung) tatsächlich gegeben sind, wird hier in Zweifel gezogen. 26 Vgl. Art. 4 2. Satz: „In the framework of these purposes and principles, the promotion and protection of all human rights is a legitimate concern of the international community.“ A/CONF.157/23 v. 12. Juli 1993.

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der „Schutzverantwortung“, der Responsibility to Protect, findet eine neue Haltung der Staatengemeinschaft in Fragen der Verhütung schwerer Menschenrechtsverletzungen ihren Ausdruck27, ebenso in der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Dennoch können sich Situationen ergeben, in welchen Exil – zumindest temporär – die sinnvollste Lösung erscheint, da die Übermacht der Despotie vom Einzelnen nicht zu bewältigen ist. - Der Schutz beginnt erst an der Grenze bzw. im Aufenthaltsstaat, während es weit sinnvoller wäre, viel früher anzusetzen. Das ist zutreffend, aber nicht immer realisierbar. Gerade in der gegenwärtigen Flüchtlingssituation in Europa werden konkrete Überlegungen angestellt, einen solchen Schutz vorzuverlegen auf die Herkunftsländer der Flüchtlinge. Dabei zeigt die politische Praxis aber auch, wie schwer es ist, einen solchen Ansatz umzusetzen, da nachhaltigere Interventionen – ohne das schwer zu erlangende Mandat des Sicherheitsrats – sehr rasch in die Nähe einer Souveränitätsverletzung gelangen. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass es besser wäre, Verfolgungstatbestände in ihrem Ursprung zu beheben, aber ob es Sinn machen würde, ein solches Instrumentarium in einer neuen Flüchtlingskonvention zu verankern, ist eine andere Frage, die wohl abschlägig beurteilt werden muss. Zutreffend ist, dass verstärkte Bemühungen für eine „Migrationssteuerung“ unternommen werden müssten.28 Der EGMR hat mittlerweile den Schutz der GFK über die Grenzen der Vertragsstaaten hinaus auf die Hohe See erstreckt und Massenabweisungen im Mittelmeer ohne eine sachgerechte Prüfung von Asylanträgen als konventionswidrig bezeichnet.29 - Die GFK sieht keinen Verteilungsmechanismus vor. Sie fordert keine Solidarität zwischen den Aufnahmestaaten und sie überfordert Europa. Auch diese Kritik ist berechtigt, darf aber wiederum nicht dazu führen, dass die Sinnhaftigkeit der GFK als solche in Frage gestellt wird. Die Schaffung von Verteilungsquoten im Geiste der Solidarität wäre 1951 kaum denkbar gewesen. Sie wird gegenwärtig gefordert, aber sie ist – wie gerade das Beispiel der EU, also eines hochintegrierten Staatenverbundes mit explizitem Bekenntnis zur Solidarität zeigt – nur schwer umzusetzen. Solidarität ist ein Gebot der Stunde, aber die Schwierigkeiten

27 P. Hilpold (Hrsg.), The Responsibility to Protect, Brill/Martinus Nijhoff: Leiden/Boston 2015. 28 Vgl. dazu D. Thym, Steuerung der Migration im öffentlichen Interesse, in: G. Jochum et al. (Hrsg.), Festschrift für K. Hailbronner, C. F. Müller: Heidelberg 2013, S. 245 – 262, sowie J. Bast, Aufenthaltsrecht und Migrationssteuerung, Tübingen: Mohr/Siebeck 2012. 29 Hirse Jamaa u. a. gegen Italien, EGMR, Urteil v. 23. 02. 2012 (Große Kammer), Nr. 39473/98. Vgl. M. den Heijer, Reflections on Refoulement and Collective Expulsion in the Hirsi Case, in: 25 International Journal of Refugee Law 2/2013, S. 265 – 290.

Die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 – Reformbedarf?

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bei der Umsetzung dieses Postulats sollten nicht dazu führen, dass die GFK als Ganze in Frage gestellt wird.30 - Die GFK unterscheidet zu restriktiv zwischen politischen Flüchtlingen (also „echten“ Flüchtlingen) und Wirtschaftsflüchtlingen (also Personen, die missbräuchlich den Schutz der GFK in Anspruch nehmen wollen). Grundsätzlich ist an dieser Unterscheidung wohl festzuhalten, aber dennoch zeigt die Praxis bei der Anwendung der GFK, dass diese Tatbestände ineinander übergehen können. Typische Verfolgungstatbestände laut GFK sind häufig auch mit wirtschaftlichen Notlagen, oft extremer, existentieller Natur, verbunden. IV. Schlussfolgerungen Zusammenfassend kann also festgehalten werden, dass die vorgetragenen Kritikpunkte durchaus ernst zu nehmen sind, allerdings nicht als Fundamentalkritik an der GFK, sondern als Aufforderung, an einer Verbesserung bzw. an einer Ergänzung dieses Instruments zu arbeiten. Es sollte geprüft werden, welches zusätzliche Interventionspotenzial die Schutzverantwortung (R2P) schafft, wie der internationale Menschenrechtsschutz erweitert und vertieft werden kann, wie das Prinzip der Solidarität eine wirksamere Umsetzung erfahren kann, und zwar nicht nur EU-weit, sondern international. Die Ursachen der Massenfluchtbewegungen der Gegenwart sind völlig andere als jene der vergleichsweise kleinen Flüchtlingsströme in der Zeit des Kalten Krieges. Ebenso wie die Bewältigung des Kalten Krieges eines ganz besonderen Instrumentariums bedurfte, das heute im Museum der Völkerrechtspolitik steht, sind nun spezifische Instrumente zur Bewältigung der Konflikte in Nordafrika und im Nahen Osten erforderlich. Nach wie vor gilt allerdings, dass das unmittelbare humanitäre Problem, das durch Fluchtbewegung welchen Ursprungs auch immer geschaffen wird, über die GFK sehr gut angegangen werden kann. Vielleicht nicht in optimaler Form, aber es steht uns gegenwärtig kein besseres Instrument zur Verfügung. Die eigentliche Nagelprobe ist aber jene der Solidarität. Wenn Europa in dieser Frage allein gelassen wird, droht der Zusammenbruch historischer Errungenschaften im Menschenrechtsschutz. Die Lehren aus der Zwischenkriegszeit sollten diesbezüglich Mahnung genug sein!

30 Zum Thema der Solidarität im Flüchtlingsrecht vgl. P. Hilpold, Understanding Solidarity within EU Law: An Analysis of the ,Islands of Solidarity‘ with Particular Regard to Monetary Union, 34 Yearbook of European Law 2015, S. 257 – 285. Grundlegend zum Solidaritätskonzept aus rechtsphilosophischer Sicht J. Isensee, Sozialethische Substanz eines Blankettbegriffs, in: ders. (Hrsg.), Solidarität in Knappheit – Zum Problem der Priorität, Duncker & Humblot: Berlin 1998, S. 97 ff.

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* Abstract Peter Hilpold: Geneva Convention on Refugees 1951 – a Need to Reform in the Light of the Refugee Crisis? (Die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 – Reformbedarf angesichts der Flüchtlingskrise?), in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 105 – 116. At the moment Europe is confronted with an unprecedented influx of asylum seekers. It has become apparent that the existing international instruments created to deal with this problem are no longer suited to give satisfactory answers to this challenge. In fact, the Geneva Convention of 1951 was drafted at a time when the refugee problem had a completely different nature. The Cold War made sure that larger migratory movements were no longer possible. Now the situation has thoroughly changed and as a result voices are becoming stronger that demand for a complete overhaul of the Asylum Convention. It is suggested here that such an approach would be inappropriate. The Geneva Convention has demonstrated to be a very flexible instrument adapting smoothly to new challenges. On the other hand it is also true that Europe can no longer handle such an enormous migratory influx in a satisfactory way. It is suggested here that a solution for this problem shall not be searched within in Europe but outside, at the places where the refugee problem originates. To this end, Europe has to conceive an appropriate foreign policy strategy thereby demanding also international solidarity. It is often bemoaned that Europe lacks solidarity but in this case a plea for universal solidarity has to be made.

Europäisches Flüchtlingsrecht. Bemühungen im Rahmen der europäischen Verträge, die Flüchtlingsproblematik zu bewältigen Von Jurgita Baur I. Einleitung Jeden Tag erreichen uns in den Medien Dutzende von Nachrichten über Flüchtlinge. Dabei lässt sich weder erkennen, wie viele Menschen jeden Tag in Europa ankommen, noch wer diese Menschen sind, woher sie kommen und wie viele von Ihnen ein Bleiberecht und ein Recht auf Asyl besitzen. Das Thema „Flüchtlingskrise“ ist derzeit ein sehr Brisantes, welches auf einer sehr emotionalen Ebene diskutiert wird. Hierzu tragen nicht nur die Medien, sondern auch die Politik bei. Es fängt bereits damit an, dass nicht unterschieden wird, wer tatsächlich ein Flüchtling ist und wer als Wirtschaftsmigrant in das Land kommt. Dies sorgt für große Verwirrung. Es ist daher dringend notwendig zu klären, was einen „Flüchtling“ von einem „Migranten“ unterscheidet. Weiterhin muss die Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik analysiert und die Gründe für diese Völkerwanderung aufgedeckt werden. Warum verlassen also plötzlich so viele Menschen ihre Heimat? Eine große Anzahl flieht vor einigen der furchtbarsten humanitären Krisen unserer Zeit. In Syrien herrscht ein blutiger Bürgerkrieg unter Beteiligung der Terrormiliz des „Islamischen Staates“ (IS). Auch in Afrika treiben neben Hunger, Dürren und chaotischen Verhältnissen, islamistische Terrorgruppierungen wie die nigerianische Boko Haram die Menschen massenhaft zur Flucht.1 Dabei handelt es sich aber bei Weiten nicht um alle Gründe, warum gerade jetzt so viele Menschen nach Europa kommen. Der Bürgerkrieg in Syrien dauert bereits seit 2011 an, die bewaffneten Konflikte in Afghanistan gar seit Jahrzehnten und im Kosovo wird seit 15 Jahren nicht mehr gekämpft. Bei der Masse an Menschen muss es also noch weitere Gründe geben, warum viele den langen und teilweise gefährlichen Weg nach Europa auf sich nehmen. Verfolgt man in der Politik getätigte Aussagen, ist es nicht weit hergeholt zu schlussfolgern, dass das Versprechen, im behüteten Europa ein schöneres Leben führen zu können, große Hoffnungen weckt. Die neuesten Ereignisse sowie die bestehenden Uneinigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten der EU stellen die Europäische Union vor große Herausforderungen. Die 1 1000 Euro für die Fahrt in den Tod, in: http://www.handelsblatt.com/politik/international/ fluechtlinge-im-mittelmeer-das-schmutzige-geschaeft/11660510 - 3.html, vom 17. 06. 2015.

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jüngsten Geschehnisse decken die Schwachstellen des momentan herrschenden Dublin-Systems auf. II. Begriffsbestimmungen 1. Flüchtling Durch den am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon wurden einige weitreichende Änderungen im Rahmen der Asyl- und Flüchtlingspolitik vorgenommen. Eine Definition des Begriffes „Flüchtling“ sucht man in den Verträgen vergebens. Die Asyl-Qualifikations-Richtlinie 2011/95/EU (Neufassung) ist als Ausgestaltung der Flüchtlingseigenschaft gedacht.2 Demnach ist ein „Flüchtling“ ein Drittstaatsangehöriger, der sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Daneben kann oder will er aus Furcht den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen. Weiterhin fällt unter die Definition ein Staatenloser, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet. Art. 12 der Richtlinie enthält die Bestimmungen darüber, wann die Anerkennung als Flüchtling für einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen ausgeschlossen ist. Das Basisdokument für den Begriff des Flüchtlings ist die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK). Auf deren Definition des Flüchtlings wurde auch die Asyl-Qualifikations-Richtlinie gestützt. Die Konvention richtet sich nur an bestimmte Individuen, die spezielle Merkmale aufweisen. Art. 1 A Nr. 2 der Konvention definiert den Begriff „Flüchtling“. Demnach gilt eine Person als Flüchtling, wenn sie sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt. Die Verfolgungsgründe werden durch die Merkmale Rasse, Religion, Nationalität und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe konkretisiert. Der Vergleich zwischen Konvention und Richtlinie macht deutlich, dass die Asyl-Qualifikations-Richtlinie auf die Flüchtlingskonvention gestützt ist. Laut dem Wortlaut der Asyl-Qualifikations-Richtlinie sowie der Genfer Flüchtlingskonvention werden an erster Stelle politisch verfolgte Personen geschützt. Heute wird der Flüchtlingsbegriff vor allem in den Medien in einem anderen Sinn verwendet. Danach bezeichnet er nicht nur die Personen, die aus Furcht vor Verfolgung aufgrund Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe fliehen, sondern auch diejenigen, die aufgrund von Hungersnöten, Naturkatastrophen und Bürgerkriegen die Flucht ergreifen. Dieser erweiterte Personenkreis fällt „zahlenmäßig ungleich stärker ins Gewicht als die individuellen, ver2 D. Thym, in: E. Grabitz/M. Hilf/M. Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, EUV/AEUV Kommentar, 60. Aufl. 2016, Art. 78 AEUV, Rn. 24.

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folgungsbedingten Fluchtschicksale einzelner Menschen“.3 Dabei ist zu beachten, dass dies lediglich eine umgangssprachliche Definition von Flüchtlingen darstellt. Die enge juristische Auslegung des Wortes „Flüchtling“ findet sich in der Genfer Konvention bzw. der Asyl-Qualifikations-Richtlinie. Somit sind viele Flüchtlinge, die jetzt nach Europa kommen, keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der Asyl-Qualifikations-Richtlinie. Die Komplexität und die Schwierigkeit für die Mitgliedstaaten der EU liegen darin einheitlich festzustellen, wer tatsächlich berechtigt ist, Asyl zu erhalten. 2. Asyl a) Begriff Das Wort „Asyl“ stammt von dem griechischen Wort Asylos ab, welches Zufluchtsstätte bedeutet. Hierunter war kein Territorium eines anderen Staates zu verstehen, sondern ein Ort, der unter der Herrschaft der Götter steht.4 Heute stellt Asyl keinen Ort mehr dar, sondern einen rechtlichen Status.5 Demjenigen, der Zuflucht sucht, wird ein sicheres Aufenthaltsrecht eingeräumt. Darüber hinaus werden Verfolgten weitere Rechte eingeräumt, wie beispielsweise verschiedene Sozialrechte oder das Recht erwerbstätig zu werden.6 Zu beachten ist jedoch, dass Asyl kein subjektives Recht auf Aufnahme in das Zufluchtsland darstellt. Ein subjektives, also einklagbares Recht auf Asyl praktiziert im Grunde genommen nur Deutschland, was dem Völkerrecht allerdings nicht entspricht, dem aber auch nicht widerspricht. Jedoch wird nicht jedem Zufluchtssuchenden Asyl gewährt. Die Grundlage für die Asylgewährung bildet die Definition des Flüchtlings nach der Genfer Konvention oder der Asyl-Qualifikations-Richtlinie. Der Kreis der Asylberechtigten wird in den Mitgliedstaaten der EU, die alle Vertragspartner der Genfer Flüchtlingskonvention sind, in enger Anlehnung an die Konvention bestimmt.7 3 M. Wolter, Auf dem Weg zu einem gemeinschaftlichen Asylrecht in der Europäischen Union, 1999, S. 28; vgl. ferner K. Hailbronner, Der Flüchtlingsbegriff der Genfer Flüchtlingskonvention und die Rechtsstellung von De-facto-Flüchtlingen, in: ZAR 1993, S. 3 (4). 4 P. Tiedemann, Flüchtlingsrecht. Die materiellen und verfahrensrechtlichen Grundlagen, 2014, S. 1, Rn. 1; B. Gerber, Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union: unter besonderer Berücksichtigung der Richtlinie zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, 2004, S. 31. 5 P. Tiedemann (Anm. 4), Flüchtlingsrecht, Rn. 3; B. Gerber (Anm. 4), Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union, S. 31. 6 G. Gornig, Das „non-refoulement“-Prinzip, ein Menschenrecht „in statu nascendi“, in: EuGRZ 1986, S. 521 (527). 7 B. Gerber (Anm. 4), Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union, S. 33; M. Wolter (Anm. 3), Auf dem Weg zu einem gemeinschaftlichen Asylrecht in der Europäischen Union, S. 25.

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Es wird im Rahmen des völkerrechtlichen Asyls zwischen dem diplomatischen und dem territorialen Asyl unterschieden. Grundsätzlich wird Asyl nur als territoriales Asyl gewährt.8 Es liegt vor, wenn ein Staat auf seinem Staatsgebiet Fremden Schutz vor Verfolgung durch einen anderen Staat gewährt. Das diplomatische Asyl wird einem Flüchtling innerhalb einer Botschaft gewährt.9 Der Flüchtling verlässt in diesem Fall nicht das Staatsgebiet, d. h. er betritt kein exterritoriales bzw. fremdes Staatsgebiet. Das diplomatische Asyl wird von den meisten Staaten als völkerrechtswidrig betrachtet, weil es sich um einen Eingriff in die Souveränität eines fremden Staates handelt.10 Dennoch liegen einige prominente Fälle vor, in denen ein diplomatisches Asyl gewährt wurde, wie der neueste und bekannteste Fall des Enthüllungsjournalisten Julian Assange. Die humanitäre Aufnahme von Flüchtlingen ist vom diplomatischen und territorialen Asyl abzugrenzen. Die Aufnahme stellt eine zeitlich begrenzte Maßnahme von schutzbedürftigen Personen aus Kriegs- bzw. Krisengebieten dar. Im Gegensatz zu Flüchtlingen, die eigenständig nach Deutschland kommen, hier Asyl beantragen und unter die Notversorgung des Asylbewerberleistungsgesetzes fallen, haben die über das humanitäre Aufnahmeprogramm Deutschlands aufgenommenen Syrer gemäß der Aufnahmeanordnung des Bundesinnenministeriums ein Anrecht auf Sozialleistungen. Allerdings sind sie bei ihrer Ankunft in der Kommune lediglich mit einem Visum ausgestattet. Ein Visum befähigt aber nicht zum Leistungsbezug. Deshalb müssen sie zuerst einen entsprechenden Antrag stellen. Die humanitäre Aufnahme erfolgt nur solange die Unruhen, bürgerkriegsähnliche Szenarien, instabile politische Verhältnisse bzw. eine nicht-intakte Staatsgewalt in Kriegs- bzw. Krisengebieten vorliegen und andauern. b) Gewährung von Asyl Primär ist zu untersuchen, wie die völkerrechtliche Definition des Flüchtlings in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der Asyl-Qualifikations-Richtlinie mit der Asylgewährung in den Mitgliedstaaten der EU zusammenhängt. Darüber hinaus muss geklärt werden, wie diejenigen behandelt werden, die zwar „Flüchtlinge“ sind, aber nicht die Tatbestandsmerkmale der Konvention und der Richtlinie erfüllen.11

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B. Gerber (Anm. 4), Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union, S. 31. I. Klepper, Diplomatisches Asyl. Zulässigkeit und Grenzen, 2009, S. 8. 10 P. Tiedemann (Anm. 4), Flüchtlingsrecht, S. 33, Rn. 28; IGH, Urteil v. 20. 11. 1950 „Kolumbien gegen Peru“, http://www.icj-cij.org/docket/files/7/1849.pdf, zuletzt gesehen: 01. 07. 2015. 11 B. Gerber (Anm. 4), Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union, S. 33. 9

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Das Asylrecht ist das Recht der Gewährung des Schutzes der Individuen, die vor einer bestimmten Art von Verfolgung fliehen.12 Gemäß Art. 9 der Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011) muss eine Handlung, um als Verfolgung im Sinne des Artikels 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention zu gelten, aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt. Der Schweregrad wird auf Grundlage von Art oder Wiederholung der betreffenden Handlung bestimmt. Die Art der Handlung ist ein qualitatives Kriterium, die Wiederholung einer Handlung stellt dagegen eine quantitative Dimension dar. Handlungen, die eine Bedrohung für das Leben oder die physische Freiheit darstellen, sind daher ihrer Natur nach schwere Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte. Auch die Verletzung eines unveräußerlichen Rechts nach der EMRK erfüllt den Verfolgungstatbestand. Als Verfolgung können die unterschiedlichsten Handlungen gelten. Dies umfasst die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, und Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Art. 9 Abs. 1 lit. a) spricht von der Verletzung grundlegender Menschenrechte. Dies sind gemäß der Europäischen Menschenrechtkonvention das Recht auf Leben, Freiheit von Folter, der Sklaverei und der Zwangsarbeit, rückwirkende Strafbarkeiten. Diese Erwähnung ist nicht abschließend, wie das Wort „insbesondere“ in Art. 9 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie zeigt. Auch andere als unveräußerliche Rechte können grundlegende Menschenrechte im Sinne dieser Bestimmung darstellen.13 Außerdem sind Verfolgungshandlungen in Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie aufgelistet, wie beispielsweise diskriminierende rechtliche oder administrative Maßnahmen. Hingegen liegt keine Verfolgung bei Nachteilen vor, die jemand auf Grund der allgemeinen Zustände zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen.14 Die Lebensgefahr, die etwa vom „Islamischen Staat“ in Syrien für Shiiten, Jesiden, 12 M. Wolter (Anm. 3), Auf dem Weg zu einem gemeinschaftlichen Asylrecht in der Europäischen Union, S. 30. 13 K. Hailbronner/S. Alt, in: K. Hailbronner (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law – Commentary on EU Regulations and Directives, 2010, Art. 9 der Richtlinie 2004/83, S. 985 (1070), Rn. 26. 14 BVerfGE 80, 315 (335); vgl. B. Gerber (Anm. 4), Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union, S. 33.

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Christen oder nicht religiöse Menschen ausgeht, ist Ursache des dortigen Bürgerkriegs. Aus der völkerrechtlichen und europarechtlichen Sicht liegt damit grundsätzlich kein Asylgrund vor. Somit kann lediglich über einen subsidiären Schutz nachgedacht werden. Zu beachten ist außerdem, dass für die Gewährung von Asyl auch die Dublin-IIIVerordnung in allen Mitgliedstaaten uneingeschränkt angewendet werden muss. Das sogenannte Dublin-Verfahren regelt unter anderem, dass Asylbewerber in dem Land registriert werden, in dem sie die Europäische Union betreten. Ein Asylbewerber muss also in dem EU-Mitgliedstaat seinen Asylantrag stellen, in dem er den EURaum erstmals betritt. Dies hat zur Folge, dass sich diejenigen, die aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union einreisen, dem Grunde nach nicht auf das Asylgrundrecht berufen können. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten als sichere Staaten. Auch alle anderen Staaten, in denen die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention sichergestellt ist, können als sichere Staaten bestimmt werden. Für alle Flüchtlinge die also nicht per Flugzeug oder mit dem Schiff über Nord- oder Ostsee nach Deutschland einreisen, gibt es strenggenommen keine rechtliche Grundlage für einen Asylanspruch. Die Dublin-III-Verordnung wird vor allem von Deutschland nicht eingehalten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entschied auf Rücküberstellungen von syrischen Asylbewerbern in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Regelfall zu verzichten. Viele Flüchtlinge, die bereits in einem anderen Dublin-Unterzeichnerstaat ankamen, wurden ungehindert nach Deutschland weiterbefördert. Dies führte zum Chaos in den EU-Mitgliedstaaten und vor allem in Deutschland. So wird von einer Solidarität von Deutschland gegenüber den anderen Mitgliedstaaten in der Bewältigung der Flüchtlingskrise gesprochen. Dabei stellt sich die Frage, ob sich Deutschland nicht unsolidarisch verhalten hat, indem es die gemeinsam aufgestellten EU-Regeln verletzte. Die Uneinigkeit in den Mitgliedstaaten und das Fehlen an pragmatischen und politischen Entscheidungen stellen die europäische und die nationale Flüchtlings- und Asylpolitik vor große Herausforderungen. III. Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik 1. Die Entwicklung der Asyl- und Flüchtlingspolitik bis zum Vertrag von Lissabon Um die derzeitige Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik zu verstehen, werfen wir einen Blick auf die Entstehungsgeschichte dieses Politikbereichs. Bis Mitte der achtziger Jahre kann von keiner konkreten ausgearbeiteten Europäischen Asylpolitik gesprochen werden.15 Dies änderte sich, als die Flüchtlingszahlen 15

B. Gerber (Anm. 4), Die Asylrechtsharmonisierung in der Europäischen Union, S. 37.

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in den Mitgliedstaaten der EU stark anwuchsen und die Mitgliedstaaten mit den wirtschaftlichen, sozialen und finanziellen Problemen konfrontiert wurden.16 Im Jahr 1990 wurden das Übereinkommen von Dublin (DÜ) und das SchengenDurchführungsabkommen (SDÜ) im Rahmen der intergouvernementalen Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten geschlossen.17 Eine materielle Harmonisierung des europäischen Asylrechts wurde zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vorgenommen.18 Allerdings haben die Mitgliedsstaaten nach der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen im Schengen-Raum die Notwendigkeit eines koordinierten Vorgehens im Bereich der Asylpolitik erkannt.19 Mit dem Vertrag von Amsterdam, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat, wurde ein neuer Titel IV zur Asyl- und Einwanderungspolitik geschaffen.20 Diese „Vergemeinschaftung der Asylpolitik“21 geschah vor dem Hintergrund, dass das damalig bestehende Dublin-System, die Problematik des Asylrechts in Europa nicht effektiv bewältigen und lösen konnte.22 Es wurde auch eine Grundlage für die sog. „DublinII-Verordnung“ geschaffen. 2. Entwicklungen der Asyl- und Flüchtlingspolitik nach dem Vertrag von Lissabon a) Grundlagen Mit dem Vertrag von Lissabon 2009 wurden die Bestimmungen über Grenzkontrollen, Visa und Einwanderung erweitert. Gemäß Art. 3 Abs. 2 EUV bietet die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen –, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität und der freie Personenverkehr gewährleistet sind.

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Ebd. Vgl. M. Funke-Kaiser, in: J. Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 5. Aufl. 2015, S. 74. 18 S. Progin-Theuerkauf, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Kommentar, 7. Aufl. 2015, Art. 78 AEUV, Rn. 1. 19 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 3. 20 S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 3. 21 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 2. 22 Vgl. D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 1; ebenso: M. Funke-Kaiser (Anm. 17), in: J. Bergmann, Handlexikon der Europäischen Union, S. 74. 17

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Mit Art. 78 AEUV wurde eine zentrale Norm des Primärrechts für die Gemeinsame Europäische Politik hergestellt.23 Hierdurch wird eine umfangreiche Vollharmonisierung im Asylrecht möglich.24 Es wurden die Dublin-III-Verordnung, die Eurodac-Verordnung, eine neue Aufnahmerichtlinie, eine neue Verfahrensrichtlinie sowie die Neufassung der Qualifikationsrichtlinie verabschiedet.25 b) Art. 78 AEUV aa) Allgemeines Die Europäische Union erhält durch die Kompetenznorm des Art. 78 AEUV eine umfassende Zuständigkeit zur Harmonisierung des Asylverfahrens sowie zur Schaffung eines gemeinsamen Asylstatus.26 Somit wird der Aufbau eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorangetrieben. Der Anwendungsbereich des Art. 78 AEUV umfasst laut Wortlaut nur den Kreis der Drittstaatsangehörigen und der Staatenlosen.27 Art. 78 AEUV gewährt kein subjektives Recht auf Asyl, da es sich hierbei um eine reine Kompetenznorm handelt.28 bb) Rechtlicher Inhalt der Regelung Gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV betreibt die Union eine gemeinsame Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz. Für jeden schutzbedürftigen Drittstaatsangehörigen soll ein angemessener Status angeboten werden.29 Diese Politik muss unter anderem mit der Genfer Flüchtlingskonvention im Einklang stehen. Es ist ferner zu beachten, dass sich die Maßnahmen der Union im Asylbereich lediglich auf die Drittstaatsangehörigen beschränkt. Staatsangehörige der Union bzw. Unionsbürger haben kein Recht auf Asyl oder Anspruch auf subsidiären

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M. Keller, in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EU-Recht. Die EU als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Freizügigkeit der Unionsbürger – Asyl und Einwanderung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Europäisches Strafund Strafprozessrecht, 2014, Kap. 3, Rn. 141; S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 8. 24 S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 8. 25 Vgl. S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 12 ff. 26 St. Breitenmoser/R. Weyeneth, in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Vor Art.67 – 76 AEUV, Rn. 25. 27 M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 143. 28 M. Rossi, in: Chr. Calliess/M. Ruffert, EUV/AEUV, Kommentar, 5. Aufl. 2016, Art. 78 AEUV, Rn. 3. 29 M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 144.

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Schutz.30 Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gelten alle im Verhältnis zueinander als sichere Herkunftsländer.31 Gemäß Art. 78 Abs. 2 AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem. Diese umfassen den Aufbau eines in der ganzen Union gültigen einheitlichen Asylstatus für Drittstaatangehörige (lit. a), eines einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatangehörige, die keinen europäischen Asylstatus erhalten, aber internationalen Schutz benötigen (lit. b), eine gemeinsame Regelung für den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen im Falle eines Massenzustroms (lit. c), gemeinsame Verfahren für die Gewährung und den Entzug des einheitlichen Asylstatus bzw. subsidiären Schutzstatus (lit. d), Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz zuständig ist (lit. e), Normen über die Aufnahmebedingungen von Personen, die Asyl oder subsidiären Schutz beantragen (lit. f) zu schaffen sowie die Partnerschaft und Zusammenarbeit mit Drittländern zur Steuerung des Zustroms von Personen, die Asyl oder subsidiären bzw. vorübergehenden Schutz beantragen (lit. g). (1) Einheitlicher Asylstatus Durch Art. 78 Abs. 2 lit. a AEUV wird eine umfassende Rechtsharmonisierung im Bereich des materiellen Flüchtlingsrechts ermöglicht.32 Sowohl Systematik als auch die Entstehungsgeschichte sprechen für eine weitgehende Deckungsgleichheit des EU-Asylstatus mit dem Flüchtlingsbegriff der Genfer Konvention.33 Der Asylstatus für politisch verfolgte Drittstaatsangehörige ist demzufolge auf die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention gestützt. Ferner umschließt Art. 78 Abs. 2 lit. a AEUV die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Statusrechte nach einer Anerkennung.34 Diese Regelung des Art. 78 Abs. 2 lit. a) ist auch in der Qualifikationsrichtlinie RL 2011/95/EU vom Dezember 2011 zu finden. Ziel der Richtlinie ist es, die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen

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S. Progin-Theurkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 15 f. 31 M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 143; ebenso: S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 15 f. 32 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 22. 33 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 23 f.; vgl. M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EU-Recht, Rn. 150 ff. 34 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 25 f.

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einheitlichen Status von Flüchtlingen sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen. (2) Einheitlicher subsidiärer Schutz Es kann zu der Situation kommen, dass viele auf internationalen Schutz angewiesene Menschen nicht die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der Qualifikationsrichtlinie erfüllen.35 Aus diesem Grund wurde in Art. 78 Abs. 2 lit. b AEUV ein „subsidiärer Schutzstatus“ geschaffen. Personen, die nicht die Voraussetzungen der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllen und somit keine politisch Verfolgten sind, werden von Art. 78 Abs. 2 lit. b AEUV erfasst. Betroffen sind Fluchtsituationen aufgrund eines weiten Verständnisses von „unfreiwilliger Migration“, währenddessen die „freiwillige Migration“ (Wirtschaftsmigration) nicht von Art. 78 Abs. 2 lit. b AEUV erfasst wird.36 Die maßgeblichen sekundärrechtlichen Normen finden sich in der Qualifikationsrichtlinie wieder. In Art. 15 QRL II sind die drei Schutzgründe geregelt. Der subsidiäre Schutzstatus wird bei Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, bei Folter oder unmenschlicher, erniedrigender Behandlung eines Antragstellers im Herkunftsland sowie einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen bzw. innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gewährt. Die Voraussetzungen für das Vorliegen einer ernsthaften Bedrohung nennt die Richtlinie nicht weiter. Jedoch muss der Antragsteller nicht beweisen, dass er aufgrund spezifischer persönlicher Umstände akut betroffen ist, um das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung zu bejahen.37 Es reicht aus, wenn allein auf Grund der Anwesenheit in der betreffenden Region eine tatsächliche Gefahr besteht, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt zu sein.38 Art. 16 der Richtlinie sieht die Voraussetzungen für das Erlöschen des subsidiären Schutzes vor. Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser hat keinen Anspruch auf subsidiären Schutz mehr, wenn die Umstände, die zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes geführt haben, nicht mehr bestehen oder sich in einem Maße verändert haben, dass ein solcher Schutz nicht mehr erforderlich ist. Die Mitgliedstaaten müssen bewerten, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, dass die Person, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, tatsächlich nicht länger Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Gemäß Art. 17 der 35 M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 185. 36 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 29. 37 EuGH, Rs. C-465/07 (Elgafaji/ Staatssecretaris van Justitie), Urteil vom 17. 02. 2009, Slg. 2009, I-921, Rn. 43. 38 R. Bank, Das Elgafaji-Urteil des EuGH und seine Bedeutung für den Schutz von Personen, die vor bewaffneten Konflikten fliehen, in: NVwZ 2009, S. 695 (697).

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Richtlinie ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, eine schwere Straftat begangen hat, sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bzw. für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. (3) Vorübergehender Schutz Art. 78 Abs. 2 lit. c AEUV regelt den Erlass von Maßnahmen für den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen im Falle eines Massenzustroms. Hintergrund für die Schaffung dieses Schutzinstruments war die große Zahl von Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien Anfang der 90er Jahre.39 Dies führte zum Erlass einer Richtlinie (RL 2001/55) über die Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Flüchtlingen. In Art. 2 der Richtlinie ist das Wort „Massenzustrom“ näher definiert. Ein Massenzustrom ist ein Zustrom einer großer Zahl Vertriebener, die aus einem bestimmten Land oder einem bestimmten Gebiet kommen, unabhängig davon, ob der Zustrom in die Gemeinschaft spontan erfolgte oder beispielsweise durch ein Evakuierungsprogramm unterstützt wurde.40 Die Entscheidung, ob die Voraussetzungen eines Massenzustroms vorliegen, obliegt dem Rat gemäß Art. 5 I 1 RL 2001/55/EG.41 Bisher wurde diese Richtlinie noch nie angewendet.42 Beachtenswert ist, dass die Richtlinie sog. „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht erfasst. In Art. 78 Abs. 2 lit. c AEUV, welcher ausdrücklich von Vertriebenen spricht, werden nur die Sonderformen der „unfreiwilligen“ Migration abgedeckt.43 Im Rahmen des vorübergehenden Schutzes gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. c AEUV wird im Gegensatz zum Asylstatus und des subsidiären Schutzes die Schutzberechtigung nicht konkret-individuell, sondern abstrakt-generell geprüft.44 Der vorübergehende Schutz sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten ein Kontingent der betroffenen Personen aufnehmen und ihnen für die Dauer von maximal drei Jahren einen Aufent-

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M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 193. 40 A. Weber, Menschenrechtlicher Schutz von Bootsflüchtlingen. Bedeutung des Straßburger Hirsi-Jamaa-Urteils für den Flüchtlingsschutz, in: ZAR 2012, S. 265 (269). 41 M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 193. 42 S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 19 f. 43 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 33. 44 Ebd., Rn. 32.

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haltstitel ausstellen.45 Es wird also nur ein vorübergehender Schutz vor beispielsweise bewaffneten Konflikten oder systemischen Menschenrechtsverletzungen gewährt, welcher allerdings nicht zur Anerkennung als Flüchtling oder zu einem subsidiären Schutzstatus führt. Dennoch ist es jederzeit möglich, dass Personen die vorübergehenden Schutz genießen, Zugang zu einem Asylverfahren erhalten und einen Antrag auf Asyl stellen können.46 Im Zusammenhang mit der derzeitigen „Flüchtlingskrise“ ist folglich zu überlegen, ob man den Flüchtlingen aus Staaten, wo ein Bürgerkrieg besteht oder Terror herrscht, einen solchen Schutz gewährt, wobei die Schutzberechtigung nicht konkret-individuell, sondern abstrakt-generell geprüft wird. Dies würde dabei helfen, die Problematik zu bewältigen und die Migrationsbehörden zu entlasten. Somit könnten Asylanträge schneller entschieden und diejenigen abgeschoben werden, die kein Bleiberecht besitzen. Bei der Gewährung der Schutzberechtigung, ist allerdings auch die höchste Priorität, die Sicherheit der EU-Mitgliedstaaten nicht zu beeinträchtigen. Die Behörden müssten auch bei der abstrakt-generellen Prüfung der Schutzgewährung in der Lage und verpflichtet sein die Identität der Flüchtlinge zu überprüfen. (4) Verfahrensvorschriften gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. d AEUV Gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. d AEUV können Maßnahmen veranlasst werden, welche die gemeinsamen Verfahren zur Gewährung und den Entzug des einheitlichen Asylstatus beziehungsweise des subsidiären Schutzes umfassen. Der Wortlaut der Regelung „gemeinsames Verfahren“ gibt jedoch zu verstehen, dass hinsichtlich des Verfahrens keine Vollharmonisierung angestrebt wird, wie sie für den „einheitlichen“ Schutzstatus der Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigten vorgesehen ist.47 Das gemeinsame Verfahren wird derzeit durch die neue Verfahrensrichtlinie, RL 2013/32 geregelt. Diese Richtlinie normiert die Anforderungen für die Mitgliedsstaaten zur Anerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes. Das gemeinsame Verfahren für die Gewährung und den Entzug des einheitlichen Asylstatus bzw. des subsidiären Status sieht Regelungen zur Asylantragstellung und Verfahrensdauer, der Antragsprüfung, den Verfahrensgarantien, der Rechtsberatung und -vertretung, dem beschleunigten Verfahren, dem Bleiberecht während eines solchen Verfahrens und die erleichterte Ablehnung, vor.48 Durch die Neufassung wird dem Antragssteller ein verbessertes, schnelleres Verfahren gewährleistet. 45

S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 20. 46 Ebd. 47 M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 194. 48 Ebd., Rn. 195 f.

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Asylanträge sollen innerhalb von drei Tagen registriert werden und nicht länger als innerhalb von sechs Monaten entschieden werden. Darüber hinaus enthält Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie wichtige Verfahrensgarantien für den Antragssteller. Ferner gewährt Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie dem Antragsteller ein Bleiberecht während der Prüfung des Antrags. Weiterhin sieht die Richtlinie eine erleichterte Ablehnung des internationalen Schutzes basierend auf dem Konzept des „Sicheren Herkunftsstaats“ und des „Sicheren Drittstaats“ vor.49 (5) Zuständiger Mitgliedstaat gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. e AEUV Art. 78 Abs. 2 lit. e AEUV ermächtigt die Union Schritte zu veranlassen, welche die Kriterien und das Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Antrags auf Asyl oder subsidiären Schutz zuständig ist, umfassen. Die Regelung ermöglicht es Mehrfachverfahren zu verhindern, indem dem Antragsteller ein einziges Verfahren garantiert wird. Das sog. „Asylum shopping“, d. h. das Auswählen des Asylstaates nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten sollte damit ausgeschlossen werden.50 Maßgeblich für die Regelung der Zuständigkeiten ist das „Dublin-System“. Die Dublin-I-Verordnung, die Dublin-II-Verordnung sowie die Nachfolgeverordnung Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) bilden die Grundlage für das Dublin-System.51 Ziel des Dublin-Systems ist es, den für die Prüfung des Asylantrags zuständigen Staat zu bestimmen. Nach Art. 3 Abs. 1 S. 2 der Dublin-III-Verordnung wird der Antrag auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, welcher nach den Kriterien des Kapitels III der Verordnung als zuständiger Staat bestimmt wird. Dabei handelt sich gemäß Art. 13 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung in der Praxis um den Staat, in den der Antragsteller eingereist ist. Um die Funktionsfähigkeit des Dublin-Systems zu gewährleisten, wurde eine Europäische Datenbank, namens Eurodac zum Vergleich der Fingerabdrücke von Asylbewerbern und von illegal aufgegriffenen Ausländern errichtet.52 Diese Fingerabdruckdatenbank soll gewährleisten, dass die Mitgliedsstaaten innerhalb kürzester Zeit prüfen können, ob der Antragsteller bereits einen Asylantrag in einem anderen Mitgliedsstaat gestellt hat oder sich illegal im Unionsgebiet aufgehalten hat.53 Im Juni 2013 wurde auf Grundlage des Art. 78 lit. e AEUV eine Neufassung der Euro49

Ebd., Rn. 208. M. ter Steeg, Das Einwanderungskonzept der EU. Zwischen politischem Anspruch, faktischen Regelungsbedürfnissen und den primärrechtlichen Grenzen in Titel IV des EGVertrages, 2006, S. 235. 51 M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 210. 52 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 39 f.; vgl. B. Schröder, Das Fingerabdruckvergleichssystem Eurodac, in: ZAR 2001, S. 71. 53 B. Schröder (Anm. 55), in: ZAR 2001, S. 72; M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EU-Recht, Rn. 228. 50

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dac-Verordnung erlassen. Die Änderungen umfassen nunmehr auch den Zugriff der Polizeibehörden und von Europol auf die Eurodac-Daten.54 Die Neufassung der Eurodac-Verordnung gilt ab 20. Juli 2015. Über die EU-Datenbank wird kontrovers diskutiert. Vor allem Menschenrechtsorganisationen kritisieren die biometrische Erfassung von Asylbewerbern. Danach sei der Eingriff in die Grundrechte von Flüchtlingen und anderen Migranten durch die neue Verordnung unverhältnismäßig. Die Notwendigkeit des Eingriffes sei nach Meinung der Menschenrechtsorganisationen nicht belegt. Die aktuelle Situation belegt jedoch, dass immer mehr Leute illegal nach Europa kommen und dass ohne die biometrische Erfassung von Daten der Asylbewerber und Migranten ein Überblick komplett verloren ginge. Flüchtlinge und Migranten, deren Antrag auf internationalen Schutz im Aufnahmestaat abgelehnt wurde, könnten ohne die Datenbank versuchen in einem anderen Mitgliedstaat den gleichen Antrag zu stellen. Durch den Abgleich der Daten durch die Polizei und Europol soll zudem schwere Kriminalität und Terrorismus bekämpft werden. Vor diesem Grund spielt die Eurodac-Datenbank für das Thema Prävention und Sicherheit eine wichtige Rolle. Im Moment sind Polizei und Europol mit dem Ansturm von Flüchtlingen und Migranten überfordert. Einige Mitgliedstaaten erfassen mittlerweile gar keine Daten der Anreisenden mehr, sondern schicken sie einfach nach Deutschland oder Schweden weiter. Zur Verbesserung der kaum überschaubaren Situation müssen deshalb die zuständigen Behörden kurzfristig personell und finanziell besser ausgestattet werden. (6) Aufnahmebedingungen gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. f AEUV Art. 78 Abs. 2 lit. f AEUV regelt den Erlass von Normen über die Aufnahmebedingungen von Personen, die Asyl oder subsidiären Schutz beantragen. Im Rahmen der Aufnahmebedingungen geht es in erster Linie um die Statusrechte während des Asylverfahrens.55 Die Aufnahmebedingungen werden durch die Aufnahmerichtlinie 2013/33 vom 26. Juni 2013 benannt. Sie umfasst „die Bewegungsfreiheit, die Familieneinheit, den Zugang zur Arbeit, Ausbildung und Schule sowie materielle Aufnahmebedingungen wie Sozialhilfe, Unterbringung, medizinische Versorgung und Hilfen für besonders bedürftige Personen wie Opfer von Folter und Gewalt sowie für Schwangere und unbegleitete Minderjährige“56. Ferner beinhaltet die Richtlinie wichtige Vorschriften über die Inhaftnahme. Niemand darf nur deshalb in Haft genommen werden, weil er einen Antrag zur Anerkennung des internationalen Schutzes gestellt hat. Ein Antragsteller darf nur inhaftiert 54 S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 31 f. 55 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 42. 56 M. Haedrich, Das Asylbewerberleistungsgesetz, das Existenzminimum und die Standards der EU-Aufnahmerichtlinie, in: ZAR 2010, S. 227 (231).

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werden, um dessen Identität oder Staatsangehörigkeit festzustellen oder um Beweise zu sichern, auf die sich sein Antrag auf internationalen Schutz stützt und die ohne Haft unter Umständen nicht zu erhalten wären, insbesondere wenn Fluchtgefahr des Antragstellers besteht, um im Rahmen eines Verfahrens über das Recht des Antragstellers auf Einreise in das Hoheitsgebiet zu entscheiden. Ergänzend kann ein Antragsteller aus folgenden Gründen inhaftiert werden: wenn er sich aufgrund eines Rückkehrverfahrens gemäß der Rückführungsrichtlinie (2008/ 115/EG) zur Vorbereitung seiner Rückführung und/oder Fortsetzung des Abschiebungsverfahrens in Haft befindet und der betreffende Mitgliedstaat auf der Grundlage objektiver Kriterien belegen kann, dass berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass er den Antrag auf internationalen Schutz nur beantragt, um die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu verzögern oder zu vereiteln, wenn dies aus Gründen der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung erforderlich ist oder wenn dies mit Artikel 28 (Haft) der Dublin-III-Verordnung (EU Nr. 604/ 2013) in Einklang steht. Haftgründe werden im einzelstaatlichen Recht konkretisiert. In Deutschland wurden am 31. Juli 2015 Änderungen im Aufenthaltsgesetz (AufenthG) im Bundesgesetzblatt verkündet, die am 1. August 2015 in Kraft traten. Damit schuf man die rechtlichen Voraussetzungen, um auch Menschen, die abgeschoben werden sollen, inhaftieren zu können, wenn eben jene „Fluchtgefahr“ vermutet wird. Ferner sieht das Gesetz vor, dass ein abgelehnter Asylbewerber in Haft genommen werden kann, wenn er sich der Abschiebung entzieht. Zu beachten ist hierbei, dass die mitgliedstaatlichen Gesetze nicht über die Regelungen der EU hinausgehen und zu keiner Ausweitung der Inhaftierungspraxis führen dürfen.57 (7) Kooperation mit Drittstaaten gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. g AEUV Art. 78 Abs. 2 lit. g AEUV verleiht der Union die Kompetenz Partnerschaften und Zusammenarbeiten mit Drittländern zur Steuerung des Zustroms von Personen, die Asyl oder subsidiären beziehungsweise vorübergehenden Schutz beantragen, einzugehen. Gemäß Art. 78 Abs. 2 lit. g AEUV kann die Union einen Beitrag zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes in Drittstaaten leisten und damit die Grundlage für Rückführungsmaßnahmen legen. Auch finanzielle Förderung von Schutzmaßnahmen für die Staaten, über die zahlreiche Asylantragsteller in die EU einreisen, kann vorgesehen werden.58 Angesichts der derzeitigen Flüchtlingskrise soll die EU nicht nur mit der Türkei, sondern auch mit anderen Drittstaaten, über die viele Asylantragsteller nach Europa einreisen, besser kooperieren.

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M. Keller (Anm. 23), in: H. G. Fischer u. a. (Hrsg.), Justiz und innere Sicherheit im EURecht, Rn. 235 f. 58 D. Thym (Anm. 2), in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Art. 78 AEUV, Rn. 46.

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(8) Die Notstandsklausel des Art. 78 Abs. 3 AEUV In Art. 78 Abs. 3 AEUV findet sich eine Klausel, nach welcher der Rat auf Vorschlag der Kommission vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen kann, wenn sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befinden. Fraglich ist, was unter einer Notlage i. S. d. Art. 78 Abs. 3 AEUV zu verstehen ist. Den Organen der Europäischen Union überlässt Art. 78 Abs. 3 AEUV in der Frage, ab wann sich ein Mitgliedstaat in einer Notlage befindet, einen weiten Beurteilungsspielraum. Die Norm zielt auf die durch einen Massenzustrom verursachte Notlage eines Mitgliedsstaates ab.59 Die Notlage bedarf folglich einer gewissen Intensität. Diese könnte bei einer politischen Destabilisierung, dem Zusammenbruch des Asylsystems oder gar Versorgungsengpässen und Sicherheitsrisiken in einem Mitgliedstaat vorliegen.60 Mitte Mai schlug die EU vor, die Flüchtlinge per Quote an die Mitgliedstaaten zu verteilen. Grundlage für das System sollten das Bruttoinlandsprodukt eines Landes, die Größe der Bevölkerung, die Höhe der Arbeitslosenquote und die Zahl der bisher aufgenommenen Asylbewerber sein. Bisher müssen die Flüchtlinge dem Gesetz nach in dem Staat bleiben, in dem sie angekommen sind. Dadurch fühlen sich Ankunftsländer wie Italien, Malta, Griechenland überfordert und fordern die Flüchtlinge auf, in andere Mitgliedstaaten zu gehen. Gegen dieses neue Verteilungs-Vorhaben der EU wehrten sich Länder wie Großbritannien, Polen, Ungarn, Slowakei und die Baltischen Staaten. Am 22. September 2015 wurde ein Beschluss61 gemäß Art. 78 Abs. 3 AEUV durch den Rat zur Festlegung vorläufiger Maßnahmen auf dem Gebiet des internationalen Schutzes zum Wohle von Italien und Griechenland verabschiedet. Dabei haben die EU-Innenminister die Umverteilung von 120.000 Asylbewerbern in Europa, dem Widerstand von vier osteuropäischen Staaten zum Trotze (Ungarn, Tschechien, Rumänien und die Slowakei) beschlossen. Die Sinnhaftigkeit der momentanen Diskussionen über diese Vorschriften ist zu hinterfragen, da derzeit von keiner funktionierenden gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik die Rede sein kann. Die EU und ihre Mitgliedstaaten scheinen von der derzeitigen Situation überfordert und haben bis heute keinen gemeinsamen Weg gefunden, der die Lage verbessert hat. Dieser Zustand wird durch die Tatsache erschwert, dass nicht nur Menschen nach Europa kommen, die vor Krieg oder Terrorgefahr nach Europa fliehen, sondern auch solche, die sich nur einen besseren Lebensstandard in Europa erhoffen.

59 S. Progin-Theuerkauf (Anm. 18), in: H. von der Groeben/J. Schwarze/A. Hatje, Europäisches Unionsrecht, Rn. 35. 60 Ebd. 61 Beschluss des Rates, 2015/0209 (NLE), 12098/15, Brüssel, 22. 09. 2015.

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IV. Illegale Migration Nach aktueller Berichterstattung hat die Zahl der Flüchtlinge drastisch zugenommen. Jedoch wird von Medien und Politik gleichermaßen der Begriff des „Flüchtlings“ sowohl für eine „unfreiwillige Migration“, die vom Schutz des Art. 78 AEUV erfasst wird, als auch für die „freiwillige Migration“ verwendetet. Als Migranten werden jene Menschen bezeichnet, die von einem Wohnsitz/Land zu einem anderen wandern beziehungsweise ziehen. Sie geben (wie viele Expatriates) ihren bisherigen Wohnort auf, um sich woanders dauerhaft niederzulassen (das lateinische Verb migrare bedeutet auswandern, wandern, reisen). Es gibt verschiedene und vielfältige Erscheinungsformen der Migration.62 Unter der illegalen Migration fallen dabei diejenigen, die ohne Berücksichtigung der gesetzlichen Regelungen ein- bzw. auswandern und ohne Aufenthaltstitel im Land verbleiben.63 Dies geschieht, indem die Drittstaatsangehörigen illegal und unkontrolliert in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union einreisen oder mittels gefälschter Dokumente die Grenze überqueren.64 Man spricht hierbei auch von dem Begriff der „irregulären Migration“65. In der Literatur werden jedoch die beiden Begriffe illegal und irregulär synonym verwendet. Die „irreguläre Migration“ konkretisiert lediglich, dass hierunter unter anderem auch die Personen fallen, welche über eine internationale Grenze geschleust werden oder abgelehnte Asylbewerber sind, die ihrer Verpflichtung zur Ausreise nicht nachkommen.66 Unter dem Begriff des „Einschleusens“ versteht man das bewusste Fördern der unerlaubten Einreise eines Ausländers. Unter diesen Dienstleistungen werden beispielsweise Dokumentenfälschung, die Organisation der Reise und der Transport von Ausländern erfasst.67 Die Schleuser tragen einen erheblichen Anteil an den großen Migrationsströmen. Mit falschen Versprechungen schaffen sie ohne Skrupel Anreize, so dass sich Menschen auf alte, überfüllte Boote locken lassen, um den Elend in ihrem Heimatland zu entfliehen.68 Der große Anteil an illegaler Migration zeichnet sich auch in den Statistiken ab. Die meisten der sog. „Flüchtlinge“ sind keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Kon62

T. Bellinghausen, Civitas Europaea, 2012, S. 47. Ebd., S. 56. 64 M. ter Steeg (Anm. 50), Das Einwanderungskonzept der EU, S. 421; T. Bellinghausen (Anm. 62), Civitas Europaea, S. 56. 65 N. Cyrus, Irreguläre Migration – Zum Stand der Diskussion menschenrechtlicher Ansätze in der Bundesrepublik Deutschland, in: ZAR 2010, S. 317. 66 B. Etzold, Illegalisierte Migration in der Flüssigen Moderne. Migration aus Afrika und die europäische Grenzsicherungspolitik 2009, S. 61 ff. 67 Vgl. B. Etzold, (Anm. 66), Illegalisierte Migration in der Flüssigen Moderne, S. 65; M. ter Steeg (Anm. 50), Das Einwanderungskonzept der EU, S. 421. 68 Vgl. W. Frenz, EU-Recht gegen das Flüchtlingselend – Einordnung und Folgerungen aus Lampedusa, in: ZAR 2014, S. 1 (2); D. Thränhardt, Europäische Abschottung und deutscher Asylstau: Gibt es Wege aus dem Dilemma?, in: ZAR 2014, S. 177 (179). 63

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vention bzw. im Sinne der Asyl-Qualifikationsrichtlinie, sondern Wirtschaftsmigranten. Allein die Quote aus den Westbalkan-Staaten, die als sichere Staaten gelten, weil dort weder ein Bürgerkrieg, noch Verfolgung oder Terror herrschen, macht in Deutschland 30 % aller Asylstellenden aus. Es besteht eine massive Häufung der unbegründeten Asylbewerbungen in Deutschland und anderen Staaten wie Schweden oder Österreich. Das Asylsystem wird in Deutschland von Personen aus den Westbalkan- und afrikanischen Staaten als Migrationskanal genutzt, deren Zuwanderungsmotiv nicht in flüchtlingsrechtliche oder humanitäre Kategorien fällt. Im Zweifel verhindern diese Wirtschaftsmigranten die gerechte und vollständige Versorgung derjenigen, die diese Hilfe wirklich brauchen. Es kann nicht als Zufall bezeichnet werden, dass gerade Deutschland so viele Asylsuchende anzieht. Deshalb ist eine nüchterne und realistische Analyse dringend notwendig. Eine wichtige Ursache findet sich in der im Vergleich zu anderen EUStaaten großzügigen Handhabung des Asylrechts. Auch wenn eine multikulturelle Gesellschaft in Deutschland begrüßt wird und auch in der Wirtschaft Ideen herrschen, die Flüchtlinge zur Bekämpfung des nichtgedeckten Arbeitskräftebedarfs langfristig heranzuziehen, dürfen die damit verbunden Hindernisse nicht unberücksichtigt bleiben. Dabei stellt vor allem die damit einhergehende nötige wirtschaftliche und auch kulturelle Integration eine Herausforderung dar. Selbst im wirtschaftskräftigen Deutschland ist die Arbeitslosigkeit von Ausländern zweieinhalb Mal so hoch wie die von Deutschen. Mangelnde Integration und Perspektive sind sicherlich auch der Hauptgrund für den zweieinhalb Mal so hohen Anteil ausländischer Tatverdächtiger in der Kriminalitätsstatistik. Es steht außer Frage, dass ein massenhafter Flüchtlingszustrom nicht zur Verbesserung dieser Zahlen beitragen kann. Deshalb ist es notwendig das momentane Reagieren auf die Flüchtlingsthematik in ein Gestalten umzuwandeln. Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung wäre die Schaffung eines modernen, liberalen, bedarfsorientierten Einwanderungsgesetzes in Deutschland am Beispiel der Kanada oder USA. Schon heute ist unstrittig, dass Deutschland nicht über Jahre hinweg eine ungeregelte Masseneinwanderung über das Asylsystem ohne Folgen verkraften wird. Zuzüge im Umfang mehrerer Großstädte werden die öffentlichen Haushalte und den Wohnungsmarkt auf Dauer spürbar belasten. Hinzu kommen politische und kulturelle Spannungen, die heute bereits in klassischen Einwanderungsländern vermehrt auftreten. In einer Welt, die von Migration geprägt ist, muss die Politik deshalb nicht nur kurzfristig reagieren, sondern aktiv steuern. Dabei besitzt der moderne Staat Instrumente, die es früher in dieser Form noch nicht gab: neben der Möglichkeit von Grenzsicherungen können die Einreisebestimmungen, Aufenthaltsregelungen angepasst werden sowie die Mittel der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik genutzt werden, um direkt auf die Herkunfts- und Transitländer Einfluss zu nehmen.69

69 http://www.faz.net/aktuell/politik/denk-ich-an-deutschland-1/fluechtlingskrise-deutschestaunen-ueber-den-migranten-13795710-p3.html, zuletzt gesehen: 15. 9. 2015.

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V. Fazit Die jüngsten Geschehnisse legen offen, dass sich die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten vor der Realität der Migrationsströmungen nicht verschließen können und dass sich dringend notwendige Entscheidungen nicht länger ohne Schaden aufschieben lassen. Dabei stellt es mehr als nur eine Herausforderung dar, nicht nur den Flüchtlings-, sondern auch den Migrationsströmungen im Sinne eines einheitlichen Europas zu begegnen. Bereits täglich erreichen tausende Menschen Europa. Die einen mit der bloßen Hoffnung auf ein sicheres Leben und die anderen aus wirtschaftlichen Gründen. Um der Problematik der unkontrollierten Migration Herr zu werden, muss es für die Europäische Union oberste Priorität sein, sich in ihrer Gesamtheit gemeinsam auf klare Ziele zu einigen. In Deutschland gilt es vor allem kurzfristig das Asylverfahren zu beschleunigen. Erste Schritte hierzu wurden bereits eingeleitet. Dazu müssen Politiker für die schweren Folgen ihrer Versprechungen sensibilisiert werden. Nur so kann eine weitere Massenzuwanderung, die nicht aus Angst um das eigene Leben erfolgt, verhindert werden. Daneben ist mit der Arabischen Liga ein Dialog zu führen, um auch von ihr die notwendige Beteiligung und Unterstützung einzufordern. Beispielsweise bestehen in Saudi Arabien bereits hierfür nutzbare Ressourcen in Form von Zeltlagerstätten. Die Nachbarstaaten der umkämpften Regionen sollten umgehend stärker unterstützt werden, konkret also der Nordirak, Jordanien oder der Libanon. Für eine geregelte und weniger chaotische Einwanderung mit entsprechender Registrierung sowie zur Bekämpfung illegaler Einwanderung sind die Außengrenzen der Mitgliedstaaten konsequent zu kontrollieren. Bereits im Jahre 2009 wurde mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon ein großer Meilenstein für die Erreichung des Ziels einer gemeinsamen Europäischen Asylpolitik geschaffen. Als Ziel sollte ein einheitlicher Asylstatus angestrebt werden. Dabei wurden viele Sekundärrechtsakte erlassen. Dennoch ist Europa seither weit von einer solideren, einheitlichen und vernünftigen Lösung entfernt. Auf den ersten Blick erscheint der Vorschlag der EU, mit Unterstützung von Deutschland die Flüchtlinge per Quote aus Griechenland und Italien zu deren Entlastung an weiteren EU-Mitgliedstaaten zu verteilen, als eine logische und gerechte Lösung. Hierbei handelt es sich allerdings vielmehr um eine Verlagerung und um keine Lösung der Gesamtproblematik. Dass die Wahl vieler Flüchtlinge und Migranten auf Deutschland oder Schweden als Unterkunftsland fällt, liegt vor allem an den sehr unterschiedlichen Sach- und Geldleistungen sowie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts innerhalb der EU. In der deutschen Erstaufnahmeeinrichtung erhält ein Flüchtling Sachleistungen, wie Lebensmittel, Hygieneartikel, Kleidung und rund 140 Euro als Taschengeld. Nach 15 Monaten werden noch während des laufenden Asylverfahrens generell rund 400 Euro pro Monat und die Wohnraumkosten für jeden Migranten übernommen. Dies entspricht dem Sozialhilfeniveau. In anderen europäischen Ländern wie beispielsweise in Litauen liegt das durchschnittliche Gehalt kaum über dem Mindestlohn von 350 Euro monatlich. Eine Anhebung von den

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Leistungen in Litauen oder in den anderen osteuropäischen Staaten auf deutsches Niveau ist folglich ausgeschlossen. Deshalb würde auch die Einführung einer Verteilungsquote nicht verhindern, dass Flüchtlinge trotzdem weiter bis nach Deutschland oder Schweden reisen. Um den illegalen wirtschaftsbegründeten Migrationsstrom aus den Balkan, afrikanischen und anderen Staaten zu stoppen, sollte das Abschiebeverfahren für Wirtschaftsmigranten, die kein Bleiberecht besitzen, beschleunigt werden. Langfristig müssen die Ursachen in den Herkunftsländern bewältigt werden. Erste wichtige Schritte hierfür wären beispielsweise die Durchführung von öffentlichen Aufklärungs- und Informationskampagnen, um falsche Vorstellungen der Abwanderungswilligen zu beseitigen, sowie auch die Einführung und Intensivierung von Entwicklungshilfeprogrammen zur Verbesserung der Lebensbedingungen vor Ort. Europa befindet sich derzeit in einer chaotischen wie zukunftsweisenden Situation zugleich. Dabei steht außer Frage, dass den vor Bürgerkrieg, Terror oder Verfolgung fliehenden Schutzsuchenden jede notwendige Hilfe geleistet werden muss. Trotz der Tragik der Lage ist vor allem auf politischer Seite vermehrt darauf zu achten, Entscheidungen auf Basis von Vernunft und nicht von Emotionalität zu treffen. Europa benötigt eine gemeinsame Strategie um die Lage zu beruhigen und das Notleiden der Menschen seiner Nachbarländer einzudämmen. Dabei muss realistisch betrachtet werden, dass ein langfristiges Bleiberecht nicht gleichzeitig mit einer erfolgreichen Integration einhergeht. Die Integration ist ein langfristiger wie komplexer Prozess, der für einen positiven Verlauf an viele Voraussetzungen (soziale Einbindung, Bildung, berufliche Perspektive usw.) gekoppelt ist. Selbst wenn einige Politiker die Meinung vertreten, dass es im Asylrecht keine Obergrenze gibt, so sind die Ressourcen und Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration sehr wohl begrenzt. Deshalb sollte der Schwerpunkt der gemeinsamen Gespräche weniger auf dem Hin- und Herschieben von Flüchtlingen innerhalb der EU liegen. Vielmehr muss ein konkreter Plan entwickelt werden, die Situation in den Herkunftsländern zu beruhigen und kurzfristig die Flucht in eine geordnete, legale Bahn zu lenken. Dafür muss Europa zwingend für eine Registrierung und Kontrolle bereits an seinen Grenzen sorgen. Erst kürzlich warnte die EU-Grenzschutzbehörde Frontex davor, dass es in der Türkei einen gut organisierten Fälschermarkt für syrische Pässe gibt, weil die Menschen wissen, dass sie dann leichter Asyl in der EU bekommen. Das Bekämpfen von illegalen Schlepper-Banden, die Stabilisierung der Krisenund Kriegsgebiete, die Versorgung von Flüchtlingen vor Ort, ein einheitliches, klares, lückenloses und unmissverständliches Asylsystem, die Definierung und Festlegung von sicheren Herkunftsstaaten, die Beschleunigung der Abschiebeverfahren für asylstellende Wirtschaftsmigranten ohne Bleiberecht sind alles Maßnahmen, die im Interesse aller EU-Staaten liegen sollten und die keine weitere Aufschiebung benötigen. Dafür darf auch die kontrovers geführte Debatte über eine „gerechte“ Flüchtlingsverteilung innerhalb der EU nicht als Hinderungs- oder Verzögerungsgrund gel-

Europäisches Flüchtlingsrecht

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ten. Es liegen ausreichend deckungsgleiche Interessen in Europa und Deutschland vor, um gemeinsam aktiv zu gestalten und nicht mehr lediglich zu reagieren. Die nahe Zukunft wird für Europa in vielerlei Hinsicht maßgebend. Denn die Zahl der Asylsuchenden wird langfristig nicht entscheidend sinken. Auch wenn mit der Zeit die Intensität der Berichterstattung nachlässt, wie es auch beim Ukraine-Konflikt der Fall war, bleiben die bekannten Problematiken bestehen, solange vor allem die deutschen Politiker nicht zwischen verantwortungsvoller Politik und idealistischen Vorstellungen unterscheiden. * Abstract Jurgita Baur, European Refugee Law. Efforts within the European Treaties in Coping with the Refugee Crisis (Die Genfer Flüchtlingskonvention 1951 – Reformbedarf angesichts der Flüchtlingskrise?) in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 117–138. Recent events have shown, that the European Union and its member states cannot stay blind to the reality of migration flows and that urgently required decisions cannot be delayed without damage. It will be more than a challenge to not only face refugee- but also migration flows in the interests of a unified Europe. Everyday thousands of people reach Europe, some with sheer hope for a save life, others for economic reasons. In order to face the problem of unregulated migration it has to be the first priority of the European Union to agree on a clear goal. Especially in Germany asylum procedures have to be accelerated. First steps have already been instigated. For this purpose, politicians have to be sensitised for the serious consequences their promises have. That is the only way to prevent another mass immigration, which does not take place because of fear for one’s life. In addition, a dialog with the Arab League has to be entered in order to demand the participation and support needed. For instance, there already exist some large tent camps in Saudi Arabia. Additionally, neighbouring states in embattled regions have to be supported more as well. In concrete terms: Turkey, northern Iraq, Jordan or Lebanon. So as to insure a regulated and less chaotic immigration with a corresponding registration, as well as to fight illegal immigration, external borders of member states have to be monitored more closely. The Lisbon Treaty, already entered into force in 2009, marked a milestone for the objective to create a mutual European asylum policy. The aim was to achieve a standardised asylum status. Many secondary law acts were enacted. Nevertheless, since then Europe is remote from a solidary, consistent and reasonable solution. At first appearance, Europe’s suggestion to distribute the refugees from Greece and Italy between member states according to quotas with help from Germany seems logical and fair. However, this will only cause relocation and is no answer to the overall problem. Within the EU, very different payments and in-kind benefits as well as means of subsistence are granted, which is the reason for refugees and migrants choosing Germany or Sweden as accommodation country. The German reception centre provides every refugee with in-kind benefits, like groceries, sanitary products, clothes and about 140 Euros as pocket money. After 15 months, the asylum procedure still running, 400 Euros per month

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and expenses for accommodation and heating are generally payed for every migrant. This support equals the social welfare level. Within other European states like Lithuania for instance, average salary stands at 350 Euros per month, which barely exceeds minimum wage. Thus, it is impossible to raise benefits to German levels in Lithuania or in other East European states. That is why the introduction of a distribution rate would not stop refugees travelling to Germany or Sweden anyway. In order to stop the illegal migration flow, motivated by economical reason from the Balkans, Africa and other states, deportation proceedings concerning economic migrants without right to stay should be accelerated. In the long run, the reasons for emigration have to be coped with within the countries of origin. First essential steps could be the implementation of public awareness and information campaigns, so as to eliminate wrong ideas of people willing to migrate, and the introduction and increase of development aid programmes concerning the improvement of living conditions. Europe experiences a chaotic, but likewise pioneering situation. It is clear, that people who flee from civil war, terror or persecution have to be preserved with any help necessary. Despite the tragic nature of the situation, politics have to ensure that decisions are based on reason and not on emotionality. Europe requires a mutual strategy in order to calm the situation and contain the misery neighbouring countries suffer from. However, one has to stay realistic with regards to a long-term right of residence, which is not accompanied by a successful integration. Integration is a long-term and complex process, which is linked to many conditions so as to achieve a positive outcome (social integration, education, career perspectives etc.). Even if some politicians are of the opinion, that asylum law has no limit, resources and preconditions for achieving a successful integration are limited. Therefore, discussions should focus less on shifting refugees back and forth within the EU. Rather, specific plans have to be developed in order to calm the situation within the states of origin and to ensure, that short dated flights take place through legal channels. For that, Europe has to arrange registrations and controls already at the borders. Only recently the EU agency for border protection Frontex has warned that a well organised marked for forging Syrian passports exists in Turkey, because people know that they will be given asylum in the EU more easily with a passport. Fighting illegal traffickers of human beings, stabilising conflict areas and war zones, care for refugees, a consistent, clear, complete and unambiguous asylum system, definition and determination of save countries of origin, the acceleration of deportation proceeding concerning economic migrants applying for asylum without right of residence; these measures should be in the interest of all EU-states and do not need to be postponed any further. Therefore, the controversial debate on a “fair” refugee distribution within the EU cannot be considered to be an impediment or reason for delay. There are enough common goals in the EU and Germany to actively shape change together, rather than merely reacting. Coming months will be decisive for the EU in many regards, because the number of asylum seekers will not decline crucially, even with the aid of Turkey. Even though the intensity of reporting ceases over time, as it was the case with the Ukraine conflict, the common problems remain, especially as long as German politicians fail to differentiate between responsible politics and idealistic ideas.

Migrationspolitik in Europa im Zeichen der Flüchtlingskrise Von Katharina Senge I. Einleitung Die Bedrohung der eigenen Existenz und mangelnde Lebensperspektiven bringen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Und zwar so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Bewaffnete Konflikte und zerfallende Staatlichkeit beeinträchtigen das internationale Engagement von Regierungen und NGOs für gesellschaftliche Entwicklung, Bildung, Arbeit und reproduktive Gesundheit und führen so zu einer Negativspirale aus Not, Bevölkerungsentwicklung und Migration. So hat der Krieg in Syrien sieben Millionen Menschen innerhalb ihres Landes heimatlos gemacht. 4,6 Millionen sind in andere Länder geflohen. Die meisten Flüchtlinge weltweit bleiben in der Nachbarregion ihres Herkunftslandes, sie werden also von anderen Entwicklungs- und Schwellenländern aufgenommen. In Jordanien, einem Land mit 6,5 Millionen Einwohnern, sind 635 000 syrische Flüchtlinge beim UNHCR registriert.1 Auf 1000 Einwohner kamen Mitte 2015 demnach 90 Flüchtlinge. Im Libanon waren es 209. Im Vergleich dazu sind die Zahlen in Europa gering2. Dennoch hat der seit 2014 schnelle und bisher nicht nachlassende Anstieg der Flüchtlingszahlen die Frage aufgeworfen, wie Europa mit solch einem Andrang von Schutzsuchenden umgehen kann und soll. Die Handlungsfähigkeit der EU wird in Frage gestellt, wobei nationale Reaktionen diese noch mehr erschweren. Die Situation innerhalb Europas ist alles andere als einheitlich. Griechenland und Italien sind die Eingangspforten der zentralen und der östlichen Mittelmeerroute. Beide Länder haben in der Vergangenheit Solidarität innerhalb der EU eingefordert, da sie als Grenzstaaten überproportional durch das Dublin-System belastet wurden. 1 http://data.unhcr.org/syrianrefugees/regional.php#_ga=1.194932836.899265449. 1454242109, abgerufen am 29.01.16 2 In Deutschland befanden sich Mitte des Jahres 2015 744.000 Personen mit einem Schutzstatus, einer Duldung oder einem laufenden Asylverfahren. Insgesamt wurden 2015 wurden 1,09 Millionen neue Flüchtlinge registriert. Beide Zahlen können jedoch nicht einfach addiert werden, um die Gesamtzahl der in Deutschland sich aufhaltenden Asylbewerber und Flüchtlinge zu errechnen. Quellen: http://mediendienst-integration.de/artikel/zahl-der-fluecht linge-und-asylbewerber-prognose-bamf-asylantraege.html sowie http://www.bmi.bund.de/Sha redDocs/Pressemitteilungen/DE/2016/01/asylantraege-dezember-2015.html. Abgerufen am 29.01.16.

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Gleichzeitig wurde nur ein Teil der ankommenden Flüchtlinge in diesen Ländern registriert, was eine korrekte Umsetzung des Dublin-Systems erschwerte. Überstellungen von Flüchtlingen nach Griechenland haben die anderen EU-Mitgliedstaaten wegen systemischer Mängel im Asylsystem dort bereits seit 2011 eingestellt. Die Zahl der ankommenden Flüchtlinge, und das zeigt die weiterhin dramatische Lage, hat sich in Griechenland 2015 im Vergleich zum Vorjahr um 750 Prozent erhöht. Angesichts der wirtschaftlichen Krise sind kaum öffentliche Ressourcen vorhanden, um diese Menschen angemessen aufzunehmen oder sogar langfristig zu integrieren. Nur 8 Prozent der ankommenden Flüchtlinge beantragen in Griechenland Asyl, die anderen werden nicht registriert und ziehen weiter.3 Anders Italien: Hier unternimmt man trotz knapper öffentlicher Kassen und Reformbemühungen einige Anstrengungen, das Aufnahmesystem für Flüchtlinge auszubauen. Während 2014 170.000 Menschen an den italienischen Küsten ankamen, waren es in der ersten Jahreshälfte 2015 bereits 120.000. Allerdings stellten 2014 nur 65.000 einen Asylantrag, also nur 40 Prozent.4 Dem gegenüber stehen Länder wie Deutschland und Schweden, die europaweit die meisten Asylanträge entgegennehmen. Sie sind die Zielländer vieler Migranten. Und schließlich spielt die Gruppe osteuropäischer Staaten eine wichtige Rolle in der Flüchtlingskrise, die, wie andere auch, wenig von dieser betroffen sind, sich aber gleichzeitig gegen eine Verteilung der Flüchtlinge, wie sie zum Beispiel die deutsche Bundesregierung fordert, stark machen. Begründet wird die Ablehnung der Flüchtlingsaufnahme nicht zuletzt mit der kulturellen und religiösen Differenz der Asylbewerber. Auch die Angst vor islamistischem Terrorismus, der durch Zuwanderung ins Land kommen könnte, spielt eine Rolle5. Wie steht es also um die „Europäische Flüchtlingspolitik“? Gibt es sie überhaupt? Ist sie den vor ihr liegenden Herausforderungen und Aufgaben gewachsen? Welche Konzepte und Instrumente liegen auf dem Tisch, um im Rahmen der migrationspolitischen Agenda diese schier unlösbaren Aufgaben zu bewältigen? Um diese Fragen zu beantworten, werden im Folgenden die Leitlinien und Instrumente sowie die jüngsten Entwicklungen in Antwort auf die Flüchtlingskrise dargestellt. II. Der aktuelle Rahmen der Europäischen Flüchtlingspolitik In Ergänzung zum Beitrag in diesem Band über Bedeutung und Ausgestaltung der Migrations- und Flüchtlingspolitik in den Europäischen Verträgen werden hier drei zentrale europäische Initiativen der letzten fünf Jahre dargestellt, die den politischen Rahmen der europäischen Flüchtlingspolitik in der Krise bilden. 3 Vgl. S. Vogt/J. Kohls, in: Flucht und Migration. Weltweite Reaktionen, Konrad-Adenauer-Stiftung 2015, http://www.kas.de/wf/de/33.42726/. 4 Vgl. C. Kanter, in: Flucht und Migration. Weltweite Reaktionen, Konrad-AdenauerStiftung 2015, http://www.kas.de/wf/de/33.42726/. 5 Vgl. Chr. Schmitz/W. Böhler/M. Lange/F. Spengler u. a., in: Flucht und Migration. Weltweite Reaktionen, Konrad-Adenauer-Stiftung 2015, http://www.kas.de/wf/de/33.42726/.

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1. Der Gesamtansatz für Migration und Mobilität GAMM (2011) Aufbauend auf dem „Gesamtansatz zur Migrationsfrage“ von 2005 hat die Kommission 2011 mit dem „Gesamtansatz für Migration und Mobilität“ die Anstrengung unternommen, vorhandene migrationspolitische Instrumente in eine Gesamtstrategie zusammenzufassen und zu systematisieren. Hintergrund der migrationspolitischen Debatte waren die Schrumpfung und Alterung der europäischen Bevölkerung, ein branchenspezifischer Bedarf an qualifizierten Fachkräften, die Sorge, dass durch deren Fehlen Europa in Forschung und Technologie den Anschluss im globalen Wettbewerb verlieren könnte, und die Sorge um die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme durch eben diese Entwicklungen. Erklärtes Ziel des GAMM ist es, Europa attraktiv und zugänglich zu machen für qualifizierte Migranten, gleichzeitig aber Migration auch möglichst weitgehend zu kontrollieren und irreguläre Migration zu reduzieren. In diesem Sinne wurden im Gesamtansatz Migration und Mobilität miteinander verknüpft – Migration hier verstanden als dauerhafte Zuwanderung, Mobilität als kurzfristigere und flexiblere Formen des Aufenthalts von Geschäftsreisenden, Touristen und Familienangehörigen. Politisch operationalisiert wurde diese Verknüpfung von Migration und Mobilität im Gesamtansatz in dem Sinne, dass Europa in Verhandlungen mit Nicht-EU-Staaten gezielt Visumpolitik mit der Kooperation beim Grenzschutz verknüpfen solle. So „soll sichergestellt werden, dass Partnerländer vor der Lockerung oder der Aufhebung der Visumpflicht bestimmte Kriterien erfüllen, auch in den Bereichen wie Asyl, Grenzmanagement und irreguläre Migration. Auf diese Weise lässt sich Mobilität unter sicheren Rahmenbedingungen gewährleisten.“6 Als zentrale Strategie der Migrationssteuerung nennt der Gesamtansatz den Aufbau starker, enger Partnerschaften mit Ländern der europäischen Nachbarschaft, die sich auf gegenseitiges Vertrauen und gemeinsame Interessen gründen. Vertrauen und Interessen sollen in bilateralen und regionalen Dialogprozessen aufgebaut und erarbeitet werden. Endergebnis der Dialoge sind die sogenannten Mobilitätspartnerschaften: maßgeschneiderte, bilaterale Abkommen zur Steuerung der Migration, die jeweils Elemente aus vier thematischen Säulen, auf denen der Gesamtansatz beruht, enthalten. Solche Mobilitätspartnerschaften gibt es mittlerweile mit der Republik Moldau, den Kapverden, Georgien und Armenien (2008 bis 2011), seit 2013 mit Aserbaidschan und Marokko sowie seit 2014 mit Tunesien und Jordanien. Die vier thematischen Säulen des Gesamtansatzes sind: 1. Legale Migration und Mobilität Trotz harmonisierender Maßnahmen wie zum Beispiel der europäischen BlueCard-Richtlinie haben die Nationalstaaten nach wie vor großen Gestaltungsspielraum bei der Steuerung legaler Zuwanderung aus Drittstaaten. Im GAMM wird moniert, dass die Verfahren zur legalen Migration grundsätzlich begrenzt, nicht trans6

Gesamtansatz für Migration und Mobilität, KOM(2011) 743, S. 4.

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parent genug und zu bürokratisch seien. Im Gesamtansatz werden als mögliche Maßnahmen u. a. Informations- und Beratungsstrukturen in den Herkunftsländern und die Vereinheitlichung der Anerkennung von Berufsabschlüssen genannt. 2. Verhinderung von irregulärer Migration und Menschenhandel Neben der verstärkten Kooperation zwischen verschiedenen europäischen und nicht-europäischen Akteuren beim Grenzschutz und der Bekämpfung des Menschenhandels setzt die EU auf Rückübernahmeabkommen mit Herkunftsländern und Sanktionen gegen Arbeitgeber, die vom Menschenhandel profitieren. 3. Förderung des internationalen Schutzes und der externen Dimension der Asylpolitik Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, Nicht-EU-Länder beim Aufbau eigener Asylsysteme zu unterstützen und ihnen dabei zu helfen, selbst nach internationalen Standards Schutz zu gewähren. So sollen mehr Vertriebene und Flüchtlinge in den Regionen verbleiben können. Das zentrale Instrument sind Regionale Schutzprogramme (Englisch: RPPs). Schon im Gesamtansatz von 2005 sollten diese die drei Optionen Rückkehr, örtliche Eingliederung (was bedeutet, dass Flüchtlinge im Aufnahmeland einen Aufenthaltsstatus und Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten, was in Ländern, die nicht der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten sind, oft nicht der Fall ist) oder Neuansiedlung in einem Drittland, also Resettlement enthalten. Die Kapazitäten zur Neuansiedlung in der EU basierten auf dem freiwilligen Angebot von Resettlementplätzen der Mitgliedstaaten und hatten nie ein bedeutsames Ausmaß. Im Jahr 2011 beschloss man erneut, die Regionalen Schutzprogramme auszuweiten und vor allem mit einer stärkeren Neuansiedlungskomponente zu versehen. Exkurs: Resettlement – Weg aus dem Dilemma? Resettlement erscheint in der aktuellen Debatte manchmal als der Königsweg aus dem Flüchtlingsdrama: Flüchtlinge, die schon durch den UNHCR anerkannt sind, werden in vorher festgelegter Anzahl und auf sicherem Weg in Staaten gebracht, die sich zu ihrer Aufnahme bereit erklärt haben. Die Gefahren einer lebensgefährlichen Reise und die Investition des Ersparten in kriminelle Schleuserstrukturen fallen ebenso weg wie ein aufwändiges Asylverfahren mit ungewissem Ausgang im Zielland. Resettlement ist demnach eine gute Möglichkeit, Menschen, die Schutz brauchen, auf sichere, menschenwürdige und kontrollierte Weise den Zugang zum Schutz zu ermöglichen. Es kann dabei jedoch nicht den individuellen Schutzanspruch komplett ablösen, den Personen nach geltendem Recht haben. Denn das hieße Menschen an den Grenzen pauschal zurückzuweisen, die nicht in einem Resettlement-Kontingent nach Europa kommen. Wozu wäre es dann aber sinnvoll, Resettlement weiter auszubauen? Zunächst einmal kann ein Neuansiedlungsprogramm besonders schutzbedürftigen Personen helfen, die in den Flüchtlingslagern in sehr schwierigen Konditionen leben, aber auch eine Flucht nicht schaffen könnten. Andererseits dient ein substanzielles Resettlement-Programm auch als Verhandlungsmasse mit den Transit- und Erstaufnahmestaaten, die sich im Gegenzug ver-

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stärkt beim Grenzschutz und der menschenwürdigen Aufnahme der Flüchtlinge bei sich engagieren und so den Migrationsdruck senken. 4. Verknüpfung von Migration und Entwicklung Die letzte Säule des Gesamtansatzes schließlich ist der Zusammenhang von Migration und Entwicklung. Diese war in der Vergangenheit unterkomplex und vor allem zu optimistisch wahrgenommen worden. Dies bezieht sich sowohl auf die Brain-Drain und Brain-Waste-Debatte als auch auf Rücküberweisungen. Diese übersteigen zwar das Volumen an internationaler Entwicklungshilfe um das Doppelte, es ist jedoch fraglich, ob sie für die Art von Investitionen genutzt werden, die weitere Entwicklung befördern. Andersherum erwies sich auch die These als überholt, dass erfolgreiche Entwicklungspolitik den Migrationsdruck senken könnte. Denn Migration setzt bereits eine gewisse wirtschaftliche und soziale Entwicklung voraus. Es sind nicht die Ärmsten der Armen, die ihr Land verlassen (können)7. 2. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem GEAS Gleichzeitig zur Entwicklung der Europäischen Migrationspolitik, die im Rahmen der Außenpolitik aufgehängt ist, wurde seit 1999 an einem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem gearbeitet. Im Jahr 2013 wurden die relevanten Richtlinien in neuer Fassung verabschiedet, die bis zum Sommer 2015 in den Mitgliedstaaten umgesetzt wurden und vergleichbare Standards in der EU gewährleisten sollten. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem besteht aus der Asylverfahrensrichtlinie, welche den gesamten Ablauf des Asylverfahrens regelt, der Richtlinie über die Aufnahmebedingungen, die die sozialen Rechte des Asylbewerber definiert – von der Unterbringung über die Gesundheitsversorgung bis zur Beschäftigung, der Anerkennungsrichtlinie, welche definiert, wer schutzbedürftig ist, der Dublin-Verordnung, die die Zuständigkeit eines Staates für ein konkretes Asylverfahren festlegt, und der Eurodac-Verordnung, die die Einrichtung einer europaweiten Datei für die Fingerabdrücke der Asylbewerber regelt. Ohne die europaweite Umsetzung dieser Standards, ohne zuverlässige Registrierung, menschenwürdige Unterbringung und letztlich vergleichbare Anerkennungsquoten ist jede Diskussion über Solidarität und Verteilmechanismen zwischen den Mitgliedstaaten Makulatur. Im September 2015 verschickte die Kommission 40 Mahnschreiben an 19 Staaten wegen unzureichender oder ungeklärter Umsetzung der Richtlinien, die zu 34 bereits laufenden Verfahren hinzukamen. Eine verhältnismäßig schnelle und deutliche Reaktion der Kommission.

7 Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit: Migration und nachhaltige Wirtschaftsentwicklung, Diskussionspapier, Bonn 2013.

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3. Die Migrationsagenda Die Europäische Migrationsagenda vom Mai 2015 bestätigt die hohe Bedeutung, die dem Migrationsthema in der Arbeit der aktuellen Kommission zukommt. Sie enthält einerseits Sofortmaßnahmen als Antwort auf die Flüchtlingskrise und andererseits auch erneut längerfristige Schwerpunkte zur Steuerung der Migration. Unter anderem werden sowohl die Umsiedlung (relocation) von Flüchtlingen in der EU, als auch die Neuansiedlung (resettlement) von Flüchtlingen aus den Herkunftsregionen beziffert. Für das Resettlement sollen von 2015 bis 2017 gut 20.000 Plätze angeboten werden, die sich nach einer Quote auf die Mitgliedsstaaten aufteilen. Dass das Ausmaß dieses Resettlement-Programms eher gering ist, wird deutlich angesichts der Tatsache, dass auch Deutschland in den letzten Jahren bereits 20.000 Syrer über ein humanitäres Aufnahmeprogramm aufgenommen hat. Das europäische Resettlement-Programm ist demnach zahlenmäßig und angesichts der Millionen von heimatlosen Syrern auf den ersten Blick ein Tropfen auf den heißen Stein. Im Vergleich zu allen vorhergehenden Programmen soll es allerdings nicht auf Freiwilligkeit basieren, sondern eine Quote anwenden, der sich die Mitgliedstaaten nicht entziehen können. Und darin bestünde ein echter Paradigmenwechsel. Zum Ende des Jahres 2015 haben die Mitgliedsstaaten 5.300 Plätze zugesagt, nur 779 Personen sind zu diesem Zeitpunkt auch schon neu angesiedelt worden8. Mehr Aufmerksamkeit hat die Umsetzung dieses Paradigmenwechsels bei der internen Neuverteilung, der relocation erhalten. Hier haben die Innenminister Ende September 2015 überraschender Weise mit qualifizierter Mehrheit und damit gegen die Stimmen von Rumänien, der Slowakei, Tschechien und Ungarn die Neuverteilung von 120.000 Flüchtlingen aus Italien und Griechenland beschlossen. Kaum jemand konnte in den Tagen vor der Sitzung vorhersehen, ob die Quotenbefürworter es wagen würden, an dieser Stelle vom Einstimmigkeitsprinzip abzuweichen (was zwar nicht zwingend vorgegeben, aber bei Entscheidungen zu diesen Themen bisher Usus war) und damit einen deutlichen Bruch und das weitere Auseinanderdriften der Europäer in der Krise zu riskieren. Die Verteilung dieser 120.000 (plus 40.000) Personen soll aus den sogenannten Hotspots, also Aufnahmezentren in Italien und Griechenland, erfolgen. Davon waren zum Jahresende in Griechenland einer und in Italien zwei einsatzbereit. Die ersten 272 Personen sind umgesiedelt worden. Es bleibt abzuwarten, ob der Hotspot-Relocation-Mechanismus am nötigen Schwung gewinnt, um die ihm zugeschriebene zentrale Funktion bei einer gesteuerten und geregelten Flüchtlingsverteilung in Europa zu erfüllen. Des Weiteren schlägt die Kommission die Einrichtung eines europäischen Grenzund Seeschutzes vor, mit dem das Mandat von Frontex deutlich ausgeweitet und systematischer werden würde9. Neben den Verhandlungen mit der Türkei über die Rück8

http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16 – 65_en.htm, abgerufen 29. 1. 2016. Siehe Pressemitteilung vom 15. 12. 2015: http://europa.eu/rapid/press-release_MEMO15 – 6332_de.htm. 9

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nahme von Flüchtlingen, die über die türkisch-griechische Grenze in die EU gekommen sind, darf schließlich auch die Bekämpfung von Fluchtursachen nicht vergessen werden, namentlich die Aufstockung der finanziellen Mittel für die Flüchtlingshilfe und die humanitäre Hilfe (UNHCR, Welternährungsprogramm und andere), den regionalen Treuhandfonds für Syrien und den Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika. III. Schlussbemerkungen Die Ausgangsfrage, mit welchen Instrumenten Europa angetreten ist, die Flüchtlingskrise zu bewältigen und ob diese geeignet sind, die Krise zu meistern, lässt sich am Ende nur mit einem „jein“ beantworten. Das Set an Initiativen weist in die richtige Richtung. Es ist eine Kombination aus humanitärer Hilfe, die Bemühung um sicheren Zugang zum Schutz, Grenzsicherung, die Unterstützung besonders belasteter Staaten, die schnelle Ausweisung nicht schutzberechtigter Personen und das Ziel, durch Hotspots so nah möglich an der Außengrenze die Registrierung, die Überprüfung der Asylberechtigung und dann gegebenenfalls die gesteuerten Weiterreise umzusetzen. Nur die Kombination aus all diesen Maßnahmen kann zu einer Reduktion der Flüchtlingszahlen und einer kontrollierten Flüchtlingsaufnahme in der EU führen. Deshalb benötigt diese Strategie Zeit. Zeit, die angesichts der politischen Zerreißprobe, die die Flüchtlingskrise zwischen den Mitgliedstaaten darstellt, und des Vormarschs rechtspopulistischer Parteien knapp ist. Weder Panik noch Schönfärberei können hier eine politische Lösung sein, sondern nur ein Handeln, das auf gelassenem Realismus aufbaut. Es gibt keine einfache Lösung, die schnell wirksam wäre und ein für alle Mal verhinderte, dass Menschen versuchen, über die Grenzen und das Meer nach Europa zu gelangen. Zumindest keine Lösung, bei der sich die EU nicht am Sterben direkt schuldig machte. Deshalb bedarf es eines ineinandergreifenden Systems aus Grenzschutz (bestehend aus Kontrollen, grenznaher Entscheidung über dauerhafte Einreise oder Rückführung sowie deren Umsetzung), sicheren Zugangs zum Schutz für Schutzbedürftige und transparenter Wege für legale Zuwanderung. * Abstract Katharina Senge: Migration Policy in Europe in the Light of the Refugee Crisis (Migrationspolitik in Europa im Zeichen der Flüchtlingskrise), in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 139–146. The opening question, concerning instruments Europe has used in order to cope with the refugee crisis and if these means were suitable to master the crisis, can only be answered with yes and no. The set of initiatives is a step in the right direction. A combination of humani-

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tarian aid, efforts to enable secure access to protection, border security, support of particular pressured states, rapid deportation of people not entitled to protection and the aim to implement hotspots near to external borders in order to execute registrations, review entitlements to asylum and govern transit; only the combination of all these provisions can lead to a reduction of refugee figures and a controlled admission of refugees into the EU. However, this strategy needs time. Time which is short, considering the political acid test, which the refugee crisis between the member states constitutes and right-wing populists on the rise. Neither panic nor embellishment can be the political solution, but acting upon calm realism. There is no simple or fast-acting solution, which prevents people from trying to reach Europe across borders and the sea once and for all. There is simply no scenario which would not involve Europe being responsible for deaths. Thus, there is a need for an interdependent system of border patrol (consisting of controls, decisions near to the border concerning permanent entry or repatriation, as well as its realisation), secure access to protection for those in need and transparent ways for legal immigration

„Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“. Zur Renaissance des Kirchenasyls als Rechtsproblem Von Friedemann Larsen I. Die aktuelle Kontroverse Die zahlreichen Krisenherde dieser Welt haben die Flüchtlingszahlen auf neue Rekordhöhen katapultiert.1 Für Europa und Deutschland sind die Auswirkungen auf die Zahl der Asylbewerber erheblich.2 Glaubt man den amtlichen Statistiken, sind im Jahr 2014 etwa ein Drittel der insgesamt 128.911 in der Bundesrepublik Deutschland abschließend bearbeiteten Asylanträge vom zuständigen Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (kurz: BAMF) als unbegründet abgelehnt worden.3 Hinzu treten jene Fälle, in denen die Bundesrepublik Deutschland die Überstellung des Asylsuchenden in einen anderen europäischen Mitgliedstaat veranlasst hat.4 Die 1

Nach dem Flüchtlingsbericht der Vereinten Nationen „World at War“ waren Ende des Jahres 2014 etwa 59,5 Millionen Menschen auf der Flucht, vgl. UNHCR. Global Trends. Forced Displacement in 2014, S. 2, abrufbar unter www.uno-fluechtlingshilfe.de; vgl. ferner die aktuelle Medienberichterstattung, etwa bei P. Carstens, FAS Nr. 28 v. 12. 07. 2015, Jede Woche 8.000 Flüchtlinge, S. 6; Bericht FAZ Nr. 173 v. 29. 07. 2015, Von wegen arme Afrikaner, S. 8; U. Rasche, FAS. Nr. 20 v. 17. 05. 2015, Grenzen, S. 10. 2 Vgl. Pressemitteilung Eurostat Nr. 53/2015 v. 20. 03. 2015. Die Zahl der registrierten Asylbewerber in der Europäischen Union ist mit 626.000 Anträgen im Jahr 2014 auf einen Spitzenwert gestiegen. Auf Deutschland entfiel die bei weitem höchste Anzahl von 202.700 registrierten Asylanträgen. Für das Jahr 2015 rechnete der Bundesinnenminister zunächst mit insgesamt 800.000 Asylanträgen, vgl. SZ Nr. 190 v. 20. 08. 2015, Von der Wirklichkeit überholt, S. 5. Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) und andere Spitzenpolitiker gingen zu dieser Zeit bereits von etwa einer Million Flüchtlinge aus, vgl. Bericht FAZ Nr. 214 v. 15. 09. 2015, S. 1. Die zuletzt genannte Schätzung hat sich als zutreffend erwiesen, vgl. dpa, Faz.net v. 08. 12. 2015, Prognose weit übertroffen. Millionster Flüchtling in Bayern registrier; dpa/Reuters/AFP, Faz.net v. 07. 12. 2015, Stau von Asylanträgen. De Maizière: Schichtarbeit im Flüchtlingsbundesamt. 3 Das Bundesamt in Zahlen 2014, Asyl, Migration, Integration, hrsg. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2014, S. 46. 4 Nach Angaben der Bundesregierung „erfolgte“ dies im Jahr 2014 in 4.772 Fällen, vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dag˘ delen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE (Drucksache 18/ 3896) v. 16. 02. 2015, BT-Drs. 18/4025, S. 13; ebenso Angaben des BAMF in: Das Bundesamt in Zahlen (Anm. 3), S. 40.

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Rechtsfolge dieser Entscheidungen regelt § 34 Abs. 1 S. 1 AsylVfG (jetzige Bezeichnung: Asylgesetz)5 i.V.m. §§ 50 ff., 58 ff. AufenthG unmissverständlich: der Ausländer ist ausreisepflichtig. Kommt er seiner Ausreisepflicht nicht „unverzüglich“ (§ 50 Abs. 2 AufenthG) freiwillig nach, wird er unter Federführung der zuständigen Ausländerbehörden,6 gegebenenfalls unter Anwendung von Zwang, entweder in sein Heimatland oder in einen sicheren Drittstaat abgeschoben.7 Um dem zu entgehen, wenden sich einige der Betroffenen verstärkt an die örtlichen Kirchgemeinden mit der Bitte um Gewährung von vorübergehendem Kirchenasyl. Im Jahr 2014 wurden von der Ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ (BAG) 430 Kirchenasyle mit mindestens 788 Personen registriert.8 Eine nicht unerhebliche Anzahl der Kirchenasylsuchenden waren sogenannte „Dublin-Fälle“.9 Betroffen waren also jene Asylvorgänge, deren Durchführung gemäß den Vorschriften der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 201310 (sog.: „Dublin III-Verordnung“) nicht in den Zuständigkeitsbereich der Bundesrepublik Deutschland, sondern in den eines anderen „Dublin-Staates“11 gefallen ist. In einem solchen Fall wird der Asylantrag gemäß § 27a 5

Vgl. Art. 1 Nr. 1 Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz v. 20. 10. 2015 (BGBl. I 1722). Hier gilt § 71 Abs. 1 S. 2 AufenthG i.V.m. den Ausführungsvorschriften der Länder. Im Regelfall liegt die Zuständigkeit zum Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen abgelehnter Asylbewerber bei einer als „zentral“ bestimmten Mittelbehörde (Regierungspräsidien, Landesverwaltungsämter, Landesdirektion), vgl. etwa § 3 Abs. 1 Nr. 4, § 1 Nr. 2 ZustVAuslR (BY); § 2 Abs. 1 AuslZustV (HE), § 3 Abs. 1 Nr. 1 SächsAAZuV; § 3 Abs. 1 i.V.m. § 1 Abs. Nr. 2 der ZuwFlAGDLVO (M-V). 7 Zu den verfahrensrechtlichen Einzelheiten der Abschiebung vgl. Kommentierung von I. Bauer, in: G. Renner/J. Bergmann/K. Dienelt (Hrsg.), Ausländerrecht. Kommentar, 2013, AufenthG §§ 58 – 62a. Die Abschiebung ist ein nach Bundesrecht geregelter Fall unmittelbaren Zwangs im Rahmen der Zwangsvollstreckung, vgl. F. O. Kopp/W.-R. Schenke, VwGO, 21. Aufl. 2015, § 80 Rn. 70. 8 Vgl. offizielle Pressemitteilung v. 04. 05. 2015, abrufbar unter www.kirchenasyl.de [zuletzt abgerufen am 16. 12. 2015]. Zum 14. 12. 2015 waren der BAG 278 Kirchenasyle mit mindestens 453 Personen bekannt, vgl. ebd. 9 Für das Jahr 2014 betraf dies 261 von 381 Personen, vgl. BAG, Jahresbericht 2014 v. 29. 04. 2015, S. 6, veröffentlicht unter www.kirchenasyl.de; für die zurückliegenden Jahre vgl. die von der BAG ebd. veröffentlichten „aktuelle Zahlen: Kirchenasyle bundesweit“, wonach stets etwa mehr als die Hälfte der Kirchenasylsuchenden den Dublin-Fällen zugeordnet wurden; ähnlich Mitteilung der EKD, Dossier, Nr. 7/März 2015, Kirchenasyl wird nicht infrage gestellt, S. 2; R. Bingener, FAZ Nr. 30 v. 05. 02. 2015, Zeit zum Nachdenken, S. 4. 10 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. 06. 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ABl.EU Nr. L 180/31 v. 29. 06. 2013. 11 Neben den EU-Mitgliedsstaaten gibt es völkerrechtliche Abkommen über die Anwendung der Dublin-Regeln in der Schweiz, in Dänemark, in Island und in Norwegen, vgl. C. Günther, in: W. Kluth/A. Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 7. Ed., Stand 01. 05. 2015, AsylVfG § 27a Rn. 4. 6

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AsylVfG (heute: § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) als unzulässig abgelehnt12 und die Abschiebung in den zuständigen Mitgliedstaat angeordnet.13 Aus Furcht vor der dann von dort erwarteten Rückführung in das krisengeplagte Herkunftsland dient das Kirchenasyl vielfach dazu, die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland doch noch herzustellen,14 indem der abgelehnte Asylbewerber über die sechsmonatige Abschiebefrist des Art. 29 Abs. 1 UA 1 der Dublin III-Verordnung i.V.m. § 27a AsylVfG (heute: § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) hinaus im deutschen Bundesgebiet verbleibt; die fristgerechte Abschiebung also verhindert wird.15 Gelingt dem Asylbewerber dies, muss sich die Bundesrepublik Deutschland seiner erneut annehmen und über den Asylantrag gegebenenfalls durch Selbsteintritt16 auch in der Sache entscheiden. Der starke Anstieg der Kirchenasyle – im Jahr 2013 waren erst 79 Fälle verzeichnet –17 veranlasste den Bundesminister des Inneren, Thomas de Maizière, anlässlich eines Treffens des CDU-Präsidiums mit 19 deutschen Bischöfen Anfang des Jahres 2015 zur scharfen Kritik an der von den Kirchen geübten Praxis. Als „Verfassungsminister“ lehne er das Kirchenasyl „prinzipiell und fundamental“ ab. Als Christ habe er zwar Verständnis dafür, dass die Kirchen „in Einzelfällen“ und unter dem „Gesichtspunkt des Erbarmens“ Flüchtlinge aufnähmen, doch könne sich die Kirche

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Vgl. C. Günther (Anm. 11), AsylVfG § 27a Rn. 6. Vgl. ausführlich zum Dublin-Verfahren, J. Bergmann, Das Dublin-Asylsystem, in: ZAR 2015, S. 81 ff. 14 Vgl. dazu Erstinformation der BAG zum Kirchenasyl im Abschnitt: „Dublin III und Kirchenasyl“, abrufbar unter www.kirchenasyl.de; Förderverein PRO ASYL e.V. (Hrsg.), Erste Hilfe gegen Dublin-Abschiebungen. Basiswissen und Tipps für die Einzelfallarbeit, 2015, S. 26 ff. unter dem Stichwort: „Kirchenasyl organisieren“; allgemein J. Grefen, Kirchenasyl im Rechtsstaat: Christliche Beistandspflicht und staatliche Flüchtlingspolitik, 2001, S. 110 ff., 116 f., 125. 15 M. Baldus, Kirchenasyl und Vertragskirchenrecht, NVwZ 1999, S. 716. Der Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland ist kein normativ fingierter Automatismus, sondern von weiteren Voraussetzungen abhängig, die in der Dublin III-Verordnung niedergelegt sind. So sind diese Normen echte Zuständigkeitsvorschriften, die dem Ziel der Verfahrensbeschleunigung dienen, vgl. EuGH, NVwZ 2014, S. 208 (210); C. Günther (Anm. 11), AsylVfG § 27a Rn. 16; vgl. für die Vorgängernorm aus der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates v. 18. 02. 2003, ABl.EG Nr. L 50/01 v. 25. 02. 2003 (Dublin II-Verordnung) VG München, Beschl. v. 18. 06. 2014, -M 24 E 14.50338, Rz. 31 (juris). 16 Der jederzeitige Selbsteintritt ist gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung grundsätzlich in das Ermessen des an sich unzuständigen Staates gelegt. Wird es ausgeübt, löst die so begründete Zuständigkeit eine Verpflichtung zur Durchführung des Verfahrens auf Gewährung internationalen Schutzes aus, vgl. C. Günther (Anm. 11), AsylVfG § 27a Rn. 62. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Europäischen Grundrechte, vgl. J. Bergmann, in: G. Renner/ders./K. Dienelt (Anm. 7), AsylVfG § 27a Rn. 5, kann sich das Selbsteintrittsrecht unter bestimmten Voraussetzungen im Einzelfall zu einer Selbsteintrittspflicht wandeln. Dies insbesondere bei einer unangemessen lange Verfahrensdauer zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates, dazu vgl. EuGH, NVwZ 2012, S. 417 (418), oder bei faktisch funktionsunfähigen Asylsystem im Zielmitgliedsstaat, dazu EGMR, NVwZ 2011, S. 413 ff. 17 Vgl. statistische Angaben der BAG für 2013, abrufbar unter www.kirchenasyl.de. 13

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nicht eigenmächtig über bestehende Gesetze hinwegsetzen.18 Die sich nach den Äußerungen de Maizière’s entladende scharfe Kontroverse19 macht die Spannungslage deutlich, in der sich das Kirchenasyl unter Geltung unserer demokratischen Rechtsordnung bewegt: die Verbindlichkeit unterschiedlicher Gerechtigkeitsverständnisse von Kirche und Staat als jeweils voneinander unabhängige Träger sozialer Kontrolle.20 So halten die Kirchen an ihrem diesbezüglichen Selbstverständnis unbeirrt fest.21 Nach Angaben hochrangiger Theologen seien seit Beginn der Kirchenasylbewegung aus dem Jahr 198322 etwa 80 % der Fälle erfolgreich „in dem Sinne verlaufen, dass eine Abschiebung verhindert“ wurde.23 Andere sprechen gar von einer 90 %igen „Erfolgsquote“.24 Die Zahlen lassen aufhorchen. Sollten die Behörden und Gerichte in den der Abschiebung vorausgegangenen Anerkennungsverfahren derart makelhaft mit den Belangen der Hilfe- und Schutzsuchenden umgegangen sein, dass die christlichen Religionsgemeinschaften mit ihrem Kirchenasyl tatsächlich als „unverzichtbare[s] Regulativ des Rechtsstaates auf der Suche nach materieller Gerechtigkeit“25 einspringen müssten? Dem will dieser Beitrag ein Stück weit nachgehen.

18 Vgl. Presseberichterstattung Der Spiegel, 6 Ausgabe v. 31. 01. 2015, S. 16. Dem Flüchtlingsbegriff liegt hier wie im Folgenden ein erweitertes Begriffsverständnis zu Grunde, das über die Legaldefinition des Art. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention) v. 28. 07. 1951 (BGBl. 1953 II, S. 560 f.), hinaus jeden auf der Flucht befindlichen Menschen erfasst. 19 Vgl. etwa Presseerklärung des hannoversche Landesbischof R. Meister v. 31. 01. 2015, abrufbar unter www.landeskirche-hannovers.de – Nachrichten; H. Prantl, SZ Nr. 28 v. 04. 02. 2015, Der Zorn Gottes, S. 6; epd, FAZ Nr. 33 v. 09. 02. 2015, De Maizière gegen Kirchenasyl, S. 4; K. Frigelj/J. Gutberlet/M. Kamann, Die Welt v. 11. 02. 2015, Kirchen unterlaufen das Asylrecht sehr erfolgreich, abrufbar unter www.welt.de/137326642; R. Bingener, FAZ Nr. 38 v. 14. 02. 2015, Zuflucht, Kirchenraum, S. 1; W. Offenloch, FAZ Nr. 60 v. 12. 03. 2015, Das Kirchenasyl lässt aufhorchen, S. 7; W.-D. Just, SZ Nr. 42 v. 20. 02. 2015, Wer klopfet an?, S. 2. 20 Vgl. R. Rothkegel, Kirchenasyl – Wesen und rechtlicher Standort, ZAR 1997, S. 151; V. Stiebig, Ein „altes“ Thema neu belebt: Kirchenasyl, ZAR 2004, S. 101. 21 Vgl. Beschluss der 7. Tagung der 11. Synode der EKD v. 12. 11. 2014 zur Willkommenskultur der Flüchtlinge, Nr. 3; jüngst bekräftigt in Mitteilung der EKD (Anm. 9); öku/ KNA/epd, Faz.net v. 25. 02. 2015, Bischöfe halten an Kirchenasyl fest; Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Kardinal Marx Nr. 034 v. 26. 02. 2015, dort Ziff. 18. 22 Zu den Hintergründen vgl. J. Grefen (Anm. 14), S. 97 ff. 23 So jedenfalls W.-D. Just (Anm. 19). 24 R. Bingener (Anm. 19); in diese Richtung äußerte sich auch Reinhard Kardinal Marx, vgl. SZ Nr. 45 v. 24. 2. 2015, Immer mehr Fälle von Kirchenasyl, S. 6. 25 So etwa M.-E. Geis, Kirchenasyl im demokratischen Rechtsstaat, JZ 1997, S. 60 (67).

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II. Erfassung des Untersuchungsgegenstandes und Fragestellung Doch ist es zunächst nötig, einige Eingrenzungen vorzunehmen. Gegenstand der folgenden Erörterungen ist das Kirchenasyl. Darunter ist hier26 die ethisch-religiös motivierte Gewährung von Zuflucht oder anderen Hilfeleistungen für von Abschiebung bedrohte ausländische Flüchtlinge in Kirchen und Klöstern oder außerkirchlichen, aber kircheneigenen Räumlichkeiten und Räumen, mit ausdrücklichem Einverständnis der Kirchgemeindevertretung zu verstehen.27 Dies grenzt ab von sog. „Privatasylen“ oder der Aufnahme durch eine (frei-)kirchliche Religionsgemeinschaft ohne öffentlich-rechtlichen Körperschaftsstatus. In diesen Fällen fehlt es am institutionellen Charakter, sodass die rechtliche Qualifizierung teilweise anderen Grundsätzen unterliegt, auf die hier nicht eingegangen werden kann.28 Im Hinblick auf die konkrete Ausgestaltung des Kirchenasyls werden mehrere Organisationsformen unterschieden:29 Von Interesse sein soll hier allein das sog. „offene“ Kirchenasyl, wonach sowohl die Mitglieder der Kirchgemeinde und die kirchlichen Aufsichtsorgane wie auch die zuständige Ausländerbehörde von der örtlichen Kirchgemeindevertretung über das Bestehen eines Kirchenasyls mit Angabe der ladungsfähigen Anschrift des von der Abschiebung bedrohten Asylbewerbers – gegebenenfalls pressewirksam – informiert werden.30 Nicht selten ist hier die Rede von einer „Flucht in die Öffentlichkeit“31 oder vom „Protest“ gegen eine im Einzelfall als ungerecht empfundene Asylpolitik.32 Die anderen Formen unterscheiden sich vom „offenen“ Kirchenasyl im Wesentlichen hinsichtlich der konkreten Informationspolitik der handelnden Kirchgemeindevertretung nach außen. So liegt etwa ein „stilles“ Kirchenasyl dann vor, wenn die Behörde über den Aufenthaltsort des Kirchenasylsuchenden unter Ausschluss der Öffentlichkeit Information erhält. Dagegen spricht man von einem „verdeckten“ Kirchenasyl dort, wo die Verwaltung allenfalls über das Bestehen eines Kirchenasyls überhaupt, aber ohne Angabe einer konkreten Adresse informiert wird.33 Gerade im zuletzt genannten Fall bereitet die rechtliche Einordnung wenig Probleme, da die Behörden hier zu Recht von einer Entziehungs26 Zu den zahlreichen Definitionsansätzen vgl. Überblick bei M. H. Müller, Rechtsprobleme beim „Kirchenasyl“, 1999, S. 36 f.; J. Grefen (Anm. 14), S. 68 ff., jeweils m.w.N. 27 Vgl. V. Stiebig (Anm. 20), S. 101; R. Rothkegel (Anm. 20), S. 121; zur staatlichen Billigung abgrenzend B. Fessler, Kirchenasyl im Rechtsstaat, NWVBl. 1999, S. 449 (451). 28 Vgl. dazu näher J. Grefen (Anm. 14), S. 83 ff. u. S. 267 ff.; R. Rothkegel (Anm. 20), S. 123 f. 29 Eingehend zum Ganzen M. H. Müller (Anm. 26), S. 38 ff.; J. Grefen (Anm. 14), S. 73 ff. 30 M. H. Müller (Anm. 26), S. 40; ebenso V. Stiebig (Anm. 20), S. 102. 31 OLG Köln, NVwZ 1993, S. 707; BayObLG, NJW 1999, S. 1713 (1714). 32 Vgl. R. Rothkegel (Anm. 20), S. 123; K. Neundorf, „Kirchenasyl“. Verfassungsrechtliche Aspekte und ausgewählte administrative Handlungsmöglichkeiten, in: ZAR 2011, S. 259 (260). 33 Zu diesen und weiteren Formen vgl. M. H. Müller (Anm. 26), S. 40 f.; J. Grefen (Anm. 14), S. 80 f.

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absicht vor staatlichen Zugriffsmaßnahmen (vgl. etwa § 62 Abs. 3 S. 1 AufenthG) ausgehen dürfen und also berechtigt sind, der damit im Zusammenhang stehenden Fluchtgefahr unter Einsatz sämtlicher rechtsstaatlicher Mittel vorzubeugen.34 Schließlich ist noch eine Einschränkung im Hinblick auf den rechtlichen Bezugspunkt der Betrachtung zu leisten. Die Gewährung von „Kirchenasyl“ wirkt sich auf verschiedene Rechtsgebiete aus. Die Berührungspunkte reichen etwa von den zahlreichen verwaltungsrechtlichen Fragestellungen zur behördlichen Durchsetzbarkeit der einschlägigen gesetzlichen Vorschriften des Asyl- und Aufenthaltsrechts35, der damit einhergehenden Befugnis polizeilichen Einschreitens gegenüber der Kirchenasylgewährung36 bis hin zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit sowohl des Asylsuchenden als auch des Asylgewährenden.37 Dem geht jedoch stets die Frage nach der Legitimität des Kirchenasyls im Gefüge unserer geltenden Verfassungsordnung selbst voraus. Wenn staatliches Handeln gem. Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG unter dem allgemeinen Geltungsvorrang der Verfassungsordnung, insbesondere dem der Grundrechte steht,38 dann hängt es von der Antwort auf diese Frage ab, inwieweit die Gewährung von Kirchenasyl bei der staatshoheitlichen Beurteilung konkreter Rechtsfragen im Einzelfall erheblich ist. Dem widmen sich die nachfolgenden Gedanken.

34 „Indizwirkung des Untertauchens“, vgl. BGHZ 75, 375 (382); 98, 109 (112); ebenso OVG Saarland, Beschluss v. 28. 02. 2001, – 9 V 39/00 (juris); „Entziehungsabsicht“ bei BayObLG (Anm. 31), S. 1714; vgl. zur Rechtsprechung auch V. Stiebig (Anm. 20), S. 102 f. 35 Genannt sei etwa die behördliche Befugnis zur Anordnung der Abschiebungshaft nach § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, 4 und 5, u. S. 2 AufenthG, bei der die jeweils normativ vorausgesetzte „Gefahr des Untertauchens“ (Nr. 2) oder die „Entziehungsabsicht“ (Nr. 4 u. 5) in Konfliktlage mit dem Charakter eines „offenen“ Kirchenasyls (vgl. oben) gerät, dazu BayObLG (Anm. 31), S. 1714, mit Besprechung M. H. Müller, Die Anordnung von Abschiebungshaft bei Kirchenasyl, in: ZAR 1996, S. 170 f. Ferner sei erwähnt die Problematik der Duldung nach § 60a AufenthG als Folge eines Kirchenasyls, dazu M.-E. Geis (Anm. 25), S. 65 f.; K. Neundorf (Anm. 32), „Kirchenasyl“, in: ZAR 2011, S. 389 f.; des Weiteren berührt das Kirchenasyl melderechtliche, sozialrechtliche und, bei minderjährigen Flüchtlingen, auch schulrechtliche Fragestellungen, vgl. zu diesen und weiteren verwaltungsrechtlichen Auswirkungen des Kirchenasyls ausführlich M. H. Müller (Anm. 26), S. 123 – 190. 36 Vgl. dazu etwa Entscheidungen von OLG Köln (Anm. 31), S. 707 ff; AG Wolfratshausen, NJW 1996, S. 942; BayObLG (Anm. 31), S. 1713 f.; LG München I, NVwZ-Beil. 2001, S. 63. 37 LG Osnabrück, NStZ 2002, S. 604; eingehend auch Chr. Görisch, Kirchenasyl und staatliches Recht, 2000, S. 73 – 109. 38 Vgl. grundlegend R. Wahl, Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, in: NVwZ 1984, S. 401 ff. (403, 408 f.); H.-D. Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, 1999, insb. S. 93 ff., S. 178 ff.; J. Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2015, § 2 Rn. 97 ff.

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III. Herkunft und Selbstverständnis des Kirchenasyls 1. Historische Grundlagen des Kirchenasyls Die lange und wechselvolle Geschichte des Kirchenasyls ist im Schrifttum bereits eingehend ausgeleuchtet worden und braucht hier nicht im Einzelnen wiederholt zu werden.39 So steht fest, dass das Kirchenasyl gerade im Mittelalter zunächst auf Grundlage der Heiligkeit kirchlicher Stätten (die loci reverentia,),40 später in dogmatischer Anknüpfung an die Barmherzigkeit (die intercessio)41 Eingang in das kanonische Recht gefunden hatte.42 In erster Linie wollte es den von (halb-)staatlicher Verfolgung und privater Blutrache bedrohten Straftätern Zuflucht gewähren,43 denn diese hatten von der jeweiligen Ordnungsmacht unter Geltung einer nur rudimentär ausgebildeten staatlichen Rechtsordnung drastische Repressalien bis hin zu willkürlicher Verstümmelung und Tod zu erwarten.44 Unter der Fürsprache der Kleriker war die Durchführung eines ordentlichen Prozesses gewährleistet, der Schuldoder Unschuld des Betroffenen relativ zuverlässig feststellte und unter Ausschluss der Todesstrafe ahndete. Die so durch das historische Kirchenasyl bewirkte „Humanisierung“ des Strafrechts45 war staatlicherseits toleriert,46 teilweise im Wege kaiserlicher Anerkennung sogar staatlich garantiert.47 Doch trat die zunehmend kasuistische Entfaltung des sakralen Asylrechts bis hin zu seiner rechtlichen „Verabsolutierung“ verstärkt in Konflikt mit den obrigkeitlichen Herrschaftsinteressen, in deren Teilhabe die Bischöfe zunehmend auch selbst eingetreten sind.48 Neben den die Kir-

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Vgl. jeweils m.w.N. G. Robbers, Kirchliches Asyl?, in: AöR 113 (1988), S. 30 (32 ff.); P. Landau, Traditionen des Kirchenasyls, in: K. Barwig/D. R. Bauer (Hrsg.), Asyl am Heiligen Ort, 1994, S. 47; H.-R. Reuter, Subsidiärer Menschenrechtsschutz: Bemerkungen zum Kirchenasyl aus protestantischer Sicht, ZRP 1996, S. 97 f.; M. Baldus (Anm. 15), S. 717; B. Fessler (Anm. 27), S. 449 f.; M. H. Müller (Anm. 26), S. 20 ff.; J. Grefen (Anm. 14), S. 24 ff.; M. Babo, Ein eigenes Asylkontingent für Kirchen und humanitäre Organisationen, ZAR 2001, S. 269 f. 40 Vgl. dazu G. Robbers (Anm. 39), S. 33; M. H. Müller (Anm. 26), S. 34 mit Anm. 135. 41 J. Grefen (Anm. 14), S. 30 f. 42 Vgl. H. Siems, Zur Entwicklung des Kirchenasyls zwischen Spätantike und Mittelalter, in: Libertas. Symposium aus Anlaß des 80. Geburtstag von Franz Wieacker, 1991, S. 139 ff. m.w. Quellennachweisen. 43 B. Fessler (Anm. 27), S. 449 f.; R. Rothkegel (Anm. 20), S. 122. 44 Vgl. M. H. Müller (Anm. 26), S. 27 f.; B. Fessler (Anm. 27), S. 451. 45 Vgl. G. Robbers (Anm. 39), S. 34 u. S. 35; R. Rothkegel (Anm. 20), S. 122. 46 M. Babo (Anm. 39), S. 269: der Staat habe „die Fehlerhaftigkeit seines Systems erkannt und das sakrale Asyl bewußt als Hilfsmittel zur Korrektur dieser Defizite eingesetzt“. 47 Dazu m.w.N. J. Grefen (Anm. 14), S. 46 f.; R. G. Bindschedler, Kirchliches Asylrecht (Immunitas ecclessiarum localis) und Freistädten in der Schweiz vor der Reformation, 1906, S. 28. 48 Vgl. M. Babo (Anm. 39), S. 270: weltliche Gerichtsbarkeit.

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che vom Staat entflechtenden Einflüssen der Reformation49 begründete später vor allem der Souveränitätsanspruch des modernen Staates50 den Niedergang des Kirchenasyls. Insbesondere die zwischenzeitlich durch staatliche Landfrieden rechtlich geordnete51 Strafrechtspflege wie auch die Einrichtung einer vom Kaiser weitgehend losgelösten staatlichen Gerichtsbarkeit52 dämmten Blutrache und Fehdewesen ein.53 Im Laufe der Zeit entfielen die ursprünglichen theologischen wie auch weltlichen Legitimationsgrundlagen auf breiter Front und damit auch die staatliche Bereitschaft ihrer Berücksichtigung.54 Es nimmt also nicht Wunder, dass die Anerkennung des Kirchenasyls mit Erlass des Allgemeinen Landrechts von 1794 zuerst in Preußen,55 später auch in anderen deutschen Staaten56 definitiv entfallen ist. 2. Legitimation des Kirchenasyls als Institut im heutigen Kirchenrecht Diesem Wandel konnte sich auch das kirchliche Recht nicht auf Dauer entziehen. Im kanonischen Recht wurde zwar noch im Codex Iuris Canonici aus dem Jahr 1917 am kirchlichen „Asylrecht“ festgehalten.57 Es war aber angesichts der staatlichen Rechtslage, die für das Asylwesen schon damals von der Ausschließlichkeitskompe-

49 Näher G. Robbers (Anm. 39), S. 36; J. Grefen (Anm. 14), S. 47 f. Zu erwähnen sind insbesondere die Prämissen der reformatorischen Theologie, die nicht nur weltliche Rechtspflege und kirchliches Gebot voneinander trennten (sog: „Zwei-Reiche-Lehre“), sondern sowohl den Priestern als auch den kirchlichen Gebäuden ihre „Heiligkeit“ abgesprochen haben, vgl. allgemein H. de Wall/St. Muckel, Kirchenrecht, 4. Aufl. 2014, § 4 Rn. 2 f. u. § 24 Rn. 10. 50 J. Grefen (Anm. 14), S. 49 f.; näher D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 7. Aufl. 2013, § 25 Rn. 1. 51 Vgl. näher K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band V.: Die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staatsrechts, 2000, § 124 II 5 a) (S. 28), § 124 II 6 (S. 34 f.). 52 R. G. Bindschedler (Anm. 47), S. 29. 53 Vgl. D. Willoweit (Anm. 48), § 15 Rn. 8 ff., § 20 Rn. 9 ff. 54 Vgl. etwa zur Einrichtung und Funktion des kaiserlichen Reichskammergerichts G. Schmidt-v. Rhein, Das Reichskammergericht in Wetzlar, NJW 1990, S. 489 ff.; allgemein R. G. Bindschedler (Anm. 47), S. 195 f. 55 Konkret: § 175, Abschnitt II., Titel 11 PrALR: „Sie (die Kirchgebäude, Anm. des Verfassers) sollen zu keinen Freystätten für Verbrecher dienen, sondern die Weltliche Obrigkeit ist berechtigt, diejenigen, welche sich dahin geflüchtet haben, heraus zu holen, und ins Gefängnis bringen zu lassen“; abgedruckt bei H. Hattenhauer (Hrsg.): Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe mit einer Einführung und Bibliographie, 1970. 56 Vgl. G. Robbers (Anm. 39), S. 37; M.-E. Geis (Anm. 25), S. 61; M. H. Müller (Anm. 26), S. 30 m.w.N. bei Fn. 113. Spätestens mit Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung v. 01. 02. 1877 (RGBl. S. 253) am 01. 10. 1879 wurde das Kirchenasyl im gesamten Reichsgebiet konkludent aufgehoben, vgl. M. H. Müller, ebd., S. 30 f. 57 Vgl. can 1179 des CIC 1917: „Die Kirche erfreut sich des Asylrechts in der Weise, daß zu ihr geflüchtete Straftäter ohne Zustimmung der Kirchenoberen, außer bei zwingender Notwendigkeit, dort nicht verhaftet werden dürfen.“ Der Asylbruch wurde als Sakrileg geahndet, vgl. can 2325 des CIC 1917.

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tenz des Staates ausging,58 nicht mehr effektiv durchsetzbar.59 Der Codex Iuris Canonici des Jahres 1983 enthielt eine entsprechende Formulierung deshalb nicht mehr.60 Aus konkordanten Vereinbarungen zwischen Kirche und Staat ergibt sich nichts anderes.61 Ebenso wenig kann das Kirchenasyl als unmittelbar biblisches Recht (ius divinum) Anerkennung finden. Denn dessen zahlreiche biblische Anknüpfungspunkte62 bedürften stets der konkreten Ausformung durch das kirchliche Recht, die in der Moderne freilich unterblieben ist. Dementsprechend beanspruchen die Vertreter der großen Kirchen aktuell jedenfalls kein eigenes institutionalisiertes Recht zur Gewährung von Kirchenasyl mehr.63 3. Zwischenergebnis Sohin bleibt festzuhalten, dass sich das Kirchenasyl in seinem ursprünglichen Sinne als ein staatlich weitgehend anerkanntes und im Kirchenrecht verbindlich ausgestaltetes Verfahren zur Durchsetzung christlicher Rechts- und Gerechtigkeitsvorstellungen auf Basis von Barmherzigkeit und Heiligkeit im weltlichen Bereich versteht. Es federte die systeminhärenten Defizite früh- und hochmittelalterlicher Staatlichkeit ab und forderte insbesondere dort Geltung, wo staatliche Strafverfolgung undifferenziert oder willkürlich zur Verhängung peinlicher oder kapitaler Strafen führte. Der institutionelle Geltungsanspruch aber hatte der durch Reformation, Absolutismus und Aufklärung beförderten Säkularisierung und dem Anspruch autonomer Rechtssetzungs- und Rechtsdurchsetzungsbefugnis moderner Staatlichkeit zu weichen. Mangels staatlicher Anerkennung tilgten auch die Kirchen das Kirchenasyl, soweit sie es eigens verrechtlichten,64 aus ihrem Kirchenrecht. So gilt zumindest das institutionelle Kirchenasyl als abgeschafft.65 58

Näher J. Grefen (Anm. 14), S. 49. Ähnlich M. H. Müller (Anm. 26), S. 31; M. Babo (Anm. 39), S. 269. 60 Vgl. jeweils m.w.N. M.-E. Geis (Anm. 25), S. 62; B. Fessler (Anm. 27), S. 451. 61 Vgl. S. Kirste, Kirchenasyl und Verfassungsrecht, JA 2001, S. 856; M. Baldus (Anm. 15), S. 718; M. Babo (Anm. 39), S. 271 mit Anm. 71. 62 Vgl. etwa mit Bezug auf das biblische Gebot, Fremden Obdach zu gewähren, das Gastrecht sowie das Eintreten für Flüchtlinge: aus dem Alten Testament etwa 1. Mose 12, 10; 47, 4/6; 2. Mose 3, 7 f.; 5. Mose 10, 18; 14, 29; 26, 11/13; aus dem Neuen Testament etwa: 1. Petrus 1, 1; 2, 11; Joh. 1, 11; Matthäus 8, 20, sowie – dem Titelzitat entsprechend – Matthäus 25, 35; zu weiteren Ansätzen vgl. auch B. Fessler (Anm. 27), S. 452. 63 Vgl. etwa (als damaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz) K. Lehmann, Der Spiegel, 20. Ausgabe v. 16. 05. 1994, S. 51; aktuell Bischoff H. Bedford-Strom (EKD), in F.A.S. Nr. 17 v. 26. 04. 2015, „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, S. 21; R. Bingener (Anm. 19); näher auch R. Rothkegel (Anm. 20), S. 151; M. H. Müller (Anm. 26), S. 74; B. Fessler (Anm. 27), S. 452. 64 Die Evangelische Kirche hatte aufgrund ihrer engen Verflechtung mit dem Staat nur rudimentär ein Asylrecht aufgenommen, M. H. Müller (Anm. 26), S. 42, dort These 5. 65 So auch M. H. Müller (Anm. 26), S. 42, dort These 6, S. 77; ders., Abschiebungshaft bei einem „Kirchenasyl“, in: NVwZ 2001, S. 879; anders wohl G. Robbers (Anm. 39), S. 38 – 40: 59

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IV. Die verfassungsrechtliche Problematik Dennoch wird das Kirchenasyl heute eingehend praktiziert.66 Dies aber nicht abgeleitet aus einer Norm des Kirchenrechts, sondern aus anderen Quellen. So folge die Praxis des Kirchenasyls der „Christenpflicht […] für Fremde zu sorgen“.67 Andere heben ethisch-moralisch etwa auf die humanitäre Tradition des eigenen Volkes,68 der eigenen religiösen Überlieferung69 oder, normativ begründet, auf die Menschenwürdegarantie und die Universalität der Menschenrechte ab.70 All diese Motive sind sicher ehrbar. Doch wird damit das umfassend verstandene staatliche Souveränitätsverständnis letztlich nicht erneut in Zweifel gezogen? Der hiermit im Zusammenhang stehenden verfassungsrechtlichen Problematik widmet sich die nun folgende Auseinandersetzung. 1. Das Kirchenasyl im Spannungsbogen staatlicher Souveränität und theologischer Sozialethik Politisch Verfolgte genießen Asylrecht, so sieht es Art. 16a GG ausdrücklich vor. Die Durchführung des Asylrechts wiederum ist dem Staat vorbehalten (staatliches „Asylgewährungsmonopol“)71. Er allein ist Adressat der Norm;72 er ist es, der aus „kirchenrechtliche Relevanz“; ihm folgend: M. Will, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 7. Aufl. 2014, Art. 16a Rn. 1a: „interne[s] Kirchenrecht [kennt] ein eigenständiges kirchliches Asylrecht“. 66 Vgl. oben I. mit Anm. 8. 67 Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelische Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz, in: Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht, herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1997, Ordnungsziffer (133); Konsistorium D 30914 – 52/94 v. 10. 10. 1994, Beistand ist nötig, nicht Widerstand – Thesen zum „Kirchenasyl“, zugleich Pressemitteilung des Rates der EKD vom 09./10. 09. 1994, veröffentlicht etwa im Amtsblatt der Pommerischen Evangelischen Kirche v. 31. 10. 1994, S. 153 f. Soweit ersichtlich wohnt beiden Erklärung auch heute noch Gültigkeit inne; auf die Christenpflicht als Rechtfertigungskriterium ebenfalls abhebend H.-R. Reuter (Anm. 39), S. 100. 68 Vgl. Interview mit H. Bedford-Strohm (Anm. 63); Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelische Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz (Anm. 67), Ordnungsziffer (131, 132). 69 Vgl. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelische Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz (Anm. 67), Ordnungsziffer (131, 132). 70 Vgl. etwa M. Rekowski/A. Kurschus/D. Arends/U. Becker (Hrsg.), „Wenn ein Fremdling bei Euch wohnt…“. Kirchenasyl im Raum der evangelischen Landeskirchen (NRW), 2013, S. 4; Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM), Kirchenasyl. Handreichung für die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, ohne Datum, S. XVII ff. m.w.N. auf kirchliche Stellungnahmen unter Ziff. 3.4; zu früheren Stellungnahmen vgl. H. Leuninger, Kirche und Flüchtlinge, in: K. Barwig/D. Mieth (Hrsg.), Migration und Menschenwürde, 1987, S. 140 ff.; A. P. Rethmann, Kirchliche Stellungnahmen zur Asyl- und Migrationspolitik, JCSW 35 (1994), S. 189 (190 f.); D. Just, Kirchenasyl – eine Anfrage an den Rechtsstaat, in: ZAR 1999, S. 74 (75); ebenso H.-R Reuter (Anm. 39), S. 101. 71 Vgl. S. Kirste (Anm. 61), S. 856.

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Art. 1 Abs. 3 GG an das Asylgrundrecht73 gebunden ist. Zur Gewährleistung und Durchführung des Asylgrundrechts muss der Staat also nicht nur gegen sich selbst (Art. 20 Abs. 3 GG), sondern auch gegenüber allen anderen, die der Verfassung unterworfen sind, Achtung gegenüber seiner Rechtsordnung einfordern.74 Die Kirchen sind hiervon nicht ausgenommen.75 Im Gegenteil: nach übereinstimmender Auffassung gewährleistet Art. 16a GG kein „Kirchenasylrecht“.76 Auch der Status als Körperschaft des Öffentlichen Rechts i.S.d. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV führt zumindest im Asylrecht nicht zur Grundrechtsbindung der Kirchen nach Art. 1 Abs. 3 GG, wie sie dem Staat eigen ist.77 Denn die Kirchen sind weder Teil der Staatsverwaltung noch im Staat in irgendeiner anderen Weise inkorporiert.78 Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht die im Jahr 1993 mit Blick auf wachsende Asylbewerberzahlen beschlossene Verschärfung des Asylrechtstatbestandes des Art. 16a GG79 in den sog. „Asylurteilen“ vom 14. Mai 199680 – unter anderem unter Berücksichtigung der Menschenwürdegarantie –81 im Wesentlichen bestätigt.82 Art. 16a GG sowie die daraus abgeleiteten Durchführungsvorschriften, ins-

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Vgl. I. v. Münch, „Kirchenasyl“: ehrenwert, aber kein Recht, in: NJW 1995, S. 565. BVerfGE 74, 51 (57); H. D. Jarass, in: ders./B. Pieroth, GG, 13. Aufl. 2014, Art. 16a Rn. 1. 74 Vgl. J. Peißl, „Kirchenasyl“ – gelebter Grundrechtsschutz oder Affront gegen den Rechtsstaat?, BayVBL. 1999, S. 137 (138); C. Görisch (Anm. 37), S. 113 m.w.N. bei Anm. 10. 75 Vgl. B. Huber, Sanctuary: Kirchenasyl im Spannungsverhältnis von strafrechtlicher Verfolgung und verfassungsrechtlicher Legitimation, in: ZAR 1988, S. 153 (155); J. Peißl (Anm. 74), S. 138. 76 Vgl. BVerfGE 49, 202 (205 f.); 74, 51 (57 ff.); M.-E. Geis (Anm. 25), S. 62; M. Will (Anm. 65), Art. 16a Rn. 1a; K. Neundorf (Anm. 32), S. 261. Dies wird von den Kirchen als solches auch gar nicht eingefordert, vgl. nach R. Rothkegel (Anm. 20), S. 122 m.w.N. 77 Vgl. J. Grefen (Anm. 14), S. 209; B. Huber (Anm. 75), S. 154; so auch W. Höfling, in: M. Sachs (Anm. 65), Art. 1 Rn. 114 f.; S. Kirste (Anm. 61), S. 856. 78 U. Hemmrich, in: I v. Münch/Ph. Kunig (Hrsg.), GG-Komm., 5. Aufl., 2003, Art. 140 Rn. 16. 79 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes v. 28. 06. 1993 (BGBl. I S. 1002); zu den Gründen vgl. Gesetzentwurf v. 19. 1. 1993, BT-Drs. 12/4152, S. 3. Dem ging der sog. „Asylkompromiss zwischen CDU/CSU, SPD und F.D.P. v. 06. 12. 1992 (vgl. Blätter für deutsche und internationale Politik, 1993, S. 114 ff.), voraus. 80 BVerfGE 94, 49 ff. – Sichere Drittstaaten; BVerfGE 94, 115 ff. – Sichere Herkunftsstaaten; BVerfGE 94, 166 ff. – Flughafenverfahren. 81 BVerfGE 94, 49 (102 ff.). Hier legt das Gericht ausdrücklich fest, dass das Asylrecht nicht zum gem. Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Gewährleistungsgehalt der Menschenwürde zu zählen ist, derselbe viel mehr jeweils eigenständig zu bestimmen sei, vgl. ebd., S. 103. 82 Allgemein K. Hailbronner, Das Asylrecht nach Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, NVwZ 1996, S. 625 ff. 73

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besondere solche zur Regelung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Art. 16a Abs. 2 – 4 GG)83 sind somit für alle geltendes und verbindliches Recht. Trotzdem sind die Kirchen zumindest seit ihrer gemeinsamen Erklärung aus dem Jahr 1997 der Auffassung, dass sich aus „kirchlicher Sicht, das heißt der biblischen Auslegung der Menschenwürde des einzelnen“ Anforderungen „an den Gesetzgeber“ ergäben, „die über das hinausgehen, was nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts grundgesetzlich geregelt“ sei. „Aus christlicher Sicht“ genüge „es nicht, daß sich der Schutz von Flüchtlingen und eine dementsprechende Politik und Gesetzgebung an den grundgesetzlich unabweisbaren Mindestanforderungen“ ausrichte, sondern daran, was „theologisch und ethisch geboten“ sei.84 Mit der in der Diakonie verorteten Nächstenliebe85 bezieht die christliche Moral- und Pastoraltheologie der Kirchen Front gegen die vom Bundesverfassungsgericht judizierten Verfassungsvorgaben. Es geht um nichts weniger, als um die Letztinterpretation der an den (Asyl-)Gesetzgeber zu stellenden Anforderungen. Zwar ist unstreitig, dass das heutige Kirchenasyl mit dem in der historischen Staatsordnung anerkannten Verständnis seines geschichtlichen Vorläufers nichts mehr zu tun hat.86 Doch im Grunde wird unter Berufung auf eine höhere Gerechtigkeit das staatliche Asyl substituiert und stattdessen ein autonomes Recht auf Schutzerbieten praktiziert.87 So wird das Kirchenasyl, zumal in seiner „offenen“ Form, auch zum Protestmittel88 gegen eine als unchristlich oder ungerecht empfundene Rechtslage. 2. Rechtfertigung des Kirchenasyls nach geltender Verfassungsordnung Fraglich ist, wie der Staat mit dem Kirchenasyl angesichts des erst jüngst erneuerten kirchlichen Anspruchs89 auf ethisch-moralische Einhegung seiner Staatsgewalt grundsätzlich umzugehen hat.

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BVerfGE 94, 49 (101); H. D. Jarass (Anm. 73), Art. 16a Rn. 35. Dazu zählen das AsylVfG (heute: Asylgesetz); AsylbLG; AufenthG. 84 Vgl. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelische Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz (Anm. 67), Ordnungsziffer (136 mit Zitat); zu weiteren Stellungnahmen vgl. J. Grefen (Anm. 14), S. 116 ff. 85 Näher zur Caritas im kirchlichen Selbstverständnis J. Isensee, Karitative Betätigung der Kirchen im Verfassungsstaat, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 2. Aufl., 1995, § 59 S. 665 ff. 86 Vgl. M. Baldus (Anm. 15), S. 718; H.-R. Reuter (Anm. 39), S. 98; R. Rothkegel (Anm. 20), S. 122; B. Fessler (Anm. 27), S. 449 f. 87 Vgl. R. Rothkegel (Anm. 20), S. 122. 88 Vgl. J. Grefen (Anm. 14), S. 105; S. Kirste (Anm. 61), S. 857; im Übrigen s. o., Nachweise bei Anm. 32. 89 Vgl. etwa Pressemitteilung BAG v. 02. 03. 2015, Ermutigendes Zeichen für Kirchenasyl?; Mitteilung der EKD (Anm. 9); sowie Nachweise bei Anm. 21.

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a) Kirchenasyl als Ausfluss des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 3 WRV? Eine Rechtfertigung des Kirchenasyls könnte sich zunächst aus dem in Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 3 S. 1 WRV verbürgten kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ergeben. Hiernach „ordnet und verwaltet“ jede Religionsgemeinschaft, einschließlich ihrer Unterorganisationen bis hinab zur Pfarrgemeinde,90 „ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“.91 Zu solchen Angelegenheiten gehören nicht nur rein innerkirchliche Organisationsfragen; erfasst sind auch die auf dem kirchlichen Selbstverständnis beruhenden Handlungen in den gesellschaftlichen Bereich hinein.92 Zwar gibt es im Kirchenrecht wie dargelegt kein institutionell garantiertes Kirchenasyl.93 Dennoch zählen die offiziellen Verlautbarungen der Kirchen die karitative Hilfe, die Flüchtlingen unmittelbar durch christliche Gemeinden gewährt wird, zu den originär kircheneigenen Angelegenheiten.94 Doch gilt die vom Staat gewährleistete freie Interpretationsmacht der Kirchen über den Bestand ihrer eigenen Angelegenheiten95 nicht unbegrenzt. Sie findet ihre Schranke gem. Art. 140 GG i.V.m. 137 Abs. 3 S. 1 WRV in den für alle geltenden Gesetzen. Der materielle Gehalt dieser Schrankenregelung ist jedoch strittig.96 Waren ursprünglich alle Gesetze, die für die Religionsgemeinschaften „dieselbe Bedeutung haben wie für jedermann“, also diese nicht in ihrer Besonderheit als Kirche härter trafen als andere Rechtsträger, taugliche Schrankenregelungen,97 erlangt in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Wechselwirkung von staatlichem Rechtsgüterschutz und Kirchenfreiheit entscheidende Bedeutung.98 Hiernach sind die für alle geltenden Gesetze im Lichte ihrer besonderen Bedeutung der staatskirchenrechtlichen Verfassungsgarantien auszulegen und anzuwenden und in ihrer die Verfassungsgarantien begrenzenden Wirkung selbst wieder einzuschrän-

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Vgl. M.-E. Geis (Anm. 25), S. 62; B. Fessler (Anm. 27), S. 454. Vgl. dazu eingehend J. Grefen (Anm. 14), S. 241. 92 BVerfGE 72, 278 (289); B. Fessler (Anm. 27), S. 454; M.-E. Geis (Anm. 25), S. 62. 93 Vgl. oben III. 2. 94 Vgl. J. Isensee (Anm. 85), § 59 S. 734 f.; G. Robbers (Anm. 39), S. 40 f.; M.-E. Geis (Anm. 25), S. 62 f.; D. Just (Anm. 70), S. 75; C. Görisch (Anm. 37), S. 154 f.; a.A. mit Hinweis auf die hier ebenfalls verneinte Institutionalisierung des Kirchenasyls im Kirchenrecht (vgl. oben III. 2.), M. H. Müller (Anm. 26), S. 87 ff. 95 Zur „Neutralität des Staates“, vgl. BVerfGE 24, 236 ff.; st. Rspr. 96 Vgl. zur Diskussion um die materielle Anreicherung der Schrankenformel K. Hesse, Das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen, in: J. Listl/D. Pirson (Hrsg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 2. Aufl. 1994, § 17 S. 521 (528 ff.); M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), GG, Bd. III, 2. Aufl. 2008, Art. 137 WRV Rn. 61 – 63. 97 Sog. „Jedermann-Formel“, vgl. noch BVerfGE 42, 312 (334); 66, 1 (20); St. Korioth, in: Th. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), GG, Bd. VIII, 73. Ergl. (2015), Art. 140/137 WRV Rn. 46. 98 BVerfGE 53, 366 (400 f.); 70, 138 (167); 72, 278 (289). 91

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ken.99 Dieser Wechselwirkung ist „durch entsprechende Güterabwägung Rechnung zu tragen“.100 Daran gemessen zählen die Vorschriften des Asyl- und Aufenthaltsrechts zweifelsohne zunächst zu den „allgemeinen Gesetzen“. Sie enthalten kein gegen die Kirchen spezifisch gerichtetes Sonderrecht.101 Denn das Verbot des Kirchenasyls ergibt sich nur mittelbar aus den Vorschriften zum Aufenthaltsrecht von Asylbewerbern,102 indem die Aufenthaltsberechtigung des Betroffenen mit Wirksamkeit der abschlägigen Asylentscheidung bzw. der Vollziehbarkeit der Abschiebeentscheidung103 erlischt; der tatsächliche Aufenthalt auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sohin illegitim wird. Fraglich ist aber, inwieweit die aus den Gesetzen abgeleiteten Einzelmaßnahmen der zuständigen Ausländerbehörden – denn gegen diese richtet sich ja zumeist der kirchliche „Protest“ – dem Selbstverständnis der Kirchen Rechnung zu tragen haben. Der Schutz politisch Verfolgter ist gleichermaßen staatliche wie – als humanitärer Akt – auch kirchliche Angelegenheit. Daher hat das staatliche Handeln im Wege der oben genannten Wechselwirkung auf die kirchlichen Belange grundsätzlich Rücksicht zu nehmen.104 Doch kann die Rücksichtnahme nur soweit gelten, wie diese Belange ihrerseits die Grenzen des Rechtsstaats nicht überschreiten.105 Die kirchliche Autonomie kann ihre Entfaltung also nicht unbegrenzt in Anspruch nehmen, sondern nur insoweit, als dies ihrerseits der legitimen Wirksamkeit staatlichen Rechts nicht entgegensteht. So wäre konkret etwa der staatliche Zugriff auf einen abgelehnten Asylbewerber während eines von der asylgewährenden Kirchgemeinde zelebrierten Gottesdienstes unverhältnismäßig und daher rechtswidrig.106 Auch dürften substantiierte(!) Einwendungen der Kirchen gestützt auf kircheneigene Erkenntnisse aus

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Vgl. R. Rothkegel (Anm. 20), S. 125. BVerfGE 53, 366 (401); 70, 138 (167); 87, 115 (126); J. Grefen (Anm. 14), S. 248 f.; V. Stiebig (Anm. 20), S. 101. 101 Vgl. I. v. Münch (Anm. 72), S. 565; B. Fessler (Anm. 27), S. 454; M.-E. Geis (Anm. 25), S. 62. 102 Vgl. K. Neundorf (Anm. 32), S. 263. 103 Jeweils entfalten Widerspruch und Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung, vgl. für den Abschluss des Asylverfahrens § 36 Abs. 3 S. 1, § 75 AsylVfG (bei unbeachtlichen und unbegründeten Asylanträgen, heute § 36 Abs. 1 S. 1, § 75 AsylG) und für die Abschiebeentscheidung oben Anm. 7. 104 R. Rothkegel (Anm. 20), S. 125; B. Fessler (Anm. 27), S. 454; überspannt bei M.-E. Geis (Anm. 25), S. 62, gegen Geis explizit L. Renck, Bekenntnisfreiheit und Kirchenasyl, in: NJW 1997, S. 2089 (2090). 105 So auch B. Fessler (Anm. 27), S. 454; L. Renck (Anm. 104), S. 2090; M. Babo (Anm. 39), S. 269. 106 Zur Unantastbarkeit des Sakralraums zum Zwecke der Religionsausübung als Gegenstand des Staatskirchenrechts vgl. M. Baldus (Anm. 15), S. 717 f.; ebenso R. Rothkegel (Anm. 20), S. 126. 100

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dem Herkunftsland des Asylbewerbers nicht ohne weiteres übergangen werden,107 solange diese im Rahmen des noch laufenden Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens geltend gemacht werden. Doch zu einer rechtlich durchsetzbaren Anerkennung des Kirchenasyls per se kann die Wechselwirkungslehre im Ergebnis nicht führen. Unter dem Primat des staatlichen Rechts, einschließlich der Rechtsgebundenheit aller Rechtsunterworfenen, widerspräche die Betrauung von Kirchen und anderen Organisationen von den nach Art. 16a GG originär dem Staat zugewiesenen Aufgaben der Staatssouveränität;108 die Kirche würde so – aller entgegenstehenden kirchlichen Stellungnahmen zum Trotz –109 gleichsam zu einer Art „Staat im Staate“110 werden. Es ist auch nicht erforderlich, ethisch-moralische Anforderungen zu formulieren, an dem sich staatliches Handeln neben der geltenden Rechtsordnung, einschließlich seiner Verfassung, verbindlich zu orientieren hätte. Denn die gesetzlichen Vorschriften, an die die Verwaltung streng gebunden ist, entspringen selbst den in christlicher Humanität wurzelnden und im Grundgesetz kodifizierten Werthaltungen der Gesellschaft.111 Angesichts zahlreicher Ausnahme- und Duldungsregelungen ist es mitnichten so, dass die gesetzliche Ausgestaltung zur Anerkennung als Flüchtling die Besonderheiten des Einzelfalls nicht stets berücksichtigen könnten, Ungerechtigkeit begünstige oder gar inhuman wäre.112 Dass die theologisch begründeten Wertvorstellungen der Kirchen teilweise darüber hinausgehen,113 was der Rechtsstaat als menschenwürdig erachtet, ändert an der Letztverbindlichkeit staatlichen Rechts114 nichts. Überdies nehmen die zuständigen Behörden und Gerichte ihre Aufgaben entgegen pauschaler Verlautbarungen gewissenhaft wahr.115 Insbesondere die eingangs er107 Vgl. J. Grefen (Anm. 14), S. 263; V. Stiebig (Anm. 20), S. 105; ähnlich auch R. Rothkegel (Anm. 20), S. 126. 108 Im Ergebnis so auch M. H. Müller (Anm. 26), S. 82 ff., 86; offen gelassen bei G. Robbers (Anm. 39), S. 43. 109 Vgl. Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums v. 27. 02. 2015, „Klares Bekenntnis der Kirchen zum Geltungsvorrang staatlichen Rechts“; Mitteilung der EKD, Dossier, Nr. 7/ März 2015 (Anm. 9), S. 1. 110 M. Babo (Anm. 39), S. 270; J. Peißl (Anm. 74), S. 139. 111 Vgl. V. Stiebig (Anm. 20), S. 103; B. Fessler (Anm. 27), S. 454, weist zudem zutreffend auf den subjektiven Rechtsgehalt des Asylgrundrechts hin. Zum Bestand der „Werteordnung“, der das Grundgesetz verpflichtet ist, vgl. grundlegend BVerfGE 2, 1 (12). 112 Vgl. LG Osnabrück, NStZ 2002, S. 604 (606); zweifelnd, aber jeweils ohne tiefere Auseinandersetzung zu etwaigen Regelungslücken H.-R. Reuter (Anm. 39), S. 100; R. Rothkegel (Anm. 20), S. 126. 113 Vgl. oben, Nachweis bei Anm.84; ebenso H.-R. Reuter (Anm. 39), S. 100 f.; D. Just (Anm. 70), S. 75. 114 LG Osnabrück (Anm. 112), S. 606; anerkannt auch bei J. Isensee (Anm. 85), § 59 S. 7345; B. Fessler (Anm. 27), S. 456 f.; mit Blick auf die Normen des Strafrechts ebenso B. Huber (Anm. 75), S. 156. 115 So auch Einschätzung von J. Peißl (Anm. 74), S. 138, mit Verweis auf die Untersuchung von R. Bell/F. Skibitzki, „Kirchenasyl“-Affront gegen den Rechtsstaat?, 1998; ebenso mit Hinweis auf dokumentierte „Verwaltungserfahrung“ B. Fessler (Anm. 27), S. 457; ausführlich auch H.-G. Maaßen, „Kirchenasyl“ und Rechtsstaat, KuR 1997, S. 37 (40 f.). Diese nach

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wähnte „Erfolgsquote“ hält kritischer Überprüfung nicht stand. Denn keineswegs vermittelte das Kirchenasyl in 80 oder gar 90 % der Fälle ein dauerhaftes Bleiberecht für die Betroffenen. Die Zahlen erschließen sich nur bei einem erweiterten Begriffsverständnis dahin, wann ein Kirchenasyl „erfolgreich beendet“ wurde. So gilt als Erfolg schon die kurzfristige Abwendung der Ausreise, der Ausspruch einer weiteren befristeten Duldung bzw. die – unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten freilich bedenkliche – Umgehung der Zuständigkeitsfristen mit Blick auf den Selbsteintritt und die Prüfung des Asylantrags durch die Bundesrepublik Deutschland gemäß der europäischen „Dublin III“-Verordnung.116 Ausweislich der Veröffentlichung der BAG führte eine wegen eines Kirchenasyls erneut veranlasste staatliche Überprüfung der Asylanträge im Jahr 2014 unmittelbar nur bei drei der insgesamt 381 Personen zu einer Anerkennung als bleibeberechtigte Flüchtlinge.117 Vom Kirchenasyl als einem per se notwendigen Korrektiv im Rechtsstaat kann demgemäß keine Rede sein. Sohin ist es ausgeschlossen, dass die Kirchen im Sachbereich des Asyl- und Aufenthaltsrechts über das ihr eingeräumte Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrecht eigene Wertungen und Anschauungen an die Stelle demokratisch legitimierter staatlicher Instanzen setzen könnten. Das Kirchenasyl kann also im Wege des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts keine verbindliche Anerkennung erfahren, soweit es der effektiven Durchsetzung staatlichen Rechts entgegensteht.118 b) Religions- und Gewissensfreiheit Kommt also die Legitimität des Kirchenasyls als Ausfluss eines kollektivistisch verstandenen kirchlichen Selbstverständnisses nicht in Frage, könnte sie aber in der individualistisch verstandenen Ausübung von Religions- und Gewissensfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ankern. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Auffassung des Verfassers auch noch im Jahr 2015 grundsätzlich gültige Einschätzung zur Funktionsfähigkeit der deutschen Asyl- und Flüchtlingsverwaltung steht freilich unter dem Vorbehalt, dass der hohe Bearbeitungsstandard amtlichen Handelns und Entscheidens auch künftig aufrechterhalten werden kann. Insoweit berührt insbesondere die im Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz v. 20. 10. 2015 (BGBl. I S. 1722) vorgesehene Verfahrensbeschleunigung bei „nicht schutzbedürftigen Personen“, vgl. BT-Drs. 18/6185 v. 29. 09. 2015, S. 25, den verfassungsrechtlichen Gewährleistungsgehalt des Asylgrundrechts. In der Praxis wird sich zu erweisen haben, ob die zuständigen Behörden angesichts langer Wartezeiten der Asylsuchenden und trotz politischen Drucks zur Ableistung hoher Erledigungszahlen ihre schwierigen Aufgaben weiterhin einzelfallbezogen und unter Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards zu erfüllen in der Lage sind. Hier steht in erster Linie der Gesetzgeber in der Pflicht, geeignete Vorkehrungen zu treffen. 116 Zu diesen und weiteren Ziel- und Erfolgsvorstellungen vgl. BAG, Jahresbericht 2014 (Anm. 9), S. 6; J. Peißl (Anm. 74), S. 137 f. 117 Vgl. BAG, Jahresbericht 2014 (Anm. 9), S. 6. Dennoch spricht der Jahresbericht von 206 (von 212) Fällen, in denen das Kirchenasyl für 366 (von 381) Menschen „erfolgreich“ beendet worden sei. 118 Vgl. statt vieler I. v. Münch (Anm. 72), S. 565; a.A. M.-E. Geis (Anm. 25), S. 63.

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Gewährung von Kirchenasyl in den Schutzbereich des umfassend verstandenen Glaubensgrundrechts119 der jeweils verantwortlichen Vertreter der örtlichen Kirchgemeinde fällt.120 Doch unabhängig von der konkreten dogmatischen Verortung des Kirchenasyls in der Glaubens- Bekenntnis- oder Gewissensfreiheit121 steht die Reichweite des Grundrechtsschutzes letztlich wiederum unter dem verfassungsimmanenten Vorbehalt der Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung.122 Denn die Verbindlichkeit verfassungskonformen Rechts steht nicht unter der Geltungsbedingung einer einzelnen Gewissensentscheidung.123 Ganz im Gegenteil: die gesetzgeberische Einschätzung über die Grenzen des Asyl- und Aufenthaltsrecht einschließlich jeder daraus abgeleiteten formell und materiell wirksamen124 Einzelmaßnahme gilt über jede individuelle Glaubens- und Gewissensentscheidung hinweg als Ausfluss demokratischer Legitimität.125 So ist Art. 4 GG aus sich heraus insbesondere nicht dazu bestimmt, Ausländern eine ansonsten nicht oder nicht mehr bestehende Rechtsposition auf Einreise und Aufenthalt zu vermitteln.126 Indem aber Einzelne wie also die Kirchen den Vollzug staatlicher Maßnahmen gerade ohne Rücksicht auf die staatliche Rechtsordnung nur nach dem eigenen Gewissen behindern oder gar vereiteln, überschreiten sie rechtsstaatlich gesetzte Grenzen und begeben sich so in die Sphäre illegitimen Verhaltens. Sobald sie diesen Pfad beschreiten, unterstellen sie dem Staat eigenmächtig die Missachtung geltenden Rechts. Doch woher nehmen die Beteiligten ihr vermeintlich besseres Wissen? Woher kommt die dringende Überzeugung, dass der abgelehnte Asylbewerber trotz entgegenstehender staatlicher Feststellung in seinem Heimatland doch gefoltert werden würde; oder dass etwaige Dublin-Staaten entgegen gerichtlicher Einschätzung127 die Durchführung eines ordnungsgemäßen Asylverfahrens 119 Zur extensiven Auslegung BVerfGE 24, 236 (246); 32, 98 (106 ff.); J. Listl, GlaubensBekenntnis und Kirchenfreiheit, in: ders./D. Pierson (Anm. 96), § 14 S. 439 (454). 120 Vgl. M. H. Müller (Anm. 26), S. 90, 92; G. Robbers (Anm. 39), S. 44; B. Huber (Anm. 75), S. 156; I. v. Münch (Anm. 72), S. 566. 121 Vgl. dazu J. Grefen (Anm. 14), S. 264 ff. 122 G. Robbers (Anm. 39), S. 45; B. Fessler (Anm. 27), S. 454. 123 Vgl. J. Peißl (Anm. 74), S. 138. 124 Gemeint ist die „Wirksamkeit“ eines Verwaltungsaktes i.S.d. §§ 41, 43 VwVfG. 125 In diese Richtung auch V. Stiebig (Anm. 20), S. 101; L. Renck (Anm. 104), S. 2090; relativierend C. Görisch (Anm. 37), S. 194 mit Anm. 256. 126 So auch BVerwG, NJW 1983, S. 2587; BVerwG, NVwZ 1983, S. 226 f. 127 Vgl. etwa für Italien OVG Lüneburg, Urt. v. 26. 06. 2015, -11 LB 248/14, Rz. 47 (juris), und VG Saarland, Urt. v. 06. 03. 2015, – 3 K 832/14, Rz. 21 (juris); für Spanien VG Saarland, AuAS 2015, S. 224 f.; ebenso für Bulgarien, vgl. VG Saarland, Urt. v. 04. 08. 2015, – 3 K 1955/14, Rz. 16 (juris), sowie VG Ansbach, Urt. v. 10. 07. 2015, – 14 K 15.50050, Rz. 26 ff. (juris). Dagegen stellte der EGMR, NVwZ 2011, S. 413, für Griechenland systematische Mängel des dortigen Asylverfahrens fest, weswegen dorthin nicht mehr abgeschoben werden darf. Das VG Köln hat in einer Entscheidung v. 30. 07. 2015 – 3 K 2005/15.A (juris), auch für Ungarn systematische Mängel festgestellt und eine dorthin drohende Abschiebung gestoppt, ebenso VG Freiburg/Breisgau, Urt. v. 13. 10. 2015, – A 5 K 2328/13, Rz. 36 (juris); VG Düsseldorf, Beschl. v. 07. 08. 2015, – 22 L 616/15.A, Rz. 30 ff. (juris).

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nicht gewährleisten könnten; die Flüchtlinge möglicherweise gar entgegen nationaler und europäischer Vorschriften zurück in ihr von Krieg gezeichnetes Heimatland abgeschoben würden? Die alleinige Beteuerung des Asylbewerbers kann oft mangels Überprüfbarkeit durch die örtliche Kirchgemeinde keinesfalls fundierte Grundlage „legitimen“ Rechtsbruchs sein.128 Tatsächlich haben aber das BAMF sowie die Verwaltungsgerichte durch jahrelang geübte Praxis und Dokumentation erhebliche Informationsvorsprünge über die jeweilige Situation vor Ort. Gepaart mit dem grundsätzlichen Misstrauen Einzelner in die rechtfertigende Funktionsfähigkeit der geltenden nationalen und internationalen Rechtsordnung und staatlicher Entscheidungsfindung rückt das Kirchenasyl unter dem Deckmäntelchen der Religionsfreiheit in jene gefährliche Nähe ideologiebasierter Fundamentalkritik,129 von der sich auch die Kirchen erst kürzlich erneut ausdrücklich distanziert haben.130 Wie die Kirchen als Ganzes dürfen aber auch die jeweils vor Ort Handelnden im Gefüge rechtsstaatlicher Verantwortung keine Sonderrolle für sich und Teile ihrer Gemeinde in Anspruch nehmen. Deshalb kann sich die Ausstrahlung einer auf Art. 4 Abs. 1 oder 2 GG gestützten Gewissensentscheidung zwar durchaus auf Art und Ausmaß der wegen des Rechtsbruchs möglichen und gebotenen Sanktionen auswirken.131 Die Legitimität des Kirchenasyls an sich, einschließlich eines damit einhergehenden individuellen Abwehranspruchs gegen etwaige Zugriffsmaßnahmen gegenüber dem flüchtigen Asylbewerber, begründet derlei Gewissensnot jedoch nicht. c) Kirchenasyl als ziviler Ungehorsam Damit scheidet schließlich auch die Rechtfertigung des Kirchenasyls als „ziviler Ungehorsam“ aus, soweit ein solcher als „Protesthandlung“ außerhalb der Religionsund Gewissensfreiheit tatbestandlich eigenständig gefasst wird.132 Denn wo auch

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Vgl. näher auch B. Fessler (Anm. 27), S. 457. Vgl. R. Bell/F. Skibitzki (Anm. 115), S. 25; B. Fessler (Anm. 27), S. 457; in diese Richtung auch H. M. Heinig, FAZ Nr. 195 v. 24. 08. 2015, S. 6. 130 Vgl. Nachweise bei Anm. 109. 131 BVerfGE 32, 98 (108); ähnlich auch B. Huber (Anm. 75), S. 158; R. Rothkegel (Anm. 20), S. 127 f.; V. Stiebig (Anm. 20), S. 101; G. Robbers (Anm. 39), S. 46; Doch ist vor gänzlicher Straffreiheit eindringlich zu warnen, denn der Rechtsbruch bleibt nach wie vor bestehen. Insoweit anschaulich LG Osnabrück (Anm. 112), S. 606: „unzulässige Verharmlosung der Straftat“, vgl. zur Problematik auch H.-G. Maaßen (Anm. 115), S. 45 f., und allgemein J. Kokott, in: M. Sachs (Anm. 65), Art. 4 Rn. 72, 96. 132 In diese Richtung etwa R. Rothkegel (Anm. 20), S. 127, mit Verweis auf R. Dreier, Widerstandsrecht im Rechtsstaat? Bemerkungen zum zivilen Ungehorsam, in: Norbert Achterberg (Hrsg.), Festschrift für Hans Ulrich Scupin, 1983, S. 573 (582 f.); H.-R. Reuter (Anm. 39), S. 101. Dagegen hält M. H. Müller (Anm. 26), S. 46 f., den zivilen Ungehorsam zutreffend als außerhalb der Rechtsordnung stehend und von vornherein nicht geeignet, Legitimation zu entfalten. 129

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immer der dogmatische Standort zivilen Ungehorsams verortet werden mag,133 die für alle einheitliche Grenze des Rechtsstaats bleibt stets dieselbe. Es kommt also gar nicht darauf an, ob sich der mit dem Kirchenasyl zum Ausdruck gebrachte „Protest“ gegen das Asylsystem als solches134 oder gegen eine als „ungerecht“ empfundene staatliche Abschiebeentscheidung im konkreten Einzelfall richtet. Ein „legitimes Recht“ zivilen Ungehorsams gegen verfassungskonform geltendes Recht kennt der demokratische Rechtsstaat nicht.135 Dies gilt grundsätzlich selbst dann, sollte die letztverbindlich getroffene staatliche Sachentscheidung im Einzelfall objektiv einmal falsch sein. Keinesfalls setzt hier die christlich-moralische Position die Durchsetzung staatlichen Rechts außer Kraft.136 Dieser hin und wieder abwertend mit „Rechtspositivismus“ bezeichnete Befund137 ist in der Durchsetzung rechtswidriger, aber wirksamer Verwaltungsakte geltendes Recht und gängige Praxis.138 Den letztgültigen Vorrang der Rechtssicherheit vor der materiellen Gerechtigkeit hat das Bundesverfassungsgericht auch für das Asylverfahrensrecht ausdrücklich bestätigt.139 Natürlich stehen die zuständigen Behörden und Gerichte gegenüber den Asylbewerbern in besonderer Verantwortung. Doch die damit einhergehenden Konflikte sind allein auf rechtsstaatlicher Grundlage zu lösen. So sieht die Rechtsordnung – verfahrensrechtlich verbürgt – umfangreiche materiell rechtliche Schutzmechanismen für Ausländer vor, denen im Herkunftsstaat politische Verfolgung oder menschenrechtswidrige Behandlung droht.140 In Betracht etwa kommt ein auf § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK gestützter Eilantrag beim Verwaltungsgericht nach § 80 Abs. 5 S. 1, 2. Var. VwGO.141 In Fällen einer evi133 W. Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus. Grundfragen des Rechts, 1963, S. 100 f., etwa erblickt das Widerstandsrecht im Menschenrechtsbekenntnis des Art. 1 Abs. 2 GG. 134 Dann wäre ohnehin eher an Art. 20 Abs. 4 GG zu denken, wobei hierfür die gesamte verfassungsmäßige Ordnung in ihren Kernelementen (Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG) faktisch außer Kraft gesetzt sein muss, vgl. M. Sachs, in: ders. (Anm. 65), Art. 20 Rn. 171. Dies ist nicht gegeben. Im Übrigen hat das Kirchenasyl im Wesentlichen den Schutz und die Fürsorge des Menschen, und nicht in erster Linie staatliche Fundamentalkritik im Blick. 135 So auch H.-G. Maaßen (Anm. 115), S. 43. 136 Zutreffend J. Peißl (Anm. 74), S. 138; L. Renck (Anm. 104), S. 2090. 137 Vgl. etwa D. Just (Anm. 70), S. 78. 138 Vgl. dazu F. O. Kopp/U. Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz. Kommentar, 16. Aufl. 2015, § 43 Rn. 3a; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 10 Rn. 21 u. § 11 Rn. 5 ff. Anders als von D. Just (Anm. 70), S. 78, angeprangert, ist sich die Verwaltung ihrer Fehlbarkeit also durchaus bewusst. 139 BVerfGE 60, 253 (269, 295). 140 Vgl. mit Hinweis auf die Rechtslage und Funktionsweise des BAMF H.-G. Maaßen (Anm. 115), S. 40 f. 141 Hier weist D. Just (Anm. 70), S. 78, zunächst zutreffend darauf hin, dass Widerspruch und Anfechtungsklage in Asylentscheidungen gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 2 S. 1 AsylVfG (heute: AsylG) keine aufschiebende Wirkung entfalten; die Abschiebung zeitlich also auch vor Bestands- oder Rechtskraft der Asyl- bzw. Abschiebeentscheidung durchsetzbar ist. Er übersieht oder verschweigt, dass sowohl die Behörden als auch die Ge-

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dent rechtswidrigen Entscheidung mit unabsehbaren Folgen für Leib und Leben des Einzelnen steht das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 71 Abs. 1 AsylVfG (heute: AsylG) i.V.m. § 51 VwVfG oder gar die Rücknahme des Verwaltungsaktes (§ 48 Abs. 1 VwVfG) unter einer gegebenenfalls gerichtlich durchsetzbaren Ermessensreduktion auf Null zur Diskussion.142 Daneben haben mittlerweile alle Bundesländer auf Basis von § 23a AufenthG eine Härtefallkommission u. a. für abgelehnte Asylbewerber eingerichtet,143 die in Härtefällen intervenieren „dürfen“.144 Sie sind unter anderem stets mit je einem Vertreter der beiden großen Kirchen besetzt,145 die berechtigt sind, bestimmte Fälle zur Beschlussfassung einzubringen. Die hier allein nach humanitären Kriterien erfolgte Prüfung im Einzelfall146 wird damit letztlich auch den Belangen der mit dem Kirchenasyl verfolgten Zwecke gerecht. 3. Zwischenergebnis So bleibt zusammenfassend festzuhalten, dass sich das Kirchenasyl auf keine verfassungsrechtliche Grundlage berufen kann. Weder wird es durch das Staatskirchenrecht geschützt, noch findet es in der persönlichen Glaubens- und Gewissensüberzeugung des Art. 4 GG rechtsstaatliche Anerkennung, noch kann es Akt eines irgendwie richte befugt sind, diese Wirkung im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens (§ 80 Abs. 4 oder Abs. 5 S. 1 VwGO) wieder herzustellen, was in Zweifelsfällen auch geschieht, vgl. etwa OVG Bautzen, Beschl. v. 24. 07. 2014, – A 1 B 131/14 (juris); VG Düsseldorf, Beschl. v. 13. 04. 2015, – 13 L 627/15.A (juris); VG Berlin, Beschl. v. 24. 06. 2015, – 33 L 153.15 A (juris); VG Gelsenkirchen, Beschl. v. 13. 07. 2015, – 9a L 1407/15.A (juris). Um die unberechtigte Inanspruchnahme des Bleiberechts zu verhindern, bildet Art. 16a Abs. 2 S. 3 GG, konkretisiert durch § 34a Abs. 2 AsylVfG (heute: AsylG), freilich eine Gegenausnahme, welche die den Vollzug aussetzende Wirkung des vorläufige Rechtsschutz in den Fällen ausschließt, in denen der Flüchtling über einen sicheren Drittstaat eingereist ist (sog. „DublinFall“). Wird dem Betreffenden vor der drohenden Abschiebung die Möglichkeit gegeben, Einwände wegen fehlender individueller Sicherheit geltend zu machen, ist diese Modifikation des Art. 19 Abs. 4 GG verfassungsrechtlich aber nicht zu beanstanden, vgl. BVerfGE 94, 49 (100, 104, 113). 142 Zur Anwendbarkeit des § 48 VwVfG bei Rücknahme von Ausweisungsverfügungen vgl. F. O. Kopp/U. Ramsauer (Anm. 138), § 48 Rn. 40; zur Ermessensreduktion auf Null im Einzelfall, wenn ein Aufrechterhalten des Verwaltungsakts schlechthin unerträglich wäre, vgl. BVerwG 95, 86 (92); 44, 333 (336); F. O. Kopp/U. Ramsauer, ebd. § 48 Rn. 79. 143 Vgl. etwa Härtefallkommissionsverordnung (HFKomV BY) v. 08. 08. 2006 (GVBl. S. 436); Härtefallkommissionsgesetz (HFKG HE) v. 30. 09. 2008 (GVBl. S. 842); Thüringer Verordnung über die Härtefallkommission (HärtefKV TH) v. 05. 01. 2005 (GVBl. S. 1). 144 Hierbei handelt es sich um ein „extralegales Entscheidungsverfahren“, vgl. etwa VG Schleswig, NVwZ-RR 2007, S. 202, zur Lösung humanitärer Einzelfälle unter Ausschluss des Rechtsweges. Subjektive Rechtspositionen werden im Verfahren vor der Härtefallkommission nicht vermittelt, vgl. näher H.-G. Maaßen, in: W. Kluth/A. Heusch (Anm. 11), AufenthG § 23a Rn. 2 ff.; Das Verfahren hat sich nach Einschätzung des Gesetzgebers in der Praxis bewährt, vgl. BT-Drs. 16/10288, S. 11. 145 § 2 Abs. 1 Nr. 1 HFKomV BY; § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 HFKG HE; § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 u. 6 HärtefKV TH. 146 Vgl. H.-G. Maaßen (Anm. 144), AufenthG § 23a Rn. 3.

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gearteten zivilen Ungehorsams sein. Dieser im Einzelfall auf Unbill stoßende Befund steht mit den christlichen Glaubensgrundsätzen keinesfalls in unauflöslichem Widerspruch. Vielmehr wird er durch die Vertreter beider großen Kirchen seit langem ausdrücklich anerkannt.147 Freilich ist dieses Bekenntnis kaum mit der nunmehr auf Humanität begründeten Anspruchshaltung zur gleichwohl bestehenden „Notwendigkeit“ des Kirchenasyls148 in Übereinstimmung zu bringen.149 Anstatt so aber wieder auf Konfrontationskurs zum Rechtsstaat zu gehen, können die Kirchgemeinden und -vorstände vor Ort mit ihren Mitteln dazu beitragen, konkrete Asylverfahren unterstützend zu begleiten, indem sie etwa in Zusammenarbeit mit Behörden den vorliegenden Tatsachenstoff weiter verdichten.150 Als eine von mehreren Möglichkeiten bietet es sich für die Kirchen an, die Infrastruktur ihres weitverzweigten Informationsnetzes in den jeweiligen Herkunftsländern zu nutzen, um von dort aus z. B. Privatgutachten über die Situation vor Ort zu finanzieren. Solche Gutachten werden von den Behörden und Gerichten im Rahmen der Beweiswürdigung als Parteivorbringen151 dankbar aufgenommen und bei der Entscheidungsfindung, gerade in Bezug auf jene Herkunftsländer, bei denen die staatlichen Stellen oder weltweit operierende Nichtregierungsorganisationen152 nur über geringe Information verfügen, teilweise maßgeblich mitberücksichtigt.153 Zudem sind die Kirchen ihrer sozialethischen und diakonischen Verantwortung entsprechend erster Anlaufpunkt für seelsorgerliche Unterstützung und Gemeinschaft, die dem Betroffenen verlorenen Mut wiedergibt und für die Zeit des Verfahrens Kraft spendet. Damit einher geht aber die unbedingte Akzeptanz in die Geltung der staatlichen Letztentscheidung nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel. Ein darüber hinausgehendes ethisch-moralisches Wächteramt kann in einem Rechtsstaat keiner für sich allein oder als Institution verbindlich in Anspruch nehmen. 147

Vgl. statt vieler A. Freiherr von Camphausen, Keine rechtsfreien Räume. Hunderte Fälle von Kirchenasyl stoßen an die Grenzen des Hinnehmbaren, in: Zeitzeichen 4/2005, S. 58; ferner Nachweise bei Anm. 63; ältere Nachweise finden sich bei V. Stiebig (Anm. 20), S. 106 mit Anm. 95, sowie bei J. Grefen (Anm. 14), S. 183 ff. 148 Vgl. zum diesbezüglich erneuerten kirchlichen Selbstverständnis oben IV. 2. a); ebenso D. Just (Anm. 70), S. 74 ff. 149 So auch H.-G. Maaßen (Anm. 115), S. 38 f. 150 Hier kann wie dargelegt (IV. 2. b)), durchaus von einer staatlichen Berücksichtigungspflicht des kirchlichen Vorbringens ausgegangen werden, vgl. M. Baldus (Anm. 15), S. 720. 151 Vgl. F. O. Kopp/W.-R. Schenke (Anm. 7), § 98 Rn. 15b. 152 Deren Expertisen werden von den Gerichten stets berücksichtigt, vgl. aus der Fülle der Entscheidungen etwa VG Schwerin, Urt. v. 20. 11. 2015, – 15 A 1524/13As, Rz. 46, 49 (juris) – Armenien; VG Freiburg/Breisgau (Anm. 127), Rz. 43 ff. – Asylverfahren in Ungarn; VG Köln, Urt. v. 15. 09. 2015, – 14 K 6064/14.A. – Afghanistan (Kabul); VG Saarland, Urt. v. 27. 02. 2015, -6 K 842/14, Rz. 27 (juris) – Serbien. 153 Für diesen wertvollen Hinweis dankt der Verfasser Herrn Richter am Bundessozialgericht Professor Dr. Norbert Bernsdorff. Teilweise werden solche Gutachten auch von Nichtregierungsorganisationen eingeholt, vgl. etwa bei VG Regensburg, Urt. v. 18. 03. 2010, – RO 8 K 09.30054, Rz. 88 (juris).

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V. Bedenken gegen die behördliche Anerkennung des Kirchenasyls in der Praxis 1. Anerkennungsformen in der Praxis Deswegen ist auch die staatliche Praxis zur gelegentlichen faktischen Anerkennung des Kirchenasyls kritisch zu hinterfragen. Von vornherein abzulehnen sind frühere Bestrebungen dahin, das Kirchenasyl im Wege einer rechtlich wie auch immer ausgestalteten „Kontingentierung“ zu legalisieren. Nach diesem ursprünglich vom ehemaligen Bayerischen Innenminister Dr. Günther Beckstein im Jahr 1995 angedachten Modell sollten die Kirchen bestimmte Kontingente zur Aufnahme von abgelehnten Asylbewerbern eingeräumt werden, wenn die Kirchen ihrerseits bereit sind, die Kosten dafür zu tragen.154 Diese Form der Anerkennung negiert im Grunde das rechtsstaatliche Asylgewährungsmonopol und schiebt staatshoheitliche Verantwortung in rechtlich eher diffuse Sonderräume ab.155 Es fand demgemäß auch bei den Vertretern der Kirchen keine Zustimmung.156 Einige Bundesländer haben stattdessen ein sog. „Clearingverfahren“ eingerichtet, wonach die Landesregierungen mit den Kirchen in Fällen von Kirchenasyl eine bestimmte Vorgehensweise verabredet haben. Neben einer erneuten Überprüfung des konkreten Einzelfalls auf kirchliche Bitte hin sieht es auch die Selbstbeschränkung der Ausländerbehörden beim Vollzug einer wirksamen Ausreiseverfügung für die Dauer dieser Prüfung vor.157 Es handelt sich hier um die prozedurale Ordnung eines Dissenses zwischen Kirche und Staat, ohne zugleich Rechtsansprüche auf eine Suspendierung staatlicher Vollstreckungsmaßnahmen zu begründen. Gegenseitiges „Vertrauen“ steht hier im Mittelpunkt und ist Grundlage der Abrede.158 Doch auch wo eine solche „Vereinbarung“ nicht besteht, halten sich die Ausländerbehörden beim Vollzug von Ausweisungsentscheidungen, die den polizeilichen Zugriff eines in kirchlicher Obhut befindlichen Ausreisepflichtigen bedingen, regelmäßig zurück. Die Hintergründe entziehen sich freilich nahezu gänzlich juristischer 154

Vgl. Text und Erläuterungen in der SZ Nr. 160 v. 14. 07. 1995, Wen die Kirche nicht freikauft, der muß raus, S. 8. 155 Vgl. näher M. Babo (Anm. 39), S. 271 mit Erläuterung bei Anm. 15; J. Peißl (Anm. 74), S. 139. 156 Nachweise für die einzelnen Stellungnahmen bei J. Peißl (Anm. 74), S. 139, sowie I. v. Münch, „Kirchenasyl“: wer soll das bezahlen?, in: NJW 1995, S. 2271 f. Wohl nicht ganz zu Unrecht vermutet I. v. Münch die mit der Kontingentierung beabsichtigte Abwälzung der Kostenlast als den für die Kirchen maßgeblichen Ablehnungsgrund, vgl. ebd., S. 2272. 157 Vgl. etwa Clearingverfahren „Kirchenasyl“ in Rheinland-Pfalz, NJW 1997, S. 2097 f.; ähnlich für Nordrhein-Westfalen, im Wortlaut abgedruckt bei: J. Grefen (Anm. 14), S. 94 mit Anm. 223 mit Verweis auf die Veröffentlichung des Landeskirchenamts der EKiR (Hrsg.), Asyl in der Gemeinde, 2. Aufl. 1995, S. 54; dazu auch B. Fessler (Anm. 27), S. 456. 158 Vgl. näher zum Ganzen M. Baldus (Anm. 15), S. 720; vgl. auch Kleine Anfrage des rheinlandpfälzischen Landtagsabgeordneten Dr. Peter Enders (CDU) v. 01. 07. 2002 mit Antwort der Landesregierung v. 24. 07. 2002, LT-Drs. 14/1281, S. 1 f.

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Fassbarkeit. So sei es entgegen aller bisher festgestellten rechtsstaatlichen Vorgaben „Polizisten nicht zumutbar“, ein Kirchenasyl zu brechen. Neben der Achtung aus einer so verstandenen „beamtenrechtlichen Fürsorge“159 vermittele auch der „Respekt“ vor den kirchlichen Räumen eine „psychologische Blockade“, die in der Praxis tatsächlich nicht selten zu einer „Selbstbeschränkung der Behörden“160 führt. Erst im Februar 2015 sicherte der ehemalige Präsident des BAMF Manfred Schmidt den Kirchen zu, dass seine Behörde „nicht beabsichtige, die Tradition des Kirchenasyls an sich in Frage zu stellen“.161 Die Konsequenz dieser – positiv formuliert: „pragmatischen Lösungen“ –162 ist die Außervollzugsetzung staatlichen Rechts bis dahin, dass der den Asylantrag ablehnenden Entscheidungen des Bundesamtes und der diese Ablehnung bestätigenden Entscheidung eines Gerichtes im Einzelfall zumindest faktisch kein Wert mehr zukommt.163 2. Gesetzesbindung und Gleichbehandlungsgrundsatz Allerdings begegnet die „Scheu des Staates“ davor, im Einzelfall zwangsweise in kirchliche Räume einzudringen,164 im Hinblick auf die in Art. 20 Abs. 3 GG angeordnete strikte Gesetzesbindung der Verwaltung und der damit einhergehenden Gewährleistungen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG einigen Bedenken. Hiernach sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich; die Ungleichbehandlung von wesentlich gleichen Lebenssachverhalten bedarf daher stets der Rechtfertigung.165 Grundlage der folgenden Überlegung ist die Tatsache, dass die Entscheidung des BAMF über die Ablehnung eines Asylbewerbers als bleibeberechtigter Flüchtling gegenüber der Ausländerbehörde vor Ort jeweils rechtsverbindlich ist. Denn letztere tritt in diesen Fällen nur als federführende Vollzugsbehörde auf.166 Gleiches gilt auch für die Anordnung des BAMF gem. § 34a AsylVfG (heute: AsylG) zur Abschiebung in einen sicheren Drittstaat. Eine nochmalige Sachentscheidungskompetenz über den Asylantrag selbst ist den Ausländerbehörden also in jedem Fall

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Vgl. M. H. Müller (Anm. 26), S. 222. LG Osnabrück (Anm. 112), S. 605; OLG Köln (Anm. 31), S. 708; BayObLG, NJW 1997, S. 1713 (1714); J. Peißl (Anm. 74), S. 139. 161 Vgl. bei R. Bingener, FAZ Nr. 50 v. 28. 02. 2015, Trennung von Staat und Abschiebung, S. 4. 162 So etwa M. Babo (Anm. 39), S. 271 f.: „stillschweigende Anerkennung“; vehementer D. Just (Anm. 70), S. 79: „kleinere Übel“. 163 Vgl. I. v. Münch (Anm. 156), S. 2271. 164 Vgl. J. Peißl (Anm. 74), S. 139 mit Zitat. 165 BVerfGE 100, 138 (174); 129, 49 (69). 166 Vgl. K. Müller, in: R. M. Hofmann/H. Hoffmann (Hrsg.), HK-Ausländerrecht, 2008, AsylVfg § 34 Rn. 3. 160

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verwehrt.167 Indem die zuständige Ausländerbehörde aber nur in Fällen von Kirchenasyl von der Durchsetzung der mit der Ablehnung des Asylantrages verbundenen Verpflichtung zur Abschiebung absieht, sie diese aber in anderen – wegen der Rechtsverbindlichkeit der ablehnenden Asylentscheidung gleichgelagerten – Fällen konsequent umsetzt, liegt eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der abgelehnten Asylbewerber im Hinblick auf den Vollzug ihrer jeweils gleich bestehenden Ausreisepflicht vor.168 Für die Betroffenen bewirkt dies zwar „nur“ eine „Verschonung“ von der staatlichen Durchsetzung ihrer Ausreiseverpflichtung. Doch auch eine so hergestellte gleichheitswidrige Begünstigung ist vom grundsätzlichem Verbot der Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG miterfasst.169 Eine Rechtfertigung der gleichheitswidrigen Gewährung des Aufenthalts ist jedoch mangels festgestellter Anerkennung des Kirchenasyls im Rechtsstaat nicht in Sicht. Dies schon gar nicht im Hinblick auf den abgelehnten Asylbewerber selbst. Denn dieser profitiert von den eben dargelegten verfassungsmäßigen Gewährleistungen zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen wie auch der Glaubensfreiheit der hilfeleistenden Personen allenfalls als Subjekt eines bloßen Rechtsreflexes;170 er selbst kann sich nicht wirksam auf diese Rechte berufen. Dass das deutsche Asylrecht zudem nicht den Schutz etwaiger schriftlicher, mündlicher oder gar stiller Verhaltensabreden zwischen Kommune, Staat und Kirchen im Falle der Gewährung von Kirchenasyl171 zu gewährleisten hat, ist evident. Zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung können solche Vereinbarungen also ebenfalls nicht herangezogen werden.172 Hinzu tritt, dass die Vollzugsbehörden das Kirchenasyl regelmäßig nur bei der Gewährung durch eine der beiden großen Amtskirchen „dulden“. Der polizeiliche Zugriff in Räumlichkeiten anderer Religionsgemeinschaften, auch solchen mit Körperschaftsstatus, bereitet den Vollzugsorganen offenbar keine offenkundigen „Bauchschmerzen“.173 Müsste man aber nicht auch hier ebenso von einer gleichheitsgerechten Anerkennung des „Gemeindeasyls“ durch den säkularen Staat ausgehen?174 Doch wie dem auch sei: Im Falle der faktischen Anerkennung des Kirchenasyls durch den Staat hängt der Vollzug staatlichen Rechts letztlich allein vom 167

Vgl. OVG Münster, NVwZ-Beil. 2000, S. 18 f.; ebenso in einer vorherigen Entscheidung OVG Münster, AuAS 1997, S. 64 f. 168 Allgemein zu den Kriterien einer Ungleichbehandlung W. Heun, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3 Rn. 24 f. 169 BVerfGE 121, 108 (119); 124, 199 (218); 126, 29 (43); H. D. Jarass (Anm. 73), Art. 3 Rn. 11. 170 So auch M. H. Müller (Anm. 26), S. 130. Eine „bekenntnisrechtliche Drittwirkung“, so wie sie etwa M.-E. Geis (Anm. 25), S. 64, konstruiert, ist abzulehnen, vgl. explizit und überzeugend L. Renck (Anm. 104), S. 2090. 171 Vgl. zur insb. zum Clearingverfahren oben V. 1. 172 Anders aber M.-E. Geis (Anm. 25), S. 64 f. 173 Vgl. zu einem solchen Fall M. H. Müller (Anm. 26), S. 222. 174 M. Babo (Anm. 39), ZAR 2001, S. 271.

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„Glück“ des Betroffenen ab, eine „staatlich anerkannte“ asylgewährende Kirchgemeinde zu finden.175 Jene, denen dieses „Glück“ nicht hold gewesen war, werden bei Bestehen der gleichen rechtlichen Voraussetzungen176 abgeschoben. Es kann aber nicht angehen, dass im Stadium des verbindlichen Vollzuges von Seiten des Staates nur einzelnen Individuen das Recht auf kirchlichen Schutz zugesprochen, allen anderen aber abgesprochen wird.177 Vielmehr haben die Behörden ihre gesetzlichen Vollzugsaufgaben jeweils in enger Anlehnung an die Gesetzesbindung und dies stets in gleichheitsgerechter Art und Weise auszuüben. Die Ungleichbehandlung ist also nicht gerechtfertigt, so dass im Falle der faktischen Anerkennung des Kirchenasyls ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz angenommen werden muss. 3. Zwischenergebnis Damit steht fest, dass auch die faktische Duldung des Kirchenasyls nicht nur jedweder legitimen Grundlage in der Rechtsordnung entbehrt, sondern auch positiv gegen die rechtsstaatliche Verpflichtung zum gleichheitlichen Gesetzesvollzug verstößt. Es steht sohin nicht im Belieben der Behörden, im Falle der Kirchenasylgewährung von konkreten Vollzugsmaßnahmen abzusehen, solange die Durchsetzbarkeit der ablehnenden Asylentscheidung nicht in Frage steht. Andernfalls setzt sich jeder Verwaltungsträger dem berechtigten Vorwurf willkürlichen Verwaltungshandelns aus.178 VI. Zusammenfassung „Rechtsstaat schlägt Kirche“; so könnten die Ergebnisse dieser Untersuchung bei oberflächlicher Betrachtung zusammengefasst werden. Doch dies stimmt nur insoweit, als – um mit den Worten des Landgerichts Osnabrück zu sprechen – „[v]om Gesetz abweichende Vorstellungen von Asyl und Einwanderung […], nicht in der Weise durchgesetzt werden [können], dass kurzerhand die Funktion von Gesetzgeber, Gericht und Exekutive übernimmt, wer meint, die allein richtige Sicht der Dinge zu haben und durchsetzen zu müssen“.179 Die Praxis des Kirchenasyls, die ihrer Natur nach dort ansetzen will, wo der Rechtsstaat vermeintlich endet,180 eignet sich also 175 So auch I. v. Münch (Anm. 72), S. 566. Dies anerkennt auch R. Rothkegel (Anm. 20), S. 126, der die staatliche Duldung des Kirchenasyls aber mit Blick auf die „respektable Gewissensentscheidung“ befürwortet. 176 Denn wie grundsätzlich nicht, vgl. auch OLG Köln (Anm. 31), S. 707; LG München I (Anm. 36), S. 63. 177 Vgl. V. Stiebig (Anm. 20), S. 105; I. v. Münch (Anm. 72), S. 566. 178 Zu einem solchen Fall G. Lüke, Rechtsstaat?, in: JZ 1994, S. 720 f. 179 LG Osnabrück (Anm. 112), S. 604 mit Zitat. 180 Vgl. ausdrücklich D. Just (Anm. 70), S. 78.

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nicht als „Anfrage an die Politik“.181 Gestützt auf eine vorschnelle Überhöhung vermeintlicher Christenpflichten Einzelner, überspannen die Kirchen ihre legitimen Kompetenzen im Rechtsstaat durch die Gewährung von Kirchenasyl. So ehrenwert das Engagement der asylgewährenden Kirchgemeinde sowie deren Glieder denn auch sein mag; innere Betroffenheit über die den Flüchtlingen abverlangte Situation kann nicht der Gradmesser höherer Gerechtigkeit sein.182 Hier fehlt zuweilen auch noch die Einsicht, dass das Instrument der „Abschiebung“ zwingender und notwendiger Bestandteil einer jeden rechtsstaatlichen Asylgewährleistung ist, um der Aufgabe, den wirklich Schutzbedürftigen nach der Genfer Flüchtlingskonvention zu helfen, überhaupt gerecht zu werden.183 Im Übrigen kann die Lösung nicht in einem Gegeneinander, sondern muss in einem Miteinander des Staates und der Kirchen gefunden werden. Anstatt in bloß trotziger Protesthaltung zu verharren, ist den Kirchen anzuraten, an ihre frühere Rolle als Fürsprecher für die in Not geratenen Menschen anzuknüpfen,184 um so etwa konstruktiv auf ein laufendes Asylverfahren Einfluss nehmen zu können. Dies kann in vielfältiger Weise geschehen, etwa durch die verstärkte Zusammenarbeit kirchlicher Leitungsorgane (Bischöfe) mit den Stabsstellen des BAMF zum besseren Informationsaustausch,185 der materiellen und seelischen Begleitung einzelner Flüchtlinge vor Ort, der Einrichtung von Patenschaften durch Gemeindeglieder oder ähnliches.186 All diese Modelle stehen freilich unter der Gelingensbedingung, die staatliche Letztentscheidungskompetenz in Asylsachen uneingeschränkt anzuerkennen. Denn die zwangsläufigen Folgen der von den Kirchen im Namen der Gerechtigkeit propagierten Rechtsbrüche treffen allein die engagierten Pfarrerinnen und Pfarrer, Gemeindevorstände und -glieder vor Ort.

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M. Baldus (Anm. 15), S. 721. Ähnlich B. Fessler (Anm. 27), S. 458. So ist es vermutlich auch kein Zufall, dass die Befürworter des Kirchenasyls ihre Beiträge nicht selten mit der Darstellung eines besonders tragischen Einzelfalls rechtsstaatlichen Versagens einleiten, so etwa deutlich bei D. Just (Anm. 70), S. 74 f. 183 So zu Recht P. Carstens, FAS Nr. 34 v. 28. 08. 2015, Die Kehrseite der Willkommenskultur, S. 2; vgl. auch Apell von Th. de Maizière, in: FAZ Nr. 128 v. 06. 06. 2015, Innenminister für bessere Möglichkeiten zu legaler Einwanderung/Kritik an Kirchenasyl, S. 1. 184 Vgl. dazu oben III. 1. 185 In diese Richtung zielt auch der kürzlich zwischen den Kirchen und dem Bundesministerium des Inneren erzielte Kompromiss zur „Erprobung“ einer neuen Zusammenarbeit in Kirchenasylfällen, vgl. Pressemitteilung des Bundesinnenministeriums v. 27. 02. 2015 (Anm. 108); damit korrespondierend Pressemitteilung der BAG v. 02. 03. 2015 (Anm. 89). 186 Zu den diesbezüglichen Möglichkeiten vgl. etwa P. Beer/H. Lindenberger (Hrsg.), Flüchtlinge und Asylbewerber begleiten und unterstützen, 2004, ab S. 16 ff. 182

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* Abstract Friedemann Larsen: “I have been a stranger, and you received me”. The Renaissance of Church Asylum as a Legal Problem (“Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen”. Zur Renaissance des Kirchenasyls als Rechtsproblem), in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 147 – 174. “Constitutional state beats church”: that’s how, on superficial examination, the results of the investigation could be summarised. This is only true to the extent that – in the words of the district court of Osnabrück – “ideas differing from the law concerning asylum and immigration […], cannot be implemented in a way, that the role of the legislature, court and executive is suddenly taken over from someone who believes, that he alone has the correct viewpoint and the right to impose it”. The practice of church asylum, which by its nature wants to start where the constitutional state allegedly ends, thus does not qualify as an “enquiry to politics”. Based on a rash superelevation of supposed individual Christian duty, churches span the legitimate boundary within the constitutional state by granting church asylum. However honourable the intentions of the congregations granting church asylum may be; inner consternation at the refugee situation cannot be the indicator for higher justice. So far, a lack of understanding concerning the instrument of “deportation” as imperative and necessary part of a constitutional granting of asylum persists. This instrument has the purpose of helping those in need of protection in accordance with the Geneva Convention on Refugees. Besides, confrontation can never be a solution; rather, a way for cooperation of states and churches has to be found. Instead of assuming a defiant, rebellious attitude, churches are advised to take up their former role as proponent for those in need, so as to influence a running asylum procedure in a constructive way. This may happen in a variety of cases, like closer cooperation between church governing bodies (bishops) and executive departments of the Federal Office for Migration and Refugees (BAMF) in terms of a better exchange of information, emotional accompaniment of individual refugees on site, establishing sponsorships by parishioners or the like. Naturally, all these measures require a state competence to make a final decision concerning asylum issues in order to succeed. Inevitably, the consequences of the propagandised breaches of law by the churches in the name of justice, will only impact on the dedicated pastors, parish councils and its members on site.

Grundfreiheiten und Zuzug in die nationalen Sozialleistungssysteme Von Norbert Bernsdorff I. Einführung Seit geraumer Zeit sorgen innereuropäische Wanderungsbewegungen für Diskussionen1. Im Fokus hierbei: der Zuzug aus den Mitgliedstaaten Osteuropas. Zwar trifft es zu, dass diese Entwicklung in der öffentlichen Wahrnehmung verblasst ist, nachdem der Zuwanderungsdruck über die Außengrenzen der Europäischen Union (EU) zugenommen und eine beträchtliche Größenordnung erreicht hat: für die Zeit von Januar bis November 2015 waren im deutschen EASY-System, dem Erstverteilungssystem für Asylbewerber, 953.000 Zugänge registriert2. Die Debatte über Zahlungen an EU-Zuwanderer – vor allem aus Rumänien und Bulgarien – hält jedoch unvermindert an. Hintergrund: Die Grundfreiheiten sind der „Schlüssel“ zur derivativen Teilhabe an den Sozialleistungen des Aufnahme(mitglied)staates. Mit Nachdruck warnen Politik und Medien deshalb unter den Stichworten „Sozialtourismus“ (benefit tourism) und „Armutsmigration“ vor den Belastungen der nationalen Sozialleistungssysteme. Das Unbehagen gegenüber jedweder Freizügigkeit in Europa ist in den meisten Mitgliedstaaten bis auf den heutigen Tag präsent. Allerdings hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in seiner neueren Rechtsprechung – jedenfalls teilweise – Entwarnung gegeben. Mit ihren Urteilen in den Rechtssachen „Brey“ (2013), „Dano“ (2014) und „Alimanovic“ (2015) haben die Europarichter, die sonst nur selten eine Gelegenheit auslassen, die EU zu einer Trans-

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Um Gedanken zu einigen aktuellen Entwicklungen ergänzte und mit Fußnoten versehene Fassung eines Vortrags, den der Verfasser auf Einladung der Studiengruppe Politik und Völkerrecht am 30. 10. 2015 in Berlin gehalten hat. Der Vortragscharakter wurde beibehalten. Literatur und Rechtsprechung sind bis Ende Dezember 2015 berücksichtigt. 2 Einen Überblick über die in Deutschland vorgehaltenen sozialen Leistungen für Asylbewerber geben bspw. H. Nakielski, St. Jancyk, M. Lelgemann und Z. Mohammadzadeh, in: SozSich 2015, 389 ff., 394 ff. und 400 ff. Vgl. zu den geplanten und bereits umgesetzten Leistungseinschränkungen A. Dietz, Leistungseinschränkungen nach § 1 a AsylbLG für Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten, in: DÖV 2015, 727, und M. Kaltenborn, Die Neufassung des Asylbewerberleistungsgesetzes und das Recht auf Gesundheit, in: NZS 2015, 161.

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ferunion auszuweiten, den nationalen, vor allem den deutschen Sozialkassen Erleichterung verschafft3. Ich möchte mit meinen nun folgenden Ausführungen die europarechtlichen Mechanismen erklären, die bei der Gewährung von Sozialleistungen an EU-Migranten ineinandergreifen. Hierbei sollen die Rolle des europäischen Gesetzgebers und jene des EuGH in der „Teilhabefrage“ beleuchtet werden. Insoweit wird sich zeigen, dass die soziale Dimension der Grundfreiheiten respektive der allgemeinen Unionsbürgerfreizügigkeit über das unionale Aufenthaltsrecht „eingefangen“ wird. Die Anbindung sozialer Rechte an dessen Voraussetzungen hebt nämlich die dienende Funktion der sozialrechtlichen Gleichbehandlung für die Freizügigkeit4 hervor. Es erweist sich infolgedessen, dass mit bestimmten, in Politik und Medien immer wieder verwandten Stereotypen „aufgeräumt“ werden muss. II. Wanderungsbewegungen und Zuzugsmotive: aktueller Befund Wenn wir über Einwanderung aus den Mitgliedstaaten der EU und den Zuzug in die deutschen Sozialleistungssysteme reden, mit welchen Größenordnungen – bevölkerungssoziologisch und in finanzieller Hinsicht – haben wir es überhaupt zu tun? Insoweit liegen – die Statistiken lassen den „Exegeten“ da naturgemäß im Stich – belastbare Zahlen aus dem Jahr 2015 noch nicht, nur aus den Vorjahren vor. – 2014 betrug die Zahl derjenigen, die aus der EU dauerhaft nach Deutschland zuzogen etwa 830.000, bei einem Zuwanderungsüberschuss (nach Deutschland) von 312.000. Im Jahr 2013 waren bereits 727.075 Personen – 100.000 Personen weniger – zugezogen, bei einem Wanderungsüberschuss von 299.343. Die meisten ausländischen Zuwandernden im Jahr 2014 stammten aus Polen: 191.000 Personen. Bezogen auf die übrigen osteuropäischen Staaten kann ein Zuwanderungsüberschuss gegenüber dem Vorjahr 2013 vor allem bei Rumänen (um 75.000 Personen = 52 %), Bulgaren (um 33.000 Personen = 61 %) und Kroaten (um 27.000 Personen = 115 %) verzeichnet werden5. Zu berücksichtigen ist allerdings: Die Wanderungsstatistiken – hier des 3 Zur Bewertung in den Medien etwa J. Jahn: Noch keine Entwarnung, FAZ v. 16. 09. 2015, S. 18; St. Bolzen/D. Siems: Erleichterung über Urteil zu „Sozialhilfetourismus“, Die Welt-online v. 11. 11. 2014. 4 So charakterisiert von F. Schreiber, Die Bedeutung des Aufenthaltsrechts für die sozialrechtliche Gleichbehandlung von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, in: ZAR 2015, 46, 49; siehe auch D. Thym, Sozialleistungen für und Aufenthalt von nichterwerbstätigen Unionsbürgern, in: NZS 2014, 81, 87 ff. 5 Vgl. insoweit die vom Statistischen Bundesamt (Destatis) für das Jahr 2013 erhobenen Daten: Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Wanderungen, Fachserie 1 Reihe 1.2, 2013, S. 76, 79; ferner für das Jahr 2014 die Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) Nr. 321 v. 03. 09. 2015; siehe auch die ausführliche Bestandsaufnahme im Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“, Unterrichtung durch die Bundesregierung v. 29. 08. 2014, BT-Drs. 18/2470, S. 10 ff., unter Hinweis

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Statistischen Bundesamtes – stellen nur die von den Meldebehörden erfassten Zuzüge dar. Die Dunkelziffer bei „untergetauchten“ Zuwanderern liegt erheblich höher. Geht es um den Zuzug zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen, ist der Blick weniger auf die beitragsfinanzierten Leistungen zu richten. Zwangsweise organisierte, kollektive Sozialversicherungssysteme, die „beitragsgestützt“ sind, also Leistungen nur gegen – gegebenenfalls eigene – Sozialbeiträge erbringen6, stehen – wie noch zu zeigen sein wird – nicht so sehr im Fokus der „Zuzugsdebatte“. Auswirkungen ergeben sich aber bei den rein steuerfinanzierten Systemen für alle Einwohner. Indessen ist auch hier ein sehr disparater Befund zu erheben. Nicht alle dieser Systeme sind gleichermaßen betroffen: So wird beispielsweise niemand von „Sozialtourismus“ sprechen, wenn es um den BAföG-Bezug durch EU-Ausländer geht. Dazu ist die Zahl der Geförderten aus EUStaaten – etwa 14.000 im Jahr 2014, davon 3.000 Personen aus Polen, Rumänien und Bulgarien – im Verhältnis zur Gesamtzahl der BAföG-Bezieher – rund 925.000 – zu gering7. Schon deutlich anders stellt sich die Situation aber bei den steuerfinanzierten Familienleistungen, etwa dem Kindergeld, dar: Zum Jahreswechsel 2013/2014 bezogen 660.000 Berechtigte aus anderen Mitgliedstaaten der EU steuerliches und sozialrechtliches Kindergeld für ihre Kinder. Ein großer Teil der Leistungen – im Umfang von 357 Millionen Euro – wurde für 142.000 polnische Kinder gezahlt, von denen etwa ein Drittel in Polen lebte. Rumänen und Bulgaren empfingen Ende 2013 nach den Statistiken der Bundesagentur für Arbeit Kindergeld für 56.000 Kinder8. Zwar ist das Transfervolumen angesichts eines mittlerweile milliardenschweren Haushaltsansatzes 2015 für diese Leistung noch vergleichsweise gering. Die Tendenz ist jedoch seit dem Ablauf der freizügigkeitsbeschränkenden Übergangsfristen stark steigend. Das zweifellos größte „Aufregungs-Potenzial“ birgt der Zuzug in die steuerfinanzierten, existenzsichernden Sozialleistungssysteme, also die Mindestsicherungssysauf H. Brücker/A. Hauptmann/E. Vallizadeh, Aktuelle Berichte: Zuwanderungsmonitor Bulgarien und Rumänien, IAB Juli 2014; schließlich R. Panidou, Zuwanderung in die Grundsicherung? – Rahmenbedingungen, rechtliche Regelungen und aktuelle Auswirkungen der Zuwanderung von EU-Bürgern im Rechtskreis SGB II, in: ZFSH/SGB 2015, 13, 14. 6 Zu einer Einordnung der Systeme sozialer Sicherheit der Mitgliedstaaten vgl. N. Brall, Der Export von Leistungen der sozialen Sicherheit in der Europäischen Union, 2003, S. 197 ff. 7 Statistisches Bundesamt (Destatis), Bildung und Kultur – Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAfög), Fachserie 11 Reihe 7, Sp. 8; auch Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (Destatis) Nr. 273 v. 30. 07. 2015. 8 Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses (Anm. 5), BT-Drs. 18/2470, S. 26 f., unter Hinweis auf die Bestandsstatistiken „Kindergeld“ der Bundesagentur für Arbeit (Stand: 17. 2. 2014); auch M. Rademaker: Kindergeld: Neue Barriere für Zuwanderer, ZEIT-online v. 12. 12. 2013, und F. Solms-Laubach: Geheimbericht enthüllt: Deutsches Kindergeld für 41.000 Kinder in Polen – Bundesregierung will Missbrauch von Kindergeld durch EU-Zuwanderer eindämmen, Bild-online v. 22. 03. 2014.

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teme für Nichterwerbstätige, Personen im Rentenalter auf der einen und Arbeitslose auf der anderen Seite. Lag die Zahl der aus dem EU-Ausland zugewanderten Empfänger sozialhilferechtlicher Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Zwölften Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB XII) – der Mindestsicherung für erwerbsunfähige Personen – Ende 2013 bei etwa 20.0009, so hatte zur gleichen Zeit ein großer Teil der rund 150.000 Arbeitslosen aus den Mitgliedstaaten (etwa 5 % aller Arbeitslosen)10 Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitsuchende/Hartz-IVLeistungen nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB II) – der in Deutschland vorgehaltenen Mindestsicherung für Erwerbsfähige. Im Jahresdurchschnitt 2013 betrug der Bestand an Staatsangehörigen der EU in Bedarfsgemeinschaften, die Leistungen nach dem SGB II bezogen, 293.000 Personen (4,8 % aller Personen in Bedarfsgemeinschaften).11 Was die Verteilung auf die einzelnen Mitgliedstaaten betrifft, stammten die meisten Personen aus Polen (70.000); bei den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zeichnet sich ein ähnliches Bild ab (56.000). Seitdem Rumänen und Bulgaren Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen – seit dem 1. Januar 2014 – ist die Zahl der Anspruchsteller noch einmal sprunghaft angestiegen. Zwar liegen reliable Zahlen des Statistischen Bundesamtes oder der Bundesagentur für Arbeit noch nicht vor. Eines ist jedoch schon bekannt: die Zahl der SGB-II-Leistungsempfänger aus diesen Staaten hat sich im Vorjahresvergleich (April 2013 bis April 2014) mit 23.000 um 66 Prozent deutlich erhöht12. Bevor wir uns mit den – im weiteren Sinne – rechtlichen Zusammenhängen des „Sozialleistungstransfers“ befassen wollen, ein kurzer Blick auf die Zuzugsmotive: Sie sind vielfältig, unterteilen sich – wenn man so will – in „berufsbezogene“ und „berufsfremde“ Gründe. So wird der klassische Wanderarbeitnehmer in dem anderen Mitgliedstaat eine neue Arbeit finden, der Studierende dort ein Ausbildungsangebot nutzen wollen, das ihm der Herkunfts(mitglied)staat nicht bietet. In anderen Fällen findet bloß ein Familiennachzug statt. Nicht zu vergessen sind die immensen Unterschiede bei den „sozialen Referenzindikatoren“: Bruttoinlandsprodukt/Kopf, Wirtschaftsleistung, Preisniveau, Monatseinkommen usw. Bei Preisen mit West-Niveau erreicht der Kaufkraftstandard in Rumänien und Bulgarien nur knapp die Hälfte des EU-Durchschnitts, während er in Deutschland um ein Viertel darüber liegt. Mit 30 bzw. 43 Prozent sind in diesen Ländern EU-weit die meisten Menschen armutsgefährdet bzw. leben trotz heimischer Sozialleistungen unter der Armutsgrenze; Quel-

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Statistisches Bundesamt (Destatis), Sozialleistungen – Empfänger und Empfängerinnen von Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Fachserie 13 Reihe 2.2, 2013, S. 25. 10 Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Analytikreport der Statistik, Analyse des Arbeitsmarktes für Ausländer für das Jahr 2013, September 2015, S. 9, Tab. 1.5: Ausländer nach Staatsangehörigkeit. 11 Hierzu Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses (Anm. 5), BT-Drs. 18/2470, S. 22 ff. 12 Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses (Anm. 5), BT-Drs. 18/2470, S. 22.

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le: EU-Statistikbehörde EUROSTAT13. Bei diesen Unterschieden lohnt es sich zu wandern, für Arbeitnehmer, für Unionsbürger, auch für Unternehmen. III. Beanspruchung der nationalen Sozialleistungssysteme Wann indessen lässt sich von einer unangemessenen, nicht mehr zu verkraftenden Belastung nationaler Sozialleistungssysteme sprechen? Festgestellt werden muss zunächst: Einschätzungen sind dem Wandel unterworfen und von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat – je nach dessen Wirtschaftskraft, Sozialleistungsangebot und Leistungsniveau – verschieden. Welche Systeme sozialer Sicherheit betroffen sind, hängt im Übrigen davon ab, ob soziale Leistungen privat oder öffentlich verwaltet, durch Steuern oder Beiträge finanziert werden. 1. Die betroffenen Systeme sozialer Sicherheit Schon eingangs wurde darauf hingewiesen14 : Bezogen auf die deutschen Sozialversicherungssysteme Kranken- und Pflegeversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung ist ein erhöhter Zuzug aus den EU-Staaten nicht sonderlich virulent. Für diese – auf Bismarck zurückgehenden – Systeme ist kennzeichnend, dass sich die sozialen Rechte von der Erwerbsarbeit ableiten; für die Leistungen gilt das Versicherungsprinzip oder sie sind beitragsbezogen15. Die Beiträge – regelmäßig Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge – orientieren sich am Arbeitslohn. Das bedeutet – stark vereinfacht: Wer in Deutschland keine Sozialbeiträge auf Lohn aus Erwerbsarbeit entrichtet bzw. entrichtet hat, hat auch keine Leistungsansprüche. Hierin liegt der Grund, warum das deutsche Sozialversicherungsrecht im Wesentlichen ohne Normen über Leistungsausschlüsse für Zuwandernde auskommt. Migranten präkludiert hat der Gesetzgeber lediglich in § 52 a des Fünften (SGB V) und § 33 a des Elften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB XI), nämlich dann, wenn die Erlangung von Kranken- und Pflegeversicherungsleistungen das Hauptmotiv der Einreise nach Deutschland war. Nachhaltig verändert (belastet) wird das Leistungsgefüge der genannten Versicherungssysteme auch nicht etwa – wie viele meinen – durch das Europarecht. Was muss man dazu wissen? Ob, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang nationale Sozialversicherungsleistungen an EU-Ausländer zu gewähren 13 Vgl. dazu auch K. Verseck: Debatte über Armutsmigration: So wenig Sozialhilfe zahlen Bulgarien und Rumänien, spiegel-online v. 15. 1. 2014; ferner allgemein zu den sozio-ökonomischen Hintergründen H. Bonin, Der Beitrag von Ausländern und zukünftiger Zuwanderung zum deutschen Staatshaushalt, 2014, S. 6 ff., und Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses (Anm. 5), BT-Drs. 18/2470, S. 10 ff. 14 Dazu oben unter II. 15 Im Einzelnen N. Brall (Anm. 6), S. 198.

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sind, beantwortet das europäische Sozialrecht. Sedes materiae oder – besser – „Impulsgeber“ ist hier primärrechtlich die Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45, 48 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Dort ist ein Koordinierungsauftrag enthalten; dieser wurde und wird sekundärrechtlich durch Verordnungen umgesetzt: seit 1972 durch die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, seit 2010 durch die Verordnung (EG) Nr. 883/200416. Letztere ist – wie ihre Vorgängerverordnung – nur darauf gerichtet, ein Nebeneinander der verschiedenen Sozialversicherungssysteme zu ermöglichen17. Davon ausgehend lässt sich – für den hier interessierenden Zusammenhang – folgender Befund erheben: Die grenzüberschreitende Inanspruchnahme von Sozialleistungen ist regelmäßig durch Kollisionsnormen und Koordinierungsregeln – über das Rechtsstatut sozialer Sicherung, die Zuständigkeit, über Leistungsexport und Leistungsaushilfe, die Zusammenrechnung von Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, den Ausschluss von Doppelleistungen usw. – hinreichend gesichert, aber auch beschränkt. Vor weitaus größere Herausforderungen stellt der Zuzug aus den EU-Staaten – vor allem Osteuropas – jedoch die steuerfinanzierten Systeme. Hauptbetroffen sind Familienleistungen wie das Kindergeld und die sog. besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen, für die die Anwendung der allgemeinen Vorschriften des koordinierenden Sozialrechts ausgeschlossen ist. Für letztere gilt zwar das (koordinierungsrechtliche) Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit nach Art. 4 der Verordnung 883/2004; zu exportieren (Art. 7) sind sie jedoch nicht18. Zu diesen Geldleistungen gehören die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung des SGB XII sowie die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende/Hartz-IV-Leistungen des SGB II. Auswirkungen hat die Zuwanderung aber auch auf das System der Sozialhilfeleistungen im engeren Sinn, die als bedarfsbezogen bestimmte und bedarfsabhängig bemessene Leistungen19 von der Verordnung 883/2004 nicht erfasst werden. Sind die Belastungen messbar, gibt es hierfür „Korrelationskoeffizienten“? 2. Parameter der Belastung Belastungen der nationalen Sozialleistungssysteme lassen sich – mangels anderer Parameter – nur aufgrund einer quantitativen Betrachtung erfassen.

16 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. L 166 v. 30. 04. 2004, S. 1; im Folgenden Verordnung 883/2004 oder VO 883/2004. 17 Ausführlich E. Eichenhofer, Sozialrecht der Europäischen Union, 5. Aufl. 2013, Rn. 8, Rn. 75 ff.; ebenso M. Fuchs, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Einführung Rn. 31 ff. 18 E. Eichenhofer (Anm. 17), Rn. 128. 19 So beschrieben von E. Eichenhofer (Anm. 17), Rn. 108.

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Gibt es beispielsweise Bagatellgrenzen für solche Belastungen? – So hat eine von der Europäischen Kommission bei einem britischen Consultant (ICF GHK, heute ICF International) in Auftrag gegebene Studie im Jahr 2013 festgestellt, dass der Anteil der EU-Migranten unter den Wohlfahrtsempfängern – „welfare beneficiaries“ – EU-weit durchschnittlich unter 5 Prozent lag. Die Studie fand vor diesem Hintergrund keine Hinweise auf den Tatbestand einer Überforderung der mitgliedstaatlichen Systeme: The European Commission study has found that jobless EU migrants make up a very small shape of those claiming social benefits in EU member states20. Des Weiteren: Ist bei quantitativer Betrachtung nicht auch die Beitrags- bzw. Steuerleistung von Migranten zu berücksichtigen? – Nach Untersuchungen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim21 und des „European Citizen Action Service“ (ECAS)22 zahlen Zuwanderer aus dem EU-Ausland mehr in die Sozialleistungssysteme ein als sie an Transferleistungen herausbekommen23. Die Studien haben zu diesem Zweck bei einer vorausschauenden Generationenrechnung für jeden Geburtsjahrgang bei unveränderten wirtschaftlichen und fiskalpolitischen Rahmenbedingungen die bis an das Lebensende anfallenden Steuern, Beiträge und Transfers addiert24. Auch wenn sich dieses überaus positive Ergebnis aufgrund der Beschäftigtendaten-Statistik der Bundesagentur für Arbeit für das Jahr 201325 nicht ganz verifizieren lässt – von rund 3,4 Millionen EU-Migranten befanden sich 1,1 Millionen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen –, so ist dieser auf der „Haben-Seite“ zu verbuchende Effekt doch nicht zu vernachlässigen. 3. Reaktionen – Aufnahme in den Katalog der sog. Hybridleistungen (Art. 70 Abs. 2 VO 883/2004) Soziale Sicherheit steht regelmäßig unter dem Zwang „knapper Kassen“. Um – bei übermäßiger Inanspruchnahme – dem Verlust sozialpolitischer „Zielplanungskompetenz“ vorzubeugen, kommen häufig nur Kostendämpfungsmaßnahmen im Inland und eine Ausdünnung des Leistungskataloges in Betracht. – Welche Maßnahmen können Mitgliedstaaten nun im Europarecht ergreifen? Europarechtlich wird 20 Siehe hierzu: EU study on migrants rebuffs „benefit tourism“ claims, BBC NEWS v. 14. 10. 2013. 21 Vgl. H. Bonin (Anm. 13), S. 1 ff.; einschränkend ders.: Wir brauchen Zuwanderer, aber die richtigen, FAZ-online v. 14. 1. 2015; kritisch H.-W. Sinn: Migration: Gut für den Arbeitsmarkt, schlecht für den Staat, Wirtschaftswoche-online v. 10. 2. 2015. 22 ECAS-Studie „Who is still afraid of EU-Enlargement“, September 2006. 23 Resümierend M. Dülffer: Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU, eurotopics v. 03. 06. 2014; D. Drewes: Keine Arbeit, keine Sozialhilfe, in: DRiZ 2014, 41: Deutschland profitiert vom Akademiker-Ansturm. 24 H. Bonin (Anm. 13), S. 1. 25 Siehe Statistik der Bundesagentur für Arbeit (Anm. 10), S. 9, Tab. 1.5: Ausländer nach Staatsangehörigkeit.

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den Mitgliedstaaten beispielsweise zugestanden, durch einen Eintrag in Anhang X zu Art. 70 Abs. 2 Buchst. c) der Verordnung 883/2004 zu bestimmen, welche Sozialleistungen sie als dem Leistungstypus der Sozialhilfe ähnlich von einer umfassenden Koordinierung ausschließen wollen. Von dieser Möglichkeit, aufgrund – wenn man so will – eigener Definitionsmacht Leistungen wegen ihres Misch(Hybrid)charakters einer Sozialrechtskoordinierung wenigstens teilweise zu entziehen26, hat Deutschland für die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach §§ 41 ff. SGB XII und die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach §§ 19 ff. SGB II – die Existenzsicherungsleistungen für Personen im Rentenalter und Arbeitslose – Gebrauch gemacht27. Ein gewisser Selbstschutz gegen den Zuwanderungstrend gerade bei diesen Personengruppen!28 4. Exkurs: Auslandskrankenbehandlung in Deutschland (Rechtssachen „Elchinov“ und „Petru“) (Faktische) Kostenbelastungen ergeben sich manchmal auch, wenn sich andere Mitgliedstaaten einer obligatorischen Leistung verweigern. – Immer wieder zitiert werden zwei EuGH-Urteile aus den Jahren 2010 und 201429: Ein bulgarischer Staatsangehöriger, Herr Elchinov, und eine Rumänin, Frau Petru, hatten bei den zuständigen Leistungsträgern ihrer Heimatstaaten um die Ausstellung des sog. Formulars E 112 (Bescheinigung über die vorherige Zustimmung zur Auslandskrankenbehandlung) nachgesucht, um sich in Deutschland jeweils einer kostspieligen Spezialtherapie zu unterziehen. Der Bulgare verweigerte sich einer Behandlung seiner Augenerkrankung in Sofia, weil dort eine Therapie mit radioaktiven Platten bzw. eine Protonentherapie nicht vorgehalten wurde; er ließ die Behandlung in Berlin durchführen. Die an einer koronaren Herzkrankheit leidende rumänische Staatsangehörige lehnte den Austausch einer Mitralklappe in Temeswar ab; der chirurgische Eingriff erfolgte daraufhin in Heidelberg. Die angegangenen Versicherungsträger hatten die Genehmigungen zunächst versagt und die hohen, in Deutschland entstandenen Krankenhauskosten nicht beglichen; sie wurden stattdessen von den zuständigen deutschen Leistungsträgern im Wege aushelfender Sachleistungsgewährung getragen. Erst

26 Es gelten spezielle Koordinierungsregelungen. Ein Gebot zum Leistungsexport (vgl. Art. 7 der Verordnung 883/2004) besteht nicht. Jedoch ist das koordinierungsrechtliche Verbot der Diskriminierung wegen der Staatsangehörigkeit nach Art. 4 der Verordnung 883/2004 anzuwenden. Siehe hierzu bereits oben unter III. 1. 27 Anhang X „Deutschland“ lit. a) und b); eingehend hierzu M. Fuchs, Deutsche Grundsicherung und europäisches Koordinierungsrecht, in: NZS 2007, 1, 3. 28 Der Ausschluss arbeitsuchender Unionsbürger von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende wurde vom EuGH als unionsrechtskonform erachtet; siehe unter V. 5. b). 29 EuGH Urt. v. 05. 10. 2010 – Rs. C-173/09, Elchinov – Slg. 2010, I-8889, und EuGH Urt. v. 09. 10. 2014 – Rs. C-268/13, Petru – EuGRZ 2014, 623 = ZESAR 2015, 86.

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sehr viel später hat der EuGH unter Hinweis auf zwingendes Koordinierungsrecht30 zur verordnungskonformen Erteilung einer (nachträglichen) Genehmigung verpflichtet, weil eine wirksame Krankenbehandlung im Herkunfts(mitglied)staat nicht (rechtzeitig) verfügbar war. IV. Die Inanspruchnahme von Kindergeldleistungen durch EU-Zuwanderer „Bundesregierung soll Missbrauch von Kindergeld durch EU-Zuwanderer stoppen!“ – Diese Forderung – vor allem der Boulevard-Presse31 – aus der ersten Hälfte des Jahres 2014 ist uns allen noch erinnerlich. Im politischen Raum wurden in der Folgezeit Vorschläge unterbreitet, die Zahlung des Kindergeldes in Zukunft an den (regelmäßigen) Schulbesuch oder den Aufenthalt des Kindes in Deutschland zu koppeln, die Höhe des Kindergeldes an die Lebenshaltungskosten des Wohnortes des Kindes anzupassen usw.32 Warum diese Empörung? Als Teil des Familienleistungsausgleichs ist das Kindergeld bis heute die wichtigste finanzielle Unterstützung von Familien und wird Eltern für Kinder gewährt, die sie – untechnisch ausgedrückt – „unterhalten“. Es ist im Wesentlichen echte Transferleistung, die einkommensunabhängig nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) oder dem Bundeskindergeldgesetz erbracht wird. Die Kindergeldsätze lagen im Jahr 2015 für das erste und zweite Kind bei 188, für das dritte Kind bei 194 und für jedes weitere Kind bei 219 Euro monatlich. 1. Das deutsche Recht: § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG Wer ist in Deutschland zum Bezug von Kindergeld berechtigt? Kindergeldberechtigt sind ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit grundsätzlich Eltern, die freizügigkeitsberechtigt sind und ihren Wohnsitz oder gewöhnli30 Heute Art. 20 der Verordnung 883/2004 und die hierzu ergangene Durchführungsverordnung; zu Fragen der aushelfenden Sachleistungsgewährung in Fällen, in denen der vorübergehende Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat gerade zu dem Zweck der Krankenbehandlung erfolgt, K.-J. Bieback, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 20 Rn. 1 ff. 31 Vgl. exemplarisch F. Solms-Laubach: Geheimbericht enthüllt: Deutsches Kindergeld für 41.000 Kinder in Polen – Bundesregierung will Missbrauch von Kindergeld durch EU-Zuwanderer eindämmen!, Bild-online v. 22. 03. 2014; zuvor schon D. Hoeren: Bund und Länder prüfen: Weniger Kindergeld für Bulgaren und Rumänen, Bild-online v. 31. 12. 2013; ferner St. Geyer: Kindergeld für Rumänen wird nicht gekappt, BZ-online v. 01. 01. 2014. 32 Siehe die Zusammenstellung von Vorschlägen im Abschlussbericht der Bund-LänderKommission „Armutswanderung aus Osteuropa“ v. 11. 10. 2013, S. 14 ff. (abgedr. im Protokoll der 90. Arbeits- und Sozialministerkonferenz 2013 am 27./28. 11. 2013, S. 140 ff.); kritisch hierzu der Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses (Anm. 5), BT-Drs. 18/2470, S. 60, 61 f. (Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung und Überlegungen zu Rechtsänderungen: Kindergeld).

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chen Aufenthalt im Inland haben oder aus anderen Gründen hier unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind33. Kinder34, die im EU-Ausland leben, sind Kindern mit inländischem Wohnsitz gleichgestellt; sie werden dann so behandelt, als befänden sie sich in Deutschland. Das Einkommensteuergesetz enthält jedoch auch Ausschlusstatbestände. So ordnet § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG an, dass Kindergeld nicht – und zwar vollen Umfangs nicht – gezahlt werden muss, wenn eine Anspruchskonkurrenz von Kindergeld zu kindergeldähnlichen Leistungen im Ausland besteht. Diese Norm ist – im Ergebnis – eine nationale (deutsche) „Antikumulierungs-Regel“, die den Doppelbezug gleicher Leistungen ausschließen soll und bei kindbedingten Leistungen im Ausland den Nachrang deutschen Kindergeldes begründet. 2. Sog. Ausschließlichkeitsgrundsatz und „Petroni-Prinzip“ Noch bis vor wenigen Jahren hatten Familienkassen und Finanzgerichte den Leistungsausschlusstatbestand des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG (überhaupt) nur für anwendbar gehalten, wenn Deutschland nach den Kollisionsnormen des EU-Koordinierungsrechts nicht der zuständige Staat war35. Das geschah in strenger Umsetzung des sog. Ausschließlichkeitsgrundsatzes und führte zu einer kompletten Ablehnung des Anspruchs auf deutsches Kindergeld36. Der sog. Ausschließlichkeitsgrundsatz besagt, dass für Personen, die vom Koordinierungsrecht erfasst sind, die Rechtsvorschriften nur eines – nämlich des zuständigen – Mitgliedstaates gelten sollen37; die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die hiermit verbundenen Schwierigkeiten müssten vermieden werden. Entscheidend sei auch, dass der nationale Gesetzgeber nicht die Befugnis habe, im Verhältnis zu anderen Mitgliedstaaten Geltungsbereich und Anwendungsvoraussetzungen seiner nationalen Rechtsvorschriften zu bestimmen; das europäische Recht habe Vorrang38. Der EuGH hat an diesem Grundsatz bis in das Jahr 2008 auch für Fälle festgehalten, in denen die ausschließliche Anwendung des Rechts nur eines Mitgliedstaates zu Nachteilen für den Wandernden führte39. Das „Petroni-Prinzip“ – so der EuGH – 33

§ 62 Abs. 1 EStG. § 63 Abs. 1 Satz 1 EStG. 35 Zur Rechtspraxis bis zum Jahr 2008 St. Devetzi, Von „Bosmann“ zu „Hudzinski“ und „Wawrzyniak“ – Deutsches Kindergeld in Europa, in: ZESAR 2012, 447, 449. 36 Nachweise etwa aus der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und des Bundesverfassungsgerichts bei St. Devetzi (Anm. 35), ZESAR 2012, 449 Anm. 26. 37 Art. 11 Abs. 1 als kollisionsrechtliche Grundnorm der Verordnung 883/2004. 38 Dazu H.-D. Steinmeyer, in: Fuchs, Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 11 Rn. 4. 39 Vgl. hierzu seine beiden grundlegenden Entscheidungen aus dem Jahr 1986: EuGH Urt. v. 12. 6. 1986 – Rs. 302/84, Ten Holder – Slg. 1986, I-1821; EuGH Urt. v. 10. 07. 1986 – Rs. C60/85, Lujiten – Slg. 1986, I-2365. 34

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stehe nicht entgegen. Zur Erläuterung: Die „Petroni“-Rechtsprechung40 will verhindern, dass die Anwendung des Koordinierungsrechts – hier der Verordnung 883/ 2004 – zur Rechtsverkürzung führt: Ansprüche, die nach nationalem Recht erworben werden, dürfen nicht verloren gehen. Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer solle befördert, nicht beschränkt werden41. Der EuGH hatte seinerzeit judiziert, dass das „Petroni-Prinzip“ allein die Kumulierung von Leistungen betreffe, die Regelungen über die Bestimmung des anwendbaren Rechts hingegen unberührt lasse. 3. Die Grundfreiheit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45, 48 AEUV) als übergeordneter Prüfungsmaßstab – „Bosmann“, „Hudzinski“ und „Wawrzyniak“ Es ist selbstverständlich und nicht weiter zu kommentieren, dass Bestimmungen des europäischen Sekundärrechts stets (auch) im Lichte des Primärrechts ausgelegt werden müssen! – Der EuGH geht jedoch weit darüber hinaus: Von sekundärrechtlichen Normen unbeeindruckt, hat er das europäische Koordinierungsrecht – gewissermaßen flächendeckend – an den Grundfreiheiten gemessen. Originalton: Die Vorschriften der Verordnung seien nicht per se abschließend oder erschöpfend bzw. vollständig. Eine nationale Vorschrift könne zwar mit dem Koordinierungsrecht vereinbar sein; dies bedeute aber nicht, dass das Primärrecht keine andere, mobilitätsfreundlichere Interpretation zulasse – ständige EuGH-Rechtsprechung seit 1998. Den europäischen – und den nationalen! – Gesetzgeber düpiert hat der EuGH auch in der Rechtssache „Bosmann“. Jeder Student der Rechtswissenschaften – zumindest jeder sportinteressierte – kennt seine Bosman-Entscheidung aus dem Jahr 199542. Dort hatte der EuGH die seinerzeit geltenden Transferregeln und Ausländerbeschränkungen im Profifußball verboten. Nur bei Sozialrechtlern bekannt ist demgegenüber das Bosmann-Urteil aus dem Jahr 200843. Worum ging es? – Eine belgische Staatsangehörige lebte mit ihren Kindern in Deutschland, verlegte ihren Arbeitsplatz dann aber in die Niederlande. Im Hinblick hierauf stellte die deutsche Familienkasse in Aachen die Kindergeldzahlungen ein. Nach den Koordinierungsregeln war das richtig; denn ausschließlich zuständig für die Gewährung solcher Familienleistungen war nicht der Wohn-, sondern der Beschäftigungs(mitglied)staat44 – die Niederlande. 40 Benannt nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache „Petroni“, Urt. v. 21. 10. 1975 – C-24/75 – Slg. 1975, I-1149; ausführlich A. Bokeloh, Das Petroni-Prinzip des Europäischen Gerichtshofes, in: ZESAR 2012, 121, 122 ff. 41 So resümierend St. Devetzi (Anm. 35), ZESAR 2012, 447 f. 42 Vgl. EuGH Urt. v. 15. 12. 1995 – Rs. C-415/93, Bosman – Slg. 1995, I-4921; hieran anknüpfend St. Devetzi (Anm. 35), ZESAR 2012, 447. 43 EuGH Urt. v. 20. 5. 2008 – Rs. C-352/06, Bosmann – Slg. 2008, I-3827. 44 Heute Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) der Verordnung 883/2004.

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Die Lösung des EuGH – bestätigt in den Rechtssachen der polnischen Saisonarbeiter „Hudzinski“ und „Wawrzyniak“45 – war überraschend. Jahrzehntelang hatte er betont, dass die Verordnung ein geschlossenes System von Kollisionsnormen sei, das die Anwendung nur einer nationalen Rechtsordnung zulasse, diejenige des unzuständigen Mitgliedstaates hingegen ausschließe. Nunmehr erlaubte er – unter Hinweis auf das Primärrecht – die Anwendung einer zweiten Rechtsordnung – hier des deutschen Kindergeldrechts46. Er hob damit nicht nur den sog. Ausschließlichkeitsgrundsatz auf, indem er das Günstigkeitsprinzip anwandte, sondern weitete auch die „Petroni“-Maxime aus. Frau Bosmann erhielt sog. Differenz-Kindergeld. Kritiker werfen dem EuGH vor47, im Interesse einer möglichst weitgehenden Mobilität die „Büchse der Pandora“ geöffnet, nämlich im Hinblick auf die hohen deutschen Kindergeldsätze Mitnahmeeffekte begünstigt und Fehlanreize – Zunahme der Wanderungsbewegungen nach Deutschland – gesetzt zu haben. V. Die Inanspruchnahme sog. besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen durch EU-Zuwanderer Wenden wir uns nun einem anderen Thema zu: der inländergleichen Teilhabe aus dem EU-Ausland Zugezogener an den steuerfinanzierten Mindestsicherungsleistungen für Nichterwerbstätige, Personen im Rentenalter und Arbeitslose. Hier stellten und stellen sich vielfältige Fragen: Müssen Mitgliedstaaten soziale Verantwortung und Fürsorge auch für EU-Zuwanderer übernehmen, die sich – ohne überhaupt in den Arbeitsmarkt eintreten zu wollen – rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten? Deutlicher: Müssen die Mitgliedstaaten einen gewissen Bezug existenzsichernder Sozialleistungen durch Nichterwerbstätige aus dem EU-Ausland hinnehmen?48 Immerhin machen ja die meisten von ihnen – das ist der rechtliche Konflikt – von ihrem aus der Unionsbürgerschaft folgenden allgemeinen Recht auf Freizügigkeit – auf Einreise in einen anderen Mitgliedstaat und den ständigen Aufenthalt in seinem Hoheitsgebiet – Gebrauch! – Ferner: Welcher Handlungsspielraum verbleibt den Mitgliedstaaten, um ihr auf kollektiver Risikotragung – das meint Steuerfinanzierung – beruhendes49 heimisches Mindestsicherungssystem vor übermäßiger Beanspruchung zu schützen? 45

EuGH Urt. v. 12. 6. 2012 – Rs. C-611 und 612/10, Hudzinski, Wawrzyniak – DStRE 2012, 999 = in: ZESAR 2012, 475; fortgeführt in EuGH Urt. v. 23. 4. 2015 – Rs. C-382/13, Franzen, Giesen, van den Berg – Abl. EU 2015, Nr. C 205, 4 f. (Leitsatz). 46 A.A. H.-D. Steinmeyer (Anm. 38), Art. 11 Rn. 5: ein neues Paradigma für das Koordinierungssystem wird dadurch nicht geschaffen. 47 Vgl. hierzu die Nachweise bei St. Devetzi (Anm. 35), ZESAR 2012, 448 Anm. 15. 48 Zu diesen grundlegenden Fragen D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 81. 49 Vgl. zur Grundlage des „Solidaritätsanspruchs“ nach der Rechtsprechung des EuGH F. Wollenschläger, Anmerkung zu EuGH Urt. v. 18. 7. 2006 (De Cuyper) – C-406/04, EuZW 2006, 500, 506.

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Mit seinen Urteilen in der Rechtssache „Brey“ (2013) – zur österreichischen Ausgleichszulage, die bei grober Betrachtung der deutschen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII ähnlich ist50 – und in den Rechtssachen „Dano“ (2014) und „Alimanovic“ (2015) – zu Leistungen der deutschen Grundsicherung für Arbeitsuchende/Hartz-IV-Leistungen nach dem SGB II – hat der EuGH Zulässigkeit und Grenzen nationaler Leistungsausschlüsse für mittellose EU-Zuwanderer beleuchtet. 1. Zuzugs(beschränkungs)fälle – Unionsrechtlicher Gleichbehandlungsanspruch beim Zugang zu Sozialleistungen Wenn es – bei grenzüberschreitenden Sachverhalten – um den Zugang zu Sozialleistungen geht, müssen – phänotypisch – zwei Situationen unterschieden werden: die sog. Zuzugs(beschränkungs)- und die sog. Wegzugs(beschränkungs)fälle51. Bei den Zuzugsfällen steht die inländergleiche Teilhabe am Sozialstandard des Aufnahme(mitglied)staates im Vordergrund, zu beurteilen ist also eine gleichheitsrechtliche Position. Ausgangspunkt bei den Wegzugsfällen ist demgegenüber nicht ein – wie auch immer gearteter – Diskriminierungsschutz, sondern „nur“ bzw. „allein“ die Frage nach der Reichweite der (grundfreiheitlichen) Freizügigkeit, ihrer sozialen Dimension52: Inwieweit ist ein Herkunfts(mitglied)staat verpflichtet, Sozialleistungen zu exportieren, wenn jemand von seiner Freizügigkeit Gebrauch macht und „wandert“? – Der EuGH sieht seit jeher allgemeines Freizügigkeitsrecht der Unionsbürger (heute: Art. 21 AEUV) und Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit (heute: Art. 18 AEUV) verknüpft und hierin den Grund für derivative (sozialrechtliche) Teilhabeansprüche. Hier liegt – wie es im Schrifttum treffend heißt53 – der „Schlüssel“ zu den bzw. der „Türöffner“ für die nationalen Sozialleistungssysteme.

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D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 82: eher „Solidar“- bzw. „Lebensleistungsrente“. Vgl. zu dieser – dogmatisch relevanten – Unterscheidung R. Rebhahn, Zugang der Unionsbürger zu Sozialleistungen, in: Schroeder/Obwexer, 20 Jahre Unionsbürgerschaft – Konzept, Inhalt und Weiterentwicklung des grundlegenden Status der Unionsbürger, in: EuR 2015 – Beiheft 1, S. 95, 99, 101 ff; auch F. Wollenschläger (Anm. 49), EuZW 2006, 504: Wegzugs(beschränkungs)fälle als „Kehrseite derselben Medaille“; ferner N. Bernsdorff, Zweigniederlassungen ausländischer Kapitalgesellschaften – Auswirkungen im Sozialrecht, Herausforderungen aus Sicht des Unionsbürgerrechts der allgemeinen Freizügigkeit und des Niederlassungsrechts von Gesellschaften, in: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, Thesenpapiere „Neue Herausforderungen für die europäische Rechtsgemeinschaft“, 2. Luxemburger Expertenforum zur Entwicklung des Gemeinschaftsrechts am 20./21. 10.2008, S. 3 ff. 52 Hebel: ein „allgemeines Beschränkungsverbot“. 53 M. Heinig, Art. 18 i.V.m. Art. 12 EG als Schlüssel zur Teilhabe von arbeitsuchenden Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten an steuerfinanzierten Sozialleistungen in Deutschland, in: ZESAR 2008, 465; F. Sander, Die Unionsbürgerschaft als Türöffner zu mitgliedstaatlichen Sozialversicherungssystemen?, in: DVBl. 2005, 1014, 1016 ff. 51

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2. „Einhegung“ inländergleicher Teilhabe Nichterwerbstätiger durch das Aufenthaltsrecht Haben nationale „Exklusionsklauseln“ – Leistungsausschlüsse – für Unionsbürger überhaupt noch Bestand oder ist es mittlerweile so, dass europarechtlich eine „Mindestsolidarität“ für Angehörige anderer Mitgliedstaaten angeordnet ist? Die Verzahnung von sozialrechtlicher Teilhabe und Aufenthaltsrecht im Gastland hat bei innereuropäischen Wanderungen schon immer eine Rolle gespielt54. Indessen hat sich hier mit der Einführung der Unionsbürgerschaft ein Paradigmenwechsel vollzogen55. Bis 1992 war der Eintritt sozialer Bedürftigkeit für das Aufenthaltsrecht relevant und stellte das derivative Leistungsrecht infrage. Dem Aufnahme(mitglied) staat war es nämlich nicht verwehrt, die inländergleiche Teilhabe an Sozialleistungen mit dem Argument zu verweigern, dass die Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht durch eingetretene Bedürftigkeit entfallen waren56. Hierfür konnte beispielsweise schon das Fehlen adäquaten Krankenversicherungsschutzes ausreichen. Die Einführung der Unionsbürgerschaft – und der mit ihr verbundenen allgemeinen Freizügigkeitsgarantie – führte im Ergebnis zu einer „Neuradizierung“ (Neujustierung) der Teilhaberechte57. Der EuGH stellte die „Zweiteilung“ in eine Rechtssphäre diesseits und eine solche jenseits der Grundfreiheiten sukzessive in Frage58. Aufenthaltsrecht und soziale Teilhabeberechtigung wurden entkoppelt: Der EuGH entfaltete ein Verbot, im Falle sozialer Bedürftigkeit automatisch aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu ergreifen59; eine „Einhegung“ sollte erst auf der Rechtfertigungsebene erfolgen60. Immerhin orientiert sich der EuGH hierfür jetzt an den aufenthaltsrechtlichen „Differenzierungserlaubnissen“ der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38/EG61 und damit an den Vorstellungen des – für die Fortentwicklung der Integration in erster

54 Einen Blick in die Historie (Übergang vom sog. Personal- zum sog. Territorialprinzip) wirft M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 466 f. 55 M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 467: Die europarechtliche Überlagerung und Transformation des in Bezug auf die Leistungsberechtigung von Nichtdeutschen dreigliedrig angelegten deutschen Sozialrechts beschränkte sich … zunächst (bis 1992) auf einen grundfreiheitlich definierten Bereich. 56 M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 467 f. 57 Zu einer „Neuradizierung des Freizügigkeitsrechts“ F. Wollenschläger, Grundfreiheit ohne Markt – Die Herausbildung der Unionsbürgerschaft im unionsrechtlichen Freizügigkeitsregime, 2007, S. 279 f., 309 f., 355 ff.; ders. (Anm. 49), EuZW 2006, 503. 58 So interpretiert von M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 467 f. 59 Kritische Anmerkungen zur Judikatur des EuGH bei M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 473 f. 60 Hierzu F. Wollenschläger, Keine Sozialleistungen für nichterwerbstätige Unionsbürger?, in: NVwZ 2014, 1628, 1630, m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH; ders. (Anm. 49), EuZW 2006, 504. 61 Auch Aufenthalts-Richtlinie oder Unionsbürger-Richtlinie genannt.

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Linie zuständigen62 – europäischen Gesetzgebers. Das war in der Vergangenheit nicht immer so63. 3. Das Regime der Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38/EG – Konkretisierung des Diskriminierungsverbotes wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 20, 21 AEUV i.V.m. Art. 18 AEUV) Für ein Verständnis der behandelten Problematik ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, wie die Freizügigkeits-Richtlinie das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen Aufenthaltsvoraussetzungen einerseits und freizügigkeitsakzessorischem sozialem Teilhaberecht andererseits auflöst: Die Freizügigkeits-Richtlinie 2004/38/EG64 – umgesetzt durch das deutsche Freizügigkeitsgesetz/EU65 und einschlägige Sozialgesetze – garantiert jedem Unionsbürger als eine Art „Sockelfreizügigkeit“ einen prinzipiell bedingungslosen Aufenthalt bis zu drei Monaten66. Nach Ablauf der drei Monate stuft sie das unionale Aufenthaltsrecht – und die hiermit zusammenhängenden sozialen Begleitrechte – nach Personengruppen ab67. Die großzügigste Behandlung erfahren natürlich Arbeitnehmer; deren Aufenthaltsrecht darf bei ergänzendem Sozialhilfebezug nicht beendet werden68. Für Zwecke des Aufenthaltsrechts als Arbeitnehmer kann die Erwerbstätigeneigenschaft eines Unionsbürgers in bestimmten (Ausnahme)Fällen erhalten bleiben69. Ein Aufenthaltsrecht haben aber auch Arbeitsuchende, solange sie nachweisen können, dass sie tatsächlich Arbeit suchen und eine begründete Aussicht haben, auf dem Arbeitsmarkt eingestellt zu werden70. Demgegenüber hält die FreizügigkeitsRichtlinie für sonstige nichterwerbstätige Unionsbürger – Rentner, Erwerbsunfähige und Personen, die keine Arbeit suchen – an der aufenthaltsrechtlichen Relevanz sozialer Bedürftigkeit aus früheren Zeiten fest. Das unionale Aufenthaltsrecht steht die62

N. Bernsdorff (Anm. 51), S. 5. Zum Anspruch von Unionsbürgern auf Inländer(gleich)behandlung im Spiegel der Rechtsprechung des EuGH siehe F. Wollenschläger (Anm. 57), S. 197 ff. 64 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG, ABl. L 158 v. 30. 4. 2004, S. 77. 65 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/ EU – FreizügG/EU) v. 30. 07. 2004, BGBl. I S. 1950. 66 Art. 6 Abs. 1 der Freizügigkeits-Richtlinie; vgl. aber Art. 14 Abs. 1; ausführlich hierzu M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 469 f. 67 D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 84 f, unter Hinweis auf Art. 7 der Freizügigkeits-Richtlinie. 68 Art. 7 Abs. 1 Buchst. a), Art. 14 Abs. 2, 4 Buchst. a) der Freizügigkeits-Richtlinie. 69 Vgl. Art. 7 Abs. 3 der Freizügigkeits-Richtlinie. 70 Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) der Freizügigkeits-Richtlinie. 63

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ser Personengruppe nämlich nur zu, wenn sie über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt71; gleichwohl darf die Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen für sie nicht automatisch zu einer „Ausweisung“ führen72. Ein letztes: Die Freizügigkeits-Richtlinie betont den Zusammenhang des Freizügigkeitsrechts mit dem Anspruch auf Inländer(gleich)behandlung dadurch, dass sie in Art. 24 Abs. 1 an das – richtliniengemäße – Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers einen generellen Gleichbehandlungsanspruch mit den Staatsangehörigen des Aufnahme(mitglied)staates knüpft73. Nach Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie von diesem generellen Gleichbehandlungsanspruch nicht umfasst ist im Bereich sozialrechtlicher Teilhabe jedoch ein Anspruch nichterwerbstätiger Unionsbürger auf Zugang zu Sozialhilfeleistungen, für andere Personen als Arbeitnehmer in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts, für Arbeitsuchende in dem Zeitraum, in dem sie bei Mittellosigkeit Schutz vor „Ausweisung“ genießen74. Für das Verhältnis zum Primärrecht (Art. 20, 21 i.V.m. Art. 18 AEUV) lässt sich sagen: Dem Primärrecht ist eine Begrenzung der allgemeinen Freizügigkeit der Unionsbürger durch Festlegung ökonomischer Aufenthaltsvoraussetzungen grundsätzlich fremd, auch wenn das Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, nach dem Wortlaut des Art. 21 Abs. 1 AEUV nur „vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen“ garantiert ist75. Das in der Freizügigkeits-Richtlinie enthaltene sekundärrechtliche Freizügigkeitsrecht ist nach alledem enger als das die Unionsbürgerfreizügigkeit umfassend gewährleistende Primärrecht76. 4. Rechtsprechungsentwicklung von „Martinez Sala“ bis „Förster“ – Genuine Bindung an die Gesellschaft des Aufnahme(mitglied)staates Die „Einhegung“ sozialrechtlicher Teilhabeansprüche durch das Aufenthaltsrecht der Freizügigkeits-Richtlinie wurde einhellig begrüßt: die erhoffte Rückkehr zu rationaler Jurisprudenz77, wie man in Deutschland mit Erleichterung feststellte! – Warum? 71

Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) der Freizügigkeits-Richtlinie. Art. 14 Abs. 3 der Freizügigkeits-Richtlinie. 73 Hierzu eingehend F. Wollenschläger (Anm. 57), S. 263 f. 74 Vgl. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) der Freizügigkeits-Richtlinie. 75 F. Wollenschläger (Anm. 57), S. 158 ff.: nicht absolut gewährleistet. 76 Diesen Schluss zieht E. Eichenhofer, Sozialleistungen für Zuwanderer aus der EU – Chance für ein soziales Europa oder Abschottung nationaler Sozialleistungssysteme?, in: SozSich 2014, 198, 202. 77 Deren Ende war prognostiziert worden von K. Hailbronner, Die Unionsbürgerschaft und das Ende rationaler Jurisprudenz durch den EuGH?, in: NJW 2004, 2185 ff., weil der EuGH sein Konzept einer grundsätzlichen Inländer(gleich)behandlung von Unionsbürgern beim 72

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Lange Zeit präsentierte sich die Rechtsprechung des EuGH nicht als „aus einem Guss“78. Beginnend mit seiner Entscheidung in der Rechtssache „Martinez Sala“79 – im Jahr 1998 – hatte der EuGH das Konzept der Unionsbürgerschaft immer weiter ausgeformt und die Grenzen der Inländer(gleich)behandlung unter Außerachtlassung jeglichen Sekundärrechts allein primärrechtlich – am Maßstab des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger – bestimmt. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs schien so zu lesen zu sein, als sollten Unionsbürger nunmehr in allen Situationen, die im Zusammenhang mit der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts stehen, einen Anspruch auf sozialrechtliche Teilhabe erhalten (sog. Vollintegration). Dass diese Rechtsprechung singulär bleiben und vom EuGH nur als „eine Art Härteklausel“ genutzt werden würde, um „in Einzelfällen finanzielle Nachteile auszugleichen, die sich aus dem Wechsel des Wohnsitzstaates ergeben“80, konnte vor dem Hintergrund dieser Entwicklung nicht mehr angenommen werden. Die beschriebene Rechtsprechungsentwicklung, in deren Linie zahlreiche kontrovers beurteilte Entscheidungen – vor allem zu Unterhaltsbeihilfen für nichterwerbstätige Wander-Studenten – stehen81, endete erst im Jahr 2008 – mit dem Urteil in der Rechtssache „Förster“82. Der EuGH hatte den Ausschluss von inländergleicher Ausbildungsförderung bis dahin aus der Perspektive des Primärrechts – gewissermaßen auf einer Zugang zu sozialen Leistungen „unter weitgehender Ignorierung von Entstehungsgeschichte, Wortlaut und Zweck des sekundären Gemeinschaftsrechts entwickelt“ habe. 78 M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 468; nachgezeichnet auch von St. Bode, Von der Freizügigkeit zur sozialen Gleichstellung aller Unionsbürger? – Zur Wirkung und Reichweite von Art. 18 EG in der Rechtsprechung des EuGH, in: EuZW 2003, 552, 555 ff.; für die Rechtsprechung des EuGH zu den sog. Wegzugs(beschränkungs)fällen D. Düsterhaus, Nationalität – Mobilität – Territorialität, in: EuZW 2008, 103 ff. 79 EuGH Urt. v. 12. 05. 1998 – Rs. C-85/96, Martinez Sala – Slg. 1998, I-2691 (Erziehungsgeld). 80 So noch St. Kadelbach, Anmerkung zur Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache „Bidar“ – EuGH Urt. v. 15. 03. 2005, Rs. C-209/03, Bidar, in: JZ 2005, 1163, 1166. 81 EuGH Urt. v. 20. 09. 2001 – Rs. C-184/99, Grzelczyk – Slg. 2001, I-6193 (Existenzminimum für Studenten); Urt. v. 11. 07. 2002 – Rs. C-224/98, D’Hoop – Slg. 2002, I-6191 (Überbrückungsgeld für Schulabgänger als Leistung bei Arbeitslosigkeit); Urt. v. 23. 3. 2004 – Rs. C-138/02, Collins – Slg. 2004, I-2703 (Beihilfe für Arbeitsuchende); Urt. v. 7. 9. 2004 – Rs. C-456/02, Trojani – Slg. 2004, I-7573 (Existenzminimum für Bedürftige); Urt. v. 15. 03. 2005 – Rs. C-209/03, Bidar – Slg. 2005, I-2119 (Studentendarlehen); Urt. v. 15. 9. 2005 – Rs. 258/04, Ioannidis – Slg. 2005, I-8275 (Überbrückungsgeld als Arbeitslosenunterstützung für Schulabgänger); Urt. v. 18. 7. 2006 – Rs. C-406/04, De Cuyper – Slg. 2006, I-6947 (Leistungen bei Arbeitslosigkeit). 82 EuGH (Große Kammer) Urt. v. 18. 11. 2008 – Rs. C-158/07, Förster – Slg. 2008, I-8507 (Unterhaltsstipendium für Studenten). Das Urteil, eingeleitet durch die Bidar-Rechtsprechung und (insoweit) fortgeführt u. a. in den Rechtssachen „Vatsouras und Koupatantze“ (EuGH Urt. v. 4. 6. 2009 – Rs. C-22 und 23/08 – Slg. 2009, I-4585) sowie „Kommission/Österreich“ (EuGH Urt. v. 4. 10. 2012 – Rs. C-75/11 – NVwZ-RR 2012, 948 = DÖV 2013, 34), knüpfte für die Bestimmung des „gewissen Integrationsgrades“ (bei Studienbeihilfen) erstmals explizit an die abgestuften aufenthaltsrechtlichen Differenzierungserlaubnisse des Sekundärrechts, ergänzend auch der Freizügigkeits-Richtlinie (hier Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Art. 16 Abs. 1) an. Ausführlich hierzu R. Rebhahn (Anm. 51), S. 102 ff.

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„Meta-Ebene“ – als verhältnismäßig und gerechtfertigt angesehen, wenn den studierenden Unionsbürgern eine „nennenswerte“ Verbindung zu der Gesellschaft des Aufnahme(mitglied)staates83 fehlte, sie einen „gewissen Grad an Integration“ – a certain degree of integration – in dessen Gesellschaft nicht nachweisen konnten; bei Arbeitsuchenden machte der Gerichtshof den Leistungszugang davon abhängig, dass diese eine „tatsächliche Verbindung“ – a real link – zum Arbeitsmarkt des Zielstaates darlegten84. Das erinnert an die „genuine connection“, die im Völkerrecht etwa für die Berufung auf die Staatsangehörigkeit verlangt wird85. Dem Erfordernis einer gewissen (Mindest)Aufenthaltsdauer, starrer Zeitgrenzen im Aufenthaltsrecht usw. hatte der EuGH seinerzeit noch jede Steuerungsfunktion abgesprochen86. 5. Mindestsicherung für nichterwerbstätige Unionsbürger heute? Befriedigend ist die komplexe Rechtslage nicht! Die Verantwortung hierfür ist gleichermaßen beim europäischen Gesetzgeber wie beim EuGH zu suchen, weil beide nach wie vor kein schlüssiges Gesamtkonzept in dieser Frage vorgelegt haben87. Es ist hier nicht der Ort, sich mit der Methodik und Rationalität der neueren EuGH-Rechtsprechung intensiv auseinanderzusetzen. Kritische Kommentare lassen sich überall nachlesen88. – Nur eines sei gesagt: Wie zuweilen bei Urteilen des EuGH vermisst der deutsche Jurist auch hier dogmatische Konsistenz und Konsequenz89.

83 „Genuine Bindung“; vgl. zu dieser Begriffs- und Maßstabsbildung Generalanwalt J. Mazak in seinen Schlussanträgen vom 10. 07. 2008 – Rs. 158/07, Förster – Slg. 2008, I-8511 Rn. 134. Hierzu auch N. Bernsdorff (Anm. 51), S. 5. 84 Zusammenfassend D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 88. 85 St. Kadelbach (Anm. 80), JZ 2005, 1166. 86 So auch noch Generalanwalt L. A. Geelhoed in seinen Schlussanträgen vom 11. 11. 2004 – Rs. 209/03, Bidar – Slg. 2005, I-2122 Rn. 54 ff. 87 D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 90. 88 Nur einige seien erwähnt: R. Rebhahn (Anm. 51), S. 113 ff. (Urteil „Brey“); D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 87 ff., F. Wollenschläger (Anm. 60), NVwZ 2014, 1628 ff., und M. Fuchs, Arbeitnehmerfreizügigkeit und Sozialleistungen – Zugleich eine Besprechung von EuGH, Rs. C-333/13 (Dano), in: ZESAR 2015, 95, 99 ff. (Urteil „Dano“); Th. Kingreen, In love with the single market? Die EuGH-Entscheidung Alimanovic zum Ausschluss von Unionsbürgern von sozialen Grundsicherungsleistungen, in: NVwZ 2015, 1503, 1504 ff., J. Greiser/T. Kador/D. Krause, Luxemburga locuta, causa finita!? – Besprechung von EuGH v. 15. 09. 2015 – C-67/14 („Alimanovic“), in: ZFSH/SGB 2015, 569, 571 ff., A. Wunder, Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nach dem Urteil in der Rs. Alimanovic, in: SGb 2015, 620, 623, und C. Janda, Anmerkungen zur „Alimanovic“-Entscheidung des EuGH vom 15. September 2015, in: ASYLMAGAZIN 2015, 357, 358 f. (Urteil „Alimanovic“). 89 So schon zur bisherigen Rechtsprechung des EuGH M. Heinig (Anm. 53), ZESAR 2008, 468.

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a) Rechtssache „Brey“ (2013): Ausgleichszulage nach österreichischem Recht Eine – aus der Sicht vieler90 – neue Ära eingeleitet hat das EuGH-Urteil in der Rechtssache „Brey“ aus dem Jahr 201391: Einem deutschen Staatsangehörigen, Erwerbsunfähigkeitsrentner, wurde nach seinem Umzug in Österreich die sog. Ausgleichszulage vorenthalten – eine Zusatzrente, die dort als beitragsunabhängige Sozialleistung allen Pensionären gewährt wird, die ein „Mindestpensionsgehalt“ verfehlen. Begründung: Unionsbürger, die nie zum österreichischen Rentensystem beigetragen hätten, sollten nicht im Rentenalter in die Alpenrepublik ziehen und die mitgebrachte Pension aus österreichischen Steuermitteln aufstocken können; es drohe sonst eine „Freizügigkeit in die Mindestrente“92. Der EuGH belehrte die österreichischen Entscheidungsträger und die Fachöffentlichkeit93 eines Besseren: Zwar hat er die sog. Ausgleichszulage im Sinne der Freizügigkeits-Richtlinie als „Sozialhilfeleistung“ eingestuft, obwohl Österreich sie koordinationsrechtlich von dieser Kategorie gerade ausgenommen hatte. Er hat damit den „Sozialhilfebegriff“ der Freizügigkeits-Richtlinie von demjenigen der – zeitgleich erlassenen – Verordnung 883/ 2004 entkoppelt94. Jedoch verpflichtete der EuGH Österreich, individuell zu prüfen, ob der Bezug der sog. Ausgleichszulage durch den deutschen Rentner das dortige Sozialhilfe-System im Sinn der Art. 7, 8, 14 und 24 der Freizügigkeits-Richtlinie tatsächlich unangemessen belaste. – Unbefriedigend, schließt sich hier doch gleich die Frage an: Wie sollen bei einer Leistungsgewährung im Einzelfall deren Auswirkungen auf das gesamte nationale Sozialhilfe-System beurteilt werden?95 b) Rechtssachen „Dano“ (2014), „Alimanovic“ (2015) und „Garcia-Nieto“: Hartz-IV-Leistungen nach deutschem Recht Ist ein Leistungsausschluss zulässig, wenn sich nichterwerbstätige Unionsbürger, die keine Arbeit suchen, allein mit dem Ziel nach Deutschland begeben, um dort Hartz-IV-Leistungen in Anspruch zu nehmen? Diese Frage hatte der EuGH in der Rechtssache „Dano“ zu beantworten: Eine rumänische Staatsangehörige, die keinen Beruf erlernt hatte, weder in Rumänien noch in Deutschland erwerbstätig war und sich in Deutschland auch nicht um Arbeit bemühte, verlangte Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende 90 Stv. M. Fuchs, Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Sozialrecht im Jahr 2013, in: NZS 2014, 121 f.; D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 82. 91 EuGH Urt. v. 19. 9. 2013 – Rs. C-140/12, Brey – NZS 2014, 20. 92 Sprachlich zugespitzt von D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 82. 93 Stv. – aus österreichischer Sicht – R. Rebhahn (Anm. 51), S. 95, 107 ff., 113 ff. 94 Vgl. D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 82 f. 95 Diese Frage wird aufgeworfen von M. Fuchs (Anm. 90), NZS 2014, 122; zu den Modellen einer systemischen und einer individuellen Betrachtung siehe D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 86.

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nach dem SGB II. Gestützt auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 SGB II lehnte das Jobcenter Leipzig den Antrag ab. Danach sind EU-Ausländer von Hartz-IV-Leistungen für die ersten drei Aufenthaltsmonate bzw. zeitlich unbefristet ausgeschlossen, wenn sie weder Arbeitnehmer noch freizügigkeitsberechtigt sind bzw. sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Das EuGH-Urteil aus dem Jahr 201496, mit dem der Leistungsausschluss bestätigt wurde, hat bei den Leistungsträgern, d. h. in der Sozialverwaltung, in den Medien und in der deutschen Politik mehrheitlich – vor allem wegen seines Ergebnisses! – breite Zustimmung erfahren97. Eine Entscheidung über die Vereinbarkeit des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit EU-Recht blieb der EuGH jedoch schuldig, weil die Klägerin eindeutig nicht arbeitssuchend war98. Gleichwohl lassen sich dem Urteil – immerhin ein solches der Großen Kammer – einige Grundaussagen entnehmen. Erstens: Der sozialrechtliche Teilhabeanspruch ist primär aufenthaltsrechtlich zu bestimmen, die Verordnung 883/2004 – das dortige koordinierungsrechtliche Diskriminierungsverbot des Art. 4 – deshalb im Lichte der Freizügigkeits-Richtlinie auszulegen. Damit bleibt der EuGH bei seiner schon im „Brey“-Urteil präsentierten, strikt „aufenthaltsrechtlichen Lösung“99. Zweitens: Ebenso wie die österreichische Ausgleichszulage unterfallen auch deutsche Hartz-IV-Leistungen dem „Sozialhilfebegriff“ der Freizügigkeits-Richtlinie. Was in der Entscheidung überrascht, ist, dass eine individuelle Prüfung der „Angemessenheit“ der Leistungsinanspruchnahme und ihrer Belastung für das gesamte nationale Sozialhilfe-System in der vorliegenden Konstellation nicht (mehr) gefordert, die Inanspruchnahme von Grundsicherung für Arbeitsuchende offensichtlich von vornherein als „unangemessen“ betrachtet wird100. Nicht fehlen darf in dieser Aufzählung das erst vor Kurzem – am 15. September 2015 – ergangene Urteil in der Rechtssache „Alimanovic“101. Danach durfte das Jobcenter Berlin-Neukölln schwedischen Staatsangehörigen (bosnischer Herkunft) 96

EuGH Urt. v. 11. 11. 2014 – Rs. C-333/13, Dano – NJW 2015, 145 = NZS 2015, 20. Vgl. etwa A. Leopold, Luxemburg locuta – causa finita? – Was kommt nach Dano, Alimanovic und Garcia-Nieto? – Folgerungen aus der Rechtsprechung des EuGH für das deutsche Sozialrecht, in: AuR 2015, 397, 402: unerwartetes Geschenk; auch F. Wollenschläger (Anm. 60), NVwZ 2014, 1632: weitgehend positiv aufgenommen. 98 M. Fuchs (Anm. 88), ZESAR 2015, 101: Reichweite des Urteils … ungewiss; F. Wollenschläger (Anm. 60), NVwZ 2014, 1632: nur begrenztes Bild der aufenthalts- und sozialrechtlichen Stellung Nichterwerbstätiger im EU-Ausland. 99 Hierzu F. Schreiber (Anm. 4), ZAR 2015, 46, 49; auch G. Nazik/D. Ulber, Die „aufenthaltsrechtliche Lösung“ des EuGH in der Rechtssache Dano, in: NZS 2015, 369, 371 ff. 100 Vgl. – zum Kontext dieser Prüfung und ihrer Verortung in der bisherigen Rechtsprechung des EuGH – Chr. Padé, Der EuGH und der Sozialtourismus – Also doch ein vollständiger Leistungsausschluss von EU-Bürgern von „Hartz-IV“-Leistungen?, in: JM 2015, 116, 118; ferner J. Raschka, Anspruch von Unionsbürgern auf Zugang zu Sozialleistungen nach der jüngsten Rechtsprechung des EuGH, in: ZAR 2015, 331, 334, m.w.N. 101 EuGH Urt. v. 15. 9. 2015 – Rs. C-67/14, Alimanovic – NVwZ 2015, 1517 = NZS 2015, 784. 97

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Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende entziehen, obwohl diese durch kürzere Beschäftigungen und Arbeitsgelegenheiten (sog. 1-Euro-Jobs) eine Beziehung zum deutschen Arbeitsmarkt aufgebaut hatten. Für das erste halbe Jahr nach Eintritt der Arbeitslosigkeit hätten sie die Leistungen beanspruchen können, weil sie nach der Freizügigkeits-Richtlinie weiterhin als Arbeitnehmer aufenthaltsberechtigt und infolgedessen an Sozialhilfeleistungen teilhabeberechtigt gewesen seien. Sechs Monate nach der Arbeitslosmeldung habe das Jobcenter aber einen Zahlungsstopp verfügen dürfen, weil Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie als Ausnahme von dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 der Verordnung 883/2004 Arbeitsuchende in dieser Situation von jeglichem Sozialhilfebezug ausschließe. Der EuGH hat damit den Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für die zugrunde liegende Fallgestaltung – Aufenthalt von mehr als drei Monaten und Beschäftigung unter einem Jahr102 – bestätigt und seine Rechtsprechung in der Rechtssache „Dano“ dahingehend fortgeführt, dass eine Gleichbehandlung hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen allgemein nur dann beansprucht werden kann, wenn ein Aufenthaltsrecht im Sinn der Freizügigkeits-Richtlinie besteht103. Die Notwendigkeit einer (Einzelfall)Prüfung „unangemessener“ Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen verneinte der EuGH unter Hinweis darauf, dass die Freizügigkeits-Richtlinie selbst ein „abgestuftes System“ für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft (Sechs-Monats-Zeitraum nach Beendigung der Erwerbstätigkeit) schaffe. Bemerkenswert übrigens sein obiter dictum: Ob der Bezug von Sozialhilfe im Einzelfall eine „unangemessene“ Inanspruchnahme des betreffenden Mitgliedstaates darstelle, könne erst nach „Aufsummierung sämtlicher Einzelanträge“ beurteilt werden. Noch zur Entscheidung des EuGH steht die Rechtssache „Garcia-Nieto u. a.“104 an. In dem zugrunde liegenden Ausgangsverfahren spanischer Staatsangehöriger stellte sich das Jobcenter Kreis Recklinghausen auf den Rechtsstandpunkt, EU-Bürgern, die nicht als Arbeitnehmer zuziehen, Grundsicherungsleistungen während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts in Deutschland nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II verweigern zu dürfen. In seinen Schlussanträgen vom 4. Juni 2015105 sieht Generalanwalt M. Wathelet diesen Leistungsausschlusstatbestand als mit dem Unionsrecht vereinbar an. Begründung: Was … das Recht der Staatsangehörigen von Mitgliedstaaten, die eine Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat suchen, also den zweiten in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraum, angeht, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Prüfung dieser Vorschrift am Maßstab

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Eine Fallgruppenbildung nimmt A. Leopold (Anm. 97), AuR 2015, 398, vor. Y. Körtek, Der Ausschluss von EU-Ausländern von SGB-II-Leistungen in der aktuellen Rechtsprechung des EuGH, in: SozSich 2015, 370, 375; A. Wunder (Anm. 88), SGb 2015, 620 f. 104 Nach dem Vorabentscheidungsersuchen des LSG Nordrhein-Westfalen Beschl. v. 22. 05. 2014 – L 7 AS 2136/13 – juris, anhängig als Rs. C-299/14, Garcia-Nieto. 105 EuGH Schlussanträge des Generalanwalts M. Wathelet vom 4. 6. 2015 – Rs. C-299/14, Garcia-Nieto – juris. 103

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des Diskriminierungsverbots „nichts ergeben hat, was ihre Gültigkeit … berühren könnte“106. c) Replik und Duplik Unverdrossen versuchen indessen einige Sozialgerichte und ein Teil der sozialrechtlichen Literatur, die vom EuGH (dezisionistisch) vorgegebene – für deutsche Sozialjuristen offensichtlich nur schwer hinnehmbare – Präponderanz des unionalen Aufenthaltsrechts, d. h. seine beherrschende Funktion für die sozial(hilfe)rechtliche Gleichbehandlung von nichterwerbstätigen Unionsbürgern zu „relativieren“. Das ist unverständlich, weil der Gerichtshof gerade erst im Jahr 2008 – auf Wunsch der Mitgliedstaaten nach Erhaltung ihrer nationalen Handlungsspielräume – seine frühere, heftig kritisierte Rechtsprechung107 aufgegeben hat108, die Grenzen sozialrechtlicher Inländergleichbehandlung bei den Zuzugsfällen unter Außerachtlassung jeglichen Sekundärrechts, d. h. der Vorstellungen des europäischen (Aufenthalts)Gesetzgebers, allein primärrechtlich – am Maßstab des allgemeinen Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger – zu bestimmen109. Weil der EuGH die sozialpolitischen Erwartungen bestimmter (nationaler) Akteure in Rechtsprechung und Literatur enttäuscht hat110, wird nun wieder eine primärrechtliche Bewertung des „Themenkomplexes“ – insbesondere des Art. 24 Abs. 2 der Freizügigkeits-Richtlinie – gefordert111. Es ist hier nicht der Ort, sich mit all den Bedenken auseinanderzusetzen, die gegen die vom EuGH getroffenen, „binnenmarktfixierten“ Entscheidungen112 erhoben werden. Jedenfalls fehlt es nicht an Versuchen, die Auswirkungen des vom Gerichtshof gefundenen – europarechtlichen – Ergebnisses auf die behördliche und gerichtliche Praxis zu begrenzen. Das geschieht zum einen über eine (rigoros) enge Interpretation der aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen der betreffenden nationalen (Leistungs)-

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EuGH Schlussanträge des Generalanwalts M. Wathelet vom 04. 06. 2015 (Anm. 105), juris Rn. 56. 107 Siehe hierzu oben unter V. 4. 108 EuGH Urt. v. 18. 11. 2008 – C-158/07, Förster – Slg. 2008, I-8507. 109 Und insoweit allgemein (nur) von einem „gewissen Grad an Integration“ (certain degree of integration) in die Gesellschaft des Zielstaates bzw. einer „tatsächlichen Verbindung“ (real link) zu dessen Arbeitsmarkt abhängig zu machen. 110 Explizit hierzu J. Löbich, Die hessischen Verhältnisse seit dem Dano-Urteil, in: ZESAR 2015, 421 f., m.w.N.; G. Nazik/D. Ulber (Anm. 99), NZS 2015, 371, m.w.N.; A. Farahat, Kollisionsrechtliche und aufenthaltsrechtliche Perspektiven beim Leistungsausschluss von Unionsbürgern nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, in: NZS 2014, 490, 491, m.w.N.; ferner A. Wunder (Anm. 88), SGb 2015, 621; auch D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 84 Anm. 39. 111 Stv. J. Greiser/T. Kador/D. Krause (Anm. 88), ZFSH/SGB 2015, 569, 573: wäre … überaus wünschenswert gewesen; C. Janda (Anm. 88), ASYLMAGAZIN 2015, 358 f.: … lässt der EuGH die primärrechtliche Perspektive gänzlich außen vor. 112 So ausdrücklich Th. Kingreen (Anm. 88), NVwZ 2015, 1505 f.: Der Gerichtshof fällt damit auf das Heimatprinzip der vorindustriellen immobilen Gesellschaft zurück.

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Ausschlusstatbestände113, zum anderen durch eine „freizügigkeitsorientierte“, transferfreundliche Nutzung der Argumentationstopoi des EuGH, die das Problem sozial(hilfe)rechtlicher Teilhabe nichterwerbstätiger Unionsbürger gleichsam „durch die Hintertür“ einer (der) – präferierten – koordinationsrechtlichen Lösung zuführt. Auch wird die – richterlicher Klugheit entsprechende114 – europarechtliche Zurückhaltung des Gerichtshofs in der sozial(hilfe)rechtlichen Teilhabefrage, sein Rückzug auf die Beantwortung von Strukturfragen115 mittlerweile durch ein bemerkenswert entschlossenes Vorgehen des höchsten deutschen Sozialgerichts auf der Ebene des nationalen Rechts „kompensiert“. Mit mehreren Urteilen vom 3. und 16. Dezember 2015116, zu denen bisher allerdings nur Pressemitteilungen vorliegen117, haben zwei Senate des Bundessozialgerichts – begleitet von massiven Protesten in Politik und Medien118 – entschieden, dass nichterwerbstätige Unionsbürger im Fall eines Ausschlusses von SGB-II-Leistungen nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II bei einem verfestigten (tatsächlichen) Aufenthalt – von über sechs Monaten – und Hilfebedürftigkeit jedenfalls sozialhilferechtliche Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 23 Abs. 1 SGB XII verlangen können. Nach den Verlautbarungen sahen die Senate von einer Richtervorlage an das Bundesverfassungsgericht (Art. 100 Abs. 1 GG, §§ 80 ff. BVerfGG) ab und entschieden „durch“. Der Sache nach „korrigierten“ sie das mit der zwingenden Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für die Betroffenen verbundene „negative Ergebnis“ (keine Existenzsicherungsleistungen nach Maßgabe des SGB II), indem sie ihnen im Hinblick auf das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG entnommene Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums119 den Zugang zu Existenzsicherungsleistungen nach Maßgabe des SGB XII ermöglichten und einen gegen den Sozialhilfeträger gerichteten Anspruch auf Ermessensleistungen nach § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII anerkannten. Dabei hielten sie – im Wege der Auslegung einfachen Rechts – erstens die für Leistungsberechtigte nach dem SGB II bestehende, systemabgrenzende Sonderregelung des § 21 Satz 1 SGB XII für nicht durchgreifend und nahmen zwei113

§ 7 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 und 2 SGB II. So F. Wollenschläger (Anm. 60), NVwZ 2014, 1632. 115 Vgl. Th. Kingreen (Anm. 88), NVwZ 2015, 1504 f.; D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 90. 116 Urt. v. 3. 12. 2015 – B 4 AS 44/15 R; Urt. v. 16. 12. 2015 – B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/ 14 R und B 14 AS 33/14 R. 117 Terminberichte Nr. 54/15 v. 03. 12. 2015 und Nr. 61/15 v. 16. 12. 2015 – juris. 118 Vgl. J. Jahn: Noch ein Füllhorn, FAZ v. 05. 12. 2015, S. 21; FAZ-online v. 21. 12. 2015: EU-Ausländer haben Anspruch auf Sozialhilfe; St. von Borstel: EU-Ausländer können deutsche Sozialhilfe bekommen, Die Welt-online v. 3. 12. 2015; J. Fleischhauer: Der Schwarze Kanal – Seid umarmt, ihr Rumänen!, spiegel-online v. 08. 12. 2015; dpa: „Neues großes Einfallstor“ – Hasselfeldt: Keine Sozialhilfe für EU-Ausländer, t-online v. 23. 12. 2015; beckaktuell.Nachrichten v. 14. 12. 2015: Bayern verlangt Einschränkung der Sozialhilfe für EUBürger. 119 Vgl. BVerfG Urt. v. 09. 02. 2010 – 1 BvL 1, 3, 4/09 – BVerfGE 125, 175; Urt. v. 18. 07. 2012 – 1 BvL 10/10, 2/11 – BVerfGE 132, 134. 114

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tens unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Absatz 1 Satz 1 Halbsatz 2 sowie Satz 2 des früheren § 120 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) an, dass sich der – mit § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II insoweit wortgleiche – Ausschlusstatbestand des § 23 Abs. 3 Satz 1 Alternative 2 SGB XII auf eine (Sozial)Hilfegewährung nach Ermessen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII nicht beziehe. Die Senate sahen mithin die durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, § 21 Satz 1 SGB XII und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII „konstituierte“ Gesetzeslage als einer verfassungskonformen Auslegung (in ihrem Sinne) zugänglich an. Die Urteile werfen brisante (Rechts)Fragen auf. Diese sind sowohl prozessrechtlicher als auch materiell-rechtlicher, insbesondere verfassungsrechtlicher Natur: Wie etwa ist zu bewerten, wenn ein beigeladener Sozialhilfeträger nach § 75 Abs. 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu einer Sozialhilfeleistung verurteilt wird, obwohl nicht diese, sondern ein gegen das Jobcenter gerichteter Anspruch auf SGB-II-Leistungen Verfahrensgegenstand ist?120 – Welche Rückwirkung hat ein solches Vorgehen auf die Spruchkörperzuständigkeit; müsste nicht dann (konsequenterweise) – wegen des Schwergewichts des Rechtsstreits im SGB XII – der für Angelegenheiten der Sozialhilfe (§ 51 Abs. 1 Nr. 6 a SGG) zuständige Senat entscheiden? Sollte hiervon „abstrahiert“ und zur Begründung der Spruchkörperzuständigkeit ein beide Existenzsicherungssysteme übergreifender (allgemeiner) Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Verfahrensgegenstand angenommen werden, würde der von den bestehenden „Zuständigkeitsnormen“121 gesetzte Rahmen vollends verlassen. Weitaus drängender sind allerdings verfassungsrechtliche Fragen: Hätte nicht zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des (Leistungs)Ausschlusstatbestandes des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II122, wie von namhaften Autoren gefordert123, ein konkretes Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht

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Die Vorschrift gestattet es dem Gericht lediglich, den für den streitigen – also den Verfahrensgegenstand bildenden – prozessualen Anspruch nicht passivlegitimierten Beklagten gegen den eigentlich leistungsverpflichteten Versicherungsträger „auszuwechseln“. 121 Die in der Gestalt von Geschäftsverteilungsplänen erlassenen ergänzenden „Zuständigkeitsregeln“ sind den die „Gesetzlichkeit“ des Richters i.S.v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG konstituierenden Normen zuzuordnen. 122 Und zwar nur dieser Vorschrift, denn nur auf deren Gültigkeit kam es für die Entscheidung des Rechtsstreits über die SGB-II-Leistungen an. 123 Stv. J. Greiser/T. Kador/D. Krause (Anm. 88), ZFSH/SGB 2015, 574; K. Frerichs, Verfassungsrechtliche Spielräume des Gesetzgebers bei der Verhinderung von sozialleistungsmotivierten Wanderbewegungen, in: ZESAR 2014, 279, 285: Den verfassungsrechtlichen Fragestellungen durch eine richterliche Rechtsfortbildung zu begegnen, ist sehr problematisch. Ausführlich auch N. Bernsdorff, Sozialhilfe für nichterwerbstätige Unionsbürger – Kassel locuta, causa finita?, in: NVwZ 2016, 633.

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eingeleitet werden müssen?124 Obwohl sie offensichtlich – wie der Hinweis auf die schon vorliegenden Verfassungsgerichtsentscheidungen zu den Existenzsicherungsleistungen und die dabei herangezogenen verfassungsrechtlichen Maßstäbe zeigt – von der Verfassungswidrigkeit der Norm überzeugt waren, haben die Senate diese, ohne deren Prüfung und Verwerfung dem Bundesverfassungsgericht zu überlassen, mit ihrer „sozialhilferechtlichen Lösung“ einfach selbst (faktisch) außer Anwendung gelassen. Das ist unproblematisch, wenn ein Gericht von der Vorlage eines Gesetzes deshalb absieht, weil es – was von ihm vorrangig zu prüfen ist – zulässigerweise die Möglichkeit seiner verfassungskonformen Auslegung bejaht; dann fehlt es nämlich an einer für die Entscheidung erheblichen Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Jedoch hat es hierbei die gewandelte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG125 zu beachten. Darin wird die herkömmliche „Willkürformel“ verworfen und – bei Anlegung eines (nunmehr) strengeren verfassungsrechtlichen Maßstabs126 – als verfassungsrechtlich bereits relevant und infolgedessen Verstoß gegen die Garantie des gesetzlichen Richters angesehen, wenn die Annahme der Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung (lediglich) „nicht vertretbar“ ist127. Im Ergebnis bleibt damit deutlich weniger Raum als früher für die Annahme eines bloßen Rechtsirrtums über die Vorlagepflicht, der verfassungsrechtlich ohne Bedeutung ist. Hiervon ausgehend stellt sich die Frage, ob es der – zur Vermeidung der Folgen des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II – vorgenommenen Auslegung des § 21 Satz 1 SGB XII und des § 23 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Abs. 3 SGB XII an der „Vertretbarkeit“ mangelt. Weil sie den klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht respektiere, indem sie seinem Gesetz (de facto) die Anerkennung versage, wird die höchstrichterliche Auslegung u. a. des § 21 Satz 1 SGB XII von vielen für eine unzulässige Fortbildung des Rechts gehalten128 ; das gefundene Ergebnis lasse sich mit den anerkannten Auslegungsmethoden nicht erreichen. Des Weiteren: Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Auslegung des § 120 BSHG129 könnte auf § 23

124 Hiervon wären die Senate von vornherein nur dann entbunden gewesen, wenn sie die Ausschlussregelung als verfassungsmäßig gebilligt hätten; vgl. insoweit zutreffend A. Leopold (Anm. 97), AuR 2015, 401. 125 BVerfG Senatsbeschl. v. 16. 12. 2014 – 1 BvR 2142/11 – DVBl. 2015, 429 = EuGRZ 2015, 239. 126 Hierzu J. Berkemann, Machtspiele zwischen Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof: Eine neue Variante, in: DÖV 2015, 393, 395: der „neue“ Kontrollmaßstab. 127 BVerfG Senatsbeschl. v. 16. 12. 2014 – 1 BvR 2142/11 – DVBl. 2015, 431 = EuGRZ 2015, 245 f. 128 So etwa – unter Hinweis auf BVerfG Urt. v. 25. 1. 2011 – 1 BvR 918/10 – BVerfGE 128, 193 – die Berliner Sozialgerichte; zuletzt SG Berlin Urt. v. 11. 12. 2015 – S 149 AS 7191/13 – juris Rn. 32, m.w.N.; zum Meinungsstand außerdem A. Leopold (Anm. 97), AuR 2015, 400 Anm. 55, und K. Frerichs (Anm. 123), ZESAR 2014, 285 Anm. 77. 129 BVerwG Urt. v. 10. 12. 1987 – 5 C 32/85 – BVerwGE 78, 314.

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SGB XII wegen fehlender Normenkongruenz beider Vorschriften130 nicht übertragbar sein. – Auf die Urteilsgründe darf man gespannt sein. Es ist zu erwarten, dass die betroffenen Sozialhilfeträger Verletzungen der auch ihnen zugutekommenden131 justiziellen Gewährleistungen aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG mit der Verfassungsbeschwerde rügen werden. Würde das Bundesverfassungsgericht auf eine Richtervorlage hin angerufen, so wäre seine Prüfungskompetenz nicht eingeschränkt; denn im vorliegenden (thematischen) Zusammenhang wird – wie der EuGH betont hat132 – Unionsrecht nicht durchgeführt. So könnte von ihm etwa beurteilt werden, ob die Verneinung eines Anspruchs auf SGB-II-Leistungen unter Hinweis auf das Bestehen einer Ausreiseoption133 das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums „aushebeln“ würde oder EU-Bürger gegenüber Asylbewerbern benachteiligt werden dürfen, weil erstere im Gegensatz zu letzteren auf einen Aufenthalt im Inland nicht „unentrinnbar angewiesen“ sind. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber in den genannten Entscheidungen nämlich nicht jede Befugnis zur Differenzierung genommen. Würde dieses Ergebnis verfassungsrechtlich gebilligt, müsste weiter geprüft werden, ob das Existenzminimum der Betroffenen dann nicht jedenfalls bis zur Ausreise aus Deutschland zu sichern wäre. 6. Offene europarechtliche Fragen – „Begründungsszenarien“ Wer in den Mitgliedstaaten meint, der Prozess einer Öffnung der nationalen Sozialleistungssysteme durch den EuGH sei mit den beschriebenen Entscheidungen134 abgeschlossen, wird sich möglicherweise enttäuscht sehen. Er ist dynamisch, wie zwei jüngere Entwicklungen zeigen: die „Hochzonung“ der allgemeinen Freizügigkeit auf die Grundrechtsebene in Art. 45 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Eu-

130

Anders als § 120 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 BSHG könnte § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII jedenfalls wegen seiner systematischen Stellung (im Absatz 3 und damit hinter Absatz 1 Satz 3) auch eine (Sozial)Hilfegewährung im Ermessenswege ausschließen. Mit der fehlenden Normenkongruenz setzt sich weder das als (insoweit) grundlegend bezeichnete Urteil des BSG v. 18. 11. 2014 – B 8 SO 9/13 R – NVwZ-RR 2015, 577, noch die Kommentierung zu § 23 SGB XII (etwa P. Coseriu in: juris Praxiskommentar, SGB XII, 2. Aufl. 2014, § 23 Rn. 73 ff.; J. Greiser in: juris Praxiskommentar, SGB XII, 2. Aufl. 2014, Anhang zu § 23 Rn. 119 ff.) auseinander. 131 So BVerfG Beschl. v. 16. 12. 2014 – 1 BvR 2142/11 – DVBl. 2015, 429 = EuGRZ 2015, 244. 132 Vgl. EuGH Urt. v. 11. 11. 2014 – Rs. C-333/13, Dano – NJW 2015, 145, 148 = NZS 2015, 20, 23 f.; siehe ferner unter 6. a). 133 So vertreten von einigen Landessozialgerichten; Nachweise bei A. Wunder (Anm. 88), SGb 2015, 622 Anm. 25. 134 Siehe unter V. 5.

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ropäischen Union (EUGrdRCh)135 und die neue „Kernbestandsdoktrin“ des EuGH, die zu einer Verselbstständigung der Unionsbürgerschaft geführt hat. a) „Aufladung“ der Unionsbürgerfreizügigkeit mit Grundrechtsschutz – Art. 45 Abs. 1 EUGrdRCh Seit Dezember 2009 – mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages – ist die Garantie allgemeiner Freizügigkeit auch ein Grundrecht: Art. 45 Abs. 1 EUGrdRCh! Damit ist klar, was bisher umstritten war: Die Freizügigkeit für Unionsbürger ist nicht mehr nur eine „politische Grundfreiheit“ oder eine „Grundfreiheit ohne Markt“136 ; sie ist nun gleichzeitig ein den Bürgerstatus mitprägendes, ihn verstärkendes Individualrecht. Mag auch die Relevanz dieser „Aufladung“ mit Grundrechtsschutz gering sein – europäische Grundrechte binden weniger die Mitgliedstaaten als die EU137, so ist doch die Signalwirkung, die hiervon ausgeht, beträchtlich. Ihre Parallelgarantie auf Grundrechtsebene könnte der Unionsbürgerfreizügigkeit einen neuen Geltungsgrund verschaffen138 und ihr damit weiteren Schub verleihen! – Man darf gespannt sein, ob und wie sie auf die Rechtsprechung des EuGH zum Sozialleistungstransfer Einfluss nehmen wird139. Mittlerweile hat der Gerichtshof allerdings den Mitgliedstaaten bescheinigt, dass sie nicht in „Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 EUGrdRCh), sondern im Bereich ihrer nationalen Kompetenzen handeln, wenn sie die Voraussetzungen und den Umfang sog. besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen festlegen140. Diese Voraussetzungen ergäben sich weder aus der Verordnung 883/2004 noch aus der Freizügigkeits-Richtlinie oder anderen Sekundärrechtsakten der Union mit der Folge, dass es „Sache des Gesetzgebers jedes Mitgliedstaates“ sei, den „Umfang der mit derartigen Leistungen sichergestellten sozialen Absicherung“ 135 In der am 12. 12. 2007 angepassten sowie unterzeichneten (ABl. C 303 v. 14. 12. 2007, S. 1) und am 1. 12. 2009 in Kraft getretenen (ABl. 2012 C 326 S. 391) Fassung. 136 Dazu F. Wollenschläger (Anm. 57), S. 122 ff. 137 So zutreffend F. Wollenschläger (Anm. 57), S. 118, 134 ff. 138 F. Wollenschläger (Anm. 57), S. 134: Damit wurde eine weitere Freizügigkeitsgewährleistung – zumindest formell – anerkannt. 139 Vgl. U. Becker, Die europäische Unionsbürgerschaft, in: Schwarze, Brennpunkte der jüngeren Rechtsentwicklung der EU, 2013, S. 47, 62; zu möglichen Folgen W. Obwexer, Das Freizügigkeitsrecht als elementares und persönliches Recht der Unionsbürger, in: Schroeder/ Obwexer, 20 Jahre Unionsbürgerschaft – Konzept, Inhalt und Weiterentwicklung des grundlegenden Status der Unionsbürger, in: EuR 2015 – Beiheft 1, 51, 73 f. 140 Vgl. EuGH Urt. v. 11. 11. 2014 – Rs. C-333/13, Dano – NJW 2015, 145, 148 = NZS 2015, 20, 23 f., zur Maßstäblichkeit von Art. 1, 20 und 51 EUGrdRCh. Insoweit dürfte auch das von E. Eichenhofer (Anm. 76), SozSich 2014, 202, so apostrophierte europäische Grundrecht auf Sozialhilfe (Art. 34 Abs. 3 EUGrdRCh) in diesem Zusammenhang keine Anwendung finden. Indessen: In seinen Schlussanträgen vom 4. 6. 2015 (Anm. 105), juris Rn. 77 f., scheint Generalanwalt M. Wathelet die Anwendbarkeit des Art. 7 EUGrdRCh anzunehmen; denn er prüft dieses Grundrecht inhaltlich.

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zu definieren. Eine Anreicherung der Thematik mit Komponenten des europäischen Grundrechtsschutzes ist danach wohl nicht zu erwarten. b) Die neue „Kernbestandsdoktrin“ des EuGH – Verselbstständigung der Unionsbürgerschaft (Rechtssache „Ruiz Zambrano“) Noch mehr Spannung verspricht die „Entdeckung“ der unionsbürgerlichen Kernrechte141. Das im Jahr 2011 ergangene Urteil des EuGH in der Rechtssache „Ruiz Zambrano“142 hat nicht nur bei deutschen Juristen für Entrüstung gesorgt143 : Dort war nämlich erstmals von einem unantastbaren Kernbereich der Unionsbürgerschaft die Rede. Mit großer Kritik – auch aus Karlsruhe144 – wurde bedacht, dass der Gerichtshof darin apodiktisch – ohne dogmatische Begründung – allein und unmittelbar aus dem Status der Unionsbürgerschaft mit ihr verbundene, essenzielle Unionsbürgerrechte abgeleitet hat. War schon seine Interpretation der Unionsbürgerschaft als „grundlegender Status“ – in mehreren Urteilen aus den Jahren 2001, 2002 und 2003145 – für zu dynamisch gehalten worden, so zeigt sich hier eine neue, geradezu umwälzende Ausrichtung der EuGH-Judikatur: Darauf, was das Primärrecht (Vertragsrecht) selbst der Unionsbürgerschaft an (Begleit)Rechten zuordnet, kommt es für die Begründung von Unionsbürgerrechten nicht mehr an. Auffassung in der einschlägigen Literatur146 : Die Unionsbürgerschaft wird zur „Allzweckwaffe“. Nun ist es zwar richtig, dass die neue „Kernbestandsdoktrin“ vom EuGH bisher eng geführt wird: Sie betrifft das Staatsangehörigkeits- und Ausländerrecht. Die Eheleute Ruiz Zambrano waren kolumbianische Staatsangehörige, die über ihre belgischen Kinder ein Aufenthaltsrecht in Belgien erhalten wollten; bei Ablehnung und Ausreise wäre letzteren – so der EuGH – der „tatsächliche Genuss“ ihrer „unionsbürgerlichen Kernrechte“ verwehrt worden. Jedoch könnte sich ein Dominoeffekt in anderen Rechtsgebieten – auch im Sozialrecht – ergeben. Die Herleitung von Kernrechten aus dem Wesen der Unionsbürgerschaft als solcher könnte „aus dem 141 Vgl. K. Hailbronner/D. Thym, Ruiz Zambrano, Die Entdeckung des Kernbereichs der Unionsbürgerschaft, in: NJW 2011, 2008, 2009 ff.; J. Masing, Unionsbürgerliche Kernrechte? – Zur Zambrano-Rechtsprechung des EuGH, in: Freiheit und Sicherheit in Deutschland und Europa, Festschrift für Hans-Jürgen Papier zum 70. Geburtstag, 2013, S. 355, 359: Geburtsstunde der neu entdeckten Fundamentalrechte. 142 EuGH Urt. v. 08. 03. 2011 – Rs. C-34/09, Ruiz Zambrano – Slg. 2011, I-1177. 143 Vgl. hierzu Ph. Cede, Kernbestand der Unionsbürgerschaft, in: Schroeder/Obwexer, 20 Jahre Unionsbürgerschaft, in: EuR 2015 – Beiheft 1, S. 79 ff.; ferner St. Griller, Unionsbürgerschaft als grundlegender Status, in: Schroeder/Obwexer, 20 Jahre Unionsbürgerschaft, in: EuR 2015 – Beiheft 1, S. 7, 9: revolutionäre „Entfesselung“ durch den EuGH. 144 Etwa J. Masing (Anm. 141), S. 364 ff. 145 EuGH Urt. v. 20. 9. 2001 – Rs. C-184/99, Grzelczyk – Slg. 2001, I-6193; Urt. v. 17. 9. 2002 – Rs. C-413/99, Baumbast – Slg. 2002, I-7091; Urt. v. 2. 10. 2003 – C-148/02, Garcia Avello – Slg. 2003, I-11613. 146 Vgl. nur die Nachweise bei J. Masing (Anm. 141), S. 359 Anm. 17.

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Ruder laufen“ und – bei expansiver Handhabung: eine substanzielle Rückführung der Doktrin findet sich in der Nachfolgerechtsprechung147 nicht – die Forderung nach noch mehr ökonomischer Gleichstellung von Unionsbürgern im Aufnahme(mitglied)staat „beflügeln“. VI. Die Missbrauchsdebatte – Zuzug zwecks Leistungsinanspruchnahme Im Zusammenhang mit den Binnenwanderungen in Europa gerät auch immer wieder das Thema des „Sozialleistungsmissbrauchs“ in den Blick. Richten wir den Blick auf den Zuzug über die Außengrenzen der EU – aus den Ländern des Westbalkans – erleben wir diese Debatte gerade hautnah. Wirtschaftlicher und sozialer Bedrängnis zu entfliehen, wird zwar als menschlich verständlich, vielfach als migrationspolitisch aber nicht erwünscht angesehen. Gleichwohl: Begründet die bloße Ausnutzung von Gestaltungsmöglichkeiten des deutschen Sozialrechts eine „Missbrauchslage“? 1. Begriff des Leistungsmissbrauchs und Versuch einer Systematisierung Das Phänomen des Missbrauchs von Rechten ist keiner entwickelten Rechtsordnung fremd148. Begrifflich versteht man unter Rechtsmissbrauch den falschen Gebrauch von Rechten; dabei wird der Vorwurf einer missbräuchlichen Inanspruchnahme von Sozialleistungen nicht nur dann erhoben, wenn sie betrügerisch erschlichen oder – unterhalb dieser Schwelle – treuwidrig verlangt werden149. Missbrauch wird – jenseits eines strafrechtlichen bzw. an § 242 BGB orientierten Definitionsansatzes – immer auch schon dann vermutet, wenn Sozialleistungsangebote von – so der soziologische Terminus150 – rationalen Vorteilsmaximierern „exzessiv“ genutzt, Sozialleistungen also (im allgemeinen Sprachgebrauch) „mitgenommen“ werden151.

147 EuGH Urt. v. 05. 05. 2011 – Rs. C-434/09, McCarthy – Slg. 2011, I-3375; Urt. v. 15. 11. 2011 – C-256/11, Dereci – Slg. 2011, I-11315; Urt. v. 6. 12. 2012 – C-356 und 357/11, O. und S. – NVwZ 2013, 419 = EuGRZ 2013, 53. 148 Zur Erkenntnis der Missbräuchlichkeit von rechtlichen Formen und Instituten als Zeichen einer entwickelten Rechtskultur vgl. R. Stettner, Schwachstellen der Gesetzgebung im Gesundheitswesen – „Legale“ Wege des Mißbrauchs, in: VSSR 1983, 155, 158 ff. 149 A. Commandeur, Mißbrauch von Sozialleistungen, 1996, S. 3 f. 150 Zur Bewertung aus der Sicht der Sozialforschung siehe A. Karl, Die Bewertung von „Leistungsmissbräuchen“ und die Akzeptanz von Sicherungsleistungen bei Arbeitslosigkeit, in: SozW 2001, 341, 345 ff. 151 Hierzu kritisch W. Hoppe, Statistik – richtig oder falsch? – Zur Mißbrauchs-Diskussion um Arbeitslosmeldung und AFG-Leistungen, in: SF 1981, 97, 99, 101; auch H. A. Henkel/ F. Pavelka, „Das Erreichte sichern“ – eine sozialstaatliche Illusion?, in: SozSich 1982, 132 f.

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2. Der sog. Mitnahmeeffekt – „Legaler“ Missbrauch Wendet man sich vor diesem Verständnishintergrund einer Analyse des „Missbrauchs-Themas“ zu, so muss folgendes gelten: Von einem Fall des Missbrauchs sozialer Rechte mag vielleicht noch ausgegangen werden, wenn diese einer gesetzlichen Zweckbestimmung zuwider gebraucht werden, d. h. zu einer vom Gesetzgeber nicht intendierten Mittelgewährung und infolgedessen einer Fehllenkung staatlicher Leistungen führen152. Schon hier stellt sich allerdings die Frage: Wann liegt eine in diesem Sinne unangemessene Gestaltung, wann eine auf „Umgehung“ gerichtete Handlung vor? Keinesfalls darunter fällt jedoch der sog. legale Missbrauch. Ein rechtlich einwandfreies Verhalten, das auf die Einlösung eines gesetzlichen Anspruchs gerichtet ist, kann per se nicht als „Missbrauch“ qualifiziert werden153. Die auf Sozialleistungen Angewiesenen nehmen diese regelmäßig mit bestem Recht in Anspruch; das Ausnutzen von Gestaltungsmöglichkeiten im Sozialrecht kann daher nicht von vornherein mit „Missbrauch“ assoziiert werden154, und zwar selbst dann nicht, wenn dieses eine Überforderung der Leistungskraft der Solidargemeinschaft bedeutet. Hiervon ausgehend ist es dogmatisch zu Recht als problematische Ausweitung des Missbrauchsbegriffs angesehen worden155, wenn § 52 a SGB V und § 33 a SGB XI einen kompletten Leistungsausschluss für Migranten vorsehen, bei denen der Erhalt von Kranken- und Pflegeversicherungsleistungen das nachgewiesene Hauptziel der (rechtmäßigen) Einreise war. 3. Ausnutzung von Sozialleistungsangeboten: allenfalls politisch unerwünscht Besteht das leistungsbegründende Verhalten in dem (rechtmäßigen) Zuzug nach Deutschland, so ist dieses allenfalls politisch unerwünscht. Es begründet aber keine der deutschen Rechtsordnung widersprechende „Missbrauchslage“. 152

Weite Auslegung des Missbrauchsbegriffs: A. Commandeur (Anm. 149), S. 4. Zutreffend H. A. Henkel/F. Pavelka (Anm. 151), SozSich 1982, 132, unter Hinweis auf W. Hoppe (Anm. 151), SF 1981, 97 ff. 154 So explizit E. Eichenhofer (Anm. 76), SozSich 2014, 205: Entweder besteht ein Recht oder es besteht nicht – tertium non datur. Besteht es, ist seine Inanspruchnahme kein Missbrauch, besteht es dagegen nicht, wäre seine Inanspruchnahme nur durch (strafbare) Täuschung vorstellbar. 155 Stellvertretend T. Linke, Probleme der Missbrauchsabwehr nach § 52 a SGB V, § 33 a SGB XI, in: NZS 2008, 342, 344, der die beiden Vorschriften als mit den Grundprinzipien der Sozialversicherung nur schwer vereinbar (und verfassungsrechtlich bedenklich) erachtet: Der damit verbleibende „Missbrauchsvorwurf“, der einzig und allein an den ausländerrechtlich legalen Zuzug in das Bundesgebiet anknüpft, dürfte in der deutschen Sozialrechtsgeschichte seinesgleichen suchen. Vgl. auch H. Lang, in: Becker/Kingreen, SGB V, 4. Aufl. 2014, § 52 a Rn. 4: Verdacht einer im Sozialrecht bisweilen zu findenden bloßen symbolischen Gesetzgebung. Gegen eine „skandalisierende“ Ausweitung des Missbrauchsbegriffs: H. A. Henkel/ F. Pavelka, Das Amt: Dein Feind und Helfer – Über „Verlust“ und „Gewinn“ von Sozialleistungen, in: SF 1981, 225, 226 f.: „Mißbrauchs“-Debatte – eine Sprachsünde. 153

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Das Sozialrechtsverhältnis entsteht – von Ausnahmen abgesehen – mit der Wohnsitz- bzw. Aufenthaltsnahme im Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches. So will es § 30 seines Allgemeinen Teils – des Ersten Buches (SGB I). Diese Entscheidung des Gesetzgebers geht auf Grundrechte und andere Verfassungsnormen zurück; sie ist deren Ausprägung156. Leistungs(rechts)verhältnisse sind potenziell Grundrechtsverhältnisse157. Leistungsträger dürfen den Empfänger um dessen Würde willen nicht zum Objekt degradieren. Als selbstverantwortlicher Bürger hat der Empfänger im Gegenzug Schäden, die die Gemeinschaft abwenden und ausgleichen will, von sich aus nach eigenen Kräften zu vermeiden und einzugrenzen. Als gemeinschaftsgebundener Bürger des Sozialstaates (Art. 20 Abs. 1 GG) kann er einerseits Hilfe beanspruchen, muss sich andererseits aber gegenüber der hilfsbereiten Allgemeinheit schonend verhalten. Beides folgt aus dem Grundsatz der Solidarität! – Konsequenz: Wenn ein Leistungsempfänger als Partner des Sozialrechtsverhältnisses nicht dazu beiträgt, dass die Ziele des Sozialstaates verwirklicht werden, stört er dessen Leistungsprogramm158. Eine solche Störung ist die bloße (rechtmäßige) Einreise in den Geltungsbereich des Sozialgesetzbuches indessen (noch) nicht159. VII. Fazit und Ausblick Bis heute herrscht – nicht nur im politischen Raum – Unsicherheit darüber, mit welchen sozialrechtlichen Konsequenzen man Migration über die innereuropäischen Grenzen hinweg zulassen soll. Erst vor kurzem wieder – aus Anlass der diesjährigen Unterhauswahlen am 7. Mai 2015 und der Präsentation seiner „britischen Reformagenda“ am 10. November 2015160 – hat Cameron, der britische Premierminister, den europäischen Gesetzgeber aufgefordert, das insoweit relevante europäische Sekundärrecht radikal zu verändern. Auch zwei Drittel aller Deutschen sind davon überzeugt, dass Zuwanderung aus dem EU-Ausland zulasten der Sozialleistungssysteme erfolgt161. Hierzu ist anzumerken: Eine „unangemessene“, nicht zu verkraftende Belastung nationaler Sozialleistungssysteme, insbesondere steuerfinanzierter Mindestsicherungssysteme, ist bis heute empirisch nicht belegt. Gleichwohl hat der EuGH nun 156 Hierzu und zum Folgenden schon T. Wulfhorst, Leistungssteuerndes Verhalten der Berechtigten im Sozialrecht, in: VSSR 1982, 1, 2 f. 157 P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 41, 48. 158 T. Wulfhorst (Anm. 156), S. 3, m.w.N. 159 Vgl. E. Eichenhofer (Anm. 76), SozSich 2014, 205: In einer Wohnsitzverlegung zwecks Änderung des Sozialleistungsstatuts liegt kein „Missbrauch der Freizügigkeit“. 160 Siehe Chr. Scheuermann: EU-Reformpläne: Der verzweifelte Mr. Cameron, spiegelonline v. 10. 11. 2015; afp: Droht der Brexit? David Cameron setzt EU mit Forderungen unter Druck, focus-online v. 10. 11. 2015; St. Bolzen: Camerons Bedingungen sind ein Riesen-Bluff, Die Welt-online v. 10. 11. 2015. 161 M. Fuchs (Anm. 88), ZESAR 2015, 96 Anm. 8, unter Hinweis auf H. Bonin (Anm. 13), S. 1 (Umfrage der Bertelsmann Stiftung).

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Norbert Bernsdorff

verdeutlicht, dass das Unionsrecht einer primär wohlfahrtsstaatlich motivierten Migration – einem „Sozialtourismus“ – keinen Vorschub leistet, diese im Gegenteil begrenzt162. Hierfür steht seine „Formel“ von einer abgestuften Solidarität mit differenziertem Sozialleistungszugang, abhängig vom Integrationsgrad163. Erfreulicherweise bestimmt der EuGH diesen nun nicht mehr (allein) primärrechtlich – „genuine Bindung“ an die Gesellschaft des Aufnahme(mitglied)staates – , sondern richtet ihn am sekundärrechtlichen Aufenthaltsrecht aus. Das mag man als Sozialrechtler (mit einem entsprechenden – „koordinationsrechtlichen“ – Vorverständnis164) bedauern, blendet diese Sichtweise doch die Gleichbehandlungsgebote des europäischen Sozialrechts mehr oder weniger aus. Indessen respektiert sie das „Konstruktionsprinzip“ des – vom EuGH endlich wahrgenommenen – europäischen Gesetzgebers, der die Bestimmung des Umfangs sozialrechtlicher Teilhabe jedenfalls bei Existenzsicherungsleistungen „in die Hände“ des unionalen Aufenthaltsrechts „legt“165. Die Unionsbürgerschaft in ihrer Bedeutung als Grundlage auch sozialer Inklusion wird hier auf das zurückgeführt, was sie wirklich ist: eine bloße Bürgerschaftszugehörigkeit, die gerade keine „Sozialbürgerschaft“166, sondern lediglich mit staatsbürgertypischen Rechten (Art. 20 Abs. 2 AEUV) verbunden ist. Von der Idee her begründet die Unionsbürgerschaft als Status nämlich nicht mehr als einen Tatbestand der Zugehörigkeit zur EU, der zur jeweiligen einzelstaatlichen Staatsbürgerschaft akzessorisch ist, von dieser abgeleitet wird (Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV) und zu dieser hinzutritt (Art. 20 Abs. 1 Satz 3 AEUV)167. Die neuere EuGH-Rechtsprechung ist zu begrüßen! Nicht nur, weil sie den Mitgliedstaaten nationale Handlungsspielräume belässt; sie bewahrt sie auch vor Kompetenzverlusten. Die Rückkehr zu einem Wohlfahrtsstaat alter Prägung, der Verantwortung nur für die (engere) Solidargemeinschaft auf seinem Territorium übernahm168, wird damit nicht beschworen.

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Diesen – zutreffenden – Schluss zieht F. Wollenschläger (Anm. 60), NVwZ 2014, 1632. D. Thym (Anm. 4), NZS 2014, 90. 164 Vgl. F. Schreiber (Anm. 4), ZAR 2015, 46: unterschiedliche Vorverständnisse, die den rechtswissenschaftlichen Dialog erschweren. 165 Danach, so E. Eichenhofer (Anm. 76), SozSich 2014, 203, richtig, soll die Unionsbürger-Freizügigkeit vornehmlich nicht das Recht umfassen, durch Wechsel des Wohnstaates die Zuständigkeit des zur Sozialhilfegewährung verpflichteten Mitgliedstaates einseitig zu verändern. 166 Wie die Annahme einer „gehaltvollen“ europäischen Sozialbürgerschaft begründet werden soll, lässt A. Farahat (Anm. 110), NZS 2014, 495, offen. 167 Vgl. – in Bezug auf die Zambrano-Rechtsprechung des EuGH – J. Masing (Anm. 141), S. 359 f. 168 Hierzu E. Eichenhofer (Anm. 17), Rn. 82 m.w.N.; ders., Export von Sozialleistungen nach Gemeinschaftsrecht, in: SGb 1999, 57, 62. 163

Grundfreiheiten und Zuzug in die nationalen Sozialleistungssysteme

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* Abstract Norbert Bernsdorff: Fundamental Freedoms and Dangers Concerning the Misuse of Social Benefits (Grundfreiheiten und Zuzug in die nationalen Sozialleistungssysteme), in: Migration, Asylum, Refugees and Law of Aliens. Germany and its Neighbours in Europe Facing New Challenges (Migration, Asyl, Flüchtlinge und Fremdenrecht. Deutschland und seine Nachbarn in Europa vor neuen Herausforderungen), ed. by Gilbert H. Gornig, Hans-Detlef Horn (Berlin 2017), pp. 175–208. To this day – not only in the political area – there is great uncertainty concerning the question by which consequences of social law Migration is to be allowed within and across the European borders. Only recently – because of the elections of the lower house this year on 7th of May 2015 and the presentation of its “British reform agenda” on 10th of November 2015 – the British prime minister, David Cameron, has requested the European legislator to radically alter the relevant European secondary legislation. Two thirds of all Germans are also convinced that migration from non-EU states happens at the expense of the benefit systems. It should be noted that an unreasonable burden of national benefit systems, which could not be coped with, especially minimum resources systems financed by taxes, have never been empirically documented. Nevertheless, the European Court of Justice has now made clear, that on the contrary Union law limits “primarily welfare state motivated” Migration and does not encourage “Social Tourism”. It’s “formula” stands for this, addressing a graduated solidarity with differentiated access to social benefits, dependent on the degree of integration. Fortunately, the ECJ determines the degree of integration not (only) based on primary legislation – “genuine binding” to the society of the host (member) state – but aligns it to right of residence under secondary law. Someone practicing social law (having a corresponding previous understanding of “coordination”) may regret that, this perspective dismissing the principal of equal treatment set by European Social Law. However, it respects the “construction principle” – finally perceived by the ECJ – of the European legislator, who entrusts the union’s right of residence with the task of determining the scope of social participation, at least for benefits of livelihood. Here, the Unions citizenship, being the basis of social inclusion, is reduced to what it really is: a mere citizenship, which is no “social citizenship”, but only associated with civic rights (Art. 20 (2) TFEU). The Unions citizenship as status constitutes no more than the EU-membership, being ancillary to the respective national citizenship, being derived from it (Art. 20 (2) 2 TFEU) and joining it (Art. 20 (1) 3 TFEU). The recent ECJ jurisdiction is welcomed! Not only because it allows leeway for the member states, but also because it prevents loss of competence. A welfare state of old, which took responsibility only for the close supportive society on its territory, will not be conjured up.

Die Autoren / The Authors Jurgita Baur, LL.M. Persönliche Angaben / Personal Data: Jurgita Baur (geb. Ruseckaite) wurde am 20. 11. 1986 in Litauen geboren. An der Vilnius Universität erwarb sie ihren Magister in Rechtswissenschaften. Seit 2010 lebt Jurgita Baur in Deutschland. Sie schloss im Jahr 2011 ihr LL.M Studium an der Goethe Universität Frankfurt am Main ab, an der sie seit dem Jahre 2012 promoviert. Jurgita Baur forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen des Europarechts, Völkerrechts, internationalen Wirtschaftsrechts und der Schiedsgerichtsbarkeit. Daneben arbeitete sie in den Jahren 2011 bis 2013 als Juristin für eine international tätige Kanzlei in Frankfurt und 2013 bis 2016 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philipps Universität Marburg am Institut für Öffentliche Recht. Im Sommer 2016 fungierte sie als Stagiaire bei der Europäischen Kommission in der Generaldirektion Justiz. Im Anschluss begann Frau Jurgita Baur ihre derzeitige Tätigkeit bei einer der weltweit führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften. Jurgita Baur (born Ruseckaite) was born 20th of November 1986 in Lithuania. At Vilnius University she received her master’s degree in law. Since 2010 Jurgita Baur lives in Germany. In 2011 she completed her LL.M. studies at the Goethe University in Frankfurt am Main, since then doing her doctoral studies there. Jurgita Baur focuses her research on European Law, international law, international business law and arbitration. In addition she worked as jurist for an international law firm in Frankfurt am Main during the years 2011 to 2013 and during the years 2013 to 2016 as research associate at the Philipps University of Marburg at the Institute for Public Law. In summer 2016 she served as Stagiaire at the European Commission in the Directorate-General of the Legal Service. Following, Mrs. Baur started her current occupation at one of the leading auditing companies.

Kontaktadresse / Contact Address: Gießener Str. 29a 61118 Bad Vilbel Deutschland E-Mail: [email protected]

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Die Autoren / The Authors

* Professor Dr. Norbert Bernsdorff Persönliche Angaben / Personal Data: Norbert Bernsdorff (geb. 1954): Studium der Rechtswissenschaften und Sozialwissenschaften in Göttingen; 1980 Erste Juristische Staatsprüfung; 1985 Promotion zum Dr. jur.; 1987 Große Juristische Staatsprüfung; 1988 – 1992 Richter am Verwaltungsgericht Hannover; 1992 – 2004 Richter am Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen; 1994 – 1999 Wiss. Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht; 2000 – 2004 Referatsleiter im Niedersächsischen Ministerium der Justiz; seit 2004 Richter am Bundessozialgericht in Kassel; seit 2015 Honorarprofessor an der Philipps-Universität in Marburg. Norbert Bernsdorff (born in 1954): Studied law and social sciences in Göttingen; first state law examination (1980); doctorate in law (1985); second (major) state legal examination (1987); 1988 – 1992 Judge at the Administrative Court of Hannover; 1992 – 2004 Judge at the Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen; 1994 – 1999 Research associate at the Federal Constitutional Court; 2000 – 2004 Head of division at the Ministry of Justice of Lower Saxony; since 2004 Judge at the Bundessozialgericht in Kassel; since 2015 honorary professor at the Philipps University of Marburg.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Europäische Grundrechte, europäisches Sozialrecht, allgemeine Fragen des Sozialversicherungsrechts mit Bezügen zum Verfassungsrecht, Mitgliedschafts- und Beitragsrecht. European fundamental rights, European Social Law, general issues of Social Insurance Law with regard to Constitutional Law, Membership Law and Contribution Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Kulturgutschutz in Deutschland (gemeinsam mit Andreas Kleine-Tebbe), 1996; Sozialgerichtsgesetz (hrsg. von Werner Hennig), 1996 ff.; Soziale Grundrechte in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Diskussionsstand und Konzept, 2001; Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (hrsg. von Jürgen Meyer), 2003 ff.; Die Methode der „offenen Koordinierung“ – Politiksteuerung aus Sicht der Europäischen Verfassung (hrsg. von Hans-Jörg Derra), 2006; Einschnitte in das Rentenniveau – Der „additive Grundrechtseingriff“ und das Bundesverfassungsgericht, 2011; Sozialleistungstransfer nach Europa – Freizügigkeit versus (nationales) Territorialitätsprinzip, 2016.

Kontaktadresse / Contact Address: Philipps-Universität Marburg Fachbereich Rechtswissenschaften Savigny-Haus Universitätsstr. 6

Die Autoren / The Authors

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D- 35032 Marburg/Deutschland e-mail: [email protected] Bundessozialgericht Graf-Bernadotte-Platz 5 D-34119 Kassel

* Professor Dr. Dr. h. c. mult. Gilbert H. Gornig Persönliche Angaben / Personal Data: Gilbert H. Gornig (geb. 1950): Studium der Rechtswissenschaften und Politischen Wissenschaften in Regensburg und Würzburg; 1984 Promotion zum doctor iuris utriusque in Würzburg (Prof. Dr. D. Blumenwitz); 1986 Habilitation; Lehrstuhlvertretungen in Mainz, Bayreuth und Göttingen; 1989 Direktor des Instituts für Völkerrecht an der Universität Göttingen und 1994 – 1995 Dekan; seit 1995 Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Philipps-Universität Marburg und Geschäftsführender Direktor des Instituts für öffentliches Recht. Er war Dekan von 2006 bis 2012. Von 1996 bis 2004 war er zudem Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel. Er ist Präsident der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, des Göttinger Arbeitskreises und der Marburger Juristischen Gesellschaft. Pensionierung Frühjahr 2016. Gilbert Gornig, (born 1950): Studies in Law and Political Sciences in Regensburg and Wuerzburg; became a Doctor of Law (iuris utriusque) in Wuerzburg in 1984 (Prof. Dr. D. Blumenwitz); habilitation 1986; lecturer in Mainz, Bayreuth and Goettingen; 1989 Director of the Institute of Public International Law at the University of Goettingen, Dean of the Faculty 1994/ 95; since 1995 Professor for public law, public international and European law at the Philipps University of Marburg, at the same time being the Executive Director of the Institute of Public Law. He was Dean 2006 up to 2012. Between 1996 and 2004 also Judge at the Higher Administrative Court of Hessen in Kassel. He is President of the Danziger Naturforschende Gesellschaft, of the Goettinger Arbeitskreis and the Marburger Juristische Gesellschaft. Retirement Spring 2016.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht, Verwaltungsrecht. Constitutional Law, International and European Law, Administrative Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Die sachbezogenen hoheitliche Maßnahme, 1985; Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 1988; Der Hitler-Stalin-Pakt, 1990; Das Memelland, 1991; Staatennachfolge und die Einigung Deutschlands, 1992; Das Nördliche Ostpreußen, 2. Aufl. 1996; Hongkong. Von der britischen Kronkolonie zur chinesischen Sonderverwaltungszone. Eine historische und rechtliche Betrachtung unter Mitarbeit von Zhang Zhao-qun, 1998; Das rechtliche Schicksal der Danziger Kulturgüter seit 1939 – 45 am Beispiel der Naturforschenden Gesell-

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Die Autoren / The Authors

schaft zu Danzig, 1999; Territoriale Entwicklung und Untergangs Preußens, 2000; Seeabgrenzungsrecht in der Ostsee, 2002 (zusammen mit Gilles Despeux); Völkerrecht und Völkermord, 2002 (Nachdruck 2003); @aQS_ 6Sa_`Zb[_T_ B_oXQ. 6Sa_`VZb[YV B__RjVbcSQ. @aQS_S_p XQjYcQ S B__RjVbcSQf. ?cSVcbcSV^^_bcm T_bdUQabcS-dhQbc^Y[_S, =_b[SQ, BQ^[c-@VcVaRdaT, þYW^YZ þ_ST_a_U, 3_a_^VW, A_bc_S-^Q-5_^d, 6[QcVaY^RdaT, BQ]QaQ, þ_S_bYRYab[, ;YVS, FQam[_S, =Y^b[ (Recht der Europa¨ischen Union. Europa¨ische Gemeinschaft. Rechtsschutz in der Gemeinschaft. Verantwortung der Mitgliedstaaten), 2005 (zusammen mit Oxana Vitvitskaja) (Russisch); Der unabha¨ngige Allfinanz-Vertrieb, 2. Aufl. 2007 (zusammen mit Frank Reinhardt); Fa¨lle zum Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 2014 (zusammen mit Ralf Jahn); Der vo¨lkerrechtliche Status Deutschlands zwischen 1945 und 1990, 2007; Dreptul Uniunii Europene, 3. Aufl. 2009 (zusammen mit Ioana E. Rusu) (Ruma¨nisch); Eigentum und Enteignung im Vo¨lkerrecht unter besonderer Beru¨cksichtigung von Vertreibungen, 2010; Dreptul polit¸ienesc romaˆn s¸i german, 2012 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Protect¸ia bunurilor culturale, 2013 (zusammen mit Monica Vlad) (Ruma¨nisch); Relaciones entre el derecho internacional pu´blico y el derecho interno en Europa y Sudame´rica, 2016 (zusammen mit Teodoro Ribera Neumann) (Spanisch); Iustitia et Pax. Geda¨chtnisschrift fu¨r Dieter Blumenwitz, 2008 (Mitherausgeber); Rechtspolitische Entwicklungen im nationalen und internationalen Kontext. Festschrift fu¨r Friedrich Bohl 2015 (Hrsg.). Mitherausgabe der Staats- und vo¨lkerrechtlichen Abhandlungen der Studiengruppe fu¨r Politik und Vo¨lkerrecht seit 1993. Insgesamt u¨ber 500 Publikationen als Autor und Herausgeber.

Kontaktadresse / Contact Address: D-35043 Marburg / Deutschland Tel.: + 49 (0) 64 21 – 163566 Fax: + 49 (0) 64 21 – 163766 E-Mail: [email protected]

* Professor Dr. Peter Hilpold Persönliche Angaben / Personal Data Peter Hilpold (geb. 1965) studierte Rechtswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre. Nach dem Studium ließ er sich in Italien zum Anwalt ausbilden und legte seine Anwaltsprüfung 1992 ab. Er war als wissenschaftlicher Assistent zunächst am Institut für Völkerrecht und Internationale Beziehungen der Universität Innsbruck, dann am Institut für Öffentliches Recht, Finanzrecht und Politikwissenschaft tätig. 2001 habilitierte er sich in Innsbruck und wurde dort zum außerordentlichen Professor ernannt. Später erhielt er die Venia docendi für Völkerrecht, Europarecht und vergleichendes öffentliches Recht. Neben der Universität Innsbruck unterrichtet er auch an der Universität Padua. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Völkerrecht, Europarecht, internationales Wirtschaftsrecht und italienisches Steuerrecht. Peter Hilpold (born 1965) studied law, economics and business economics. After studying, he trained as an attorney in Italy and filed his lawyer’s examination in 1992. He was a scientific assistant at the Institute for International Law and International Relations at the University of

Die Autoren / The Authors

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Innsbruck, then at the Institute for Public Law, Financial Law and Political Science. In 2001 he qualified as a professor in Innsbruck. Later he received the Venia docendi for international law, European law and comparative public law. In addition to the University of Innsbruck, he also teaches at the University of Padua. His research focuses on international law, European law, international economic law and Italian tax law.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Völkerrecht, Europarecht, Internationales Wirtschaftsrecht, Italienisches Steuerrecht. International Law, European Law, International Economic Law, Italian Tax Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Italienisches Steuerrecht – Allgemeiner Teil, 2015; Solidarität und Neutralität im Vertrag von Lissabon – unter besonderer Berücksichtigung der Situation Österreichs, 2010; Die EU im GATT/WTO-System, 2009; Modernes Minderheitenrecht – Eine rechtsvergleichende Untersuchung des Minderheitenrechts in Österreich und in Italien unter besonderer Berücksichtigung völkerrechtlicher Aspekte, 2001; Der Osttimor-Fall – Eine Standortbestimmung zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1996. Herausgabe: Europa der Regionen, 2016 (zusammen mit W. Steinmair und Ch. Perathoner); Autonomie und Selbstbestimmung in Europa und im internationalen Vergleich, 2016; The Responsibility to Protect: A New Paradigm in International Law? 2015; Kosovo and International Law. The ICJ Advisory Opinion of 22 July 2010, 2012; Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 2009. Ferner: Die Doppelte Staatsbürgerschaft im Völkerrecht (Double Citizenship in International Law), in: Europa Ethnica. 76, Nr. 1 – 2, 2016, S. 2 – 4; Solidarität im EU-Recht: „Die Inseln der Solidarität“ unter besonderer Berücksichtigung der Flüchtlingsproblematik und der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, in: Europarecht. 4/2016, S. 373 – 404; The fight against terrorism and SC Resolution 2249 (2015): towards a more Hobbesian or a more Kantian International Society, in: Indian Journal of International Law. 55, Nr. 4, 2015, S. 535 – 555; Die Ukraine-Krise aus völkerrechtli cher Sicht: ein Streitfall zwischen Recht, Geschichte und Politik, in: Swiss Review of International and European Law. 25, Nr. 2, 2015, S. 171 – 182; Jus Post Bellum and the Responsibility to Rebuild, in: Journal of International Humanitarian Legal Studies, 6, Nr. 2, 2015, S. 284 – 305; Regionale Integrationsabkommen im GATT/WTO-System, in: Wirtschaftspolitische Blätter, 62, Nr. 2, 2015, S. 227 – 242; Die verkaufte Unionsbürgerschaft, in: Neue Juristische Wochenschrift, 15/2014, S. 1071 – 1074; Von der Utopie zur Realität – das Selbstbestimmungsrecht der Völker im Europa der Gegenwart, in: Juristen-Zeitung, 68, Nr. 22, 2013, S. 1061 – 1070; The League of Nations and the Protection of Minorities – Rediscovering a Great Experiment, in: Max Planck Yearbook of United Nations Law. 17, Nr. 1, 2013, S. 87 – 124; Intervening in the Name of Humanity: R2P and the Power of Ideas, in: Journal of Conflict and Security Law. 17, Nr. 1, 2012, S. 49 – 79; Drohende Enteignung von Liegenschaften in Ungarn – Völkerrechtliche, europarechtliche und verfassungsrechtliche Aspekte, in: Österreichische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, 39, Nr. 4, 2012, S. 97 – 105; WTO Law and Human Rights: Bringing Together Two Autopoietic Orders, in: Chinese Journal of International Law. 10, Nr. 2, 2011, S. 323 – 372; Minderheitenschutz im Völkerrecht und im Europarecht – unter besonderer Be rücksichtigung der Roma, in: Journal für Rechtspolitik. 19, Nr. 3, 2011, S. 251 – 262; Die WTO im Legitimationskonflikt – unter besonderer Berücksichtigung der Herausforderungen

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Die Autoren / The Authors

im Bereich des Menschenrechtsschutzes, in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft. 109, Nr. 2, 2010, S. 135 – 152. Insgesamt über 200 Publikationen.

Kontaktadresse / Contact Address: Universität Innsbruck, Innrain 52, A-6020 Innsbruck Tel: 0043/512/507/80203 Fax: 0043/512/507/2785 E-Mail: [email protected]

* Friedemann Larsen Persönliche Angaben / Personal Data: Friedemann Larsen (geb. 1982): 2002 – 2005 Laufbahnausbildung zum gehobenen nichttechnischen Verwaltungsdienst an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Gotha (Thüringen), 2005 Staatsprüfung zum Dipl.-Verwaltungswirt (FH); 2005 – 2010 Studium der Rechtswissenschaften in Jena, 2010 Erste Juristische Prüfung; Juristischer Vorbereitungsdienst am Landgericht Mühlhausen (Thüringen) und an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer, 2012 Zweite Juristische Staatsprüfung; 2012 – 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Öffentliches Recht in Marburg (Prof. Dr. H.-D. Horn); nebenberuflich tätig als zugelassener Rechtsanwalt; seit 2017 Referent im Juristischen Dienst und Ausschussdienst des Thüringer Landtags. Friedemann Larsen (born 1982): 2002 – 2005 Education in the higher non-technical Administration at the FH for Public Administration in Gotha (Thuringia), 2005 Diploma in Administration [Dipl.-Verwaltungswirt (FH)]; 2005 – 2010 Studies in Law in Jena, 2010 First State Examination; Judicial Teaching Practice at the District Court of Mühlhausen (Thuringia) and at the German University for Administration Sciences in Speyer, 2012 Second State Examination in Law; 2012 – 2017 Research Assistant and Doctoral Candidate at the Institute for Public Law in Marburg (Prof. Dr. H.-D. Horn); authorized part-time Lawyer; since 2017 legal advisor in the Legal Service and Committee Service of the Thuringian Parliament.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Staats- und Verfassungsrecht; Verwaltungsrecht; Wahlrecht. State and Constitutional Law; Administrative Law; Electoral Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Fremde Wahlen auf eigenem Staatsgebiet. Fragen an die Gebietshoheit, in: Gilbert H. Gornig/Hans-Detlef Horn (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit, 2016, S. 241 ff.; Wie du mir so auch den anderen: drei Freizeitbauten im Außenbereich, zusammen mit Hans-Detlef Horn, LKRZ 2015, S. 168 ff.

Die Autoren / The Authors

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Kontaktadresse / Contact Address: Thüringer Landtag Juristischer Dienst und Ausschussdienst Jürgen-Fuchs-Straße 1 99096 Erfurt e-mail: [email protected]

* Dr. iur. Adrianna Agata Michel Persönliche Angaben / Personal Data: Adrianna Agata Michel wurde im Jahre 1985 in Pyrzyce (Polen) geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Sie studierte Rechtswissenschaften mit dem Schwerpunktbereich „Völkerund Europarecht“ an der Philipps-Universität Marburg. Seit 2012 ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Öffentliches Recht der Philipps-Universität Marburg tätig. Sie promovierte im Jahre 2014 auf dem Gebiet des Völkerrechts (Prof. Dr. G. Gornig). Im Jahre 2015 beendete Sie ihr Referendariat und habilitiert seitdem am Fachbereich Rechtswissenschaften in Marburg. Adrianna Agata Michel was born in 1985 in Pyrzyce (Poland) and grew up in Germany. She studied Law specializing in Public International Law and European Law at the Philipps-University of Marburg. Since 2012 she is a member of the research staff at the Institute of Public Law at the Philipps-University of Marburg. She made her PhD in 2014 in the area of Public International Law (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. G. Gornig). In 2015 she finished her practical legal training and habilitates since then at the Faculty of Law in Marburg.

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Völkerrecht, Europarecht, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht. International and European Law, Constitutional Law, Administrative Law.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Polens Staatlichkeit in sieben Jahrhunderten. Eine völkerrechtliche Analyse zur Staatensukzession, in: Gornig, Gilbert (Hrsg.), Schriften zum internationalen und zum öffentlichen Recht, 2014; „Die Ukraine-Krise aus völkerrechtlicher Perspektive – Die Krim im russisch-ukrainischen Spannungsfeld“, in: Gornig, Gilbert/Horn, Hans-Detlef (Hrsg.), Territoriale Souveränität und Gebietshoheit. Grundlagen der Sicherung des gefährdeten Friedens im östlichen Europa und in der Welt. Staats- und völkerrechtliche Abhandlungen der Studiengruppe für Politik und Völkerrecht, Band 30, Duncker & Humblot, Berlin, S. 83 – 125; „Chaostage in der Stadt“ (Fallbesprechung), in: Marburg Law Review (MLR), 2015, Heft 2, S. 69 – 74 (zusammen mit Gilbert H. Gornig).

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Die Autoren / The Authors

Kontaktadresse / Contact Address: Philipps-Universität Marburg Fachbereich Rechtswissenschaften Institut für Öffentliches Recht Universitätsstr. 6 D-35032 Marburg / Deutschland Tel.: + 49 (0) 64 21 – 28 231 24 E-Mail: [email protected]

* Martin Neumeyer Persönliche Angaben / Personal Data: Nach dem Abitur studierte Martin Neumeyer (geb. 1954) an der Universität Regensburg sowie der Fachhochschule Regensburg Betriebswirtschaftslehre. Weiterhin absolvierte er eine Lehre als Koch und erwarb einen Meisterbrief als Restaurantmeister. Neumeyer trat im Jahre 1972 in die CSU ein, 1975 in die Junge Union. Bei letzterer wurde er in der Folge Orts- und Kreisvorsitzender sowie Mitglied der Bezirksvorstandschaft. Seit 1999 ist er CSUKreisvorsitzender. 1984 wurde er in den Stadtrat von Abensberg gewählt, dem er immer noch angehört. Außerdem ist er Kulturreferent der Stadt Abensberg. 1984 wurde er auch in den Kreistag des Landkreises Kelheim gewählt; 1996 wurde er dort stellvertretender Fraktionsvorsitzender. Von 1998 bis 2003 war er Mitglied des Bezirkstags von Niederbayern. Seit dem 6. Oktober 2003 gehörte Neumeyer als Direktkandidat seines Stimmkreises Kelheim dem Bayerischen Landtag an. Bei der Landtagswahl 2008 und der Landtagswahl 2013 wurde er jeweils wiedergewählt. In der 15. Legislaturperiode war Neumeyer Mitglied in den Ausschüssen für Verfassungs-, Rechts- und Parlamentsfragen, für Hochschule, Forschung und Kultur sowie in der Datenschutzkommission. Seit 2008 ist er Mitglied im Ausschuss für Landwirtschaft, Ernährung und Forsten, sowie im Ausschuss für Umwelt und Gesundheit. Anfang 2009 wurde er zum ersten Integrationsbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung ernannt. Am 5. Mai 2014 wurde Neumeyer zum stellvertretenden Landrat des Landkreises Kelheim gewählt. Am 18. September 2016 kandidierte er zum dritten Mal um das Amt des Landrats und wurde bereits im ersten Wahlgang mit 51,3 % der Stimmen gewählt. Neumeyer trat das Amt am 1. November 2016 an. After his Abitur, Martin Neumeyer (born in 1954) studied Business Administration at Regensburg University and Regensburg University of Applied Sciences. He also completed an apprenticeship as a chef and earned a master’s letter as a restaurant manager. Neumeyer joined the CSU in 1972 and in the Junge Union in 1975. In the latter, he became Orts- und Kreisvorsitzender, as well as a member of the District Council. Since 1999 he has been CSU Kreisvorsitzender. In 1984, he was elected to the town council of Abensberg, to which he still belongs. He is also the cultural director of Abensberg. In 1984 he was also elected to the Kreistag of the Landkreis Kelheim; in 1996, he became Deputy Chairman of the Fraction. From 1998 to 2003 he was a member of the Bezirksstag of Niederbayern. Since 6 October 2003, Neumeyer belonged to the Bavarian State Parliament as a direct candidate for his vote in Kelheim. He was re-elected in the 2008 and the 2013 parliamentary elections. In the 15th legislature, Neu-

Die Autoren / The Authors

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meyer was a member of committees for constitutional, legal and parliamentary questions, as well as for university, research and culture, as well as in the Data Protection Commission. Since 2008 he is a member of the Committee on Agriculture, Food and Forestry, as well as in the Committee on Environment and Health. At the beginning of 2009, he was appointed the first Integration Officer of the Bavarian State Government. On May 5, 2014 Neumeyer was elected deputy Landrat of Kelheim. On 18 September 2016, he ran for the third time in the office of the Landrat and was already elected in the first election with 51.3 % of the votes. Neumeyer entered the office on 1 November 2016.

Kontaktadresse / Contact Address: Privatadresse Richtstättstr. 5 93326 Abensberg Telefon: 09443 1281 Fax: 09443 1282 info(at)neumeyer-martin.de http://www.neumeyer-martin.de Abgeordnetenbüro und CSU-Kreisgeschäftsstelle Weinbergerstr. 2 93326 Abensberg Telefon: 09443 9286500 Fax: 09443 9286501 buero(at)neumeyer-martin.de http://www.neumeyer-martin.de

* Katharina Senge Persönliche Angaben / Personal Data: Katharina Senge (geb. 1982) studierte Religionswissenschaft, Politikwissenschaft sowie Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Berlin und Rom. Neben Lehrtätigkeiten im Bereich Religionswissenschaft hat sie die Konrad-Adenauer-Stiftung in einem Projekt zur muslimischen Jugendszene unterstützt. Seit März 2011 ist sie Koordinatorin für Zuwanderung und Integration im Team Gesellschaftspolitik der Hauptabteilung Politik und Beratung der KonradAdenauer-Stiftung. Katharina Senge (born in 1982) studied religious studies, political science, and journalism and communication science in Berlin and Rome. In addition to teaching activities in the area of religious studies, she supported the Konrad-Adenauer-Foundation in a project on the Muslim youth scene. Since March 2011, she has been the coordinator for immigration and integration in the team policy of the Department of Policy and Counseling of the Konrad-Adenauer-Foundation.

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Die Autoren / The Authors

Forschungsschwerpunkte / Research Interests: Migration, Zuwanderung. Integrationspolitik, politische Partizipation, Vielfalt/Diversity, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Migrantengruppen, Islam in Deutschland. Migration, immigration. Integration policy, political participation, diversity, social cohesion, migrant groups, Islam in Germany.

Auswahlbibliographie / Selected Publications: Meilenstein oder Papier des Misstrauens? Zum neuen Integrationsgesetz, Die Politische Meinung 2016, 104 ff.; Flüchtling oder Fachkraft? Die Sphären von Asyl und gelenkter Einwanderung folgen verschiedenen Prinzipien, Die Politische Meinung, Oktober 2015, 87 ff.; Zielland Deutschland. Hintergründe zu Flüchtlingen und Einwanderung, 2015; Verzerrte Wahrnehmung. Über die schädliche Vermischung von Einwanderungs- und Islamdebatten, Die Politische Meinung, April 2015, 52 ff.; Wer hat hier die Verantwortung? Modelle und Perspektiven europäischer Flüchtlingspolitik, Auslandsinformationen, 2015, 10 ff.; Neue Impulse für die Integrationspolitik, 2014 (zusammen mit Michael Borchard);

Kontaktadresse / Contact Address: Tel. +49 30 26996 3457 Fax +49 30 26996 3551 [email protected] Konrad-Adenauer-Stiftung Klingelhöferstr. 23 D-10785 Berlin Abteilung Hauptabteilung Politik und Beratung „Team Religions-, Integrations- u. Familienpolitik“

Personen- und Sachverzeichnis / List of Names and Subject Index Abkommen über die Konflikte der Staatsangehörigkeit von 1930 94 Abschiebung 36, 43, 47, 48, 50, 90, 99, 106, 131, 148, 149, 150, 151, 169, 172 Abstammungsprinzip 79, 80 Abweisung 22 ff., 30, 46, 108 Adoption 81 f. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 34 f., 35, 36, 75, 95, 109 Amerikanische Menschenrechtskonvention 29 f. Anerkennungsrichtlinie 143 Annexion 83, 87 Arabische Liga 135 Arbeitnehmerfreizügigkeit 185 f. Assange, Julian, Internet-Aktivist 120 Asyl 32 ff. – diplomatisches 120, – territoriales 32, 37, 47, 120 Asylbewerber 44 ff. , 58 ff., 64 – straffällige 45 Asylgrundrecht 44, 122, 156 Asyl-Qualifikationsrichtlinie 118, 119, 134 Asylrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1951 36 f. Asyl-Shopping 40 Asylverfahrensrichtlinie 143 Aufenthaltserlaubnis 96 Aufnahmerichtlinie 124, 130 Ausbürgerung 86 Ausführungsgesetz zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1977 96 Ausländer, 22 ff. Auslandskrankenbehandlung 182 f. Ausweisung 24 Ausweisungsgründe 25 BAföG-Bezug 177 Bancroft-Verträge 71, 77

beitragsunabhängige Geldleistungen durch EU-Zuwanderer 186 ff. Bill of Rights 70 Bundesakte 70 Bürgerkriegsflüchtlinge 16, 18, 127 Calvo-Doktrin 54 Debellation 87 Deportationen 26 diplomatischer Schutz 28, 31, 32, 37, 73, 74, 75, 88, 90, 91, 93, 94, 101, 102, 103, 120 Diskriminierung 53 f., 58 f., 86, 92, 94, 99, 112, 180, 187, 189 ff., 194, 196 Domizilprinzip 83 Dubliner Übereinkommen 37, 39, 40, 41 Dublin-II-Verordnung 123, 129 Dublin-III-Verordnung 122, 124, 129, 131 Dublin-System 59, 118, 123, 129, 139, 140 Dublin-Verordnung 143 Eheschließung 81 Einbürgerung 82 Einwanderungsland 15 Einzelausweisung 24, 28 Einzeleinbürgerung 80 Estland 98 Eurodac-Datenbank 130 Eurodac-Verordnung 124, 130, 143 Europäische Flüchtlingspolitik 21 ff., 117 ff.; 122 ff., 139 ff., 142 Europäische Konvention über die Verminderung von Fällen mehrfacher Staatsangehörigkeit von 1963 76 Europäische Menschenrechtskonvention 29, 35 f., 47, 49, 50, 53, 58, 59, 121, 165 Europäisches Auslieferungsabkommen von 1954 51

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Personen- und Sachverzeichnis / List of Names and Subject Index

Europäisches Niederlassungsübereinkommen von 1955 26, 27 Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit von 1997 76, 86, 87 Existenzminimum 197, 198, 200 Exterritorialität 33, 120 Flüchtlinge 15 ff., 21 ff.,30 ff., 57 ff., 90 ff., 106 ff., 126 ff., 132 ff., 151 f., 158 ff., 171 f. – Begriff 30 ff. Flüchtlingskonvention der Organisation für Afrikanische Einheit von 1969 34, 47 Freizügigkeitsrichtlinie (EU) 189 f. Fremde 22 ff. – Rechte und Pflichten 51 ff. Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsverträge 52 Frontex 136, 138, 144 Gastarbeiter 16 Geburtslandprinzip 79, 80 Gemeinsames Europäisches Asylsystem 124, 125, 142, 143 Genfer Abkommen über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten von 1949 26, 29, 41, Genfer Flüchtlingskonvention 36, 57 f., 89 f., 94, 100, 105 ff., 111 ff., 118 ff. genuine connection 75, 78, 192 Gesamtansatz für Migration und Mobilität 141 ff. Gewissensfreiheit 53, 162, 163, 164 Gleichbehandlungsanspruch beim Zugang von Sozialleistungen 187 ff. Gleichbehandlungsgrundsatz 169 Griechenland 18, 132, 135, 139, 140, 144 Haager Protokoll von 1930 76, 94 Heimatvertriebene 15 Hitler, Adolf, Reichskanzler 107 Inländerbehandlung 52, 54 inländische Fluchtalternative 43, 44, 89 Internationale Flüchtlingsorganisation 55 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 28, 49, 53, 76 Internationales Übereinkommen von Havanna von 1928 25, 76

Islamischer Staat 118, 121 Italien 16, 18, 132, 135, 139, 140, 144 ius sanguinis-Prinzip 79, 82, 85 ius soli-Prinzip 79, 80, 82, 85 Jellinek, Hansjörg, Staatsrechtslehrer 83 Judenverfolgung 108 Kernbestandsdoktrin 202 f. Kindergeldleistungen 180, 183 ff. Kirchenasyl 147 ff. Kohl, Helmut, deutscher Bundeskanzler 16 Kriegsflüchtlinge 16, 18, 19 Kriegsverbrechen 32, 36, 49, 127 Krimtataren 97 Lastenausgleich 15 Leistungsmissbrauch 203 ff. Lettland 97, 98 Litauen 98, 135, 136 Maizière, Thomas de, Bundesinnenminister 149 Massenausweisungen 26 Masseneinbürgerung 80, 82 ff. Massenfluchtbewegungen 105, 106, 110, 115 Massenumsiedlungen 26 Massenzustrom 105, 125, 127, 132 Menschenwürde 53, 156, 157 Migration 15, 133 ff. Mindestsicherung für nichterwerbstätige Unionsbürger 192 ff. Mindeststandard 23, 52, 53, 54, 74 Mindszenty, József, Kardinal 33 Nansen-Pässe 106 Nation 22, 25, 30, 70, 79 Neuansiedlung 55, 142, 144 Non-refoulement 46, 47, 49, 50, 65, 88, 107 Norddeutscher Bund 70, 71 Notstandsklausel 132 Optionspflicht 78 Optionsrecht 78, 79, 84 Ordre public 24 Palästinenser 98, 99, 107, 108 Paulskirchenverfassung 70

Personen- und Sachverzeichnis / List of Names and Subject Index Personalhoheit 34, 72, 73, 74, 77, 89 Petroni-Prinzip 184 f. Polen 15, 33, 132, 176, 177, 178 Qualifikationsrichtlinie 121, 124, 125, 126, 134 Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 123 refoulement 36, 46 ff., 61, 89 Refoulement-Verbot 36, 46 ff., 61, Religionsfreiheit 88, 162, 164, relocation 137, 144 Repressalie 54, 55, 74, 153 resettlement 142, 144 responsibility to protect 114 Retorsion 74 Roosevelt, Franklin D., US-amerikanischer Präsident 107 Rückführungsrichtlinie 131 Schengener Durchführungsübereinkommen 37, 39, 41 Schengen-Staaten 24 Schlepper 18, 136 sicherer Drittstaat 39 ff. sicherer Herkunftsstaat 42 ff. Sowjetunion 16, 67, 98 Sozialleistungen 58, 59, 120, 175, 176, 177, 178, 180, 182, 186, 187 ff., 188, 203, 204 Sozialleistungsmissbrauch 203 ff. Sozialleistungstransfer 178 ff. Sozialtourismus 175, 177, 206 Spätaussiedler 16 Staatenlose 22, 25, 26, 27, 32, 41, 65 ff., 67 ff., 71, 80, 84 ff., 91 ff., 113, 118, 124 ff. Staatenlosigkeit 67 ff., – de facto 68, 91 ff., 99, 100, 102 – de iure 84 ff. Staatsangehörigkeit 69 ff. – Erwerb 77 Staatsbürger 22, 67, 69, 70, 72, 73, 76, 80, 89, 97, 98, 99, 101, 206 Staatsvolk 69, 72, 73 Stalin, Josef Wissarionowitsch, sowjetischer Diktator 97 Statustheorie 72 steuerfinanzierte Familienleistungen 177 subsidiärer Schutz 124, 126 f.

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Territorialhoheit 73 Treuhandfonds 145 Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 76, 86 Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen von 1954 88 Übereinkommen von Dublin 40, 123 Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Rassendiskriminierung von 1966 86 Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit von 1961 87, 89, 95 Umsiedlung 26, 144 UN-Flüchtlingskommissariat 108 UN-Folterkonvention 1984 47, 50 UNHCR 31, 32, 39, 56, 67, 89, 90, 92, 94, 95, 97, 98, 99, 101, 102, 104, 139, 142, 145 United Nations Relief and Rehabilitation Administration 55 UN-Konvention über die Staatsangehörigkeit verheirateter Frauen von 1957 76, 81 unprotected persons 92, 100 Verbannung 26 Verbrechen gegen den Frieden 32, 36, 49, 127 Verbrechen gegen die Menschlichkeit 32, 36, 49, 127 Verfahrensrichtlinie 12, 124, 128 Vergemeinschaftung der Asylpolitik 123 Völkermord 106 vorübergehender Schutz 124, 127, 128 Washingtoner Staatenlosenübereinkommen von 1954 25, 27, 87 ff., 90 Wathelet, Melchior Generalanwalt 195 Wehrpflicht 52, 73 Wiener Diplomatenkonvention von 1961 33 Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention von 1954, Erstes 54, 58 Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention von 1963, Viertes 29 Zuzug in Sozialleistungssysteme 177 f., 179 ff. Zuzugsmotive 176 f., 178 Zwangs- und Pflichtarbeit 59