Deutschland und Europa seit 1990: Positionen, Kontroversen, Perspektiven [1 ed.] 9783666367687, 9783525367681

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Deutschland und Europa seit 1990: Positionen, Kontroversen, Perspektiven [1 ed.]
 9783666367687, 9783525367681

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Deutschland und Europa seit 1990 Positionen Kontroversen Perspektiven

Christina Morina (Hg.)

Marianne Birthler & Norbert Frei Ton Nijhuis & Philipp Ther im Gespräch

Vergangene Gegenwart. Debatten zur Zeitgeschichte | Band 1

Vergangene Gegenwart. Debatten zur Zeitgeschichte I

Deutschland und Europa seit 1990 Positionen, Kontroversen, Perspektiven Marianne Birthler & Norbert Frei Ton Nijhuis & Philipp Ther im Gespräch

Herausgegeben von Christina Morina

Vandenhoeck & Ruprecht

Die Veröffentlichung dieses Bandes wurde durch die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur gefördert.

Die Aufzeichnungen der diesem Buch zugrunde liegenden Gespräche sind im Internet aufzurufen unter https://vimeo.com/609582728

https://vimeo.com/609583372

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abruf ‌bar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © picture alliance/dpa/dpa-zb-zentralbild | Paul Zinken Korrektorat: Johanna Körner, Karlsruhe Satz: textformart, Göttingen Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2749-6198 ISBN 978-3-666-36768-7

Inhalt Einleitung 30 Jahre Gegenwart (Christina Morina) . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Teil 1 Fragen an die Deutsche Einheit 30 Jahre danach Marianne Birthler & Norbert Frei im Gespräch mit Christina Morina 17 Impuls I: Jenseits deutsch-deutscher Befindlichkeiten (Marianne Birthler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Impuls II: Über die »Zumutungen« des Umbruchs aus westdeutscher Sicht (Norbert Frei) . . . . . . . . . . . . . . . 23 Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Teil 2 Perspektiven auf die europäische Gegenwart Philipp Ther & Ton Nijhuis im Gespräch mit Benno Nietzel . . . . . . 65 Impuls I: Europa hat mehr als eine (vergangene) Zukunft (Ton Nijhuis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Impuls II: Neoliberale Reformen, die antiliberale Gegenrevolution und die Herausforderung der Pandemie (Philipp Ther) . . . . . . . 72 Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 Kommentar Ein transatlantischer Blick auf eine deutsche Diskussion (Konrad H. Jarausch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Inhalt

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Einleitung

30 Jahre Gegenwart Christina Morina

Jahrestage kommen und gehen. Manchmal kommen sie gelegen, manchmal völlig ungelegen. Der 30. Jahrestag der Deutschen Einheit im Herbst 2020 fiel mitten in die zweite Welle der Corona-Pandemie, wodurch die üblichen Gedenk- und Debattenrituale, die inzwischen zu einer eigenen Tradition geworden sind, gründlich durcheinandergerieten. Doch in paradoxer Weise haben diese außergewöhnlichen Umstände eine unerwartet klare Sicht auf die politischen und gesellschaftlichen Grundlagen der Bilanzierungen und Ausblicke ermöglicht. Gerade weil viele der öffentlichen Feierlichkeiten in kleinem Rahmen oder als digitale Formate stattfinden mussten, ist die Vielfalt und Reichhaltigkeit der inzwischen vorhandenen wissenschaftlichen und politisch-kulturellen Auseinandersetzungen mit der jüngsten Zeitgeschichte deutlicher denn je zu Tage getreten. Deutschland in Europa, Deutschland und Europa, haben sich seit 1990 fundamental gewandelt. Der hier unternommene Versuch, die Entwicklung in den 30 Jahren seit der Vereinigung in zeithistorischer Perspektive zu rekapitulieren und zu bewerten, ist von der Einsicht getragen, dass diese gerade vergehende Gegenwart noch keineswegs Geschichte ist. Zugleich wird sie – und darin steckt ein enormes geschichtswissenschaftliches und gesellschaftliches Erkenntnispotential  – zunehmend Gegenstand historischer Analysen und ist nicht mehr länger vorrangig ein Feld sozial- und politikwissenschaftlicher Forschung oder publizistischer Betrachtung. Der Titel der Reihe, in der dieser erste Band erscheint, Vergangene Gegenwart, öffnet in leiser Anspielung auf Reinhart Kosellecks Studien zum Zukunftsdenken vergangener Gesellschaften einen dezidiert jetztzeitigen Blick auf die Gegenwart als Zeitgeschichte. Was ist damit gemeint ? Koselleck hat mit Blick auf die Neuzeit argumentiert, dass in dem 30 Jahre Gegenwart

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Maße, in dem »die eigene Zeit als eine immer neue Zeit, als ›Neuzeit‹ wahrgenommen wurde, die Herausforderung der Zukunft immer größer geworden ist.«1 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach dem Ende des Zeitalters der erschöpften Utopien, scheint jedoch die Gegenwart zur größten Herausforderung geworden zu sein. Diese »Banngewalt des Jetzt«2 ist vielleicht nicht zuletzt deshalb so mächtig, weil vom Gelingen der Gegenwart abhängt, wie lange es eine – vielfach nur noch als Katastrophenszenario denkbare  – Zukunft überhaupt noch geben kann. Dafür steht paradigmatisch der völlig ironiefreie Titel des Buches, mit dem die erste grüne Kanzlerkandidatin der deutschen Geschichte, Annalena Baerbock, in den Bundestagswahlkampf 2021 gezogen ist: »Jetzt«. Vor dem Hintergrund dieser allgegenwärtigen Gegenwart scheint es wiederum ebenso folgerichtig wie klärungsbedürftig, in welchem Maße auch die Zeitgeschichte, die »Problemgeschichte der Gegenwart«3, als ein Feld betrachtet werden kann und sollte, das (neben vielen anderen) mit dazu beiträgt, Gegenwart zu »denken«.4 In diesem kritischen Verständnis der äußerst problem- und konfliktreichen Gegenwart als jetztzeitiger Vergangenheit, und damit zugleich als zeithistorischer und gesellschaftlicher Herausforderung, nähern sich die beiden hier dokumentierten Debatten der Geschichte Deutschlands in Europa seit 1990 auf zwei Ebenen: Einerseits geht es um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten als Umbruchsprozess, den viele der damals erwachsenen Zeitgenossen als äußerst geballten, vielschichtigen Erfahrungsschub wahrgenommen haben. Zwar wurden 1989/90 stets auch Fragen der zukünftigen Gestalt des vereinten Deutschlands verhandelt, doch in dieser verdichteten Zeit rückte vorübergehend die Gegenwart und ihre Deutung, ihr unmittelbares Begreifen und Bewältigen, in das Zentrum der Aufmerksamkeit, und für einige Monate schien die Gegenwart alle Fragen von Vergangenheit und Zukunft zu überwölben. Andererseits ist diese damalige Gegenwart inzwischen Teil unserer Vergangenheit und damit immer weniger ein Erfahrungsgegenstand, sondern zunehmend ein Feld der distanzierteren Beobachtung und historiografischen Analyse. Nach Ablauf der 30-Jahres-Frist 8 30 Jahre Gegenwart

öffnen sich für die Zeitgeschichte mit dem Zugang zu staat­lichem Schriftgut von nun an die Jahre ab 1990  – allmählich, aber kontinuierlich und eben gesamtdeutsch.5 Für die historische Forschung wirft diese Zeit einige höchst komplexe Fragen auf, die nicht selten durch die Konflikte unserer Gegenwart in ganz besonderer Weise aufgeladen sind. Dieses Problem- und Konfliktpotential wurde gerade im ­Corona-bedingt stark reduzierten Gedenkbetrieb des Herbstes 2020 sehr deutlich. Statt eines großen »Bürgerfestes« am 3. Oktober konnte man in Potsdam, der Hauptstadt des diesmaligen Gastgeberbundeslandes, vier Wochen lang die Freiluftausstellung »Einheits-Expo« besuchen. Am Eingang zu dieser im Stil einer Tourismusmesse gehaltenen Schau deutscher Länder, Institutionen und historischer Momente sollte ein riesiges schwarz-rot-goldenes Pappmaché-Herz das inzwischen »Ziemlich einig Vaterland«6 symbolisieren. Dasselbe Herz zierte die Titelseite des Berichts der Kommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«, die 2019 im Bundesinnenministerium eingerichtet worden war. Diese ausnahmsweise einmal mehrheitlich mit Ostdeutschen besetzte Kommission hatte den Auftrag, Handlungsempfehlungen zur »Ausgestaltung eines zeitgemäßen Jubiläumskonzepts« zu unterbreiten und »Bürgerdialoge« zu veranstalten, die »sowohl das Bewusstsein über das Erreichte stärken als auch bestehende Herausforderungen und schmerzliche Erfahrungen offen thematisieren sollten«. Schließlich sollte sie auch die »Idee eines Zentrums in Ostdeutschland« diskutieren, »das sich im Geiste der Freiheitsbewegung von 1989 dem weiteren Zusammenwachsen von Ost und West im internationalen Kontext widmet«. Eine ganze Reihe der geplanten Aktivitäten konnten auch hier aufgrund der Corona-Pandemie nicht umgesetzt werden, doch der im Dezember 2020 vorgelegte Kommissionsbericht hatte es vor allem in geschichtspolitischer Hinsicht in sich: Zur Stärkung des demokratischen »Stolzes« des Landes sollte der 9. November zum »nationalen Gedenktag« erhoben werden, womit man die gedenkpolitischen Grundachsen der Bundesrepublik klar verschieben würde  – weniger »1938«, mehr »1918« und »1989«. Überhaupt mehr »Schwarzrotgold«: Zur Erinnerung an die legendäre Leipziger Großdemonstration vom 30  Jahre Gegenwart

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Oktober 1989, schlug die Kommission weiterhin vor, dass rund um den 9. Oktober als »Tag der Demokratie« zukünftig öffentliche Einrichtungen in den Bundes- und EU-Farben erstrahlen, am 3. Oktober Fahrgäste mit Kleidung in den Nationalfarben ermäßigt Busfahren können und in den Schulen fortan nicht nur das Grundgesetz, sondern auch die Nationalflagge verteilt werden.7 Auch wenn offen ist, ob und in welcher Form diese Vorschläge, gepaart mit einigen vagen strukturpolitischen Empfehlungen, die Angela Merkel im Frühjahr 2021 als »sehr, sehr sinnvoll«8 bezeichnete, umgesetzt werden, zeigt diese Kommissionsarbeit exemplarisch sowohl die perspektivenreichere Offenheit als auch die hohe Ambivalenz und Widersprüchlichkeit des derzeitigen einheitsbezogenen Entwicklungs- und Diskussionstandes. Doch noch einmal zurück zu den Oktober-Feierlichkeiten im Herbst 2020. Denn obwohl oder gerade weil das große Bürgerfest ausfiel, mutete der öffentliche Diskurs umso realistischer an: Eine Mischung aus Zuversicht angesichts des Erreichten und Verdruss über die mangelnde Fähigkeit, dies auch anzuerkennen, durchzog die meisten Zeitungskommentare ebenso wie eine Vielzahl aufwändig gestalteter Sonderseiten, Hochglanzmagazine und Talkshowdiskussionen.9 Ambivalent waren auch die wie üblich zum Anlass gehaltenen Reden von Bundespräsident und Bundesratspräsident. Frank-Walter Steinmeier bemühte sich um eine wirklichkeitsnahe Sicht auf die 30-jährige Gegenwart: »Ossis und Wessis gibt es weiterhin, aber diese Unterscheidung ist für viele längst nicht mehr die entscheidende. Durch das Zusammenwachsen von Ost und West, durch Zuwanderung und Integration ist unser Land in den letzten dreißig Jahren vielfältiger und unterschiedlicher geworden.«10 Diese mitunter schwierige, spannungsgeladene Vielfalt als »Aufgabe« zu meistern, sei nicht einfach. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke fasste in seiner Rolle als Bundesratsvorsitzender den Stand der politischen Diskussion anno 2020 mit der salomonischen Formel zusammen: »Die Deutsche Einheit ist ein großer Erfolg und dennoch ist sie keine reine Erfolgsgeschichte.«11 Vergleichbar durchwachsen war schließlich auch die dem Jahrestag gewidmete Bundestagsdebatte. Sie fand am 2. Oktober wegen eines EU-Sondergipfels ohne die Bundeskanzlerin 10 30 Jahre Gegenwart

statt12 und mutete mitunter wie ein Kammerstück über eine ewig zerstrittene Hausgemeinschaft an. Entsprechend das mediale Resümee: »Mit einer emotionalen Debatte haben Abgeordnete im Bundestag an die Friedliche Revolution in Ostdeutschland erinnert und erklärt, was nach 30 Jahren Deutsche Einheit noch zu tun sei. Finanzminister Scholz sprach von einer ›Erfolgsgeschichte‹, Co-AfD-Bundessprecher Chrupalla forderte eine ›Sonderwirtschaftszone Ost‹ und Linken-Fraktionschef Bartsch nannte es einen ›Skandal‹, wie wenig Ostdeutsche in wichtigen Positionen seien. Unionsfraktionschef Brinkhaus entschuldigte sich bei den Ostdeutschen«, so etwa die Bilanzierung des MDR .13 Bemerkenswert daran war, dass ostdeutsche Abgeordnete aller Fraktionen über ihre (oft eher kurzen) DDR-Biografien sprachen und dabei von Erfahrungen berichteten, die über die normalerweise geltenden Parteiengrenzen hinweg durchaus vergleichbar  – oder zumindest aufeinander beziehbar  – waren. In der öffentlichen Resonanz spielten diese Teile der Debatte jedoch bezeichnenderweise kaum eine Rolle. Bemerkenswert an dieser Debatte war zudem, dass der aus Westfalen stammende CDU / C SU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus dafür um Entschuldigung bat, dass »wir im Westen« zu spät »kapiert« und »vielleicht zu lange nicht gesehen haben«, wie schwer der Nachwendealltag für viele Ostdeutsche war. Er bedanke sich bei den »vergessenen Helden der Wiedervereinigung«, deren Leben von so vielen Problemen geprägt gewesen sei, »ob das nun Arbeitslosigkeit, der Verlust der eigenen Biografie oder auch die Legitimation der Identität war.«14 Die Bemühtheit, ja Unbeholfenheit dieser Rede deutet darauf hin, dass hier Versäumnisse zwar benannt, aber noch immer nicht wirklich durchdrungen werden. Der Redebeitrag des sozialdemokratischen Bundes­ finanzministers zeichnete sich ebenso wenig durch ein überzeugendes Problembewusstsein aus. Olaf Scholz, der bei dieser Gelegenheit erwähnte, er habe in den 1990er Jahren als junger Anwalt »im Osten Deutschlands viele Betriebsräte und Gewerkschaften vertreten«, wies hinsichtlich der anhaltenden Unterschiede im Lohn- und Rentenniveau (beinahe wie im Selbstgespräch) darauf hin, dass es doch »spannend« sei und man »noch viel stärker erzählen« müsse, dass die zwei »größten sozialpoliti30  Jahre Gegenwart

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schen Maßnahmen der letzten beiden Legislaturen [Grundrente und Mindestlohn] helfen, ostdeutsche Biografien stärker zu wertschätzen und Unterschiede zu beseitigen.«15 Tatsächlich war eine solche Zuspitzung oder Lesart dieser Maßnahmen seitens der Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt zu hören – und auch gar nicht zu erwarten, denn die Angleichung der verbleibenden strukturellen Ost-West-Unterschiede war ja gerade nicht ihr zentraler Anspruch und Sinnzusammenhang. Bemerkenswert war aber auch der Beitrag der thüringischen SPD -Abgeordneten Daniela Kolbe, die 1990 zehn Jahre alt war und sich in der Debatte weit abseits der üblichen Frontlinien für eine andere ostdeutsche Selbstwahrnehmung und Partizipationsperspektive aussprach. »Manche Ostdeutsche haben sich im Verletztsein ganz schön eingerichtet und manche Westdeutsche auch ganz schön in einer gewissen Gleichgültigkeit«, gab sie zunächst zu Protokoll. Dann mahnte sie vor allem die Ostdeutschen: »[H]ört zu, wenn die Leute aus dem Ruhrpott von dem Strukturwandel, den sie durchgemacht haben, erzählen, von den maroden Kommunen und den leeren Kassen, das ist ja ein Leichtes für jeden Ostdeutschen, sich da hineinzuversetzen.« Vor allem müssten sie sich viel aktiver um ihre Interessenvertretung im Rahmen der bestehenden Mitbestimmungsmöglichkeiten kümmern, sich zum Beispiel stärker in den Gewerkschaften engagieren. »Macht da endlich mit! Werdet mutig und kämpft für eure eigenen Rechte!«16 Die strukturellen Ursachen vieler Problemzusammenhänge in Ostdeutschland, die Kolbe hier anspricht  – die mangelnde Präsenz von und Mitgliedschaft in Parteien, der niedrige Organisationsgrad von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern oder die geringere Bereitschaft, die ganze Breite der im Verfassungsgefüge vorhandenen Partizipationsmöglichkeiten zu nutzen  –, spielen in den politischen Entscheidungsprozessen und gesellschaftlichen Diskussionen rund um die Vereinigungsfolgen noch immer eine viel zu geringe Rolle.17 Bemerkenswert war diese Bundestagsdebatte schließlich auch deshalb, weil sie eine nahezu ausschließlich nach innen gerichtete Debatte war, die der Vielfalt der Gesellschaft kaum Rechnung trug: Keine einzige migrantisch geprägte Stimme kam 12 30 Jahre Gegenwart

beziehungsweise meldete sich in dieser Aussprache zur Entwicklung Deutschlands seit 1990 zu Wort. Insgesamt lässt sich aus dieser kleinen Rückschau auf den merkwürdigen Gedenkherbst 2020 schließen, dass in den innerdeutschen Debatten über die Geschichte der Vereinigung und die Transformation Ostdeutschlands eine zwar durchaus kontroverse, aber letztlich produktive Unruhe und prinzipielle Offenheit für viele, wenn auch längst nicht alle, hierbei re­ levanten Perspektiven herrscht. Auch wenn der gesamte politische Diskurs noch immer zutiefst durchdrungen ist von dem Bedürfnis, die Lage der vereinten Nation am Grad der bereits erreichten (und noch zu erreichenden) Angleichung und Vereinheitlichung zu messen18, fallen die jubiläumsbezogenen Zeitdiagnosen differenzierter und problemfokussierter aus. Das ist nicht zuletzt wohl eine Folge der seit 2015 stark zunehmenden politischen Polarisierung und demokratischen Verunsicherung, mit dem sich »der problematische Osten« – gewissermaßen als eine Gegenwart, die nicht vergehen will – nachhaltig in die politische Kultur der gesamten Republik eingeschrieben hat.19 Die umrissene produktive Unruhe und prinzipielle Perspektiven­ offenheit treten noch deutlicher zu Tage, wenn man parallel zum politischen Geschehen die zeithistorische Forschung der letzten Jahre in den Blick nimmt. Anders als noch zum 20. Jahrestag von Mauerfall und Einheit 2009/2010 fällt diese im 30-Jahre-Reigen weniger durch standardisierende Gesamtdarstellungen oder zuversichtgesättigte Meistererzählungen20 auf, sondern durch problematisierende Zugriffe, transnationale oder kultur­geschichtliche Frageperspektiven und deutlich kritischere transformations- und demokratiegeschichtliche Ansätze (und auch das jüngste Standardwerk zur deutsch-deutschen Teilungsgeschichte zeichnet sich durch deutungshoheitliche Zurückhaltung aus21). Allein in den letzten zwei, drei Jahren sind wegweisende zeithistorische – d. h. empirisch fundierte, auf Primärquellenforschung beruhende – Studien erschienen, so dass das Feld der Vereinigungsgeschichte ab 1990 und deren Deutung nicht länger nur mehr der Politik- und Sozialwissenschaft und Essayistik überlassen bleibt.22 30  Jahre Gegenwart

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Dabei kommen die Bedingungen, Dynamiken, Logiken und Folgen der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Transformation in den Blick; die diversen Akteure, Expertinnen und Erfüllungsgehilfen von der Bundes- und Behördenebene23 über die Gewerkschaften24 bis hin zu lokalen, höchst spannungsreichen Aushandlungsprozessen etwa in Bezug auf Wohn- und Eigentumsverhältnisse25 sowie ideen-, verfassungsund demokratiegeschichtlichen Fragen – in ost-, west- und gesamtdeutscher Perspektive.26 Diese Vervielfältigung und Erweiterung der Perspektiven, gerade auch in die westdeutsche und europäische Zeitgeschichte hinein, birgt ein beträchtliches Erkenntnispotential, etwa in Bezug auf die Demokratie- und Gesellschaftsgeschichte der »alten« Bundesrepublik. Schaut man sich beispielsweise näher an, mit welchen Demokratie- und Wirtschaftsordnungsvorstellungen westdeutsche Lehrer, Beamtinnen und Wirtschaftsberater ab 1990 nach Ostdeutschland kamen, um dort diese »alte«, für bewährt erachtete Ordnung – weitgehend unverändert  – zur »neuen« Ordnung zu machen, erlaubt dies auch vielfältige Rückschlüsse über die längere bundes­republikanische Gesellschaftsgeschichte. Die inzwischen auf breiter Front in die Kritik geratene Erfolgserzählung von der »geglückten Demokratie« (Edgar Wolfrum) dürfte dabei sicher weitere Blessuren erleiden. Für Anhänger einer kritischen Geschichtsschreibung wäre dies freilich kein bedauerns-, sondern vielmehr ein begrüßenswerter Umstand. Dennoch ist die produktive Unruhe und Vielfalt auch in der zeithistorischen Forschung noch kein Beleg dafür, dass Zeitgeschichte nach 1990 nun vorrangig als integrierte deutsche Nachvereinigungsgeschichte geschrieben wird  – womit sie, so meine ich, ihrer (erhofften) Rolle als Orientierungswissenschaft ein Stück gerechter würde. Es bleibt zu beklagen, mit welcher Selbstverständlichkeit ostdeutsche Aspekte der deutschen Nachkriegs- und Zeitgeschichte unterbeleuchtet oder völlig ausgeblendet bleiben. So finden gerade in Büchern, die seit 2019 im Zusammenhang mit den runden Jahrestagen der Weimarer Verfassung und des Inkrafttretens des Grundgesetzes erschienen und zudem noch mit dem Anspruch eines Standardwerks versehen sind, spezifisch ostdeutsche Demokratie- und Verfas14 30 Jahre Gegenwart

sungserfahrungen und deren konkrete wie übergeordnete Relevanz im gesamtdeutsch-europäischen Kontext so gut wie keine Berücksichtigung.27 Dieser Befund erscheint in geschichtskultureller Perspektive als noch problematischer als aus rein zeithistoriografischer Sicht. Denn im Laufe von 30 Jahren »Berliner Republik«28 hat sich die »Sternstunden«-Erzählung der Revolution von 1989 als das Leitmotiv der erinnerungskulturellen Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte etabliert; sowohl der 17. Juni 1953 als auch der 13. August 1961 spielen eine im Vergleich dazu untergeordnete Rolle.29 Anders als das Gedenken an die nationalsozialistische Diktatur, das im Laufe der Jahrzehnte eine immer dunklere Konturierung gewonnen hat, scheint die Auseinandersetzung mit der Geschichte der SED -Diktatur vom Dunklen ins Hellere zu verlaufen. Dies mag einerseits eine natürliche (und gar notwendige)  Begleiterscheinung des ostdeutschen Demokrati­ sierungsprozesses sein: In dem Maße, in dem demokratische Widerstände und Auf‌brüche öffentlich debattiert, repräsentiert und erinnert werden, kann auch die sich hierfür engagierende Gesellschaft für demokratisiert gehalten werden. Andererseits hat diese Entwicklung zweifellos zur Folge, dass eine ganze Reihe essentieller Fragen in Bezug auf die breiteren gesellschaftlichen Grundlagen des sogenannten Staatssozialismus, das alltägliche (Aus-)Handeln jedes und jeder Einzelnen, bis heute unbeantwortet, wenn nicht gänzlich ungestellt bleiben.30 Schließlich unterstreicht auch der jahrelange Streit um einen zentralen Erinnerungsort  – das Berliner »Freiheits- und Einheitsdenkmal«  – und die mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus gerade in Ostdeutschland buchstäblich ins Wanken geratene geschichtspolitische Logik dieser »Einheitswippe« die hier nachgezeichnete produktive Unruhe und Offenheit der innerdeutschen Debatten. Zwar wird das Denkmal nun endlich gebaut; es markiert aber sicher nicht den Schlusspunkt einer an Unwägbarkeiten überreichen Entwicklung. Die vielstimmigen, schwankenden 30 Jahre Gegenwart bleiben politisch, gesellschaftlich und geschichtswissenschaftlich betrachtet eine veritable Herausforderung.

30  Jahre Gegenwart

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Die im Folgenden dokumentierte, von allen Gesprächspartnern für dieses Buch leicht überarbeitete Debatte zur Zeitgeschichte beschäftigt sich eingehend mit dieser Herausforderung. Die eben skizzierten historischen und historiografischen Entwicklungen kommen darin vielperspektivisch zur Sprache und finden einen mitunter auch ganz anders akzentuierten Widerhall. Die Debatte unterteilt sich in zwei Teile: Im ersten Teil diskutieren Marianne Birthler und Norbert Frei aus einer vorrangig innerdeutschen Perspektive über »Fragen an die Deutsche Einheit 30 Jahre danach«. Im zweiten Gespräch geht es zwischen dem Amsterdamer Politikwissenschaftler Ton Nijhuis und dem Wiener Historiker Philipp Ther um europäische Perspektiven auf die vergangene Gegenwart. Beide Gespräche werden jeweils durch Impulse der Diskutanten eingeleitet, die den Ausgangspunkt für die anschließenden Diskussionen bilden. Marianne Birthler und Norbert Frei beginnen ihre Impulse beide mit sehr persönlichen Rückblenden; der erfrischend unverhohlene »westdeutsche« Blick, den Norbert Frei zur Diskussion stellt, ist in den innerdeutschen Debatten über die Relevanz jener Jahre selten so offenherzig und auseinandersetzungsfreudig zu hören oder zu lesen. Ton Nijhuis und Philipp Ther wählten jeweils – teils bedingt durch ihre Herkunft, vor allem aber begründet durch ihre wissenschaftlichen Expertisen – eine Art Außenbeobachterperspektive mit erhellenden und durchaus auch überraschenden Einschätzungen der ost-, west- und gesamtdeutschen »Gemenge­ lage«, die immer stärker europäisch und global geformt und entsprechend zu historisieren ist.

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Teil 1

Fragen an die Deutsche Einheit 30 Jahre danach Marianne Birthler & Norbert Frei im Gespräch mit Christina Morina

Zur Einführung In diesem ersten Gespräch geht es einerseits um die Einheit als erfahrenen und in diesem Sinne noch sehr gegenwärtigem Umbruchsprozess. Andererseits ist diese damalige Gegenwart inzwischen selbst Teil unserer Vergangenheit und damit zunehmend auch ein Feld historischer Betrachtung und Analyse. Zeithistoriker und Zeithistorikerinnen sehen sich mit Blick auf diese Phase mit einigen höchst komplexen politik-, wirtschafts-, sozial- und kulturgeschichtlichen Fragestellungen konfrontiert, die dazu nicht selten durch aktuelle Problemlagen gerahmt und aufgeladen werden  – etwa in Bezug auf Aufstieg und Verfestigung des Rechtspopulismus insbesondere in Ostdeutschland Fragen an die Deutsche Einheit

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oder die Diskussion um ein zeitgemäßes staatliches Gedenken an die Diktatur- und Demokratiegeschichte. Eben jenen Fragen wollen wir uns im Folgenden widmen. Vor unserer Diskussion stehen zwei kurze Impulse, in denen zunächst Marianne Birthler und anschließend Norbert Frei ihre Sicht auf die Ereignisse seit 1990 schildern – aus ganz persönlicher Perspektive, aber auch mit Blick auf die praktischen, geschichtswissenschaftlichen und -politischen Zusammenhänge, in denen sie jeweils wirken. * * *

18 Fragen an die Deutsche Einheit

Impuls I: Jenseits deutsch-deutscher Befindlichkeiten (Marianne Birthler)

Der 30. Jahrestag des Mauerfalls vor einem Jahr bildete – wenn man das mal als Event sieht: mit Licht-Spektakeln, Volksfesten, Festreden und Tagungen – so etwas wie den politischen Höhepunkt des Jahres. Interessant war, dass es weniger um den Fall der Mauer und das Ende der DDR ging. Vielmehr standen drei Jahrzehnte deutsche Einheit im Mittelpunkt. Deutsch-deutsche Befindlichkeiten. Und die Frage, was denn eigentlich da im Osten los ist. Worüber, fragte ich mich damals besorgt, würden wir ein Jahr später, also am 30. Jahrestag der Einheit, noch reden können? So gesehen hat es sein Gutes, dass der 3. Oktober 2020 – Corona sei Dank  – auf‌fallend still verlief und überwiegend in den Medien stattfand. Seit drei Jahrzehnten wird die sogenannte innere Einheit – ein fragwürdiger Begriff – nun einmal ganz selbstverständlich am Puls der Ostdeutschen gemessen. Dabei spielen die Worte noch immer und schon eine zentrale Rolle. Mein Gott, sieht das hier noch immer »ostig« aus. Stimmt. Aber nach Erfurt müssen Sie mal fahren, da spüren Sie schon gar nicht mehr, dass das mal Osten war. Irgendwie merkt man dem schon noch an, dass er aus dem Osten kommt. Na ja, aber viele Jüngere haben das schon drauf. So wie die auftreten und aussehen, könnten sie auch aus Hamburg kommen. Der Westen ist also Maß und Mitte. Aber genau das wollte die Mehrheit der Ostdeutschen damals. Im Westen ankommen und leben, einen bundesdeutschen Pass besitzen, nach »Malle« fliegen oder durch die Welt reisen. Frei sein, nicht bevormundet und überwacht werden. Gleich sein und für ehrliche Arbeit ehrliches Westgeld bekommen, brüderlich willkommen geheißen werden, wertgeschätzt werden und am Wohlstand teilhaben. Mit dem Pass hat es geklappt. Für die meisten früher oder später auch das mit der Arbeit und dem Geld. Ein bisschen schwieriger war es schon mit der Wertschätzung und dem Gefühl der Zugehörigkeit. Und vor allem: Wo war das eigene bisherige Leben geblieben? Zählte es überhaupt noch? Und durfte man zu Recht Fragen an die Deutsche Einheit

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zufrieden damit oder sogar stolz darauf sein? Woher kam die weitverbreitete Unzufriedenheit, der Frust, die Enttäuschung? Zumeist werden die Ursachen dafür in den 1990er Jahren gesucht und nicht in den Jahrzehnten davor. Fast scheint es einen Riss zu geben zwischen jenen Wissenschaftlerinnen und Pu­ blizisten, die sich bei diesem Thema auf die Verwerfungen nach 1990 konzentrieren, und jenen, die vor allem auf 40 Jahre DDR verweisen. Tatsächlich hatten die rasend schnellen Veränderungen der 1990er Jahre in fast allen gesellschaftlichen Bereichen gravierende Brüche in den Berufsbiografien der Ostdeutschen zur Folge. Weil ihre Ausbildung und ihre Studienabschlüsse für den bundesdeutschen Arbeitsmarkt nicht taugten, weil ihre Arbeitsplätze nicht mehr existierten oder weil sie in Konkurrenz mit aus dem Westen stammenden Bewerbern nicht mithalten konnten. Das wiederum lag an gänzlich anderen Berufserfahrungen, einer Arbeits- und Kommunikationskultur, die sich von der des Westens fundamental unterschied. Plötzlich wieder ganz am Anfang zu stehen mit dem Gefühl, dass 20 oder 30 Jahre Berufs­ erfahrung nichts mehr wert sind – das ist schwer in einem Alter, in dem andere die letzten Stufen einer erfolgreichen Karriere­ leiter erklommen haben und sich eines entsprechenden Einkommens und Ansehens erfreuen. Durchschnittlich verdienen die Ostdeutschen 20 Prozent weniger als ihre Landsleute im Westen und verfügen über weniger als die Hälfte an Geld und Immobilienvermögen. Und dort, wo in Deutschland Entscheidungen fallen, also die großen, wirklich wichtigen Entscheidungen, kann man die Ostler mit der Lupe suchen. Sie sind an der Spitze großer Unternehmen, überregionaler Medien, der Universitäten, Verwaltungen, Verbände, Kirchen oder Gewerkschaften deutlich unterrepräsentiert oder überhaupt nicht zu finden. Wer von den heute existierenden Ungerechtigkeiten und vor allem den mentalen Mauern zwischen Ost und West spricht, darf aber nicht die vier Jahrzehnte der Teilung vernachlässigen. Bis 1990 hatten sich zwei Gesellschaftssysteme entwickelt, die politisch, wirtschaftlich und ideologisch extrem gegensätzlich waren. Das hatte natürlich auch seine Auswirkungen auf die Einstellungen und Leben der Einzelnen. 20 Fragen an die Deutsche Einheit

Im Osten leben bis heute Millionen Menschen, die die meisten Jahre ihres Lebens hinter realen und ideologischen Mauern verbracht haben. Viele von ihnen schätzen noch immer die Freiheit weniger als die vermeintliche Sicherheit der Diktatur und die Berechenbarkeit des Alltags. Wie fast jedes autoritäre System entlastete auch die SED -Diktatur ihre Untertanen von Verantwortung und den Risiken und Anstrengungen, die das Leben in einem freien Land mit sich bringt. Wenn man das hinnahm oder sogar gut fand, lebte man vergleichsweise unbehelligt. Wer sich nicht bewegt, spürt seine Ketten nicht. Kaum jemand im Osten Deutschlands wünscht sich heute, wirklich wieder in der DDR zu leben. Aber die Sehnsucht nach Sicherheit und die Angst vor Freiheit und Verantwortung sind immer noch spürbar. Auch bezüglich der Frage, wie in beiden deutschen Staaten mit der NS -Zeit umgegangen wurde, verfolgten die Bundesrepublik und die DDR völlig verschiedene Wege. Im Westen dauerte es mehr als eine Generation, bis Holocaust, Kriegsverbrechen und die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen zum öffentlich anerkannten Thema wurden. Erst in der letzten Phase der alten Bundesrepublik hatte sich dann aus der Bürgergesellschaft heraus eine Erinnerungskultur entwickelt, die diese Bezeichnung verdient. Die DDR hingegen verstand sich seit ihrer Gründung als antifaschistischer Staat. Als Kinder legten wir Blumen an den Wohnhäusern nieder, an denen sich Gedenktafeln für ermordete Widerstandskämpfer befanden. Freilich handelte es sich bei ihnen ausnahmslos um Kommunisten. Sozialdemokratischer, erst recht bürgerlicher oder christlich motivierter Widerstand spielten kaum eine Rolle. Auch vom Holocaust war etwa an den Schulen selten die Rede. Der Antifaschismus der DDR war zum politischen Mythos geworden und zu einer mächtigen Waffe im Klassenkampf. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hieß die Mauer dann ja auch »antifaschistischer Schutzwall«. Die Nazi-Täter, so lernte ich in der Schule, waren inzwischen aus der DDR geflohen und lebten unbehelligt im Westen. Die Ostdeutschen waren die Guten. Hitler war Westdeutscher. Wie sollte unter diesen Umständen eine ehrliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte verbundenen Schuld und Verantwortung erfolgen? Fragen an die Deutsche Einheit

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Ich habe bewusst zwei Aspekte deutlich hervorgehoben. Ich könnte noch eine ganze Reihe weiterer aufzählen, die ich jetzt aber aus Zeitgründen nur stichwortartig nennen will, so dass deutlich wird, welch immense Unterschiede vor der Revolution ’89 existierten. Da ist zum einen die desolate wirtschaftliche Lage in der DDR und der Zustand der Industrie. Dann gab es Millionen von Menschen, die in den zurückliegenden Jahrzehnten die DDR oder zuvor die Sowjetische Besatzungszone verlassen hatten. Mit ihnen ist sehr viel Energie und Innovation aus diesem kleinen Land verschwunden. Und schließlich gab es so etwas wie einen allgemeinen gesellschaftlichen Modernisierungsrückstand. Als Beispiel möchte ich das Jahr 1968 nennen, das weltweit zur Chiffre geworden ist für Auf‌bruch. Diese Bewegung und die Reformen, die in der Folge angegangen wurden, haben die Bundesrepublik grundlegend verändert. So etwas hat in Ostdeutschland nicht stattgefunden. Hinzu kommt eine gewisse Provinzialisierung durch Abgeschlossenheit, Reiseverbote, das Fehlen einer streitbaren Öffentlichkeit. Sehr wichtig erscheint mir auch die Gewöhnung an Unterordnung und Anpassung. Das bipolare Denken in Freund-Feind- und Richtig-falsch-Kategorien. Und so etwas wie ein Selbstverständnis als Opfer. Dieses lässt sich fast ungebrochen durch all die Jahre konstatieren  – aus der Zeit, in der man sich als Opfer der Nazis, als Opfer des Krieges, als Opfer der Alliierten und später als Opfer der SED betrachtet hat. Wir sind die Benachteiligten, so das allgemeine und lange gehegte Selbstbild, das im Grunde bis heute ungebrochen ist. Und jetzt kann man auch wieder Opfer sein, nämlich ein Opfer des Westens. Trotz aller Defizite gilt die deutsche Einheit – und das zu Recht – als Erfolgsgeschichte. Ein gigantisches Sanierungsprogramm hat die zerfallenden Innenstädte wieder auferstehen lassen. Dort, wo Seen und Flüsse durch industriellen Dreck in stinkende Gewässer mit giftig schillernder Oberfläche verwandelt worden waren, kann man heute wieder schwimmen gehen. Und das Schönste und Wichtigste: Die einst hinter der Mauer gefangenen 22 Fragen an die Deutsche Einheit

Ostdeutschen reisen durch die Welt und müssen sich auf der Straße nicht mehr ängstlich umschauen, bevor sie einen politischen Witz erzählen. Angesichts der Tatsache aber, dass die Demokratie in vielen Ländern der Welt, auch in Deutschland, schon fast in die Defensive geraten ist, müssen wir einige Befunde, wie ich meine, sehr ernst nehmen. Während sich drei Viertel der Westdeutschen in der Bundesrepublik politisch zu Hause fühlen, bejaht dies nur knapp die Hälfte der Ostdeutschen. Wahlergebnisse und Umfragen zeigen, dass das Verhältnis der Ostdeutschen zur Demokratie brüchig ist. Die Zustimmungswerte zur Regierung und zu demokratischen Institutionen unterscheiden sich deutlich von denen im Westen. Während im Osten deutlich mehr als die Hälfte der Menschen weniger oder gar nicht zufrieden mit der Demokratie in der Bundesrepublik ist, sind es im Westen nur etwas mehr als ein Drittel.31 Inzwischen müssen wir uns gar nicht nur auf Umfragen und Wahlergebnisse verlassen, wir brauchen nur bei verschiedenen Gelegenheiten auf die Straße schauen. Ich denke da beispielsweise an die »Corona«-Demonstration vor dem Reichstag. Ich fürchte, die Frage, warum dieses Land bis heute auf un­ terschiedliche Weise tickt, wird uns noch eine ganze Weile be­ gleiten. * * *

Impuls II: Über die »Zumutungen« des Umbruchs aus westdeutscher Sicht (Norbert Frei)

Es heißt ja oft, der Zeitzeuge sei eine Erscheinung der jüngsten Vergangenheit, die stark durch Medialisierung und die sogenannte Public History geprägt ist. Ich würde dem entgegenhalten, dass die ältere Zeitgeschichte den Begriff sehr wohl kannte  – ich kann das sogar bezeugen, denn wenn ich diese ältere Zeitgeschichte in Ihren Augen nicht ohnehin verkörpere, dann bin ich doch zumindest in dieser und durch diese wissenFragen an die Deutsche Einheit

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schaftlich sozialisiert worden. Und so möchte ich daran erinnern, dass die nach 1945 entstandene Zeitgeschichtsforschung in der professionsinternen Kommunikation für die Figur des Zeitzeugen ein nicht sehr freundliches, aber geradezu geflügeltes Wort bereithielt, nämlich die Feststellung: »Lügt wie ein Zeitzeuge.« Das mag Ihnen niederträchtig erscheinen, aber bitte bedenken Sie, dass dieses Wort aus der Zeit vor Holocaust datiert – der amerikanischen TV-Serie, die 1979 in der Bundesrepublik ausgestrahlt wurde – und vor dem, was wir heutzutage merkwürdig abgekürzt Holocaust-Bewusstsein nennen. Anders gesagt: Weniger die vormaligen Opfer der Nationalsozialisten als vielmehr die (vormaligen) Nationalsozialisten selbst suchten sich in der Frühzeit der Zeitgeschichte als Zeitzeugen zu positionieren, und dass man sich von diesen Leuten als junger Historiker  – Historikerinnen waren damals noch sehr dünn gesät – nicht auf Dauer belügen lassen wollte, das dürfte einleuchten. Mir jedenfalls hat es eingeleuchtet, auch wenn in meiner beruf‌lichen Anfangszeit dann schon Alltagsgeschichte und Oral History auf‌­kamen. Warum sage ich das? Weil ich mir Mühe geben will, Sie mit Blick auf meine Zeitzeugenschaft zu dem hier in Rede stehenden Thema nicht zu belügen. Aber das hat einen Preis, nämlich, dass es ein bisschen ungemütlich wird, für manche vielleicht sogar ein bisschen hard to take. Dafür bitte ich schon vorsorglich um Entschuldigung. Ich war 34 Jahre alt und seit 10 Jahren wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte, als auf dem Bildschirm meines schönen grauen Sony-Röhrenfernsehers in meinem Münchner Wohnzimmer die Mauer fiel. Ich war ein Kind der Bundesrepublik. Dass ich ein Deutscher war, also Bürger eines geteilten Landes, das hatte ich ansatzweise anhand der Fragen verstanden, die mir gestellt wurden, als ich 1985/86 ein Jahr in den USA verbrachte. Da wollten gar manche in der Provinz wissen, ob ich aus dem Westen oder aus dem Osten käme und wann Deutschland eigentlich wiedervereinigt würde. Ich glaube, ich konnte meine Ratlosigkeit angesichts solcher Fragen nur schwer verbergen. 24 Fragen an die Deutsche Einheit

Für mich, der in Ostdeutschland keinerlei Verwandtschaft hatte, der den Realsozialismus lediglich stundenweise bei den obligatorischen Klassenfahrten nach Berlin besichtigt hatte und der die DDR erstmals kurioserweise im Sommer 1989 bereiste (nämlich als Teilnehmer einer medizingeschichtlichen Konferenz in Eisenach), – für einen wie mich war das »andere Deutschland« einfach Ausland. Ein bisschen so wie Österreich, nur mit dem Unterschied, dass man dort nicht hätte Urlaub machen wollen. In die Ferien fuhren wir seit Studienzeiten nach Süd­ tirol oder – auch wenn wir jünger waren als die später nach dem Landstrich benannte Generation – in die Toskana. Wir hielten uns für junge Europäer, auch wenn dieses Europa an der Zonengrenze endete. Für besonders deutsch hielten wir uns nicht. Und dass das auch niemand von uns verlangte, zumindest das gefiel uns an der real existierenden Bundesrepublik. Politisch interessierte sich jemand wie ich für die DDR ungefähr so wie für Polen oder die Sowjetunion, wobei dort in den 1980er Jahren eben mehr passierte als bei Honeckers. Das heißt freilich nicht, dass man das gut gemachte sozialliberale Fernsehmagazin Kennzeichen D nicht verfolgt hätte, aber emotional eben nicht anders als den Weltspiegel. Seit dem Sommer 1989 änderte sich das freilich, und am Abend des 9. Novembers wurden auch meine Augen feucht. Aber das bedeutete nicht, dass ich die Einheit herbeigesehnt hätte. Ich hatte bestimmt nichts dagegen, aber ein wiedervereinigtes Deutschland lag außerhalb meines Vorstellungsbereichs – und vor allem fand ich, dass die Ostdeutschen selbst entscheiden sollten, wie es mit ihnen weitergehen würde. Ich würde Sie mit meinen damaligen Auf‌fassungen und Eindrücken natürlich nicht behelligen, wenn ich annähme, dass nur ich oder eine Minderheit damals so dachte. Ich glaube vielmehr: Das beschreibt die damalige Stimmung und Haltung der allermeisten Westdeutschen meiner Generation. Nein, ich muss noch eins drauf‌legen: Ich glaube, die Beschreibung trifft für die Mehrheit der Westdeutschen zu, auch für die damals noch Jüngeren und für die meisten Älteren, soweit sie keine familiären Beziehungen »nach drüben« hatten. Selbst die politische Klasse, gerade auch die angeblich so vaterlandsverhafteten Konserva­ Fragen an die Deutsche Einheit

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tiven. Bitte bedenken Sie, wer Honecker 1983 den Milliarden­ kredit vermittelte und wer ihn 1987 als Staatsgast empfing: Die »Herzensfreunde« Strauß und Kohl. Im Mai 1989 hatte die Bundesrepublik ihren 40. Geburtstag gefeiert. Als junger Zeithistoriker, der sich inzwischen nicht mehr nur mit dem »Dritten Reich«, sondern auch mit der Nachkriegszeit beschäftigte, tat man da gerne mit. Unter anderem auf einem Podium der Landeszentrale für Politische Bildung hier in NRW, auf einem Podium, auf dem Stefan Heym den vermeintlich verhängnisvollen Weg beschreiben durfte, den die Westzonen, dirigiert von Adenauer und den Amerikanern, seit 1945 eingeschlagen hatten. Wo nach den ideologischen Schlachten der 1970er Jahre und im vermeintlichen Abendrot der Kohl-Regierung in derart liberaler Gelassenheit diskutiert werden konnte, da mochte auch unsereins akzeptieren, was Hermann Rudolph, Jahrgang 1939, in der SZ in diesem Frühjahr 1989 auf den Punkt gebracht hatte: »Ein Staat ist angekommen.«32 Die postnationale Demokratie, von der Karl Dietrich Bracher schon seit 1976 schrieb33 und die damals nicht einmal Heinrich August Winkler bekrittelte, diese Bonner Republik war 1989 ganz bei sich. Und dann öffnete sich sechs Monate später die Mauer. Warum erzähle ich Ihnen das alles, obwohl Sie die Fakten doch selbst alle kennen? Weil ich Ihnen die Dimensionen der Anpassungsleistung verdeutlichen möchte, die nach dem 9. November 1989 auch die Westdeutschen zu erbringen hatten. Weil ich begreif‌lich machen möchte, wieviel sich gedanklich-politisch und bald auch materiell im Westen verändern musste auf dem Weg in die aus meiner Sicht viel zu gedankenlos beschworene »Innere Einheit« – von der »Auf‌bauhilfe Ost« bis hin zum Solidaritätszuschlag. Erlauben Sie mir noch ein Wort zu jener »Inneren Einheit« und was mir daran problematisch erschien und zum Teil immer noch erscheint: Es war, gerade auf konservativer Seite – und die regierte dann ja noch einmal fast zehn Jahre weiter –, nicht zuletzt Ausdruck eines schlechten Gewissens. Schließlich hatte man sich bis 1989 alle älteren Vorstellungen von einer solchen inneren Einheit weitgehend abgewöhnt. Das sollte nun kompensiert und vergessen gemacht werden. Es wurden Erwartungen ge26 Fragen an die Deutsche Einheit

nährt, die so schnell gar nicht zu erfüllen waren, und Probleme verdrängt, die man mit Geld allein nicht lösen konnte. Und es wurde der natürlich asymmetrische, aber doch beide Seiten verändernde Transformationsprozess mit der Zielvorstellung einer »Inneren Einheit« überlastet, die es jeweils für sich genommen in den beiden deutschen Staaten nie gegeben hatte. * * *

Fragen an die Deutsche Einheit

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Gespräch Morina: Vielen Dank für diese beiden Impulse. Bevor wir dazu etwas eingehender ins Gespräch kommen, würde ich gern zunächst auf das doppelte Gedenkjahr 2019/2020 zu sprechen kommen. Wenn wir einmal zurückblenden, erinnern wir uns, dass im Sommer 2019 (nicht zum ersten Mal) eine heftige Debatte um die Frage tobte, wie breit die gesellschaftliche Basis des Umsturzes von 1989 wohl gewesen ist, ob dies ein »Aufstand der Normalbürger« oder das Werk einer mutigen Minderheit gewesen sei.34 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier pries am 9. Oktober 2019 in seiner Leipziger Rede die 89er-Revolutionäre für ihren »wichtigen Beitrag zur deutschen Demokratie-Geschichte«35, während am selben Tag ein Rechtsradikaler einen Terroranschlag auf die Synagoge in Halle verübte, bei dem zwei Menschen ums Leben kamen und viele weitere nur überlebten, weil es dem Täter nicht gelang, die Tür der Synagoge aufzubekommen. 2020 schließlich wurden die Pläne für einen festlichen 30. Jahrestag der Einheit von der Pandemie hinweggefegt. Dies war und ist also ein mehr als komplexer zeithistorischer Kontext. Wie blicken Sie beide auf dieses doppelte Gedenkjahr? Birthler: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass es in der Kommission36, die die Bundesregierung für die Vorbereitung und Begleitung dieses Gedenk- und Erinnerungsjahres eingerichtet hat, eine scharfe Kontroverse gab. Es war nämlich geplant, den Anfang dieses Erinnerungsjahres auf den 9. November zu setzen, woraufhin die aus der DDR stammenden Mitglieder der Kommission sagten: Das kommt überhaupt nicht in Frage! Für euch mag das so aussehen, aber für uns ist der 9. Oktober der Beginn dieses Gedenkjahres. Vom Westen aus betrachtet, beginnt alles mit dem Mauerfall. Aber wer auf die Ereignisse blickt oder sogar dabei war, weiß natürlich, dass es für den Mauerfall Voraussetzungen brauchte. Und die wurden durch die demokratische Revolution in der DDR geschaffen, für die der 9. Oktober steht. Man kann sich immer über die Daten streiten. Aber ich selbst meine auch, der 9. Oktober war der Tag, an dem deutlich wurde: Jetzt hat die SED kapituliert. Von da an gab es keine Ge28 Fragen an die Deutsche Einheit

walt mehr gegen Demonstranten. Und von da an verloren auch viele ihre Angst, die bis dahin noch vorsichtig zu Hause geblieben waren. Jetzt strömten sie auf die Straße und gaben ihren Ideen und Wünschen Ausdruck. Dafür ist die große Demo am 4. November auf dem Alexanderplatz ein gutes Beispiel. Also die Frage, ob der 9. Oktober der Beginn dieses Gedenkjahres sein soll oder der 9. November, die steht für mich für den großen Unterschied in der Betrachtungsweise. Je nachdem, ob man vom Osten oder vom Westen darauf schaut. Klar war der 9. November ein unglaubliches Datum für mich persönlich. Ich bin Berlinerin. Dass mir jetzt wieder die ganze Stadt gehören sollte, das fand ich wunderbar. Aber das, was die Revolution war, sozusagen die Kapitulation der SED, ist dabei immer ein bisschen zu kurz gekommen. Das hat sich allerdings, glaube ich, in diesem Jahr etwas verändert. Allein schon, dass der Bundespräsident diese große Rede am 9. Oktober 2019 gehalten hat, ist, glaube ich, schon ein Ergebnis dieses Streits oder dieser Debatte. Frei: Diese Diskussion innerhalb der Kommission, die Frau ­Birth­ler eben geschildert hat, zeigt letzten Endes, was ich eingangs deutlich machen wollte: Natürlich hat man die Entwicklungen seit dem Sommer 1989 im Westen verfolgt, und die politisch Interessierten haben sehr genau, teils atemlos zugeschaut. Ich war in jenem Frühherbst das erste Mal in meinem Leben zum Urlaub in Afrika. Und wir reden ja über eine Zeit vor Internet und Mobiltelefon. Man hat also täglich im Hotel sehr genau die Aushänge gelesen, hat sich über die Entwicklung der letzten 24 Stunden informiert. Aber für viele war die dramatische Nachricht dann doch erst die vom 9. November, also die Maueröffnung. Wie gesagt, die DDR ist für die meisten Westdeutschen weit weg gewesen, quasi Ausland. Aber dass sich das in der Kommission noch einmal so spiegelte, das finde ich schon erstaunlich. Was ich wiederum nicht so erstaunlich finde: Wie viele Gedankenlosigkeiten man bei diesen Jahresfeiern, die in den letzten 15 Jahren ja alle fünf Jahre abgehalten worden sind, schon hat erleben können. Aber das sind eben irgendwelche Eventagenturen, die das jeweils vorbereiten. Da muss man sich nicht wundern, wenn am Ende auch Unsinniges und historisch Gedankenloses, Fragen an die Deutsche Einheit

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manchmal sogar Kränkendes und Klischeehaftes dabei rauskommt. Natürlich werden solche Events von der politischen Klasse wohlmeinend in Auf‌trag gegeben, aber am Ende übernimmt eine Gedenk- und Geschichtsbewirtschaftungsindustrie, der es nicht in erster Linie darum geht, historisches Bewusstsein und historische Urteilskraft zu befördern, sondern Auf‌träge abzuarbeiten beziehungsweise tatsächliche oder vermeintliche Verpflichtungen. Das nennt sich dann zwar gerne Aufarbeitung, ist aber in meinen Augen vielfach das genaue Gegenteil davon. Das ist ein bisschen Eventkultur, ein bisschen Besänftigung, ein bisschen Unterhaltung. Jedenfalls glaube ich nicht, dass dadurch die innere Einheit – wenn man diesen problematischen Begriff weiterhin benutzen will – vorangebracht wird. Birthler: Zum Ersten würde ich sagen, dass ich es überhaupt nicht als provokant, sondern als sehr wohltuend empfunden habe, wie Sie Ihren Weg oder Ihre politische Haltung oder Ihren Blick auf den Osten beschrieben haben. Ich habe das vielfach erlebt, aber es wird selten so ehrlich und so schlüssig aufgezeigt. Das ist ja nach wie vor ein großer Streitpunkt. Wenn ich allein schon mit meinen westdeutschen, überwiegend ehemals linken Freunden diskutiere, wie die früher die DDR gesehen haben, die haben, nur um ein Beispiel zu nennen, mit großem Enthusiasmus und großer Beteiligung Geld für Waffen in Nicaragua gesammelt. Aber was vor ihrer eigenen Haustür auf der anderen Seite der Mauer in ihrer Stadt und ihrem Land passierte, das war ihnen, denke ich, bei weitem nicht so wichtig. Oder irgendwie peinlich: Wie sollten sie als Linke die Enge und Schäbigkeit der DDR erklären? Das ist, meine ich, auch eine wichtige Aufgabe: Wir sollten versuchen, auch die westlinke Geschichte zu beschreiben und zu erklären, insbesondere deren Verhältnis zur DDR und zum ganzen Ostblock. Über uns – die ehemaligen Bürgerbewegten und die 89er-Revolutionäre – gibt es inzwischen sehr viele Bücher. Aber wo sind die Erzählungen und die Zeitzeugenberichte zur Geschichte der Linken im Westen? Wenn ich ein Nachschlagewerk zur westdeutschen Gesellschaft und insbesondere zu den westdeutschen Linken suche, kann ich lange suchen. Was waren das im Einzelnen für Gruppen? Wofür haben sie gekämpft? 30 Fragen an die Deutsche Einheit

Worüber haben sie sich gestritten, was hat sie entzweit? Welches Verhältnis hatten sie zum eigenen Staat, welches zu den kommunistisch beherrschten Ländern? Eine Befassung mit alle dem wäre sicher mindestens so schmerzhaft wie die Debatten über die DDR . Aber sie könnte vielleicht zum Verständnis der Jahrzehnte nach 1990 beitragen. Die Folgen dieses Beschweigens habe ich beispielsweise gespürt, als ich Anfang der 1990er Jahre Ministerin in Brandenburg war. Damals war mir die politische Vorgeschichte meiner aus dem Westen stammenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht besonders wichtig. Viel später erst begriff ich, was es für einige von ihnen bedeutete, als ich – ohne das zu wissen – einen früher aktiven Kader einer kommunistischen Gruppierung eingestellt hatte. Der Vorwurf: Wie kann Birthler solche Leute einstellen, die hat ja keine Ahnung, was bei uns los war! Das hatte wirklich lange Nachwirkungen, zum Teil bis heute. Und ich glaube, dass eine solche Sicht oder ein solcher Umgang der Westdeutschen mit ihrer eigenen Geschichte auch einer kritischen Auseinandersetzung mit der viel beschworenen inneren Einheit guttun würde, zumindest dem gegenseitigen Verständnis. Und ja, den Begriff der »Inneren Einheit«, den kann ich übrigens auch nicht gut leiden. Interessant fand ich auch, dass Sie davon sprachen, welche Anpassungsleistungen der Westen zu vollbringen hatte, vielleicht habe ich die auch unterschätzt. Aber Sie setzen die ja sehr hoch an. Aus unserer Sicht – mit »uns« meine ich die Ostdeutschen  – hat sich eigentlich für die Westdeutschen gar nichts verändert, nach 1990. Vielleicht muss ich hier noch dazulernen. Noch eine dritte Bemerkung. Der Ton, in dem Sie jetzt über die Feiern zum Mauerfall oder zur deutschen Einheit gesprochen haben, war mir dann doch etwas zu abwertend. Ich selber bin oft genug kritisch gegenüber großen Spektakeln. Das ist auch eine Sache des allgemeinen Geschmacks, und dafür sind wir wohl beide keine repräsentativen Vertreter. Ich finde es vor dem Hintergrund unserer Geschichte zwar verständlich, aber inzwischen sehr schade, dass die Deutschen so ein sehr zwiespältiges Verhältnis gegenüber den Symbolen und Erinnerungstagen der Demokratie haben und ihre Erfolge allenfalls verdruckst Fragen an die Deutsche Einheit

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feiern. Ich glaube, diese coole Sicht auf die Geschichte, die tut uns manchmal auch nicht gut. Die Identifikation beispielsweise mit der demokratischen Revolution in der DDR wäre etwas ganz Wichtiges, was sich heute auch im Leben auswirken würde. Das gleiche gilt für die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes oder die Revolution von 1848  – einschließlich der schwarzrotgoldenen Flagge. Ein demokratisches Gemeinwesen braucht Symbole und Tage der Vergewisserung. Frei: Mit vielem, was Sie sagen, bin ich absolut einverstanden. Ich finde auch gut, was der Bundespräsident zur Bewusst­ machung unserer Demokratiegeschichte geäußert hat. Das ist zwar nicht ganz neu – Gustav Heinemann hat das in den 1970er Jahren schon mal zu forcieren versucht –, aber wichtig und richtig. Und notwendig, gerade angesichts der Herausforderungen vonseiten der Antidemokraten, vor denen wir heute stehen. Womit ich – und das will ich gerne zugeben – vielleicht etwas unduldsam bin, das ist unser Gedenkbetrieb. Stefan Heym hätte gesagt: Was für ein Tand da aufgefahren wird, welche oberflächlichen Unterhaltungsprogramme, bei denen dann am Ende doch jeder auf seinen eigenen Klischees und Vorurteilen hocken bleiben kann! Ein bisschen Kirmes in Potsdam, mehr nicht! Tatsächlich werden solche Gedenktage eben kaum für eine substanzielle, kritische Reflexion genutzt. Vielmehr glaubt man, das Volk vor allem unterhalten zu müssen  – abgesehen vielleicht von den Informationsständen der Bundeszentrale oder der Stiftung Aufarbeitung, wo ein paar Broschüren angeboten werden, und wenn man Glück hat, nimmt der eine oder die andere tatsächlich was davon mit. Ich spitze das jetzt ein bisschen zu – um deutlich zu machen, dass mit diesen Methoden in 30 Jahren nicht allzu viel erreicht worden ist. Man könnte also überlegen, ob man damit auf‌hört – oder versuchen, ein anderes Niveau in derlei Anlässe hineinzubringen. Gedenkkultur als Zukunftsaufgabe Morina: Sie werfen damit beide im Grunde eine größere Frage auf, nämlich was man mit Gedenkkultur »erreichen« kann und wie Erinnerung in Zukunft aussehen soll. Weil sich diese Frage 32 Fragen an die Deutsche Einheit

ja ganz grundsätzlich auch für andere Zusammenhänge stellt, nicht zuletzt für das Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen, sollten wir gleich noch einmal gesondert darauf zu sprechen kommen. Zunächst jedoch noch einmal zum Zusammenhang von Gedenk- und politischer Kultur nachgefragt: Vielleicht waren ja jenseits dieser von oben, mit staatlichen Mitteln und Konzepten und zumindest in Teilen verkitschten und verflachten »Erinnerungskultur« rund um das Einheitsgedenken die Debatten des letzten Jahres deshalb so aufgeladen, weil es dabei am Ende auch um die Frage ging, was das alles mit dem heutigen hochpolitischen, brisanten Klima in Ostdeutschland zu tun hat? Warum der Osten noch immer anders »tickt« als der Westen, wie es Frau Birthler eingangs formulierte? Man denke nur an den heftigen Streit um die Einladung Gregor Gysis als Festredner in der Leipziger Peterskirche im Sommer 2019. Die Veranstalter haben damals ihre Einladung gegenüber den Kritikern mit dem Argument verteidigt, dass es doch eine »nicht unbeträchtliche Schar« von Leuten gebe, die 1989 »weder Bürgerrechtler noch Täter waren« und die »mit der offiziellen Erinnerungskultur nicht ausreichend erreicht« würden.37 Sie warfen die bis heute wenig diskutierte Frage auf, wie die Erfahrungen und Erinnerungen jener artikuliert und repräsentiert werden, die 1989 die Revolution eben nicht gemacht haben. Vielleicht finden Rechtspopulisten in Ostdeutschland ja auch deshalb so viel Zuspruch, weil sie es schaffen, auch und gerade diese vielen in der Gedenkkultur kaum präsenten »Mitläufer« anzusprechen? Und wenn man »89« mit dem Bundespräsi­denten für eine »Sternstunde der deutschen Demokratiegeschichte« hält, wie hängt dies beides  – Demokratisierung und Polarisierung – eigentlich zusammen? Frei: Ich weiß nicht, ob das überhaupt so miteinander zusammenhängt. Was der Bundespräsident beschreibt und gleichsam normativ feiert, das haben die allermeisten damals ja unbestreitbar auch gefühlt – bis hin zu Erwartungen, die Sie alle kennen: Dass mit dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und dem Ende des Ost-West-Konflikts auch das Ende der Geschichte begonnen hätte und wir fortan rund um den Globus in liberalen, freiheitlichen Demokratien leben würden. Diese Hoffnungen Fragen an die Deutsche Einheit

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gab es ja – und gegen solche Hoffnungen kann man im Grunde nicht sein –, aber inzwischen wissen wir alle, dass das ein bisschen naiv war. Eine Parole wie: »Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, dann kommen wir zur D-Mark« – die hätte schon damals nachdenklich machen können: Vieles hatte eben nicht nur mit dem Wunsch nach Freiheit zu tun; der lief bei vielen, die sich erst nach und nach der Bürgerbewegung anschlossen, gewissermaßen eher mit. Da ging es weniger um das, was der Bundespräsident normativ in den Mittelpunkt stellt. In unserem Buch haben Sie selbst, Frau Morina, überzeugend entwickelt, woran die AfD – wie übrigens davor schon die NPD und die Republikaner vom Westen her organisiert – anknüpfen konnte und kann: an ein sehr spezifisches ostdeutsches Volks-, Demokratie- und Heimatverständnis,38 das zweifellos auch unter denen präsent war, die dann nach und nach auf die Straße gingen; die waren ja längst nicht alle erfüllt von besonders aufgeklärten politischen Intentionen und Interessen, sondern da war viel Eigensinn, da waren auch ganz klischeehafte Vorstellungen vom Kapitalismus, von »die da oben, wir hier unten« und so weiter. Solche Haltungen, Stimmungen und Mentalitäten haben sich natürlich fortgesetzt. Morina: Wie beurteilen Sie diesen Zusammenhang? Inwiefern sehen Sie ihn überhaupt gegeben, Frau Birthler? Birthler: Ja, es ist leider ein Irrtum zu glauben, dass die Erfahrung von Diktatur eine Gesellschaft zu überzeugten Demokraten macht, es ist eher umgekehrt. Kultur und Gesellschaft werden in solchen Zeiten sehr beschädigt. Aber auch, wenn AfD, Rechtspopulismus und rechte Gewalt besonders in Ostdeutschland wichtige Themen sind, sind es doch gesamtdeutsche Themen, allerdings mit graduellen Unterschieden zwischen Ost und West. Die Anfälligkeit für rassistische und rechtsextreme Ideologien, auch die Neigung zur Gewalt, sind stärker im Osten verortet, und dafür gibt es Gründe, die vor allem mit dem Leben in der DDR zu tun haben, aber auch mit den Erfahrungen der 1990er Jahre. Die Problemanzeichen gelten aber für unsere ganze Gesellschaft. Wenn ich an die letzte Demo hier in Berlin39 gegen die CoronaMaßnahmen denke: Ich möchte nicht wissen, wie viele Leute 34 Fragen an die Deutsche Einheit

z. B. aus Stuttgart da waren. Vielleicht sind diese Dinge im Osten schärfer zu sehen, wie unter einem Brennglas. Vielleicht dient dies dem Westen auch als eine Art von Entlastung. Wir sollten uns aber nicht damit beruhigen, dass all das seine Gründe in der ostdeutschen Geschichte hätte. Das zeigt ja auch ein Blick auf die Welt, auf andere Länder. Vielerorts sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit in die Defensive geraten. Da gab es vielleicht auch einen Schub durch die Finanzkrise, wenn ich an die Art und Weise denke, wie Globalisierung erfahren und interpretiert wird. Es hat sich eben auch für alle Menschen dieser Welt in den letzten 30 Jahren sehr viel verändert. Und da sind auch Fragen danach entstanden, wie weit Demokratie und Rechtsstaat uns eigentlich vor neuen Gefahren, vor neuen Entwicklungen schützen können. Ich glaube, dass wir gerade in einer solchen unklaren und teilweise auch gefährlichen Situation gut beraten sind, wenn wir uns auch auf die positiven Aspekte unserer Geschichte beziehen. Es ist, glaube ich, für Menschen, die schwere politische Entscheidungen zu treffen haben – wenn ich an die nächste Generation denke  –, sehr wichtig, diese Erinnerung zu haben. Ein Wissen um jene, die vor ihrer Zeit für Demokratie und Freiheit eingestanden sind, wie sie mit der Gefahr umgegangen sind, woher sie ihren Mut nahmen. Was hat ihnen geholfen, was hat sie vielleicht auch zerstört? Und deswegen bin ich ganz entschieden dafür, Erinnerungskultur zu pflegen und das, was wir 1989 in der DDR erlebt haben, als einen Teil der weltweiten Freiheitsbewegungen zu sehen, die oft genug gescheitert sind, aber manchmal eben auch erfolgreich waren. Umgang mit der NS-Vergangenheit – in Ost und West und im vereinten Deutschland Morina: Herr Frei hat in seinem Impuls sehr stark die westdeutsche Perspektive auf die Ereignisse von 1989 in den Vordergrund gestellt; tatsächlich hört oder liest man das so dezidiert und auch reflektiert selten. Meist wird die spektakulärere Seite dieser Geschichte, die ostdeutsche Revolutionserfahrung, erzählt, was nachvollziehbar, aber in gewisser Weise auch kurzatmiger und Fragen an die Deutsche Einheit

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wenig dialogisch ist. Die Westseite bleibt sozusagen Anhängsel. Frau Birthler, ich hatte beim Zuhören das Gefühl, und Sie haben es auch schon angedeutet, dass Sie es schon bemerkenswert fanden, wie Herr Frei sein »89« beschrieben hat? Birthler: Ja, ich will das an zwei Beispielen veranschaulichen. Ich habe ja nicht umsonst vorhin etwas ausführlicher die unterschiedliche Art betrachtet, wie in Ost und West mit der NS -Zeit umgegangen wurde. Es bleibt aber nicht bei der Feststellung, denn diese Unterschiede haben Folgen. Die meisten Menschen aus der früheren DDR – wenn sie nicht irgendein individuelles Spezialinteresse dafür hatten – sind im Grunde bis heute bei einem Blick auf den Nationalsozialismus stehengeblieben, wie er eben bis 1989 im Osten üblich war. Die DDR war ein antifaschistischer Staat, die Nazis waren alle im Westen, wir waren die Guten, die Erben der Widerstandskämpfer und der Opfer. Die wichtigen und schmerzhaften Prozesse der Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der Elterngeneration haben deshalb kaum stattgefunden  – Korrekturen von sicher Geglaubtem haben kaum stattgefunden. Das kann man zunächst auch keinem übelnehmen: Es waren erst mal andere Dinge zu regeln in den 1990er Jahren und später. Dass dieser Rückstand an angemessenen und konstruktiven Auseinandersetzungen mit der NS -Zeit bis heute nicht ausgeglichen wurde, hat auch mit dem in dieser Hinsicht immer noch geteilten Land zu tun. In Vorträgen, Seminaren, Fernsehdokumentationen usw. wurde fast immer, wenn es um den Stand der Auseinandersetzung mit der NS -Zeit ging, von »wir« gesprochen – und dieses »wir« meinte den westdeutschen Diskussionsstand. Man hat hier eben nicht zwei Perspektiven eingenommen und ernst genommen. Das zweite Beispiel: Die Westdeutschen mussten mühsam, sehr mühsam und auch über lange Zeit lernen, Bürgerinnen und Bürger eines freiheitlichen, demokratischen Staates zu sein. Das wurde ihnen durch das Wirtschaftswunder leichtgemacht. Das Muster war denkbar einfach: Demokratie ist eine gute Sache, weil es mir jedes Jahr ein bisschen besser geht. Dann lernt es sich leicht, und irgendwann wurde dieser Gedanke auch für die große Mehrheit zur echten Überzeugung. Sie haben nach und nach verstanden, dass es gut ist, in einem Rechtsstaat und unter demokratischen Bedingungen zu leben. 36 Fragen an die Deutsche Einheit

Wann hat dieser Lernprozess in der früheren DDR stattgefunden? Die erste Begegnung mit demokratischen Spielregeln, mit den Institutionen und Verfahren der Demokratie fand in einer Zeit statt, in der sehr viele existenziell unsicher waren. Dieser schöne Effekt: Demokratie ist prima, weil es mir jedes Jahr ein bisschen besser geht, der war nur für einen Teil der Bevölkerung herzustellen. Für andere aber nicht. Gleichzeitig musste man verstehen, wie Demokratie funktioniert. Selbst ich, die ich einigermaßen Bescheid gewusst habe, musste 1990, als ich in der Volkskammer war, schlucken, weil ich da erst mit meinem ganzen Wesen begriffen habe: Demokratie bedeutet nicht, dass jetzt alles geschieht, was ich für richtig halte. Das wusste ich natürlich im Kopf schon. Aber man muss es erst einmal erlebt haben, um das wirklich zu verkraften. Bis heute, glaube ich, sagen viele Leute: »Wir haben in einer Diktatur gelebt, und das war blöd, weil keiner auf unsere Interessen Rücksicht genommen hat. Jetzt leben wir in einer Demokratie, jetzt muss alles so sein, wie ich mir das erhofft und gewünscht habe.« Und da ist natürlich die Frustration vorprogrammiert. Als ich Ministerin war, Anfang der 1990er Jahre – damals gab es ja auch schon die rechte Gewalt und Hakenkreuz-Schmierereien im Osten –, habe ich immer wieder mit Lehrerinnen und Lehrern gesprochen und gefordert, sie müssten da klare Grenzen ziehen. Nicht wenige dachten darüber anders: Ach, wissen Sie, wir kommen gerade aus einer Gesellschaft, wo alles vorgeschrieben wurde. Da mache ich jetzt nicht mehr mit. Dieser Lernprozess, das Zusammendenken von Freiheit und den nötigen Grenzen, hat kaum stattgefunden. Und die Unsicherheit hinsichtlich demokratischer Standards ist auch bei den Lehrkräften im Osten – sagen wir, etwas löchrig. Frei: Der Lernprozess war ja auch extrem kondensiert. In kurzer Zeit ist so vieles passiert. Es war, um einen von Dan Diner eingeführten Begriff zu verwenden, eine unglaublich verdichtete Zeit. Es ging ja allen so, auch uns im Westen, die wir sozusagen nur Zaungäste waren und das Ganze nur in den Medien verfolgt haben. Wir alle haben gesehen, wie schnell sich die Dinge veränderten: Politische Konzeptionen hatten sich überholt, kaum dass ein Papier zu Ende formuliert war. Und in einer solchen Fragen an die Deutsche Einheit

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verdichteten Phase, die für die Ostdeutschen biografisch mit dramatischen Zäsuren einherging – Verlust des Arbeitsplatzes etwa, auch die geforderte Rechenschaftslegung über Parteimitgliedschaft oder die Frage nach Stasi-Verwicklungen –, sollten sie neben den ökonomischen und ganz unmittelbar praktischen Dingen auch nebenbei noch Demokratie lernen, verstehen und verinnerlichen. Das war schon eine ziemliche Herausforderung. Und was machte der ebenfalls überforderte Westen? Ich nehme eine aufschlussreiche Staatsexamensarbeit als Beispiel, die gerade in Jena entstanden ist: über die Gründung der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, die im Rahmen der damaligen Länderpartnerschaft von jener in Hessen betreut wurde.40 Die Hessen haben in Thüringen stapelweise das Grundgesetz und staatsbürgerkundliche Broschüren verteilt, wie sie das im Westen immer schon gemacht haben. Dass diese Broschüren im Westen auf einem ganz anderen Fundament auf‌bauten als im Osten, machte man sich kaum bewusst. Es gab also sicherlich viel guten Willen und Hilfsbereitschaft, aber vieles war leider auch unreflektiert. Die ganz unterschiedlichen Vorgeschichten begegnen uns ja auch beim Thema »Umgang mit der NS -Vergangenheit«. Im Westen war das ein doch sehr komplizierter, widersprüchlicher Prozess, der ab den späten 1950er Jahren breitere gesellschaftliche Wirksamkeit zu entfalten begann, natürlich mit Windungen, Rückschlägen und Skandalen. Letztere kamen übrigens oft unter tätiger Mithilfe aus der DDR ans Licht, die die vorhandenen Unzulänglichkeiten im Westen propagandistisch auszuschlachten suchte. Dadurch entstand eine Art dialektischer Zusammenhang, aber eben auch eine Dynamik der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die so in der DDR nicht stattfinden konnte, wo der Faschismus ja qua Definition besiegt war. Den Folgen davon bin ich noch in den 2000er Jahren oft begegnet, wenn ich im Osten über die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik der späten 1940er und 1950er Jahre sprach: All das, was man in der Schule über Hans Globke und Adenauer, den »Spalter Deutschlands«, und die NS -Eliten im Westen so gelernt hatte, tauchte da wieder auf. Aber es wäre wohl eine Überforderung gewesen, angesichts der enormen persönlichen Herausfor38 Fragen an die Deutsche Einheit

derungen, die jeder und jede Einzelne in Ostdeutschland damals zu bewältigen hatte, zu erwarten, dass gleichzeitig auch das Thema NS -Vergangenheit in der DDR differenziert aufgearbeitet würde. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn das alles glatt gelaufen wäre – wobei ich mich im Kontext der Goldhagen-Debatte und auch der Wehrmachtsausstellung 1996 daran erinnere, dass beides in Ostdeutschland sehr wohl intensiv und interessiert wahrgenommen wurde, ungeachtet all der anderen Probleme.41 Morina: Sie haben ja beide regelmäßig, wenn auch auf unterschiedliche Weise, mit Institutionen der politischen Bildung zu tun. Ist man sich dessen, was wir gerade diskutieren, dort eigentlich bewusst, wird es als Problem erkannt? Auch die zeithistorische Forschung steht hier ja noch ganz am Anfang. Sie haben die Examensarbeit über Thüringen erwähnt, Herr Frei, die erste empirische Einblicke in diese Zusammenhänge erlaubt, das sind ja dringend nötige Forschungen. Inwiefern gibt es in diesen Institutionen vielleicht sogar eine Art Nachhol-Diskurs? Ein Einsehen in diese komplexe, schwierige und offenbar von viel gutem Willen, aber eben auch vielen Versäumnissen geprägte Gemengelage? Frei: Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auf Seiten der damals meistens jüngeren Leute aus der zweiten Reihe, die in den Landeszentralen für politische Bildung, aber natürlich auch sonst in den neu aufzubauenden Behörden, Verantwortung übernahmen, heute auch Reflexion gibt über die Wirksamkeit ihrer Arbeit, sagen wir in den 1990er und 2000er Jahren. Aber ganz generell möchte ich unterstreichen, was Frau Birthler vorhin gesagt hat und was ich mir buchstäblich für heute auf meinen Zettel geschrieben hatte: Dass natürlich ganz vieles  – eigentlich praktisch alles – von dem, was notwendige Transformationsleistungen im Westen waren, noch unerforscht ist, jedenfalls wir als Historiker und Historikerinnen darüber bisher nicht wirklich gearbeitet haben. Gleich nach 1990 setzte ja eine gutgemeinte Fokussierung auf die DDR-Geschichte ein, natürlich auch aufgrund der schlagartig zugänglich gewordenen Akten. Letzteres ist für Historiker immer attraktiv, führte allerdings dazu, dass wir die Geschichte der alten Bundesrepublik stehen und liegen gelassen haben, obwohl die Erforschung der 1950er und 1960er Jahre Fragen an die Deutsche Einheit

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damals gerade erst eingesetzt hatte. Und als dann auch noch für die Zeit ab etwa 1970 eine neue Periodisierung gesetzt war – »Nach dem Boom«42 –, da geriet die Bundesrepublik-Geschichte doch ziemlich aus dem Blick. Stattdessen widmete man sich lieber dem spannenden Osten und der DDR-Geschichte. Dabei wurde aber übersehen, dass es auch im Westen Transformationsleistungsverluste gab – und dass die genauere Erforschung der inneren Geschichte der alten Bundesrepublik zwei Jahrzehnte lang mehr oder weniger stehengeblieben ist. Morina: Ich glaube, der Begriff »Transformationsleistungsverlust« hat das Zeug, ein neues Forschungsfeld zu begründen! Frau Birthler, Sie wollten hierauf reagieren? Birthler: Ja, gern. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich habe den Eindruck, es gibt sehr viele und ziemlich gute Angebote. Da wird die schwierige deutsch-deutsche Situation und die Geschichte davor geschildert und sich damit auch auf eine gute Weise auseinandergesetzt  – die Bundeszentrale für politische Bildung und andere machen das, auch wir damals in der StasiUnterlagenbehörde natürlich. Also es gibt sehr gutes anschauliches, lebenspraktisches Material, mithilfe dessen man sich beispielsweise mit dem Wesen einer Diktatur auseinandersetzen kann oder auch mit den Problemen in einer demokratischen Gesellschaft. Und nebenbei: Wir haben gerade in dieser Beziehung von den im Westen gewachsenen Erfahrungen profitiert. Aber letzten Endes ist das Nadelöhr ja die vermittelnde Instanz. Die Lehrerinnen und Lehrer – beispielsweise – und natürlich alle anderen, die mit Jugendlichen arbeiten. Und da sehe ich ein großes Problem, und da spitze ich jetzt auch einmal zu. Das gilt natürlich nicht für alle. Aber die heute 45-jährigen Lehrerinnen und Lehrer, die waren 1989 15 Jahre alt. Das heißt, sie waren in einem Alter, in dem Jugendliche dringend nach Orientierung suchen und möglichst starke Eltern brauchen, an denen man sich reiben, auf die man sich stützen oder sich auch anlehnen kann, je nachdem. Die Eltern in Ostdeutschland aber waren in den 1990er Jahren, zum großen Teil jedenfalls, auch in einer sehr unsicheren Situation, so dass sie wenig Halt geben konnten. Viele hatten ihren Job verloren, andere mussten ihre Haltung völlig neu konstruieren. Sie hatten vielleicht auch Schuldgefühle 40 Fragen an die Deutsche Einheit

oder verdrängten diese – eins so problematisch wie das andere. Die damalige Elterngeneration war, glaube ich, in weiten Teilen für die pubertierenden 15-Jährigen sozusagen nicht die richtige Umgebung, um stärker und um erwachsen zu werden. Ich habe das damals oft gespürt. Anfang der 1990er Jahre, wenn ich bei Vorträgen in Schulen und anderswo auf unglaublich viel Konfluenz mit den Eltern getroffen bin, konnte ich nur staunen. Die Kinder waren nicht bereit, ihre Eltern kritisch zu befragen. Dafür gab es keine Vorbilder, vor allem aber waren die Eltern zu schwach. Man braucht ein starkes Gegenüber, um sich überhaupt auseinanderzusetzen zu können. Diese heute 45-Jährigen  – plus / minus fünf Jahre  – machen derzeit den Großteil des pädagogischen Personals aus. Die Unsicherheit, die sie damals entwickelt haben oder aus der sie sich nicht heraus entwickeln konnten, haftet so manchem auch heute noch an. Ich will hier nicht psychologisieren, aber ich vermisse Untersuchungen, die sich diesem Thema widmen. Was haben die Erfahrung der Diktatur und dann der vollständige Wechsel der Lebensverhältnisse eigentlich generationell bewirkt? Diese starke Veränderung von 89, wie hat das auf die 15-Jährigen gewirkt? Wie hat das auf die Eltern gewirkt? Und was davon ist heute noch spürbar? Und wenn sie sich mal die Demonstranten angucken. Ich muss jetzt immer an die bereits erwähnte Demo vom 18. November vor dem Reichstag denken. Das war überwiegend genau diese mittlere Generation, ergänzt natürlich durch viele aus dem Westen. Aber ich schaue jetzt hier auf den Osten, und das sind Leute, die wirklich in vieler Hinsicht nicht nachvollziehen konnten, was ihren Altersgenossen im Westen sozusagen lebensbegleitend mitgegeben wurde. Morina: Ich würde gern präzisierend nachhaken. Zum einen: Natürlich haben sehr viele ihre Arbeit verloren, aber sehr viele eben auch nicht oder sie haben es relativ schnell geschafft, wieder in Arbeit zu kommen und sich im »neuen« Deutschland ganz gut zurechtzufinden. Ich meine, da sind unsere Erzählungen und unsere Diskussionen oft zu undifferenziert. Es gab Massenarbeitslosigkeit, aber es gab auch eine große Zahl, stets eine Mehrheit, die nicht arbeitslos wurde, und Elternhäuser wie Ihres, Fragen an die Deutsche Einheit

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meines, viele andere, die man auch kennt, die diese Freiheit auch selbstbewusst, optimistisch  – natürlich verunsichert  –, aber grundsätzlich offen und sehr beherzt für sich und ihre Familien erschlossen haben. Meine Eltern haben mir anfänglich auch dringend dazu geraten, erst eine Ausbildung zu machen statt zu studieren, weil sie mich bewahren wollten vor Arbeitslosigkeit und Unsicherheit. Aber letztlich haben sie es dann doch akzeptiert und mich nach Kräften dabei unterstützt, ein Studium zu bewältigen, sogar ins Ausland zu gehen, also all die unglaublichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Birthler: Ja, natürlich, Frau Morina, und wenn ich an meine Kinder denke, die haben das als einen ganz wunderbaren Einschnitt in ihrem Leben erlebt. Und trotzdem, dass alles auf dem Prüfstand steht, dass man lange Geglaubtes, für richtig Gehaltenes jetzt überprüfen muss und dass das auch die eigene Person betrifft und man sich fragt: Was sind eigentlich meine zurückliegenden Lebensjahrzehnte wert? – das war auch bei denen der Fall, die beruflich durchaus in sicheren Verhältnissen lebten. Hinzu kam dann wirklich noch so etwas wie eine Verunsicherung, eine ständige Verunsicherung durch Begegnungen mit Leuten aus dem Westen. Ich gehöre ja eigentlich zu den »Gewinnerinnen«. Aber es ist mir manchmal so etwas von auf den Keks gegangen, dass die immer schon alles wussten und bei jeder guten Idee, die ich hatte, sagten: »Frau Birthler, das funktioniert so nicht, haben wir vor zehn Jahren probiert, wird nichts.« Dass sie damit nicht selten im Recht waren, hat die Sache nicht besser gemacht, und ich fühlte mich bevormundet. Immerhin wurde ich mit einem vergifteten Kompliment entschädigt: »Frau Birthler, man merkt gar nicht, dass Sie aus dem Osten kommen.« Dabei konnte ich mich wirklich nicht beklagen. Ich war Chefin, ich verdiente genug Geld, ich konnte und musste weitreichende Entscheidungen treffen. Wie mag das anderen gegangen sein? Die viel unsicherer waren als ich? Morina: Ich stimme Ihnen zu, es sind an dieser Stelle sehr unterschiedliche Erfahrungen und Perspektiven zu berücksichtigen, und gerade die zeithistorische Forschung steht hier vor einer ihrer größten Herausforderungen, diese Zeit angemessen zu historisieren und auch zu erzählen. Aber ich wollte noch auf einer 42 Fragen an die Deutsche Einheit

zweiten Ebene genauer nachfragen: Sie haben auf die Frage nach der Reichweite und Sinnhaftigkeit der politischen Bildungsanstrengungen mit dem Hinweis auf die Schulen geantwortet, und ich finde Ihre Überlegungen dazu sehr plausibel. Aber gerade unter jenen, die jetzt Mitte 40 oder älter sind, ist die Ablehnung der Demokratie mit am stärksten ausgeprägt und ein vergleichbar hoher Anteil davon ist sehr offen, offener als ihre Altersgenossen in Westdeutschland, für autoritäre, nationalistische, rassistische Einstellungen. Diese Gruppe ist doch mit Schule gar nicht mehr zu erreichen, stimmt aber überdurchschnittlich stark für die AfD, darunter sind viele Nichtwähler, die sich in den letzten Jahren wieder für Politik mobilisieren lassen, aber eben sehr »eigensinnig«, aus einem eher antiliberal grundierten Demokratieverständnis heraus. Wie erreicht man diese mit einer freiheitlich-demokratisch ausgerichteten politischen Bildung? Birthler: Damit könnte ich ja gelassen umgehen, wenn die Dinge sich inzwischen geändert hätten. Aber die Multiplikatoren dieser Gesellschaft  – Lehrkräfte, Journalisten, auch Politiker, die jetzt in ihre Berufe einsteigen, was haben die denn für Rüstzeug mitbekommen? Es gibt an keiner deutschen Universität einen Lehrstuhl für DDR-Geschichte, an keiner. Herr Frei, Sie wissen darüber sicherlich besser Bescheid. Ich weiß nicht, wie Sie das beurteilen. Aber über die Geschichte des Kommunismus, über die gesellschaftlichen Verwerfungen unter den Bedingungen einer Diktatur und insbesondere über die Geschichte der DDR lernt kaum jemand etwas, der eine Universität besucht. Es sei denn, er hat das große Glück, mit Lehrern und Professorinnen zu tun zu haben, wie Sie beide das sind. Vielleicht liegt das auch daran, dass keine Uni von einem Ostdeutschen geleitet wird, nirgends in Deutschland. Kurz und nicht gut: Bei denen, die jetzt ins Referendariat gehen, als Lehrerin oder Lehrer, kann man nicht sicher sein, was die überhaupt über diese 40 Jahre des geteilten Deutschlands im Allgemeinen und den Osten im Besonderen je gelernt haben. Frei: Frau Birthler, entschuldigen Sie bitte, da muss ich Ihnen jetzt ein bisschen widersprechen, auch wenn Sie das als Kom­ pliment an Frau Morina und – viel weniger begründet – an mich verpackt haben. Ich will gar nicht Jena als Beispiel nehmen, Fragen an die Deutsche Einheit

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sondern sagen: Nirgendwo in der Bundesrepublik gibt es einen Lehrstuhl für die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland oder gar einen, der nur der alten Bundesrepublik gewidmet wäre. Und das ist auch gut so. Das aber heißt, es wäre umgekehrt eine fachliche Engführung, wollte man eine Kollegin oder einen Kollegen, der Neuere und Neueste Geschichte lehrt, allein auf die DDR-Geschichte festlegen. Ich selbst arbeite nicht besonders komparatistisch, aber ich glaube, dass wir nicht nur auf die kleine DDR schauen dürfen, wenn wir den Kommunismus nach 1945 verstehen wollen, sondern auf das, was der Realsozialismus in einem großen Teil der Welt, unter anderem eben auch in der DDR , gewesen ist. Und genau das passiert an vielen Orten, zum Beispiel in Jena mit einer Professur für vergleichende europäische Diktaturforschung nach 1945. Ganz abgesehen davon haben wir ja immer noch eine besonders starke, von wohlwollenden Parlamentariern gestützte und geförderte DDR-Forschung, die in großen Drittmittelprojekten betrieben wird. Birthler: Ich meine ja vor allem die Lehre. Frei: Ja, aber ganz viele von denen, die in diesen Drittmittelprojekten zusammenarbeiten, lehren natürlich auch. (Dass die Lehre insgesamt leider viel zu häufig auf den sogenannten Mittelbau, also auf die Forschenden abgeladen wird, während es an eigens für die Lehre bestimmten Stellen fehlt, ist ein anderes Problem.) Was die Professuren betrifft: Frau Morina sitzt nun eben in Bielefeld – und nicht irgendwo in Ostdeutschland – und macht, was sie macht. Aber auch andernorts »tief im Westen«, etwa in Münster, gibt es DDR-Forschung und natürlich Kolleginnen und Kollegen, die das auch in ihrer Lehre vermitteln. Ich würde also sagen, jetzt im Abstand von 30 Jahren – vielleicht wäre das in den 1990er Jahren noch etwas anderes gewesen  – Lehrstühle für DDR-Geschichte einzurichten und dann, um des lieben Ausgleichs willen, auch Lehrstühle für die alte Bundesrepublik, das wäre der falsche Weg. Wir müssen einen anderen Weg gehen, und ich meine sogar, dass wir immer noch zu kleinteilig und in einer gewissen Weise zu eng DDR-Forschung betreiben, auch wenn vieles gerade dabei ist, sich zu ändern. In unserem Forschungsverbund in Jena43 44 Fragen an die Deutsche Einheit

versuchen wir zum Beispiel, die Fragestellungen über diese Zäsur von 1989 hinauszuziehen und sowohl in die späte DDR zu schauen als auch in die frühen Jahre nach der Vereinigung, um den größeren Zusammenhang dieser Transformationsprozesse deutlich zu machen. Und dann braucht es natürlich auch die globale Perspektive. Sie selbst haben darauf hingewiesen, dass vieles von dem, was in den 1990er Jahren an Transformation stattgefunden hat, auch mit dem Aufstieg dessen zu tun hatte, was wir abgekürzt Globalisierung und Neoliberalismus nennen können: Anpassungsleistungen, nicht nur in diesem zusammenwachsenden Deutschland, sondern in Europa, in der kapitalistischen Welt und darüber hinaus. Birthler: Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie jetzt doch in dieser Beziehung die Universitäten entlasten würden? Frei: Ihr Ausgangspunkt war, wenn ich Sie richtig verstanden habe: Was kriegen unsere künftigen Lehrer mit? Und wie gestaltet sich eigentlich die Lehrerausbildung? Und da würde ich jedenfalls sagen, dass künftige Geschichtslehrerinnen im Osten Deutschlands überall an den Universitäten dieses Rüstzeug mitbekommen können und, wenn sie sich denn dafür interessieren, auch an vielen westdeutschen Universitäten. Dass es  – nur weil es keine Lehrstuhldenomination »DDR-Geschichte« gibt  – an Lehrveranstaltungen und an universitärer Lehre in diesem Bereich wirklich substanziell mangelt, das müssten Sie mir noch zeigen. Birthler: Das können wir jetzt sicherlich nicht vertiefen. Aber ich erinnere mich an eine Studie der Stiftung Aufarbeitung, die in der Frage, was die DDR in der historischen Bildung für eine Rolle spielt, zu sehr anderen Befunden kam. Wie Geschichte erzählt wird Morina: Ganz aktuelle Untersuchungen zu dieser Frage zeigen ja, dass das Problem mit der Vermittlung von Wissen über die DDR in der schulischen Bildung wohl nicht mehr so sehr eine Frage der Curricula ist, sondern der system- und diktaturvergleichenden Perspektive, in der die DDR meist vermittelt wird und wohl Fragen an die Deutsche Einheit

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auch der Spannung zwischen Elternhaus-Geschichte(n) und Geschichtsunterrichtsgeschichte, wenn man so will.44 Um aber den eben gesponnenen Faden noch einmal aufzunehmen: Die Frage, wieviel und welches Wissen heutige Schüler und Schülerinnen über die DDR haben, hat ja kaum etwas mit der demokratischpolitischen Bildung der davorliegenden Generationen zu tun, die ich vorhin angesprochen habe, also jener, die nach 1990 schon fertig waren mit ihrer Schulbildung. Interessanterweise haben Sie, Frau Birthler, auf die Frage »Wie erreichen wir die demokratieskeptischen Älteren, die nicht mehr durch diese Institutionen gehen?« mit dem Verweis auf die universitäre Lehre geantwortet. Darf ich nachfragen, wo Sie hier den Zusammenhang sehen? Birthler: Jetzt haben Sie mich ertappt. Ich habe die Frage schon gehört, und ich bin, glaube ich, auf das andere Thema ausgewichen. Zum einen, weil ich es wichtig finde … Morina: Ja, das ist es auch. Birthler: Zum anderen, weil mir zu diesem Thema nicht viel einfällt. Ich kann nur sagen, dass ich natürlich wahrnehme und staune, was es inzwischen alles so für Medienproduktionen gibt, solche und solche. Das wird ja manchmal von den Fachleuten geringgeschätzt. Aber ich glaube, die Älteren, die ja auch viel Fernsehen und Filme schauen, für die sind beispielsweise solche Produktionen wie die sehr gute Serie Weißensee und andere wirklich ein Anlass, darüber zu diskutieren und intensiver nachzudenken. Gerade für die Generation jenseits der 50 sind solche Produktionen schon von Bedeutung. Solche Filmereignisse beispielsweise, vielleicht aber auch Äußerungen von Menschen, die so etwas wie Vorbilder sind, spielen schon eine wichtige Rolle. Es ist ja illusorisch zu meinen, man könnte ein großes Programm politischer Bildung für Leute über 50 anbieten. Das kann man natürlich machen. Aber der Erfolg wird sehr begrenzt sein. In der Form erzählter Geschichten erreicht man wahrscheinlich mehr. Diese Geschichten dann mit der eigenen Geschichte zu vergleichen, sich überhaupt an sie erinnern zu lassen – da geschieht noch am meisten. Morina: Ja, aber es reicht ja nicht, wenn man immer nur mit der eigenen Geschichte konfrontiert bleibt, dem eigenen biogra­ fischen Erfahrungshorizont, wie etwa in Weißensee. Das erwei46 Fragen an die Deutsche Einheit

tert sozusagen den Gesichtskreis noch nicht in Richtung: Was macht eigentlich die – vor allem alte – bundesrepublikanische Demokratie aus, in ihrem Gewachsensein? Auch wenn einige literarische oder filmische Darstellungen sehr klug und reflektiert und vielschichtig sind, bleiben sie eben doch oft in einem begrenzten, eigensinnigen Diskurs- und Erfahrungsraum hängen und reichen nicht in das hinein – oder schöpfen aus dem heraus –, was Herr Frei am Anfang beschrieben hat. Frei: Ich meine, an dieser Stelle können wir doch auch mal ein bisschen selbstkritisch auf die Geschichtswissenschaft blicken. Morina: Herzlich gerne! Frei: Ich habe das ja schon angedeutet: Wo sind denn die großen, tollen – ich sage das jetzt bewusst mal so – lebenssatten Bücher, die historiografisch einerseits unanfechtbar sind und andererseits aber auch spannend? Ich meine also Darstellungen, die DDR-Geschichte, Leben in der DDR , Alltag in der DDR auf den Punkt bringen, die fesselnd geschrieben sind und die die Menschen da abholen, wo sie ihre Fragen haben. Da sind Serien wie Weißensee, wenn sie gut gemacht sind, eben allemal weiter und besser als das, was unsere zum Teil trostlos überspezialisierte Geschichtswissenschaft jetzt mehr als 20 Jahre lang produziert hat. Woher habe ich denn mein Bild vom Alltag in der DDR? Doch nicht aus geschichtswissenschaftlichen Büchern, sondern aus einer wirklich erstaunlichen Fülle von Literatur, von Romanen – übrigens auch von hochbegabten jungen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die über die Transformationszeit der 1990er und 2000er Jahre schreiben. Für diese Zeit gibt es viel mehr und Interessanteres über Ostdeutschland als über den Westen, wobei das natürlich auch mit dem Sujet zu tun hat, nicht nur mit der Kunst und dem Talent der ostdeutschen Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Morina: Unter den Romanen, die in den letzten zehn, zwanzig Jahren den Deutschen Buchpreis erhalten haben, sind ja in der Tat nicht wenige, die sich genuin »ostdeutschen« Themen widmen, zugleich aber auch universale Themen verhandeln, wie die Frage nach Freundschaft, nach Freiheit oder Willensfreiheit. Mir fällt Seilers Kruso ein oder Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts. Das ist eine schöne Aufgabe für ein Seminar, sich diese Fragen an die Deutsche Einheit

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Literatur und ihren zeithistorischen Kontext mal etwas genauer vorzunehmen. Aber wir sind jetzt von der fachwissenschaftlichen Ebene, auf die Sie ja eben selbstkritisch blicken wollten, abgekommen … Frei: Ja, weil da nichts ist, in der Fachwissenschaft! Morina: Die Frage ist, ob es damit getan wäre, »spannende«, in Ihrem Sinne »gute Darstellungen« zu haben. Ich bin da ganz bei Ihnen zu sagen, selbst das würde dann nicht mehr reichen, weil man es im Deutsch-Deutschen, im Verflochtenen, im Übergreifenden sehen kann und sollte. Inzwischen passiert das ja auch schon, da ist in letzter Zeit Einiges im Gange. Frei: Deswegen hoffe ich wirklich – das ist jetzt nicht im Sinne von Reklame für Jena gemeint  –, dass dieser erweiterte Blick einer erfahrungsgeschichtlich dimensionierten Transformations­ geschichtsschreibung weiterführt. Der wird natürlich auch nicht für ein Massenpublikum sein, aber der Anspruch muss sein, dass eine interessierte, aufgeklärte bildungsbürgerliche Öffentlichkeit damit etwas anfangen kann. Morina: Machen Sie das denn in dem Jenaer Verbundprojekt aus den sogenannten »DDR-Millionen« des BMBF45 nicht auch nur für den Ostteil? Oder sind diese Projekte genuin ost-westlich gedacht? Ruhrgebiet und Lausitz zusammengedacht, etwa? Frei: Tja, da gilt natürlich am Ende: Wer zahlt, schafft an. Mit anderen Worten, solche Gelder werden gerade nicht für eine vergleichende Transformationsforschung ausgelobt, die zum Beispiel das Ruhrgebiet mit einbezöge. Also etwa im Sinne dessen, was Lutz Niethammer in dem Projekt »Lebensgeschichte und Sozialkultur von 1930 bis 1960« für den Westen gemacht und dann mit der »Archäologie«46 in gewisser Weise für die DDR weitergeführt hat. So sind diese Ausschreibungen meist eben gerade nicht angelegt. Das heißt nicht, dass man unabhängig davon nicht entsprechende Anträge stellen könnte und nicht auch bewilligt bekäme, wenn sie gut und innovativ sind.

48 Fragen an die Deutsche Einheit

Das Erbe der »Aufarbeitung« in der politischen Kultur der Gegenwart Morina: Ich würde gern noch mal etwas eingehender auf die Aufarbeitungsfrage zu sprechen kommen. Aufarbeitung mit oder auch ohne Anführungsstriche. Frau Birthler, Sie waren jahrelang intensiv und sozusagen hauptamtlich damit befasst und haben die DDR-Aufarbeitung auch nach Ihrer Zeit als Leiterin der BSTU immer wieder kommentiert und begleitet. Und wenn ich es richtig gelesen habe, dann ist die Bilanz, die Sie in jüngerer Zeit gezogen haben, recht gemischt. Einerseits bezeichnen Sie diese wissenschaftliche, politische und strafrechtliche Arbeit und jene in Sachen Wiedergutmachung, die geleistet worden ist, als »stattlich«; man könne »beachtliche Erfolge« benennen, haben Sie zum 20. Jahrestag der Einheit geschrieben.47 Andererseits sahen Sie schon damals auch unzureichende und beunruhigende Entwicklungen. Sie verwiesen zum Beispiel auf die prekäre soziale Lage von SED -Opfern oder, darüber sprachen wir eben schon ausführlich, auf das mangelhafte Grundwissen über die DDR . Oft stünde die Verharmlosung der Diktatur neben einer mangelnden Wertschätzung demokratischer Institutionen, auch darüber sprachen wir bereits. Für mich stellt sich da auch die Frage, inwiefern die »Aufarbeitung« der letzten Jahre selbst – inzwischen sind es 30 – zu dieser Entwicklung beigetragen hat? Zu diesen Leerstellen? Ich formuliere das bewusst ein bisschen provokant. Gab es Leerstellen, die wir erst heute so richtig wahrnehmen können? Oder sehen Sie die Ursachen dafür doch eher in anderen gesellschaftlichen Bereichen? Inwieweit hat die Aufarbeitung Ihren eigenen Zweck konterkariert, indem sie so angelegt war, wie sie es bisher war? Birthler: Naja, das erste, was mir dazu einfällt, ist natürlich, dass viele Leute, mehr noch im Westen als im Osten, den Begriff Stasi mit DDR identifizieren. Dadurch, dass es eine eigene Institution gab, aber auch dadurch, dass Themen wie etwa Verrat und Überwachung tief in die Seele eingedrungen sind, gab es eine Überbetonung dieses Elements. Das ist nicht die Schuld von Institutionen. Zur BSTU – als Beispiel – habe ich immer, in jedem Vortrag, gesagt: Die Stasi war ein Werkzeug, war ein Dienstleister Fragen an die Deutsche Einheit

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der SED, Schild und Schwert der Partei eben. Aber ich glaube, die Arbeitsweise der Stasi und die Tatsache, dass sie viele einzelne Leben betraf, das hat sich immer davorgeschoben. Es ist versucht worden, diesen einseitigen Fokus zu korrigieren und dagegen zu steuern, aber offenbar nicht mit so großem Erfolg. Das hatte auch mit den Medien zu tun, die sich sehr viel stärker auf die Skandale und auch auf Fälle von Verletzung, von Verrat und dergleichen konzentriert haben. Dagegen hat mein Vorgänger schon angekämpft. Ich auch. Aber offenbar war das ein zu magisches Thema, als dass man sich dagegenstemmen konnte. Ansonsten, muss ich sagen, ist eigentlich sehr viel geschehen. Ich habe das ja in der Bilanz, die Sie zitiert haben, auch gesagt. Insbesondere wird dies deutlich, wenn man es mit anderen Ländern vergleicht, die Diktaturen überwunden haben oder mit Deutschland nach 1945, zum Beispiel im Hinblick auf die Zahl von wissenschaftlichen Forschungsarbeiten, von Institutionen, Gedenkstätten und so weiter. Das ist nie ernsthaft in Frage gestellt worden. Wir hatten natürlich auch das Glück, dass die Gelder da waren, überwiegend aus dem Bundeshaushalt. Da gab es sehr viel, und im Unterschied zur frühen Bundesrepublik damals auch von Anfang an eine Vielzahl von Bürgerbewegungen. Vieles ist sozusagen aus kleinen Gruppen hervorgegangen. Wenn ich zum Beispiel an die Mauer-Gedenkstätte hier in Berlin denke, in der Bernauer Straße. Ich wohne 300 Meter davon entfernt, und sehe, wie die angenommen wird, wie ständig Gruppen von Menschen unterwegs sind und lesen – das hat mal begonnen mit einer kleinen Bürgerinitiative. Und dann hat sich glücklicherweise die Politik Berlins und des Bundes der Sache angenommen und die Verstetigung dieser Arbeit ermöglicht. An dieser Stelle wäre auch eine Reihe äußerst wichtiger und für das breite Publikum gut verständlicher Bücher zu nennen, Sachbücher ebenso wie Belletristik oder Biografien. Was ich ganz interessant finde, ist auch die Entwicklung der Begrifflichkeit. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich immer gegen den Begriff »Vergangenheitsbewältigung« angekämpft habe, den ich nie mochte, weil er das Bild entstehen lässt, dass die Vergangenheit irgendwann in eine Vitrine gestellt wird, nachdem sie besiegt wurde und keine Macht mehr über uns hat. 50 Fragen an die Deutsche Einheit

Aber das ist natürlich ein ganz falsches Bild. Danach hat sich der Begriff der »Aufarbeitung« durchgesetzt, den ich aber auch kritisch sehe. Ich spreche eigentlich lieber von Erinnerungskultur, weil damit die Breite des ganzen Unterfangens deutlich wird. Jeder Streit über die Umbenennung einer Straße zum Beispiel, der Streit um Gedenktage oder um Filme. Der Streit darüber, was man mit Leuten macht, die schuldhaft in das System verstrickt worden waren. All das zusammen sind Themen der Erinnerungskultur. Auch die Frage: Wie haben sich eigentlich Menschen verhalten? Die Stasi-Unterlagen-Behörde verfügt über einen riesengroßen Schatz an Geschichten. Wir haben daraus Anregungen für die Schule entwickelt, wie man darüber diskutieren kann, warum die einen zu Verrätern wurden und die anderen mutig waren, das sind ja wichtige Fragen. Insbesondere mit Jugendlichen habe ich mit solchen Erzählungen, in denen es auch oft um Jugendliche ging, sehr gute Erfahrungen gemacht. Auch viele Erwachsene hören lieber etwas über konkrete Erfahrungen als theoretische Abhandlungen. Und manchmal waren die Diskussionen und Gespräche danach das, worauf es eigentlich ankam. Und auf diesem Wege tauchte so ganz allmählich der Begriff der Erinnerungskultur immer öfter auf. Und ich finde ihn auch am angemessensten für den Umgang mit der Geschichte. Morina: Ja, Herr Frei, so wie ich Sie kenne, regt sich bei Ihnen hier sicher einiger Widerspruch. Es ist ein ganz interessanter, anderer begriff‌licher Zusammenhang, in den Frau Birthler hier ihr positives Plädoyer für den Begriff der Erinnerungskultur einbringt, nicht wahr? Frei: Inhaltlich stimme ich Frau Birthler da vollkommen zu. Der Begriff der »Vergangenheitsbewältigung« ist ja ein ganz alter. Der stammt aus den mittleren 1950er Jahren, war damals kritisch-auf‌klärerisch gemeint. Er kommt aus dem Kreis der evangelischen Akademien und war ursprünglich ganz bestimmt nicht so assoziiert, wie Sie ihn assoziieren und wie wir ihn üblicherweise heute assoziieren, nämlich als once and for all. Nach dem Motto: Wenn wir die Vergangenheit bewältigt haben, dann ist es auch gut. Mit diesem Begriff können wir heute also nichts mehr anfangen, und den Begriff der Aufarbeitung mag ich auch Fragen an die Deutsche Einheit

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nicht. Da steckt mir zu sehr die deutsche Tüchtigkeit drin – mit größter Konsequenz werden die Dinge zu Ende aufgearbeitet. Birthler: Sofas, die neu bezogen werden, daher stammt der Begriff »Aufarbeiten« ja ursprünglich auch! Frei [lacht]: Das ist eine schöne Assoziation! Aber jetzt muss ich auch sagen, dass mir dieser sich nicht nur langsam durchsetzende, sondern omnipräsent gewordene Begriff der Erinnerungskultur – Sie haben sich dieser saloppen Sprache bedient, dann tue ich das hier jetzt auch –, dass mir der eben auch gehörig auf den Keks geht. Die Deutschen haben ja die Fähigkeit, an alles und jeden das Wörtchen Kultur dranzuhängen. Erinnerungskultur, Sanitärkultur und was weiß ich alles noch. Birthler: Kulturbeutel nicht zu vergessen … Frei [lacht]: Ja, Kulturbeutel! Aber jetzt mal wieder etwas ernster: Warum ist mir der Begriff Erinnerungskultur unsympathisch? Weil ich glaube, dass er die Sache, um die es geht, letzten Endes feuilletonisiert. Dieser Kultur kann man sich anheimgeben, die kann man teilen, man kann es aber auch ebenso gut lassen. In der Demokratie geht es aber doch darum, dass die Bürger ein kritisch-aufgeklärtes Geschichtsbewusstsein entwickeln; dass wir wissen, was für eine Vergangenheit wir haben. Das gilt übrigens auch für jene, die neu hinzugekommen sind im Laufe der Jahrzehnte, die schon deshalb gar nichts erinnern können, die aber um diese Vergangenheit wissen sollen. Ganz generell geht es also nicht um Erinnern, sondern um Wissen, um Vermittlung von Geschichtsbewusstsein. Bezogen auf die DDR-Vergangenheit mag das noch etwas anders aussehen, weil Dinge auch noch aufzuklären statt aufzuarbeiten sind. Aber wenn wir dies jetzt – und daher kommt ja der Begriff der Erinnerungskultur  – noch einmal auf die Auseinandersetzung mit der NS -Zeit beziehen: Wer, bitteschön, kann sich denn an die NS -Zeit heute noch erinnern – außer den letzten Überlebenden des Holocaust und einigen alt gewordenen HJ-»Pimpfen« und BDM-Mädchen? Ansonsten aber geht es um Wissen. Bestenfalls kann es darum gehen, dass wir unser Wissen erinnern. Und da ist mir dann »Geschichtsbewusstsein« lieber: ein aufgeklärter Umgang mit unserer Geschichte, mit der Geschichte von zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen. Das 52 Fragen an die Deutsche Einheit

finde ich viel zielführender als diesen wabbeligen Begriff der Erinnerungskultur. Birthler [lacht]: Da muss ich jetzt nochmal dagegenhalten, obwohl ich verstehe, was Sie meinen. Aber das ist doch eine sehr kognitive Sicht. Zu dem Begriff Erinnerungskultur gehört für mich beispielsweise auch das Nachdenken über Scham, das Ernstnehmen von Trauer über verlorenes Leben. Und das ist ja auch ein sehr emotionaler kultureller Vorgang. Ob eine Gesellschaft darüber streitet, wie man beispielsweise mit Denkmälern umgeht. Das alles geht weit über die kognitive Seite des Umgangs hinaus, einschließlich der Orte oder der Institutionen oder Zeremonien, die man schafft, um diese Erinnerung zu pflegen. Und all das gilt natürlich auch für die Zeit des Nationalsozialismus, die niemand von uns erlebt hat, aber die immer noch sehr wirkmächtig ist. Frei: Inhaltlich bin ich wirklich bei Ihnen, natürlich geht es auch um emotionale Dimensionen. Aber wenn wir – ja, da bin ich doch immer noch ein unverbesserlicher Optimist – mit dem Lernen aus Geschichte und aus geschichtlichen Erfahrungen weiterkommen wollen, dann brauchen wir das Kognitive und müssen über die Emotionen hinauskommen. Sonst bleiben wir dort stehen, wohin Guido Knopp gekommen ist, dessen Zeitzeugen immer wieder sagten: »Ja, Krieg ist schlimm.« Birthler: Das ist ja kein Gegensatz. Es gehört doch eng zusammen. Was nützt mir denn das viele Wissen, wenn das nichts mit mir macht. Wenn es keine Empathie ermöglicht und kein Gemein­schaftsgefühl. Frei: Geschichtsbewusstsein und Empathie schließen sich ja nicht aus. Unser Wissen und Reflektieren über die Geschichte muss natürlich auch Folgen haben für unser eigenes Leben und gesellschaftliches Handeln. Sonst ist es antiquarisches Wissen, und darum geht es mir ganz und gar nicht. Morina: Also vielleicht, um das zusammenzubinden: Ich finde es durchaus bedauerlich, aber nachvollziehbar, dass diese beiden doch parallel laufenden Diskurse über den Umgang mit der NS -Vergangenheit und mit der DDR-Vergangenheit, die ja stark miteinander in Beziehung stehen, immer entweder pro oder contra gegeneinander in Stellung gebracht werden, affirmativ Fragen an die Deutsche Einheit

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oder kritisch, weil man mit einem Vergleich die Grausamkeit des NS -Regimes vermeintlich verharmlose bzw. die Grausamkeit der SED -Herrschaft vermeintlich überzeichne. Vielleicht ändert sich das auch in naher Zukunft. Ich fände es sinnvoll, das Nachdenken in beiden Bereichen stärker miteinander in Beziehung zu setzen, mehr voneinander zu lernen. Zum Beispiel stellt sich für die NS -Erinnerung dringend die Frage, was bedeutet das Aussterben der Zeitzeugen, die Veränderung der bundesrepublikanischen Gesellschaft hin zu einer Gesellschaft, in der viele Menschen leben, die hier nicht geboren sind, deren Vorfahren hier nicht geboren sind, für den Umgang mit der NS -Vergangenheit? Das könnte man doch beinahe analog auch in Bezug auf den Umgang mit der DDR-Geschichte fragen, weil eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung, nämlich die westdeutsche, diese Zeit und dieses Land DDR auch nicht erlebt hat oder nur wenig Bezug dazu hat. Zwei Drittel der Westdeutschen hatten keine Verwandtschaft im Osten – die Erfahrungen von Herrn Frei sind ja gewissermaßen eine Mehrheitserfahrung. Und dann ist auch die Frage, wie Wissen, Emotionen und Reflexion zusammenhängen, drei unterschiedliche Ebenen, die aber freilich eng miteinander verbunden sind. Volkhard Knigges schönes Wort von der Geschichte als »bedachte[r] Selbstbeunruhigung«, als »Verunsicherung«48, umfasst diese drei Ebenen treffend, finde ich. Es geht um Auf‌klärung, die einen aber immer wieder auch auf sich selbst zurückwirft, indem man dazu eingeladen wird, die eigene Perspektive mit hineinzudenken. Gleichzeitig sollte man dadurch in die Lage versetzt werden und dazu bereit sein, andere Perspektiven zu hören und zu verstehen  – »Verstehen ändert«, um nochmal Knigge zu zitieren.49 Was ich sagen will, ist, dass diese gewaltigen theoretisch-konzeptionellen Fragen, die sich ja für die Gedenkarbeit und historisch-politische Bildung insgesamt stellen, doch recht ähnlich gelagert sind. Wäre es nicht lohnenswert, zu eruieren, inwiefern der eine Bereich vom anderen profitieren kann? Frei: Ich hadere ein bisschen mit »Geschichte als Verunsicherung«. Im Sinne dessen, was Frau Birthler vor einer halben Stunde gesagt hat: Es geht auch darum, aus der Geschichte Bestärkung zu ziehen  – etwa zu zeigen, dass es widerständiges 54 Fragen an die Deutsche Einheit

Verhalten und Tapferkeit auch in der Diktatur gibt. Das zu betonen, kann auch dem demokratischen Staatsbürgerbewusstsein auf ‌helfen. Zusammenhalt jenseits der »Inneren Einheit«? Morina: Ja sicher, ganz im Sinne des alt-bundesrepublikanischkritisch entwickelten Geschichtsbewusstseins. Das hatte dann ja am Ende  – da ist die Frage, wie sich das heute eigentlich noch darstellt  – doch einen relativ hohen Grad an Akzeptanz und Zustimmung entfaltet, gerade nicht in einem großmächtigen, chauvinistischen, nationalistischen Sinne, sondern in einer offenen, selbstkritischen, ja »postnationalen« Haltung gegenüber der eigenen Geschichte. Diese Haltung war nach innen und nach außen durchaus eine Quelle von Souveränität und Stabilität, würde ich behaupten. Insofern ist es natürlich auch eine Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung, diese Fragen, vor allem auch die Frage nach der damaligen Akzeptanz und Reichweite, nach den Bedingungen dieser kollektiven Haltung, genauer zu beleuchten, als das bisher geschehen ist, und damit auch gegenwärtige Debatten um wichtige, grundsätzliche Perspektiven auf die Selbstverständigungsprozesse einer Gesellschaft zu ergänzen. Das bringt mich nun noch einmal zurück zur Frage der »Inneren Einheit«. Sie beide haben schon davon gesprochen, beide recht kritisch. Ich halte die Rede von der »Inneren Einheit« auch für eine unglückliche politische Formel. Man hat mit ihr eine Erwartungshaltung begründet, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Denn das Maß und die Prämissen, mit denen hier gemessen wurde und wird, sind höchst fragwürdig.50 Hier in Bielefeld gibt es ja bekanntlich einen Sonderforschungsbereich zu »Praktiken des Vergleiches«. In diesem Fall kann man wohl sagen, dass die Art und Weise, wie diese Formel seit Jahrzehnten implizit und explizit zu immer wieder ähnlichen Ost-West-Vergleichen herangezogen wird, den gesellschaftlichen, den innerdeutschen »Zusammenhalt«, wenn man das aktuelle Wort dafür gebrauchen möchte, nicht unbedingt gestärkt hat, im Gegenteil. Was war damit einst gemeint? Was ist eigentlich davon aus heutiger Sicht noch geblieben? Sollte man sich nicht von jedem Fragen an die Deutsche Einheit

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impliziten wie expliziten Homogenitätsverständnis als Idealbild verabschieden? Oder ist die Zusammenhaltsdiskussion, die wir jüngst wieder sehr viel intensiver führen, doch etwas, was wichtig bleibt? Frei: Es gibt ja inzwischen sogar einen Forschungsverbund zum Thema »Gesellschaftlicher Zusammenhalt«  – natürlich auch eine Reaktion auf die Herausforderungen des Populismus, die wir nicht nur in Deutschland, aber eben auch in Deutschland massiv haben. Das kann man natürlich so aufsetzen, obgleich ich bis jetzt noch nicht wirklich gesehen habe, was da eigentlich passieren soll. Wie es scheint, ist da mal wieder schnell viel Geld ausgegeben worden in der Hoffnung, dass die Wissenschaft flugs Probleme löst, die die Politik alleine nicht lösen kann. Aber wenn es gut läuft, kann doch bestenfalls herausgearbeitet werden, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt auf Heterogenität beruhen können muss – und eben nicht auf Homogenität. Und dass es darum geht, Toleranz, ja mehr noch: Empathie für gesellschaftliche Heterogenität zu begründen. Da sind wir, glaube ich, in der Bundesrepublik wirklich noch ein bisschen hinterm Mond. Das verdanken wir nicht zuletzt dieser unsäglichen »Ausländerdebatte«, die wir jahrzehntelang geführt haben – und der von der Politik verweigerten Anerkennung des Faktums, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist. Das hat sich ja gewissermaßen erst gestern geändert. Insofern glaube ich, dass die nun aufs Gleis gesetzte »Zusammenhaltsforschung« einige Begriffe von vornherein ad acta legen müsste, die hierzulande viel zu lange unhinterfragt hochgehalten worden sind. Dazu gehört neben dem Begriff der »Inneren Einheit« auch der der »Integration«. Alle müssen sich integrieren – in was eigentlich? Für den demokratischen Zusammenhalt von Heterogenem zentral notwendig sind unser Grundgesetz und unsere Verfassungsordnung – Punkt. Wenn Zusammenhaltsforschung so verstanden wird, dann mag das ein guter Ansatz sein. Aber das bedeutet eben auch, dass wir nicht nur den Begriff der »Inneren Einheit«, sondern auch manches andere an Homogenitätsvorstellungen einfach mal beiseitelassen sollten. Birthler: Ich glaube, es handelt sich hier oft um nötige Emanzipationsprozesse. Emanzipation kann man begünstigen, man 56 Fragen an die Deutsche Einheit

kann einen guten Rahmen dafür schaffen. Aber letztlich ist sie zu leisten von denen, die benachteiligt oder im Schatten leben. Ich habe eine Zeit lang immer mit Vergnügen die Analogien zwischen der Geschlechter- und der Ost-West-Frage gesammelt. Das ist ein feines Thema. Da gibt es eine ganze Menge Analogien. Das Verhalten der Ostdeutschen, manchmal auch eine gewisse Larmoyanz und die Erwartung: Ich möchte versorgt werden. All das hat mich sehr erinnert an manche Diskussion in der Geschlechter-Debatte. Auch die Art, wie man mit Frustrationen umgeht. Eine Zeitlang hatte man das Gefühl, der Osten hat kollektiv Migräne. Anstatt endlich mal zu sagen: »Ich bin für mein Leben verantwortlich, und ich kämpfe um meine Rechte, und ich weiß, was ich wert bin.« Und das betrifft die Leute aus dem Osten ebenso wie andere politisch unterrepräsentierte Gruppen in unserer Gesellschaft. Und ich wäre schon dafür, dass diese Prozesse der Emanzipation, auch der Selbstfindung, des Entwickelns von Selbstbewusstsein gefördert werden und dass die Möglichkeit dazu von den Betroffenen selbst auch ergriffen wird. Da müssen wir gar nicht mehr über Einheit und Einheitlichkeit reden, denn wer emanzipiert ist, will gar nicht mehr einheitlich sein – nur gleichberechtigt. Morina: Uns prägt dabei natürlich stark der offizielle Diskurs, der da geführt wird, der Routine ist seit Jahrzehnten. Ein bisschen wandelt er sich in den letzten Jahren, wenn ich das richtig beobachtet habe, insofern als die letzten beiden Bundespräsidenten, wenn sie jetzt von Zusammenhalt und »Innerer Einheit« sprechen, ausdrücklich nicht nur auf ost-westliche Unterschiede und Verständigung abheben, sondern auch die Einwanderungsgesellschaft im Blick haben. Birthler: Auch Verantwortung füreinander steckt drin. Eigentlich suchen wir noch nach Begriffen, die das gut beschreiben. Morina: Genau. Das halte ich auch für einen sehr wichtigen Teil der Übung, dass man erst einmal feststellt, was mit diesen Begriffen und Konzepten eigentlich gemeint ist. Wenn ich ein Forschungsvorhaben zum »Zusammenhalt« entwickelt hätte, hätte ich den Begriff schon im Antrag sofort erst mal in Anführungszeichen gesetzt, um diese notwendige Distanzierung und Reflexion klarzumachen, denn es ist natürlich in diesem Kontext Fragen an die Deutsche Einheit

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zunächst einmal ein eminent politischer und normativer Begriff. Das passiert sicher auch in den jetzt entstandenen Forschungszusammenhängen. Auch hier spielt also, ähnlich wie in Bezug auf die aktuelle großfinanzierte DDR-Forschung, der politische Wille, die Agenda hinter diesen Forschungsprogrammen eine entscheidende Rolle. Der Zuschnitt dieser Programme prägt sehr stark, was wir tun. Das wissen wir, aber es ist immer wieder gut, sich das zu vergegenwärtigen. Und zurückzumelden an die Politik, dass es vielleicht günstig wäre, das etwas aufzubrechen bzw. die Verfahren, die dazu führen, dass die Themen so dezidiert und oft gerade nicht wissenschaftsimmanent vorab zugeschnitten werden, vielleicht doch zu überdenken. Sie offener oder anders zu gestalten, damit nicht diese selbst verfestigten Diskurse und damit teilweise ja die Probleme selbst, um die es geht, perpetuiert werden. Demokratie und Öffentlichkeit Morina: Ich möchte abschließend mit Ihnen von der Geschichte und Gegenwart aus noch etwas in die Zukunft schauen, und zwar in Bezug auf das Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit – in Deutschland, aber vielleicht auch darüber hinaus. Demokratie braucht Öffentlichkeit und zwar keine gänzlich beliebige, sondern eine plurale, irgendwie überschaubare Kommunikationskultur und -struktur, die auch in ihren diversen Teilöffentlichkeiten einem Mindestmaß an gemeinsamen Regeln und Normen unterworfen ist. Herr Frei, Sie weisen häufig auf den Wandel, wenn nicht gar drohenden Untergang der »klassischen« bürgerlichen Öffentlichkeit hin. Dieser Wandel hat zum einen mit der Digitalisierung und den gar nicht mehr neuen sozialen Medien zu tun. Im deutschen Kontext hat dies aber zum anderen auch mit der spezifischen politischen Kultur Ostdeutschlands und den dazugehörigen Traditionen im Hinblick auf den Umgang mit öffentlich verhandelten Informationen und Meinungen zu tun und mit der Rolle von staatlichen, halbstaatlichen und privaten Medien. Mir fällt dazu eine ganze Reihe von Fragen ein: Inwiefern ist unsere derzeitige polarisierte Lage die Folge unserer spezifischen Geschichte? Und was hilft aus dieser 58 Fragen an die Deutsche Einheit

Lage? Sollte sich »der Staat« intensivere Gedanken über eine »wehrhaftere« demokratische Medienpolitik machen? Und hilft dabei der Blick zurück, etwa auf die einst eindrückliche, diktaturstürzende ostdeutsche Medienkompetenz, auf die Fähigkeit, zwischen den Zeilen zu lesen und offiziösen Aussagen stets eine gewisse Skepsis entgegenzubringen? Was bleibt von dieser ja einst hart erkämpften Mündigkeit? – Vielleicht möchten Sie, Frau Birthler, zuerst reagieren? Birthler: Es gab in der DDR keine streitbare Öffentlichkeit, es gab allenfalls kleine Teilbereiche, in denen eine offene Debatte stattfand. Das hatte zum Teil mit den Kirchen zu tun, zum Teil aber auch mit vielen Einzelnen, die für sich beschlossen haben: Ich tue jetzt mal so, als wäre ich frei. Und das hat uns ja auch gutgetan. Wir haben diesen Diskurs geführt. Aber er war natürlich, wenn Sie so wollen, ein Not-Diskurs. Er kann nicht ersetzen, was in der Öffentlichkeit, in den Medien und der Literatur unter Einbeziehung von sehr viel mehr Menschen geschehen kann. Aber ich bin froh um diesen Erfahrungsschatz, mit dem wir dann auch weiter operieren konnten, wir verfügten über einige Kompetenzen, über die Fähigkeit zu diskutieren oder politische Haltungen zu Papier zu bringen. Aber ich habe später gemerkt, dass manches von dem, was wir lernen mussten unter den Bedingungen der Diktatur, sich nach 1989 als etwas unpraktisch erwies. Wir haben uns ja beispielsweise gar nicht leisten können, tiefe Differenzen zwischen uns auszutragen, zwischen den unterschiedlichen Menschen in der Opposition. Wir hatten einen so gefährlichen gemeinsamen Gegner, der das sofort genutzt hätte. Wir hatten sozusagen das Gefühl, sehr viel einiger zu sein unter den Bedingungen der Opposition, als wir das tatsächlich waren. Das hat sich hinterher auch herausgestellt, als die Menschen dann in ganz verschiedene Richtungen gegangen sind. Das war an sich eine gute und vor allem normale Differenzierung, die aber auch mit viel Trauer verbunden war. Plötzlich ist der eine in der SPD und ich bin immer noch beim Bündnis 90, und jener landet sogar bei der CDU. Das musste man erst einmal verkraften. Das war aber eigentlich schon angelegt, nur dass wir es vorher nicht austragen konnten. Fragen an die Deutsche Einheit

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Dann gab es noch eine interessante Erfahrung, die die Lautstärke betraf. Wir hatten ja gelernt, mit vergleichsweise leisen Tönen, manchmal auch ganz unausgesprochen eine erhebliche Wirkung zu erzielen. Wir hatten gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Und all das war dann Anfang der 1990er Jahre nicht sehr brauchbar als Erfahrung – ich spreche jetzt natürlich wieder aus einer bestimmten Wahrnehmung –, denn die meisten von uns aus der Bürgerbewegung sind ja bei den Grünen gelandet. Da konnte man mit leisen Tönen wirklich so gar nichts ausrichten. Oder mit bürgerlichem Diskurs. Das lief da ganz anders. Und bis wir das gelernt hatten, waren dann auch etliche Optionen schon längst vorbeigezogen. Und was ist von all dem geblieben? Ich lebe jetzt als freier Mensch in einem freien Land. Und das genieße ich jeden Tag, auch wenn die Bedingungen gar nicht rosig sind. Das ist etwas, was ich jedem wünschen würde. Auch hier und heute. Das war übrigens eine meiner größten Enttäuschungen 1990, als ich Bundesbürgerin wurde: Ich dachte, jetzt sind diese ganzen Hemmnisse, sich frei zu äußern, seine Meinung ungeschminkt zu sagen, zu streiten, weg. Aber dann komme ich in ein Land, in dem es unglaublich viel Opportunismus, Duckmäusertum, Feigheit gibt, wo Leute um ihrer Karriere oder des Geldes willen oder aus Angst, schräg angeguckt zu werden, nicht offen streiten. Das fand ich ziemlich enttäuschend. Was riskieren die schon, habe ich mich damals oft gefragt. Deswegen finde ich das ziemlich wichtig. Dass man sich nicht nur die Verluste und Defizite der Vergangenheit anschaut, sondern auch fragt: Was davon kann jetzt fruchtbar werden in der Zukunft? Manchmal, wenn ich in höheren Schulklassen zu Besuch war, habe ich das Gespräch mit einem echten Dilemma aus meinem Leben begonnen, etwa so: »Ich würde gern Ihre Meinung zu folgendem Sachverhalt hören: Weil mein Mann und ich in der DDR politisch engagiert waren und oppositionell, durften unsere drei Kinder kein Abitur machen. Jetzt frage ich Sie: Dürfen Eltern so was? Dürfen Eltern ihre Überzeugungen leben, wenn ein Teil der Rechnung von ihren Kindern bezahlt wird?« Das hat immer funktioniert, und meistens folgte eine lebhafte Debatte unter den Schülern, ob Eltern verpflichtet sind, alles für 60 Fragen an die Deutsche Einheit

die Karriere ihrer Kinder zu tun, oder ob sie ihr eigenes Leben, das Recht auf ihre eigene Meinung haben, auch wenn das Nachteile bringt. Und dann sind sie mit drei kurzen Schritten auch schon in der Gegenwart. Welchen Preis bezahle ich dafür, dass ich authentisch und aufrichtig lebe und welchen Preis mute ich dafür Anderen zu. Das ist für mich immer ein gutes Beispiel für ein Thema, das sich mit dem Ende der DDR nicht erledigt hat. Die Frage nach Zivilcourage. Die Frage nach der Selbstbehauptung. Das sind ja immerwährende Themen. Und man kann in diesen besonders schwierigen Zeiten sicherlich sehr viel Anschauungsmaterial und auch lehrreiche Beispiele finden, weil sie so zugespitzt sind. Aber sie sind mit dem Ende einer Diktatur nicht passé. Morina: Herr Frei, wie sehen Sie dieses Feld? Frei: Ich kann an diese eindrucksvollen Ausführungen nicht direkt anknüpfen. Ich würde gern noch mal zu Ihrer Frage kommen, wie sich unsere Öffentlichkeit verändert  – und ich weiß, dass ich da manchmal etwas kulturpessimistisch klinge. Aber es ist einfach ein großes Problem, dass wir immer weniger darauf vertrauen können, dass ein Grundbestand an Tatsachen, Erkenntnissen, Nachrichten, der demokratisch-verantwortliches Handeln und Entscheiden überhaupt erst möglich macht, von der gesamten Gesellschaft geteilt wird. Wenn viele Menschen nicht nur keine Tageszeitung mehr lesen, sondern sich auch an den – wie es bei der AfD heißt – »Staatsmedien« oder dem »Staatsfunk« vorbei informieren, dann ist das ein enormes Problem für die Demokratie, für den staatsbürgerlichen Willensbildungsprozess. Sicherlich gründet die besonders aggressive Ablehnung der Öffentlich-Rechtlichen – der »offiziellen« Medien, wie gerne gesagt wird – im Osten in den Erfahrungen, die man zu DDR-Zeiten gemacht hat. Dort hörten Manipulation und Zensur, anders als im Westen, nach 1945 nicht einfach auf. Auf der anderen Seite erscheint es mir wichtig, das Ganze doch als eine globale Entwicklung zu sehen. Seit den mittleren 1990er Jahren, zunächst durch das Internet, mehr noch dann durch die sozialen Medien, haben sich die Kommunikationsverhältnisse revolutionär verändert. Das für die liberalen Demokratien vielleicht größte Problem ist inzwischen doch, den Unterschied erkennbar zu halten zwischen fabrizierten Wahrheiten Fragen an die Deutsche Einheit

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und dem, was man pathetisch die Wahrheit nennen kann. Wo »alternative Fakten« politikfähig werden, sind wir in einer Entwicklung hin zu einer Orwell’schen Situation. Ich habe da kein Gegenrezept, aber mir ist klar, dass wir die schwach gewordenen Tageszeitungen, ob gedruckt oder digital, dass wir den Qualitätsjournalismus und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unbedingt bewahren müssen. Jürgen Habermas, der sich bekanntlich immer schon für das Thema des Strukturwandels der Öffentlichkeit interessiert, hat schon vor längerem vorgeschlagen, über die Schaffung öffentlich-rechtlicher Zeitungen zumindest nachzudenken. Wäre eine öffentlich-rechtliche Förderung von Zeitungen und Qualitätszeitungen sinnvoll?51 Die privatkapitalistischen Verlage haben das lange weit von sich gewiesen, aber unter dem Eindruck der sich womöglich anbahnenden Katastrophe könnte die Bereitschaft, über so etwas zu sprechen, wachsen – hoffentlich nicht zu spät. Jedenfalls glaube ich, wir brauchen eine Diskussion, wie ein Grundpfeiler der Demokratie zu erhalten und zu garantieren ist – nämlich die freie, aufgeklärte, öffentliche Meinungsbildung. Birthler: Kann ich mich da gleich anschließen? Was wir hier machen, ist ja durchaus ein Eliten-Diskurs. Er erreicht eine Minderheit von Leuten. Und selbst wenn sie jetzt große Formate wie Anne Will oder dergleichen noch dazunehmen, dann ist es immer noch ein Minderheiten-Diskurs, glaube ich, obwohl das schon sehr viele Leute sehen. Aber war das wirklich in früheren Zeiten ganz anders? Ich glaube, das wird verstärkt durch die sozialen Medien. Aber letzten Endes geht es um die Frage, wie eine Gesellschaft damit umgeht, dass es getrennten oder gespaltenen Diskurs gibt. Den der Eliten – größer oder kleiner – und den des Restes der Gesellschaft. Wenn ich die Leute so sehe, die nur Privatfernsehen gucken oder die Bild-Zeitung lesen oder Ähnliches, die würden sich nicht davon überzeugen lassen, dass es jetzt auch öffentlich-rechtliche Zeitungen gibt. Ich glaube, Fragen des gesellschaftlichen Friedens und Unfriedens entscheiden sich daran, ob die Teile der Bevölkerung, die dieser Eliten-Diskurs überhaupt nicht interessiert, wenigstens so viel Respekt und Vertrauen haben, dass sie 62 Fragen an die Deutsche Einheit

sagen: Gut, das ist jetzt nicht meins, das verstehe ich alles nicht, aber das wird schon richtig laufen. Oder ob sie sehr aggressiv, vielleicht auch manchmal mit guten Gründen, Misstrauen entwickelt haben und sagen, da wird ein Haufen Geld von meinen Steuern ausgegeben, und ich stehe gar nicht dahinter. Also ist es doch letzten Endes auch eine Verantwortung der Eliten, sich bei den Leuten, die das nicht verstehen oder die ganz andere Themen haben, einen gewissen Respekt zu verdienen. Gleiches gilt für demokratische Institutionen und Verfahren, ja auch für die Aufrichtigkeit von Politikern oder eine verständliche, lebensnahe Sprache im öffentlichen Diskurs. Mir scheint, dass die Eliten es zum Teil versäumt haben, diesen Respekt für alle nachvollziehbar zu begründen. Frei: Der Begriff des Respekts wäre mir jetzt nicht als erster eingefallen, aber ich verstehe, was Sie meinen. Unter dem Konkurrenzdruck und dem kapitalistischen Verwertungsinteresse ist in der Tat viel über den Jordan gegangen. Nachrichten sind ja eine Ware, das wussten wir immer schon, das waren sie auch schon vor 300 Jahren. Tatsächlich fällt die kommunikationspolitische Zäsur, global gesehen, in etwa mit 1989/90 zusammen. Um in unserem Bereich zu bleiben: Wenn Sie an Medien-Ereignisse wie die amerikanische Miniserie Holocaust denken, die 1979 in der Bundesrepublik ausgestrahlt wurde – das hat doch nicht nur mit irgendwelchen Eliten etwas gemacht, sondern mit der gesamten Gesellschaft. Birthler: Das stimmt. Das waren Brücken. Frei: An dem Beispiel kann man sehen, dass wir damals in anderen kommunikativen Verhältnissen gelebt haben, in denen historisch-politische Aufklärungs- und Bewusstseinsbildungsprozesse noch sehr viel leichter erreicht werden konnten, als es heute der Fall ist. Inzwischen ist unsere Situation viel komplizierter, und unsere Möglichkeiten als Historikerinnen und Historiker sind wohl geringer geworden. Morina: Mit diesen nachdenklichen, auch ernüchternden Schlussgedanken, die uns dennoch nicht resignativ stimmen sollten, möchte ich Ihnen beiden für diese Debatte herzlich danken!

Fragen an die Deutsche Einheit

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Teil 2

Perspektiven auf die europäische Gegenwart Philipp Ther & Ton Nijhuis im Gespräch mit Benno Nietzel

Zur Einführung Wir haben das 30-jährige Jubiläum der deutschen Einheit zum Anlass genommen, zurückzublicken auf die historischen Umbrüche, die wir mit den Jahren 1989/90 verbinden. Die Antworten auf die Fragen, welcher Art diese Umbrüche waren und wie sie in einer längeren historischen Perspektive einzuordnen sind, haben sich gerade in den letzten Jahren verändert. Auch die Blickwinkel haben sich modifiziert und erweitert. Um diese Verschiebungen und Neubewertungen möglichst breit einzubeziehen, ist der Titel des zweiten Gesprächs »Perspektiven auf Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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die europäische Gegenwart« bewusst offen formuliert. So können verschiedenste Themen und Aspekte zur Sprache kommen, die sich zentral um die Fragen drehen, was der Umbruch von 1989–1991 in der europäischen Geschichte bedeutet, in welcher Weise wir heute auf diese Zeit zurückblicken und was sie uns noch zu sagen hat. Auch auf Deutschland soll noch einmal der Blick gerichtet werden, aber eher von außen und mit einem europäischen Fokus. Das Jahr 2020 war beherrscht von der globalen Covid-19-Pandemie, so dass der Rückblick auf 1989/90 angesichts der Probleme der Gegenwart kaum für breiten Gesprächsstoff sorgte und die Erinnerung an die dramatischen Ereignisse dieser Jahre stark in den Hintergrund rückte. Gleichzeitig verdeckte der gesundheitspolitische Ausnahmezustand auch die vielfältigen Krisenentwicklungen, mit denen Europa in den vergangenen Jahren konfrontiert war und bei denen wir danach fragen wollen, ob und wie sie eigentlich mit dem Umbruch von 1989/90 zusammenhängen. Das Gespräch ist also ein Versuch, etwas herauszutreten aus der Ereignisdynamik der gegenwärtigen Pandemie. Wir wollen sie allerdings nicht außen vor lassen, denn auch die politischen und gesellschaftlichen Umgangsweisen mit dieser Krise in Europa haben eine historische Dimension. * * *

66 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Impuls I: Europa hat mehr als eine (vergangene) Zukunft (Ton Nijhuis)

Um die verschiedenen Perspektiven auf die europäische Gegenwart besser zu verstehen, möchte ich mit einigen eher geschichtsphilosophischen Überlegungen beginnen, die sich mit der Frage beschäftigen, wie Deutungen der Gegenwart eigentlich zustande kommen bzw. überhaupt möglich werden. Gegenwart ist noch nicht Geschichte und damit ist Gegenwartsgeschichte streng genommen ein innerer Widerspruch. Geschichtsschreibung ist keine Live-Berichterstattung. Vielmehr bekommen historische Ereignisse erst durch ihre Nachgeschichte eine Bedeutung. Das heißt, erst die Folgen und Effekte bestimmen, wie diese Ereignisse bewertet und in welche Narrative sie eingebettet werden. Das ist auch der Grund, weshalb Gegenwartsgeschichte immer wieder umgeschrieben werden muss bzw. kann. Zukünftige Ereignisse werden ständig den Blick auf vergangene Ereignisse verändern und damit auch deren Bedeutung. Zum Beispiel: Als der Euro in den Anfangsjahren eine Erfolgsgeschichte darstellte, wurde die Entscheidung zur Währungsunion als visionär und wegweisend bewertet – ein großer Schritt in Richtung europäischer Integration. Als dann aber Griechenland und Italien in finanzielle Schwierigkeiten gerieten, wurde der Entschluss zu einer gemeinsamen Währung als verantwortungslos abgewertet oder zumindest wurden handwerkliche Fehler als Versagen der europäischen Schönwetterpolitik beklagt. Jetzt, wo es wieder ruhiger ist, bewertet man dementsprechend die Einführung des Euro als logisch und notwendig. Falls aber in der Zukunft eine erneute Finanzkrise Europa und den Euro erschüttern sollte, würde die Euro-Einführung abermals neu bewertet werden. Ich hoffe natürlich, dass es eine Erfolgsgeschichte bleibt. Aus der Perspektive der Gegenwart wissen wir also noch nicht, wie aktuelle Ereignisse enden werden, was ihre Nachgeschichte sein wird. Wir können uns lediglich eine Vorstellung davon machen, wie es weitergehen könnte. Deutungen, die Geschehnissen in der Gegenwart zugeschrieben werden, beruhen desPerspektiven auf die europäische Gegenwart

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halb primär auf Erwartungen oder auf virtuellen Zukunftshorizonten. Man antizipiert ein vorläufiges Ende. Das ist zwar fiktiv, bettet das Geschehen aber in ein Narrativ ein und verleiht ihm dadurch Sinn. Gerade weil wir die Zukunft nicht kennen, neigen wir dazu, unsere eigenen Hoffnungen, aber auch Ängste auf das gegenwärtige Geschehen zu projizieren. Damit werden diese Ereignisse zu Echo-Brunnen: Aus ihnen schallt genau das zurück, was man hineinruft, und bestätigt stets aufs Neue die eigenen Erwartungen, Einschätzungen oder Meinungen. Dies ist ein Mechanismus, den man auch in der Corona-Krise gut beobachten kann. Für Antiglobalisten übersetzt sich die Corona-Krise in eine Globalisierungskrise, für Umweltschützer in eine ökologische Krise, für Marxisten in eine Kapitalismuskrise und so weiter. Alle sehen in Corona die Bestätigung ihrer eigenen Befürchtungen und Erwartungen. Diese Logik lässt sich auch auf die Situation von 1989 übertragen. Die Revolution in den Ländern des ehemaligen Ostblocks haben wir damals gerne als demokratische Revolution gedeutet und daran hing natürlich auch ein demokratischer Erwartungs­ horizont. Jetzt sind viele im Westen enttäuscht, dass nicht nur die Demokratie, sondern gerade der Nationalismus in Mitteleuropa letztlich eine so starke Kraft geworden ist. Als Postnationalisten konnten wir uns überhaupt nicht vorstellen, dass das Nationale noch eine Zukunft hat. Als wir über die demokratische Revolution gesprochen haben, war der liberale, demokratische Rechtsstaat unser Zukunftshorizont, wie wir ihn eben aus der Bundesrepublik oder den Niederlanden kannten. Es ist offensichtlich sehr schwierig, eine andere Perspektive einzunehmen als die, die wir kennen bzw. sich etwas anderes vorzustellen als das Eigene, das Vertraute. Heute wissen wir, oder meinen wir zu wissen, dass es nicht nur eine demokratische Revolution, sondern auch eine nationale Revolution war. Es ging darum, die nationale Souveränität zurückzuerobern. Dieses Narrativ hilft, einiges besser zu verstehen und zu deuten. Hier in Westeuropa ging man eigentlich davon aus, dass sich nach 1989 nicht so viel ändern würde: Die Anderen würden sich an uns an68 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

passen. Darum gibt es jetzt umso mehr Verwunderung und Irritation darüber, dass es anders kam und sich stattdessen die Welt um uns herum gewandelt hat. Wenn man aber von vornherein davon ausgeht, dass alles unverändert bleibt, ist man letztlich nur schlecht auf eine sich verändernde Zukunft vorbereitet. Als die Mauer fiel, reagierten die Bevölkerungen in den westeuropäischen Ländern überwiegend positiv. Die Bilder im Fernsehen berührten alle. Führende Politiker und Deutschland-Experten waren indes aber auch durchaus beunruhigt. Was würde eine mögliche deutsche Einigung für die Machtverhältnisse in Europa bedeuten? François Mitterrand versuchte noch die Wiedervereinigung zu verhindern und Margaret Thatcher bleibt als Quälgeist von Helmut Kohl in Erinnerung. Auch der niederländische Ministerpräsident Ruud Lubbers war kritisch. Nicht nur Politiker, auch Historiker und Politikwissenschaftler zeigten sich skeptisch. Waren sie selbst doch noch ausgebildet oder sozialisiert mit der alten deutschen Frage: Welches Deutschland passt in welches Europa? Ein geteiltes Deutschland galt als Bedingung für Frieden und Stabilität in Europa. Deshalb lieber keine Experimente. Die nervösen Erwartungen oder, anders  gesagt, der virtuelle Zukunftshorizont eines neuen deutschen Dominanzstrebens hat sich bekanntlich aber nicht durchgesetzt. Deutschland zeigte keine Spur einer realistischen Machtpolitik und hielt fest an seiner Rolle als »ehrlicher Makler«. Die deutsche Selbstbeschränkung war sogar so groß, dass viele, wie zum Beispiel der polnische Außenminister Radosław Sikorski, hofften, dass Deutschland sich selbstbewusster aufstellen und mehr Führung wagen würde. Diese Frage ist jetzt, da wir über europäische Autonomie gegenüber den Vereinigten Staaten reden, hochaktuell. Ob Deutschland nicht nur über mehr europäische Selbstständigkeit im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik redet, sondern sie auch tatsächlich umsetzen möchte? – Ich bin skeptisch. Wie die deutsche Position gegenwärtig aussieht oder bewertet werden soll, wird noch zu diskutieren sein. Was ich nur andeuten möchte, ist, dass Ängste bzw. Befürchtungen für die Zukunft, die sich dann aber nicht bewahrheiten, wie zum BeiPerspektiven auf die europäische Gegenwart

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spiel jene in Bezug auf deutsche Machtpolitik, dazu tendieren, vergessen zu werden. Positiv konnotierte Zukunftserwartungen, die sich auch bewahrheiten, werden schnell als Normalität bewertet. Wenn wir jedoch zu hohe Erwartungen haben  – wie zum Beispiel im Fall der ehemaligen DDR , die in jeder Hinsicht schnell auf das gleiche Niveau wie Westdeutschland kommen sollte  –, sich diese Zukunftserwartungen dann aber nicht so schnell oder vollständig erfüllen, resultiert dies in einer ständigen Enttäuschung und Frustration. Optimistische sowie pessimistische Zukunftserwartungen prägen somit unsere Deutung von Ereignissen in der Gegenwart, haben aber sehr unterschiedliche Konsequenzen. Wenn das Ergebnis schlussendlich besser ausfällt als erwartet, dann wird es als Normalität gesehen. Wenn das Ergebnis aber schlechter ausfällt als angenommen, dann kommt es zu Gefühlen von Frustration. Diese Dysbalance führt dazu, dass die öffentliche Stimmung bzw. Stimmungsmache eher für negative Gefühle empfänglich ist. Und genau diese Dysbalance wird von populistischen Politikern ausgenutzt. Aber wir sollten uns auch darüber freuen, dass viele Befürch­ tungen, die ständig das Tagesgeschehen begleiten, nicht einge­ troffen sind. Etwas überzogen könnte man sagen, dass die Erwartungen oft noch wichtiger sind für die Art und Weise, wie wir die Welt erfahren, als die Ereignisse und Geschehnisse selbst. Deshalb sollten wir unsere Erwartungen besser reflektieren und steuern. Und das heißt auch, dass wir viel besser über Erwartungsmanagement nachdenken müssen. In der europäischen Politik werden oft große Pläne angekündigt. Und dann gibt es einen schönen Fototermin. Damit weckt man Erwartungen, die meist nicht eingelöst werden können und deshalb entweder zu Enttäuschung führen oder dazu, dass man die europäischen Pläne prinzipiell nicht mehr so ernst nimmt. Es ist besser, ein realis­ tisches Europa zu präsentieren und zu leben, das liefert, als ein idealistisches Europa, das viel mehr verspricht, als es halten kann. Was können wir aus diesen Überlegungen lernen? Erstens, dass wir dazu tendieren, unsere Wertungen und individuellen 70 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Einschätzungen der Lage immer wieder selbst zu bestätigen. Mit den Algorithmen von Google wird diese Tendenz nochmals dramatisch verstärkt. Zweitens, dass wir in unserer Selbstbezogenheit zu oft denken, der Rest der Welt sei so wie wir. Das sieht man auch in der deutschen und europäischen Außenpolitik. Wir finden es schwierig, damit umzugehen, dass nicht alle in Multilateralismus und friedlichen Verhandlungen die geeignetsten Instrumente von Außenpolitik sehen. Dass zum Beispiel Wladimir Putin oder Recep Erdoğan anders »ticken«, andere Spielregeln haben bzw. gar keine. Für dieses Problem verwenden wir in den internationalen Beziehungen den Begriff des mirror-imaging. Drittens bleiben wir in unserer Selbstbezogenheit sehr national; ungeachtet aller europäischen Integration ist die Öffentlichkeit der Mitgliedstaaten eine jeweils nationale. Wenn Angela Merkel in der Corona-Krise über »Wir« spricht, dann ist das ein nationales »Wir«. Die deutsch-deutsche Integration hat die nationale Perspektive noch einmal verstärkt. Aber man sieht das Gleiche auf europäischer Ebene. Das Interesse an anderen Mitgliedstaaten hält sich sehr in Grenzen. Lieber beurteilen oder verurteilen wir die anderen anhand unserer eigenen nationalen Messlatten und Maßstäbe. Es gibt viel Misstrauen in Europa, das dem Fortschritt bei der europäischen Integration mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer im Weg steht. Aber wir können daran arbeiten, wenn wir uns der genannten Prozesse und Probleme besser bewusst sind. Die Zukunft ist offen, sie ist gestaltbar. * * *

Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Impuls II: Neoliberale Reformen, die antiliberale Gegenrevolution und die Herausforderung der Pandemie (Philipp Ther)

Wie mein Vorredner betont hat, ist es wichtig, das Jahr 1989 in einer breiteren Perspektive zu betrachten, und so geht es hier erst einmal um die globale Hegemonie des Neoliberalismus, die sich in diesem Jahr durchsetzte. Darauf folgt ein Rückblick auf die globale Finanzkrise von 2008/09 sowie die Zusammenhänge von Neoliberalismus und Antiliberalismus. Abschließend setze ich mich mit der Covid-19-Pandemie als globalem Wettbewerb der Systeme auseinander. Durch die Covid-19-Pandemie sind die zuvor viel diskutierte Krise der liberalen Demokratie, der Rechtspopulismus und ihm zugrunde liegende soziale und ökonomische Probleme in den Hintergrund gerückt. Die Gesundheitskrise offenbarte jedoch Stärken und Schwächen politischer und wirtschaftlicher Systeme. Generell liegt für mich der heuristische Sinn des Begriffs Krise darin, dass man während einer Krise strukturelle Probleme und Defizite besser erkennen kann, die sich schon längere Zeit entwickelt haben. Die Pandemie hat das »verlorene Jahrzehnt« nach der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09 zu einem Abschluss gebracht. Das Zeitalter der Globalisierung und der offenen Gesellschaften, das 1989 einen mächtigen Schub erhielt, ist vorbei. Wir leben jetzt in einer Zeit, in der sich Grenzen schließen und Sicherheit einen höheren Rang genießt als Freiheit. Man kann die Herausforderung durch die Covid-19-Pandemie als einen globalen Wettbewerb der Systeme deuten; darauf werde ich am Ende meines Impulses noch etwas mehr zu sprechen kommen. In diesem Wettbewerb schneiden die westlichen liberalen Demokratien bislang schlecht ab, das amerikanische Jahrhundert ist endgültig vorbei, der Gewinner ist nach Stand der Dinge die chinesische Überwachungsdiktatur. Die Balance der Macht zwischen Demokratien und autoritären Systemen verschiebt sich jedoch bereits seit längerem, ins­ besondere in Europa. Die Ursachen dafür habe ich in meinen 72 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Studien zu den USA , Deutschland, Italien und osteuropäischen Ländern untersucht. Der Titel meines letzten Buches, Das andere Ende der Geschichte  – Über die Große Transformation, bezieht sich auf das Hauptwerk des revisionistischen Marxisten und historischen Soziologen Karl Polanyi.52 Er kam in seinen beiden langjährigen Exilländern, Großbritannien und den USA , in den 1980er Jahren außer Mode, weil seine Theorien und Forderungen nicht zum Neoliberalismus passten, der dort seinen weltweiten Siegeszug antrat. Doch nach der Jahrtausendwende wurde Polanyi im Zuge der sich häufenden Krisen des Kapitalismus wiederentdeckt. Der in der Geschichtswissenschaft erstaunlich wenig rezipierte Polanyi war nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiger Fürsprecher für einen »eingebetteten« Kapitalismus, einen sozialen Staat und einen demokratischen Sozialismus. Er warnte zugleich vor den sozialen und politischen Folgen eines entfesselten, globalisierten Kapitalismus, der zu den Teloi der postkommunistischen Transformation gehörte. Das macht Polanyis Buch heute aktuell, wobei der Begriff »große Transformation« auf die sozialen Verwerfungen infolge der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit abzielte. Der Obertitel meines Buches von 2019 bezieht sich auf den viel zitierten Essay von Francis Fukuyama. Der amerikanische Politologe behauptete im Sommer 1989, dass nach der Niederlage der Kommunisten nur noch eine Kombination aus liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft möglich sei. Das war für ihn das »Ende der Geschichte«.53 Der neokonservative Politologe stand keineswegs allein mit seiner These da. Auch in der amerikanischen Transformationsforschung, der Transitology, herrschte die Annahme, dass die künftige Entwicklung zur Demokratie und Marktwirtschaft führen würde und dass beide aneinandergekoppelt seien. Das behauptete unter anderem J­ effrey Sachs, einer der Vordenker der Schocktherapie in Polen und Russland, 1991 in einem Aufsatz mit dem Titel »double transition«, den er zusammen mit seinem ehemaligen Doktoranden und IWF-Funktionär David Lipton verfasste.54 Die europäische Transformationsforschung war zwar kritischer und zweifelte, ob der Auf‌bau von freien Markwirtschaften und liberalen DePerspektiven auf die europäische Gegenwart

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mokratien gleichzeitig gelingen könne, folgte jedoch trotzdem weitgehend diesem Paradigma. Dreißig Jahre nach 1989 wissen wir (einmal mehr), dass Kapitalismus auch ohne Demokratie oder mit einer demokratischen Fassade funktionieren kann. Die Krise der Demokratie betrifft nicht nur die postkommunistischen Staaten, sondern auch ihre angelsächsischen Mutterländer. Meine These lautet, dass dies eng mit den neoliberalen Reformen seit den 1980er Jahren zusammenhängt und dass somit ein Zusammenhang zwischen Neoliberalismus und Antiliberalismus besteht. Es ist kein Zufall, dass mit Polen, Großbritannien und den USA drei Länder so stark nach rechts gekippt sind, die lange Zeit Vorreiter einer neoliberalen Wirtschaftspolitik waren. Die Rechtspopulisten und -nationalisten erlangten ihre Mehrheiten vor allem in jenen abgehängten und verarmten Regionen, die man in Umkehrung bekannter Buchtitel als »the rest of the West« bezeichnen kann. I. 1989 in globalhistorischer Perspektive Die Hinweise auf die USA , Großbritannien und China deuten bereits an, dass wir das Jahr 1989 in einer globalen Perspektive analysieren sollten. Der mitteleuropäische Fokus auf den Fall der Mauer und die Revolutionen hat selbstverständlich auch seine Berechtigung, doch er reicht nicht aus, um die Dimensionen des Umbruchs zu begreifen. Um 1989 als globalhistorische Zäsur zu verstehen, müssen wir ähnlich wie damals der Politologe Juan Linz erst einmal nach Lateinamerika springen. Ende 1988 verlor der chilenische Diktator Augusto Pinochet die Abstimmung über eine weitere Amtszeit als Präsident. Diese Ablehnung kam überraschend, denn Chile erlebte zu jener Zeit einen starken wirtschaftlichen Aufschwung. Die Anhänger der Chicago School of Economics und die politischen Wegbereiter des Neoliberalismus, Ronald Reagan und Margaret Thatcher, schrieben diesen Boom der radikalen Liberalisierung und Privatisierung unter Pinochet zu. Im Sinne einer multikausalen Erklärung kann man die Kraft und die Länge des Aufschwungs, der bis zur Asienkrise Ende der 1990er Jahre anhielt, ebenso der christdemokratischen Wirt74 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

schaftspolitik zuschreiben. Sie begann mit dem Machtwechsel von 1989 und strebte ein »soziales Equilibrium« an. Diese Formulierung des ersten postdiktatorischen chilenischen Wirtschaftsministers Alexandro Foxley war damals eine kleine politische Provokation, weswegen sie in den Akten der Weltbank überliefert ist. Polen und die Sowjetunion beobachteten Chile aufmerksam, denn bis zum Sommer ’89 war die Kombination eines autoritären Systems mit einer liberalisierten Wirtschaft ein plausibles Szenario. General Wojciech Jaruzelski wäre dann sozusagen der polnische Pinochet geworden. Es kam dann alles anders, wie wir wissen; die kommunistischen Regimes in Osteuropa brachen zusammen, die Revolutionen entwickelten eine unaufhaltsame Dynamik. Die Niederlage Pinochets im Referendum nährte außerdem die Illusion, dass eine neoliberale Wirtschaftspolitik zu einem demokratischen Ende führen würde. Dies war der grundlegende Gedanke von Fukuyamas End of History und der »double transition« in Osteuropa. Die neoliberale chilenische Erfolgsgeschichte ist für die zeithistorische Forschung auch deshalb interessant, weil die polnische Schocktherapie in den 1990er Jahren ähnlich aufgenommen wurde. Der internationale Währungsfonds und später die Weltbank wollten nur die guten Seiten der Schocktherapien sehen und nicht deren ökonomische und soziale Nebenwirkungen. Anfang 1989 vereinbarten der IWF, die Weltbank, Vertreter des US -Finanzministeriums und hochrangige Mitglieder des US Kongresses den sogenannten Washington Consensus. Gedacht war der Konsens zunächst für die schulden- und inflationsgeplagten Länder Lateinamerikas. Am Anfang des in zehn Punkte gegliederten Maßnahmenkatalogs stand die ökonomische Stabilisierung, das bedeutete in der Regel eine strikte Austeritäts­ politik. Weitere zentrale Elemente waren die Triade Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung. Auch foreign direct investments und somit der globale Finanzkapitalismus kamen bereits vor. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde der Konsens zur Blaupause für die Reformen im postkommunis­ tischen Europa. Im radikalen Reformprogramm, das der erste postkommunistische Finanzminister Leszek Balcerowicz im Herbst 1989 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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entwarf, fanden sich alle wesentlichen Punkte des Washington Consensus wieder, und der Maßnahmenkatalog war außerdem erneut als Dekalog formuliert. Da sogar bekannte Vertreter des linken Solidarność-Flügels wie Jacek Kuroń und Anhänger der christlichen Soziallehre wie Prälat Józef Tischner den Balcerowicz-Plan bestätigten, kann man von einem »Warsaw Consensus« sprechen. An seinem Zustandekommen hatten westliche Experten wesentlichen Anteil – auch daher liegt mir daran, die globalen Dimensionen von 1989 zu betonen. Interessant am Balcerowicz-Plan ist nebenbei, was nicht drinstand. Die alte Forderung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność nach einer Selbstverwaltung der Betriebe war nicht mehr enthalten, es gab auch sonst keine Referenzen zu Jugoslawien oder einem »Dritten Weg«. Das verwundert nicht weiter angesichts der Hyperinflation und des faktischen Staatsbankrotts Jugoslawiens. Das grundsätzliche Problem der Vertreter eines »Dritten Wegs« in Polen, der Tschechoslowakei und anderen Ostblockländern war, dass sie keine konkreten Anleitungen für den Umgang mit einer Wirtschaftskrise bieten konnten, die sich infolge der Umstellung von der Plan- zur Marktwirtschaft dramatisch zuspitzte. Zusammengefasst steht das Jahr 1989 somit nicht nur für den Mauerfall und die Befreiung Ostmitteleuropas von der sowjetischen Vorherrschaft, sondern auch für einen globalen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik. Der hatte seine Wurzeln in der Stagflation Ende der 1970er Jahre und der Krise des Keynesianismus. Doch ohne den Zusammenbruch des Ostblocks und Jugoslawiens wäre der Neoliberalismus nicht so übermächtig geworden. Ab 1989 fehlte der Widerpart, die Systemkonkurrenz, als Korrektiv. Außerdem waren die westeuropäischen Sozialstaaten selbst reformbedürftig, teure Sozialsysteme wären selbst für die besser gestellten postkommunistischen Staaten kaum finanzierbar gewesen. So bekam Margaret Thatchers Leitspruch »There is no alternative« seine Durchschlagkraft. Erst infolge der Krise von 2009 sollte sich das wieder ändern; die Hegemonie des Neoliberalismus währte somit etwa zwei Jahrzehnte lang.

76 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

II. Der Neoliberalismus Ich habe den Begriff Neoliberalismus nun so oft benutzt, dass ich Ihnen längst eine Definition schuldig bin. Der Neoliberalismus ist eine wirtschaftspolitische Ideologie, die auf einem Idealbild sich selbst ausbalancierender Märkte und rationaler Markt­ akteure beruht, staatliche Interventionen grundsätzlich ablehnt, mit Hilfe von Privatisierungen eine umfassende Entstaatlichung anstrebt und die Wirtschaft auf nationaler und internationaler Ebene liberalisiert und dereguliert. Ich möchte dabei betonen, dass ich es nicht für produktiv halte, den Neoliberalismus als Popanz aufzubauen, sondern ihn als analytischen Begriff benutze. Ich kann hier nur kurz auf die intellektuelle Geschichte des Neoliberalismus in der Nachkriegszeit eingehen. In den 1950er Jahren bekannten sich Ökonomen wie Milton Friedman zu diesem Begriff und plädierten sogar für staatliche Regulierungen, zum Beispiel gegen Monopole und im Sinn des Monetarismus. Doch ab den 1970ern begann eine Phase der Selbstradikalisierung, die Wissenschaftler der Chicago School plädierten für eine neue Version dessen, was Karl Polanyi in The Great Transformation als Laissez-Faire-Kapitalismus bezeichnete. Reagan und Thatcher setzten den Neoliberalismus politisch um, wobei sich die Praxis von der Theorie unterschied. So musste der Staat, der eigentlich aus der Wirtschaft verdrängt werden sollte, mehrfach bei Finanzkrisen eingreifen, in den USA erstmals Mitte der 1980er Jahre in der sogenannten Savings and Loans Crisis. 1989 erreichte der Neoliberalismus die erwähnte globale Hegemonie. In den folgenden Jahrzehnten lassen sich zwei Perioden unterscheiden: In der ersten Dekade ging es vor allem um die Umsetzung des Washington Consensus und die Privatisierung von Staatsbetrieben. Kurz vor der Jahrtausendwende begann die Periode des radikalen Neoliberalismus. Nun wurden staatliche Kernkompetenzen im Gesundheitswesen und der Altersvorsorge privatisiert, Flat-Tax-Systeme eingeführt, Arbeitsmärkte liberalisiert und die Finanzmärkte dereguliert, so dass man als Historiker – von den sozialen Folgen abgesehen – für Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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die Forschung ein Bündel von Merkmalen an der Hand hat. Die postkommunistischen Staaten waren globale Vorreiter bei der Privatisierung der Renten- und Gesundheitssysteme und der Einführung von Flat-Tax-Systemen. Das hatte erneut Rückwirkungen auf den Westen; die Lehren der Chicago School schienen einmal mehr bestätigt, auch die Demokraten in den USA , New Labour in Großbritannien und die Sozialdemokraten unter Bundeskanzler Gerhard Schröder unterstützten nun eine neoliberale Reformpolitik. Das Grundproblem der neoliberalen Ordnung liegt darin, dass sie jene Menschen, sozialen Gruppen und Regionen innerhalb eines Landes belohnt, die ohnehin relativ wohlhabend sind. Das kann man auch im postkommunistischen Europa beobachten. Die Wachstumszentren erlebten einen Boom mit chinesischen Wachstumsraten, der Lebensstandard der urbanen Mittelschichten erreichte ebenfalls ein westliches Niveau. Gemessen an der Ausgangsbasis von 1989 war das ein großer Erfolg. Doch diese transnationale Konvergenz ging mit einer starken Divergenz innerhalb der jeweiligen Länder einher. Der Osten Polens, die Ostslowakei, der Nordosten Ungarns erreichten pro Kopf nicht einmal ein Fünftel des Bruttoinlandsprodukt der eigenen Hauptstädte, sie sind auch bei der Kauf‌kraft und im Lohnniveau abgehängt. Die Kluft zwischen armen und reichen Regionen ist nach der EU-Erweiterung zurückgegangen, aber sie ist immer noch tief. Im sogenannten »Polska B« befinden sich die Hochburgen der derzeitigen Regierungspartei »Recht und Gerechtigkeit« (PiS). Ähnlich wie in Ostdeutschland in den 1990er Jahren war die Arbeitsmigration ein Ventil, um der Armut zu entgehen. Doch die Migration führte dazu, dass viele Kinder mit nur einem Elternteil oder bei den Großeltern aufwuchsen. Daher wurde die Transformation als Leidensstrecke und nicht als Auf‌bruch empfunden, der sie für zahlreiche Menschen auch war. III. Die große Krise Den Ablauf der Finanzkrise an der Wall Street setze ich als weitgehend bekannt voraus. Parallel zur Immobilienblase in den 78 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

USA gab es eine Osteuropablase, die ebenfalls auf Spekulationen

im Finanz- und Immobiliensektor und der Überschuldung von Konsumenten beruhte. Besonders toxisch waren die Fremdwährungskredite, die Ungarn, Rumänien, Lettland, Litauen und die Ukraine 2009 an den Rand des ökonomischen Zusammenbruchs brachten. Die Krise hatte wirtschaftlich und politisch verheerende Auswirkungen. Seit Beginn der 1990er Jahre hatten die postkommunistischen Staaten alles gemacht, um sich der EU und den USA anzupassen. Nun offenbarte der Westen gravierende Systemprobleme und Korruption auf höchster Ebene, die auch die dortigen politischen Eliten delegitimierten. Der Wirtschaftsnationalismus war eine logische Reaktion auf die Währungs- und Finanzkrise. In Ungarn zum Beispiel hatten westliche Großbanken und ihre lokalen Ableger mehr als einer Million Menschen hochspekulative Fremdwährungskredite aufgeschwatzt. Aufgrund der krisenbedingten Abwertung des Forint waren diese Schulden plötzlich um 50 Prozent oder mehr angewachsen. Viktor Orbán nutzte dies, um sich als Retter der ungarischen Mittelklasse zu inszenieren und zwang die westlichen Banken zu einer Umwertung der Kredite. Das war die Grundlage seines zweiten Wahlsiegs von 2014 – und für Rechtspopulisten sind die zweiten Siege oft noch wichtiger als die ersten. Orbán sorgte auch dafür, dass sein Land aus dem Rettungsprogramm des IWF ausstieg. Das war nur durch die Verstaatlichung der privaten Pensionsfonds möglich, die er Ende der 1990er Jahre selbst eingeführt hatte. Doch dafür musste Ungarn keine IWF-Auf‌lagen umsetzen wie Rumänien, Lettland und Litauen. Nur zum Vergleich: Unter Barack Obama verloren 4,3 Millionen Amerikaner ihre Häuser und Wohnungen durch Zwangsversteigerungen. Hillary Clinton spielte eine sehr prominente Rolle in Obamas erstem Regierungsteam und Donald Trump nutzte diese offene Flanke in seinem Wahlkampf aus, um sie als Teil der korrupten Eliten zu brandmarken. Aus den vom IWF »geretteten« Ländern wanderte infolge der stark gestiegenen Arbeitslosigkeit und der Sparmaßnahmen nach der Krise fast zehn Prozent der Bevölkerung ab. Sie gehören zugleich zu jenen Staaten, die auf die Krise des Neoliberalismus mit einer Fortsetzung der neoliberalen Politik reagierten. Das Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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war nur möglich, weil die innereuropäische Migration als Ventil funktionierte. Die meisten Osteuropäer gingen in das damals weltoffene Großbritannien. Wegen der Krise wurden sie dort jedoch vermehrt als Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt empfunden, das trug später zum Brexit bei. Generell denke ich, dass Migration zu einem solchen politischen Reizthema geworden ist, weil Migranten die Risiken der Globalisierung und ihre regionale Variante, die Integration im Rahmen der EU, verkörpern. Sie sind als Objekt der Abgrenzung und Ablehnung auch viel greif‌barer als die internationalen Konzerne und Investoren. Bei der Bewältigung der Krise kann man zwei weitere Gruppen von Ländern unterscheiden: Deutschland, Polen, die Slowakei oder auch die USA steuerten mit Ausgabenprogrammen gegen, weil sie sich das leisten konnten. Währenddessen wurden die südeuropäischen Länder über die Euro- und Staatsschuldenkrise in den Abgrund gezogen. Italien erlitt in der Industrieproduktion und bei anderen Indikatoren einen ähnlich tiefen Einbruch wie die Tschechoslowakei oder Ungarn nach 1989. Allerdings wurden hier die Kosten der Krise überwiegend der jungen Generation aufgebürdet, nicht den älteren Menschen wie in Osteuropa. Das kann man übrigens nicht dem Neoliberalismus zuschreiben, überhaupt entzogen sich viele Entwicklungen der politischen Steuerung. Die 2011 eingesetzten technokratischen Regierungen folgten erneut dem Maßnahmenkatalog des Washington Consensus. Doch die Austeritätsprogramme verursachten eine ökonomische Abwärtsspirale, während die Arbeitsmarkt- und Sozialreformen nicht weit genug gingen. Das Problem ist, dass derartige Reformen zu keinem schnellen Aufschwung führen, jedenfalls nicht bis zum nächsten Wahltag. Daher war dieser Kurs eines partiellen Neoliberalismus wahrscheinlich die schlechteste Strategie, zumal keine foreign direct investments nach Südeuropa flossen wie nach 1989 nach Osteuropa. Unabhängig von den Wegen aus der Krise waren neoliberale Reformen delegitimiert, in Osteuropa genauso wie im Westen.

80 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

IV. Vom Neoliberalismus zum Antiliberalismus Wenn die bestehende Ordnung die Menschen zu sehr verunsichert und als nicht mehr tragfähig erscheint, provoziert das Gegenbewegungen. Karl Polanyi hat dafür vor 75 Jahren in seinem Buch The Great Transformation Theorien und Begriffe entwickelt, die es ermöglichen, das Ende der Transformation zu verstehen, wie sie nach 1989 konzipiert wurde. Polanyi zufolge steht der globalisierte freie Markt im Widerspruch zum Bedürfnis eines Großteils der Bevölkerung nach sozialem Schutz. Daher kam und kommt es immer wieder zu einem »double movement«, zu Gegenbewegungen gegen den globalisierten Kapitalismus. Unser gegenwärtiges Problem ist nicht die Gegenbewegung an sich, sondern wer den Antiliberalismus trägt und mit welchen Ideologien er verknüpft wird. Das östliche Europa war ein Pionier bei den neoliberalen Reformen, dann aber auch der antiliberalen Gegenrevolution. Als rund um die Jahrtausendwende in Polen die Arbeitslosigkeit massiv anstieg, erzielten links- und rechtspopulistische Parteien bei den Sejm-Wahlen von 2001 nahezu 30 Prozent der Wählerstimmen. Das lag unter anderem an der niedrigen Wahlbeteiligung von 46 Prozent, die wiederum mit der Legitimierung der Reformen nach ’89 zusammenhing, die stets mit dem Argument der Alternativlosigkeit durchgesetzt wurden. Nachdem die erneut an die Macht gekommenen Postkommunisten zum zweiten Mal ihre sozialen Versprechen brachen, wurde 2005 die PiS zum ersten Mal die stärkste Partei und kam an die Regierung. Es gibt hierbei Parallelen zu Italien, nur mit einer Zeitverschiebung von gut zehn Jahren. Bei den ersten Wahlen nach der Eurokrise bekam die Partei des Technokraten Mario Monti weit weniger Stimmen als erhofft, dagegen erzielten die Linksund Rechtspopulisten ebenfalls gut 30 Prozent der Stimmen. Nachdem die reformorientierte Sozialdemokratie ebenfalls enttäuschte, übernahm eine pan-populistische Koalition 2018 die Regierung. Zwei Jahre später verlor sie die Macht, weil die Rechtspopulisten politisch zu hoch pokerten. Doch wie die nächsten Wahlen 2023 ausgehen, ist völlig offen. Außerdem zeigte sich in Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Italien einmal mehr, dass sich im politischen Wettbewerb zwischen Links- und Rechtspopulisten stets die Rechte durchsetzt. So war es in den vergangenen Jahren auch in Polen und in Ostdeutschland, wo die AfD inzwischen die Linke bzw. die ehemalige PDS als populärste Protestpartei verdrängt hat. Die politikwissenschaftliche Forschung über den Populismus ist sich nicht einig, inwieweit die verschiedenen Bewegungen und Parteien Konglomerate sind, die opportunistisch oder ideologisch agieren. Es herrscht auch keine Einigkeit darüber, inwieweit man Links- und Rechtspopulisten gemeinsam betrachten sollte. Stellt man die Konstruktion eines »wahren« Volks bzw. die ethnonationale Re-Definition der Nation in den Vordergrund, dann fallen die Linkspopulisten heraus. Allerdings entstanden die populistischen Parteien auf beiden Seiten des politischen Spektrums häufig aus Protestbewegungen. In der Tat bilden die Verlierer der postkommunistischen Transformation und analog dazu im Westen die Verlierer der Globalisierung die Hauptwählerschaft. Doch das Wählerspektrum reicht bis weit in die Mittelschichten, getrieben von der Angst vor dem sozialen Abstieg. Unter Politikwissenschaftlern wird folglich derzeit lebhaft diskutiert, inwieweit man den Rechtspopulismus eher als Konglomerat betrachten soll, das sich verschiedener Ideologien bedient und neue Formen der politischen Mobilisierung einsetzt, oder ob man stärker die ideologische Ausrichtung betonen soll. Für mich als Historiker, der sich vergleichend mit dem Nationalismus befasst hat, ist ein kohärentes Weltbild erkennbar, das man als ein Bündel von Schutz- und Sicherheitsversprechen charakterisieren kann. Die Rechtspopulisten versprechen Schutz vor internationaler Konkurrenz in der Wirtschaft – daher die Wendung gegen den Freihandel, Schutz des heimischen Arbeitsmarkts vor ausländischer Konkurrenz – daher die Hetze gegen »illegale Migranten«, Schutz vor Kriminalität (obwohl diese seit Jahren sinkt) und Terror, der nur noch selten ohne den Zusatz »islamistisch« oder »islamisch« erwähnt wird (in Österreich bringt die Regierungspartei ÖVP beides mutwillig durcheinander), sowie die Bewahrung nationaler Werte und eines traditionellen Familienbilds mit einer klar festgelegten 82 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Rollenverteilung der Geschlechter. Insgesamt ist dieses Weltbild stringent antiliberal. Dieser Antiliberalismus erreicht eine solche Schlagkraft, weil er sich als Alternative zum herrschenden »System« präsentiert. Mittlerweile ist der Antiliberalismus selbst zum System geworden. Anfangs dachten die gemäßigten Konservativen in den USA , Donald Trump werde sich mäßigen, sobald er das hohe Amt des Präsidenten übernimmt. Doch das Gegenteil war der Fall, was unter anderem an den rechtsnationalistischen Ideologen in seiner Umgebung lag, die sich in den Medien und der eigenen Peer Group dadurch profilieren, dass sie besonders radikale Positio­nen vertreten. Die ständige Wiederholung nationalistischer Propaganda hat nicht nur auf das Zielpublikum Auswirkungen, sondern vor allem auf jene, die sie äußern. Man darf davon ausgehen, dass zum Beispiel Viktor Orbán seine Aussagen über Muslime oder George Soros inzwischen selbst glaubt; das Gleiche gilt für den abgewählten US -Präsidenten Donald Trump und dessen Äußerungen über den angeblichen Wahlbetrug der Demokraten. Kann man diesen sich selbst radikalisierenden Antiliberalismus direkt auf den Neoliberalismus zurückführen? Als vergleichend arbeitender Historiker bin ich vorsichtig mit kausalen Erklärungen im Sinne von Ursache und Wirkung. In diesem Fall würde es bedeuten, die Steuerungsfähigkeit des Staates und neoliberaler Reformpolitiker zu überschätzen und gesellschaftliche und kulturelle Eigendynamiken zu unterschätzen. Als Historiker darf man Kontingenzen nicht außer Acht lassen, so etwa beim zweiten Wahlsieg der PiS in Polen, die mit nicht einmal 38 Prozent der Stimmen eine absolute Mehrheit im Parlament bekam, weil so viele kleine Parteien und vor allem die Postkommunisten an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterten. Das wahre Problem liegt darin, dass die PiS seitdem so agiert, als hätte sie eine verfassungsändernde Zwei-Drittel-Mehrheit errungen. Mit Bezug auf Karl Polanyi ist vor allem die Frage interessant, warum der Pendelschlag nach der großen Krise von 2009 nicht in Richtung demokratische Linke, sondern Richtung Rechtsnationalismus ging. Ich denke, das Fingerzeigen auf die sogenannten Rechtspopulisten, deren Aufstieg allgemeine, aber Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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auch jeweils spezifische Ursachen hatte, hilft hier nicht weiter. Die moderate Linke konnte kein Korrektiv mehr sein, weil sie nach 1989 zu sehr in die Nähe der Technokratie und der Börsen gerückt war. Abschließend zu den Kontinuitäten zwischen Neoliberalis­ mus und Antiliberalismus: Neoliberale und antiliberale Rechtsnationalisten lehnen öffentliche Debatten und Deliberation – ein Kennzeichen des Liberalismus – grundsätzlich ab. Bei den einen heißt es, frei nach Margaret Thatcher, »there is no alternative«, bei den anderen werden abweichende Meinungen als fake news abgeschmettert. Gemeinsam ist ihnen auch die Verachtung von Minderheiten sowie gegenüber Verlierern der Transformation und der Globalisierung. Die Vordenker des Neoliberalismus haben es zugelassen und gefördert, nach unten zu treten, die Rechtsnationalisten treten nach unten und zur Seite. V. Die Herausforderung durch die Covid-19-Pandemie Ich habe das Ende der neoliberalen Ära in meinem letzten Buch auf das Annus Horribilis 2016 datiert. Die Abstimmung für den Brexit und die Wahl von Donald Trump bildeten eine historische Zäsur, die sich in Polen schon ein Jahr zuvor ankündigt hatte. Die Zeit danach liegt für mich zu nahe, um sie als historisch zu betrachten und zu erforschen. Dennoch wissen wir jetzt schon, dass Covid-19 einige seit 2016 herrschende Tendenzen verstärkt. Die Globalisierung beruhte auf einem zunehmenden Austausch von Waren, Kapital, aber eben auch Menschen. Die Freizügigkeit bei Reisen und bei Migration ist seit dem Frühjahr 2020 vorbei. Die Grenzkontrollen in Europa zeigen, dass der Nationalstaat mit aller Macht zurückgekehrt ist. Das ist bei einer Mehrheit der Bevölkerung obendrein populär, obwohl Viren bekanntlich keine nationalstaatlichen Grenzen kennen und respektieren. Die EU hat in der Gesundheitspolitik kaum Kompetenzen und wurde daher durch die Pandemie weiter geschwächt. Sie hat nach langem Ringen zu einer gemeinsamen Antwort auf die Wirtschaftskrise infolge der Pandemie gefunden. Aber es bleibt abzuwarten, ob das beschlossene Ausgabenprogramm, das ursprünglich für die Bewältigung der ersten Covid-Welle und eine 84 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

zeitlich begrenzte Krise konzipiert war, die Wirtschaft wieder in Gang bringt. Umsetzen müssen es die einzelnen Mitgliedsstaaten, die wiederum über unterschiedliche Ressourcen verfügen. Aufgrund der verschiedenen Ausgangsbedingungen zeichnet sich daher jetzt schon ab, dass die Divergenz zwischen Nord und Süd und anderen Teilen Europas weiter zunehmen wird. Für Ostmitteleuropa ist zu befürchten, dass die Auf‌baumittel aus dem Covid-19-Fonds in die bekannten Kanäle fließen und autoritäre Herrscher weiter stärken. In Ungarn konnte die EU aufgrund ihres mangelnden Machtwillens schon zuvor den Verfall der Demokratie und des Rechtsstaats nicht auf‌halten. Die EU hat sich auch unter der deutschen Ratspräsidentschaft zur Enttäuschung der ungarischen Opposition nicht als Lösung, sondern als Teil des Problems erwiesen. Auf globaler Ebene hat Covid-19 einen Systemwettbewerb verstärkt. Chinas Reaktion auf den Ausbruch der Epidemie erinnerte zunächst an das Gebaren der Sowjetunion nach dem Atomunfall von Tschernobyl. Die Parteiführung verheimlichte die neue Krankheit und machte Experten mundtot. Nach knapp zwei Monaten reagierte sie jedoch mit strengen und effektiven lokalen und regionalen Lockdowns. Die Machthaber kontrollierten die Ausgangssperren mithilfe ihres Orwell’schen Überwachungsstaates, den sie in den vergangenen Jahren mit Handy-Apps und Artificial Intelligence-Instrumenten wie der Gesichtserkennung perfektioniert hatten. Den anschließenden Rückgang der Infektions- und Opferzahlen preist China im In- und Ausland als Erfolg des weisen Führers Xi Jinping an. Donald Trump stieg voll auf diesen Wettbewerb der Systeme ein. Er bezeichnete Covid-19 als »chinesisches Virus«, um zunächst zu suggerieren, dass für die USA keine Gefahr bestand und anschließend vom eigenen Versagen abzulenken. Sein Slogan »America First« bekam angesichts der Tatsache, dass die USA über lange Zeit weltweit die höchsten Zahlen bei den Ansteckungen und Todesfällen durch Covid-19 zu verzeichnen hatten, eine neue, tragische Bedeutung. An Trump allein lag es jedoch nicht. Die Pandemie legte die Schwächen des privatisierten amerikanischen Gesundheitssystems bloß. Die Einzelstaaten, vor allem republikanische Gouverneure, schwankten zwischen Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Lockdown und Öffnung. Außerdem hielten sich viele Menschen nicht an die Vorschriften, was auf den libertären Individualismus zurückgeht. Die Verlagerung der öffentlichen Meinung von der kritischen und aufgeklärten Öffentlichkeit der Nachkriegszeit, wie sie Habermas idealtypisch konstruiert hat, zu sektoralen sozialen Medien, die radikale Meinungen qualitativ und quantitativ verstärken, hat den Kampf gegen die Pandemie erschwert und stellt darüber hinaus eine grundsätzliche Bedrohung für die Demokratie dar. Im Vergleich zu den USA sind stärker regulierte Sozialstaaten wie Kanada oder Deutschland in der ersten Covid-19-Welle im Frühjahr 2020 besser durch die Pandemie gekommen. Man sollte dabei jedoch Kontingenzen nicht unterschätzen. Deutschland, Österreich, Polen und die anderen ostmitteleuropäischen Staaten konnten beobachten, wie sich die Pandemie zu Beginn in Italien und Spanien entwickelte, und reagierten dann entsprechend. Den Vorsprung vom Frühjahr verspielten diese Staaten im Sommer und Herbst 2020. Die Ursachen sind durchaus mit dem Scheitern der USA vergleichbar. Auf die umfassenden Verbote folgte eine ebenso umfassende Deregulierung, in Österreich und Tschechien beispielsweise galt ab Juni plötzlich überhaupt keine Maskenpflicht mehr. Auf die Warnungen von Fachleuten reagierten die jeweiligen Regierungschefs nicht, der tschechische Premier entließ Ende August sogar den eigenen Gesundheitsminister, der ihm vorsichtige Verschärfungen empfohlen hatte. So zählte Tschechien, das die Pandemie im Frühjahr sehr gut bewältigt hatte, im Winter 2020/21 die meisten Todesfälle pro Kopf im EU-Vergleich. Zuvor war Österreich, das in vielen deutschen Medien immer wieder als Vorbild präsentiert wird, eine Zeit lang Spitzenreiter bei den Ansteckungen im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße. Dort hat vor allem die hemmungslose Selbstinszenierung der Regierung und speziell des Bundeskanzlers viel Vertrauen zerstört. Auch die Bundesrepublik brachte die Pandemie ab November nicht mehr unter Kontrolle, so dass ein langer Lockdown folgte. Als Schlussfolgerung bleibt, dass nichts Gutes dabei herauskommt, wenn Politiker ständig auf Umfragen und die sozialen Medien schielen. 86 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Entscheidend wird sein, wie sich nach der Pandemie der zweite Teil des globalen Systemwettbewerbs entwickelt, der Neustart der Wirtschaft. Dieser hängt wiederum vom Fortschritt bei der Massenimpfung ab, die EU liegt dabei im internationalen Vergleich zurück. Für die Europäische Union, die entgegen allen Stereotypen über die allmächtige Brüsseler Bürokratie nur über einen kleinen Beamtenapparat verfügt, könnte vor allem die jüngst von Kiran Klaus Patel konstatierte überhöhte Erwartungshaltung zu einem Problem werden. Insofern ist es jetzt vielleicht sogar ein Vorteil für die EU, dass die Kompetenzen für die Gesundheitspolitik bei den einzelnen Mitgliedsstaaten liegen. Der Beginn des Impfprogramms hat die Erwartungen der Bevölkerung in vielen EU-Staaten enttäuscht und wirft die alte Frage nach der Steuerungsfähigkeit des Staates wieder auf. Werden die geplanten Ausgabenprogramme der EU in zukunftsträchtige Strukturen fließen und die europäische Wirtschaft dauerhaft stärken? Historiker sind nicht dazu ausgebildet, Prognosen über die Zukunft abzugeben. Wir wissen lediglich, dass tiefe Wirtschaftskrisen seit jeher ein schlechter Kontext für die Demokratie waren. * * *

Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Gespräch Nietzel: Vielen Dank für Ihre Impulse. In beiden Statements findet sich der Gedanke artikuliert, dass sich die Deutungsrah­ men der Geschehnisse 1989/90 im Verlauf der Zeit sehr stark geändert haben. Ton Nijhuis hat betont, dass viele Zeitgenossen damals gewisse Erwartungen hegten, die die Sicht auf die Ereignisse von vornherein prägten. Erst im Laufe der Zeit und im Rückblick ist in mancher Hinsicht klarer geworden, worum es in dieser Revolution eigentlich ging. Philipp Ther hat das Produktive politisch-gesellschaftlicher Krisen betont, dafür wäre 1989 historisch vielleicht sogar das beste Beispiel. Sie haben beide auch bereits sehr stark auf die aktuellen Krisen abgehoben und sogar die Ursachen dieser Krisen in den Vorgängen von 1989/90 und in deren Vorgeschichte verortet. Ich wollte diese direkten Zusammenhänge noch einmal in den Blick nehmen und Ihnen beiden Gelegenheiten geben, auf die Statements zu reagieren, zu ergänzen oder Ihrerseits Nachfragen zu stellen. Nijhuis: Nur ein paar kleine Bemerkungen. Erstens: ­Philipp Ther hat gesagt, Rechtspopulisten können eigentlich nicht mit Krisen umgehen. Sie sind schlechte Krisenbewältiger. Das stimmt schon, gleichzeitig brauchen sie aber auch durchgehend die von ihnen selbst geschaffenen Krisensituationen, um von den noch nicht gelösten Krisen abzulenken, sie hinter sich zu lassen oder durch neue Krisen in Vergessenheit zu bringen. Deshalb ergreifen populistische Politiker oft die Flucht nach vorn, eine Strategie, die man übrigens auch gelegentlich in der europäischen Politik beobachten kann. Zweitens: Europa ist ein Erfolgsnarrativ, aber dennoch sehen viele Bürger der europäischen Zukunft mit Sorgen entgegen, obwohl man gleichzeitig das eigene Leben und die individuelle Zukunft positiv bewertet. Ich kenne das auf nationaler Ebene auch aus Umfragen in den Niederlanden. Das Stimmungsbild ist in etwa wie folgt: Mir geht es eigentlich ganz gut, aber der Gesellschaft als ganzer geht es schlecht. Ähnliches hört man auch häufig in Ostdeutschland: Persönlich geht es mir jetzt besser als zu Zeiten der DDR , ich habe auch Vertrauen in die Zukunft, 88 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

trotzdem bewerte ich die Gesamtlage und die Gesamtentwicklung der innerdeutschen Einheit negativ. Ich glaube, dass in Umfragen die Mehrheit der Bevölkerung in den neuen Bundesländern die eigene Lage eigentlich positiv bewertet. Im Vergleich zu dem, was früher war, also in der DDR , ist man jetzt im Grunde zufrieden. Dennoch scheint es eine kollektive Erfahrung zu geben, die weniger positiv ist und manchmal zu Enttäuschungen bis hin zu Verbitterung führt. Enttäuschungen sind prinzipiell an vorausgehende Erwartungen geknüpft. Vielleicht waren wir am Anfang alle zu optimistisch – Stichwort: Blühende Landschaften. Solche überzogen euphorischen Erwartungen können am Ende nur zu Enttäuschungen führen. Ther: Ich stimme zu, dass es eine Diskrepanz zwischen materiellen Gewinnen und den gesellschaftlichen Stimmungen und Erwartungen gibt, bezogen auf die Gegenwart und vor allem die Zukunft – das fand ich einen sehr interessanten Gedanken. Wenn wir uns die teilweise schlechte Stimmungslage in den neuen Mitgliedsländern ansehen, im Hinblick auf die EU, aber auch auf die Nachbarstaaten, die eigenen Regierungen, dann sind tatsächlich überhöhte Erwartungen ein Problem. Das klang auch in der ersten Diskussionsrunde schon mal an. Die Frage ist natürlich immer: Lässt sich das politisch managen? Brauchen wir gewissermaßen ein Erwartungsmanagement? Was erzeugt eigentlich diese Erwartungen? Die Frage stellt sich im Augenblick auch wegen der schweren Gesundheitskrise, die über uns hereingebrochen ist und die allerdings andere Probleme und Missstimmungen in den Hintergrund gedrängt hat. Diese Überlagerung älterer Probleme ist interessant und hat wahrscheinlich ebenfalls mit Erwartungen zu tun, die sich aktuell darauf beschränken, gesund zu bleiben und ein halbwegs normales Leben zu führen. Aber noch etwas Anderes spielt hier eine große Rolle, besonders in Ostdeutschland. Stimmungen und Erwartungen werden davon beeinflusst, mit wem man sich vergleicht. Die Ostdeutschen vergleichen sich mit den Westdeutschen und klar, Frau Birthler hat es angesprochen, sie verdienen noch immer 20 Prozent weniger. Das sieht wie eine Benachteiligung aus und erzeugt, ganz banal, Neid. Auf Gruppenebene, aber auch bis in den Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Kollegen- oder Familienkreis hinein. Man hat ja immer die noch Erfolgreicheren vor der Nase. Der Neid ist ein weit verbreitetes Phänomen, zugleich ein großes politisches Problem, das die Universitäten und die Expansion der höheren Bildung einschließt. Wir produzieren immer mehr Absolventinnen, viele von ihnen Bildungsaufsteiger, die sich vermutlich erstmal glücklich schätzen, dass sie es so weit gebracht haben. Aber die Hälfte der Bevölkerung geht weiterhin nicht auf eine Universität – weil sie andere Interessen und Talente oder kein Abitur haben. Wenn die dann immer wieder hören, vermittelt von der OECD und anderen Organisationen, dass höhere Bildungsabschlüsse so wichtig sind und auch die Gesellschaft sich immer stärker an dieser Maxime orientiert, dann kommt das Gefühl auf, nicht mehr gleichwertig zu sein. Wenn die Uni so wichtig wird für das Idealbild eines erfolgreichen Menschen, auch materiell, denkt sich vielleicht selbst ein gestandener Handwerksmeister und vor allem der Geselle: Ja, und ich? Selbst wenn das Einkommen und der Wohlstand immer weiter zunehmen, kann man sich hier leicht zurückgesetzt fühlen. Nijhuis: Eine kleine Ergänzung noch bezüglich der Erwartungen. Wahrscheinlich werden wir später noch ausführlicher auf das Thema Flucht und Migration zu sprechen kommen. Die Ursachen für Migration beruhen immer auf Unzufriedenheit verbunden mit der Hoffnung, dass die neue Situation eine Verbesserung der alten Lage bedeutet. Unzufriedenheit ist aber relativ und gekoppelt an bestimmte Erwartungen. Zentral dabei ist, mit wem man sich vergleicht. Es gibt ja die bekannten weltweiten PEW-Umfragen in Bezug auf Zufriedenheit. Interessant ist, dass die Menschen in der Sub-Sahara in den 1960er Jahren eigentlich fast genauso zufrieden waren wie die Bürgerinnen und Bürger in Westeuropa, obwohl sie viel weniger Wohlstand hatten als wir hier. Heutzutage gibt es eine eklatante Differenz bezüglich der Zufriedenheit. Wie kommt das? In den 1960er Jahren war die Referenz noch der Nachbar oder das Nachbardorf. Im Vergleich war man da eigentlich ganz zufrieden mit den eigenen Leistungen und dem, was man besaß. Inzwischen hat jeder ein eigenes Smartphone und vergleicht sich mit den Kardashians 90 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

und dem New-York-Jetset-Leben, was im eigenen Land jedoch unerreichbar bleibt. Der Ansporn, nach Europa zu gehen, ist dadurch viel größer geworden. Und deshalb  – das ist jetzt eine politische Einschätzung – bringt es in Sachen Flüchtlingspolitik auch nichts, die wirtschaftliche Lage in Afrika zu verbessern, da die Kluft nicht wirklich überbrückt werden kann. Natürlich bin ich auch der Meinung, dass wir Afrika wirtschaftlich helfen sollten; der Punkt ist nur, es löst letztendlich nicht das Fluchtproblem. Mehr Wohlstand kann niemals die Erwartungen befriedigen, vergrößert aber die Möglichkeiten zur Mobilität. Da steht man also vor einer paradoxen Problemlage. Aber zurück nach Deutschland: Natürlich haben sich die Ostdeutschen mit Westdeutschland verglichen, anders als beispielsweise die Polen. Bei niedrigeren Erwartungen ist man schneller zufrieden zu stellen. Der Blick von außen Nietzel: Wir haben über individuelle Erwartungen gesprochen, und ich würde gerne die Tatsache nutzen, dass Sie beide jeweils einen sehr spezifischen Blick auf die Dinge mitbringen, der die Bandbreite an Perspektiven verdeutlichen kann. Ton Nijhuis, Sie sind ein Grenzgänger zwischen den Niederlanden und Deutschland. Sie setzen sich seit Langem mit großem Engagement für die deutsch-niederländischen Beziehungen ein. Das heißt, Sie kennen Deutschland sehr gut und können gleichzeitig einen Blick von außen einbringen. Dieser würde mich interessieren: Wie haben Sie eigentlich 1989 den Umbruch im Nachbarland persönlich erlebt? Sie haben schon in Ihrem Impuls angesprochen, dass es große Befürchtungen, auch Skepsis gab hinsichtlich einer sich verändernden Rolle Deutschlands in Europa. Sie haben auch gesagt, viele dieser Befürchtungen und Ängste haben sich letztendlich nicht erfüllt. Wie beurteilen Sie denn aus heutiger Sicht die veränderte Rolle Deutschlands in Europa? Hat sie sich überhaupt grundsätzlich verändert? Wäre es vielleicht sogar in mancher Hinsicht besser gewesen, wenn sie sich stärker verändert hätte? Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Nijhuis: Naja, in Grenzen. Persönlich hat mich der Mauerfall sehr gefreut. Eigentlich haben sich fast alle in den Niederlanden gefreut. Im Fernsehen sah das ja auch fast so aus wie ein Hollywood-Movie. Es gab unter Politikern und Deutschland-Experten – ich selbst war damals noch kein Deutschland-Experte – Befürchtungen bezüglich einer deutschen Wiedervereinigung und deren Bedeutung für die europäischen Machtverhältnisse, sprich bezüglich einer deutschen Dominanz. Aber im Grunde haben sich diese Sorgen nicht lange gehalten. Eher das Gegenteil ist eingetreten. Bezüglich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sind wir in den Niederlanden atlantisch orientiert. Die Vereinigten Staaten blieben dabei aus unserer Sicht zentral. Deutschland sah man niemals als einen potentiellen Sicherheitsgaranten  – anders als im politischen Bereich, wo Deutschland ein wichtiger Verbündeter ist, auch als Gegengewicht zu Frankreich. Denn in Bonn und später Berlin werden, anders als in Paris, immer auch die Interessen der kleineren Länder wahrgenommen und mitberücksichtigt. Kurzum, wir schätzten und schätzen Deutschland als soli­ darischen Partner und fürchten Deutschland nicht als eine Großmacht. Ab 1992/93 galt dann die Überzeugung, dass die Niederlande im Grunde Deutschland folgen sollten. Dies ist noch immer die Maxime der Niederlande. Der deutsche Exportmarkt bleibt für uns existentiell, wir können es uns einfach nicht leisten, hier eine andere Position einzunehmen. Nach der Wiedervereinigung hatten wir deshalb schon sehr schnell Vertrauen zu Deutschland, und ich glaube auch, die meisten haben damals verstanden, dass die Befreiung von Polen und Ungarn eine unglaubliche Chance für die niederländische Wirtschaft darstellte. Das war einer der Gründe für den Wirtschaftsboom nach 1993/94. Es entwickelte sich dabei alles viel positiver als ursprünglich angenommen. Wir wollten also ein wirtschaftlich starkes Deutschland, aber gleichzeitig die Vereinigten Staaten von Amerika als Sicherheitsgaranten in Europa. Das ging lange gut. Inzwischen aber erweisen sich die Vereinigten Staaten nicht mehr als so verlässlich wie früher. Wir müssen uns also eher kontinental orientieren. Das 92 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

bedeutet für die niederländische Politik ein ziemlich schmerzhaftes Umdenken. Hinzu kam dann auch noch der Brexit. Auch England war ja ein External Balancer für die Niederlande. Heute stehen wir nun ziemlich alleine da. Wir müssen uns also auf Deutschland verlassen können. Aber wie gesagt, in Deutschland wird viel geredet. Geredet darüber, Verantwortung zu übernehmen und auch unabhängig von den Vereinigten Staaten Außenpolitik, Sicherheitspolitik und Verteidigungspolitik zu gestalten. Bereits 2014 haben der damalige Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister FrankWalter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen in München auf der Sicherheitskonferenz dazu aufgerufen, dass Deutschland auch seine sicherheitspolitische Verantwortung stärker wahrnehmen sollte. Und was ist passiert? Nichts. 2017 hat Merkel dann nochmals betont: Die Vereinigten Staaten sind unzuverlässig geworden, und wir müssen unsere Sicherheit selbst in die Hand nehmen. Wiederum, was ist passiert? Nichts. Einerseits orientiert sich also die niederländische Politik jetzt mehr an Deutschland, auch in außenpolitischen Fragen. Andererseits gibt es doch eine sehr große Skepsis, ob Deutschland jetzt schon in der Lage ist, sein sicherheitspolitisches Versprechen auch tatsächlich einzulösen. Nietzel: Herr Ther, in Ihren Büchern der letzten Jahre55 haben Sie immer wieder die Darstellung größerer historischer Entwicklungen mit Schilderungen Ihrer eigenen Lebenserfahrungen verknüpft und diese genutzt, um allgemeinere Zusammenhänge zu veranschaulichen. Sie haben gewissermaßen eine transnationale Biografie. Sie verbrachten Ihre Kindheit zum Teil in der Türkei. Ihre akademische Ausbildung absolvierten Sie in Deutschland und den Vereinigten Staaten. Sie hatten bereits vor 1989 viele Kontakte in die Länder Ostmitteleuropas und haben deswegen den Umbruch dort auch ganz anders erlebt als viele Zeitgenossen. Als Hochschullehrer haben Sie mehrere Jahre in Italien verbracht, waren dann noch einmal in den Vereinigten Staaten. Wie hat Sie diese Biografie geprägt in Ihrem Blick auf Europa und auf die globalen Zusammenhänge, mit denen Sie sich beschäftigen? Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Ther: Ich komme jetzt erstmal auf Deutschland zurück, denn das ist ja das Kernthema unserer heutigen Diskussion. Ich war von 1993 bis 1995 in einem Campingbus unterwegs, um in ostdeutschen Kreisarchiven Akten für meine Dissertation über die Vertriebenen bzw. Umsiedler in Ostdeutschland zu finden. Die Archivreisen führten mich auch nach Schlesien und Tschechien. Es war auf‌fällig, dass es in Ostdeutschland weit weniger offensichtliche Armut gab als östlich der Oder und Neiße. Aber zugleich wirkte die Gesellschaft weniger dynamisch, wirtschaftlich gab es keinen Aufschwung wie bei den östlichen Nachbarn, das konnte man an den Wachstumszahlen sehen. Die Ostdeutschen waren zwar viel besser abgesichert, aber sie wirkten auch weniger zufrieden. Warum? Nicht zuletzt, weil sie sich mit den stereotyp gewordenen »Wessis« verglichen und so viele Menschen in den Westen abwanderten  – wobei sich die Unterschiede beim Wohlstand mittlerweile sehr reduziert haben, innerdeutsch und im postkommunistischen Europa. Besonders stark spürbar war die geringere Dynamik in Frankfurt / Oder, wo ich von 2002 bis 2006 an der Viadrina tätig war. Die Stadt war leer, weil zu viele Menschen in den Westen abwanderten. Vor allem in Mittel- und Kleinstädten, wo es keine großen Arbeitgeber mehr gab, war die Lage deprimierend; ähnlich war es in Regionen wie der Lausitz, wo ich besonders viel unterwegs war. Für viele Ostdeutsche waren diese Erfahrungen der Transformation traumatisierend, aber wenn sie sich beschwerten, wurde das als Gemotze abgetan; Altkanzler Schmidt fand die Klagen wortwörtlich zum Kotzen. Zeithistorisch ist es jedoch wichtig, diese Erfahrungen mit der Transformation zu dokumentieren, wobei das jetzt anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des Mauerfalls mehr und mehr in Gang gekommen ist. Zurück zum vergleichenden Blick, nach dem Sie fragten: In Polen ist man da schon ein bisschen weiter, aufgrund der alten Tradition der Memoirenwettbewerbe. Da konnten zum Beispiel auch Schulkinder in Wettbewerben aufschreiben, wie sie die Transformation erlebt haben. Ihre Aufsätze stellten die Rhetorik vom erfolgreichen Reformstaat durchaus kritisch in Frage. In dieser Hinsicht waren die Jubiläen von 1989 recht produktiv und mehr als politische Rituale. Wir sprachen schon in der ers94 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

ten Runde der Diskussion darüber, und ich teile den Eindruck, dass staatstragende Feiern nerven können. Doch das kann man umgehen, wenn man aus Berlin hinausgeht und die Menschen mithilfe von Oral-History-Projekten danach befragt, wie sie die Einheit und die gesamte Transformation erlebt haben. Der Vergleich ist übrigens auch produktiv, wenn wir in den Süden Europas schauen. Italien war in den 1980er Jahren fast so wohlhabend wie die Bundesrepublik, vor allem der Norden, und hatte hinsichtlich seiner Wirtschaftskraft einen sehr großen Vorsprung gegenüber Polen oder der Tschechischen Republik. Aber das wird nicht mehr lange so sein und auch dafür kann der persönliche Eindruck lehrreich sein. Die Vororte der italienischen Großstädte im Süden sind oft völlig trostlos und heruntergekommen, auch im Vergleich mit den meist gut gepflegten Plattenbausiedlungen in Polen oder der Slowakei. Die eigene Erfahrung kann also zu anderen Vergleichsebenen führen, in diesem Fall Süd- versus Ostmitteleuropa. Sozialanthropologen und Ethnologen machen solche Erfahrungen und Beobachtungen seit jeher produktiv, das hat mich auch ein Stück weit inspiriert. Auf diese Weise lässt sich leichter transparent machen, wie man selbst zum jeweiligen Forschungsobjekt steht. Zum Abschluss möchte ich nochmals weiter ausgreifen, von der Lebenserfahrung und lebensgeschichtlichen Interviews zur Lebenserwartung. In manchen Gegenden in Mittel- und Nordengland, im Rust Belt, aber auch in ärmeren Stadtteilen von New York ist die Lebenserwartung genauso niedrig wie in jenen Regionen des postkommunistischen Europas, die besonders unter der Transformation gelitten haben. Selbstverständlich ist der wirtschaftliche und politische Kontext sehr unterschiedlich, aber die sozioökonomische Transformationserfahrung in den deindustrialisierten Regionen des Westens ist teilweise sehr ähnlich. Es handelt sich bei der Transformation nach 1989 also auch um eine westliche und sogar eine globale Erfahrung. Das entspricht den globalen Dimensionen von ’89. Der Umbruch lässt sich ja nicht auf den Mauerfall und die deutsche Einheit reduzieren, wie das in der Bundesrepublik oft geschieht. Es folgte eine globale Transformation. Die Idee, dass ein neoliberaler Kapitalismus Demokratie erschafft, erwies sich als eine Illusion. Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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1989/90 als »Kotransformation« Nietzel: Ich würde gern noch bei Ihnen bleiben und ausgehend von Ihren letzten Gedanken eine weitere Frage aufwerfen. Christina Morina hat darüber mit Marianne Birthler und Norbert Frei in der ersten Gesprächsrunde ausführlich gesprochen, und es ist auch allgemein spürbar: Das Gedenken in Deutschland an 1989 war schon im Jubiläumsjahr 2019 von großer Nachdenklichkeit geprägt, sehr stark auch von den aktuellen politischen Entwicklungen: einer wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung und dem Erstarken eines offen verfassungsfeindlichen Rechtsradikalismus. Dieses Jahr ist das Gedenken dann erheblich von der Corona-Krise überlagert gewesen. Aber welche Bedeutung hat dieses Gedenken an 1989/90 für uns heute? Sie haben in Ihren Büchern zwei historische Ebenen untersucht: Einerseits das konkrete revolutionäre Geschehen mit seinen Zielen, Idealen, Erwartungen und Hoffnungen, die man unter westlichen Intellektuellen oft gar nicht richtig ernst genommen hat. Gewaltfreiheit, demokratischer Dialog, Liebe, Fairness und Menschlichkeit waren etwa zentrale Werte der samtenen Revolution in der Tschechoslowakei.56 Wir haben das bereits angesprochen. Gleichzeitig haben Sie in Ihren Forschungen aber auch eine längere zeitliche Perspektive auf die damaligen Umbrüche eröffnet und den Begriff der »Kotransformation« in die Diskussion eingeführt. Danach bedeutet 1989 einen entscheidenden Durchbruch in der Durchsetzung einer neoliberalen Wirtschaftsordnung, die Sie als eine globale wirtschaftspolitische Ideologie beschreiben. Die ostmittel- und osteuropäischen Transformationsstaaten fungierten als ein Experimentierfeld für radikale Wirtschaftsreformen, die anschließend auch westliche Länder ergriffen. Meine Frage ist: Macht das die politischen Umwälzungen dieser Zeit im Rückblick zu einer Episode und eigentlich nur inner­ halb einer viel größeren Geschichte globaler Transformation bedeutsam? Was ist mit den damaligen Werten und Hoffnungen passiert? Haben sie uns dann trotzdem noch etwas zu sagen? Oder ist die Entwicklung der 1990er Jahre über sie unwiderruflich hinweggegangen? 96 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Ther: Ein bisschen ironisch würde ich sagen: Volkspädagogisch muss man die Revolutionen hochhalten. Aber ich glaube, das ist für die zeithistorische Forschung ebenfalls wichtig. Auch aus politischen Gründen sollte man die Werte von 1989 in Erinnerung halten, zumal mit Blick auf Ungarn und Polen, wo derzeit im älteren Sinne konterrevolutionäre Parteien und Politiker alles daransetzen, die demokratischen Revolutionen und den Runden Tisch zu delegitimieren. Gerade wenn wir über die EU hinaus­ blicken, sieht man, dass die Werte von 1989 die Menschen nach wie vor anziehen. Bei der Revolution von 2014 in der Ukraine waren Werte wie Freiheit, Menschenwürde (nach der die Revolution benannt wurde) und Gerechtigkeit zentral. Nun zu den Zäsuren: In der längeren Sicht – und da hat Ton Nijhuis vollkommen Recht – relativiert sich das immer ein bisschen. Wenn wir jetzt, ganz kurz zumindest, nochmals zum Neoliberalismus zurückkehren: Begonnen hat das bekanntlich schon früher, mit Reagan und Thatcher. In den Mutterländern des Liberalismus gab es eine Formierungsphase des Neoliberalismus vor dessen globaler Hegemonie; übrigens deutete sich dies auch in Deutschland nach der zweiten Ölkrise an. Bundeskanzler Helmut Kohl reagierte auf die erneute Rezession und die Krise des Wohlfahrtsstaates mit der »geistig-moralischen Wende«, dazu gehörte auch die Maxime »mehr Markt und weniger Staat«. Das hatte dann einen großen Einfluss darauf, wie ab 1990 die Vereinigung Deutschlands gemanagt wurde. Da gab es einen Vorlauf und danach verschiedene Einschnitte. Die Terroranschläge von 9/11 lasse ich jetzt mal bei Seite, aber die Erweiterung der EU, die globale Finanzkrise, die russische Aggression gegen die Ukraine und damit das Ende gesicherter Staatsgrenzen in Europa, das antiliberale Annus Horribilis von 2016 und jetzt die Corona-Pandemie gliedern die Zeit danach. Das führt quasi automatisch zu einer gewissen Relativierung einer einzelnen Zäsur. Zur Vorgeschichte, der Formierungsphase des Neoliberalis­ mus, gibt es eine reichhaltige Literatur, vor allem im Bereich der intellectual history. Bei den ökonomischen Voraussetzungen muss man ebenfalls bis in die 1970er Jahre zurückblicken. Erfreulicherweise sind das Ende des Fordismus, der Beginn der Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Massenarbeitslosigkeit, die daraus folgende Krise der Sozialsysteme relativ gut erforscht. Die »Stagflation« hat dazu geführt, dass sich neoliberale Konzepte in der Wirtschaftspolitik immer weiter durchsetzen. All das relativiert die Zäsur von 1989, trotzdem bleibt sie ein wichtiger Einschnitt, auch auf globaler Ebene. Manchmal wundere ich mich daher über die Versuche der Relativierung und habe das Gefühl, dass das mit der westdeutschen Dominanz der deutschen Zeitgeschichte zu tun hat, auch an den einschlägigen Instituten in Ostdeutschland. Ich vermute, dass da etwas Lebensbiografisches reinspielt. Die »Generation Golf« hat 1989 in der alten Bundesrepublik oder in Westberlin vor dem Fernseher gesessen, daher ist ihr die Revolution ein Stück weit fremd geblieben. Wie vielen Westeuropäern, auch Österreichern, für die der Fall der Mauer, die ja nicht fiel, sondern gestürmt wurde, ein mediales Ereignis geblieben ist. Bei älteren Kollegen kommt noch ein antinationales Sentiment dazu. Ich glaube, dass das unbewusst die Forschung und die Wahl der Themen beeinflusst. Ich fände es daher ganz gut, wenn man hier mal die unter Anthropologen oder Soziologen relativ selbstverständliche Selbstreflektion leistet. Wo stehe ich denn? In meinem neuesten Buch steckt übrigens genau diese Frage drin: Welche Rolle spielen meine eigenen Erfahrungen bei der Forschung? Ich stelle mir diese Frage, um mir und der Leserschaft Rechenschaft darüber abzulegen, von welchem Standpunkt aus ich mich dem Forschungsgegenstand nähere. Wenn wir das offenlegen, tun wir uns auch leichter beim Forschen, bei der Frage, welche Bedeutung wir Zäsuren beimessen und warum wir sie so interpretieren, wie wir sie interpretieren. Nietzel: Ton Nijhus, darf ich fragen, ob Sie dies aus Ihrer Perspektive noch einmal kommentieren könnten? Der Begriff der Kotransformation, den Philipp Ther geprägt hat, ist zu einem wichtigen Konzept einer historischen Transformationsforschung geworden. Gerade in Deutschland wird momentan viel darüber diskutiert und geforscht. Damit werden auch frühere Gewissheiten wieder in Frage gestellt: In Ostdeutschland sollte sich alles ändern, in Westdeutschland konnte alles bleiben, wie es ist – das war die weitverbreitete Haltung vieler Deutscher nach der Wiedervereinigung, und hieran entzündete sich ja auch die 98 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Kritik einer kritischen Transformationsforschung.57 Nun stellen wir fest, es hat sich vielleicht doch auch im Westen mehr geändert als gedacht und gewünscht. Ich denke, dieser Perspektivenwechsel enthält viel produktives Potential. Wie beurteilen Sie das aus einer eher niederländisch-westeuropäischen Sicht: Hat 1989 auch Westeuropa verändert? Und sind das Veränderungen, die abgeschlossen sind oder die eventuell noch im Gange sind? Nijhuis: Natürlich hat sich viel in Westeuropa verändert seit 1989. Aber die Frage zielt ja darauf ab, ob man das alles den Umbrüchen von ’89 zuschreiben kann. Wir neigen dazu, politische Veränderungen als die wichtigsten Kräfte in der Geschichte zu betrachten. Aber es gibt viele ganz andere Kräfte und säkulare Prozesse, die vielleicht noch wichtiger sind. Zum Beispiel wurde 1993 das World Wide Web geboren. Das ist auch fast 30 Jahre her. Und denken Sie neben dem Internet an Handy, Smartphone und die digitale Revolution. All das hat doch unser Leben stark verändert und prägt entscheidend unsere Arbeit und Öffentlichkeit, die Art und Weise, wie wir miteinander diskutieren. Also, 1989 ist wichtig, aber es gibt viele andere Brüche und Kontinuitäten, die wir nicht außer Acht lassen sollten, einschließlich der Politik und der politischen Kommunikation. Die Frage ist auch, wie man ’89 überhaupt auf‌fasst: als ein europäisches Ereignis oder als ein welthistorisches Ereignis? Die neue geopolitische und ökonomische Rolle, die China seither spielt, ist beispielsweise auch eine weitreichende Folge von ’89. Die Welt hat sich also nicht nur in Europa sehr verändert: Digitalisierung und die neuen geopolitischen Verhältnisse sind globale Prozesse. Nicht zu vergessen die Vereinigten Staaten, die sich nach ’89 immer mehr aus Europa zurückgezogen haben, um sich Richtung Fernost zu orientieren. Die Welt des Kalten Krieges, in der alles klar vorstrukturiert war, in der jedes Problem eigentlich schon eine bestimmte Bedeutung hatte und in ein bestimmtes Narrativ eingebunden war, diese Welt existiert so nicht mehr. Jetzt gibt es viel mehr Unsicherheit und das spürt man in der Art und Weise, wie die Politik damit umzugehen versucht. 1989 als Krise? Ich denke, Zäsur ist ein besseres Wort. Denn Krise bedeutet ja ursprünglich, entweder etwas endet oder man kehrt in das Vorhergegangene zurück, wenn man zum Beispiel Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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krank ist: Entweder es wird besser oder man stirbt. Aber nach den Ereignissen von 1989 kehrten wir natürlich nicht in die alte Situation zurück. Zäsur ist also der bessere Begriff, denn die Welt hat sich grundlegend verändert. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass eine Zäsur stets Ende und Anfang zugleich darstellt. Das Ende einer Vorgeschichte. Und der Anfang einer Nachgeschichte. Denn wie Thomas Nipperdey einmal gesagt hat: Ein Anfang ist nie von Anfang an ein Anfang. Ein Ereignis ist erst ein Anfang, wenn es ein Ende gefunden hat. Also um ein Ereignis als Zäsur zu deuten, muss man erst wissen, von welcher Geschichte es das Ende ist. Und die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob man eine politische oder politikwissenschaftliche Perspektive einnimmt, oder ob man sie eher als eine ökonomische oder kulturelle Frage stellt. Zum schwierigen Umgang mit gesellschaftlicher Heterogenität Nietzel: Ich würde gerne noch ein anderes Thema anschneiden, das ebenfalls schon im ersten Gespräch eine Rolle gespielt hat: das Thema der gesellschaftlichen Einheit, das uns Deutsche besonders beschäftigt. In einer Ihrer Schriften, Herr Nijhuis, habe ich dazu eine interessante Passage gelesen58: Sie schreiben, dass es von außen gesehen immer ein bisschen befremdlich wirkt, dass die Deutschen so obsessiv über die »innere Einheit« sprechen, die so etwas wie ein Fixstern der politischen Debatte ist, aber niemals näher rückt. So sehr man sich auch anstrengt, die innere Einheit bleibt unerreichbar. Sie weisen darauf hin, dass es in anderen Ländern deutlich größere regionale oder gesellschaftliche Gegensätze gibt, dass diese Länder aber viel selbstverständlicher damit umgehen. Was, glauben Sie, sind die Gründe, dass sich Deutschland im europäischen Vergleich besonders schwertut, die eigene Heterogenität zu akzeptieren? Und ändert sich das vielleicht gerade? Entsteht jetzt auch in Deutschland eine stärkere politische und gesellschaftliche Polarisierung? Wir erleben den Aufstieg rechter Parteien, die bei uns lange nicht so stark waren wie in anderen europäischen Ländern. Vielleicht ist das auch eine Form der Normalisierung? 100 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Nijhuis: Eine schwierige Frage. Dass sich Deutschland so viel schwerer tut mit Heterogenität, hängt natürlich auch mit Erwartungen zusammen. In anderen Ländern, zum Beispiel in der französischen Provence oder in Süditalien, hat man es mit historisch gewachsenen Verhältnissen zu tun. Da kommt keiner auf die Idee, dass man auf dem gleichen Niveau wie in Paris und Mailand leben könnte. Dafür hat das Leben auf dem Land auch wieder andere Vorteile. Man hat gar nicht die Erwartung, dass das Leben auf dem Land so sein sollte wie das in Paris oder in einer anderen Metropole. In Deutschland ist es aber keine Stadt-Land-Frage, sondern eine Frage von Vereinheitlichung. Da kommen zwei Teile einer Bevölkerung zusammen mit dem Versprechen, dass sie auch gleichberechtigt sind. Und das, kombiniert mit dem Versprechen der »blühenden Landschaften«, hat zu der Erwartung geführt, dass dieser Anspruch der Gleichheit auch gekoppelt sein sollte an gleiche Gehälter und so weiter. In einer modernen Demokratie ist es oft so, dass je mehr Differenzen es gibt, je mehr Konfliktlinien, desto besser. Weil man irgendwie all diese Konflikte miteinander in Beziehung bringen kann. Mal ist man auf der einen Seite, mal auf der anderen, und man kann die Dinge verhandeln. Aber wenn alle Konflikte auf einen zentralen Konflikt reduziert werden, auf eine Hauptdifferenz wie z. B. Sunniten versus Schiiten, dann wird es schwierig. Ähnliches gilt bei der Frage nach der deutschen Einheit, wo sich alles auf den Ost-West-Gegensatz konzentriert. Man könnte genauso gut die Unterschiede zwischen Süd und Nord in den Blick nehmen. Sehen wir uns einfach mal Baden-Württemberg und Bayern an und vergleichen diese beiden Länder mit dem Rest Deutschlands. Da gibt es auch Unterschiede. Differenzen sind also stets Konstrukte und besitzen dadurch auch einen bestimmten Grad an Beliebigkeit. In Frankreich oder Italien sind die regionalen Differenzen nicht so stark auf eine Hauptdifferenz hin politisiert. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land, arm und reich, sind nicht verknüpft mit der Frage, ob man ein Bürger erster oder zweiter Klasse ist. Deutschland war, anders als Frankreich oder England, auch nie ein Land, das zentralistisch organisiert war mit sehr großen Metropolen als Machtzentren. Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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Es gibt in Deutschland flächendeckend Industrie, daher gibt es keine so großen Gegensätze zwischen Großstädten und den ländlichen Gebieten. Natürlich ziehen in der Bundesrepublik auch Bürgerinnen und Bürger aus den neuen Bundesländern in die westdeutschen Großstädte. Diese Tendenz zur Urbanisierung gibt es überall. Aber irgendwie wird das in Deutschland als ein typisch ostdeutsches Problem betrachtet. In der französischen Provinz wird das nicht so geframed. In anderen europäischen Ländern wie Bulgarien oder Rumänien oder in Teilen Ungarns gibt es Regionen, aus denen 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung weggezogen sind, dort gibt es kaum noch jüngere Menschen. Die interessante Frage – aus europäischer Sicht – ist, wie wir diese Landflucht einerseits und die Metropolisierung andererseits zukünftig gestalten wollen. Denn dieses Problem führt zu immer mehr Spannungen. Sie haben auch danach gefragt: Ist Deutschland im Hinblick auf den aufkommenden Rechtspopulismus Teil der europäischen Normalität? Deutschland war immer eine Insel der Stabilität in Europa, wenn es um politische Verhältnisse ging. Inzwischen ist Deutschland durchaus vergleichbar mit den Niederlanden, Frankreich oder Belgien. Doch es gibt auch einen wichtigen Unterschied: In Frankreich und den Niederlanden sehen wir, dass sich die populistischen Parteien eigentlich regelmäßig von anfänglich extremen Positionen Richtung Mitte bewegen, weil dort die Wähler sind. Dagegen war die AfD in Deutschland zu Beginn eine bürgerliche Partei rechts von der Mitte, rechts von der CDU. Seither hat sie sich schrittweise immer weiter radikalisiert und ist inzwischen eine rechtsextreme Partei. Das passt nicht zur europäischen Normalität, zumindest nicht in die westeuropäische Normalität. Diese Radikalisierung ist also schon eine deutsche Besonderheit. Ein weiterer Aspekt, der nicht in die westeuropäische Normalität passt, ist der besondere Stellenwert, den der Nationalsozialismus bei den deutschen Rechtsextremen einnimmt und deren hohe Gewaltbereitschaft. Diese beiden Aspekte spielen  – teilweise natürlich historisch bedingt – in Ländern wie den Niederlanden, Belgien oder Frankreich eine viel geringere Rolle. 102 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Ther: Aber was ist da jetzt Normalität? Die AfD ist selbst in den Hochburgen deutlich schwächer als vergleichbare Parteien in den östlichen Nachbarländern, Österreich und Norditalien. Inte­ressant ist auch, wo dieses Wähler-Reservoir eigentlich herkommt. Da muss sich auch die Linke an die Nase fassen. Es gibt klar einen Zusammenhang: Immer, wenn die SPD besonders schwach ist, hat die AfD erhöhten Zulauf. Irgendwo muss es da einen Austausch geben und ich glaube, nicht nur in den Umfragen. Und dann gibt es natürlich auch gewisse Überschneidungen in den ehemaligen Hochburgen der früheren PDS. Warum können die Linken heute viel weniger ostdeutsche Wähler an sich binden als früher? Man kann den Linken nicht den Vorwurf machen, dass die Rechtspopulisten so stark geworden sind. Aber dass sie selbst so schwach geworden sind, das wohl. Es gibt jedoch Besonderheiten in Deutschland, da hat Ton Nijhuis schon Recht. Wie so oft in Deutschland oder in der deutschen Geschichte wird die Rechte schnell extrem und ist außerdem relativ gewaltbereit. Warum das so ist, darüber müsste man noch näher nachdenken. Von der Ambivalenz der Geschichte Nietzel: Ich möchte noch einen letzten Aspekt zu dieser Thematik anschneiden: Wie lässt sich eigentlich der deutsche Umgang mit dem Umbruch von 1989/90 im europäischen Vergleich beurteilen? Vielleicht muss man hier noch einen Schritt zurück machen: Sie haben, Herr Nijhuis, an anderer Stelle argumentiert, dass Deutschland international immer als so etwas wie der Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung herhalten muss.59 Das bezieht sich natürlich wesentlich auf den (west-)deutschen Umgang mit der NS -Vergangenheit. Während wir aber in Bezug auf die NS -Zeit eine ganz klare, konsensuale Haltung zur Vergangenheit in der politischen Kultur der Bundesrepublik haben, gibt es diese in Bezug auf die jüngste Zeitgeschichte überhaupt nicht. Es ist natürlich die Frage, ob in einer Gesellschaft immer Konsens über die Vergangenheit herrschen muss oder überhaupt sollte. Aber wir erleben doch stark auseinanderlaufende EntwicklunPerspektiven auf die europäische Gegenwart

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gen: Was die »Wende« in der DDR , die Wiedervereinigung und die ostdeutsche Transformation angeht, scheint die gesellschaftliche Kontroverse mit zunehmendem Abstand eher heftiger zu werden. Die Sicht auf die deutsch-deutsche Geschichte seit 1990 ist beherrscht von massiven Deutungskonflikten. Damit ist die bundesdeutsche Geschichte vielleicht auch insgesamt wesentlich ambivalenter geworden, sie lässt sich nicht mehr als reine Erfolgsgeschichte nach den dunklen Jahren vor 1945 erzählen. Wie beurteilen Sie es, gewissermaßen von außerhalb, dass sich die Deutschen mit ihrer jüngsten Zeitgeschichte, der Wieder­ vereinigung und den Umbrüchen danach, so schwertun? Nijhuis: Der Text und die Argumentation, die Sie da zitieren, entstand während eines Aufenthaltes in Ost-Asien, im Kontext von Gesprächen, in denen es auch um die japanische Vergangenheitsbewältigung ging. Weltmeister bedeutet ja nicht per se, dass man sehr gut ist, aber immerhin weniger schlecht als die anderen. Unter den Blinden ist der Einäugige König. Und wenn man es mit Italien, Russland, Österreich oder der Schweiz vergleicht, dann hat Deutschland natürlich eine Vergangenheitsbewältigung, die einzigartig ist. Allerdings muss man dazusagen, dass das nach dem Zweiten Weltkrieg erst schleppend in Gang kam. Am Anfang herrschte die Kultur des Schweigens, und institutionell gab es viele Kontinuitäten, wenige Kündigungen, wenige Verurteilungen. Dass überhaupt über die eigene Vergangenheit gesprochen wurde, ist eigentlich ziemlich neu, das hat lange gedauert. Was ich auch hinzufügen möchte: Einerseits hatte man in Westdeutschland immer diese offizielle Erinnerung an den Natio­nalsozialismus mit Gedenktagen und den dazugehörigen Programmen, Ritualen und Symbolen. Andererseits hat gerade diese offizielle Vergangenheitsbewältigung den Bürgern gewissermaßen die Last und individuelle Verantwortung genommen, selbst über die Frage nachzudenken, wie man beispielsweise in der eigenen Familie mit der Geschichte umgehen soll. Die Frage des Vergleichs der Vergangenheitsbewältigungen nach 1945 und nach 1989 ist eine schwierige. Erstens haben wir zwischen 1933 und 1945 ein Volk, das gemeinsam Verantwortung übernehmen musste für die Verbrechen der Nationalsozialisten. 104 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Nach der Wiedervereinigung hat man eigentlich zwei Gruppen: die Westdeutschen und die Ostdeutschen mit jeweils sehr unterschiedlichen Erfahrungen und damit auch Standpunkten bezüglich der DDR-Geschichte und dem Umgang mit ihr. Zweitens haben Sie gesagt, dass es große Deutungskonflikte über die Geschichte seit 1990 gibt. Diese Vergangenheits­ bewältigung sollte man aber nicht mit Blick auf die Zeit vor 1945, sondern auf die Nachkriegszeit vergleichen. Wie sah das nach 1949 aus? Im Vergleich zu 1989 waren nämlich damals die Voraussetzungen ganz andere: Damals gab es keine benachteiligte Gruppe einerseits und eine, die sich etabliert hatte, andererseits. Ich glaube daher, dass dieser Vergleich letztlich wenig bringt. Es ist immer noch eine politische Diskussion und eben keine historische. Nietzel: Wie sehen Sie das, Herr Ther? Mich würde insbesondere auch interessieren, wie sich das aus einer vergleichenden ostmitteleuropäischen Perspektive darstellt: Wie blicken die anderen postsozialistischen Transformationsländer in Europa auf ihre jüngste Vergangenheit? Sehen wir dort auch solch ambivalente Haltungen in Bezug auf die Umbrüche von 1989/90 und die Zeit danach? Ther: Da muss ich zuerst diesen Begriff der Transformationsländer oder Reformstaaten ein bisschen aufspießen. Das sagt viel über die Wahrnehmung von ’89, die uns immer noch beeinflusst. Wir betrachten andere als Transformationsstaaten, als Reformstaaten, die alte Bundesrepublik selbst jedoch nicht. Offenbar war die damalige Bundesregierung, aber auch ein Großteil der westdeutschen Eliten, implizit der Ansicht: Wir müssen uns eigentlich nicht mehr reformieren oder transformieren. Genau das ist jedoch passiert, auf höchst unterschiedliche Weise, je nach Land, Region, sozialer Schicht und Gruppe. Ich glaube, es ist wichtig, den Transformationsbegriff nicht nur auf die postkommunistischen Staaten, also regional begrenzt anzuwenden. Der grundsätzliche Unterschied zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarstaaten liegt darin, dass man dort die Eliten nicht austauschen konnte wie in der ehemaligen DDR . Insofern war die Einheit auch eine Übernahme, mit vielen Vorteilen und manchen Nachteilen. Polen und Tschechen haben Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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die Ostdeutschen damals teilweise beneidet für die Hilfe des großen Bruders im Westen. Im innerdeutschen Verhältnis ergaben sich daraus aber durchaus Probleme: Niemand ist gern Hilfsempfänger, das führt zu einem Gefühl der Unterlegenheit und zu Komplexen. Umso überlegener sind manche Ostdeutsche dann im östlichen Europa aufgetreten, insbesondere im Umgang mit der Vergangenheit. Ich habe Mitte der 1990er Jahre einen weltmeister­lich auftretenden Herrn Gauck erlebt, damals noch Leiter der nach ihm benannten Stasiunterlagenbehörde, der den Polen erklärte, wie sie die Vergangenheit bewältigen müssten. Auf einer Konferenz fingen daraufhin plötzlich gestandene Dissidenten aus Polen, Tschechien und der Slowakei an, in Reaktion auf diese Belehrung kommunistische Jugendlieder zu singen. Das hat einmal mehr vorgeführt, dass man sich nicht immer beliebt macht, wenn man mit einer moralischen Selbsterhöhung auf‌tritt, was später in ganz anderen Kontexten noch öfter vorkommen sollte. Allgemein habe ich den Eindruck, dass die Zeitgeschichte derzeit bei unseren östlichen Nachbarn wesentlich kontroverser betrachtet wird. Damit meine ich nicht die oft sehr polemisch geführten politischen Debatten, bei denen es darum geht, den Umbruch von 1989 und die damaligen Eliten zu diffamieren, sondern wissenschaftliche Diskussionen. In Tschechien gibt es gerade eine unglaublich spannende Debatte über Geschichtsrevisionismus. Sogar die sogenannte Normalisierung, die Zeit nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten  – an dem sich schändlicherweise die DDR beteiligte, nur 30 Jahre nach dem Münchner Abkommen  –, wird neuerdings nicht mehr so einhellig verdammt wie früher. War die Normalisierung aus gesellschaftlicher Sicht vielleicht doch nicht so schlimm, wie die Dissidenten-Historiker immer behauptet haben? Gegen sie und vor allem ihre wissenschaftlichen Methoden richtet sich diese Kritik, die vor allem von jungen Historikern vorgetragen wird, denen man aufgrund ihrer Generationszugehörigkeit sicherlich keine nostalgischen Gefühle für den Staatssozialismus vorwerfen kann. Wenn wir die tschechische Diskussion auf deutsche Verhältnisse übertragen, könnte man die Frage stellen: Haben denn 106 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

nicht überwiegend westdeutsche Historiker  – da sie an allen einschlägigen Instituten maßgeblich vertreten sind  – den Ostdeutschen eine bestimmte Sicht auf die Geschichte aufgepfropft? Wie sähe denn eine Gegenerzählung aus, ohne sofort wieder frühere Positionen von PDS -nahen Intellektuellen aufzunehmen? Ich fände neue Gegenerzählungen interessant und wichtig für eine offenere Debatte um die deutsche Zeitgeschichte und die viel gerühmte Vergangenheitsbewältigung. Angesichts der Debatten und ihrer Akteure bin ich mir gar nicht sicher, ob dieser Begriff für den Umgang mit der Geschichte der DDR überhaupt passt. Vielleicht sollte man besser den polnischen Begriff »Abrechnung mit der Vergangenheit« übernehmen. Man hat mit der DDR abgerechnet, durchaus zu Recht, aber auch sehr stark getragen durch westdeutsche Politiker und Wissenschaftler. In Polen selbst werden die Volksrepublik und vor allem der Runde Tisch von 1989 inzwischen in Bausch und Bogen verteufelt. Die PiS spricht von einem »Elitenpakt« und wirft den Liberalen Eliten vor, sie hätten sich mit den Postkommunisten zusammengetan, aber jetzt kommt die große konservative Gegenrevolution und so weiter. Dass ist das, was Jarosław Kaczyński in Polen erzählt, und Orbán auf seine Weise in Ungarn. Diese Polemiken dienen dazu, die Gesellschaft bewusst und gezielt zu spalten. Wenn wir die Aufarbeitung der Geschichte vergleichen, kann man zwei Gruppen von Ländern unterscheiden, jene, die relativ entschlossen vorangegangen sind und früh die Archive geöffnet haben, dazu gehört die Tschechische Republik. Die dortige Lustration beinhaltete juristische Konsequenzen, manche kommunistischen Hardliner wurden sogar zu Gefängnisstrafen verurteilt und ich fand das damals auch richtig so. Andere Länder haben gezögert, darunter Polen, im Nachhinein betrachtet war das ein Fehler oder jedenfalls Wasser auf die Mühlen der heutigen Konterrevolutionäre. Bei der Abrechnung mit dem Staatssozialismus in Ostdeutschland und Tschechien fand ich den Formalismus bedauerlich, meines Erachtens wurde viel zu wenig danach gefragt, was Parteifunktionäre und Stasi-Spitzel tatsächlich gemacht haben. Eine Unterschrift bei der Stasi und ihren osteuropäischen Partnerorganisationen war selbstverständlich Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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nie eine Ruhmestat. Um diese Einsicht kommt niemand herum, der einmal unterzeichnet hat. Aber ich konnte nie so recht verstehen, warum dann nicht genauer gefragt wurde, was die Informanten wirklich angestellt oder auch verbrochen hatten? Haben sie jemanden verpfiffen? Haben sie Menschen massiv geschadet? Oder nicht? Haben sie ihnen vielleicht sogar einen Wink oder ein Zeichen gegeben, dass sie überwacht werden? Oft ging es in Polen und Tschechien in den neunziger Jahren auch darum, bei Attacken gegen vermeintliche oder tatsächliche Spitzel politische Widersacher mundtot zu machen. Bedauerlich finde ich außerdem, dass die Debatte mit ihrem Stasi-Fokus und diese Art der Aufarbeitung an etlichen hochrangigen Funktionären der Partei, beim Militär und den Massenverbänden vorbeigegangen ist, ebenso an den Führungsebenen in der Betrieben. Viele von diesen Funktionären mussten bei der Stasi oder dem tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienst (StB) sowieso nicht unterschreiben. Diese Leute waren in so hoher Position, dass sie die geheime Kooperation gar nicht nötig hatten – natürlich auch die Führungsoffiziere bis hin zu Herrn Wolf –, sie haben aber sicherlich mehr Menschen geschadet als viele andere. Mal sehen, wie man diese Debatten um die Aufarbeitung mit etwas mehr zeitlichem Abstand betrachten wird, vielleicht brauchen wir eines Tages eine Aufarbeitung der Aufarbeitung bzw. der Abrechnung mit der Vergangenheit. Die Verknüpfung der Aufarbeitung der DDR-Geschichte mit der NS -Geschichte fand ich immer unglücklich und auch deplatziert, um ganz ehrlich zu sein. Warum wurde ausgerechnet in diesem Fall zu einem diachronen Vergleich gegriffen? Synchrone Vergleiche, z. B. mit anderen sozialistischen Staaten und Unterdrückungsapparaten, wären, meine ich, produktiver gewesen. Droht ein Rückfall ins Nationale? Nietzel: Ich würde den Blick gerne abschließend noch einmal auf die europäische Gegenwart und die aktuellen Herausforderungen richten. Diese Gegenwart ist fast vollständig von der Corona-Pandemie geprägt. Die Politik der Pandemiebekämpfung und das Krisenmanagement in Europa sind wohl für viele mit 108 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

einigen bitteren Erfahrungen verbunden. Zum Beispiel, dass es die Europäische Union in dieser akuten Krisensituation nicht geschafft hat, eine gemeinsame Antwort oder eine gemeinsame Strategie zu formulieren. Dass stattdessen Europa eigentlich wieder zerfallen ist in eine Vielheit von Nationalstaaten, die alle ihre je eigene Politik machen. Die sich in einem Wettbewerb sehen, sich vergleichen oder sich abgrenzen. Vielfach wurden die Grenzen innerhalb des Schengen-Raums wieder geschlossen. Und da, wo die Europäische Union doch gemeinschaftlich gehandelt hat, etwa in der Impfstoff‌beschaffung, da lief es dann nicht besonders gut. Daher meine Frage: Sehen wir einen Rückfall in das Nationale, das wir eigentlich schon überwunden geglaubt hatten? Ist das ein allgemeiner Trend, der vielleicht nicht nur mit Corona zu tun hat, wenn wir an den Brexit denken oder an die neuesten Konflikte in der EU mit Polen und Ungarn? Ton Nijhuis hat am Anfang davon gesprochen, dass 1989 viel stärker eine Revolution des Nationalen gewesen ist, als es zunächst den Anschein hatte. Hat also diese Rückkehr des Nationalen sogar etwas mit 1989 zu tun? Nijhuis: Ich weiß nicht, ob ich im Hinblick auf Corona so pessimistisch bin. Denn wie hätte eine europäische Lösung überhaupt aussehen können? Erstens ist es so, dass Europa da überhaupt keine Befugnisse hat. Gesundheitspolitik ist in diesem Sinne nicht europäisiert. Man könnte höchstens in Brüssel die Maßnahmen synchronisieren, also etwa Quarantänezeiten abstimmen, Tests wechselseitig anerkennen. Wenn Angela Merkel allerdings über »Wir« redet, dann redet sie über ein deutsches »Wir«, das deutsche Volk. Aber das hat auch Vorteile. Man kann die Bevölkerung nämlich viel einfacher auf nationaler Ebene motivieren und solidarisieren als auf europäischer. Jedes Land hat da seine eigene »Sprache«, Redensweisen und Semantiken. Ministerpräsident Rutte spricht beispielsweise ganz anders mit der niederländischen Bevölkerung als Merkel mit der deutschen als wiederum Macron mit der französischen und so weiter. Für die Effektivität von Maßnahmen in Sachen Corona ist Vertrauen das Allerwichtigste. Man kann der Bevölkerung die Maßnahmen nicht einfach so aufzwingen. Es braucht das ZuPerspektiven auf die europäische Gegenwart

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sammenspiel von Politik und Bevölkerung, und das ist sehr stark abhängig von der politischen Kultur des Landes. Deutschland ist da manchmal ziemlich direktiv, Frankreich noch stärker. In den Niederlanden setzt man dagegen eher auf Eigenverantwortung. Wenn aber in den Niederlanden jetzt nicht mehr Mark Rutte die Bevölkerung ansprechen würde, sondern Ursula von der Leyen, dann würde dieses nationale Vertrauen nicht geweckt werden. Letztlich sind es auch Emotionen, die hierbei eine Rolle spielen. In Deutschland sieht man gerade auch – obwohl es oft beklagt wird –, dass das föderale System eigentlich gut funktioniert. Ja, es gibt auch Probleme, aber die Situation ist eben regional auch unterschiedlich. Die Lage in Mecklenburg-Vorpommern ist anders als in Nordrhein-Westfalen und man geht auch anders mit ihr um. Das ist nicht nur schlecht, denn es verringert die Distanz zwischen Politik und Bevölkerung. In diesem Sinne sehe ich das nicht als einen Rückfall ins Nationale, auch wenn wir natürlich unsere jeweilige Politik besser aufeinander hätten abstimmen können. Allgemeiner betrachtet: Die Öffentlichkeiten sind noch national. Auch die Infrastrukturen, wenn es um Bildung, Gesundheitsvorsorge, um Wohnungen oder Bürokratie geht. Und das kann man nicht schlagartig ändern, man kann da nur Politik aufeinander abstimmen. Gleichzeitig haben viele Menschen Angst vor Entgrenzung. Entgrenzung im Sinne der Auf‌lösung von Staatsgrenzen, die schützen. Ein entgrenzter Kapitalismus, entgrenzte Finanzmärkte, entgrenzte Migration und so weiter. Europa wird von vielen als Akzelerator von Entgrenzung gesehen, das Auf‌heben von Grenzen, das Überwinden von Grenzen. Für uns Akademiker ist das schön – aber vielen Menschen, die nicht oft ihr eigenes Dorf, ihr eigenes Städtchen verlassen, bringt das nicht so viel bzw. sie nehmen dies nicht unbedingt als Gewinn wahr. Europa sollte nicht nur dafür sorgen, dass diese Entgrenzung betont und gefeiert wird, sondern auch zeigen, dass Europa schützen kann. Dass es nicht nur für kosmopolitische Öffnung steht, sondern auch für den Schutz der Bevölkerung. Die Menschen haben einfach nicht mehr das Gefühl, dass sie in control 110 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

sind. »Taking Back Control« war ja bekanntlich auch das Motto des Brexit. Viele Menschen haben Angst vor Kontrollverlust und suchen Sicherheit. Und weil man das Europäische mit Entgrenzung, dem Globalen, dem Öffnen assoziiert, sucht man diese Sicherheit wieder im Nationalen. Das Narrativ von einer ever closer union sollte ergänzt werden mit einem Narrativ von einem Europa, das schützt. Dann braucht man nicht immer auf nationaler Ebene nach Schutz für Kapitalismus, Finanzmärkte, Arbeitslosigkeit und so weiter zu suchen. Ther: Ich hole mal soweit aus, wie Sie das in der Frage auch getan haben, und versuche trotzdem, mich kurz zu fassen. Wir haben ja schon festgestellt, dass Ton Nijhuis und ich uns da einig sind: Selbstverständlich waren die Revolutionen von 1989 auch nationale Revolutionen. Wie gesagt, man sollte dabei immer ein, zwei oder sogar drei Phasen unterscheiden. Erst kommen die massenhaften Proteste gegen das Regime, dann die nationale Revolution. In Deutschland hieß das: Wir sind ein Volk. Und schließlich folgte die marktliberale Revolution als Phase 3. Dieses nationale Element war gerade in Deutschland konstitutiv. In den Satellitenstaaten der Sowjetunion ging es auch um die Emanzipation von der sowjetischen Vorherrschaft und in der Sowjetunion von der russischen Vorherrschaft. Deswegen hängen die neuen EU-Mitgliedsstaaten stärker an ihrer nationalen Souveränität als die alten EU-Mitglieder, wobei mich »neu« und »alt« 17 Jahre nach der großen EU-Erweiterung als Attribute immer weniger überzeugen, dito bei den »fünf neuen Ländern«. Einen zweiten Zusammenhang, den wir eben auch schon erwähnt haben, möchte ich bestätigen: Die Globalisierung und die Europäische Integration als Variante der Globalisierung hat eine massenhafte Arbeitsmigration nach sich gezogen. Das erzeugt politische Gegenbewegungen in den Zielländern und ist für die Herkunftsländer und -regionen ein gravierendes Problem. Und dann kommt ein dritter Punkt hinzu: die globale Finanzkrise von 2008/2009, gefolgt von der Euro-Krise von 2011. In vielerlei Hinsicht war der Wirtschaftsnationalismus eine logische Gegenreaktion auf die Krise des globalen Finanzkapitalismus. Besonders deutlich wird das in Ungarn, das mit einer harten Haltung gegenüber den internationalen Banken und dem Ausstieg aus Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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dem IWF-Rettungsprogramm zur Entlastung der ImmobilienSchuldner beitrug. Deswegen ist Orbán so populär, immer noch. Aber es gibt diesen Wirtschaftsnationalismus auch in etwas milderer Form, im Sinne von »Wir wollen nicht für die anderen mitzahlen«. Deutschland verfolgt manchmal ebenfalls nationale und antieuropäische Interessen, etwa bei Nord Stream 2.  Und jetzt haben wir Corona. Was mir Sorgen bereitet, ist gar nicht unbedingt die Renaissance des Nationalstaats, der nun mal die Kompetenzen in der Gesundheitspolitik hat. Sondern dass die Grenzschließungen, wenn man auf Umfragen schaut und vor allem auf die sozialen Medien, ziemlich populär sind. Das variiert je nach Land, aber diese Popularität hat mich doch überrascht. Und die Frage ist, wie kommt man da wieder raus, aus diesem sich gegenseitig abschließen? Das ist nicht leicht. Verschiedene Länder haben schon reagiert, insbesondere Deutschland. Man unterscheidet regional, definiert Risikogebiete. Innerhalb der einzelnen Mitgliedsländer ist das auch geschehen. Das ist, würde ich sagen, zumindest ein positives Signal. Auch Österreich ist zum Glück wieder zu dieser Linie zurückgekehrt, nachdem die Regierung Kurz im Frühjahr und Sommer 2020 gern mit dem Finger auf andere gezeigt hat. Österreich hat als erstes Kontrollen für Einreisende aus bestimmten Ländern eingeführt und dann noch schärfere Maßnahmen. Davon sind wir jetzt wieder weg, das ist gut so. Ein weiteres Hoffnungsmoment ist, dass die EU jetzt den Erwerb und die Verteilung der Impfdosen an sich gezogen hat. Allerdings wird es darum Konflikte geben und es erhöht die Erwartungshaltung, was wiederum kontraproduktiv sein kann. So nach dem Motto: Bitte Europa, bitte Brüssel, löse die Probleme. Ja, wer soll das denn bewerkstelligen für fast 450 Millionen Europäer? Die 30 000 Beamten? – Die EU-Kommission verfügt über keinen großen Apparat. Aber jetzt zu Punkt 3: Wir wissen noch nicht, wie das ausgeht. Erst recht nicht beim sogenannten Wiederauf‌bauprogramm mit einem Umfang von 750 Milliarden Euro. Das ungarische Veto fand ich abstoßend und den deutschen Kompromiss bei der Rechtsstaatlichkeit falsch. Faktisch werden mit deutschen Steuergeldern, die nach Brüssel fließen, autoritäre Regimes 112 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

querfinanziert. Aber sehen wir die positiven Seiten: So wie während der Eurokrise von 2011 hat sich Deutschland nicht mehr verhalten. Und auch die Niederlande im Verbund der »geizigen Vier« haben dann ja ein Stück weit nachgegeben. Wenn die Krisenbewältigung gemeinsam läuft, kann es sein, dass wir als Resultat der Pandemie doch wieder mehr Europa bekommen. Aber man sollte die Gegner Europas und der europäischen Integration nicht unterschätzen. Nietzel: Eine letzte Frage: Wenn wir davon ausgehen, dass die Corona-Pandemie – wenngleich vielleicht einige Veränderungen dauerhaft sein werden  – letztlich etwas Temporäres darstellt, dann werden wir uns wohl nach deren Abflauen wieder mit den Krisen beschäftigen, die uns auch zuvor schon beschäftigt haben. Vielleicht werden diese in der gleichen Form zurückkehren, in der sie gewissermaßen ad acta gelegt wurden. Damit komme ich noch einmal zur Flüchtlingskrise zurück, die Sie beide schon angesprochen haben. Ivan Krastev hat von der Flüchtlingskrise 2016 als dem europäischen 9/11 gesprochen und beschrieben, wie sich in der Frage der Migrationspolitik eine neue Ost-WestSpaltung im Kontinent vollzieht.60 Ich würde gern zunächst Ton Nijhuis fragen – als jemanden, der aus einem Land kommt, in dem es schon um 2000 eine starke fremdenfeindliche politische Bewegung gegeben hat und auch das Phänomen des Rechtspopulismus, also lange, bevor wir über ein europaweites Erstarken rechtspopulistischer Strömungen zu sprechen begonnen haben. Wie würden Sie das beurteilen? Ist das tatsächlich eine Ost-West-Spaltung? Oder fallen wir da wieder in falsche oder allzu einfache Wahrnehmungsmuster zurück? Nijhuis: Wir hatten zu Beginn der 2000er Jahre einen relativ einflussreichen rechtspopulistischen Politiker in den Niederlanden, Pim Fortuyn, der 2002 ermordet wurde. Durch den seither in Europa aufgekommenen Rechtspopulismus wird Fortuyn so gedeutet, als ob er Teil der Vorgeschichte dieser rechtspopulistischen Bewegung gewesen sei, aber das war er eigentlich nicht. Die Frage nach Flüchtlingen spielte damals keine große Rolle. Und auch die Migrationsfrage war nicht so sehr das Thema. Es ging eher um Kriminalität, oder vielmehr um den vermeintlichen Zusammenhang von Kriminalität und Migrationshintergrund, Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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wobei die Türken als die »Guten« galten und die Ma­rokkaner als die »Bösen«. Es war recht diffus. Denn Pim Fortuyn war eigentlich ein Verteidiger von ’68. Sein politisches Denken hatte mit diesem Rechtspopulismus, den wir jetzt in Europa sehen, wenig gemein. Im Nachhinein konstruiert man da Kontinuitäten, die es in diesem Sinne nicht gibt. Ich denke, dass die Frage der Migration uns noch lange beschäftigen wird. Sie ist gewissermaßen eine politische Zeitbombe. Irgendwie müssen wir das lösen. Die europäische Kommission hat im September 2020 ihren Asyl- und Migrationspakt veröffentlicht, aber einen politischen Kompromiss wird es vorerst nicht geben, weil die Positionen zwischen den Mitgliedsstaaten dafür zu unterschiedlich sind. Migration muss besser strukturiert werden, es bräuchte mehr Grenzkontrollen, effizientere Koordinierung. Und wir müssen in Westeuropa auch akzeptieren, dass in Ländern wie Polen und Ungarn andere Vorstellungen herrschen und man sie nicht zwingen kann, bestimmte Kontingente an Flüchtlingen aufzunehmen. Das kann man auch den Migranten nicht antun. In einem größtenteils durch das Schengener Abkommen geregelten Europa gibt es doch Freizügigkeit. Ich denke, wir müssen hier pragmatisch vorgehen. Es hat keinen Sinn, das Prinzip hochzustilisieren. Es ist eine sehr schwierige Frage und irgendwie müssen wir das in den Griff bekommen. Moralische Überlegenheit bringt da nicht viel. Nietzel: Wie ist Ihre Sicht darauf, Herr Ther? Ther: Die Flüchtlingskrise war kein 9/11. Ich würde sagen, der Vergleich hinkt komplett. Und ich glaube, wir sollten Osteuropa nicht in einen Topf werfen. Da verweise ich seit Jahren schon auf Dänemark, dass man mit seiner Asyl- und Migrationspolitik eher dem Osten zurechnen müsste. Das Baltikum würde, so gesehen, wiederum zum Westen gehören. So einheitlich ist das nicht. Und im Streit um den Wiederauf‌baufonds und die Rechtsstaatlichkeit haben sich die vier Visegrád-Staaten in zwei plus zwei geteilt. Damit zur Frage nach der Migrationspolitik und der Flüchtlingskrise. In Teilen der Bevölkerung werden Flüchtlinge zunächst als arme Migranten verstanden. Oder als verarmte, die sie ja auch sind. Das macht es für sie in dieser Hinsicht sogar noch schlimmer. Schauen Sie in die USA: Da war Trump mit diesem 114 Perspektiven auf die europäische Gegenwart

Teil seiner Politik nicht so unpopulär, wie man dachte. Man will eben keine Kostgänger haben. Diese Sichtweise finden wir zum Teil vor allem in Schichten, die selbst schon durch sozialen Abstieg, soziale Einschnitte gelitten haben. Sie sind von dieser Migration ganz anders betroffen, vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Wir Akademiker und Historiker sind hingegen keiner Konkurrenz um Stellen durch Flüchtlinge ausgesetzt. Wie kam es zu dieser Krise? Ich denke, Migranten verkörpern für viele die Risiken der Globalisierung, aber auch der europäischen Integration. Zum Teil richtet sich die Missstimmung auch gegen innereuropäische Migranten, siehe Brexit. In den Niederlanden gab es ein Referendum gegen die Freizügigkeit von Ukrainern. Fremd, arm, vielleicht tatsächlich zum Teil ein Stück weit eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt: Das erzeugt viele Ängste. Wie kann man damit umgehen? Wichtig wäre auf jeden Fall, darauf hinzuweisen, dass Einwanderungsländer letztlich so gut wie immer von Immigration profitiert haben, ebenso von der Aufnahme von Flüchtlingen. Wir Wissenschaftler stehen in der Pflicht, dies zu vermitteln. Aber wir sollten diese Debatten nicht moralisch aufladen. Ich glaube, dass da auch politisch etwas schiefgelaufen ist. Auf der Linken sehe ich generell eine zunehmende Kluft zwischen der kulturalistischen Linken auf der einen Seite, die unter jungen Akademikern und an den Universitäten dominiert und der traditionellen, korporatistischen Linken auf der anderen, die zum Teil ganz anders darüber denkt. Man sollte Migration jedenfalls nicht idealisieren. Schon gar nicht die Schwierigkeiten, die man sich damit einhandeln kann, wenngleich der langfristige Effekt, wie gesagt, fast immer positiv ist. Natürlich nicht nur sozioökonomisch. Man braucht nur an die Vielfalt der Küche denken, ob jetzt in Deutschland oder in den Niederlanden, dann wird schnell klar, dass es nicht so schlecht ist, dass Migranten gekommen und geblieben sind. Ein anderer Aspekt ist, dass die Flüchtlingskrise oder auch andere Migrationsprobleme von Rechtspopulisten gnadenlos politisch ausgenutzt werden. Wie kann man damit umgehen? Orbán kannte natürlich die Statistiken und die Umfragen. Er wusste, dass die Ungarn relativ skeptisch sind gegenüber Mi­gration Perspektiven auf die europäische Gegenwart

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generell und gegenüber der Aufnahme von armen Migranten und Flüchtlingen im Besonderen. Und das hat er entsprechend bespielt. Trump wusste das auch und hat die allgemeine Skepsis gegenüber Immigration gnadenlos ausgenutzt und instrumentalisiert. Es ist schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Aber das liegt auch an der Schwäche der Linken und ihrer Scheu, sich mit Migration auf einer lebensweltlichen Ebene auseinanderzusetzen. Nehmen sie das Beispiel Pflegekräfte, hier im westlichen Europa. Wer betreut denn die Alten und Kranken in den Spitälern, gerade jetzt, während der Corona-Pandemie? In Wien würden die Altenpflege und die Krankenhäuser sofort zusammenbrechen ohne die slowakischen Krankenschwestern und Pfleger. Doch für die Herkunftsländer ist diese Migration ein großes Problem. Das muss man auch berücksichtigen, zumal die große Ost-West-Migration infolge der Transformation nach 1989 teilweise bereits ein zeithistorisches Thema ist. Nietzel: Herzlichen Dank für dieses Gespräch, Philipp Ther und Ton Nijhuis. Wir haben einen weiten Bogen geschlagen von den Umbrüchen 1989/90 hin zur europäischen Gegenwart und den Herausforderungen, die sich uns aktuell stellen. Nicht alle Phänomene der Gegenwart gehen auf 1989 zurück, aber es lassen sich doch viele historische Bezüge herstellen, die uns helfen, diese Gegenwart besser zu verstehen.

Kommentar

Ein transatlantischer Blick auf eine deutsche Diskussion Konrad H. Jarausch

Eine Generation nach dem Mauerfall ist der Sturz der SED -Diktatur bereits zur heftig diskutierten Geschichte geworden. Obwohl das dreißigjährige Jubiläum von der Pandemie überlagert wurde, bot es einen Anlass zum wertenden Rückblick auf die Ursachen und Folgen des Umbruchs. Die von Christina Morina und Benno Nietzel moderierten Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte haben sich diesem wichtigen Thema gestellt, indem sie eine Politikerin, einen Politologen und zwei Historiker zur Diskussion eingeladen haben, die ost- und westdeutsche Perspektiven sowie die Sicht der Nachbarstaaten aus den Niederlanden und Ostmitteleuropa repräsentieren. Ihre anregenden Diskussionen sind selbst ein Teil der Historisierung dieser Vergangenheit, da sie die überraschenden Entwicklungen durch Einordnung in einen längeren Kontext zu deuten versuchen. Als daran unbeteiligter Kommentator möchte ich weniger den Schiedsrichter zwischen ihren kontrastierenden Bewertungen spielen als einige ihrer zentralen Themen herausgreifen, welche die Bedeutung der Zäsur von 1989/90 erhellen. Mein eigener Standpunkt ist gleichzeitig von transatlantischer Distanz wie eigenem Engagement geprägt. Ich wurde während des Zweiten Weltkriegs in Magdeburg geboren, bin aber in Westdeutschland aufgewachsen und habe in den USA studiert. Durch Verwandtenbesuche und Archivaufenthalte habe ich Ostdeutschland kennengelernt, darüber hinaus wurde ich mit der Leitung einer International Research and Exchanges Board-Kommission von DDR- und US -Wissenschaftlern betraut. Da wir im Sommer 1989 eine kleine Wohnung in Westberlin gekauft hatten, habe ich die Massenflucht und die wachsenden Proteste aus nächster Nähe mit großem Interesse verfolgt. Aufgrund meiner Ein transatlantischer Blick

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Kontakte zu ost- und westdeutschen Kollegen habe ich versucht, durch die Organisation einer ersten Konferenz zwischen Historikern aus beiden deutschen Staaten an der Historischen Kommission zu Berlin und einer Gastprofessur an der Universität Leipzig eine Mediatorenrolle zu spielen. Daraus entstand eine enge Verbindung zum Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam, das ich von 1994 bis 2006 zusammen mit Christoph Kleßmann geleitet habe, ohne meinen Stifterlehrstuhl an der University of North Carolina aufzugeben. Diese Doppelperspektive von innen und außen hilft, manche querelles allemandes zu relativieren. Unter den interessanten Anregungen der Teilnehmer der Bielefelder Debatte sind es vor allem vier Aspekte von 1989/90, die ein weiteres Nachdenken verlangen. Ein erster Schwerpunkt ist die methodische Problematik einer Geschichtsschreibung der Gegenwart auf unsicherer Quellenbasis und mit offenem Ausgang. Ein weiteres Thema ist die Frage nach der »inneren Einheit,« d. h. des Fortschritts der Vereinigung, die in der deutschen Öffentlichkeit dominiert, während die anderen Ostblockstaaten über den Verlauf der Transformation diskutieren. Ein weiterer Bereich ist die konzeptionelle Stringenz einer Deutung der Ereignisse als Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur, friedliche Revolution oder postkommunistische Transformation. Schließlich kreisen die Debatten auch um politische Lernprozesse aus dem Ende der SED -Herrschaft und aus den Folgen des Beitritts der neuen Bundesländer, die auch die alte Bundesrepublik verändert haben. Welche Narrative bieten überzeugende Erklärungen des überraschenden Umbruchs und der darauf‌folgenden neoliberalen Westernisierung des Ostens? 1. Gegenwart als Geschichte Die zentrale Herausforderung der Analyse eines historischen Umbruchs wie der Ereignisse von 1989/90 ist die Untersuchung der Geschichtswerdung von Gegenwart. Während westdeutsche Politiker und ostdeutsche Dissidenten gerne eine Erfolgsgeschichte erzählen, beklagen frühere SED -Funktionäre und Linksintellektuelle eher das Scheitern eines egalitären Großexperiments. Historiker bewegen sich dabei auf brüchigem Eis, 118 Ein transatlantischer Blick

denn sie haben noch wenig Quellenzugang und sollen die Auswirkungen von Entwicklungen erklären, ohne deren Ausgang zu kennen. Trotzdem ist ihnen durch Einbettung in längerfristige Perspektiven die potenzielle Bedeutung eines solchen Epochenwechsels bewusst. Bei einem postdiktatorischen Übergang wie 1945 und 1989 kommt hinzu, dass die politische Diskreditierung der vorherigen Repression und die Legitimierung neuer Demokratie durch öffentliche Auf‌k lärung eine wichtige politische Rolle spielen – nicht zuletzt um gegen »neue Gefahren« für die Demokratie gewappnet zu sein, wie es Marianne Birthler hervorgehoben hat. Zeithistoriker können nur mit diesen Anforderungen fertig werden, wenn sie sich einer methodisch sauberen Quellenarbeit, einer längeren Perspektivierung und einer kritischen Reflexion des eigenen Standpunkts verpflichten. Bei der Bildung einer gesellschaftlichen Erinnerungskultur befinden sich Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker als wissenschaftliche Instanz in einem scharfen Wettbewerb mit einer medial getriebenen und von Norbert Frei treffend so bezeichneten »Gedenk- und Geschichtsbewirtschaftungsindustrie«. Einerseits erheben viele Zeitzeugen einen gewissen Anspruch auf erlebte Authentizität, der ihren insbesondere auch leidvollen Erfahrungen eine gewisse moralische Überlegenheit zusichert, die späteren Forschern fehlt. Gleichzeitig schaffen Medien im Aufmerksamkeitswettbewerb durch platte Unterhaltungsangebote ein vereinfachtes Geschichtsbild, das komplexe Zusammenhänge auf griffige Formeln reduziert. Ein besonders beliebtes Instrument ist die Skandalisierung der vergangenen Eliten durch Enthüllung ihrer Stasi-Mitarbeit oder ihres opulenten Lebensstils. Bei sukzessiven Jubiläen stürzt sich eine ganze Schar von Kulturschaffenden auf die jeweiligen Themen und kreiert eine Eventkultur, welche weniger dem gesellschaftlichen Verständnis als der Feier von Erinnerungsritualen dient. Stiftungen unterstützen solche Initiativen in dem befriedigenden Gefühl, etwas für die politische Kultur getan zu haben, auch wenn es dann letztlich nur um bunte Luftballons, helle Lichterketten oder Mauersteine aus Styropor geht. Die eigentliche Aufgabe eines Zeithistorikers und einer Zeithistorikerin ist eher die Fundierung eines kritischen GeschichtsEin transatlantischer Blick

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bewusstseins, das sich aus Quellenforschung wie interpretativer Diskussion ergibt. Eine solche Selbstverständigungsdebatte kreist z. B. um die Auswahl eines signifikanten Datums im Umbruch von 1989/90. Für die ostdeutschen Dissidenten war der Gewaltverzicht des 9. Oktobers in Leipzig der entscheidende Durchbruch zur Wiedergewinnung von Menschenrechten und die Voraussetzung für Demokratisierung. Für die Mehrheit der Bevölkerung dagegen war es der 9. November, der Tag des Mauerfalls, das Datum der Öffnung der Grenze, der Reisefreiheit und des Zugangs zum »mythischen« Westen. Gar nicht im öffent­ lichen Bewusstsein verankert ist der 12. September, das Datum der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrags, der den Beitritt der ostdeutschen Bundesländer zur Bundesrepublik internatio­ nal absicherte. Als offizieller Feiertag der staatlichen Vereinigung ringt der 3. Oktober noch um emotionale Anerkennung in der Bevölkerung. Da es für jede dieser Setzungen gute Gründe gibt, können Historiker nur mit ihren Argumenten zu einer rationalen Entscheidung beitragen. Wissenschaftler müssen auch auf die jeweiligen Defizite historischer Aufarbeitung hinweisen, um zu einem ausgewogenen Geschichtsbild zu kommen. Die Klage ostdeutscher Intellektueller ist durchaus berechtigt, dass im Westen der Republik zu wenig Verständnis für die Vergangenheit des Ostens vorhanden ist. Aber der Forschungsboom der DDR-Geschichte hat zugleich die Untersuchung der alten Bundesrepublik etwas überschattet, so dass auch auf diesem Gebiet etwas Nachholbedarf besteht. Noch drängender ist jedoch die Aufgabe einer »integrierten Nachkriegsgeschichte«, die die Entwicklung beider deutscher Staaten in ihrer asymmetrischen gegenseitigen Verflechtung behandelt, anstatt nur den Erfolg der alten Bundesrepublik zu betonen und die DDR als Beispiel eines unausweichlichen Fehlschlags darzustellen. Schließlich ist es auch an der Zeit, die provinzielle Nabelschau Deutschlands zu überwinden und die Nachkriegsgeschichte in weitere, zunächst europäische, aber dann auch globale Bezüge einzubetten. Nur in solcher Erweiterung ist ein überzeugendes, plurales Geschichtsbewusstsein zu gewinnen. Dabei sollten sich Zeithistoriker vor einer vorschnellen Instrumentalisierung hüten, welche ihre Forschungen als Waffe 120 Ein transatlantischer Blick

in der politischen Auseinandersetzung benutzt. Einerseits greift das antikommunistische konservative Lager gern auf die schon diskreditiert geglaubte Totalitarismustheorie zurück, weil diese eine eindeutige Ablehnung der SED -Diktatur bietet, die einen radikalen Bruch mit dem »realen Sozialismus« legitimiert. Andererseits beschäftigt sich die linke Seite eher mit einer Trauerarbeit über die enttäuschten Hoffnungen hinsichtlich eines egalitären Umbaus der Gesellschaft und fahndet nach dem Zeitpunkt ihres Fehlschlags, um das Erbe der Auf‌klärung für eine bessere Umsetzung in der Zukunft zu reaktivieren. Dazwischen versuchen komplexer argumentierende Wissenschaftler einerseits den Diktaturcharakter des SED -Regimes zu verdeutlichen, andererseits aber auch gewisse fortschrittliche Reformen anzuerkennen. Der von mir vorgeschlagene Spannungsbegriff einer »Fürsorgediktatur« ist ein Versuch, diesen Doppelcharakter der DDR anzudeuten. Statt in politische Polemik zu verfallen, sollte Gegenwartsgeschichte nuancierter argumentieren, um den Widersprüchen der Vergangenheitswerdung gerecht zu werden. 2. Phantom innere Einheit In der deutschen Diskussion über die friedliche Revolution dominiert die Suche nach der »inneren Einheit« als Messlatte für den Fortschritt der Wieder- oder Neu-Vereinigung. Dieser zentrale Begriff ist höchst problematisch, da er eine Homogenität suggeriert, welche auch in anderen föderalen Ländern wie den USA nicht erreicht wird. Unterschwellig spielt vielleicht sogar noch die Furcht vor einem Rückfall in die Kleinstaaterei eine Rolle, die erst 1871 die Gründung eines unvollständigen Nationalstaats erlaubt hat. In der Praxis ist das Verfassungsgebot der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ziemlich umstritten, da es nicht völlige Gleichheit, sondern die »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet« (Art. 72 Abs. 2 GG) verlangt, also durchaus Unterschiede toleriert, ohne selbst zu bestimmen, wann diese Zielvorstellung erreicht ist. Weil es bei dieser Frage um handfeste materielle Interessen der finanziellen Unterstützung der neuen Bundesländer durch Steuerzahler der alten Bundesrepublik geht, hängt deren Beantwortung von Ein transatlantischer Blick

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den jeweiligen Erwartungen ab. Aus historischer Perspektive ist daher mehr Wahrnehmung und Akzeptanz von Heterogenität notwendig, denn der Ost-West-Gegensatz ist auf die Dauer als ein regionaler Unterschied neben anderen wie z. B. die NordSüd-Differenz zu verstehen. Ton Nijhuis hat zu Recht – und weit darüberhinausgehend – auf die große Verschiedenheit der Entwicklungen auch im Vergleich mit den anderen (west-)europäischen Ländern verwiesen. Die Frustration über die unerwarteten Schwierigkeiten der Vereinigung hat eine verquere Schulddebatte ausgelöst, deren gegenseitige Vorwürfe das historische Verständnis erschweren. Viele antikommunistische westliche Kommentatoren sowie ostdeutsche Oppositionelle suchen die Erklärung vor allem im vergifteten Erbe des »realen Sozialismus« der DDR . Sie können eine ganze Reihe von materiellen Faktoren anführen, wie den Verfall der Infrastruktur, die Stagnation der Planwirtschaft sowie die Zerstörung der Umwelt, zu denen noch mentale Probleme wie fehlende Zivilcourage, autoritäre Hörigkeit oder verbreiteter Kollektivismus kommen. Ostdeutsche Vertreter des realen Sozialismus und westliche Linksintellektuelle machen dagegen eher Fehler einer neoliberalen Vereinigungspolitik verantwortlich, die zu einer westdeutschen Übernahme mit kolonialen Zügen geführt und durch überhastete Treuhandprivatisierung nicht nur die Wirtschaft ruiniert, sondern auch ostdeutsche Biografien entwertet haben. Zeithistoriker stehen also vor der Herausforderung, die komplexen Fäden dieses Knäuels zu entwirren und die jeweiligen Kausalfaktoren gegeneinander abzuwägen. In vielerlei Hinsicht hängt die Beurteilung der Entwicklungen während der letzten Generation nicht nur von unausgesprochenen Erwartungen, sondern auch von der jeweiligen Vergleichsperspektive ab. In den Umfragen sind die meisten Ostdeutschen mit ihrem Lebensstandard nach 1990 zufrieden, aber sie kritisieren die allgemeine Entwicklung der vereinigten Bundesrepublik. Ihre Enttäuschung rührt weitgehend daher, dass das Leben im vereinigten Deutschland nicht so reibungslos verlaufen ist, wie Westfernsehen und Westpakete suggeriert haben. Wenn viele Ostdeutsche ihre Situation mit den Umständen vergleichen, in denen Verwandte im Westen leben, fühlen sie sich irgendwie 122 Ein transatlantischer Blick

vom Schicksal betrogen, das sie in den ärmeren Teil des Landes verbannt hat, während es jene auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs leichter hatten. In diesem Westvergleich sind die neuen Bundesbürger strukturell unterlegen, obwohl sie im Gegensatz zu manchen östlichen Nachbarn durchaus besser dastehen. Wenn man vom Westen nach Frankfurt / Oder reist, sieht man noch die Reste der maroden Planwirtschaft, aber wenn man von Westpolen her anreist, glaubt man schon im Westen angekommen zu sein. Zugleich, das schildert Philipp Ther sehr eindrücklich, geht es, was die sozialen Härten infolge der Transformation angeht, auch um weit über Deutschland hinausreichende, globale Erfahrungen, eine gleichsam universale Notlage. Ebenso wichtig für die Reaktion auf den Umbruch sind die eigenen Erfahrungen vor und nach der Vereinigung. Für viele Nomenklatur-Kader der SED bedeutete das Ende der DDR einen eklatanten Statusverlust, da die Destasifizierung ihre Karriere beendete. Normalbürger freuten sich zwar über die neuen Konsum- und Reisemöglichkeiten, sorgten sich aber um ihre Arbeitsplätze, hatten also durchaus ambivalente Gefühle. Dagegen waren Oppositionelle angesichts des Sturzes der Parteidiktatur erleichtert, trauerten aber zugleich, weil ihre Hoffnungen auf einen Dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus nicht wahr geworden waren. Rentner erhielten höhere Bezüge, aber die Generation auf dem Höhepunkt ihres Berufslebens verlor den langersehnten Aufstieg in Führungspositionen, während Jüngere sich noch auf das westliche System einstellen konnten und Jugendliche in ganz überwiegender Zahl von den neuen Bildungs- und Karrierechancen profitierten. Während die meisten arbeitslosen Männer wieder Stellen fanden, verloren viele Frauen ihre Arbeitsplätze und soziale Unterstützung wie Kinderbetreuung. Bei der historischen Beurteilung kommt es daher ganz darauf an, ob ein Individuum Gewinner oder Verlierer der Wende war. Deshalb spricht auch die Verlustliteratur etwa aus der Feder von Daniela Dahn nur für einen besonders enttäuschten Teil der Ostdeutschen. Im ostmitteleuropäischen Umbruch ist die Entwicklung Ostdeutschlands daher ein Sonderfall, dessen Anfänge zwar vergleichbar sind, der sich dann aber auf andere Weise weiterentEin transatlantischer Blick

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wickelte. In dem Sturz der kommunistischen Diktaturen nimmt Ostdeutschland eine mittlere Position ein, da das System erst durch das Auf‌begehren der Solidarność in Polen sowie die Proteste bei der Nagy-Umbettung in Ungarn ins Wanken kam, bevor die Destabilisierung von Ostberlin aus nach Prag, Sofia und Bukarest ausstrahlte. Die Bildung von oppositionellen Gruppen, die vom Massenexodus ausgelösten Demonstrationen, die Erosion der Partei, die Verhandlungen am Runden Tisch und die ersten freien Wahlen waren Etappen des allgemeinen Systemzusammenbruchs. Aber der Zehnpunkteplan der Bundesregierung, das Votum für die Vereinigung, die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen und der Beitritt der rekonstituierten Länder zur Bundesrepublik waren eigenständige Entwicklungen. Kein anderer Ostblockstaat konnte sich mit einem größeren demokratischen und kapitalistischen Nachbarn vereinigen. Das Resultat dieser Besonderheit war die Leitung und Unterstützung der Transformation von außen, die zwar schneller, aber nicht so selbstbestimmt wie in den vergleichbaren Ländern verlief. 3. Historische Deutungen Schon während der Ereignisse begann die Debatte über die Bedeutung der Zäsur von 1989/90. Der auch als Journalist arbeitende britische Historiker Timothy Garton Ash wies auf die Ähnlichkeit mit dem »Völkerfrühling« der Revolution von 1848 hin, der liberale mit nationalen Zielen verband. Gleichzeitig sah der Soziologe Ralf Dahrendorf die überraschende Ablehnung des Kommunismus eher als eine »Bestätigung älterer Ideen«, während der Sozialphilosoph Jürgen Habermas von einer »nachholenden Revolution« sprach, die trotz zivilgesellschaftlichen Engagements auf die Wiederherstellung einer westlichen parlamentarischen Demokratie hinauslief. Andere teilnehmende Beobachter wie der polnische Dissident Adam Michnik feierten die Rückkehr Osteuropas nach Mittel- und Westeuropa als eine Wiederherstellung der traditionellen europäischen Ordnung, die der Eiserne Vorhang brutal getrennt hatte. Weitere Kommentatoren wie der ungarische Intellektuelle György Konrád betonten 124 Ein transatlantischer Blick

dagegen den nationalen Charakter des Umbruchs, der durch den Rückzug der Roten Armee den Ostblockstaaten die Freiheit zurückgab. Je nach ideologischer Ausrichtung und geographischer Lage interpretierten solche Zeitzeugen den Vorgang als Liberalisierung oder Nationalisierung. Mit größerem zeitlichem Abstand hat sich die Debatte auf einige zentrale Begriffe konzentriert, die den Umbruch von 1989/90 charakterisieren sollen. Im populären Sprachgebrauch reden viele (Ost-)Deutsche von dem von Egon Krenz geprägten Wort einer »Wende«, das eine Veränderung signalisiert, ohne sie genauer zu beurteilen. Postkommunistische Intellektuelle polemisieren jedoch gegen eine »Übernahme« oder »Kolonisierung« durch den kapitalistischen Westen, die ihr soziales Experiment beendet hat. Historiker der Parteidiktaturen betonen den »Kollaps« des Kommunismus durch die Unterlegenheit im materiellen Wettbewerb mit dem Westen und die Erosion seines utopischen Glaubens. Obwohl sie den Umbruch mit herbeigeführt haben, weigern sich viele frühere Dissidenten, die von der prosaischen postkommunistischen Politik enttäuscht sind, von einer »Revolution« zu sprechen, da sie mit dem Begriff eher blutige Umstürze wie 1789 in Frankreich oder 1917 in Russland verbinden. Während in der historischen und politikwissenschaftlichen Forschung auch von einer »verhandelten Revolution« gesprochen wird, hat sich in der deutschen Öffentlichkeit der Terminus einer »friedlichen Revolution« durchgesetzt, weil er den gleichzeitig revolutionären wie friedfertigen Charakter des Geschehens beschreibt. Viele Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler ziehen dagegen den neutraleren Begriff einer »Transformation« vor, um die Ursachen und Folgen des Sturzes der kommunistischen Parteidiktaturen zu analysieren. Damit stellen sie diesen osteuropäischen Umbruch in den Referenzrahmen post-diktatorischer Übergänge in Lateinamerika oder am europäischen Mittelmeer, die vor allem auf die Stabilisierung einer demokratischen Regierungsform hinausliefen. Sie heben damit etwas von den Akteuren und Ereignissen ab und fokussieren sich auf die Auswirkungen der Globalisierung seit dem Ende des Booms, die der Westen mit erheblichen Schwierigkeiten gemeistert hat, Ein transatlantischer Blick

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an welcher der Ostblock jedoch ökonomisch und politisch gescheitert ist. Dabei konzentriert sich die neuere Diskussion auf die Ideologie des Neoliberalismus, die von Ronald Reagan und Margret Thatcher als Antwort auf den Druck des globalen Wettbewerbs angepriesen wurde. Diese Perspektive bietet einen interessanten Vergleichshorizont zwischen Ost- und West- oder auch Südeuropa, indem sie vergleichend eine von Philipp Ther als »Kotransformation« bezeichnete Entwicklung untersucht, in der der Westen nicht von vornherein als überlegen angesehen wird. Eine Stärke dieses Ansatzes ist die Einbettung der Zäsur von 1989/90 in eine längere Verlaufsgeschichte eines politischen und sozialen Strukturwandels. Die vergleichende Perspektive einer post-kommunistischen Transformation bietet eine gesamteuropäische Sicht auf 1989/90, welche die deutsche Selbstbezogenheit auf‌bricht. Außenpolitische Kommentatoren argumentieren, dass das Ende des Kalten Krieges Deutschland wieder in seine traditionelle Brückenfunktion zwischen Ost und West katapultiert hat, die in dem Klischee des »Landes der Mitte« oder der »Mittellage« zum Ausdruck kommt. Einerseits ist die alte Bundesrepublik seit Jahrzehnten ein Mitglied des gemeinsamen Marktes, der sich trotz aller Rückschläge zu einer Europäischen Union mit offenen Grenzen und gemeinsamer Währung entwickelt hat. Andererseits war die frühere DDR ein Eckstein des sowjetischen Imperiums und damit ein Musterstaat des Kommunismus in Ostmitteleuropa und wurde durch dessen Gemeinschaft im Warschauer Pakt und RGW geprägt. Daher war es nur logisch, dass die von Bonn nach Berlin zurückgekehrte Regierung die Ausweitung des Nordatlantischen Bündnisses und den Beitritt der östlichen Nachbarländer unterstützt hat. Die Stabilisierung der Demokratie und das Aufholen der Wirtschaftsentwicklung in Mitteleuropa sind daher als gleichzeitig interne wie außenpolitische Anliegen zu verstehen. Aus dieser fundamentalen Neuvermessung Europas hat sich auch eine wachsende Verantwortung Deutschlands ergeben, die ein Großteil der politischen Klasse immer noch nicht angenommen hat. Entgegen der ausländischen Sorge vor einem »Vierten Reich« hat die erweiterte Bundesrepublik sich eher wie eine kontinentale Mittelmacht verhalten, die sich erst langsam wieder an 126 Ein transatlantischer Blick

kollektive Militäreinsätze gewöhnen musste. Eine erste Welle intellektueller Renationalisierungsversuche in den 1990er Jahren ist weitgehend verpufft, bevor sie in Form der xenophoben AfD wiederaufgetaucht ist. Aber trotz des von aufgescheuchten Medien mit herbeigeführten Rücktritts von Bundespräsident Horst Köhler wegen seines Tabubruchs der Erwähnung nationaler Interessen hat die Bundesrepublik in Brüssel durchaus eigene Prioritäten, wie z. B. die Austeritätspolitik in der Finanzkrise, durchgesetzt. Aber in Stil und Substanz ist das Land eher der gemäßigten Moderation von Bundeskanzlerin Angela Merkel gefolgt, so dass sich die internationale Kritik mehr an deutscher Selbstbeschränkung als an etwaiger Überheblichkeit entzündet. Auch wenn bei Meinungsverschiedenheiten manche Nachbarstaaten gerne auf Nazi-Stereotypen zurückgreifen, ist Berlin bestenfalls ein »Hegemon wider Willen« geworden. Der Umbruch von 1989/90 hat vielschichtige Lernprozesse in Gang gesetzt, die eher in Romanen wie Der Turm oder in ­Filmen wie Good Bye, Lenin! als in historischer Forschung thematisiert worden sind. Eine wichtige Lektion war das gegenseitige Kennenlernen von Ost- und Westdeutschen. Solange die Mauer stand, konnten Beobachter wie Günter Gaus und Marlies Menge noch viele Ähnlichkeiten in geteilten Gewohnheiten wie dem Sonntagskaffee und dem Spaziergang konstatieren. Sobald aber Ost- und Westdeutsche ohne Hindernisse aufeinandertrafen, wurden die in vier Jahrzehnten durch feindliche Systeme geprägten Unterschiede allzu deutlich, da viele Westdeutsche sich als post-nationale Bürger Europas verstanden, während manche Ostdeutsche in der provinziellen Abgeschiedenheit eher traditionelle deutsche Selbstverständnisse und Mentalitäten bewahrten. Aus diesen Entfremdungserfahrungen entstanden soziokulturelle Klischees wie der »Besserwessi«, der die westliche Arroganz bezeichnete, und der »Jammerossi«, der die andauernden Klagen der ostdeutschen Bürger über ihre Benachteiligung auf den Punkt brachte. Nur das von Bundespräsident Richard von Weizsäcker angemahnte gegenseitige Zuhören und Wahrnehmen spezifischer Lebensgeschichten konnte solche Missverständnisse langsam abbauen. Ein transatlantischer Blick

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Auch das Erlernen von Demokratie erwies sich als schwieriger als erwartet, weil die parlamentarischen Entscheidungsprozesse oft intransparent aussahen und ihre Resultate nicht immer alle Wünsche erfüllten. In der Euphorie gemeinsamer Demonstrationen gegen ein verhasstes System des »Zettelfaltens« schien endlich die Basisdemokratie verwirklicht, denn die Beteiligung war ein Kollektiverlebnis des Abstreifens von Furcht. Aber die Ernüchterung über die Mühen der Ebene in alltäglicher Parteiund Verbändeherrschaft folgte bald auf dem Fuße, da in vielen Entscheidungsgremien die Westdeutschen in Überzahl waren und ihren Kenntnisvorsprung des eigenen Systems ausspielen konnten. So waren ostdeutsche Lehrer in Gesinnungsfächern wie Geschichte oft überfordert, da sie selbst im marxistischleninistischen Grundstudium gelernt hatten, Parlamentarismus und Kapitalismus zu verdammen, aber jetzt die Entwicklung Westdeutschlands als Standard von Freiheit und Wettbewerb zu vertreten hatten. Die ostdeutschen Medien machten allzu oft von ihrer neuen Narrenfreiheit durch Übertreibung Gebrauch, sodass Leser nicht mehr wussten, was Fakt und was Fiktion war. Es ist daher kaum überraschend, dass sich viele Ostdeutsche um regionale Protestparteien wie die Linke oder die AfD scharten. Ebenso führte die nun doppelt anstehende »Vergangenheitsbewältigung«, die sich aus der gemeinsamen Herausforderung einer spezifisch geteilten Geschichte ergab, zu Missverständnissen, weil dabei sowohl unterschiedliche Erfahrungen als auch kontrastierende Ideologien eine Rolle spielten. Das ostdeutsche Selbstbild eines »verordneten« Antifaschismus setzte auf klare Abgrenzung vom »Dritten Reich« und machte Hitler zu einem Westdeutschen, während die zögerliche westdeutsche »Aufarbeitung« der NS -Diktatur die rassistische Unterdrückung und die alltägliche Beteiligung am Nationalsozialismus hinterfragte. In Bezug auf die SED -Diktatur war der Westen schnell mit der Verdammung eines »Unrechtsstaats« zur Hand, obwohl im populären Gedächtnis des Ostens auch positive Seiten der DDR wie die dort herrschende »menschliche Wärme« erinnert wurden. Trotz der Medienberichte über die Anhörungen der EnqueteKommission des Bundestages und der Offenlegung der Stasi-Dokumente im BStU-Archiv bildete sich in manchen ostdeutschen 128 Ein transatlantischer Blick

Kreisen eine Art von (N-)Ostalgie, die sich bis hin zu »Ostshops« kommerzialisieren ließ. Die geteilte Geschichte zwischen 1945 und 1989 hat zu sehr unterschiedlichen Interpretationen der gemeinsamen Vergangenheit davor und danach geführt, die im Laufe der Zeit zumindest teilweise und nicht selten in äußerst kontrovers geführten Debatten überwunden werden konnten. In der jüngsten Zeit sind es Verunsicherungen durch unerwartete Globalisierungskrisen, die in den alten wie neuen Bundesländern einen hässlichen Populismus hervorgebracht haben. Während die aus den USA importierte Finanzkrise von 2009 Ressentiments gegen einen »Raubtierkapitalismus«, auslöste, verstärkte die Aufnahme von etwa einer Million Flüchtlingen im Jahre 2015 die Angst vor »Überfremdung« und das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU im Jahr 2020 nährte Zweifel an der europäischen Integration. Zusammengenommen schufen diese negativen Folgen der globalen Entgrenzung populistische Reflexe, die sich zunächst in den fremdenfeindlichen Protesten der ostdeutschen Pegida-Bewegung äußerten. Aus der Furcht vor unkontrollierbaren Globalisierungszwängen entstand schließlich mit der »Alternative für Deutschland« auch in der Bundesrepublik wie in anderen europäischen Staaten eine rechtsradikale Partei, die erhebliche Wahlerfolge verzeichnete. Allerdings war der größte Teil der Resonanz der AfD auf die ostdeutschen Bundesländer beschränkt, wo sie in Landtagswahlen über ein Viertel der Stimmen auf sich verbuchen konnte. Obwohl interne Querelen bisher weiteres Wachstum verhindert haben, zeigt das rasante Anwachsen des Populismus die Brüchigkeit der Demokratie. Obige Anmerkungen zur ersten Bielefelder Debatte machen deutlich, dass der Umbruch von 1989/90 und seine Verarbeitung als eine doppelte Nachgeschichte der deutschen Diktaturen zu verstehen sind. Immer weniger Zeitzeugen sind noch am Leben, die juristische Verfolgung der NS -Verbrechen neigt sich dem Ende entgegen, und doch bleibt das Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Holocaust in der Bevölkerung groß, weil sich insgesamt eine selbstkritische Haltung gegenüber der Geschichte durchgesetzt hat und trotz spürbarer revisionistiEin transatlantischer Blick

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scher Tendenzen auch weiter Bestand hat – vorerst. Allerdings sind die Akzentuierungen in beiden Teilen Deutschlands unterschiedlich, da im Osten der sozio-strukturelle Antifaschismus nachwirkt, während im Westen ein relativ breites Bewusstsein für die rassistischen und antisemitischen Grundlagen des NS Regimes vorhanden ist. Die asymmetrische Erinnerung an die SED -Diktatur war (und bleibt) ungleich lebendiger, da die mittlere wie ältere Generation der Erwachsenen sie selbst erlebt hat, die Medien durch Stasi-Enthüllungen das Ihre dazu beitrugen und die materiellen Folgen lange nicht zu übersehen waren. Die offizielle Verdammung des »Unrechtsstaates« hat jedoch eine nostalgische Gegenreaktion hervorgerufen und eine populistische, antiliberale Strömung geschaffen. Nicht zuletzt, weil beide Diktaturen tief in Lebensverläufe und Familiengeschichten eingegriffen haben, bleibt das Gelände der kulturellen Erinnerung weiterhin durchaus vermint. Die Bewertung der gemeinsamen Gegenwartsgeschichte ist ebenso kontrovers, denn sie birgt neben eindrucksvollen Erfolgen auch ebenso enttäuschende Fehlschläge. Positive Aspekte der Vereinigung sind unbestreitbar, denn formell ist die Integration der neuen Bundesländer weitgehend gelungen und materiell hat sich der Lebensstandard im Osten deutlich erhöht. Weniger Anlass zur Freude bieten das Steckenbleiben des Aufholprozesses, die Abwanderung in den Westen und das anhaltende Gefühl fehlender Wertschätzung als Bürger zweiter Klasse. Verstärkt wurden diese Anpassungsprobleme durch eine Kette von unvorhersehbaren internationalen Krisen, die die vereinigte Bundesrepublik heimsuchten und gesamtdeutsche Antworten verlangten. Die große Rezession der Finanzkrise 2007/08, die Aufnahme von Hunderttausenden von Flüchtenden 2015 und das Ausscheiden von Großbritannien aus der EU verunsicherten den noch in der Umstellung begriffenen Osten jedoch stärker als den Westen, und dann kam noch die Corona-Pandemie dazu. Zwar hat die vorsichtig moderierende Führung von Angela Merkel bisher alle diese Herausforderungen überstanden, aber es bleibt abzuwarten, welche langfristigen Folgen diese Krisen hinterlassen werden. Erste zeithistorische Bilanzen fallen daher eher gemischt aus. 130 Ein transatlantischer Blick

Schließlich sind die Konturen einer globalen Zukunftsgeschichte nur schwer auszumachen, weil Überraschungen wie 1989/90 auch fundierte Prognosen über den Haufen werfen können. Seit dem Ende des Booms in den 1970er Jahren ist die durch Finanzspekulation, Transportverbilligung, technische Innovation und neoliberale Politik getriebene Globalisierung eine fundamentale Determinante geworden, mit der sich alle Länder auseinandersetzen müssen. Die anfängliche basisdemokratische Euphorie des Internets ist durch die fehlende Kontrolle v. a. der sozialen Medien schnell verflogen, und die Corona-Pandemie hat neue negative Seiten des weltweiten Austauschs und der Verflechtung auf dramatische Weise sichtbar gemacht. Da einzelne Staaten allein nicht stark genug sind, solche Herausforderungen zu meistern, bleibt nur zu hoffen, dass sich die EU zu einem effektiven Schutzschild entwickeln wird. Einige zögerliche Fortschritte der europäischen Integration durch Stärkung einer gemeinsamen Finanzpolitik sind bereits sichtbar, aber ihre Wirkung hängt von internationalen Entwicklungen ab, die von Deutschland nicht zu steuern sind. So gesehen sind friedliche Revolution und Vereinigung nur einzelne Kapitel in einer breiteren transnationalen Globalisierungsgeschichte.

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Anmerkungen 1 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main, 1989, S. 12. 2 Johannes F.  Lehmann / Kerstin Stüssel, Einleitung, in: Johannes F.  Lehmann / ​Kerstin Stüssel (Hrsg.), Gegenwart denken. Diskurse, Medien, Praktiken, Hannover, 2020, S. 9–24, Zitat S. 11. 3 Vgl. Lutz Raphael, Die Geschichte der Bundesrepublik schreiben als Globalisierungsgeschichte. Oder die Suche nach deutschen Plätzen in einer zusammenrückenden Welt, in: Frank Bajohr / A nselm Doering-Manteuffel / C laudia Kemper / Detlef Siegfried (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik: Festschrift für Axel Schildt, Göttingen, 2016, S. 203–218, sowie Axel Schildt, Wann endete das 20. Jahrhundert? Zur Problemgeschichte der Gegenwart. Abschiedsvorlesung an der Universität Hamburg am 13. Juli 2017, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hrsg.), Zeitgeschichte in Hamburg 2017, Hamburg, 2018, S. 14–36. 4 Lehmann / Stüssel, Einleitung (wie Anm. 2), S. 12: »Gegenwart denken heißt [..], deren historisch, medial, praktisch variierenden Bedingungen und Voraussetzungen mitzudenken.« 5 Damit endet nicht zuletzt jenes die Kalten-Kriegs-Verhältnisse geradezu umkehrende Ungleichgewicht der beiden Deutschlands, demzufolge Historiker staatliches Archivgut der DDR nahezu vollständig, das der alten Bundesrepublik aber stets nur an die 30-Jahr-Frist gebunden einsehen konnten. Das hatte bis 2020 zur Folge, dass für deutsch-deutsch angelegte Forschungsvorhaben für die Zeit ab 1970 (wenn auch stetig abnehmend) ungleich mehr Dokumentation für die DDR, einschließlich ihres Geheimdienstes, zur Verfügung stand als für die alte Bundesrepublik. 6 Berthold Kohler, Ziemlich einig Vaterland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.10.2020, S. 1. 7 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat, Abschlussbericht der Kommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«, Berlin 2020, S. 27 f. Von den 19 Motiven der Bilderkampagne, die die Kommission begleitend entwickeln ließ (»Deutschland ist eines: vieles«), stellte folglich auch nur ein einziges einen Bezug zu Deutschland als Einwanderungsland her  – ausgerechnet mit der stereotypen Inszenierung eines freundlich lächelnden Dönerverkäufers (ibid., S. 40–49). Bemerkenswert ist die  – ausnahmsweise  – ganz überwiegend ostdeutsche Besetzung der Kommission, die das Repräsentationsproblem nicht löst, sondern eigentlich (in Umkehr) fortschreibt, weil so ein integriert Anmerkungen

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deutsch-deutsches Konzept gar nicht zu erwarten war. Der Vorschlag etwa, das »Zukunftszentrum für Europäische Transformation und Deutsche Einheit« als »kraftvolles Signal« für den Einsatz der Bundesregierung für den Osten in Cottbus und nicht mitten in Deutschland entstehen zu lassen, illustriert dieses Manko ebenso wie die genannten nicht unproblematischen geschichts- und gedenkpolitischen Vorschläge. 8 Juri Auel, Wie lässt sich der Prozess der Wiedervereinigung weiter vorantreiben?, in: Süddeutsche Zeitung, 2.6.2021. 9 Beispielhaft sei auf die 8-seitige Beilage »30 Jahre Deutsche Einheit« der FAZ vom 2.10.2020 und die (inhaltlich und optisch nicht weit davon entfernte) Februarausgabe von »Schwarzrotgold – Magazin der Bundesregierung« (2/2020) verwiesen. 10 Frank-Walter Steinmeier, Rede beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 in Potsdam, online: https://www.bundespraesident.de/ SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/10/201003TdDE-Potsdam.html [22.6.2021]. 11 Dietmar Woidke, Rede auf dem Festakt zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in der Metropolis Halle Potsdam, online: https:// www.bundesrat.de/SharedDocs/reden/DE/woidke-2019-20/20201003-redewoidke-festakt-deutsche-einheit.html [22.6.2021]. 12 Angela Merkel brachte stattdessen in einem Interview die krisenfeste Leistungsfähigkeit der (Ost-)Deutschen mit der Herausforderung der Pandemie in Verbindung und erinnerte in diesem Zusammenhang an die selbst erfahrene Unfreiheit in der DDR: In den Wochen der härtesten Corona-Maßnahmen sei ihr ihre »eigene Kindheit und Jugend [..] sehr präsent« gewesen, weil man »sehr stark in die Freiheitsrechte der Menschen eingreifen« habe müssen. Für derartig fragwürdige Parallelisierungen erhielten allerdings »Querdenker« zu recht viel Kritik. Vgl. RND-Interview mit Angela Merkel, »Finde es schön, dass eine Ostdeutsche Kanzlerin werden konnte«, 3.10.2020, online: https://www.rnd.de / politik / merkel-iminterview-zur-wiedervereinigung-finde-es-schon-dass-eine-ostdeutschekanzlerin-werden-konnte-BZQJTAZVUFB3XNNGQHSA7KUIGA.html [22.6.2021]. 13 Wie der Bundestag 30 Jahre Deutsche Einheit sieht, 2.10.2020, https://www. mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/bundestag-debatte-deutscheeinheit-100.html [22.6.2021]. 14 Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 19/181, 19. Wahlperiode, 181. Sitzung, 2.10.2020, S. 22762. 15 Ibid., S. 22765. 16 Ibid., S. 22764 f. 17 Dabei sind sie nicht zuletzt durch von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Studien hinreichend bekannt, vgl. z. B. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.), Politische Partizipation in Ostdeutschland.  Abschlussbericht des Arbeitsstabs »Angelegenheiten der neuen Bundesländer«, Halle (Saale), 2019.

134 Anmerkungen

18 Zur Kritik der Rede von der »inneren Einheit« vgl. u. a. Christina Morina / ​ Andrea Bahr, 30 Jahre Wiedervereinigung: Gebt das Bild der »Inneren Einheit« auf!, in: Vorwärts, 3.10.2020, online: https://www.vorwaerts.de/ artikel/30-jahre-wiedervereinigung-gebt-bild-inneren-einheit [22.6.2021]. 19 Vgl. zum Aufstieg des Rechtspopulismus in deutsch-deutscher Perspektive: Norbert Frei / Franka Maubach / Christina Morina / Maik Tändler, Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin, 2019; sowie Christina Morina, Geteilte Bilanz. Überlegungen zu einer politischen Kulturgeschichte Deutschlands seit den 1980er Jahren, in: Marcus Böick / ​ Constantin Goschler / R alph Jessen (Hrsg.), Jahrbuch Deutsche Einheit 2020, Berlin, 2020, S. 145–168. 20 Beispielhaft seien genannt: Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, 2. Auf‌l. München, 2009; Manfred Görtemaker, Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung, Bonn, 2009; Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München, 2009. 21 Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1989/90, Berlin, 2020. 22 Grundlegend gerade für die Perspektivierung dieses noch jungen zeithistorischen Forschungsfeldes stehen wichtige aktuelle Sammelbände wie z. B.: Marcus Böick / Constantin Goschler / Ralph Jessen (Hrsg.), Jahrbuch Deutsche Einheit 2020, Berlin, 2020; und Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), (Ost)Deutschlands Weg in die Zukunft seit 1989. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes. Teil I – 1989 bis heute, Bonn, 2021; sowie die problemorientiert angelegte Überblicksgeschichte von Thomas Großbölting, Wiedervereinigungsgesellschaft. Auf‌bruch und Entgrenzung in Deutschland seit 1989–90, Bonn, 2020. Einen Überblick über den bisherigen Stand der zeithistorischen Nachwendeforschung bieten: Michael C. Bienert / Stefan Creuzberger / K ristina Hübener / Matthias Oppermann (Hrsg.), Die Berliner Republik. Beiträge zur deutschen Zeitgeschichte seit 1990, Berlin, 2013; sowie Raj Kollmorgen, Eine ungeahnte Renaissance? Zur jüngsten Geschichte der Transformations- und Vereinigungsforschung, in: ­Böick / ​Goschler / Jessen (Hrsg.), Jahrbuch Deutsche Einheit (wie Anm. 22), S. ­46–72. 23 Hier seien im Folgenden nur einige  – durchaus repräsentative  – Beispiele genannt: Marcus Böick, Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung: 1990–1994. Göttingen, 2018; Christoph Renner, Einheitspraktiker  – Verwaltungsneuauf‌bau und politische Bildung im Osten 1989/90–1991. Die Grenzen der Wirkungsmacht westdeutscher Akteure im Vereinigungsprozess am Beispiel des Auf‌baus der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, in: Kowalczuk (Hrsg.), (Ost)Deutschlands (wie Anm. 20), S. 269–297; Mandy Tröger, Verpasste Chancen – die Transformation der DDR-Presse 1989/90, in: ibid., S. 645–660. 24 Stefan Müller, Die Ostkontakte der westdeutschen Gewerkschaften. EntAnmerkungen

135

spannungspolitik zwischen Zivilgesellschaft und internationaler Politik: 1969 bis 1989, Bonn, 2020. 25 Ines Langelüddecke, Alter Adel  – neues Land? Die Erben der Gutsbesitzer und ihre umstrittene Rückkehr ins postsozialistische Brandenburg, Göttingen, 2020; Kerstin Brückweh, Unter ostdeutschen Dächern. Wohneigentum zwischen Enteignung, Aneignung und Neukonstituierung der Lebenswelt in der langen Geschichte der »Wende«, in: Thomas Großbölting / Christoph Lorke (Hrsg.), Deutschland seit 1990. Wege in die Vereinigungsgesellschaft, Stuttgart, 2017, S. 187–212. 26 Konrad Sziedat, Erwartungen im Umbruch. Die westdeutsche Linke und das Ende des »real existierenden Sozialismus«, München, 2019; Tim Schanetzky / Sybille Steinbacher / Tobias Freimüller / Dietmar Süß / A nnette Weinke (Hrsg.), Demokratisierung der Deutschen. Errungenschaften und Anfechtungen eines Projekts, Göttingen, 2020. 27 Vgl. bspw. Hedwig Richter, Demokratie  – eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München, 2020; Hans Michael Heinig / ​ Frank Schorkopf (Hrsg.), 70 Jahre Grundgesetz. In welcher Verfassung ist die Bundesrepublik?, Göttingen, 2019. Ein gelungener Versuch einer solchen Einordnung ist der zum 60-jährigen Grundgesetz-Jubiläum erschienene Band von Marion Detjen / Stephan Detjen / Maximilian Steinbeis (Hrsg.), Die Deutschen und das Grundgesetz. Geschichte und Grenzen unserer Verfassung, München, 2009; vgl. dazu auch Christina Morina, Vom Sinn des Vergeblichen. Demokratiekritik und Zivilgesellschaft seit dem Umbruch 1989/90, in: Schanetzky et al. (Hrsg.), Demokratisierung der Deutschen (wie Anm. 26), S. 382–394. 28 Zur Begriffsgeschichte vgl. Michael C.  Bienert / Stefan Creuzberger / K ris­ tina Hübener / Matthias Oppermann, Die Berliner Republik und die zeithistorische Forschung, in: Bienert et al. (Hrsg.), Die Berliner Republik (wie Anm. 22), S. 7–34, insb. S. 7–17. 29 Anna Saunders, Memorializing the GDR. Monuments and Memory after 1989, New York / Oxford, 2018, S. 318. Vgl. dazu auch in weiterer europäischer Sicht: Volkhard Knigge / Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Denkmäler demokratischer Umbrüche nach 1945, Köln / Wien, 2014, darin insb. die Aufsätze von Andreas H. Apelt und Rainer Eckert zu den Diskussionen um ein Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin bzw. Leipzig. 30 Zugespitzt jüngst dazu Felix Stephan, Die Diktatur der anderen. Die ostdeutsche Literatur hat eine Leerstelle, wenn es um persönliche Verantwortung geht. Warum?, in: Süddeutsche Zeitung, 31.5.2021, S. 9. Die bislang fundierteste (nur bis ins Jahr 2000 reichende)  »Literatur­geschichte der deutschen Einheit« bestätigt diese These einer merklichen Leerstelle  – wenn auch nur implizit, vgl. Arne Born, Literaturgeschichte der deutschen Einheit 1989–2000. Fremdheit zwischen Ost und West, Hannover, 2019. Vgl. aber auch die (Selbst-)Problematisierungen in: Roman Grafe / Wolf Biermann (Hrsg.), Die Schuld der Mitläufer. Anpassen oder Widerstehen in der DDR, München, 2009. Einen exzellenten Überblick

136 Anmerkungen

über die Vielfalt und Spezialisierung der DDR-bezogenen Forschung bietet Rainer Eckert, SED-Diktatur und Erinnerungsarbeit im vereinten Deutschland. Eine Auswahlbibliografie, 2. erw. Auf‌l. Halle, 2019. Zu Stand und Perspektiven einer DDR-Gesellschaftsgeschichte vgl. Thomas Lindenberger, Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln, 1999, sowie ders., Ist die DDR ausgeforscht? Phasen, Trends und ein optimistischer Ausblick, in: Aus Politik und Zeitgeschichte ­2 4–26/2014, S. 27–32. Neben den Arbeiten von Stefan Wolle (Die heile Welt der Diktatur. Herrschaft und Alltag in der DDR 1949–1989, 3 Bde., Berlin, 2013) stammt der bislang gelungenste Versuch einer Gesamtdarstellung der DDR als »partizipative[r] Diktatur« aus der Feder der britischen Historikerin Mary Fulbrook, The People’s State. East German Society from Hitler to Honecker, New Haven, 2005, dt. Ausgabe: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR, Darmstadt, 2008. 31 Susanne Pickel / Gert Pickel, Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall – eine gemeinsame demokratische Kultur oder immer noch eine Mauer in den Köpfen? In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 30, 3 (2020), S. 483–491. 32 Hermann Rudolph, Ein Staat ist angekommen. Zum 40. Geburtstag der Bundesrepublik Deutschland, in: Süddeutsche Zeitung, Wochenendbeilage vom 20./21.5.1989, S. 1. 33 Karl Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München, 1976. 34 Detlef Pollack, »Es war ein Aufstand der Normalbürger«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.7.2019, S. 9; Ilko-Sascha Kowalczuk, »Eine Minderheit bahnte den Weg«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.7.2019, S. 9. 35 Frank-Walter Steinmeier, Rede zum Fest »30 Jahre Friedliche Revolution. Unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/FrankWalter-Steinmeier/Reden/2019/10/191009-Leipzig-Friedliche-Revolution. html [05.05.2021]. 36 Kommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«. Unter: https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gesellschaft​ licher-zusammenhalt/30-jahre-deutsche-einheit/30-jahre-deutscheeinheit-node.html [05.05.2021]. 37 Pfarrer Dohrn, in: Leipziger Volkszeitung, 11.7.2019: »Die Frage ist doch, wie geht man mit der nicht unbeträchtlichen Schar der Menschen um, die ’89 weder Bürgerrechtler noch Täter waren. Die LVZ-Umfrage (bei der sich zwei Drittel der Teilnehmer für den Auf‌t ritt von Gregor Gysi aussprachen, d.Red.) zeigt doch, dass es eine relativ große Zahl von Leuten gibt, die nur mit der offiziellen Erinnerungskultur nicht ausreichend erreicht werden.« 38 Norbert Frei, Franka Maubach, Christina Morina und Maik Tändler, Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin, 2019, 8. Kapitel: »Wir sind das Volk«. Anmerkungen

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39 Am 18.11.2020 musste die Berliner Polizei eine Demonstration mit Wasserwerfern auf‌lösen, weil viele der ca. 7000 Teilnehmer gegen die CoronaAuf ‌lagen verstießen. 40 Vgl. Christoph Renner, Einheitspraktiker – Verwaltungsneuauf‌bau und politische Bildung im Osten 1989/90–1991, in: Ilko-Sascha Kowalczuk u. a. (Hrsg.), (Ost)Deutschlands Weg in die Zukunft seit 1989. 45 Studien & Essays zur Lage des Landes. Teil I – 1989 bis heute, Bonn, 2021, S. 269–297. 41 Christina Morina, Legacies of Stalingrad. Remembering the Eastern Front in Germany since 1945, Cambridge, 2011, S. 252–261. 42 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen, 2008. 43 Gemeint ist der seit 2019 bestehende und aus BMBF-Mitteln finanzierte Forschungsverbund »Diktaturerfahrung und Transformation. Biografische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutsch­ land seit den 1970er Jahren«; https://verbund-dut.de/ [16.07.2021]. 44 Vgl. Kathrin Klausmeier, So eine richtige Diktatur war das nicht… Vorstellungen Jugendlicher von der DDR: Geschichtspolitische Erwartungen und empirische Befunde, Göttingen, 2020, darin auch ein umfassender Überblick über alle existierenden Studien zu DDR-Wissen unter Jugendlichen (Kap. III.2.); sowie Jens Hüttmann / A nna von Arnim-Rosenthal (Hrsg.), Diktatur und Demokratie im Unterricht. Der Fall DDR, Berlin, 2017. 45 Das mit 40 Millionen Euro ausgestattete Programm soll »Wissenslücken über die DDR schließen«. Die zu entwickelnden Forschungsfragen sollten sich auf »begangenes Unrecht, etwa in Haftanstalten, Erziehungsheimen, im Gesundheitswesen sowie gegen Ausreisewillige, aber auch Modernisierungsblockaden in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft [sowie die] Nachwirkungen der DDR und des Transformationsprozesses nach 1989/90 auf aktuelle Entwicklungen« beziehen. Vgl. Pressemitteilung vom 12.06.2018, online: https://www.bmbf.de / de / w issenslueckenueber-die-ddr-schliessen-6346.html [16.07.2021]. 46 Vgl. Lutz Niethammer, Lebensgeschichte und Sozialkultur im Ruhrgebiet 1930–1960, Bonn, 1986; Ders., Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin, 1991. 47 Vgl. Marianne Birthler, Vergangenheit für die Zukunft, in: Petra Gerster (Hrsg.), Es wächst zusammen… Wir Deutschen und die Einheit, Lingen, 2010, S. 28–33. 48 Volkhard Knigge, Abschied von der Erinnerung, in: Gedenkstättenrundbrief 100 (2001), S. 136–143, Zitat S. 143, vgl. auch Ders., Geschichte als Verunsicherung. Konzeptionen für ein historisches Begreifen des 20. Jahrhunderts, Göttingen, 2020. 49 Zit. n. Axel Dossmann, in: Knigge, Geschichte als Verunsicherung (wie Anm. 48), S. 12. 50 Vgl. Christina Morina / A ndrea Bahr, »30 Jahre Wiedervereinigung. Gebt das Bild der ›Inneren Einheit‹ auf!«, in: Vorwärts, 3.10.2020, online: https://​

138 Anmerkungen

www.vorwaerts.de / artikel/30-jahre-wiedervereinigung-gebt-bild-innereneinheit. 51 Jürgen Habermas, Medien, Märkte und Konsumenten, in: Süddeutsche Zeitung vom 16./17.5.2007, S. 13. 52 Karl Polanyi, The Great Transformation, New York, 1944; dt.: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, aus dem Englischen von Heinrich Jelinek, Frankfurt am Main, 1973. Vgl. meine Verarbeitung in Philipp Ther, Das andere Ende der Geschichte. Über die große Transformation, Berlin, 2019. 53 Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York, 1992; dt. Übers.: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München, 1992. 54 David Lipton / Jeffrey D.  Sachs, Poland’s Economic Reform, in: Foreign Affairs 69/3 (1990), S. 47–66. 55 Ther, Die neue Ordnung; Ther, Das andere Ende. 56 Ther, Die neue Ordnung, S. 318–328; vgl. auch James Krapfl, Die Ideale des November. Ideen und Ziele tschechoslowakischer Bürger in der Zeit des Umbruchs 1989, in: Edita Ivaničková / M iloš Řezník / Volker Zimmermann (Hrsg.), Das Jahr 1989 im deutsch-tschechisch-slowakischen Kontext, Essen, 2013, S. 69–115. 57 Rolf Reißig, Transformation Ostdeutschlands und deutsche Vereinigung. Einige Überlegungen und Anmerkungen, in: Lothar Mertens (Hrsg.), Bilanz und Perspektiven des deutschen Vereinigungsprozesses, Berlin, 2006, S. 143–154. 58 Ton Nijhuis / K rijn Thijs, Von »1989« zur globalen Region. Die Geschichte der Bundesrepublik aus niederländischer Perspektive, in: Francia 38 (2011), S. 299–309, hier S. 304. 59 Ton Nijhuis, Export Hit »Vergangenheitsbewältigung«. Germany and European Integration as a Model for Korea and East Asia?, in: Asian Journal for German and European Studies 1/1 (2016), S. 1–9. 60 Ivan Krastev, Europadämmerung. Ein Essay, Frankfurt am Main, 2017.

Anmerkungen

139

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146 Literaturverzeichnis

Dank Die beiden hier dokumentierten Gespräche fanden am 20. November 2020 im Videokonferenzformat statt. Sie bildeten den Auf‌takt zur jährlich stattfindenden Reihe Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte, die an der Schnittstelle von Forschung, Lehre und Öffentlichkeit an die lebendige Debattenkultur der Bielefelder Geschichtswissenschaft anknüpft. Mit ihr ist die Hoffnung verbunden, nicht nur innerwissenschaftliche und interdisziplinäre Diskussionen zu zeithistorischen Fragen zu beleben, sondern auch den gesellschaftlichen Austausch zu bereichern. Die Idee zu dieser Reihe ist in vorpandemischen Zeiten entstanden, und ursprünglich sollte die Auf‌taktveranstaltung im großen Plenarsaal des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld stattfinden. Stattdessen haben wir auf eine rein virtuelle Veranstaltung umgesattelt und waren dadurch, was das Debattieren angeht, reichlich eingeschränkt. Dennoch waren die beiden Gespräche, die Benno Nietzel und ich mit Marianne Birthler, Norbert Frei, Ton Nijhuis und Philipp Ther zum Thema Vergangene Gegenwart. Deutschland und Europa seit 1990 geführt haben, so anregend und weiterführend, dass mit diesem Buch weit mehr als eine reine Debattendokumentation vorliegt. Die Gespräche wurden für diese Veröffentlichung gründlich überarbeitet, um Literaturhinweise ergänzt und von Konrad H. Jarausch um einen Kommentar bereichert. Wer sich vor, während oder nach der Lektüre dieses Bandes für die spontanere, unmittelbarere Atmosphäre der ursprünglichen Gespräche interessiert, kann die Aufzeichnungen im Internet nachhören und nachsehen.

Dank

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Mein herzlicher Dank gilt dem gesamten Team im Bielefelder Arbeitsbereich Zeitgeschichte, den Kolleginnen und Kollegen am ZiF sowie insbesondere Benno Nietzel, Maximilian K ­ ucknat und Andre Kasselmann, die mich bei der inhaltlichen und technischen Umsetzung beziehungsweise der Verschriftlichung der Debatte auf großartige Weise unterstützt haben. Der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED -Diktatur danke ich für die finanzielle Förderung der Veranstaltung und anschließenden Publikation. Herzlicher Dank geht auch an Konrad Jarausch für seine Bereitschaft, das im von ihm aus gesehen fernen Bielefeld Gesagte vor dem Hintergrund seines jahrzehntelangen Forschens und Nachdenkens über Wege einer »integrierten« Zeitgeschichtsschreibung zu betrachten und transatlantisch zu perspektivieren. Heike Specht danke ich für ihr umsichtiges, engagiertes und fachkundiges Lektorat und Daniel Sander für die aufgeschlossene und geduldige Realisierung eines Vorhabens, mit dem beide Seiten, Verlag und Herausgeberin, auch ein Stück Neuland betreten. Schließlich gilt mein aufrichtiger Dank den vier beteiligten Diskutanten: Norbert Frei und Ton Nijhuis kenne ich seit vielen Jahren, von ihren Arbeiten habe ich im Laufe der Jahre mehr gelernt, von ihrem Rat und ihrer Förderung mehr profitiert, als ich in Worte fassen kann. Philipp Ther hat mit seinen originellen Forschungen und seiner Freude am vielperspektivischen Austausch den Horizont der (nicht nur) deutschen Zeitgeschichte stetig erweitert und verkompliziert; es war ein Geschenk, sich aus Anlass der Debatte mit ihm endlich ausführlicher austauschen zu können. Marianne Birthler ist für mich, nicht zuletzt aufgrund gewisser, wenn auch generationell versetzter biografischer Parallelen, das, was man ganz altmodisch ein Vorbild nennt: Ihre Offenherzigkeit, Integrität und ihr Engagement für eine (selbst-)kritische historisch-politische Bildung, im Kleinen wie im Großen, haben dieser ersten Bielefelder Debatte ihre besondere Prägung gegeben. Bielefeld / Münster, im Juli 2021

148 Dank

Über die Autorinnen und Autoren Marianne Birthler war von 2000 bis 2011 Bundesbeauf‌tragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR . Sie war eine der Akteurinnen der Revolution von 1989, von 1991 bis 1993 Vorsitzende von Bündnis 90 und von 1990 bis 1992 Ministerin für Bildung, Jugend und Sport in Brandenburg. Für ihr demokratisches und geschichtspolitisches Engagement wurde ihr u. a. 2011 das Großes Bundesverdienstkreuz mit Stern verliehen. Zu ihren Publikationen gehören: Halbes Land, ganzes Land, ganzes Leben: Erinnerungen (München, 2014) sowie Freiheit, Gleichheit, Solidarität: Europas Zukunft – Anstöße aus Deutschland, Frankreich und Polen (Gütersloh, 2012). Prof. Dr. Norbert Frei war von 2005 bis 2021 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; er ist Leiter des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts und Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Norbert Frei habilitierte sich 1995 an der Universität Bielefeld, war anschließend Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und von 1997 bis 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen aktuellen Publikationen gehören: Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus (Berlin 2019, mit Franka Maubach, Christina Morina und Maik Tändler), Wie bürgerlich war der Nationalsozialismus? (Göttingen, 2018, als Herausgeber) und Der Antikommunismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA (Göttingen, 2017, mit Dominik Rigoll). Prof. Dr. Konrad H. Jarausch ist Lurcy Professor of European Civilization an der University of North Carolina in Chapel Hill. Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte führten ihn wiederholt nach Deutschland (Saarbrücken, Göttingen, Leipzig, PotsÜber die Autorinnen und Autoren

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dam und Berlin). Von 1998 bis 2006 leitete er zusammen mit Christoph Kleßmann bzw. Martin Sabrow das Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam. Er hat rund 50 Bücher zur deutschen und europäischen Geschichte publiziert, zuletzt Aus der Asche. Eine neue Geschichte Europas im 20. Jahrhundert (Stuttgart, 2018), Broken Lives: How Ordinary Germans Experienced the 20th Century (Princeton, 2018; Deutsch: Zerrissene Leben: Das Jahrhundert unserer Mütter und Väter), sowie Embattled ­Europe: A Progressive Alternative (Princeton, 2021). Prof. Dr. Christina Morina ist seit 2019 Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Gesellschafts- und Erinnerungsgeschichte des Nationalsozialismus, in der politischen Kulturgeschichte des geteilten und vereinigten Deutschlands sowie in dem Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis. Christina Morina wurde 2007 an der University of Maryland (USA) mit einer Arbeit über den Krieg gegen die Sowjetunion in der deutsch-deutschen Erinnerungskultur promoviert. 2017 habilitierte sie sich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena mit einer Arbeit über die Ursprünge des Marxismus. Zu ihren Publikationen gehören Zur rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus (Berlin, 2019, mit Norbert Frei, Franka Maubach und Maik Tändler), Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte (München, 2017, erscheint 2022 in eng. Übersetzung) und Legacies of Stalingrad. Remem­ bering the Eastern Front in Germany since 1945 (Cambridge, 2011). Sie ist Mitherausgeberin von Probing the Limits of Categorization. The Bystander in Holocaust History (New York, 2018, mit Krijn Thijs) und Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland (Göttingen, 2016, mit Franka Maubach). PD Dr. Benno Nietzel promovierte 2010 an der Ruhr-Universität

Bochum. Seit 2012 arbeitet er als Akademischer Rat auf Zeit an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bielefeld, dort habilitierte er sich 2019 mit der Arbeit Weapons of Persuasion. Propaganda, Feindbeobachtung und Kommunika150 Über die Autorinnen und Autoren

tionsforschung von den 1920er Jahren bis zum Kalten Krieg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte der postkommunistischen Transformation, der Kommunikations- und Mediengeschichte, der Wissenschafts- und Wissensgeschichte sowie der Geschichte des Nationalsozialismus und des Kalten Krieges. Zu seinen Publikationen gehört: Handeln und Überleben. Jüdische Unternehmer aus Frankfurt am Main 1924–1964, Göttingen, 2012 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 204). Prof. Dr. Ton Nijhuis ist Historiker, Politikwissenschaftler und Philosoph. Seit 2015 ist er leitender Direktor des Duitsland Insti­ tuut Amsterdam (DIA). Er ist zudem Professor für Deutschlandstudien sowohl an der Fakultät für Geisteswissenschaften (FMG) als auch an der Fakultät für Gesellschafts- und Verhaltenswissenschaften an der Universität von Amsterdam. 2009 erhielt Ton Nijhuis den Humboldt-Forschungspreis, und für sein wissenschaftliches und wissenschaftspolitisches Engagement für das deutsch-niederländische Verhältnis wurde ihm 2019 das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Zu seinen aktuellen Publikationen gehört: De vleugels van de Adelaar: Duitse kwesties in Europees perspectief (Amsterdam, 2017, mit Hanco Jürgens) sowie The Golden Chain. Family, Civil Society and the State (New York, 2013, mit Jürgen Nautz und Paul Ginsborg). Prof. Dr. Philipp Ther ist seit 2010 Professor für Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Wien und leitet dort auch das Research Center for the History of Transformations (RECET). Zuvor hatte er am EUI in Florenz eine Professur für vergleichende Geschichte Europas inne. Sein Buch Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa (Berlin, 2014), wurde mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet und in sieben Sprachen übersetzt. Eine erweiterte englische Version ist 2016 erschienen. Weitere Publikationen sind u. a. Die dunkle Seite der Nationalstaaten. »Ethnische Säuberungen« im Europa des 20. Jahrhunderts (Göttingen, 2011, polnisch 2011, englisch 2014, tschechisch 2017), Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa (FrankÜber die Autorinnen und Autoren

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furt am Main, 2017) sowie Center Stage: Operatic Culture and Nation Building in 19th Century Central Europe (West Lafayette, 2014, tschechisch 2008, deutsch 2006). 2019 ist eine erweiterte englische Ausgabe seiner Synthese über Flüchtlinge erschienen (The Outsiders: Refugees in Europe since 1492, Princeton), außerdem Das andere Ende der Geschichte: Über die Große Transformation (Frankfurt am Main). Zudem wurde Philipp Ther 2019 der hoch dotierte Wittgenstein-Preis des österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) verliehen.

152 Über die Autorinnen und Autoren

Personenregister A Adenauer, Konrad  26, 38 B Baerbock, Annalena  8 Balcerowicz, Leszek  75 Bartsch, Dietmar  11 Bracher, Karl Dietrich  26 Brinkhaus, Ralph  11

Heym, Stefan  26, 32 Hitler, Adolf  21, 128 Honecker, Erich  25 f. J Jaruzelski, Wojciech  74

E Erdoğan, Recep Tayyip  71

K Kaczyński, Jarosław  107 Kleßmann, Christoph  118 Knigge, Volkhard  54 Knopp, Guido  53 Kolbe, Daniela  12 Kohl, Helmut  26, 69, 97, 127 Köhler, Horst  127 Konrád, György  124 Koselleck, Reinhart  7 Krastev, Ivan  113 Krenz, Egon  125 Kuroń, Jacek  75 Kurz, Sebastian  112

F Fortuyn, Pim  113 f. Foxley, Alexandro  74 Friedman, Milton  77 Fukuyama, Francis  73

L Leyen, Ursula von der  93, 110 Linz, Juan  74 Lipton, David  73 Lubbers, Ruud  69

G Garton Ash, Timothy  124 Gauck, Joachim  93, 106 Gaus, Günter  127 Globke, Hans  38 Goldhagen, Daniel Jonah  39 Gysi, Gregor  33

M Macron, Emmanuel  109 Menge, Marlies  127 Merkel, Angela  10, 71, 93, 109, 127, 130 Michnik, Adam  124 Mitterrand, François  69 Monti, Mario  81

C Chrupalla, Tino  11 Clinton, Hillary  79 D Dahn, Daniela  123 Dahrendorf, Ralf  124 Diner, Dan  37

H Habermas, Jürgen  62, 85, 124 Heinemann, Gustav  32

N Nagy, Imre  124 Personenregister

153

Niethammer, Lutz  48 Nipperdey, Thomas  100 O Obama, Barack  79 Orbán, Viktor  79, 83, 107, 112, 115 Orwell, George  62, 85

Schröder, Gerhard  77 Seiler, Lutz  47 Sikorski, Radosław  69 Soros, George  83 Steinmeier, Frank-Walter  10, 28, 93 Strauß, Franz Josef  26

P Patel, Kiran  86 Pinochet, Augusto  74 f. Polanyi, Karl  72 f., 77, 80–83 Putin, Wladimir  71

T Thatcher, Margaret  69, 74, 76 f., 83, 97, 126 Tischner, Józef  75 Trump, Donald  79, 82–85, 114, 116

R Reagan, Ronald  74, 77, 97, 126 Rudolph, Hermann  26 Ruge, Eugen  47 Rutte, Mark  109 f.

W Weizsäcker, Richard von  127 Will, Anne  62 Winkler, Heinrich August  26 Woidke, Dietmar  10 Wolfrum, Edgar  14 Wolf, Markus  108

S Sachs, Jeffrey  73 Schmidt, Helmut  94 Scholz, Olaf  11

154 Personenregister

X Xi, Jinping  85