Politikwissenschaft: Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa [Reprint 2017 ed.] 9783486791341, 9783486238600

Die Politikwissenschaft entdeckt ihre Wurzeln.

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German Pages 384 [388] Year 1996

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Polecaj historie

Politikwissenschaft: Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa [Reprint 2017 ed.]
 9783486791341, 9783486238600

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft
Epochen der wissenschaftlichen Politik
Aspekte der Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft
Kapitel II. Politikwissenschaft in Deutschland
Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung, Stand und Perspektiven
Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft
In der Deutschen Demokratischen Republik: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft
Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa
Die Politikwissenschaft in Österreich
Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz
Entstehung und Entwicklung der politikwissenschaftlichen Lehre an den französischen Universitäten. Zwischen Marginalität und Autonomie
Nationale Eliten-Bildung und Ausbildung politisch-administrativer Führungskräfte. Zum Modell der Sciences politiques in Frankreich
Die Entwicklung der Politikwissenschaft. Zwischen Tradition und Professionalisierung
Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien
Politikwissenschaft in Italien – Tradition und Empirismus
Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei – ein Überblick
Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa
Politikwissenschaft in Ungarn. Die Institutionalisierung einer "Demokratiewissenschaft“
Politikwissenschaft in Slowenien
Politikwissenschaft in Rußland
Sachverzeichnis
Autorenverzeichnis

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Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft Herausgegeben von

Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Lehmkuhl, Theorien Internationaler Politik Lietzmann • Bleek, Politikwissenschaften - Geschichte und Entwicklung

Politikwissenschaft Geschichte und Entwicklung in Deutschland und Europa

Herausgegeben von

Hans J. Lietzmann Wilhelm Bleek

R. Oldenbourg Verlag München Wien

Die Deutsche Bibliothek - dP-Einheitsaufnahme Politikwissenschaft: Geschichte und Entwicklung in

Deutschland und Europa / hrsg. von Hans J. Lietzmann; Wilhelm Bleek. • München; Wien: Oldenbourg, 1996 (Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft) ISBN 3-486-23860-4 NE: Lietzmann, Hans J. [Hrsg]

© 1996 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspoicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München

ISBN 3-486-23860-4

Inhaltsverzeichnis Vorwort

5

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft.

7

1. Epochen der wissenschaftlichen Politik

7

(Hans Maier) 2. Aspekte der Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

21

(Wilhelm Bleek)

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland.

38

1. Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland.

38

Entwicklung, Stand und Perspektiven (Hans J. Lietzmann) 2. Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

77

(Thomas Noetzel/Hans Karl Rupp) 3. In der Deutschen Demokratischen Republik: Gesellschafts

99

Wissenschaft als politische Wissenschaft (Dieter Koop)

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa.

132

1. Die Politikwissenschaft in Österreich

132

(Anton Pelinka) 2. Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz

145

(Wolf Linder) 3. Entstehung und Entwicklung der politikwissenschaftlichen Lehre

171

an den französischen Universitäten. Zwischen Marginalität und Autonomie (Werner Zettelmeier) 4. Nationale Eliten-Bildung und Ausbildung politisch-administrativer Führungskräfte. Zum Modell der Sciences Politiques in Frankreich (Hans Manfred Bock)

191

4

Inhalt

5. Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft. Zwischen

219

Tradition und Professional isierung (André Kaiser) 6. Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

240

(Hans-Jürgen Puhle) 7. Politikwissenschaft in Italien - Tradition und Empirismus

270

(Leonardo Morlino). 8. Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei - ein Überblick

293

(Ersin Kalaycioglu)

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa.

314

1. Politikwissenschaft in Ungarn. Die Institutionalisierung einer

314

"Demokratiewissenschaft" (Mäte Szabö) 2. Politikwissenschaft in Slowenien

341

(Adolf Bibic) 3. Politikwissenschaft in Rußland

364

(Assen Ignatow)

Sachverzeichnis

385

Autorenverzeichnis

386

Vorwort

Die Politikwissenschaft sucht ihre Geschichte. Sie tut dies in Deutschland erst seit neuestem; und doch scheinen die Resultate ihrer Suche nach Geschichte sie selbst am meisten zu verblüffen: Sie hat eine! Obwohl in ihrem deutschen Selbstverständnis eher traditionslos betrieben, findet sie - je näher sie hinschaut, umso deutlichere Anknüpfungspunkte an die eigene Fachgeschichte. Daß sie hinschaut, ist freilich das eigentlich Neue. Die zweite Überraschung bleibt nicht aus: Die Politikwissenschaft hat sogar mehrere "Geschichten". Die Anknüpfungspunkte der Nachgeborenen sind zahlreich und unterschiedlich. Was zunächst als relativ homogener und kollegial abgestimmter Fachhintergrund erschien, erweist sich als vielfältig und differenziert. Der Blick in die Fachgeschichte schärft denn auch das Unterscheidungsvermögen in bezug auf das Zeitgenössische. Er verleiht den "ethnologischen" Blick auf das eigene Fach; und er ermöglicht die Distanznahme gegenüber den eigenen Selbstverständlichkeiten; diese erscheinen vertraut und fremd zugleich. Die "Normalität" einer auf die eigene Routine konzentrierten splendid isolation erweitert sich zur Wahrnehmung einer lange zurückreichenden und weit aufgefächerten Pluralität der Politikwissenschaft. Die Orientierung an der Politikwissenschaft verfehlt die Realität; die Einordnung, die "Hegung" der Politikwissenschaft in einem überschaubaren "set" von "Schulen", greift sichtbar zu kurz. An die Stelle aller Hilfskonstruktionen tritt die Normalität professionaler Vielfalt. Ursache und Folge dieser neuen Normalität: Jeder politikwissenschaftliche Ansatz

ist gesondert

begrün-

dungspflichtig; kaum eine Frage, erst recht keine Antwort ist an sich und von vorneherein plausibler als eine andere. Die Herausgeber haben daher vor kurzem - mit hilfreichen Kolleginnen - in der "Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft" (DVPW) einen Arbeitskreis zur "Geschichte der Politikwissenschaft und der politischen Theorie" ins Leben gerufen; und die große Resonanz, die wir damit fanden, bestätigt den Eindruck eines Bedürfnisses nach Selbstvergewisserung und Orientierung. Von dem Arbeitskreis liegt nun ein erster Band mit Studien zur Geschichte und den unterschiedlichen Entwicklungsverläufen der Politikwissenschaft in Europa vor.

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Vorwort

Längst nämlich lohnen auch die Verläufe der nationalen europäischen Politikwissenschaften den Vergleich. Oft unterschiedlich in ihren Ausgangsbedingungen, meist ähnlich in den Herausforderungen, vor die sie die Realität der industriellen Moderne stellt; fast immer überfrachtet mit spezifischen Aufgaben, wie sie aus den unterschiedlichen Entwicklungen der sich politisierenden Gesellschaften erwachsen sind: sei dies die Entwicklung und Lehre säkularisierter Herrschaftstechniken für die Regierung (wie z.B. in der Türkei); sei dies die Forcierung einer (neuen) politischen Bildung (so in signifikanter Parallelität in den postdikatatorischen Nachkriegsgesellschaften Westdeutschlands und Italiens); sei dies eine möglichst wenig ideologische, dafür realitätsgesättigte Darstellung des politischen Handlungsrahmens für die politische Modernisierung (wie z.B. in Rußland); sei es die Schaffung einer theoretischen Bühne für die praktisch-politische Klasse selbst (wie ansatzweise in Ungarn). Zu diesen und vielen anderen je eigenen Konstellationen sind in dem vorliegenden Band Beiträge versammelt, die dabei eines gleichbleibend aufzeigen: Daß selten ein Konzept alleine sich in der vorgesehenen Weise sich durchsetzen ließ. Daß immer die Querverläufe und die konkurrierenden Traditionslinien und Strategien sich auch durchsetzten. Daß zwar nachvollziehbar wird, weshalb die nationalen Politikwissenschaften die ihnen eigene Form und keine andere annahmen. Daß aber auch - so ließe sich zusammenfassen die Entwicklung der Politikwissenschaft in den nationalen Kontexten immer auch eine ganz andere hätte sein können. Dies ist eine Lehre aus der Lektüre der einzelnen Länderstudien des vorliegenden Bandes, - und vielleicht nicht die geringste in einem Land und einer Profession, die gerade im Wege einer von Selbstzweifeln nur wenig irritierten "Landnahme" die Politikwissenschaft, "wie-sie-im-Westen-nun-einmal-war", in zahlreichen Universitäten Ostdeutschlands neu installierte. So informiert der Band jeden interessierten Leser, Studierende wie Wissenschaftler, in der beruflichen oder schulischen Bildung Engagierte, über Sein und Werden, Stand und Entwicklung der Politikwissenschaft in den meisten europäischen Kontexten. In der Darstellung von deren Entwicklungspfaden liegt immer die Aufforderung zum Vergleich und zur Relativierung des anderen / eigenen. So wie die europäischen Gesellschaften und Regierungen sich aufeinander zubewegen (was sie auch dort tun, wo dies zur Manifestation größter Dissonanzen führt), so tun dies unaufhaltsam auch die nationalen Politikwissenschaften in Europa. Sie sollen wissen, was sie erwartet.

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft.

Hans Maier

Epochen der wissenschaftlichen Politik

Seit wann ist Politik wissenschaftlich untersucht worden? Die Antwort fällt verschieden aus je nachdem, ob man an die moderne Disziplin der Politikwissenschaft und ihr verfeinertes Instrumentarium denkt oder an die uralte Bemühung der Menschen, politische Erscheinungen mit Mitteln der Analyse oder des Vergleichs theoretisch zu durchdringen und systematisch zu ordnen. Im ersten Sinn ist politische Forschung eine sehr junge Disziplin, die sich im wesentlichen erst im 20. Jahrhundert entfaltet hat; im zweiten Sinn ist sie eine der ältesten Wissenschaften, die bis ins Altertum zurückgeht. Daß beide Betrachtungsweisen etwas Richtiges treffen, daß also politische Forschung nicht erst mit der modernen Demokratie beginnt, obwohl sie erst in dieser Zeit ein systematisches, auf Dauer gestelltes Unternehmen wird - das sollen die folgenden Überlegungen zeigen.

I. Untersuchungen politischer Einrichtungen fremder Völker und Vergleiche mit eigenen Institutionen - aus historischer Neugier oder politischer Absicht erwachsen - finden sich schon in frühester geschichtlicher Zeit. So enthalten die biblischen Bücher des Alten Testaments, das frühgriechische Epos, die jonische, in ähnliche Schriften eine Herodot gipfelnde Geschichtsschreibung und ähnliche Schriften eine Fülle von Material über Völker und Staaten des östlichen Mittelmeerraumes; und die reichgegliederte Welt der griechischen und kleinasiatischen Städte bot sich zum vergleichenden Studium politischer Lebens- und Verfassungsformen geradezu an. Doch bleiben diese Schriften noch im Anekdotischen' und Erzählerischen, sie entwickeln noch keine Theorie der Politik. Eine formulierte, "rationale Ordnungswissenschaft" (E. Voegelin) der Politik ist erst mit der griechischen Polis der Hoch- und Spätzeit und ihrer Selbsterhellung in der klassischen Philosophie entstanden. Sie hat ihren

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Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte

der

Politikwissenschaft

maßgebenden Ausdruck bei Piaton und Aristoteles gefunden und ist von da in mannigfachen Abwandlungen den Römern, dem Mittelalter und der Neuzeit vermittelt worden. In der Krise der Polis und nach dem Peloponnesischen Krieg (431-404), die sich am Regime der Dreißig und der restaurierten Demokratie als unüberwindliche Krankheit enthüllt, entwickelt Piaton (427-347) - in Auseinandersetzung mit den Machtlehren der Sophisten - eine radikale Kritik der herrschenden politischen Gesinnung, die die Ursachen der Zerrüttung und Ordnungslosigkeit in einer falschen Auffassung von Mensch und Gesellschaft aufdeckt. Gegenüber der Befangenheit in Machtpolitik und egozentrischer Selbstbehauptung fordert er ein grundsätzliches Umdenken des Menschen, seine Öffnung gegenüber der in den Ideen auffindbaren Ordnung des Seins und seine Zuwendung zum "Wissen des Guten". Die wahre Aufgabe der Politik liegt nicht in gesetzgeberischer und institutioneller Technik, sondern in der "Sorge um die Seele". In seiner Politeia ist das Bild des Staates, der ein Abbild der Seele ist, paradigmatisch in allen Einzelheiten entworfen, bis in die Parallelität von Seelenvermögen und staatlichen Ständen (Erwerbstätige, Weise, Krieger) hinein und bis zum rationalistischen Aufbau der Arbeitswelt und der eugenischen Fortpflanzungs- und Zuchtordnung. Gegenüber dieser utopischen Konstruktion, deren Realisierung an das Paradox des Philosophenkönigs gebunden bleibt, nähern sich die späteren Werke (Politikos, Nomoi) der Wirklichkeit der geschichtlichen Staaten und ihrer Sachstruktur durch eine Fülle rechtlich-institutioneller Bestimmungen an. Auch bei Aristoteles (384-322) vereinigen sich Ethik und Politik wenngleich in schärferer individuierter Form - zu einer der praktischen Philosophie eingeordneten "Wissenschaft vom Menschen" (Eth. Nie. I, 5), die auch als "politische Wissenschaft" bezeichnet wird. Indem die aristotelische Ethik nach dem Glück (eudaimonia) als höchstem Gut des Menschen fragt und dieses Gut im Unterschied zur theologischen Ethik Piatons nicht als unmittelbare "Teilhabe des Guten", sondern als tätige Verwirklichung (praxis) menschlichen Lebens im Werk versteht, rückt die Politik in ein Ergänzungsverhältnis zum ethischen Streben des Einzelnen nach Selbstzwecklichkeit und Selbstvollendung: Nur in der Polis kann der Mensch, der als isolierter Einzelner nicht zu seiner Menschlichkeit käme, als Mensch leben und sich verwirklichen. (Dies ist der Sinn des Satzes vom Menschen als physei zoon politikon.) Da sich das Politische aber nur im je Einzelnen, geschichtlich Besonderen verwirklicht, geht Aristoteles in seiner Politik nicht vom "besten Staat" aus, sondern knüpft in einer lebensvollen und differenzierten Typenlehre an die bestehenden Verfassungen an. Nach der Überlieferung hat er 158 Politeiai,

Epochen der wissenschaftlichen Politik

9

von denen nur der Staat der Athener erhalten ist, von seinen Schülern sammeln lassen als Vergleichsmaterial für seine Politik. Diese baut allenthalben, die idealistische Konstruktion des platonischen Staats vermeidend, auf Beobachtung, Vergleich, Untersuchung des Vorhandenen auf. Von ihren Lehrstükken haben die Staatsformenlehre und die zugehörige Lehre von den staseis (Veränderungen) mit ihrer Unterscheidung von Monarchie, Aristokratie und Politie (= gemäßigter Demokratie) und den Entartungsformen Tyrannis, Oligarchie, (radikale) Demokratie, sowie die Lehre vom Innehalten der richtigen Mitte beim Aufbau des Gemeinwesens (Vermeidung zu großen Reichtums und zu großer Armut, Schaffung eines starken Mittelstandes) in der Folgezeit die größte Wirkung geübt. Mit Polybius (um 201-120) und Cicero (104-43) beginnt sich das vom Boden der entmachteten Poliskultur losgelöste griechische Staatsdenken mit der römischen Staatspraxis zu verflechten. Polybius bringt die schon bei Piaton vorhandene, von Aristoteles in den Mittelpunkt gestellte Lehre von den gemischten Verfassungen in schulmäßige Form, indem er die aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen zusammengesetzte Verfassung als 'beste Verfassung' und als Rettung aus dem - sonst unentrinnbaren - Kreislauf der Staatsformen begreifen lehrt. Reales Vorbild dieser Theorie ist die römische Republik mit ihrer Verschmelzung monarchischer (Konsulat), aristokratischer (Senat) und demokratischer (Volksversammlung) Elemente. Bei Cicero, in dessen Werk sich Einflüsse der platonischaristotelischen Tradition mit denen hellenistischer Systeme (Stoa, Epikur) überkreuzen, wird der gesamte Bestand des griechischen Denkens in eklektischer Auswahl - in die Erfahrungswelt römischer Politik und Staatsauffassung eingeholt. Platonisch ist der Aufbau des Staates aus der Idee der Gerechtigkeit und der Gedanke der Erziehung des Menschen (De republica), doch wird aus der Offenheit zur Transzendenz stoische Selbstentäußerung und ein römisches Pflichtethos (De officiis); höchstes Ziel des Lebens ist nicht mehr die philosophische Schau der Idee, sondern die Verwirklichung der Gemeinschaft in der römischen, Unsterblichkeit verleihenden res publica (somnium Scipionis). In der frühchristlichen Tradition wird dann der immanente Zusammenhang von Ethik und Politik, der das antike Denken auszeichnet, zunächst gelockert. Das Christentum nimmt die spätantike Erfahrung eines apolitischen, der puren Einzelexistenz zugänglichen Glückszustands auf und steigert sie zum Gedanken religiöser Autarkie des Christenlebens inmitten einer bösen, unrettbar den Dämonen verfallenen Welt. Damit wird die ökonomische und politische Sphäre zu einem bloßen Durchgangsort ohne konstitutive Bedeutung

10

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

für die strebende Bewegung der Seele, zu einem zufällig-geschichtlichen Milieu der Tugendübung, an dem sich allenfalls die überwindende Kraft christlichen Lebens in der Welt bewähren mag. In Augustins (354-430) Lehre von den 'beiden Bürgerschaften' (De civitate Dei), die gegen die sakrale Identifizierung von Kult und Politik im römischen Staat gerichtet ist, sind Kirche und politische Welt nur äußerlich in der vita socialis sanctorum, der irdischen Pilgerexistenz der Christen, verbunden; deren transitorischer Charakter schließt jedoch jede institutionelle Verfestigung und jede Verdichtung des politischen Denkens zu einer Theorie von Staat und politischer Ordnung aus. Dementsprechend geht die Ethik der Kirchenväterzeit und des frühen Mittelalters in theoretischer Metaphysik und Theologie auf, ohne eine selbständige Moralphilosophie oder -theologie zu entwickeln; die politische Theorie kleidet sich in dieser Zeit fast durchweg in die Form der Fürstenspiegel, deren Genus über Isidor von Sevilla auf Augustins Porträt des gerechten Herrschers in De civi täte Dei zurückgeht. Erst im 12. und 13. Jahrhundert setzt mit der Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften ein neuer Aufschwung der ethischen Disziplinen ein, der auch der Politik zugute kommt. Mit ihrer Lehre von der fundamentalen Bedeutung des ökonomisch-politischen Lebensbereichs für die christliche Existenz nähert sich die Scholastik erneut dem antiken politischen Denken. So ist für Thomas von Aquin (um 1224-1275) die aristotelische Erkenntnis von der Sozialnatur des Menschen wie auch die Auffassung der Politik als "höchster praktischer Wissenschaft" verbindlich: das Leben in der Gesellschaft ist nötig "ad exercitium perfectionis"; der Staat hat die Aufgabe, durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, daß die geistige und sittliche Vervollkommnung des Menschen erreicht werden kann, und besitzt hierin eine eigene, von der Kirche unabhängige Würde und Autorität. Da die Staatsgewalt im göttlichen Gesetz begründet ist, ist der Einzelne ihr zu Gehorsam verpflichtet; diese Pflicht erlischt nur, wenn die Macht des Herrschers auf Usurpation beruht oder wenn er Unrechtes gebietet (Widerstandsrecht). Als Verfassungstheoretiker ist Thomas von Aquin ein Anhänger der gemischten Regierungsformen, da sie den Herrscher an die Mitwirkung von Rat und Volk binden. Hier klingt einerseits der Gedanke der Volkssouveränität an, wie er sich im späteren Mittelalter bei Marsilius und in der konziliaren Theorie entfaltet, anderseits nähert sich Thomas von Aquin mit seiner Lehre vom positiven Recht, das durch allgemeine Vereinbarung begründet wird, der Idee des Gesellschaftsvertrags, die in der Spätscholastik (Suarez) erstmals formuliert wird und in der neuzeitlichen Staatstheorie ihren Siegeszug antritt.

Epochen der wissenschaftlichen Politik

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Mit der Rezeption der aristotelischen Schriften und der Übernahme des peripatetischen Wissenschaftssystems erhält die Lehre der Politik an den europäischen Universitäten seit dem 13. Jahrhundert ihre feste Form: sie wird den Studenten im Rahmen der allgemeinen philosophischen Vorbildung in der Artistenfakultät an Hand der Schriften des Aristoteles, Ciceros, Augustins und später der Scholastiker vermittelt. Seit dem 16. Jahrhundert verselbständigt sich dann

der ethisch-politische

Unterricht

in Form fester

Lehrstühle

(professiones Ethices vel Politices), die ergänzend neben die theoretischphilosophischen treten. Diese Lehrtradition bildet im Abendland bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts den festen Rahmen wissenschaftlichen Umgangs mit der Politik. Noch die modernen Bewegungen des Naturrechts und Völkerrechts, die Souveränitätslehre Bodins und die ältere kameralistische Wirtschafts- und Verwaltungslehre, ordnen sich ihm ein.

II. Soweit die erste Epoche wissenschaftlichen Umgangs mit der Politik. Blickt man zurück, so sind es zwei Züge, die sich in Jahrhunderten unverändert durchhalten: Einmal fragt die Wissenschaft unmittelbar, ja zeitweise ganz ausschließlich nach den Zielen des Politischen, wobei Politik und Ethik ineinandergreifen; zum andern kümmert sie sich nur mittelbar und mit sehr viel schwächerem Interesse um die konkreten Erscheinungsformen der Politik. Sie fragt in erster Linie nach dem Telos der Politik und erst in zweiter nach der Phänomenologie. Wozu dient Politik - dies will sie wissen; die Frage dagegen, wie Politik gemacht wird, wer daran teil hat, wie die Modalitäten der Machtübung aussehen, interessiert sie kaum. Es ist ein Kennzeichen der neuzeitlichen Entwicklung, daß sich dieses Verhältnis jetzt umzukehren beginnt: vor die Frage nach dem Wozu schiebt sich, immer beherrschender, die nach dem Wie der Politik. Dies ändert sich mit den modernen Strömungen politischer Theorie und Praxis, die seit dem 16. Jahrhundert der aristotelisch-scholastischen Politik die Alleinherrschaft streitig machen. Mit ihnen beginnt die neue, die zweite Epoche wissenschaftlicher Politik. Sie entfaltet sich vor allem in zwei Richtungen. Auf der einen Seite entsteht eine die ältere Einheit von Politik und Ethik auflösende Machtlehre des Politischen, wie sie klassisch bei Machiavelli formuliert wird und als Element "wertfreier realistischer" Betrachtung die gesamte moderne Politikwissenschaft durchdringt. Auf der andern Seite entwickelt sich

eine

Lehre

vom

Staat

in

seiner

modernen

Gestalt

als

"Herrschaftsapparat" - unter Einengung, ja Preisgabe seines älteren Verständnisses als politisches Gemeinwesen (populus sive res publica).

12

Kapitel I: Zur Wissenschaffsgeschichte der Politikwissenschaff

Zwischen diesen beiden Strömungen der auf praktisches Handeln beschränkten Politik im neueren Sinn (Staatsklugheitslehre) und der deskriptiven Staatslehre (Statistik) behauptet die traditionelle Politik zwar noch lange ihren Platz als umfassende Disziplin von Mensch, Gesellschaft und politischer Ordnung. Sie wird jedoch vom 16. Jahrhundert an immer stärker auf das Gebiet des Juristischen abgedrängt (Naturrechts- und Staatsvertragslehren): einmal auf Grund der Kampfstellung gegenüber dem Absolutismus, sodann wegen der mit dem modernen Wissenschaftsbegriff (Bacon, Descartes) einhergehenden Verschiebung der Fragen vom Telos des Staates zur Begründung und Rechtfertigung seiner Herrschaft. Machiavellis Politik (II Príncipe

und Discorsi,

1513-1515), nicht zufällig auf

dem Boden des politisch zerrissenen spätmittelalterlichen Italien erwachsen, ist ein Ausdruck weit fortgeschrittener staatlicher Desintegration: sie verabsolutiert den Selbstbehauptungstrieb isolierter politischer Organismen, die sich, geführt von herrischen Gewaltnaturen, in ständig schwankenden Koalitionsverhältnissen mit List, Brutalität und Verrat zu behaupten suchen. Politik schrumpft hier zum technischen Utensil der Machtbehauptung; das Ziel des Wirkens im Staat liegt nicht mehr in der Eudämonie des Bürgers oder in christlicher Tugendübung, sondern im herrischen Selbstgenuß männlicher "virtu". In den zahlreichen und klugen, mehr leidenden als zynischen Anmerkungen Machiavellis zur Pathologie des politischen Lebens erscheint keine gänzlich neue Sicht des Politischen: neu ist aber die Isolierung der - auch in der älteren Politik stets gesehenen Kampfseite des Politischen und die sich anbahnende Verbindung mit dem Nationalstaatsgedanken. Trotz der überwiegenden Ablehnung der Gedanken Machiavellis (in Deutschland bis zu Kant!) ist keine moderne Staatslehre von dieser Naturbetrachtung des Politischen unberührt geblieben. Am stärksten wirkt sie nach im neustoischen Humanismus und in der Literatur der Staatsräson und der Arcana Imperii (16.-18. Jhdt.). Aber auch die moderne machtstaatliche Historie des 19. Jahrhunderts und die soziologische Auffassung der Politik im Kampf um Machterwerb und Machtbehauptung (M. Weber) als Wissenschaft "Who Gets What, When, How" (H. Lasswell) sind ohne Machiavellis reduzierende Methode, ohne sein anatomisches Präparieren der Machtstrukturen des Politischen nicht zu denken. Stärker an der konkreten Erscheinung des modernen Staates haftend und weniger am Machtkampf als am Institutionellen (Verwaltung, Regierung) orientiert, hat die moderne, vom Gedanken der Souveränität ausgehende Staatslehre der europäischen Staaten des 16. und 17. Jahrhunderts eine vielleicht noch breitere Wirkung geübt als die Politik Machiavellis. Mit dem

Epochen der wissenschaftlichen Politik

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noch tief in mittelalterlichem Denken wurzelnden Jean Bodin (six livres de la Republique 1576) zieht sie die Summe aus dem mittelalterlichen Kampf der Universalgewalten und aus dem Aufstieg der Nationalstaaten, indem sie eine höchste, alle anderen (zumindest nach innen) ausschließende Staatsgewalt (summa in cives ac subditos legibus absoluta potestas) proklamiert. Bei dem Engländer Thomas Hobbes (De Cive 1642, Leviathan 1651) wird diese Souveränität dann unter dem Druck der durch Glaubensspaltung und Religionskämpfe verursachten Bürgerkriegssituation zur schrankenlosen Ermächtigung des zum Leviathan gewordenen Staates: dieser steigt als Zwangsschlichter der streitenden Bekenntnisse und Herr über die Gewissen zum obersten Ordner des Gesellschaftslebens auf und wird zum "sterblichen Gott". In den so geschaffenen Rahmen eines von Gehorsamspflicht, Beamtenethos und sittlicher Pflichtbindung des Herrschers bestimmten Absolutismus fügen sich dann vom 17. Jahrhundert an die modernen Regierungs- und Verwaltungslehren ein. In Spanien und Frankreich stärker nach der Seite des (jetzt verselbständigten und vom gemeinen Recht getrennten) öffentlichen Rechts hinneigend, in den deutschen Territorialstaaten mehr nach der Seite der Staatswirtschaftslehre (Kameralismus und Polizeiwissenschaft), begleiten diese Wissenschaften in immer reicherer Verzweigung die Entwicklung des modernen Staates von der ständestaatlichen Pluralität zur monopolistisch geschlossenen Betriebsform des Absolutismus. In der Verselbständigung des Staates gegenüber dem politischen Gemeinwesen und des Staatsrechts gegenüber dem gemeinen Recht erwächst hier eine spezifisch kontinentale Sondertradition politischer Lehre und Praxis, ein "Denken aus dem Staat" heraus (A. MüllerArmack), das zur offenen Distanz, zum Messen des Staates an einer über ihm stehenden Ordnung ebenso unfähig ist, wie es sich zur langsambedächtigen Reform des Bestehenden in hohem Maße eignet. Die ältere politische Wissenschaft ist mit diesen Strömungen teils Verbindungen eingegangen (vor allem in Deutschland im Kameralismus und in der "Gesamten Staatswissenschaft" des 18./19. Jahrhunderts), teils hat sie sich vor allem in den Niederlanden und in England - weiterentwickelt zur naturrechtlichen Vertragstheorie und zur Lehre vom Verfassungsstaat. Vorbereitet ist diese Entwicklung in der spanischen und niederländischen Natur- und Völkerrechtslehre des 16. Jahrhunderts (Vitoria, Grotius), die im Zeitalter der Kolonisierung und der Glaubensspaltung nach einem gemeinsamen Rechtsboden zwischen Christen und Heiden und zwischen den verfeindeten Konfessionen suchte. Sie bot dem überlieferten politischen Denken zahlreiche Ansatzpunkte, wie sich an den naturrechtlichen Politiken von Althusius (Politica methodice digesta 1606) und Pufendorf (De officio hominis et civis

14

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

1673) und an der institutionellen Verbindung des Naturrechts mit den Lehrstühlen für Ethik und Politik erweist. Gegenüber dem zu immer strafferer Gewaltkonzentration fortschreitenden modernen Staat bringt diese Lehre zwei wichtige Elemente der Tradition ins Spiel: das Widerstandsrecht und die Auffassung der Herrschaft als einer zweiseitigen Pflichtbindung von Herrscher und Untertanen. In England (und später den USA) hat die Lehre von der Vertragsnatur des Herrschaftsrechts mit John Lockes Two Treatises of Government (1690) in Verbindung mit der Forderung nach Toleranz den älteren patriarchalisch-theokratischen Herrschaftsgedanken überwunden und der Idee des modernen, auf freier Zustimmung und Beteiligung beruhenden und die Gewissensfreiheit respektierenden civil govemment die Bahn gebrochen. In rationalisierter Form begegnet die gleiche Staatsauffassung in Montesquieus monumentalem Esprit de Lois (1748), der das absolute Königtum an eine aus der Natur der Sache fließende Ratio der Gesetze zurückbinden will, während Rousseaus von abstraktem Freiheitspathos getragene Radikalisierung der Vertragslehre (Du contrat social, 1762) deutlich paraabsolutistische Züge trägt und Kants Anpassung des Vertragsgedankens an die Tradition des deutschen Beamtenstaates vom Staat nur geistige Autonomie des Individuums, nicht das Recht politischer Mitgestaltung fordert. Mit der Verwirklichung des modernen Rechts- und Verfassungsstaates im 18. und 19. Jahrhundert ist die gestaltende Kraft der europäischen politischen Wissenschaft zunächst erschöpft. Trotz einzelner bedeutender Gestalten (Burke, Tocqueville, Quetelet, Mill) fällt sie in England und Frankreich im 19. Jahrhundert zunehmendem Akademismus anheim. Eine Spätblüte bilden die auf dem Boden der politischen SpezialWissenschaften erwachsenen Politiken des deutschen

19. Jahrhunderts (Dahlmann,

Froebel, Sybel,

Roscher,

Treitschke) trotz des Absterbens der ethisch-politischen Professuren nach Kant: sie haben, zusammen mit der Organisationsform der politischen Wissenschaften in den Rechts-und Staatswissenschaftlichen Fakultäten, über Burgess und Francis Lieber einen starken Einfluß auf die jüngere amerikanische politische Wissenschaft geübt. Im übrigen ist das 19. Jahrhundert gekennzeichnet durch eine weitgehende Auffächerung der politischen Wissenschaft in die positiven Fächer der Rechts-, Staats- und Geschichtswissenschaften, ein Vorgang, dem auf der anderen Seite die allmähliche Auflösung der alten, in der Ethik zentrierten Politik entspricht. Diese erscheint bereits einem Ranke so problematisch "wie der Wert einer sogenannten philosophischen Grammatik". Das Politische als aufgegebene gute Ordnung des Zusammenlebens wird jetzt historisch und soziologisch relativiert. Als Studienobjekte für eine politische Wissenschaft bleiben schließlich nur noch die forma-

Epochen der wissenschaftlichen Politik

15

len Techniken des politischen Handelns übrig. So kommt es zu einer eigentümlichen Verlagerung des staatstheoretischen Denkens von der natürlichen Mitte der politischen Wissenschaft und Jurisprudenz in die Historie und Soziologie, ein Vorgang, der besonders für Deutschland (Max Weber, Meinecke) typisch ist. "Hier wird eine wirkliche positive Staatstheorie entwickelt - vom Staat als 'Betrieb', dessen immanente Teleologie den einzelnen heteronom in sich hinein, unter die Dämonie seiner Mittel, in die unentrinnbare sittliche Verschuldung zwingt - vom Staat als Naturkraft und Schicksal, von der Lebensidee seiner 'Staatsräson', die in die unauflösliche Antinomie von Kratos und Ethos hineinführt - beide Male in sich geschlossene, eigengesetzliche Schicksalmächte, denen der einzelne mehr oder weniger als Objekt und Opfer gegenübersteht" (Rudolf Smend). Die moderne, machtstaatlich orientierte Historie des 19. Jahrhunderts und die soziologische Auffassung der Politik als Kampf um Machterwerb und Machtbehauptung (M. Weber) sind die letzten Versuche einer eigenständigen "neuen Wissenschaft" der Politik gewesen; mit der Dynamik einzelwissenschaftlicher Spezialisierung und positivistischer Sachbezogenheit ausgestattet, wirken sie bis heute in der europäischen und noch mehr in der amerikanischen politischen Wissenschaft nach.

III. Worin sticht die moderne politische Forschung, also die jüngste Epoche der wissenschaftlichen Politik, von der älteren ab? Worin hat sie neues wissenschaftliches Terrain erschlossen? Kann man sagen, daß erst mit dem 20. Jahrhundert die Zeit methodischer Entfaltung der Disziplin gekommen ist, während die traditionellen Verfahren in ein vorkritisches Stadium gehören? Oder wiederholt auch die moderne Disziplin nur - wenn auch in verfeinerter Form die Fragen und Aporien der älteren politischen Wissenschaft, mit denen sich schon ein Piaton und ein Cicero auseinandersetzten? Ja und nein. Gewiß, es fiele einem Wissenschaftshistoriker nicht schwer, in einem Buch wie The Making of the President, das die Präsidentschaftskampagne Kennedys schildert, die moderne verfeinerte Variante einer machiavellischen "Kunstlehre des Politischen" zu erkennen; und die komplizierten Systeme, die Spiel- und Entscheidungstheorien, mit denen man die heutige Wirklichkeit der internationalen Beziehungen zu erfassen versucht, repetieren auf ihre Weise nur das, was die europäische Literatur des Gleichgewichts und der Balance der Mächte im 17. Jahrhundert bereits entfaltet hatte. In der Analyse konkreter Regierungsprozesse sind wir heute gewiß detaillierter und genauer als die Berichte englischer und französischer Reisender des 18. Jahrhunderts; aber Montesquieus Schilderung des englischen Parlaments -

16

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte

der

Politikwissenschaft

soviel die spätere Kritik an Unstimmigkeiten darin gefunden hat - ist trotz allem ein klassisches Beispiel der Darstellung und Deutung eines fremden Regierungssystems. Und ob die Sowjetologie der Nachkriegszeit eine so geistvolle, Inneres und Äußeres in eins fassende Darstellung eines despotischen Staates aufzuweisen hat wie Voltaires und Mirabeaus preußische Reiseberichte aus dem 18. Jahrhundert, mag eine offene Frage bleiben. Doch vergleichen wir hier vielleicht zu sehr mit literarischen Maßstäben. Literarisch fällt in der Tat die moderne politische Wissenschaft gegenüber der älteren deutlich ab. Aber wir vergessen, daß Kontinuität und Vergleichbarkeit nur beim schriftstellerischen Genus vorliegt, daß aber die Methode der modernen politischen Forschung sich von der älteren Politikwissenschaft durch wesentliche Züge unterscheidet: einmal durch die umfassende Quantifizierung, sodann durch die Konzentration der Fragestellung auf den Grund, nicht mehr auf das Ziel politischer Handlungen; endlich durch den Verlust - oder doch die vorläufige Suspendierung - der Wertfragen, die jetzt an den Rand des wissenschaftlichen Interesses rücken. 1. Die Quantifizierung ist ein Vorgang, der heute alle Bereiche der Sozialwissenschaften erfaßt hat. Darin liegt der Unterschied zur älteren Forschung, in der man gewiß auch einmal statistische Methoden verwendete, in der man aber nicht darauf ausging, das untersuchte Objekt nach allen Seiten hin größenmäßig zu analysieren. Wirken dort Kurven, Statistiken und Mengenangaben, wo sie auftauchen, als eine Zugabe, die den Gedanken verdeutlicht, die notfalls aber auch entbehrlich wäre, so hat die moderne Politikwissenschaft analog zur modernen Wirtschaftswissenschaft die Tendenz, die Zahlen und Quantitäten in den Vordergrund zu rücken und das Wort nur als Verdeutlichung hinterherzuschicken. Ja, neueste Arbeiten nähern sich bereits einer Formel- und Zeichensprache an, die der verbalisierten Übersetzung nicht mehr zu bedürfen scheint. Ein lehrreiches Beispiel für diese Tendenz ist die Untersuchung parlamentarischer Wahlen. In der älteren Forschung liegt der Nachdruck auf der Untersuchung des Systems. Man diskutiert die Vorzüge und Schwächen der einzelnen Wahlverfahren, des Proportionalwahlrechts, des absoluten oder relativen Mehrheitswahlrechts, man stellt Betrachtungen an über den Zusammenhang mit der Verfassung und mit dem demokratischen Prozeß im ganzen. In dieser Art sind die Betrachtungen Max Webers und Friedrich Naumanns über die Wahlrechtsfrage zu Beginn der Weimarer Republik gehalten, und noch moderne Untersuchungen wie die von Hermens und Duverger nehmen ihren Ausgang von institutionellen Frage-Interessen, so etwa, wenn nach dem Zusammenhang von Wahlverfahren, Parteiensystem und politischer Stabilität

Epochen der wissenschaftlichen Politik

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oder Instabilität eines Gemeinwesens gefragt wird. Später verlagert sich das Interesse auf das Wahlverhalten der Bevölkerung, wobei das System als solches nicht mehr untersucht wird: man fragt, wie dies zuerst Andre Siegfried tat, nach den das Wahlverhalten begründenden sozialen und geographischen Faktoren, sucht Konstanten und Variable im Wahlgeschehen zu unterscheiden, bildet Relationen zwischen Beruf, Alter, Geschlecht, Konfession und Wahlentscheidung, um schließlich den gesamten Prozeß nach Faktoren zu analysieren. Endlich schaffen Kleingruppenanalysen, die Bildung repräsentativer Bevölkerungsquerschnitte und Methoden systematischer Befragung die Möglichkeit, den Wahlvorgang in allen seinen Elementen zu analysieren und sogar den Wahlausgang vorzuschätzen: die quantifizierenden Methoden durchdringen den gesamten Untersuchungsbereich und lassen die älteren, von Hypothesen und Mutmaßungen durchwirkten Untersuchungen als veraltet erscheinen. 2. Die Entwicklung der Forschung in diesem Bereich ist noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert: die wissenschaftliche Fragestellung konzentriert sich, immer mehr auf den Grund politischer Handlungen. In der älteren politischen Wissenschaft hätte diese Frage gar nicht interessiert. Aus welchen Gründen, welchen Bedürfnissen und Stimmungen man sich in der Politik so oder so entschied, hielt man für weit weniger untersuchungswürdig als die andere Frage: ob man sich nämlich mit dieser Entscheidung für etwas Gutes oder für etwas weniger Gutes entschieden hatte. Mit anderen Worten: die Ziele interessierten, das Worumwillen der Politik - nicht die physischen oder psychischen Gründe, die für die Entscheidung maßgebend sein mochten. Das ist in der modernen Forschung anders geworden. Sie ist in einem zugespitzten Sinn Verhaltensforschung geworden. Sie will nicht wissen (wenigstens nicht in erster Linie), wozu sich Menschen entscheiden, welche Ziele sie damit verfolgen, sondern sie fragt in erster Linie nach den Gründen, aus denen sie sich so oder so verhalten. Das bedeutet, daß die Frage nach dem Richtig oder Falsch zunächst einmal suspendiert wird; was interessiert, sind allein die Motivationen. Methodologisch ist das durchaus begreiflich, denn nur bei den Motivationen kann man quantifizierende und wertfreie Forschungsmethoden einsetzen, während die Frage nach den Zielen und ihrem Wertgewicht uns sogleich in eine Debatte über den Sinn des Politischen verwickelt, die auf dem Boden empirisch-sozialwissenschaftlicher Methoden nicht entscheidbar ist. Auch diesen Zug der Wissenschaftsentwicklung könnte man an vielen Beispielen deutlich machen. So ist es charakteristisch, daß die moderne Parteitheorie, je mehr sie sich quantitativen Methoden aufgeschlossen hat, die

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Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

Frage des Zwecks einer politischen Partei hintangestellt hat zugunsten der Untersuchung des Verhaltens der Parteimitglieder und der politischen Führer. So sind die Fragen der Kandidatenaufstellung, der Führerauswahl und der innerparteilichen Entscheidungsmechanismen in den Vordergrund getreten und werden in einer breiten Literatur nach allen Seiten erörtert. 3. Und dies alles - Quantifizierung und Reduktion auf kausale Erkenntnis vollzieht sich vor einem Horizont, in dem prinzipiell das Politische als deutungsfrei gegebenes Material der Untersuchung angesetzt wird, nicht anders als untersuche man Gegenstände der Natur oder Bewegungen im Tierreich. Zumindest muß von den großen und typischen Leistungen der modernen politischen Wissenschaft gesagt werden, daß sie so verfahren: daß also die Frage nach dem Richtig oder Falsch, Gut oder Böse des Politischen jenseits der Untersuchung bleibt als eine Frage, die nicht mehr der Wissenschaft, sondern dem Gewissen oder dem subjektiven Geschmack angehört, jedenfalls aber, wie es Max Weber formuliert hat, "in einer anderen Ebene des Geistes liegt". So gesehen, scheint die moderne politische Forschung ihre methodische Schärfe und empirische Aussagekraft paradoxerweise gerade einer Einschränkung ihrer Fragestellung zu verdanken. Sie operiert mit gesteigerter Wissenschaftlichkeit in einem reduzierten Arbeitsfeld. In ihrem rationalen Universum hat die Frage nach den Zwecken der Politik - den Zwecken schlechthin, nicht der Relation von Zwecken und Mitteln - ebensowenig Platz wie die Frage nach dem guten Leben und dem Bild des Bürgers und des Staatsmanns. Darin liegt ihre methodische Stärke, aber auch ihre erzieherische Schwäche; denn in einer Zeit, in der totalitäre Systeme den Menschen unmittelbar mit dem Problem der politischen Ordnung konfrontieren und in der seine Existenz durch Massenvernichtungsmittel physisch vernichtet werden kann, wird man methodische Genauigkeit bei gleichzeitiger Reduzierung des Fragehorizontes nicht unbedingt als befreiende Lösung empfinden. Vielmehr stellt sich heute die alte, zuerst von Thomas formulierte Frage in neuer Gestalt: ob es nicht wichtiger sei, in großen Dingen weniges zu wissen, als in den kleinen alles. Solange diese Frage nicht geklärt ist, wird man nicht entscheiden können, ob die ältere Form politischer Wissenschaft mit der jüngsten Entwicklung unseres Fachs überholt ist - und so muß auch die Eingangsfrage offen bleiben, ob politische Forschung eine junge oder nicht vielmehr eine sehr alte Tätigkeit des Menschen ist. Ich schließe mit einer Bemerkung von Herfried Münkler, der in seiner Berliner Antrittsvorlesung vom 10. Mai 1993 die Frage aulwirft, ob demokratisch verfaßte Gemeinwesen einer soziomoralischen Fundierung bedürfen. Münkler

Epochen der wissenschaftlichen Politik

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hebt hervor, daß Zivilgesellschaft und Bürgertugend in einer inneren Beziehung zueinander stehen und daß die heute in fast allen westeuropäischen Demokratien zu beobachtende Abwendung von der Politik nicht nur Ausdruck einer Krise der politischen Institutionen ist, sondern auch auf ein Defizit der politischen Theorie verweist. Diese nämlich konnte die zugehörigen Phänomene zwar benennen, vermochte sie aber nicht zu erklären, geschweige denn vorauszusagen. "... Sie vermochte dies nicht, weil sie in einem Prozeß anscheinenden szientifischen Fortschritts, der sich selbst in Modellen einer evolutiven Addition der Normverwirklichung feierte, die prekären soziomoralischen Voraussetzungen demokratisch verfaßter Gemeinwesen aus dem Auge verlor, bezw., präziser, weil sie in ihrer Fixierung auf eine evolutive Normaddition die zentrale Überzeugung der klassischen politischen Theorie verdrängt oder vergessen hat, wonach beim Erreichen eines Ziels darauf zu achten sei, daß die Voraussetzungen der Zielerreichung nicht unterhöhlt würden, daß, mit anderen Worten, das Optimum mit dem Maximum nicht identisch sei... Das Problem der modernen Sozialphilosophie und Politiktheorie bestünde dann darin, daß sie das Politische nur noch als eine abgeleitete Gestalt des Sozialen zu denken vermag". 1

Dieser Text stützt sich auf meinen Aufsatz: Politik als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Historische Anmerkungen, in: Leonhard Reinisch (Hrsg.), Politische Wissenschaft heute, München 1971, S. 1-13. Eingehender begründet sind die hier skizzierten Thesen in meinen Arbeiten zur Geschichte der Politikwissenschaft und Verwaltungslehre: Die Lehre der Politik an den deutschen Universitäten, vornehmlich vom 16.-18. Jahrhundert, in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik, Freiburg 1962, S . 59 - 116; Zur Lage der politischen Wissenschaft in Deutschland, Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 (1962), S . 225-249; Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, Neuwied/Berlin 1966 ( 3 München 1986); Ältere deutsche Staatslehre und westliche politische Tradition, Tübingen 1966; Politische Wissenschaft in Deutschland. Aufsätze zur Lehrtradition und Bildungspraxis, München 1969, 2 1 9 8 5 ; Eine Münchner Schule: Die politische Wissenschaft in Deutschland und das Geschwister-Scholl-Institut, in: Peter Cornelius Mayer-Tasch (Hrsg.), Münchner Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Freiburg

1

Herfried Münkler: Zivilgesellschaft und Bürgertugend. Bedürfen demokratisch verfaßte Gemeinwesen einer sozio-moralischen Fundierung? = öffentliche Vorlesungen der HumboldtU n i y e r & J ä t ^ J § » « ö e i U 3 , 1994, S. 4f.

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Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte

der

Politikwissenschaft

1980; S. 15-29; Der Begriff der Politik, in: Zeitschrift für Politik 34 /1987), S. 378-382 ; Verteidigung der Politik, Zürich 1990.

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte

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Wilhelm Bleek

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

Auf den ersten Blick ist der Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte, auch derjenigen der Politikwissenschaft, eindeutig: Sie behandelt aus historischer Perspektive die Entwicklung der Wissenschaften im allgemeinen und der einzelnen Disziplinen im besonderen. Doch wie in der allgemeinen Geschichtswissenschaft sind auch in der Wissenschaftsgeschichte Objekt, Untersuchungsansatz und Methode höchst vielfältig und durchaus kontrovers. Nur vordergründig hat es die herkömmliche historische Analyse des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses leichter, welche die Wissenschaft als den unumstrittenen Gegenstand der Wissenschaftsgeschichte proklamiert. In diesem Sinne wird die Fachgeschichte von den meisten Disziplinen als die Geschichte ihrer wissenschaftlichen Literatur verstanden. Aus dieser Sicht ist Wissenschaftsgeschichte lediglich die Darstellung der intellektuellen Bemühungen und Erträge der Disziplinen aus historischer Sicht. Diese Dominanz des ideengeschichtlichen Ansatzes in der Disziplingeschichte der Fächer läßt sich auch in der Geschichte der Politikwissenschaft aufweisen. Im Gegensatz zu dieser bisherigen Einseitigkeit sollten aber, auch in der Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft, auch die anderen Zugänge wie Gelehrten-, Universitäts-, Sozial- und Politikgeschichte gleichberechtigt berücksichtigt werden.

a) Ideengeschichte Das Vorherrschen des ideengeschichtlichen Ansatzes in der Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft, wenn diese überhaupt thematisiert wird, ist wesentlich eine Folge der anerkannten Position politikwissenschaftlicher Bemühungen um die Geschichte der politischen Ideen und Theorien. Die Bedeutung dieses politikwissenschaftlichen Teilgebietes läßt sich an seiner Berücksichtigung in Lehrplänen, Veröffentlichungen zur politischen Ideengeschichte und Sammlungen von Klassikertexten der politischen Theorie ablesen. Es lag daher für das Fach nahe, die Geschichte der Politikwissenschaft

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Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte

der Politikwissenschaft

als Teil der Geschichte der politischen Ideen zu verstehen und die Methoden und Arbeitsweisen der politischen Ideengeschichte auch auf die gesamte Disziplingeschichte anzuwenden.2 Allerdings sind, zumindest in Deutschland, nur wenige professorale Lehrer der Politik in den Pantheon der Klassiker der politischen Theorien aufgenommen worden. Für die Frühe Neuzeit hat wohl am ehesten Johannes Althusius mit seiner Konzeption der "Politea" als einer "symbiotischen Gemeinschaft", welche in unserer Zeit unter anderem in der Föderalismus- und Korporatismusdebatte aufgenommen wurde, diese Ehre verdient. Für das 19. Jahrhundert ist Lorenz von Stein mit seiner Lehre vom "sozialen Königtum" zu nennen, die grundlegend für die moderne Sozialstaatstheorie geworden ist. Max Weber ist mit seinen methodologischen und inhaltlichen Setzungen und Definitionen aus der Wendezeit vom 19. zum 20. Jahrundert der prominenteste Säulenheilige aller Sozialwissenschaften geworden. Aus dem Kreis der Gründungsväter, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland die Politikwissenschaft etablierten, ist wohl Ernst Fraenkel mit seiner Theorie des NeoPluralismus am deutlichsten in den Reigen der modernen Klassiker der politischen Theorie aufgestiegen. Deutsche Sozialphilosophen wie Jürgen Habermas, amerikanische Soziologen wie Talcott Parsons und internationale Politikwissenschaftler wie Karl W. Deutsch sind grundlegend auch für das Politikstudium in Deutschland geworden. Doch von diesen Ausnahmen abgesehen, ist die Geschichte der politischen Ideen und Theorien nur zum geringsten Teil eine Geschichte der Ideen und Theorien der Politikwissenschaft.3 Das liegt nicht nur, wie manche Kritiker des Faches vermuten mögen, an der Mittelmäßigkeit der Ideenproduktion von akademischen Lehrern der Politik. Es führt sich vor allem auf die Diskontinuitäten der Politikwissenschaft in Deutschland zurück, die insgesamt eine Gedächtnislücke im wissenschaftsgeschichtlichen Erinnerungsvermögen der Disziplin bewirkt haben. Weil die Politikwissenschaft in Deutschland durch längere Phasen der institutionellen Nichtexistenz gekennzeichnet ist, fiel ihr ideelles Erbe oft ihren Nachbar- und Nachfolgedisziplinen zu; die moderne Politikwissenschaft hat damit ihre älte2

Die Hinweise auf Funktionen und Methoden zur Analyse der politischen Ideengeschichte, die Klaus von Beyme 1969 in seiner Tübinger Antrittsvorlesung gegeben hat, sind auch für die ideengeschichtliche Untersuchung der Entwicklung des Faches Politikwissenschaft von großem Nutzen: Klaus von Beyme, Politische Ideengeschichte. Probleme eines interdisziplinären Forschungsbereiches, Tübingen 1969.

3

Vgl. die Überblicksdarstellung zur politischen Ideengeschichte, z.B. Hans Maier / Heinz Rausch / Horst Denzer: Klassiker des politischen Denkens, 2 Bde., München, 5. Aufl. 1979; Hans-Joachim Lieber (Hrsg.): Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, München/Bonn, 2. Aufl. 1993; Iring Fetscher / Herfried Münkler (Hrsg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, 5 Bde., München 1986 ff.

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte

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ren Traditionen weitgehend vergessen. So werden zum Beispiel oft Friedrich Christoph Dahlmann lediglich als Historiker, Karl von Rotteck als Staatsrechtler und Wilhelm Roscher als Nationalökonom klassifiziert und damit ihr Selbstverständnis als Lehrer der Politik verkürzt. Auch Hermann Heller, dem Öffentlichrechtler der Weimarer Republik, ging es vor allem um eine wissenschaftliche Disziplin von der Politik, und sicherlich hätte er seinem 1934 posthum erschienen Hauptwerk einen anderen Titel als jenen der "Staatslehre" gegeben. Die Unterbrechungen in der Geschichte der deutschen Politikwissenschaft haben auch dazu geführt, daß die letzten Überblicke zur Ideengeschichte des Faches aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammen, vor dem 70jährigen Winterschlaf der Lehre von der Politik in Deutschland nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848/49. Bis heute sind die "Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften" von Robert von Mohl (1855-1858) und die "Geschichte des allgemeinen Staatsrechts und der Politik" von Johann Caspar Bluntschli (1864) unersetzliche Fundgruben zur Ideengeschichte des Faches.4 Nach ihrem Wiederaufleben nach 1945 hat die westdeutsche Politikwissenschaft zwar Epochen der älteren und der modernen Politiklehre vor allem unter inhaltlichen Aspekten erforscht, der Gesamtzusammenhang der Ideengeschichte des Faches ist jedoch bisher noch nicht rekonstruiert worden. Dabei ist das Material zu einer solchen Ideengeschichte der Politikwissenschaft in Gestalt von Publikationen und Vorlesungsmanuskripten der akademischen Lehre der Politik reichlich vorhanden, allerdings zeitraubend zu erheben und zu sichten. Zahlreiche Politikprofessoren auch früherer Jahrhunderte haben ihre Ideen nicht nur der akademischen Zuhörerschaft vorgetragen, sondern ebenfalls für das breite Publikum veröffentlicht. Zu den Quellen der Ideengeschichte der Politikwissenschaft gehören nicht nur die Buchveröffentlichungen, sondern auch einschlägige Handbücher sowie Zeitschriften. Weitere akademische Lehrer der Politik, insbesondere aus dem 19. Jahrhundert, haben in ihren Nachlässen auch Vorlesungsmanuskripte hinterlassen.5

4

Robert von Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bde., Tübingen 1855-58, Nachdruck Graz 1960 und Johann Caspar Bluntschli, Geschichte des allgemeinen Statsrechts und der Politik. Sei dem sechzehnten Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1864 u. 2. Aufl. 1967.

5

Exemplarisch für die Veröffentlichung, aber auch den Nachlaß eines Politikprofessors sei verwiesen auf Text und Erläuterungen zu: Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Neuausgabe hrsg. von Wilhelm Bleek (Klassiker des deutschen Staatsdenkens, hrsg. von Hans Maier und Michael Stolleis), Frankfurt am Main (im Erscheinen).

24

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte

der Politikwissenschaft

Auch in der Ideengeschichte der Politikwissenschaft stellt sich die Grundsatzfrage nach der Diskontinuität oder Kontinuität, nach Zeitgebundenheit oder dauerhafter Nachwirkung. Wie bei allen anderen historischen Abläufen sind Zeiten des Umbruchs und der Innovation von Phasen der stärkeren Bewahrung und Tradition zu unterscheiden. Auch in der politikwissenschaftlichen Diskussion hat es sich in den vergangenen Jahrzehnten eingebürgert, im Anschluß an die Ausführungen von Thomas S. Kuhn über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen vom Paradigmenwandel zu sprechen. 6 Es wird sinnvoll sein, mit diesem Begriff nicht nur den schnellebigen Wechsel von Theorien und Methoden in der modernen Sozialwissenschaft zu charakterisieren, wie es häufig geschieht, sondern das methodische Instrumentarium der Paradigmenforschung für die Untersuchung der Veränderungen von wissenschaftlichen Erklärungsmustern über größere Zeiträume von Jahrhunderten anzuwenden. Die Untersuchung der Paradigmenwechsels sollte nicht bei wissenschaftsinternen Veränderungen stehen bleiben, sondern diese mit dem externen Wandel in den gesellschaftspolitischen Bedingungen von Forschung und Lehre verknüpfen und auf diese Weise die ideengeschichtliche Methode mit den noch zu schildernden sozial- und politikwissenschaftlichen Ansätzen verbinden. Mit dem ideengeschichtlichen Zugang soll in dieser Darstellung der Geschichte der Politikwissenschaft insbesondere der Wandel ihrer zentralen Begriffe von "Politik" und "Wissenschaft" herausgearbeitet werden. W a s früher einmal "Lehre" oder "Wissenschaft" von der "Politik" genannt worden ist, hat möglicherweise kaum etwas mit der heutigen Politikwissenschaft gemeinsam, handelt es sich dabei doch nicht um zeitlose, sondern um historische Begriffe in all ihrer Wandlungsfähigkeit. So hat der Begriff von Wissenschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit kaum etwas mit dem modernen Szientismus zu tun und doch kann uns das ältere Wissenschaftsverständnis beim Nachdenken zumal auf dem Gebiet der Politik hilfreich sein. Politik auf der anderen Seite beinhaltete in vorneuzeitlicher Epoche vor allem die gemeinschaftliche Ordnung, während sie in modernen Zeiten durch die Aspekte von Herrschaft und Macht charakterisiert wird. 7 6

Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/Main 1973 (engl, zuerst 1962).

7

Grundlegend für die historische Begriffsgechichte, auch von politischen Begriffen: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe: historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart, 7 Bde. 1972-1992. Zur Entwicklung und zum Vergleich der englischen und deutschen Politikbegriffe hat sehr anregende Hinweise gegeben: Arnold J. Heidenheimer, Politics, Policy and Policey as Concepts in Englisch and Continental Languanges: An Attempt to Explain Divergences, in: The Review of Politics, Vol. 48, 1986, Nr. 1, S. 3-33.

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte

25

Viele politischen Tatbestände und Zusammenhänge, die heute zum selbstverständlichen Gegenstand des Faches Politikwissenschaft gehören, sind in älteren Zeiten von Fächern wie der praktischen Philosophie, der Polizei- und Verwaltungswissenschaft, der Kameralwissenschaft und der allgemeinen Staatsrechtslehre behandelt worden.8 Diese sollten daher als "politische Disziplinen" in einer Geschichte der Politikwissenschaft ebenfalls ihren Platz haben. Nicht nur die Grundbegriffe des Faches und seiner Nachbardisziplinen, auch seine eigenen Bezeichnungen haben im Laufe der Jahrhunderte einen charakteristischen Wandel durchgemacht. Aus der schlichten "Politik" wurde die

"Lehre

von

der

"Staatswissenschaft",

Politik",

dann

die

"Staatslehre"

und

die

bevor es in der Bundesrepublik zur Vielfalt von

"Wissenschaft von der Politik", "Wissenschaftlicher Politik", "Politischer Wissenschaft" und "Politologie" gekommen ist, die erst in den letzten Jahren weitgehend in der Fachbezeichnung "Politikwissenschaft" aufgegangen ist. Die Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft in Deutschland aus ideengeschichtlicher Sicht hat daher vor allem nach der historischen Konzeption von akademischer Lehre und Wissenschaft sowie den paradigmatischen Eigenschaften des Politikbegriffs in den jeweiligen Wissenschaftsepochen zu fragen. Themenbereiche, Politikbegriff und Wissenschaftskonzeption sind die drei ideengeschichtlichen Sonden, mit denen an die Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft herangegangen werden soll.

b) Gelehrtengeschichte Ideen fallen nicht vom Himmel, jedenfalls nicht in Gestalt von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Sie werden von Menschen gemacht, formuliert und vermittelt. Daher gilt heute die idealistische Sicht der Ideengeschichte als überholt, welche lediglich auf die historischen Einflüsse und Stammbäume von Ideen abstellt und Mensch wie Gesellschaft als Erkenntnis- und Kommunikationseinheiten vernachlässigt. Der Wandel der Ideen muß vielmehr mit den realen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen sowie mit der Geschichte der Menschen, die die jeweilige Wissenschaft betreiben, in Bezug

8

Dies wird sehr deutlich in den wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten von Hans Maier: Hans Maier, Die Lehre der Politik an den älteren deutschen Universitäten (1962) in: ders., Politische Wissenschaft in Deutschland. Lehre und Wirkung, München 1985, S. 31-67 und ders., Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, München, 1. Aufl. 1966, 2. Aufl. 1980.

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Kapitel I: Zur Wissenschansgeschichte

der

Politikwissenschaft

gesetzt werden. Diese banalen Einsichten treffen auch und besonders für die politischen und politikwissenschaftlichen Ideen zu. Daher ist die erste notwendige Ergänzung des ideengeschichtlichen Ansatzes der Wissenschaftsgeschichte die Gelehrtengeschichte als die Geschichte der Entdecker und Vermittler akademischer Einsichten. Dieses Verständnis von Wissenschaftsgeschichte als Gelehrtengeschichte geht davon aus, daß die persönliche, berufliche und gesellschaftliche Biographie von Wissenschaftlern sowohl die Wahl ihrer Arbeitsgebiete wie auch ihrer inhaltlichen Aussagen in Forschung und Lehre mitbestimmt. Die Geschichte der Politikwissenschaft ist daher auch wesentlich eine Geschichte ihrer Lehrer. Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftlergeschichte stellt die vielfältigen Aspekte des Werdegangs von Hochschullehrern und dessen Auswirkungen auf das intellektuelle Werk in den Mittelpunkt ihres Interesses. Die Fragestellungen reichen dabei von der familiären und sozialen Herkunft über den Bildungsweg, die Studienfächer, die Universitäten und akademischen Lehrer bis hin zu den Stationen der beruflichen Karriere, welche auf den akademischen Prüfungen aufbauen und in Habilitationen und Berufungen ihren Höhepunkt erklimmen. Wissenschaftliches Werk und akademische Biographie werden solchermaßen in einen engen Bezug gesetzt. Diese Aspekte der Gelehrtengeschichte treffen für alle Universitätsfächer gleichermaßen zu. Für die Politikwissenschaft und ihre Hochschullehrer ist aber das Verhältnis zwischen politikwissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis von besonderem Interesse, wie es sich in der beruflichen Biographie zahlreicher Hochschullehrer der Politik widergespiegelt hat. Professoren der Politikwissenschaft sind zu aller Zeit versucht gewesen, durch Übernahme politischer Funktionen die Praxisrelevanz ihrer intellektuellen Einsichten zu erfahren und zu überprüfen. Auf der anderen Seite wirken praktische Erfahrungen der Politik auf politikwissenschaftliche Forschung und Lehre zurück. So ist das Verhältnis von Theorie und Praxis nicht nur ein spannendes Thema allgemeiner philosophischer und sozialwissenschaftlicher Überlegungen, sondern impliziert auch sehr konkrete Forschungsmöglichkeiten mit Hilfe des biographischen Zugriffs der Wissenschaftsgeschichte. Bei der Verwirklichung des gelehrtengeschichtlichen Ansatzes hat bisher allerdings die individuelle Glorifizierung von "Geistesgrößen" dominiert. Diese hagiographische Tendenz der Wissenschaftlergeschichte ist vor allem darauf zurückzuführen, daß die Personengeschichte der Wissenschaft ihren Publikationsort zumeist in Festschriften oder Nachrufen hat. Dabei besteht die Gefahr einer Überhöhung von individueller Leistung der Geehrten oder Verstorbenen, deren gesellschaftliche Voraussetzungen eher minimalisiert, wenn nicht igno-

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte

27

riert werden. Eine biographische oder autobiographische Darstellung von akademischen Lebensläufen, welche die gesamtgesellschaftlichen und politischen Entwicklungen berücksichtigt, ist daher eher die Ausnahme. Für die Geschichte der Politikwissenschaft gibt es bisher kaum Biographien und noch weniger gesellschafts- und wirkungsgeschichtliche Untersuchungen von Lebensläufen prominenter Lehrer der Politik. Als erstes haben die zeitgeschichtlich besonders interessanten Emigrantenschicksale von Gründungsvätern der westdeutschen Politikwissenschaft wie Franz Neumann und Ernst Fraenkel Aufmerksamkeit gefunden. Mit dem fortschreitenden Alter der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik zeichnet sich aber heute ein wachsendes Interesse für die Generationenabfolge von Professoren ab, welche die Entwicklung des Faches in den letzten Jahrzehnten geprägt haben. 9 Das Vorbild einer Veröffentlichung, welche die Darstellung des akademischen und politischen Lebenslaufes mit der Analyse von Werk und Wirkung eines Politikprofessors verbindet, stellt immer noch Erich Angermanns Biographie Robert von Mohls dar, eines geistigen Vorvaters der Konzeption des sozialen Rechtsstaates und scharfsinnigen Analytikers des parlamentarischen Regierungssystems in der Mitte des 19. Jahrhunderts.10 Die Gelehrtengeschichte der deutschen Politikwissenschaft wird allerdings kaum die Einzelbiographien erfassen können, die im Verlauf der deutschen Universitätsgeschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart Politik gelehrt haben. 11 Vielmehr sollte für die jeweilige Wissenschaftsperiode das kollektive Profil des Lebens- und Berufsweges, des akademischen Werkes und vor allem des praktischen Politikverständnisses der Politikprofessoren, besonders aber ihre Reputation in Universität und Öffentlichkeit herausgearbeitet werden. Die exemplarische Darstellung von Lebensweg und Werk einzelner Gelehrter kann dabei den Wandel des Professorentyps im Fach Politikwissenschaft veranschaulichen.

9

Vgl. die Biographien der ersten und zweiten Generation der westdeutschen Politikwissenschaft: Hans Karl Rupp/Thomas Noetzel (Hrsg.), Macht, Freiheit, Demokratie, Bd. 1, Marburg 1991, Bd. 2, Marburg 1994.

10

Erich Angermann, Robert von Mohl 1799-1875; Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied 1962.

11

Der Lebensweg auch von zahlreichen Politikprofessoren läßt sich den einschlägigen Nachschlagswerken entnehmen: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. durch die Historische Commission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, 56 Bde., Leipzig/Berlin 1875 ff und Neue Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, 16 Bde., Berlin 1953 ff.

28

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

c) Universitätsgeschichte Wissenschaft besteht nicht nur aus Ideen, die von Gelehrten verbreitet und diskutiert werden, sondern hat bedeutsame institutionelle Voraussetzungen in den Organisationen und Strukturen von Lehre und Forschung. Wissenschaftsgeschichte ist infolgedessen zu einem wichtigen Teil auch Institutionsund Organisationsgeschichte, vorzugsweise Universitätsgeschichte. Die Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland ist daher eingebettet in die allgemeine Universitätsgeschichte, in die Entwicklung der akademischen Lehre und Forschung an den einzelnen Hochschulen.12 Nur im Gesamtzusammenhang der Universitätsgeschichte werden die wechselhaften Konjunkturen der Politikwissenschaft als akademischer Disziplin offensichtlich und erklärbar. Für die organisatorische, aber auch inhaltliche Entwicklung des Faches Politikwissenschaft an den Universitäten ist von zentraler Bedeutung, in welcher Fakultät es verankert wurde. Drei Alternativen haben sich historisch herausgestellt, um schon ein Ergebnis dieser Darstellung vonwegzunehmen: erstens die Zuordnung zur Philosophischen Fakultät bzw. zur Artistenfakultät als deren mittelalterlichen Vorgängerin; zweitens die Gründung von eigenständigen Fakultäten, meist unter dem Etikett von Staatswirtschaftlichen Fakultäten, vergleichbar den heutigen Sozialwissenschaftlichen Fakultäten; und drittens die Eingliederung in Rechts- und Staatswirtschaftliche, in jüngster Zeit auch Rechts- und Sozialwissenschaftliche Fakultäten. Diese unterschiedliche Fakultätenzuordnung der Politikwissenschaft hatte entscheidende Konsequenzen nicht nur für den Studiengang, das Prüfungswesen und das Berufsprofil der Studenten, sondern auch das inhaltliche Lehr- und Forschungsprofil der Hochschullehrer des Faches. 13 Die unterschiedliche inhaltliche Ausrichtung der Politikprofessoren schlug sich vor allem in der verschiedenartigen Bezeichnung der Lehrstühle als der kleinsten organisatorischen Einheiten der Universitäten nieder. Die Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland ist wesentlich auch eine Geschichte der Benennung und Besetzung ihrer Lehrstühle. Die beginnt schon mit den

12

Aus der Vielzahl der Gesamtdarstellungen zur Universitätsgeschichte sei eine Überblicksdarstellung und ein am Beginn stehendes Großunternehmen zur europäischen Universitätsgeschichte genannt: Rainer A. Müller, Geschichte der Universität: Von der mittelalterlichen Universitas zur deutschen Hochschule, München 1990 und Walter Ruegg (Hrsg.), Geschichte der Universität in Europa, Bd. 1: Mittelalter, München 1993.

13

Diese Zusammenhänge habe ich exemplarisch für das 18. und 19. Jahrhundert illustriert: Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung zum höheren allgemeinen Verwaltungsdienst in Deutschland, Berlin 1972.

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte

29

unterschiedlichen Bezeichnungen für das Fach, die von spätmittelalterlichen "professiones ethices vel politices" bis hin zu heutigen Professuren für Politologie oder Politikwissenschaft reichen und deren ideengeschichtliche Bedeutung schon erwähnt worden ist. In der Vergangenheit ist "Politik" allerdings in der Regel nicht das einzige Lehrgebiet eines Lehrstuhls gewesen, sondern mit vielfältigen und wechselnden zweiten, oft sogar dritten Fächern wie Ökonomik, Policey (Verwaltungslehre), Geschichte und Staatsrecht verbunden gewesen. Auch bei der Wiedergründung des Faches nach 1945 sind Doppelfächerbezeichnungen häufig gewesen und erst in den 60er Jahren in seiner Expansionsphase weitgehend weggefallen. Seit den 70er Jahren haben sich im Zuge der Ausdifferenzierung der Politikwissenschaft für die Lehrstühle Spezialbezeichnungen wie Politische Theorie, Politische Systeme, Vergleichende Politik, Internationale Politik und dergleichen durchgesetzt. So ist ein wesentliches Element der Geschichte der Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten die Erstellung von Stammbäumen ihrer Lehrstühle, wobei es sowohl um ihre Bezeichnungen als auch um ihre personellen Besetzungen geht. Doch auch die Zahl der politikwissenschaftlichen Lehrstühle ist von Interesse, nicht zuletzt in Relation zu den Nachbardisziplinen. Zu den Bereichen, in denen sich die Organisationsgeschichte mit der Ideengeschichte des Faches trifft, gehören auch die Studiengänge und Prüfungen. In der Entwicklung der Studiengänge schlägt sich nicht nur das wandelnde inhaltliche Selbstverständnis von Politikwissenschaft nieder, sondern mit der Berücksichtigung des Stoffes von Nachbardisziplinen auch das Verhältnis zu diesen. Das Studium wird durch Prüfungen abgeschlossen, doch orientierten sich deren Inhalte und Strukturen immer stärker am künftigen Beruf als am vergangenen Studium des Prüflings. Die Prüfungen verweisen damit schon auf den nächsten, den sozialgeschichtlichen Aspekt der Wissenschaftsgeschichte des Faches. In der institutionellen Verankerung der Politikwissenschaft in Fakultäten, Lehrstühlen und Studiengängen spiegelt sich vor allem das Verhältnis des Faches zu seinen Nachbarfächem wider. Die Geschichte der Politikwissenschaft ist, wie die jedes anderen Faches, wesentlich eine Geschichte ihres Verhältnisses zu den anderen Wissenschaftszweigen, eine Geschichte der Disziplinbeziehungen. 14 Diese sind von Kooperation und Konkurrenz, von Erben und Beerbtwerden gekennzeichnet. Die Lehre von der Politik entwickelte sich im Mittelalter aus der Praktischen Philosophie, doch im 19. Jahrhundert ging sie in Disziplinen wie der Neueren Geschichte, der Volkswirtschafts14

Vgl. die Hinweise bei Wolf Lepenies, Wissenschaftsgeschichte und Disziplingeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 4 (1978), S. 437-451.

30

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

lehre und dem öffentlichen Recht auf, bevor sie durch personelle und inhaltliche Starthilfen dieser Disziplinen in der Bundesrepublik Deutschland wieder neu ans Licht der Welt trat. So läßt sich durch den organisationsgeschichtlichen Ansatz mit seinem Schwergewicht auf Fakultätenverankerungen, Lehrstuhlbezeichnungen und Studienplänen, die Stellung der Politikwissenschaft im Kosmos der Universität und ihrer Fächer zu bestimmen.

d) Sozialgeschichte Universitäten sind nicht nur wissenschaftliche Denkfabriken und institutionell-verwaltungsmäßige

Organisationen,

sondern auch komplexe

gesell-

schaftliche Einheiten. Wissenschaftsgeschichte ist daher notwendigerweise auch Sozialgeschichte, indem sie die historische Ausprägung und den geschichtlichen Wandel der sozialen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Hochschulen und Forschungsinstitutionen untersucht.15 Eine sozialgeschichtliche Darstellung der Geschichte der Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten beinhaltet zunächst einmal ein soziologisches Profil der Studenten16 dieses Faches. Ganz allgemein wird zu fragen sein, welchen zahlenmäßigen Zulauf das Fach im Verlauf der Geschichte gefunden hat, auch in Relation zur Entwicklung der allgemeinen Studentenfrequenzen. Während die soziale Herkunft der Politikstudenten für alle Perioden der Disziplingeschichte von Interesse ist, wird ihre Rekrutierung nach Geschlechtern erst für die jüngsten Jahrzehnte relevant, weil sich das Studium von Frauen an deutschen Universitäten erst im 20. Jahrhundert durchgesetzt hat. Im Anschluß an die ideen- und organisationsgeschichtlichen Aspekte der Disziplinbeziehungen wird vor allem zu fragen sein, ob Studenten die Politik im Haupt- oder Nebenfach studierten, und welche Prüfungsabschlüsse sowie zukünftigen Berufe sie mit ihrem Studium anstrebten. Dabei kommen zwei grundsätzliche historische Alternativen infrage: Entweder war das Politikstudium Teil eines allgemeinbildenden Studiums, gehörte dem "Studium generale" an, oder führte zu spezifischen Berufen, vor allem in der höheren Verwaltung, im Lehramt und in der Politikberatung sowie dem Journalismus. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Berufserfolg oder noch allgemeiner nach dem gesellschaftlichen Prestige, welches die Studenten nach dem Abschluß ihres Politikstudiums erringen konnten. Die Entwicklung 15

Vgl. insbesondere Hans Jürgen Prahl, Sozialgeschichte des Hochschulwesens, Mönchen 1977.

16

Vgl. Konrad Jarausch, Deutsche Studenten 1800-1970, Frankfurt am Main 1984.

Aspekte

der Wissenschaftsgeschichte

31

der Politikwissenschaft ist daher auch wesentlich geprägt durch ihre Professionalisierungsgeschichte. Doch schon an dieser Stelle muß vor dem zeitgenössischen Irrtum gewarnt werden, daß das Heil von akademischen Fächern notwendigerweise in der Zuschreibung eigenständiger enger Berufsbilder liegt. Mindestens ebenso wichtig für die schwankenden Konjunkturen des Faches Politikwissenschaft war seine Berücksichtigung in den breiter angelegten Bildungsgängen wie z.B. der Verwaltungsbeamten und der Lehrer. Aus den Absolventen des politikwissenschaftlichen Studiums gehen in aller Regel auch seine künftigen Hochschullehrer hervor, von Ausnahmesituationen wie den Zeiten der Neu- oder Wiedergründung der Disziplin abgesehen. Der zweite sozialgeschichtliche Aspekt der Geschichte der Politikwissenschaft betrifft daher die Soziologie seiner Hochschullehrer und berührt damit auch die schon erwähnte Gelehrtengeschichte.17 Für das Verständnis der Konjunkturen des Faches im Verlauf der Geschichte sind Hinweise auf die Herkunft und Motivation seiner Professoren, ihre Einkommen sowie ihre Karrieren und wiederum die allgemeine Frage nach ihrem akademischen und gesellschaftlichen Prestige von Belang. Pointiert muß in der Sozialgeschichte der akademischen Lehre von der Politik gefragt werden: Warum und wie fanden Politikprofessoren zu ihrem Beruf? Aus sozialgeschichtlicher Perspektive sind auch die informellen Kontakte und formalen Zusammenschlüsse von Hochschullehren der Politik von Interesse. Fachverbände der Politikwissenschaft gibt es in Deutschland erst seit der Wiedergründung der Disziplin nach dem Zweiten Weltkrieg, während in den USA die American Political Science Association bald schon auf eine hundertjährige Existenz zurückblicken kann.18 Aber auch für Deutschland kann ein informelles Netzwerk von nicht nur akademischen, sondern auch gesellschaftlichen Kontakten zwischen Hochschullehrern der Politik als Vorausetzung einer "academic Community" schon für frühere Zeiten, z.B. für die Vormärzzeit des 19. Jahrhunderts, konstatiert werden. Die Antworten auf diesen Kanon von sozialgeschichtlichen Fragen an die Studierenden und Lehrenden der Politikwissenschaft dürfen sich nicht auf das Fach im engeren Sinne beschränken, sondern erhalten ihre Aussagekraft erst durch einen vergleichenden Blick auf die konkurrierenden Fächer. Auch der gesellschaftliche Aspekt der Geschichte der Politikwissenschaft bettet sich in 17

Grundlegend für die Soziologie und Sozialgeschichte der Hochschullehrer sind je Studien zur Lage der deutschen Hochschullehrer, die in den 50er Jahren von Helmuth Plessner angeregt worden sind: Helmuth Plessner (Hrsg.), Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer, Göttingen 1956

18

Vgl. die Hinweise in: Albert Somit / Joseph Tanenhaus, The Development of American Political Science. From Burgess to Behavioralism, New York 1967, 2. Aufl. 1982.

32

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschan

die generelle Entwicklung der Universitäten ein und kann nur von der allgemeinen Sozialgeschichte der deutschen Hochschulen her erschlossen werden. Eine zu eng angelegte Disziplingeschichte läuft immer Gefahr, Tatbestände und Zusammenhänge für fachspezifisch auszugeben, die in Wirklichkeit auch für andere Fächer typisch sind. Die Untersuchung jedes einzelnen Gegenstandes, auch der Geschichte eines akademischen Faches, bedarf immer der vergleichenden Dimension, auch wenn diese in der Darstellung nicht ausgeführt wird. Nur so läßt sich das Fachspezifische vom Fachübergreifenden, das Besondere vom Allgemeinen unterscheiden.

e) Politikgeschichte Zu den charakteristischen Merkmalen der Politikwissenschaft gehört ihr besonders enges Verhältnis zur Politik. Heute wird kaum mehr bestritten, daß Wissenschaften mehr oder minder von der politischen Entwicklung abhängig sind. Doch ohne Frage wird die Politikwissenschaft durch ihren Gegenstand stärker als andere Fächer von den politischen Rahmenbedingungen beeinflußt. Die wechselseitige Bedingtheit von Politikwissenschaft und Politik wirft zahlreiche Fragestellungen auf. Zum einen ist nach den Einwirkungen der realen Politik auf die Wissenschaft von der Politik zu fragen. Wie lassen politische Systeme die Politikwissenschaft zu und inwieweit machen sie ihr inhaltliche sowie strukturelle Vorgaben? Welche Funktionen weisen Regierungen der Erforschung und Lehre der Politik zu? Wie fördern sie die Entwicklung dieser Disziplin oder suchen sie zu behindern? In diesem Zusammenhang sind nicht nur negative Sanktionen der Politik gegenüber der Politikwissenschaft in Gestalt von Lehrstuhlumwidmungen, politisch motivierten Berufungen und Berufsverboten zu erwähnen, sondern auch positive Sanktionen wie die unterschiedlichen Formen der Wissenschaftsförderung zu berücksichtigen. Zum anderen versuchen auch Politikwissenschaftler auf vielfältige Weise die politischen Entscheidungsinstanzen zu beeinflussen, sei es direkt durch Politikberatung oder Übernahme politischer Ämter oder indirekt durch politische Bildung und politischen Journalismus. Die zentrale Frage an das Verhältnis von Politik und Politikwissenschaft lautet aber, ob dieses Fach sich prinzipiell in jedem politischen System entfalten kann oder nur unter bestimmten politischen Bedingungen floriert. Die Geschichte der Lehre von der Politik an den deutschen Universitäten vom Mittelalter bis in die Gegenwart ermöglicht es gerade mit dem für Deutschland

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte

33

charakteristischen Systemwechsel, diesen Zusammenhang von Politikwissenschaft und politischen Systemen zu überprüfen. Die historische Darstellung der Geschichte der Politikwissenschaft vor dem Hintergrund dieser wechselnden politischen Systeme hat die Funktion eines diachronen Vergleichs, durch welchen der Einfluß eines unabhängigen Faktors - in unserem Fall des politisch-gesellschaftlichen Systems - auf eine abhängige Variable die Entwicklung der Politikwissenschaft - überprüft werden soll. Durch die Einbeziehung der Gechichte der Politikwissenschaft in anderen Ländern wie den USA, Großbritannien und Frankreich, aber auch in der ehemaligen DDR, kommt ein synchroner Vergleich mit anderen Staaten und Nationen hinzu. Seit dem Beginn der älteren Lehre von der Politik an den Universitäten des Mittelalters, die mehr europäische als deutsche Institutionen waren, bis in die Gegenwart der weltweiten Vernetzung der Wissenschaften hat es nie eine abgeschottete nationale Tradition einer deutschen Politikwissenschaft gegeben. Vielmehr ist die Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland stets auch eine Geschichte ihrer vielfältigen internationalen Kommunikations- und Rezeptionsprozesse gewesen. So konnte die Politikwissenschaft in Deutschland bei ihrer Wiedergründung nach dem Zweiten Weltkrieg an die ältere Lehre der Politik anknüpfen, die im 19. Jahrhundert in inhaltlicher wie personeller Hinsicht in die Vereinigten Staaten ausgewandert war und von dort in gewandelter Gestalt durch deutsch-amerikanische Re-Imigranten in die Bundesrepublik Deutschland zurückgebracht wurde. 19 Auch wenn sich dieser Überblick auf die Entwicklung des Faches an den deutschen Universitäten - wozu zeitweise auch Böhmen, Österreich und die Schweiz gehörten - beschränkt, so bilden doch die internationalen Bezüge und Vergleiche den Hintergrund dieser Darstellung. Die politikgeschichtliche Leitfrage der Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland stammt von Carl Joachim Friedrich. Dieser emigrierte schon vor dem Ende der Weimarer Republik in die USA, war dort zu einem prominenten Political Scientist geworden und leistete nach 1949 bei der Wiedergründung der Disziplin in der Bundesrepublik wesentliche Hilfe. Auf der ersten wissenschaftlichen Tagung der neugegründeten Deutschen Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik am 2. Mai 1952 in Berlin hielt dieser deutschamerikanische

Politikwissenschaftler

das

Einleitungsreferat

über

"Grundsätzliches zur Geschichte der Wissenschaft von der Politik". Friedrich

19

Auf diesen wechselseitigen Kulturtransfers zwischen der deutschen und amerikanischen Politikwissenschaft habe ich hingewiesen in dem Beitrag zur Festschrift für Karl Dietrich Bracher: Wilhelm Bleek, Die Gründung der Wissenschaft von der Politik in den USA, in: Manfred Funke u.a. (Hrsg.), Demokratie und Diktatur, Düsseldorf 1987, S. 521-533.

34

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte der Politikwissenschaft

erinnerte seine Gründungskollegen daran, daß die Wissenschaft von der Politik durch ihre lange ideengeschichtliche Tradition "die älteste und zugleich die jüngste aller Wissenschaften von der Gesellschaft der Menschen" sei. 20 Doch der wichtigste Grundsatz war für Friedrich die Feststellung: "Die Wissenschaft von der Politik kann nur in einem freien Staatswesen gedeihen" 21 . Ein gutes Jahrzehnt nach Carl Joachim Friedrich hat Karl Dietrich Bracher, heute der Nestor der zeitgeschichtlich orientierten Politikwissenschaft in der Bundesrepublik, diesen Gedanken wieder aufgenommen. Bracher postulierte 1965: "Moderne Politische Wissenschaft aber kann heute, das zeigen die Erfahrungen der letzten 50 Jahre, überhaupt nur im Raum des freiheitlichen Rechtsstaates gedeihen, weil nur diese Staats- und Gesellschaftsform eine kritische Analyse ihrer eigenen Elemente zuläßt" 22 . Für die Überprüfung dieser Hypothese von der Unabdingbarkeit eines freien Staatswesens für eine Politikwissenschaft, die ihren Namen verdient, bietet die politische Geschichte Deutschlands reichhaltiges Material. Der für Deutschland charakteristische Systemwechsel zwischen autoritären, diktatorischen und liberal-demokratischen Ordnungen sollte mit den wechselhaften Konjunkturen des Faches in Beziehung gesetzt werden.

f) Synoptische Konzeption der Wissenschaftsgeschichte Heute ist es eine akademische Binsenweisheit, daß Universitäten und Wissenschaften nicht im Elfenbeinturm leben. Sie sind keine autonomen und unpolitischen Institutionen, sondern auf vielfältige Weise in gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen eingebunden. Doch in der Wissenschaftsgeschichte, zumal in der Geschichte der einzelnen Disziplinen, neigt man immer noch dazu, die Entwicklung der Fächer als intellektuellen Selbstläufer zu verstehen. Selbst die Politikwissenschaft und die Politikwissenschaftler sehen die Geschichte ihres Faches mit dem ideengeschichtlichen Ansatz vorzugsweise als Produkt von Forschungsdiskussionen und -erkenntnissen. Auf die gesellschaftlichen und politischen Koordinaten der Politikwissenschaft wird höchstens in programmatischen Erklärungen pau-

20

21 22

Carl Joachim Friedrich, Grundsätzliches zur Geschichte der Wissenschaft, in: Zeitschrift für Politik, NF 1 (1954), S. 325-336, dort S. 352. Ebda. Karl Dietrich Bracher, Wissenschafts- und zeitgeschichtliche Probleme der Politischen Wissenschaft in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie, 17 (1965), S. 447-464, dort S. 450.

Aspekte

der Wissenschaftsgeschichte

35

schal verwiesen, in den Detailuntersuchungen zur Geschichte des Faches spielen sie nur eine sekundäre Rolle, sofern sie überhaupt angesprochen werden. Eine umfassende Disziplingeschichte, die nicht lediglich die intellektuelle Entwicklung beschreiben, sondern die wechselhaften Konjunkturen des Faches erklären will, muß neben der Vielzahl von internen auch die komplexen externen Faktoren der Wissenschaftsgeschichte berücksichtigen. Zu den internen Faktoren der Geschichte der Politikwissenschaft gehören an erster Stelle die ihr eigenen Fragestellungen, Themengebiete und Paradigmenwechsel, aber auch ihr Verhältnis zu den übrigen Fächern, also insgesamt ihr inhaltlicher und institutioneller Standort im Fächerkanon der Universitäten. Gesellschaftliche Erwartungen, die in Gestalt von Prüfungsordnungen und Absolventenperspektiven, aber auch von Arbeitsthemen in Lehre und Forschung der Politikwissenschaft einfließen, bilden bereits den Übergang von internen zu externen Faktoren der Disziplingeschichte. Eine Wissenschaft, die Politik zum Gegenstand hat, steht immer im Lichte des Interesses der Öffentlichkeit, ob sie es will oder nicht. So gehört zu den wesentlichen externen Faktoren der Entwicklung der Politikwissenschaft die gesellschaftliche Rahmenverfassung mit ihren Grundstrukturen öffentlicher Interessenartikulation. Politikwissenschaft als eine Sozialwissenschaft setzt sich mit diesen gesellschaftlichen Bedingungen nicht nur auseinander, wie ihre kritischen Geister immer wieder betonen. Sie agiert gleichzeitig in den gesellschaftlichen Bezügen, wenn sie z.B. über die sozial etablierten Medienkanäle auf die politische Meinungsbildung der Öffentlichkeit Einfluß nimmt oder die Erwartungen des Berufsmarktes an Absolventen in Lehrplänen und Studienprofilen berücksichtigt. Im letztgenannten Aspekt zeigt sich schon die enge Verknüpfung der gesellschaftlichen mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Faches. Zwar steht die Ökonomie im Mittelpunkt von Nachbardisziplinen der Politikwissenschaft wie der Volkswirtschaftslehre, doch die Aufgaben des Staates bei der Gestaltung und Steuerung der Wirtschaftsordnung sind seit jeher ein zentraler und legitimer Gegenstand der Lehre und Forschung von der Politik. Die Staatsaufgaben bestimmen nicht nur die Inhalte der Bemühungen der Disziplin, sondern ihre Konstellation ist auch ein wesentlicher Faktor der Entwicklung des Faches. In einer Ordnung, die auf der weitgehenden Autonomie von Gesellschaft und Wirtschaft beruht, wird Politikwissenschaft notwendigerweise eine eingeschränktere Rolle spielen als in einer politischen Konstellation, in welcher der Staat stärker die Gesellschaft mitgestaltet und die Wirtschaft direkt oder indirekt lenkt.

36

Kapitel I: Zur Wissenschaftsgeschichte

der

Politikwissenschaft

Der wichtigste externe Faktor der Geschichte der Politikwissenschaft ist somit der Staat im historischen Wandel seiner Realverfassungen. Struktur und Prozesse der politischen Herrschaft stehen nicht nur im Mittelpunkt von Lehre und Forschung, sondern setzen auch den Rahmen für die Entfaltungsund Wirkungsmöglichkeiten der Politikwissenschaft. Während in Diktaturen kein offizieller Raum für eine Wissenschaft von der Politik gewährt wird und ihr in autoritären Systemen höchstens eine beratende und propagandistische Funktion zugesprochen wird, kann die Politikwissenschaft in freiheitlichen Demokratien auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung Einfluß nehmen und auch die Politik der Regierenden einer kritischen Analyse unterziehen. Sicherlich hat die Politikwissenschaft entgegen den überzogenen Ansprüchen mancher kritischer Politologen und den Unterstellungen einiger konservativer Kritiker nie eine systemverändernde Funktion gehabt, doch freiheitlichpluralistische Systeme gewähren ihr einen Spielraum, der über Detailkritik zur Systemreformierung führen kann. Diese Interaktion von politischem System und Politikwissenschaft gilt es nicht nur pauschal zu behaupten, sondern in ihrem historischen Wandel an einzelnen Epochen aufzuzeigen. Eine synoptische Sicht der Wissenschaftsgeschichte, auch derjenigen der Politikwissenschaft, ist vor allem durch den Ansatz der Wissenssoziologie angeregt worden. Dabei geht es nach Karl Mannheim um die gesellschaftliche Bedingtheit des Denkens und die soziale Gebundenheit des Wissens. Geschichte der Wissenschaft wird diesem wissenssoziologischen Ansatz zufolge nur "verständlich vom totalen besonderen Lebenszusammenhang der dahinterstehenden Gesellschaft" 23 . In der Geschichtsschreibung der deutschen Politikwissenschaft sollten die Hinweise Karl Mannheims auf die Seinsgebundenheit des Denkens und die soziale Genealogie der Denkstandorte als anregender Leitfaden dienen, ohne daß die von ihm konzipierte wissenssoziologische Methode im einzelnen übernommen und angewandt wird. Es sei daran erinnert, daß Mannheim selbst die wissenssoziologische Methode nicht nur am Beispiel des konservativen Denkens vorgeführt hat, sondern auch in seinem Hauptwerk über "Ideologie und Utopie" (1. Aufl. 1929) in einem langen III. Kapitel auf die für die Politikwissenschaft und ihre Geschichte zentrale Frage einging: "Ist Politik als Wissenschaft möglich?" 24 Auch wenn Mannheims Antwort auf seine Fragestellung in der Kapitelüberschrift, daß die gesellschaftlichen Bedingungen der fünf von ihm konzipierten politischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts eine Wissenschaft von der Politik bis-

23

Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt am Main, 3. Aufl. 1952, S. 95.

24

Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, S. 95-167.

Aspekte der Wissenschaftsgeschichte

37

her nicht ermöglicht hätten, wissenschaftsgeschichtlich nicht zu halten ist, so kann doch seine leitende Fragestellung und zugrunde liegende Argumentationsweise auch für heutige Bemühungen um die Geschichte der Politikwissenschaft von großem Nutzen sein. Im Mittelpunkt einer wissenssoziologisch orientierten Wissenschaftsgeschichte steht nach Karl Mannheim die Frage nach dem "Entstehen und Absterben ganzer Wissenschaften". Diese Frage kann nur beantwortet werden, wenn neben der intellektuellen und institutionellen Binnengeschichte des Faches seine universitären, gesellschaftlichen und vor allem politischen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Hinter dem Ansatz eines solchen komplexen und umfassenden Verständnisses der Wissenschaftsgeschichte steht der Versuch, für die Entwicklung der Politikwissenschaft in Deutschland eine Konjunkturtheorie aufzustellen.25

25

Die in diesem Beitrag skizzierten Überlegungen und Ansätze führe ich in einer demnächst im C.H. Beck Vertag erscheinenden Überblicksdarstellung aus: Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 1997.

Kapitel II. Politikwissenschaft in Deutschland.

Hans J. Lietzmann

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklung, Stand und Perspektiven

A. "Landnahme" der "American Political Science" in Westdeutschland? Als in den 50er Jahren in Westdeutschland nach und nach an der Hälfte der Universitäten jeweils eine Professur für Politikwissenschaft installiert wurde, mit finanzieller Hilfe amerikanischer Stiftungen in Heidelberg eine zweite sowie in Berlin weitere zehn, war dies auch ein erster Erfolg der "American Political Science Association" (APSA) und der "International Political Science Association" (IPSA). Nach der Gründung eines Weltverbandes für Politikwissenschaft, der IPSA beschrieb es deren erster Präsident, der Amerikaner Quincy Wright, als eines der vordringlichsten Probleme, das Wissen und den Standard, den die Politikwissenschaft in den USA besitzen, "auf den Rest der Welt" auszuweiten 26 . Dies auch deshalb, um das eigene Renomee, die eigene Existenzberechtigung und eben jene methodischen 27 und normativen28 Standards abzusichern, mit denen sie arbeitete; Bedarf an solcher zusätzlichen Legitimation und Absicherung bestand international, aber auch im amerikanischen Inland.

26

Brief an Roy F. Nichols vom 9.11.1949, zitiert aus dem Quincy-Wright-Nachlaß bei Berndtson 1990, 40.

27

"To utilize so far as possible the objective methods which have developed in the natural science": so das avisierte Programm Quincy Wrights (ebda.). Daß es in dieser Form gerade in Deutschland nicht realisiert wurde, steht auf einem anderen Blatt.

28

Das normative Programm lautete eindeutig: "to build up democracy". Es soll wohl einer Relativierung des Verdachts einer wissenschaftlichen und politischen Kolonialisierung dienen, wenn Huntington (1988, 6) schreibt: "There is not an American science of politics; there is a democratic science of politics, which developed first and fullest in the United States, because the United States was the first and fullest democracy in the modern world" (Hervorhebung im Original, H.J.L.) Restlos überzeugend können Zirkelschlüsse dieser Art kaum wirken.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik

Deutschland

39

Bei dem Aufbau der nationalen Politikwissenschaft in Deutschland verfolgten die Westalliierten dieses ungeschriebene Programm konsequent in Form institutioneller Partnerschaften, Gastprofessuren, Bibliotheksaufbau, Fortbildungen und der Bereitstellung zusätzlicher finanzieller Fonds. 2 9 Und sie hatten damit jenen naheliegenden Erfolg, der - schon organisationssoziologisch gesehen - eintreten muß, wenn eine fest institutionalisierte Profession sich mit Unterstützung der Regierungen vor Ort und mit der Hilfe finanzkräftiger Fonds in ein politikwissenschaftlich naives und jungfräuliches Areal ausweitet: Sie setzte Institutionen, und sie setzte die Maßstäbe; sie besorgte die Ressourcen und verschaffte die Kontakte. Sie bestimmte im Falle Westdeutschlands und der Angewiesenheit der Amerikaner auf inländisches oder reremigriertes Personal freilich nicht die Praxis, vor allem nicht die Lehrpraxis. Daß diese sich, abweichend vom amerikanischen Vorbild, auf die politische Bildung konzentrierte, war dem politischen Programm der deutschen Landesregierungen geschuldet, die eine Stabilisierung des demokratischen Konsenses forcieren wollten; vor allem aber geschah die thematische Konzentration auf die politische Bildung als Konsequenz wiedererstarkender antisemitischer und nationalistischer Krawalle zu Anfang der 60er Jahre. Die Aufstockung der Zahl der Professoren für Politikwissenschaft auf mehr als das Doppelte bis zum Jahr 1965 war Folge der Einrichtung eines Studiums für Sozialkundelehrer. Die Expansion der Politikwissenschaft in Westdeutschland steht deshalb in einem untrennbaren Zusammenhang mit regressiven, antidemokratischen Ausschreitungen in der Zeit ihrer Gründung sowie dem programmatischen, innenpolitisch motivierten Versuch politischer Staatsbürgerbildung zu deren aktiver und prophylaktischer Bekämpfung. 30 Die erste institutionelle Konsolidierung der Politikwissenschaft und ihre vereinheitlichende Konzentration auf die drei Kernbereiche "Politische Theorie/Ideengeschichte", "Innenpolitik" und "Außenpolitik" erfolgt sodann im Zuge dieser politisch bedingten Aufstockung der Professuren anhand einer Denkschrift, die M. Rainer Lepsius für die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) erstellt. Sie nimmt in ihren Ausführungen denn auch wiederholt Bezug auf den genannten zeitlichen, funktionellen und politischen Zusammenhang.Die oft beklagte, allzu normative und allzu

29

Auch die Gründung der "Deutschen Vereinigung für die Wissenschaft von der Politik", der spateren DVPW, wurde beschleunigt und wesentlich bestimmt durch die ihr zugedachte Aufgabe der Verwaltung von Forschungsgeldern, die Arnold Brecht bei der amerikanischen High-Commission aquiriert hatte (Mohr 1988, 165f; Lietzmann 1995). Generell zur Fragestellung vergleiche Cairns 1975, passim und 202.

30

Vgl. Hans Maiers unterschiedliche Schriften zur Durchsetzung der Curricula in den 60er Jahren (z.B. 1962a, 1963).

40

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

abstrakte inhaltliche Ausprägung der frühen Politikwissenschaft hat hier eine ihrer Wurzeln.

B. Normative Belehrung und Traditionsverlust Das "wissenschaftliche Belehrungspathos" (Beyme 1986, 22) der ersten, noch sehr übers Land verstreuten Generation der deutschen Politikwissenschaftler war auch eine Reaktion auf die ihnen abverlangte funktionale Praxis. Das Verständnis der Politikwissenschaft als "Demokratiewissenschaft" war ihr deshalb nicht von vorneherein eingepflanzt; vielmehr wurde der Begriff der Demokratiewissenschaft noch von M. Rainer Lepsius im Jahre 1961 als Abwertung, als Motto einer "Konformitätslehre" abgrenzend benutzt (Lepsius 1961, 22). In dem pathetisch-normativen Gesamtverständnis der Politikwissenschaft lag vielmehr der Versuch, einen (in Ansätzen wissenschaftlichen) Begriff zu bilden von der Gesamtstruktur einer selbst doch erst im Entstehen begriffenen demokratischen Gesellschaft; es war der Versuch, daß normative Idealbild der westlichen Demokratie als noch unverwirklichte Realität zu formulieren und dieses Idealbild als Motto einer weiteren akademischen Ausbildung zu unterlegen. Es ging um die Formulierung eines Bildungsideals, weniger um die Formulierung einer Handlungsanleitung. Ganz falsch wäre es allerdings, in diesem Zusammenhang von einer amerikanischen Strategie der Reeducation zu sprechen. Denn die Dominanz der ersten deutschen Generation von Hochschullehrern innerhalb der von den Allliierten geschaffenen institutionellen Strukturen ist unübersehbar. Es kam in ihrer Folge daher zu einer ganz außerordentlich deutschen Form der "Amerikanisierung" der deutschen Sozialwissenschaften31. In einem methodisch mal mehr ökonomischen, mal mehr historischen, mal mehr staatsrechtlichen Zugriff waren die Ergebnisse dieser neugegründeten Politikwissenschaft von hoher Abstraktion und unerhörter Idealisierung geprägt. Sie standen daher auch in einer heimlichen Opposition zum damals in den USA dominanten Behaviorismus. Die Success-Story der Politikwissenschaft und ihrer Festlegung auf die politische Bildung ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Ein Perspektivwechsel läßt auch die Gegenseite deutlich hervortreten: Es ist der westdeutschen 31

Zu der Tatsache, daß es in der Nachkriegszeit vor allem in den westeuropäischen Wissenschaftsgemeinschaften zu einer Vielzahl unterschiedlichster "Amerikanisierungen" kam vgl. Berndtson 1994 m.w.N.. Die deutsche Variante ist von Galtung polemisch, aber treffend, als "teutonisch" beschrieben worden: theoriebesessen, problemarm und wissenschaftlich wie politisch folgenlos (Galtung 1983)

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

41

Politikwissenschaft niemals und von allem Anfang an nicht gelungen, ihren Anspruch auf eine Mitwirkung bei der Ausbildung des deutschen Verwaltungsapparates grundlegend zu sichern. Anders als in anderen Ländern ist die Ausbildung der Mitglieder der Exekutive, des Beamtenapparates und des höheren öffentlichen Dienstes für die politikwissenschaftliche Lehre immer nur ausnahmsweise und auf Umwegen zugänglich gewesen. Die juristischen und die volkswirtschaftlichen Fakultäten, die diese Ausbildung hauptsächlich betrieben, waren vielmehr von Anbeginn die Hauptkontrahenten bei der Durchsetzung politikwissenschaftlicher Lehre überhaupt (Mohr 1988). Und sie haben sich in diesem Punkt durchgesetzt. Ein Blick auf das Ausbildungspersonal läßt dabei auch ganz vordergründig das politische Schisma der wissenschaftlichen Ausbilder deutlich werden: Waren in der Politikwissenschaft32 (bis auf allerwenigste Ausnahmen) zwar aus heutiger Sicht meist konservative, aber zumindest in letzter Konsequenz mit dem Nationalsozialismus in Konflikt geratene 33 die neuen Lehrstuhlinhaber, so gelangten von den zahlreichen Juristen, die im Nationalsozialismus eine Professur innegehabt hatten, insgesamt nur drei nicht wieder (und von ihnen nur einer gegen seinen Willen nicht: Carl Schmitt) auf einen juristischen Lehrstuhl. Die Aufrechterhaltung des Juristenprivileges34 für den Zugang zum öffentlichen Dienst ist somit im negativen Sinn entscheidend mitverantwortlich für die Festlegung der Politikwissenschaft auf die politische Bildung. Denn das zweite wichtige Ausbildungsfeld blieb der deutschen politikwissenschaftlichen Profession strikt verschlossen. Die politische Bildung nur der Staats-Bürger, aber nicht die politikwissenschaftliche Ausbildung der Regierenden, der Staats-'Verwaltung, als Ziel akademischer Lehre ist dabei - auch europaweit und in der westlichen Welt - bekanntlicherweise durchaus nicht die Regel: gerade die Politikwissenschaft hat in manchen, von politischen Umbrüchen geprägten Ländern die Aufgabe übernommen, die neuen Eliten herauszubilden und zu schulen. Und die Fernhaltung der Politikwissenschaft von der Ausbildung der Verwaltungseliten folgt auch keineswegs notwendig aus der sonst vielfach und laut beklagten "Amerikanisierung" der frühen westdeutschen

32

Über die Person Wilhelm Röpkes ließe sich wohl diskutieren; er hatte allerdings auch keine Professur inne.

33

Nicht alle haben den Konflikt selbst gesucht und angezettelt; und manche von ihnen hatten mit dem Nationalsozialismus möglicherweise gerne länger kooperiert als dieser es ihnen gestattete: Vgl. zum "Fall Arnold Bergsträsser", Krohn 1986, Schmidt 1996; zur Gesamtproblematik: Eisfeld 1991.

34

Vgl. Bleek 1972.

42

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

Profession35. Die Rezeption der amerikanischen Political Science war, behutsam ausgedrückt, in Deutschland vielmehr hoch selektiv36, und die Deutschen wandelten das amerikanische Modell eine politikberatenden Ordnungsund Gesellschaftslehre im Zuge des Transformationsprozesses signifikant ab 37 . Dies, obwohl Karl Loewenstein und auch Arnold Brecht, beide im juristischen Stab der Weimarer Republik aufgewachsen, die Beteiligung an der Ausbildung der verwaltungspolitischen Elite in Westdeutschland engagiert und nachdrücklich zu fördern suchten; in deutlicher Opposition gegenüber einer Beschränkung auf eine als defizitär empfundenen normativen Demokratieschulung. Auch noch M. Rainer Lepsius' Versuch, in der Denkschrift der DFG, die Tür in Richtung des öffentlichen Dienstes offenzuhalten, und seine ausdrückliche Hervorhebung, daß alleine der "Aspekt der staatsbürgerlichen Erziehung .... der Entfaltung der politischen Wissenschaft in Deutschland .... keine ausreichende Grundlage" bieten werde, konnte keine Änderung bewirken. Der Hinweis, daß der Zugang zu den Schlüsselfunktionen in Verwaltung und Politik durch das Juristenprivileg wirksam verbarrikadiert worden sei (Lepsius 1961, 87, 105f), beschrieb auf diese Weise treffend die schlechte Realität, obwohl er als Aufforderung zu ihrer Veränderung gemeint war. Dieser ausdrücklich politische Konflikt bei der Verteilung der Ausbildungsressourcen in der neugegründeten Bundesrepublik, im Zuge dessen die deutsche Politikwissenschaft auf dem zwar wichtigen, aber doch bewußt beschränkten Gebiet der politischen Bildung "eingebunkert" wurde, hatte deshalb die Strukturen und die inhaltlichen Beschränkungen der deutschen Politikwissenschaft, eine Einengung ihrer Orientierung, mitbewirkt. So erklärt sich auch die Tatsache, daß die Anknüpfung an die amerikanische "Political

35

Man vergleiche die konservative Kritik dieser "Amerikanisierung" durch Arndt (1978) mit der von Kastendiek (1977); wahrend jener hervorhebt, den deutschen "Besiegten" sei die ihnen eigentümliche Politikwissenschaft vorenthalten worden, rügt dieser von links die Einvernahme der deutschen Politikwissenschaft durch die Alliierten und ihre Reduzierung auf Reeducation. In der These der Überfremdung und Instrumentalisierung durch fremde Interessen berühren sich beide Argumentationen mehr als ihnen zunächst klar gewesen sein dürfte. Vgl. auch Plö 1990.

36

Political science communities tend to import only some chosen theories and approaches from other countries. There are many different kinds of "Americanized" political science communities in the world." Berndtson (1990, 46) und auch Easton/ Gunnell/ Stein (1995, Iff) heben die je nach Regime unterschiedliche Rezeptionspraxis hervor. Das Hervorbringen so ganz unterschiedlicher "Nachahmungen", d.h. die offensichtliche Instrumentalisierbarkeit ihrer "messages" scheint der amerikanischen Politikwissenschaft in letzter Zeit vermehrt Nachdenklichkeit - und manchmal böse Träume - zu bereiten (Vgl. Easton/ Gunnell/ Stein 1995 passim)

37

Für die, in manchen Punkten vergleichbare, amerikanisch-finnische Transformation vergleiche Kanerva/Palonen 1987.

Politikwissenschaft

in der Bundesrepublik

Deutschland

43

Science" jener Zeit, die sehr praktisch, wenn auch behavioristisch, orientiert war, äußerst marginal blieb. Aus dem gleichen Grund einer Abkoppelung von der politischen Verwaltungspraxis erklärt sich darüber freilich auch, warum auch alle Anknüpfungen an die deutsche Tradition einer "Wissenschaft von der Politik", die schließlich bereits an der Wiege der amerikanischen "Political Science" gestanden hatte (Bleek 1986), unterblieben. In ihrer Zeit einflußreiche Vertreter politikwissenschaftlicher Paradigmen wie Johannes Althusius, Lorenz v. Stein, Dahlmann u.v.a. wurden nach 1945 ebensowenig rezipiert wie die gesamte, aus dem 18. und 19. Jahrhundert herüberreichende Tradition der "Politik", d.h. der "Staats", "Kamerai-" oder "Polizey-" Wissenschaften, obwohl sich diese Tradition bis in die Weimarer Republik hatte durchhalten können 3 8 . Alle diese Traditionen, so zeitgemäß autoritär und nur eingeschränkt demokratisch wie sie natürlich waren, gründeten auf einem handlungsanleitenden Kern; sie alle richteten sich auf politisch gestaltende Praxis. Sie hätten bei demokratischer Fortentwicklung und Anknüpfung dienlich, vielleicht in Maßen traditionsbildend sein können. Und dies vor allem bei der Ausbildung des Verwaltungspersonals der neuen Bundesrepublik. Einer normativen politischen Bildung zu mehr Demokratiebewußtsein und Pluralismus steckten sie dagegen quer im Hals; ihr hätten sie lediglich als Ergänzung dienen können. Ihrer NichtWiederaufnahme liegen deshalb durchaus strukturelle Gründe der Lehrpraxis der Politikwissenschaft in der frühen Bundesrepublik zugrunde. Strukturelle Gründe, die vor allem in der fortgesetzten, politisch bestimmten Dominanz des Juristenprivilegs zu finden sind, - strukturelle Gründe, die also mit einer vorgeblichen Amerikanisierung der Politikwissenschaft nur ausgesprochen am Rande zu tun haben. 3 9 All dies ist angesprochen, wenn Wilhelm Hennis in konservativem Bedauern beklagt, die deutsche Politikwissenschaft habe sich unfähig erwiesen, mit 38

Noch 1919 führte diese Tradition z u dem Ersuchen der preußischen Landesversammlung, an jeder Hochschule Lehrstühle oder Lehraufträge für Politik einzurichten (Beschluß vom 12.12.1919). Zum Problem einer (verpassten) Anknüpfung an deutsche Traditionen: Maier 1962b, 1966 und in diesem Band; daß bei der Reminiszenz hieran auch ein nationalstolzes Element mitschwingt, erweist sich selbst bei Karl Loewenstein 1965. Zur Tradition der Politikbegriffe vgl. Kari Palonen 1985.

39

Auch die "Weimar-Abhängigkeit", die Günther (1985, 1986) bei den westdeutschen Gründervätern der Politikwissenschaft (im Kern zu recht) im Sinne einer not-up-to-dateOrientierung konstatiert, drückt nur die halbe Wahrheit aus. Denn diese "Weimar" Orientierung ist zwar in ihren Referenzpunkten fraglos überholt; sie ist aber nicht wahllos oder gar umfassend traditional. Sie ist vielmehr in ihrem Traditionalismus durchaus selektiv orientiert auf die antlplebiszitären, eingeschränkt demokratischen Traditionen der Weimarer Staatswissenschaft. Dies gilt cum grano salis z.T. selbst für die eher in sozialdemokratischer Linie stehenden Fachvertreter wie z.B. Ernst Fraenkel, Otto Suhr u.a.

44

Kapitel II: Politikwissenschall

in

Deutschland

dem wertvollen Schatz ihrer eigenen Wissenschaftsgeschichte angemessen umzugehen; man muß die darin enthaltene Wertung nicht teilen, um feststellen zu können, daß der Sachverhalt korrekt umrissen ist. Hinzuzufügen wäre allerdings: Die westdeutsche Politikwissenschaft hätte die Wiederholung und Erneuerung dieser staatswissenschaftlich geprägten Traditionen nur gegen den Widerstand gleich zweier ganz unterschiedlicher, aber nicht zu unterschätzender Partner durchsetzen können: gegen die sozialwissenschaftlich und behavioristisch orientierten Exponenten der amerikanischen "Political Science" und gegen die konservativen Vertreter der deutschen Juristenschaft und ihrer Fakultäten.

C. Die Phase der "Professionalisierung" (1970-1985) 1. Politikwissenschaft in "funktional-pragmatischer" Absicht Es gehört zur Ironie der Professionsgeschichte, daß die deutsche Politikwissenschaft, lange als amerikanische und auf Reeducation getrimmte Politisierung der Wissenschaft geschmäht, dann, als sie schließlich daran ging, amerikanische Politikwissenschaft wirklich aktiv zu rezipieren, mit diesem Vonwurf nicht mehr konfrontiert wurde. 40 Im Zuge dessen, was mittlerweile gemeinhin als die "Professionalisierung" der deutschen Politikwissenschaft bezeichnet wird, d.h. vor allem einer zunehmenden Orientierung an der amerikanischen Policy-Forschung, wurden jedenfalls deren amerikanische Wurzeln kaum mehr als Kritik thematisiert. Zunächst waren die auf das Bildungsideal "westlicher Demokratien" orientierten Theoriemuster der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft 41 unter Rechtfertigungsdruck geraten. Mehr als die Jahre zuvor forderte das Abklingen des deutschen "Wirtschaftswunders" eine sich enger an der Realität orientierende Betrachtung der politischen Strukturen. Nötig wurde ein Wandel der kontemplativ-genügsamen Orientierung hin zu einer "aktiv" eingreifenden Gesellschafts- und Politikwissenschaft. Ursächlich war ein Legitimationsverlust, der als grundsätzlicher Einspruch gegen die vorherrschende Politikwissenschaft sowohl von der systemkritischen Linken der späten sechziger Jahre, wie von der sozialdemokratisch und sozialliberal engagierten Reformbewegung konstatiert, formuliert und befördert wurde. 40

So auch Kastendiek 1991, 123; vgl. Rose 1990, 8ff.

41

Günther 1985. Als retrospektiven Rückblick auf diese Generation vgl. Rupp/Noetzel 1991; zur Frage der Generationeneinteilung vgl. Rupp/Noetzel in diesem Band.

Politikwissenschall in der Bundesrepublik Deutschland

45

Während die Vertreter einer "kritisch-emanzipativen" Politikwissenschaft an einzelnen Hochschulorten z.T. durchaus einflußreich waren, blieb ihr Einfluß auf den Prozeß der Gesamtprofession doch marginal 4 2 ; die Konjunktur einer marxistisch orientierten oder zumindest grundsätzlich systemkritisch bestimmten Politikwissenschaft nimmt im Rückblick eher den Charakter eines interimistischen Einspruchs gegen den Trend der Gesamtprofession an; der "mainstream der Politikwissenschaft, wie kritisch auch immer mit Einzelproblemen beschäftigt, (stellte) grundsätzlich weder den ... Charakter der bundesrepublikanischen Gesellschaft noch ihr politisches Institutionen- und damit auch Herrschaftsgefüge in Frage" (Greven 1991, 237). Der andere Einspruch gegen die traditionelle westdeutsche Politikwissenschaft wurde erfolgreich von eben jener Gruppe reformorientierter und pragmatischer Forscherinnen geführt, die in Orientierung am amerikanischen Vorbild der Policy-Analyse versuchten, die wissenschaftliche Forschung neu auszurichten und in der praktischen Reformpolitik wirksam werden zu lassen. Über deren Entwicklungs- und Lernprozeß von der Ex-ante-Orientierung einer "Programmforschung" und Planungseuphorie zu einer Ex-post-Orientierung der Implementations- und Evaluationsforschung ist hier nicht in aller Ausführlichkeit zu handeln 43 . Festzuhalten bleibt freilich die grundlegende Umorientierung, die mit dieser Entwicklung gegenüber den Vorjahren eingeleitet wurde. An die Stelle eines zwar nach (an Personen gebundene) "Schulen" oder nach methodischen Ansätzen grob aufgespaltenen, versäulten, aber gerade dadurch übersichtlich strukturierten Feldes der deutschen Politikwissenschaft, trat nunmehr ein vielfach gestaffeltes, ausdifferenziertes und plurales Muster von Politikwissenschaftlerlnnen und der von ihnen bearbeiteten Politikfelder, die den Kontakt untereinander weniger unter dem Gesichtspunkt paradigmatischer Zuordnungen oder Einverständnisse suchten als vielmehr im Sinne der Gemeinsamkeit ihrer Arbeitsfelder und mit Motiven praktischer Kooperation. Diesem Prozeß pragmatischer Diversifikation sowohl der Arbeitsfelder wie der in ihnen beschäftigten Wissenschaftlerinnen kam dabei die von manchen 42

Es ist im Rahmen dieser Übersichtsdarstellung nicht der Platz einer Präzisierung der inhaltlichen Zuschreibungen. Vgl. zu einem differenzierten Verständnis "kritischemanzipatorischer" Politikwissenschaft: Greven 1991, 224 und passim. Dort auch die Darstellung ihres Scheiterns. Vgl. a. Honolka (1986, 47), der auf die geringe Identifikation mit dieser emanzipativen Tradition verweist; ein empirischer Befund der 80er Jahre, der unterschiedliche Interpretationen zuläßt. Sowohl reale Orientierung wie das Bekenntnis zu ihr wurden hier abgefragt!

43

Siehe hierzu Hartwich 1985, insb. die Beiträge von v.Beyme (1985) und Hesse (1985), sowie Schmidt 1995 und Heritiör 1993.

46

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

als Mangel, von anderen als Vorteil gewertete Eigenschaft der PolicyForschung entgegen, sich selbst als weltbildfrei und vorurteilslos darzustellen. Im Gegensatz zu der Gründergeneration und ihrer mit unterschiedlichen Werten unterfütterten, aber dennoch durch gemeinsame Strukturvorstellungen ideel gebundenen Homogenität trat ein pluralistisches Feld von Politikfeldorientierungen, die sich in kaum mehr einig waren als in ihrer prinzipiellen Orientierung auf Pragmatik, auf die Effektivität von Entscheidungsprozessen und auf die Nicht-Normativität der Politikwissenschaft. Parallel zu dieser verstärkten und sich als Entwicklungstrend dominant erweisenden Ausweitung der originären Policy-Forschung als Analyse und Beratung politischer Entscheidungsprozesse stehen dabei ähnliche Entwicklungen in anderen Fachsegmenten der Politikwissenschaft, wie z.B. in der sich entwickelnden Forschung zur "Politischen Kultur", der policy-orientierten Verwaltungsforschung, der sich wandelnden Wahl- und Surveyforschung sowie auch der sich zur "Vergleichenden Policy-Forschung" wandelnden traditionalen "Vergleichenden Regierungslehre". Die insgesamt einsetzende Diversifizierung des Faches wird an diesen Beispielen plastisch. Trotz des Verweises auf den "Pragmatismus" und die "Effektivitätsorientierung" der Policy-Forschung soll hervorgehoben werden, daß die hiermit angesprochenen Untersuchungen keinesfalls von vornherein unkritisch waren; sie können sich vielmehr als wesentliches Verdienst eine Erhöhung der Transparenz und des Verständnisses von Entscheidungsprozessen in modernen Gesellschaften zugute halten. Daß sie darüber hinaus eine wesentliche Steigerung der Wirklichkeitsorientierung der Politikwissenschaft im Vergleich mit den ideell geprägten Modellen der Gründerväter darstellten, ist sowieso offensichtlich. Ob und wieweit freilich an die Stelle "stilisierter Positivbilder" westlicher Demokratien der Gründerväter eine rundum pragmatische Sicht auf die "Realbilder" westlicher Industriegesellschafter getreten ist, wie Günther das in seiner zuspitzenden Analyse formuliert (1985, 132), erfordert eine genauere Untersuchung. Denn zumindest überraschend wäre es, wenn eine Sozialwissenschaft der Gegenwart tatsächlich ohne idolgeprägte Weltbilder auskäme; dies gälte erst recht dann, wenn sie behauptete, in "funktional-pragmatischer" oder in "praktisch-kritischer" Absicht betrieben zu sein. 44

44

Auch neuere politikwissenschaftliche Einführungstexte versuchen an diesem Selbstbild einer aufs machbare orientierten Politikwissenschaft festzuhalten, wie Ernst (1994, 125f) in seiner Überblicksdarstellung deutlich macht. Die Ablehnung von "Dogmatismus" und die Selbstkennzeichnung als "funktional-pragmatische" Politikwissenschaft scheint dabei zum zeitgemäßen Stereotyp zu werden.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik

Deutschland

47

Zunächst wurde dieser Gesamtprozeß der deutschen Politikwissenschaft als Verlust der Übersichtlichkeit, auch der inneren Kohärenz und Übereinstimmung über den Gegenstand der Disziplin betrachtet, - bis hin zur Sorge um einen Zerfall der Politologie als Wissenschaft überhaupt45. Auch die Abspaltung der "Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft" von der "Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft" im Jahr 1983 ist in diesem Zusammenhang als konservativer, standespolitischer Versuch zu interpretieren, verloren gegangene Homogenität und die Einheitlichkeit der Paradigmen qua "institution-building" wiederherzustellen. Daß sich die Auseinandersetzung in dieser Frage außerhalb dieser institutionellen Versuche freilich nicht in ein schlichtes Fortschritt-Konservativismus-Schema pressen läßt, verdeutlicht die Zusammensetzung der sich in der Diskussion herausbildenden heterogenen "Fraktionen" innerhalb der Profession46.

2. Institutionalisierung einer "modernen" Politikwissenschaft Seinen instutionellen Ausdruck fand dieser bis in die 80er Jahre reichende Wandlungsprozeß in der neuen Festschreibung der universitären Grundlagen der Politikwissenschaft: in den, die Lepsius-Festschrift von 1961 ablösenden, "Empfehlungen der Studienreformkommission" der Kulturministerkonferenz für das Fach Politikwissenschaft im Jahre 1985. Mit einem kritischen Blick auf die Diversifizierung und Segmentierung des Fachs seit Mitte der 70er Jahre wird dort die Hauptaufgabe der Politikwissenschaft als eine stärkere Akzentuierung des "tatsächlich vorhandenen thematischen Kernbereich(s) des Faches" beschrieben (KMK 1986, 36); und dies wird vor allem mit Blick auf den politikwissenschaftlichen Diplomstudiengang hervorgehoben. Zugleich wird aber der "Kernbereich" des Faches von drei auf nunmehr sechs "zentrale Problemfelder" erweitert: "Politische Theorie und Politische Philosophie", "Methoden der Politikwissenschaft", "Das Politische System der Bundesrepublik Deutschland", "Analyse und Vergleich unterschiedlicher Systeme", "Internationale Beziehungen und Außenpolitik" sowie "Politik und Wirtschaft" (KMK 1985, 41f). Der Effekt dieser Festlegung ist deshalb ein doppelter: Indem sie einerseits mit einer Auffächerung der Problembereiche den Anforde-

45

Vgl. mit vielen Belegen: Robert 1990.

46

Der bei Hartwich 1985 dokumentierte Kongreß und sein Diskussionsverlauf verdeutlicht diese den Streit zwischen den traditionellen "Schulen" der deutschen Politikwissenschaft übergreifenden Linien.

48

Kapitel II: Politikwissenschaff in Deutschland

rungen der neueren Entwicklung Rechnung trägt47 und gleichzeitig die verstärkte Konzentration auf diese Erweiterung der "Politikfelder" zur Forderung erhebt, versucht sie das drohende Schisma im Fach zu verhindern. Indem sie einerseits die Aufspaltung der Politikwissenschaft in unterschiedliche, eher unzusammenhängende Forschungsfelder als die Folge eines Prozesses ansah, in dessen Folge die "Erfahrung einer stabilen Demokratie .... die Erfahrung einer instabilen (Weimarer Demokratie verdrängte, HJL) und mit ihr das Motiv, daß zunächst das Fach begünstigt hatte" (KMK 1985, 28), rechtfertigte sie die Neuorientierung moderner Politikwissenschaft auf eher inkrementalistische und pragmatische Fragestellungen; indem sie gleichzeitig anmahnte, es sei an der Zeit, "gerade vor dem Hintergrund der Policy-Forschung die ' aufklärerischen' Traditionen des Fachs wieder stärker zu beleben" und nach einer "Brücke" zu suchen "zwischen Politik und den Prozessen auf den einzelnen Politikfeldern" (KMK 1985, 35), versucht sie im gleichen Moment diesen Entwicklungsprozeß zu verzögern bzw. ihn durch zusätzliche Perspektiven zu ergänzen. Zugleich reagierten die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz auf die sich dramatisch wandelnde Ausbildungsfunktion der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik. Die aussichtslos werdende Berufsperspektive für Lehramtskandidatinnen, hatte zwar nicht zu einem Rückgang der politikwissenschaftlichen Studierenden geführt, wohl aber zu einer rapiden Zunahme der Absolventinnen der Magister- und Diplomstudiengänge (Cordes 1987, 231; Mohr 1995, 37). Diesem Selbstregulierungsprozeß von Seiten der Studierenden, die bei absoluter Marginalisierung des Lehramtsstudiums zugleich von 3.354 (1970) auf 8.364 (1980) und schließlich auf 13.483 (1984/85) zunahmen (Mohr 1986, 67), versuchte man durch eine stärkere Betonung allgemeiner politikwissenschaftlicher Grundlagen im Diplomstudium zu begegnen. Dieses hätte in einer sonst drohenden Spezialisierung auf eingeengte Politikfelder zu einem Desaster bei der Arbeitsplatzsuche der späteren Diplompolitologlnnen führen müssen: "In bezug auf die Ausbildung dürfte heute deutlich sein, daß die Policy-Forschung wegen ihrer unvermeidlichen Spezialisierung kaum studienbestimmend sein kann und darf" (KMK 1986, 34). Diese Intention war jedoch nur teilweise von Erfolg begleitet. Im Zuge des Ausbaus der westdeutschen Hochschullandschaft in den 70er und den anfänglichen 80er Jahren kam es zwar zu einer erheblichen Aufstockung der 47

Dies vor allem durch die Hereinnahme "Methoden" und die ökonomische Komponente in das Wahrnehmungsfeld und kanonisierten Katalog der Disziplin; aber auch durch die Verselbständigung der vergleichenden Politikwissenschaft, die zuvor eher ein Idealbild "westdeutscher Demokratie" durch den Blick auf die idealisierende Beschreibung anderer "westlichen Demokratien" funktional zu ergänzen hatte.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

49

politikwissenschaftlichen Professuren um ca. 3 0 0 % auf 273 Stellen (vgl. Tabelle 1), die deshalb auch in etwa mit der Zunahme der Studierenden mithalten konnte, doch änderte sich durch das neue Ausbildungsprofil, das zu den gesellschaftlichen Reformpolitiken und der politisch-kulturellen Marginalisierung der politikwissenschaftlichen Gründergeneration hinzutrat, notabene das Lehrprofil des Faches: Es war nicht mehr der frühere, pathetisch und normativistisch geprägte Blick auf den politischen Gesamtzusammenhang, der das Verständnis des "Politischen" und der "Politik" bestimmte. An seine Stelle war vielmehr eine divergente Beschäftigung mit segmentierten Fragestellungen einzelner Politikfelder getreten, die in peinlich genauer Rekonstruktion der Entscheidungs- und Implementationsprozesse nur noch einen notdürftigen und eher desinteressierten Blick auf die allgemeinen Fragestellungen des gesellschaftspolitischen Prozesses warfen. Hatte die traditionelle Politikwissenschaft ihre Ausbildungsfunktion darin gesehen, der Mehrzahl ihrer Studierenden, den Lehramtsstudentinnen, einen Gesamteindruck des gesellschaftspolitischen Kontextes zu geben und sie so für die berufliche Praxis in der politischen Bildung zu qualifizieren, trat mit der Umstrukturierung der beruflichen Orientierung der Studierenden auf die Diplom- und Magisterstudiengänge auch eine Neuorientierung der politikwissenschaftlichen Lehrpraxis in Kraft. Selbst wenn sich kein unmittelbarer, kausaler Zusammenhang zwischen diesen zwei Entwicklungssträngen nachweisen ließe, ist ihre sich gegenseitig befördernde und sich gegenseitige legitimierende Wirkung unübersehbar. In einer mittelbaren Kooperation von Lehrenden und Lernenden in der Politikwissenschaft nahm eine Entwicklung ihren Gang, die zu einer hochgradigen Spezialisierung und zu einem Verlust der politischen Orientierung führte; zu einem Verlust des Überblicks über das Panorama des politischen Prozesses 4 8 sowie zum Verlust eines Verständnisses der je spezifischen Eigenart des "Politischen" in seiner Zeit. Daß es im Zuge dieses Entwicklungsprozesses zu einer Anerkennung des politikwissenschaftlichen Diploms (oder gar Magisters) als Zulassung zur Ausbildung in den höheren öffentlichen Dienst hätte kommen können, stand hingegen erst gar nicht ernsthaft zur Debatte. Der zurückgehende Reformeifer der späten 70er Jahre war weder willens, noch in der Lage, solche, den Juristen schrill in den Ohren klingenden, Ansprüche politisch durchzusetzen.

48

Daß hierfür auch eine insgesamt unübersichtlicher werdende gesellschaftliche Realität mitverantwortlich war, soll nicht bestritten werden; als Prozeß eines "aus-den-AugenVerlierens" dieser Realität ist diese Entwicklung in der deutschen Politikwissenschaft aber kaum thematisiert worden.

50

Kapitel II: Politikwissenschaft

in

Deutschland

So hatte die westdeutsche Politikwissenschaft der 80er Jahre zwar ihr Ausbildungsfeld zur Qualifizierung für die politische Bildung durch die Entwicklung des Sozialkundeunterrichtes und den Einstellungsstop für Lehrer weitgehend verloren; auf dem Weg zu einer umfangreicheren Beteiligung an dem Vollzug politischer und verwaltungspraktischer Entscheidungsprozesse war sie jedoch - zumindest in bezug auf die Absolventinnen des politikwissenschaftlichen Studiums - nur unwesentlich vorangekommen.

Sie

wurden

punktuell zu politischer Beratertätigkeit hinzugezogen; sie fanden in der Regel auch eine berufliche Beschäftigung; sie blieben aber weiterhin von dem routinisierten und standardisierten Zugang zu dem Arkanum der politischen Entscheidungsmacht und Herrschaftsausübung ausgeschlossen. Der Verlust eines abstrakten Orientierungswissens wurde nicht durch dessen Modernisierung und Neuformulierung kompensiert, sondern durch eine an der politischen Entscheidüngspraxis der Behörden und politischen Akteure orientierten Politikwissenschaft, von deren Herrschaftsausübung als "bürokratischer Politik" die Absolventen des Studiums in der Regel ausgeschlossen blieben.

D. Konsolidierung und "dynamische Kontinuität" Zwar unter Verlust des Überblicks über die politischen Prozesse in der Gesellschaft, aber doch angereichert mit einem hoch aggregierten Wissen um Abläufe im Detail, um einzelne Subsysteme, um Wahlpräferenzen und differenzierte Wertordnungssysteme, befand sich die deutsche Politikwissenschaft gegen Ende der 80er Jahre in einem Zustand weitgehender Konsolidierung. Der Fachverband, die "Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft", verbuchte einen ständigen Mitgliederzuwachs auch von außerhalb der Hochschulen, und die deutschen Politikwissenschaftlerlnnen stellten eine beachtliche Gruppe im Rahmen der internationalen Politologenvereinigung (IPSA) dar, der auch das internationale Ansehen nicht versagt blieb. Die interne Konsolidierung bildete sich in einer Akzeptanz des genannten methodischen und politikfeldspezifischen Pluralismus eben so ab wie - als Folge dieser Segmentierung - in der Gründung einer ganzen Reihe neuer Zeitschriften und Jahrbücher. Neben die traditionellen Medien der "Politischen Vierteljahresschrift" (PVS), der "Zeitschrift für Politik" (ZfP), der "Zeitschrift für Parlamentsfragen" (ZfParl), des "Leviathan" und der "Neuen Politischen Literatur" (NPL), traten neue Organe, wie die Zeitschrift "Staatswissenschaft und Staatspraxis", die "Jahrbücher für Politik" (1991 bis 1995; jetzt: "Zeitschrift für Politikwissenschaft") oder für "Staats- und Verwaltungswissenschaft" (1987ff),

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

51

für "Politisches Denken" (1991ff) und eine ganze Reihe kleinerer Schriften, wie z.B. das Forschungsjournal "Neue Soziale Bewegungen" (1988ff.), die sich jeweils ihr Reservat in dem neu entstandenen fachlichen Pluralismus sicherten.49 Paradigmatisch war die Politikwissenschaft auf die professionalisierte Analyse einzelner Politikfelder orientiert,und ihr Selbstverständnis ist mit der von Günther (1986, 28) konstatierten "Bonn-Abhängigkeit", der vermeintlichen Konzentration auf die "Realbilder westlicher Industriegesellschaften", treffend beschrieben. Auch dieser weitgehend enthistorisierte Blick auf die Realität, Grundlage einer professionalisierten Diplom- und Magisterausbildung, hatte allerdings seine nomativen Bezüge. So sehr nämlich die Debatte in ordnungspolitischer, wohlfahrtstaatlicher und steuerungspolitischer Hinsicht das sogenannte "Staatsversagen" zum Thema hatte (Mayntz 1987), - und so sehr das Problem einer mangelnden Steuerungsfähigkeit zentraler staatlicher Akteure thematisiert wurde, so sehr wurde doch auch an einem doppelten Ideal festgehalten. So erschien - erstens - die Stabilität des politischen Systems wie seiner Randbedingungen außerhalb jeden Zweifels zu stehen; der Einbruch unvorhergesehener Entwicklungen in die "Normalität" der politischen Prozesse schien weitgehend ausgeschlossen 50 . Die Steuerungsdebatte und ihre Untersuchungen gingen zwar regelmäßig von pluralisierten, neokorporatistischen Akteuren und einer immer komplexer werdenden Umwelt dieser Akteursgruppen oder "policy-Networks" aus, doch gab es keine Verbindung dieser Diskussion mit einer Erörterung allgemeiner Veränderungen der Politik in modernen Gesellschaften; erst recht bestand keinerlei Verzahnung mit dem Fortgang der spärlichen Demokratiedebatte. Die Entscheidungsszenarien innerhalb der Politikfelder schienen insofern ein Leben zu führen außerhalb des politischen Raums und der Zeit. Die zweite - damit zusammenhängende - Prämisse lag in der Grundannahme des "Idealtypus" einer "in' ihren Zielen autonomen und hierarchisch implementierten politischen Steuerung" (Scharpf 1994, 38). Obwohl gerade die Implementationsforschung dies als empirisch eher unwahrscheinlich herausgearbeitet hatte, verband sich mit der Steuerungsforschung implizit oder 49

Die Überlebenschance der einzelnen Veröffentlichungsprojekte wird sich erst noch erweisen; sie hängt ersichtlich mit den Verlagsstrategien der gängigen sowie neuer in die Politikwissenschaft expandierender Verlage zusammen.

50

Mayntz erkennt das Defizit, geht dessen Behebung aber aus dem Weg: "Tatsächlich scheint in der ganzen Diskussion über neue Ansätze gesellschaftlicher Steuerung der methodische Prämat der Problemdiagnose vernachlässigt und immer sehr schnell mit der Spezifizierung von Lösungsansätzen begonnen zu werden." (1987, 90).

52

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

explizit die Vorstellung einer "idealen, (nämlich zugleich gemeinwohlorientierten, wohlinformierten und durchsetzungsfähigen) hierarchischen

Instanz"

(ebda). Da, wo das Ideal von der Realität gesprengt zu werden drohte, - was sowohl in bezug auf die vorausgesetzte Gemeinwohlorientierung als auch in bezug auf den Informationsstand und die Informationsmöglichkeiten sowie (vor allem) in bezug auf die politische Durchsetzungsfähigkeit in demokratischen Gesellschaften absehbar erscheint - sicherte die Politikwissenschaft der 80er Jahre sich mit Hilfe normativer Appelle ab. 51 So wünschenswert diese Szenarien waren, als so spekulativ und normativistisch geben sie sich in der Rückschau zu erkennen. Sowohl die fraglose Handlungsfähigkeit (korporativistischer oder vernetzter) Akteure wie die unbezweifelte Kontinuität der politischen Szenarien erscheinen uns heute auf eine überraschende Weise stationär, veraltet und überholt. Ihr statischer Charakter hat seine Ursache vor allem in ihren Vertrauen auf eine vorausgesetzte "Rationalität" der Abläufe, die sich selbst die Frage nach querschießenden Rationalitäten in ^demokratischen oder partizipatorischen Gesellschaften nicht stellt; die sich darüber hinaus die Frage der Legitimität wie der Legitimierung politischer Entscheidungsverfahren und ihrer Ergebnisse nicht hinreichend stellt oder nicht stellen zu brauchen glaubt. Das Traditionalistische dieser Policy-Analysen liegt dabei in der Annahme einer auf mehrere Akteure gemeinsam aufgeteilten, aber trotzdem voraussetzbaren Souveränität der Entscheidungsträger gegenüber der Gesellschaft; einer abgeminderten, aber fortbestehenden Trennung von Staat und Gesellschaft. Man könnte in diesem Sinne

von

einer

"Mitsouveränität"

der

korporatistischen

Träger

von

"Staatsgewalt" reden, wie sie Theodor Eschenburg (1989, 132) einmal für die Verbände annahm 52 ;

diese schien auch noch über alle wesentlichen

(Lenkungs-)Eigenschaften der überholten zentralistischen Souveränität zu verfügen. Alle diese Gewißheiten, beruhend auf einer sehr eng verstandenen Professionalisierung der Politikwissenschaft mit ihren segmentierten Fragestel51

So könne beispielsweise "auch von Verbänden verlangt werden, sie sollten ohne gesetzlichen Zwang die Auswirkungen ihres Tuns auf allgemeine, z.B. volkswirtschaftliche oder ökologische Interessen berücksichtigen" (Mayntz 1992, 13). Woher schöpft ein solcher Satz - so traurig das ¡n der Konsequenz sein mag - seine sozialwissenschaftliche Gewißheit?

52

Und daß hierin die traditionale Nachkriegspolitikwissenschaft und ihre "professionalisierten" Nachfolger ihren Berührungspunkt finden, weist auf viel mehr Gemeinsamkeiten hin als vielleicht beiden bewußt ist. Die neuere Forschung geht zwar nicht mehr von einem zentralisierten, sondern von einem "polyzentrischen" Akteur aus; diesem aber schreibt sie ähnliche Omnipotenz in der Einflußnahme in der Gesellschaft zu; sie erhofft sie und befürchtet zugleich deren Schwinden, wie die traditionale Staatslehre in bezug auf die Souveränität der zentralen Dezision. (Vgl. a. Lietzmann 1994)

Politikwissenschaff

in der Bundesrepublik

Deutschland

53

lungen sowie auf einer (in Zeiten der Ost-West-Systemkonkurrenz) selbstverständlich erscheinenden Legitimität des politischen Gesamtprozesses wie seines kontinuierlichen Fortgangs, sind mit den politischen Ereignissen im Umfeld des Jahres 1989 fragwürdig geworden.

E. Ausweitung der westdeutschen Politikwissenschaft auf Ostdeutschland Trotzdem hat sich die westdeutsche Politikwissenschaft der Herausforderung, eine Politikwissenschaft in den östlichen Bundesländern Deutschlands anzuregen und mit aufzubauen, gestellt, ohne größere Verunsicherungen über den eigenen Status erkennen zu lassen. Vielmehr hat man die "Chance zur Landnahme" (Lehmbruch) in einer bisher noch nicht abschließend zu beurteilenden Weise genutzt und dabei Ergebnisse zustande gebracht, die sich mit denen der amerikanischen "Political Science" im Nachkriegsdeutschland durchaus vergleichen lassen. "Das

sozialwissenschaftlich

relevante

Territorium

im

DDR-

Wissenschaftssystem war", wie Gerhard Lehmbruch die Stimmungslage nicht rechtfertigend, sondern die Ambivalenz der Ausgangssitutation darstellend umreißt, "in der Sicht der westdeutschen Politikwissenschaft herrenloses Land, das für die Disziplin erschlossen werden mußte." (1995, 347) Die Konflikte, die sich im Prozeß der Installierung einer gesamtdeutschen Politikwissenschaft ergaben, hatten dabei die unterschiedlichsten Ursprünge: Einmal in den Länderverwaltungen der Neuen Bundesländer sowie den an ihnen beteiligten "Partnerverwaltungen" im Westen, den Parteien und politischen Stiftungen (1.), zum anderen in den westlich dominierten Bundesorganen, inklusive des Wissenschaftsrates (2.), in den Interessen einer um seine Reputation ringenden westdeutschen Profession und seines Fachverbandes (3.), zudem in denjenigen ostdeutschen Interessenten, die eine Inkorporierung in die neu zu entwickelnde Politikwissenschaft anstrebten (4.); daß sich schließlich auch im Prozeß der deutschen Einheit und der mit ihm verbundenen Ausweitung der westdeutschen Politikwissenschaft deren alte Defizite und Hypotheken auf den Neugründungsprozeß auswirken, ist wohl kaum überraschend (5.).

54

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

1. Der Einfluß westdeutscher politischer Institutionen Nach einer Reihe, auf der Eigeninitiative einzelner westdeutscher Hochschullehrer beruhender, Hospitation an ostdeutschen Universitäten übernahmen in einer zweiten Phase die Länder und die ihnen nahestehenden Parteistiftungen die Rekrutierung der Gastdozenten an den ostdeutschen Hochschulen. Dies war ein Weg, der auch den Betroffenen zur angemessenen Bezahlung verhalf, darüber hinaus aber natürlich steuernde Effekte hatte 53 . Im übrigen nahmen die Länder Einfluß auf die Zusammensetzung der sogenannten "Gründungs-" oder "Strukturkommissionen"54 an den Landesuniversitäten, die (anstelle der im Westen üblichen Selbstverwaltungsorgane) die Strukturentscheidungen über die neuen Studiengänge trafen; ebenso waren sie in den späteren Phasen verantwortlich für die Berufung der Gründungsbeauftragten und sogar der Hochschullehrerinnen (Lehmbruch 1995, 350). Ihr Einfluß auf die Gesamtproblematik eines Aufbaus der Politikwissenschaft in Ostdeutschland blieb daneben aber eher marginal; dies auch als Folge des verzögerten Aufbaus der Länderverwaltungen.

2. Der Einfluß (westdeutsch dominierter) Bundesorgane Generellen Einfluß nahmen hingegen die westliche bundespolitische Eliten, allen

voran

der

ihr

verbundene

Wissenschaftsrat,

der

mit

seinen

"Empfehlungen zum Aufbau der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften" wesentliche Vorentscheidungen traf, dies vor allem mit seiner Feststellung, es habe in der DDR "eine dem Standard der pluralistisch-demokratisch verfassten Staaten entsprechende Politikwissenschaft .... nicht gegeben" 55 . Deren Gründung könne daher an keinerlei "vorhandene Strukturen anknüpfen". Zugleich forderte der Wissenschaftsrat den Aufbau einer Politikwissenschaft nach Maßgabe der "internationalen wissenschaftlichen Standards 56 sowie ei53

Involviert in diesen Prozeß waren auch der Stifterverband und der DAAD, sodaß nicht allein föderale Aspekte eine Rolle spielten. Vgl. Bleek 1992.

54

Vgl. die "Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Hochschulstrukturkommissionen und Berufungspolitik von 16.11.1990.

55

Daß die Feststellungen des Wissenschaftsrates "nahezu Gestzeskraft" hatten, wird auch von Mayntz aufgrund ihrer Evaluationen hervorgehoben (1994, 217 m.w.N.): "schon im Juli (1991, H.J.L.) herrschte der Eindruck, daß die WR-Empfehlungen nicht als Vorschlage behandelt wurden, über die man noch diskutieren und die man noch modifizieren, ja zurückweisen könnte, sondern als verbindliche Vorgaben." (ebda.)

56

So die "Empfehlungen" vom 17.5.1991. Sie sind in Auszügen abgedruckt bei Lehmbruch 1995, 372ff.

55

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

ne der westdeutschen Politikwissenschaft vergleichbare funktionale Zuweisung als "Demokratiewissenschaft" (Bleek 1992, 803). Die 1991 abgefaßten Empfehlungen fordern zugleich als Regelausstattung die Einrichtung von pro Hochschule

je

einem

rie/Ideengeschichte",

der

Lehrstuhl

für

"Innenpolitik",

die der

Bereiche

"Politische

"Außenpolitik"

Theo-

sowie

der

"Vergleichenden Regierungslehre (im Sinne von comparative politics)"; darüber

hinaus

wird

die

"Verwaltungswissenschaften"

Einrichtung empfohlen,

von

während

Lehrstühlen dies

bei

für

jenen

für

"Politische Didaktik" in den Verhandlungen unter den Tisch fällt (Lehmbruch 1995, F.N. 48), als Zusatzausstattung (wie z.B. in Potsdam) aber möglich bleibt. Eine Forcierung des gesamten Gründungsprozesses der politikwissenschaftlichen Institute trat schließlich dadurch ein, daß der Wissenschaftsrat den Aufbau der Politikwissenschaft mit dem der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zusammenfaßte,

deren Neuentwicklung völlig außer

Frage

stand. Dies stellte schließlich alle Beteiligten unter einen gewaltigen Zeitdruck und vor hohe organistorische Herausforderungen; der entstehende Zeitdruck zementierte zugleich auch die Empfehlungen des Wissenschaftsrates und ließ sie zu einer starren Kanonisierung der Anforderungen werden. Für die Festlegung des Charakters der neuen politikwissenschaftlichen Professuren auf den westlichen, den "pluralistisch-demokratischen Standard", inklusive der disziplinaren Kernbereiche, stellte dies die wesentliche Weichenstellung dar. So sehr das dem Selbstverständnis und dem Anspruch der westlichen Fachvertreter entgegen kam, so negativ stand es danach um die Chancen einer Integration eigenständiger ostdeutscher politikwissenschaftlicher Annäherungen an eine westliche Politikwissenschaft. Oder wie Gerhard Lehmbruch eher untertreibend schreibt: "Für langsame Lernprozesse blieb wenig Raum". (1994, 353)

3. Der Einfluß der westdeutschen Politikwissenschaft Solche Lernprozesse hatte die DVPW als westdeutscher Fachverband ursprünglich initiieren wollen, als sie 1990 einen "Arbeitskreis Politikwissenschaft" einsetzte, der "eher moderierend als steuernd" (Lehmbruch 1995, 346) die Kommunikation zwischen westlichen und östlichen Politikwissenschaftlern aufbauen sollte. Insbesondere ging es dabei um eine Moderation auch der zu jenem Zeitpunkt weitgehend unkoordiniert verlaufenden Aufbaubemühungen

Hier zitiert nach Lehmbruch 1995, 336.

56

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

an den einzelnen ostdeutschen Hochschulen. Der D V P W lag allerdings auch daran, das westliche Fachverständnis einer professionalisierten und pluralistischen Politikwissenschaft als tragendes Kriterium in den Aufbauprozeß zu verankern; ein Anliegen, dem auch die DVPW-AD-HOC-Gruppe "Übergangsprobleme und Neuinstituierung der Politikwissenschaft" unter Leitung von Michael Th. Greven ab 1991 dienen sollte. Die Befürchtung, durch einen unangeleiteten Gründungsprozeß in den Neuen Bundesländern innerhalb Deutschlands mit einer gänzlich anders orientierten Politikwissenschaft als der eigenen konfrontiert zu werden, wurde deutlich ausgesprochen. Das verständliche Interesse richtete sich insoweit vor allem auf die Einhaltung der (westlichen) Standards wissenschaftlicher wie pluralistischer Forschung und Lehre sowie auf die gegenseitige Vergleichbarkeit und Durchlässigkeit der östlichen und westlichen Studiengänge; letzteres auch deshalb, um einseitige Wanderungsbewegungen unter den Studierenden nach Möglichkeit zu vermeiden 5 7 . Daß damit angesichts der institutionellen und fachlichen Dominanz der westdeutschen Politikwissenschaft deren relativ präzise Vorstellungen auch für die Entwicklung der östlichen Hochschulen festgeschrieben wurde, war von vornherein klar und auch kaum vermeidbar 5 8 . Die "kolonialisierenden" Effekte, die der deutsche Einheitsprozeß insoweit (für beide Seiten) hatte, gehören zur Fachgeschichte der gesamtdeutschen Politikwissenschaft. Dabei erscheint der Versuch der westdeutschen Politikwissenschaft, das eigene Fachverständnis soweit wie irgend möglich zu wahren, angesichts der Erweiterung und Neuentwicklung des Faches in Ostdeutschland wie auch angesichts einer selbst erst frisch errungenen Konsolidierung so konsequent wie verständlich. Daß dieser Anspruch einer von politischen Richtungsentscheidungen möglichst unabhängigen Politikwissenschaft und ihrer pluralistischen Seriosität irritiert und herausgefordert wurde, vor allem durch die Versuche ehemaliger Herrschaftsinstitutionen der alten DDR, die ihre eigene Inkorporierung in die neu entstehende Politikwissenschaft betrieben, verhärtete die Fronten dieser Auseinandersetzung erheblich.

57

Stellungnahme der DVPW zur Entwicklung des Faches Politikwissenschaft in der DDR vom 17. Juli 1990 (in Auszügen dokumentiert bei Lehmbruch 1995, 367ff.)

58

Zu den in dieser Hinsicht vergleichbaren Aktivitäten der "American Political Science Association" in Canada schreibt Cairns (1975) "that the institutionalizing and the size of the American political science has had a mass effect moulding political science elsewhere. There has been no way of not taking the American political science in account." (vgl. Berndtson 1991, 47)

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

57

4. Der Einfluß ostdeutscher Interessenten Unabhängig von der Frage, ob eine Politikwissenschaft unter den politischen Herrschaftsverhältnissen der DDR prinzipiell überhaupt möglich war 59 , bildete sich in der auslaufenden DDR bei Insitutionen wie der "Akademie der Wissenschaften", dem "Rat für wissenschaftlichen Kommunismus", auch der "Parteihochschule der SED" sowie den für das "gesellschaftliche Grundstudium" an den Hochschulen zuständigen Einheiten "Wissenschaftlichen Sozialismus" und "Marxismus/Leninismus" der Anspruch heraus, als originäre Bestandteile einer Politikwissenschaft in der erweiterten Bundesrepublik zu gelten.60 Verbunden war dieser Anspruch weniger mit nachgewiesener politikwissenschaftlicher Forschung in Detailfragen als vielmehr mit der Aussicht, solche Forschungen in Zukunft betreiben zu können und zu wollen. Weniger als Ausdruck der Behauptung, bereits bisher politikwissenschaftliche Arbeit geleistet zu haben, sondern unter Einräumung einer bisher fehlenden wirklichkeitswissenschaftlichen Grundlage, doktrinärer Theorieansätze und unterentwickelter Methodik (Berg/Möller/Reißig 1992, 258). Der aufkommende Eindruck eines substanzlosen Versuchs, der "Selbstetikettierung und Selbsttransferierung" (Greven 1993, 168) als "Politikwissenschaft" westlichen Musters wurde aber auch nicht durch den vorstellbaren Versuch konterkariert, den Anspruch einer orginären, spezifisch neuen oder der Tradition Ostdeutschlands verbundenen Politikwissenschaft als eines alternierenden selbstständigen Zugangs zu den disziplinären Fragestellungen zu erheben; ein Anspruch, der sich z.B. aus einem systemoppositionellen Selbstverständnis oder wenigstens aus einer am politischen Umbruch an der DDR beteiligten Rolle heraus sich wie in andern, nicht nur osteuropäischen Ländern61 - hätte legitimieren können. Die Entwicklung einer alternierenden Perspektive lag aber (von individuellen Ausnahmen sei in diesem Bericht abgesehen) bei den jeweiligen Institutionen gerade nicht vor. Das verständliche, aber nicht einlösbare Interesse

59

Vgl. Bleek 1990, 1992. Ich halte diese Frage, die in Westdeutschland oft mit dem zügigen Verweis auf Zitate aus der eigenen Gründungsgeschichte in der Zeit des Kalten Krieges (z.B. Friedrich 1954, 325) verneint und für erledigt gehalten wird, für gänzlich offen. Die angesichts der Ereignisse in Osteuropa einsetzende Debatte um die Entwicklung der Politikwissenschaft in Übergangsregimen schafft hier ebenso neue Perspektiven (vgl. Easton/Gunnell/Stein 1995, Berndtson 1991, L. Adele Jinadu 1991, Klingemann u.a. 1994, Kalycioglu, Bibic, Szabo oder Ignatow in diesem Band) wie sie bereits die Debatte über die Möglichkeiten einer Politikwissenschaft im Nationalsozialismus geschaffen hatte.

60

Vgl. Berg/Möller/Reißig 1992; Koop/Wartmann 1993; Beyme 1991; Kaase 1991. Aus seiner Sicht zusammenfassend schließlich: Lehmbruch 1995, 333ff. sowie als Stellungnahme zu früheren Entwicklungen Weber 1970.

61

Vgl. Easton/Gunnell/Stein 1995, 19ff.

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Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

galt vielmehr der Inkorporierung einer bislang DDR-herrschaftsfunktionalen und sich erst neuerdings anverwandelten ostdeutschen Praxis in eine ihrem Selbstverständnis nach politisch unabhängige und pluralistische westdeutsche politikwissenschaftliche Disziplin. Auch war Systemopposition von den ostdeutschen Sozialwissenschaften nicht ausgegangen. Die mit einem solchen Prozeß der "Selbstgleichschaltung" (Beyme 1991) verbundene Akzeptanz der westlichen Standards durch die sich nunmehr als politikwissenschaftlich definierenden ostdeutschen Institutionen und Personen führte zugleich natürlich zu einer Zementierung jener westlichen Beurteilungsmaßstäbe, die den meisten Landeskulturverwaltungen ohnehin am nächsten lagen. Auch hier sind die "kolonialisierenden Effekte" in den Handlungen und Selbstverständnissen durchaus aller Beteiligten angelegt. Eine unmittelbare Folge dieser umfassenden Voraussetzung westlicher Standards war, daß mit einer Konkurrenzfähigkeit ostdeutscher Bewerber beim Aufbau der politikwissenschaftlichen Institutionen von vorneherein nicht gerechnet werden konnte. Ostdeutsche Mitbewerber, die sich um Anschlußfähigkeit an die zu ihnen importierte westdeutsche Politikwissenschaft bemühten, waren vielmehr auf den institutionell, finanziell und vor allem biographisch mühevollen Weg einer, wie ich das nennen möchte, "nachholenden Professionalisierung" verwiesen. Diese "nachholende Professionalisierung" konnte sich einen Weg bahnen durch die (auch gerade hierfür) neu geschaffenen Institutionen ausseruniversitärer und an die Hochschulen angegliederter Forschungsstellen. Die bekannteste unter ihnen ist die vom Bund finanzierte "Kommission für die Erforschung des sozialen und politischen Wandels in den neuen Bundesländern" (KSPW); andere Möglichkeiten bieten sich über das "Wissenschaftlerintegrationsprogramm" (WIP) sowie über die Finanzierung von "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" (ABM-Stellen) (Mayntz 1994, 208, 247f)- In allen diesen Institutionen bleibt die persöhnliche und berufliche Stellung der betroffenen Wissenschaftler freilich definitionsgemäß prekär; dies vor allem infolge des Übergangscharakters ihrer Finanzierung, die in den Fällen des KSPW und des WIP kaum über das Jahr 1996 hinaus gesichert sein dürfte. Darüber hinaus fällt allerdings auf, daß im Rahmen der KSPW (im engeren Sinne) politikwissenschaftliche Forschung nur in wenigen der sechs Projektgruppen betrieben wird (KSPW 1995). Auch fällt auf, daß - im Gegensatz etwa zu den eher soziologischen Projekten - im Rahmen der geförderten politikwissenschaftlichen Forschungsprojekte die Anzahl der nichtuniversitären Forschungen einen verschwindend geringen Anteil ausmachen; die meisten politikwissenschaftlichen Forschungsprojekte stellen vielmehr hochschulgebundene "Drittmittelforschung" dar. "Nachholende Professionali-

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

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sierung", soweit sie sich ausseruniversitär zu organisieren hat, findet - so kann man daraus schließen - im Bereich der Politikwissenschaften kaum statt. Die trotz dieses Befundes gelungenen Institutionalisierungen, z.B. im Rahmen des "Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien" (BISS), sind deshalb umsomehr hervorzuheben. Mit dem Wissen um die Schwierigkeiten einer ausseruniversitären Organisation dieser "nachholenden Professionalisierung" ostdeutscher Politikwissenschaft wiegt die Feststellung einer scheinbar sehr weitgehenden Bornierung bei der Berufungspolitik für die neuen Hochschulen besonders schwer (Lehmbruch 1995, Greven 1994). Die Tatsache daß unter den neu berufenen Professorinnen diejenigen aus Ostdeutschland nicht einmal ca. 5 Prozent ausmachen, kann in der politischen Vorbelastung und der mangelnden Qualifikation anderer Kandidaten allein keine Grundlage finden.

5. Ostdeutschland: Neue Professuren und alte Probleme Die aus den unterschiedlichen Interessenlagen, den Festschreibungen und der schließlichen Beschleunigung der Berufungen und des Ausbaus der Institute resultierende Zahl von 54 Professuren an 12 der ostdeutschen Hochschulen stellen im Ergebnis einen großartigen Erfolg, wenn auch zugleich eine gewaltige Herausforderung für die Profession dar. Kurz vor einem ohnehin anstehenden - aus der Altersstruktur westdeutscher Lehrstuhlinhaberinnen sich ergebenden - "Generationswechsels" an den Hochschulen sind die (westlichen) Personalressourcen bis an ihre Grenzen ausgeschöpft. Besetzt wurden hierbei je 12 Professuren für "Vergleichende Regierungslehre" und "Politische Theorie", 10 für "Internationale Beziehungen", 8 für "Innenpolitik", 5 für "Politische Didaktik", je 2 für "Politische Ökonomie", "Verwaltungslehre" und "Politische Soziologie" sowie je eine für "Sozialpolitik", für die Politik Japans und diejenige Osteuropas. 62 Angesichts der anders lautenden Vorgaben des Wissenschaftsrates für die Ausstattung der Hochschulen ist es deshalb auffallend, welch geringer Raum besonders der Ausbildung in "Politischer Didaktik" und in "Verwaltungswissenschaften" eingeräumt wird, aber auch, wie relativ wenig Gewicht auf eine Qualifizierung in Fragen der "Innenpolitik" und der "Politischen Soziologie" gelegt wird.

62

Die Zahlen entstammen weitgehend der Aufstellung bei Lehmbruch 1995, 375/6; bei den Spezifizierungen ergibt sich eine Erhöhung der Gesamtsumme aufgrund einzelner, die "Kernbereiche" übergreifender, Ausschreibungen.

60

Kapitel II: Politikwissenschafí in Deutschland

Daß die Ausschließung der Politikwissenschaft an den ostdeutschen Universitäten von der Ausbildung des neuen Verwaltungspersonals sich fortsetzt, deren außerjuristische Ausbildung strukturell vernachlässigt bzw. das Juristenprivileg gegen alle Initiativen und Argumente aufrecht erhalten wird, überrascht dagegen weniger. Dies war bereits auch die prägnante Erfahrung des DVPW-Vorstandes, der eine entsprechende Einbeziehung der Diplompolitologlnnen in den dem Referendardienst entsprechenden zweiten Ausbildungsabschnitt für den öffentlichen Dienst zu erreichen versucht hatte. Eine Gleichstellung der Politikwissenschaftler mit Diplomsoziologen, Historikern oder Diplomvolkswirten war unter keinen Umständen zu erreichen. Hier wurde insofern ein schlechter Status quo Westdeutschlands mit aller Macht erhalten. Etwas anders liegt der Fall in der Frage einer Qualifizierung der politikwissenschaftlichen Ausbildung zur "Politischen Bildung". Angesichts der nicht nur in Ostdeutschland zu beobachtenden, aber dort von der Öffentlichkeit besonders registrierten ausländerfeindlichen und neonationalen Aktivitäten nach der deutschen Einheit, hätte ein engagierter Ausbau gerade der "Politischen Didaktik" bei einem Neuaufbau politikwissenschaftlicher Fakultäten nahegelegen. Das Ausbleiben eines Rufes nach "Politischer Didaktik" sowohl von außerhalb der Profession wie auch in ihrem Inneren, ist insgesamt doch recht erstaunlich. Es ist als Folge des Verlustes einer tragenden Säule der politikwissenschaftlichen Lehrtradition zu sehen, die angesichts neuerer politischer Entwicklungen, aber auch offensichtlicher neuer Ausbildungsanforderungen als gedankenlos und folgenschwer (in Ost- wie Westdeutschland) bewertet werden muß (Breit/Massing 1992). Selbst wenn es sich so verhielte, wie die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz suggerieren (KMK 1985, 28), daß nämlich die politische Bildung in den 70er Jahre aufgrund der Erfahrung stabiler demokratischer Verhältnisse zurückgegangen sei (woran bereits oben Zweifel gehegt wurden), so wäre eine Neuaufnahme dieses Fachgebietes das Gebot der Stunde. Die Installierung eines weit überproportionalen Anteils an Diplomstudiengängen, nämlich an 4 der insgesammt 12 ostdeutschen politikwissenschaftlichen Ausbildungsstätten, deutet hingegen eher in die entgegengesetzte Richtung.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

61

F. "Eine völlig neue Welt bedarf einer neuen Politikwissenschaft."63 Gegenwärtige Orientierungsversuche Ohne ein unmittelbares Kausalverhältnis behaupten zu wollen, aber doch auch, um auf ein prägnantes Entsprechungsverhältnis zwischen der aktuellen Ausbildungspraxis und der Theoriebildung in der deutschen Politikwissenschaft hinzuweisen, will ich im folgenden den Befund zur institutionellen Lage des Fachs durch einige - gewiß lückenhafte - Beispiele aus der Theoriebildung der Profession ergänzen. Und ich will dabei den Nachweis führen, daß der Politikwissenschaft ein stimmiges Bild von der politischen Wirklichkeit verloren gegangen ist; daß sie, bei aller Genauigkeit des Wissens im Detail, über kein schlüssiges Konzept zur Zusammensetzung der ihr sichtbaren Einzelbefunde verfügt. Ich denke aber auch, daß sich das Einsetzen einer aktiven Suche nach diesem schlüssigen Gesamtbild in der Disziplin aufzeigen läßt, - sei es um der politischen Bildung Orientierung zu geben, sei es um den Befunden einer nach Politikfeldern aufgespaltenen professionellen Forschung den nötigen Hintergrund und damit ein Gesamtverständnis zu ermöglichen.

1. Innenpolitik und Regierungslehre Gerade im Bereich der "Innenpolitik" und "Regierungslehre" hat sich in den vergangenen Jahren erwiesen, wie sehr sich die Politikwissenschaft in ihrer Theoriebildung und ihrer Wirklichkeitserfassung darauf verlassen hatte, "in einer Welt linearer Wandlungen zu leben" (Maier 1995). Sowohl in bezug auf die Tätigkeit der Regierenden, als auch in bezug auf die Partizipationsbereitschaft der Bürger wie auf die zwischen ihnen vermittelnden Instanzen der Parteien, Verbände usf. sind die alten Schemata nicht mehr ohne weiteres anwendbar. Die Debatten über die Infragestellung der politischen Entscheidungseliten und der gesamten "politischen Klasse" (Beyme 1993, 1994), die mit dem Gefühl der Abgehobenheit dieser Akteure auf Seiten der Bürger korrespondieren, geben hier einen ersten Hinweis. Hat sich doch das kritisierte Ausmaß

63

Toqueville 1835, 15. "Die Demokratie belehren, wenn möglich ihren Glauben beleben, ihre Sitten läutern, ihre Bewegungen ordnen, nach und nach ihre Unerfahrenheit durch praktisches Wissen, die blinden Regungen durch die Kenntnis ihrer wahren Vorteile ersetzen; ihre Regierungsweise den Umständen der Zeit und des Ortes anpassen; sie je nach Verhältnissen und Menschen ändern: das ist die erste Pflicht, die heute den Lenkern der Gesellschaft auferlegt ist" (ebda ): soweit die Einschätzung aus der Toqueville die genannte Konsequenz zog.

62

Kapitel II: Politikwissenschaft

in

Deutschland

.der Abgehobenheit der politischen Akteure in den vergangenen Jahren nur unwesentlich erweitert; verändert hat sich vielmehr die Wahrnehmung ihrer Rolle in der Gesellschaft. In der Kritik der Abgehobenheit der politischen Eliten manifestiert sich deshalb in erster Linie ein neues Verständnis von der Verteilung der Partizipationschancen in der gegenwärtigen deutschen Demokratie. Daß mit dieser Kritik an der politischen Klasse und den politischen Parteien freilich keine Unzufriedenheit der Bürger mit dem politischen Gesamtsystem korrespondiert, ergeben die gleichen Datensätze64. Dies irritiert jene politikwissenschaftliche Interpretation, die das Funktionieren der parteipolitischen Entscheidungsträger mit dem Funktionieren des Gesamtsystems gleichsetzte; und die Parallelität der Kritik an der politischen Klasse mit der Zufriedenheit gegenüber dem politischen Gesamtsystem weist auf neue, bisher theoretisch nicht erfaßte politische Wahrnehmungsstrukturen hin: Auf eine nicht nur größere Partizipationsbereitschaft der Bürger, sondern auch auf deren gestiegenes Vertrauen darein, die eigenen politischen Angelegenheiten auch selbst kompetent regeln zu können. Ob zu Recht oder zu Unrecht, kann dabei völlig offen bleiben. Der Legitimitätsglaube gegenüber dem politischen System scheint zunehmend von diesem seit den 60er Jahren beständig steigendenden Bedürfnis nach Partizipation bestimmt zu werden. Legitimation, Machterwerb und Machttransfer bestimmen sich auf einer immer weiter verbreiternden Achse. Die Fragen politischer Macht und der Legitimität des gesamten Willensbildungsprozesses sind auf eine erstaunliche Weise weiter in die Horizontale verrutscht: von Parteienstaat zum Verbändestaat, zur Beteiligung privater Akteure an Verwaltungs- und Politikentscheidungen, zur Einbeziehung sozialer Bewegungen in Moderationsprozesse in der Umweltpolitik bis (vorläufig) hin zu den erfolgreichen Initiativen für Bürgerentscheide und Volksbegehren. Wir stehen hier vor der Ausweitung einer Politikform, die nicht erst mit der Parole "Wir sind das Volk" in Deutschland von sich Reden machte, die aber auch danach in der Einrichtung partizipatorischer Verfahren in allen ostdeutschen und der Berliner Verfassung, jetzt wohl auch in Hamburg, Berlin und auf ganz spezifische Weise in Bayern, ihren Beitrag zur Legitimität von Politik zu leisten vermag.65

64

Vgl. die Ergebnisse von Fuchs/ Klingemann 1995, 1995a und Kaase/ Newton 1995.

65

Bereits jetzt ist absehbar, daß "partizipatorische Politik" bei weitem nicht nur zur Verfolgung von "Basis"-Aktivitaten eingesetzt zu werden vermag. Auch Regierungen und meinungsbildende Eliten sind im Stande, mittels "von oben" eingeleiteter Referenden und Kampagnen sich der neuen politischen Stilmittel zu bedienen; daß sich in den USA, v.a. in Kalifornien bereits eine kommerzielle Basisstruktur zur Durchführung von Referenden gebildet hat, -

Politikwissenschaft

in der Bundesrepublik

Deutschland

63

Der Ansehensverlust der politischen Klasse und die Orientierung auf eine partizipatorisch gestiftete Legitimität sollen hier nur als Beispiel dienen; die schrittweise Verlagerung des politischen Prozesses heraus aus ihren vertikalen und hierarchischen Verankerungen und seine Ausweitung in die Horizontale - als perspektivische Dynamik ein Allgemeinplatz in der politischen Soziologie66 und als Horrorgemälde gängig seit der Weimarer Republik67 - findet in der Theoriebildung zum politischen System aber kaum eine Entsprechung. Auch in den verdienstvollen Studien aus der Sektion "Regierungslehre und Regieren in der Bundesrepublik Deutschland", die den Aspekt der zunehmend informalen und weniger hierarchischen Regierungstätigkeit

hervorheben,

bleibt eine Summierung oder zusammenfassende Analyse der Einzelstudien weitgehend aus. Auch die vielfachen Studien über einen verhandelnden Staat und die unterschiedlichsten Moderationsformen von Herrschaft, die längst zu einer Aufweichung starrer gesetzlicher Rechte und Pflichten in aushandelbare Bestandteile von Verträgen zwischen (mächtigen) Privaten und der Verwaltung geführt haben, warten ebenso auf eine theoretische Einordnung in der Regierungslehre wie die Ausweitung der Partizipationsrechte der Parteibasis in allen wichtigen Parteien (außer der PDS) in der Parteientheorie. Das Bedürfnis nach Zusammenführung dieser und anderer Einzelbefunde einer sich immer weiter vorarbeitenden Einflußnahme auf die politische Entscheidungsprozesse und - vice versa - einer immer größeren Dezentralisierung legitimer politischer Entscheidungen zeigt sich dabei allenthalben. Die Versuche einer Erklärung der genannten Erodierung traditionaler Formen in der Politik häufen sich; und das gleiche Interesse liegt erkennbar auch manchen Studien zur Entwicklung neuer Politikformen wie der Plebiszite 68 , der "Schattenpolitik" (Alemann 1994), oder der "Kampagnenpolitik" (Greven 1995, Baringhorst 1994, 1995) zugrunde, die mit Ansätzen einer neuen Theoriebildung experimentieren 69 . deren Erfolg und Mißerfolg mithin käuflich werden, wird hierzulande bisher von Freund wie Feind solcher Politik nur unzureichend zur Kenntnis genommen. 66

Siegfried Landshut bringt es (mit Bezug auf Lasswell) auf die prägnante Formel: "Je mehr die Polarität von Staat und Gesellschaft .... sich selbst aufhebt verwandelt sich in der Tat Politik in Soziologie, das Phänomen des Politischen wird zu einem Epihänomen der Gesellschaft." (1962, 364)

67

Carl Schmitts Warnung, der Staat werde zu einer (in seinen Augen: "Organisationsform der Gesellschaft", ist nicht anders zu verstehen.

68

Die durch die Beteiligung unterschiedlichster Professionen (Politikwissenschaft, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Rechtswissenschaft, Journalistik ...) tendenziell unbeherrschbar werdende Literatur versucht Jung (1995) zu überblicken. Vgl. a. Möckli 1994, Uetzmann 1996

69

Erkennbar und wohltuend die Bereitschaft, auch mit neuen Sichtweisen ins Rampenlicht zu treten, die noch nicht perfektioniert sind. Der Gewinn, den sie vermitteln, kann die Lücken,

"bloßen")

64

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

Dringlich taucht das Bedürfnis nach Behebung des Realitäts- und Theoriedefizits auch in den neuesten Veröffentlichungen zur Policy-Forschung auf, die auf ein Verständnis der Policy-Netzwerke als "einer tatsächlichen Veränderung in der Struktur der politischen Ordnung" zielen (Mayntz 1992, 20; Pappi 1993; Heritièr 1993b). Die Ausweitung der Policy-Netzwerke weit über die gängigen Interessenverbände und Großorganisationen hinaus in den Bereich privater Akteure 70 , d.h. der eher unstrukturierten Gesellschaft, stellt nachdrücklich die in dieser Form in der Policy-Forschung ganz neue Frage nach

der

Möglichkeit

demokratischer

Organisation

solcher

Entschei-

dungsstrukturen (Scharpf 1993) bzw. nach einer "neuen Architektur des Staates" (Grande 1993). Die Antworten allerdings bleiben noch vorläufig und unscharf. Zu unerwartet scheint der Verlauf einer Ausweitung der politischen Prozesse und deren Suche nach neuen Formen.

2. Internationale Beziehungen Auch im Bereich der "Internationalen Beziehungen" scheint sich eine erneute Revision der vertrauten Denk- und Erklärungsmuster anzubahnen; und die Probleme stellen sich ganz ähnlich: es um das theoretische Verständnis der seit längerem zu beobachtenden Prozesse einer Horizontalisierung und Enthierarchisierung der Handlungsmuster (Zürn 1994). Hatte schon die Regime-Lehre den weitreichenden Kooperationsbedarf und die informelle Zusammenarbeit im Feld der internationalen Politik thematisiert (Kohler-Koch 1989, 1993), so bahnt sich durch den weiter fortschreitenden Machtzuwachs nichtstaatlicher Interessenträger eine weitergehende Neufassung der theoretischen Grundlagen an. Der unaufhörliche Einflußgewinn nichtsstaatlicher, aber transnationaler Organisationen - seien dies nun am Weltmarkt orientierte Industrie- und Handelsorganisationen oder auch Menschenrechts- oder Umweltkampagnen nach der Art von Greenpeace bei Brent Spar oder im Mururoa-Atoll - geben den Blick frei auf einen explosionsartig zunehmenden Koordinations- und Kooperationsbedarf71. Auf dem politikwissenschaftlichen Feld die sie noch aufweisen, leicht wettmachen. Zu einer politischen Theoriebildung, die den Mut zum Irrtum wieder aufbringt (ohne sich mit dem Irrtum "abzufinden") vgl. Charels Maier 1995 und Renate Mayntz 1995 70

Die Diskussion der Policy-Forschung meint damit vorwiegend "private Organisationen" (Mayntz 1992, 20, Heritter 1993, 23/24), was ich für eine überflüssige und der Realität zunehmend nicht mehr gerecht werdende Verkürzung der Reichweite dieser Aussage halte.

71

Noch "werden nichtstaatliche Akteure in der Analyse der internationalen Regime weitestgehend vernachlässigt" (Beck/Efinger 1991, 669). Diese Aussage stimmt selbst dann, wenn unter dem derzeitigen Realitätsdruck ein Diskussionsprozeß in dieser Richtung in

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

65

der "internationalen Beziehungen" sind daher ähnliche Entwicklungen zu beobachten wie in der "Innenpolitik" oder der "Regierungslehre"; und Senghaas' Feststellung einer zunehmenden "Politisierung der Welt" und der internationalen Beziehungen im Sinne einer Entmächtigung der bisherigen Souveräne und einer Partizpatorisierung der Politikmuster stimmt mit den innenpolitischen Befunden verblüffend überein. Die Erhöhung der Komplexität bei gleichzeitiger Auflösung traditioneller Hierarchien verursacht auch in der Wissenschaft von den "Internationalen Beziehungen" einen dringenden tatsächlichen wie theoretischen Erklärungsbedarf72.

3. Vergleichende Politikforschung Erklärungsbedarf signalisieren auch die neuesten Entwicklungen in der "Vergleichenden Politikforschung". Sie wenden sich ab von den lange gepflegten Feldern des Regierungsvergleichs einzig zwischen "westlichen Demokratien".73 Unter dem Aspekt der "Transition'-Forschung wendet sich der Blick ab von der Bestätigung der eigenen Praxis und den ungewohnten Prozessen der Neuordnung nicht nur in Osteuropa zu; daß diese Forschung wiederum weitgehend von der Vorstellung beherrscht zu sein scheinen, es komme nur ein Übergang zur Demokratie in Frage, sei hier nicht weiter verfolgt 74 . Auch die verblüffenden Entwicklungen in Japan, den islamischen Staaten oder China werden wieder wahrgenommen (vgl. Hartmann 1995); die Koordinationsund Organisationsversuche multikultureller oder multiethnischer Gesellschaften in Südafrika oder Indien fordern den Orientierungsbedarf der westlichen Forscher heraus. Es bildet sich auch wieder so etwas wie der ethnologische Blick auf die eigene Gegenwart, verbunden mit dem informierten Interesse am Gang gekommen ist. Zu groß war aber der "Mangel an theoriegeleiteter oder zumindest theorieorientierter Forschung" (Rittberger/ Hummel 1990, 20; ähnlich Czempiel 1986, 251; 1990) als das er in kürzster Zeit aufgeholt werden könnte. 72 Dabei ist es ganz unerheblich, ob diese neue Unübersichtlichkeit "Zersplitterung" (Czempiel), "Ausfaserung" (Woyke) oder "Ausfransung" (Senghaas) genannt wird; die Wahrnehmung ist offensichtlich eine ganz ähnliche: etwas bislang Intaktes, eine "heile Welt" befindet sich in Auflösung. 73

Die aus dem kalten Krieg überlieferte Abgrenzung der westlichen Modelle von der sozialistischen "anderen Hälfte der Welt" ist mit dem Ende der Systemkonfrontation allemal mausetot.

74

Obwohl auch mir dies als das angenehmste und normativ begrüßenswerteste Ergebnis erschiene, liegt forschungsstrategisch dieser Grundannahme eher Phantasielosigkeit, wenn nicht eine gewisse Gedankenlosigkeit zugrunde. Abgesehen davon wären die unterschiedlichen Typen der Demokratie erst noch zu klären. (Ist z.B. die unter Gorbatschow und Jelzin eingeführte Regierungsform demokratisch? Fragen über Fragen.)

66

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

"Ganz-Anderen"; genährt freilich, so läßt sich plausibel vermuten, von drängenden Gefühl, daß die eigenen Lösungswege eher "von gestern" sind und das Anschauungsmaterial der jungen Gesellschaften in Übersee Gestaltungspotential auch fürs Eigene bereithalten könnte.

4. Geschichte der Politikwissenschaft und Politische Theorie Orientierung sucht die Politikwissenschaft selbst in der "Geschichte der Disziplin". Darauf deutet die Nachfrage hin, die neuestens die eigene Historisierung und die Selbstaufklärung über die eigenen Wurzeln haben. Die Selbstvergewisserung über die eigenen Ursprünge dient dabei der Lösung der

zukünftigen

Probleme.

Die

Schritte

zu

einer

immer

weiteren

"Vergesellschaftlichung" des Politikbegriffs, eine Entwicklung, die der immer breiteren Partizipation an politischen Gestaltungsaufgaben entspricht, werden in der orientierenden Rückschau besonders deutlich. "Geschichte der Politikwissenschaft" und "Geschichte der Politischen Theorie" siedeln daher in unmittelbarer Nachbarschaft. Das defizit in der Beurteilung neuester politischer Entwicklungen, die vielfache Ratlosigkeit gegenüber entstehenden Konstellationen hat deutliche Berührungspunkte mit der über lange Jahre eher ad-hoc betriebenen Analyse und Theoriebildung in der deutschen Politikwissenschaft. Das reiche Arsenal traditioneller Theorieangebote und die aus deren Fortentwicklung zu ziehenden Lehren bleiben bislang in sträflichem Maß ungenutzt. Der neugebildete Arbeitskreis zur "Geschichte der Politikwissenschaft und der Politischen Theorie" in der "Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft" wird an der Beseitigung dieses Defizits arbeiten. Hatten in den Erhebungen der achtziger Jahre (Böhret 1985) die Kolleginnen bereits die Beschäftigung mit der Fachgeschichte zur Priorität erklärt75 und hatten mit dem zeitlichen und fachbiographischen Abstand zur Gründergeneration auch die ersten kritischen Nachrufe auf deren Praxis von sich reden gemacht 76 , so bildete sich eine Forschungsgemeinschaft zu diesen Fragen doch erst in den

75

Allerdings begleitet von dem eigenwilligen Bekenntnis, sich selbst damit eher nicht beschäftigen zu wollen (Böhret 19).

76

Vgl neben den eher überblicksartigen Büchern von Rupp/Noetzel (1991, 1994; auch in diesem Band) etwa zu S. Landshut: Nicolaysen 1994; zu A. Bergsträsser: Schmitt 1995; Krohn 1986; zu W. Abendroth: Hüttig/Raphael 1992; zu C. J. Friedrich: Lietzmann 1993; zu A. Weber: Lietzmann 1995; zur Berliner Politikwissenschaft: Buchstein 1992; zu F. Neumann und O. Kirchheimer: Söllner 1979; zu A. Rüstow: Haselbach 1991; zu D. Sternberger: Pannier 1994 u.v.a.m.

Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland

67

Jahren nach der deutschen Wende. Der jetzige Arbeitskreis knüpft damit sowohl an die Arbeit des "European Consortium for Political Research" (ECPR) an wie auch an die vielfältigen Studien der amerikanischen Politikwissenschaft77 . Insbesondere zu Fragen der Regimewechsel und der Disziplingeschichte ist damit aber gewiß noch nicht das letzte Wort gesprochen. Trotz allen dieses Orientierungsbedarfs muß allerdings festgehalten werden, daß ihm im Fach auch ein offenkundiges Orientierungsbedürfnis entspricht. Wenngleich mit offensichtlichen Defiziten im Bereich der Theoriebildung und der theoretischen Einordnung sind erste tastende Versuche erkennbar. Und wie so oft scheint hier ein Schulterschluß mit den aus der Soziologie herüberreichenden Überlegungen sinnvoll und machbar. Denn das, was Siegfried Landshut bereits in den 60er Jahren als die "Verwandlung der Politik in Soziologie" bezeichnete, - der Prozeß, in dem "das Phänomen der Politik ... zu einem Epiphänomen der Gesellschaft" werde (Landshut 1962, 364) bildet ja zunehmend den Kern gegenwärtiger Versuche, politische Entwicklungen theoretisch zu erfassen. In Michael Th. Grevens Thematisierungen einer "Politischen Gesellschaft" (Greven 1990, 1995a), d.h. einer inhaltlich von Säkularisierung und strukturell von Partizipation geprägten Vergemeinschaftung politischer Entscheidungen, tritt diese Abwendung von einer Politikwissenschaft als institutionengebundener "Regierungslehre" beispielhaft hervor. Nah an die Gesellschaft und ihre konflikte gebundene Prozesse des "Regierens" treten auch in Ulrich Becks "Subpolitiken" weit über die Handlungsrahmen der Regierungen hinaus (Beck 1993, 149ff); auch Palonens78 begriffsgeschichtliche Studien (Palonen 1985, 1995) oder z.B. Joas' Versuche, vor dem Hintergrund des amerikanschen Pragmatismus eine gesellschaftsorientierte Handlungstheorie zu entfalten (Joas 1992, 1992a), sind in diesem Rahmen zu sehen. Auch wenn eine Vielzahl dieser Versuche sich auch oder sogar überwiegend der Soziologie zurechnen lassen, werden sie doch in der theoretisch orientierten Politikwissenschaft zunehmend rezipiert; insofern sich also auch auf Seiten der Politikwissenschaft eine neu errungene Lernbereitschaft (selbst wenn sie neu "erlitten", als erst aus der Not geboren wäre) zu entwickeln 77

Aus der Arbeit der ECPR ging vor allem das Sonderheft des "European Journal of Political Research" über die Geschichte der Disziplin hervor (Laver/Pederen 1991); für die Fruchtbarkeit der von den amerikanischen Kollegen forcierten amerikanischen und internationalen Debatte vgl. Easton u.a. 1991, 1995 sowie Farr/Seidelmann 1993, Ross 1991. Für den Bereich der Staaten Osteuropas gibt der Band von Klingemann u.a. 1994 einen ersten, allerdings sehr kursorischen, Überblick über den "State of the art".

78

Ich einvernehme Kari Palonen hier aufgrund seiner deutschsprachigen Veröffentlichungen hier kurzerhand, aber natürlich bestreitbar für die scientific Community der deutschen Politikwissenschaft; wie mir scheint für diese mit deutlichem Gewinn.

68

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

scheint, läßt sich recht zuversichtlich in Zukunft des Faches schauen. Wenngleich diese Lernbereitschaft naturgemäß in den schon bisher "näher an der Gesellschaft" angesiedelten Teilbereichen der Profession, wie z.B. der "Politischen Kulturforschung" oder insgesamt der "Politischen Soziologie", weiter ausgeprägt ist, so ist doch der Moment absehbar, in dem Studien über die "Politische Willensbildung" oder über das "Regieren" als eines wechselvollen, gesellschaftsabhängigen Prozesses auch die gesellschaftliche Seite der Politik systematisch und theoretisch reflektiert in ihre Überlegungen einbeziehen werden.

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Politikwissenschaft

in der Bundesrepublik

Deutschland

69

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70

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

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Politikwissenschaft

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Kapitel II: Politikwissenschaft

in

Deutschland

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Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

77

Thomas Noetzel/ Hans Karl Rupp

Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

Will man auf die Entwicklung wissenschaftlicher Disziplinen blicken, dann bieten sich zwei Beobachterpositionen an. Einmal kann auf die inhärente Geschichte der jeweiligen Fachwissenschaft, ihre Untersuchungsgegenstände, Methoden, Theorien, Hypothesen etc. geschaut werden. Eine solche Wissenschaftsgeschichte rückt die Logik der Disziplin in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung, wobei der Beobachter neben einer Rekonstruktion unterschiedlicher wissenschaftlicher Meinungen notwendig ein eigenes Verstehen der Sache an sich, von wahr/ unwahr, richtig/ falsch entwickelt. Wissenschaftliche Positionen und Diskurse der Vergangenheit sind ihm nicht nur historisches Objekt, sondern Teil des aktuellen wissenschaftlichen Diskurses und dienen zur Klärung der disziplinaren Leitfragen. Wissenschaftsgeschichte wird so zur Perfektibilitätsgeschichte fortschreitenden Wissens. Der Beobachter orientiert sich in seinen Wertungen an einem inhaltlichen, quasi zeitlosen Diskurs. Daneben angesiedelt ist die Position des externen Beobachters, der von außen auf die Entwicklung der Disziplin schaut und durch diese Perspektive jene Faktoren wahrnehmen kann, die gemeinhin nicht der inhärenten szientistischen Logik folgen, diese aber nachhaltig prägen und für den Wissenschaftsprozeß von großer Bedeutung sind. So rücken die psychischen, historischen, sozialen und politischen Faktoren der Produktion von Wissenschaft in das Beschreibungszentrum. Aus dieser Sicht können vor allem Bedingungen der wissenschaftlichen Wissensproduktion, die Regeln des Diskurses etc. rekonstruiert werden. Zur fachwissenschaftlichen Debatte trägt diese Beobachterleistung, in der die überzeitliche inhärente Logik der Disziplin in Kontextwissen der jeweiligen Wahrheitsbedingungen aufgelöst wird, vor allem den Appell bei, solche externen Rahmungen beobachtbar zu halten. Mit einem solchen Wissen kann aber im fachwissenschaftlichen Diskurs nur erfolgreich im Sinne der Delegitimierung anderer Positionen operiert werden (und auch das nur vor dem Hintergrundwissen einer "eigentlichen" Logik der Disziplin, die

78

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

durch e x t e r n e Einflüsse verzerrt w ü r d e ) . G e l t u n g s a n s p r ü c h e für sich selbst k a n n sie nicht e r h e b e n . 7 9

Z u m Begriff d e r G e n e r a t i o n Fruchtbar ist e s nun, w e n n d i e s e Beobachterpositionen z u s a m m e n g e f ü h r t w e r d e n . In e i n i g e n T h e o r i e n z u m wissenschaftlichen V e r s t e h e n ist e i n e solc h e Z u s a m m e n f ü h r u n g a u c h skizziert w o r d e n . 8 0 W e n n wir im f o l g e n d e n vers u c h e n , für die A n a l y s e der Entwicklung d e r w e s t d e u t s c h e n Politikwissenschaft die K a t e g o r i e d e r G e n e r a t i o n e n f o l g e z u operationalisieren, d a n n ist d a m i t a u c h ein W e g beschritten, u m für die Politikwissenschaft d i e s e n inhärenten und e x t e r n e n Brennpunkt der B e o b a c h t u n g fruchtbar z u m a c h e n . E s g e h t u n s also nicht nur u m d a s V e r s t e h e n d e r "Meinung" d e r j e w e i l i g e n G e n e rationen ( w o b e i wir d e n Begriff der G e n e r a t i o n allein a u s

pragmatischen

G r ü n d e n auf die jeweiligen Hochschullehrer v e r e n g t h a b e n ) , s o n d e r n a u c h u m e i n e n Beitrag z u r inhärenten, stets aktuellen D e b a t t e ü b e r Inhalt und Ziel einer W i s s e n s c h a f t v o n d e r Politik. Mit dieser Sachorientierung ü b e r s t e i g e n wir d a n n a u c h e i n e n a m K a u s a l n e x u s orientierten G e n e r a t i o n e n b e g r i f f sozialwissenschaftlicher Forschung. H a n s - J o a c h i m Arndt hat w o h l als erster versucht, e i n e P h a s e n e i n t e i l u n g der G e s c h i c h t e d e r w e s t d e u t s c h e n Politikwissenschaft als G e n e r a t i o n e n g e schichte z u s c h r e i b e n . 8 1 Allerdings ist s e i n e Studie noch deutlich bestimmt v o n d e n politischen A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n

innerhalb d e r

politologischen

scientific Community über e i n e a n g e b l i c h e o d e r tatsächliche "Linkswendung" der Disziplin E n d e d e r s e c h z i g e r und z u B e g i n n der Siebzger J a h r e . Für Arndt markiert d e r Ü b e r g a n g v o n d e r G r ü n d e r g e n e r a t i o n d e r w e s t d e u t s c h e n Poli-

7 9

D i e s e E x t e r n a l i s i e r u n g m ü ß t e j a a u c h d i e e i g e n e Position d e s e x t e r n e n B e o b a c h t e r s u m f a s s e n . D a m i t k a n n a b e r k e i n e B e g r ü n d u n g in w i s s e n s c h a f t l i c h e n S t r e i t f r a g e n mobilisiert w e r d e n . E s w ü r d e j e d e scientific C o m m u n i t y in d e r B u n d e s r e p u b l i k d o c h s e l t s a m b e r ü h r e n , w e n n e i n e s ihrer M i t g l i e d e r öffentlich a u f e i n e m F a c h k o n g r e ß g a n z e x t e r n a l i s t i s c h b e s t i m m t e w i s s e n s c h a f t l i c h e P o s i t i o n e n mit d e r B e g r ü n d u n g z u r ü c k w i e s e , d i e P e r s o n d e s A r g u m e n t i e r e n d e n s e i i h m unlieb, politisch v e r d ä c h t i g , s t e h e s e i n e r e i g e n e n K a r r i e r e i m W e g e , gehöre d e m falschen Geschlecht an, trage einen spezifischen M a k e l usw. D e r externe Beo b a c h t e r k a n n i m m e r nur p o s t f a c t u m e r k l a r e n , w a r u m sich b e s t i m m t e P o s i t i o n e n in d e r Disziplin nicht d u r c h g e s e t z t h a b e n , o b w o h l sich ihre f a c h w i s s e n s c h a f t l i c h e R i c h t i g k e i t s c h l i e ß l i c h h e r a u s g e s t e l l t h a b e ( u n d d a n n fällt s o l c h e n Z u s c h r e i b u n g e n e r h e b l i c h e B e d e u tung zu).

80

Vgl. Wolfgang Ludwig Schneider, Objektives V e r s t e h e n - Rekonstruktion eines Paradigmas: G a d a m e r , Popper, Toulmin, Luhmann, Opladen 1991.

81

H a n s - J o a c h i m A r n d t , D i e B e s i e g t e n v o n 1 9 4 5 - V e r s u c h e i n e r Politologie für D e u t s c h e s a m t W ü r d i g u n g d e r P o l i t i k w i s s e n s c h a f t in d e r B u n d e s r e p u b l i k D e u t s c h l a n d , Berlin 1 9 7 8 .

Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

79

tikwissenschaft und ihren "ersten" Schülern zu deren Schülern eine Achsenzeit

der

Universalisierung

des

Untersuchungsgegenstandes

und

der

"Lagevergessenheit" deutscher Politologie. Die Konstruktion einer spezifischen Generationenabfolge dient hier auch politisch-polemischen Zwecken der Delegitimation der Nachkommenden. Klappsymmetrisch entwickelt sich in dieser von Arndt vehement gescholtenen neuen Politikwissenschaft das Bewußtsein eines Generationenwechsels; hier sind es dann die "Väter" der Disziplin, deren Arbeiten - jedenfalls in ihrem main-stream - als unergiebig, unreflektiert, ja unwissenschaftlich gelten.82 Beide Ansätze scheinen uns letztlich begrenzt in ihren Beobachtungen der externen Wirkgrößen politologischer Wissensentfaltung und ihren internen wissenschaftstheoretischen Positionsrahmen. Der Begriff der "Lage" - als Forderung an eine Politikwissenschaft, Wirklichkeitswissenschaft zu werden und über die Bedingungen der Möglichkeit normativer Aussagen zu reflektieren -, erfüllt durchaus eine wichtige Funktion im wissenschaftstheoretischen, epistemologischen Diskurs der Disziplin. Allerdings gerät Arndts eigenes Konzept der "Lagewissenschaft" in Begründungsprobleme. Denn über die banale Feststellung hinaus, daß räumliche und zeitliche Positionen die Umwelt des politischen Systems und seiner Wissenschaft bestimmen, gerinnt die "Lagewissenschaft" schnell zur Geopolitik und reiht sich so als spezifische Ontologisierung des Politischen in zähllose andere Wesensbestimmungen des Politischen (von denen die Disziplin ohnehin übervoll ist) ein, ohne besondere Privilegierung beanspruchen zu können. "Lage" wird so zum Ausdruck problematischer Monokausalität, hinter der sich eine spezifische Normativität verbirgt, die jedoch ihre Voraussetzungen nicht reflektiert. Politikwissenschaft als "Lagewissenschaft" ist nur wenig entwickelt. Die im Anschluß an Arndt produzierten Konkretisierungen sind analytisch nicht ergiebig.83 Ähnlich ergeht es auch dem Konzept derjenigen Generationenkritiker, die den Gründern der Disziplin unwissenschaftliches Demokratiepathos vorwerfen und das Fehlen politökonomischer Fundierungen beklagen. Hier ist ebenfalls eine Engführung des vorgelegten Konzepts einer neuen Politikwissenschaft festzustellen, die ihre Geltungsansprüche weder epistemologisch, noch theoretisch bzw. empirisch einlösen konnte. Die vorhandenen normativen Begrün-

82

Vgl. etwa Bernhard Blanke/ Ulrich Jürgens/ Hans Kastendiek, Kritik der Politischen Wissenschaft - Analysen von Politik und Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft, 2 Bde, Frankfurt/ New York 1975 und Hans Kastendiek, Die Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, Frankfurt/New York 1977.

83

Vgl. Volker Beismann/ Markus Josef Klein, Politische Lageanalyse. Festschrift für HansJoachim Arndt zum 70. Geburtstag am 15. Januar 1993, Bruchsal 1993

80

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

dungsdefizite sind innerdisziplinär beschrieben und kritisiert worden. 84 Daneben ist eine Beschreibung der Disziplin und ihrer Geschichte anhand der Unterscheidung politökonomisch (kritisch-dialektisch) vs. idealistisch (normativontologisch) unergiebig, da auf beiden Seiten der Unterscheidung mit einem undifferenzierten Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff operiert wird. Verkürzen beide Sichtweisen doch die Entwicklung der Disziplin auf inhärente, inhaltliche Entwicklungen bzw. Fehlentwicklungen. Aber ein solches Vorgehen verkennt die externen Bedingungen wissenschaftlicher Wissensproduktion, z.B. Institutionalisierungspfade, Stellung im Kanon des Wissenschaftsbetriebs, Schulbildungen und Karrieremuster, politische Einflüsse etc. Und es kann doch bei einer Wissenschaft von der Politik nur die naiven Beobachter konsternieren, daß die Umwelt dieser Disziplin für die Entwicklung der Disziplin von besonderer Wichtigkeit ist. Denn als Wissenschaft von der Steuerung der Gesellschaft (früher kleidete man diesen Sachverhalt der Steuerungswissenschaft eher in Bilder der klugen Lenkung des Staatsschiffes, der Sicherung, Ordnung und Führung usw.) legt sie Wert auf Nähe zum politischen System als ihrer Umwelt. Das Eingebundensein von Politologen in politische Prozesse markiert also nicht zwangsläufig einen Abfall von den Idealen wissenschaftlicher Distanz 85 , sondern Normalität. Diese Überlegung ist für die Erarbeitung eines heuristischen Schemas zur Generationenabfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft weitreichend, verweist es doch auf die Bedeutung von konkreten historischen, gesellschaftlichen und politischen Rahmungen. Nun kann man den Begriff "Generation" nach Karl Mannheim in dreierlei Weise definieren: als "Generationslagerung", "Generationszusammenhang" und "Generationseinheit".86 Während "Lagerung" nur das biologische Faktum gleicher oder verwandter Geburtszeit "im selben historisch-sozialen Räume" meint, erfordert ein "Generationszusammenhang" die "Partizipation an den gemeinsamen

Schicksalen

dieser

historisch-sozialen

Einheit".

Eine

"Generationseinheit" bezeichnet darüber hinaus "ein einheitliches Reagieren, ein im verwandten Sinne geformtes Mitschwingen und Gestalten der... Individuen, einer bestimmten Generationenlagerung". In den hier anschließenden Debatten ist immer wieder auf die relative Unschärfe der Definitionen hinge84

Vgl. Michael Th. Greven, Was ist aus den Ansprüchen einer kritisch-emanzipatorischen Politikwissenschaft vom Ende der 60er Jahre geworden? Eine Skizze des Paradigmas und seines Scheiterns, in: Gerhard Göhler/ Bodo Zeuner (Hrsg.), Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 221-246.

85

Im Konkreten muß dann immer entschieden werden, wie groß diese Nähe ist und ob die Wissenschaft ihre inhärenten Logiken und Normen aufgibt.

86

Karl Mannheim, Das Problem der Generationen (1928), in: Ders., Wissenssoziologie, Darmstadt/ Neuwied 1970, S. 544.

Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschalt

81

wiesen worden. Dabei spielt insbesondere die Frage eine Rolle, ob ein zu operationalisierender Generationenbegriff nicht schon jenseits chronologischer Zuordnungen die Wahrnehmungskonstruktion der Akteure in den Mittelpunkt stellen sollte, denn letztlich konstruiert die Perzeption der Generation diese erst. Mannheims Blick ist objektivistisch im Sinne einer die Selbstbilder der Akteure übersteigenden Generationenkonstruktion und schwebt ständig in der Gefahr, deduktiv die vorhandenen Zeugnisse, Materialien, Quellen in das vorgefertigte Schema zu pressen 8 7 . Folgerichtig hat sich in der auf Mannheim folgenden Literatur dieser Objektivierungsdruck erhöht und zu breiten Diskussionen darüber geführt, wann die jeweilige generationenspezifische Prägung erfolge, ob dies etwa in der sogenannten primären Sozialisation geschehe 88 oder in anderen Entwicklungsphasen, beispielsweise der Adoleszenz. Dabei stehen diese Ansätze in der latenten Gefahr, eine strikte Kausalität zu produzieren zwischen der Spezifik der jeweiligen Sozialisation und bestimmten Anschauungen und Verhaltensstilen von Wissenschaftlern. Die Bedeutung solcher Sozialisationshypothesen ist für unseren Untersuchungsgegenstand schon deshalb gering einzuschätzen, weil wir es mit einer besonderen Gruppe innerhalb allgemeiner Generationenangehörigkeit zu tun haben. (Politik-)Wissenschaftler folgen in ihrer spezifischen Tätigkeit eben nicht nur sozialisationstheoretischen Stempelmustern, sondern reihen sich in einen eigenständigen wissenschaftlich-politischen Diskurs ein, dessen Regeln sie folgen müssen, ganz unabhängig von sonstigen Prägungen. Bieten sich sozialisationstheoretische Überlegungen unter Umständen an, um latente, den betroffenen Individuen selbst verborgene Sinnhorizonte ihrer Handlungen verstehbar zu machen, so haben wir es beim Entwurf eines Generationenschemas für die westdeutsche Politikwissenschaft mit der Umkehrung dieses nach früher Prägung spürenden Beobachterstandpunktes zu tun. Nicht um die Enträtselung individueller Fallgeschichten geht es dabei, sondern um die Entwicklung eines heuristischen Schemas zur Analyse der Entwicklung einer wissenschaftlichen, akademischen Disziplin. Über Generationenzusammenhänge, die sich hier als Kontexte politischer Problemwahrnehmungen konstituieren, geben die zahlreichen Texte der Wissenschaftler Aufschluß, ohne daß es weiterer sozialisationsanalytischer Anstrengungen bedarf. Ihre "Prägung" in einem politisch-wissenschaftlichen Prozeß (und nicht als in Raum und Zeit fi-

87

So entstehen die Kunstfehler einer Nachvollzugshermeneutik, die an ihrem Untersuchungsgegenstand immer nur das versteht, was sie ohnehin schon weiß oder zu wissen glaubt.

88

Vgl. Fred Greenstein, Children and Politics, New Haven 1965

82

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

xierter Punkt früher Traumatisierungen) ist in diesem Zusammenhang von den Generationenangehörigen immer wieder selber artikuliert worden. 8 9 Bei einer Beschreibung der Entwicklung der westdeutschen Politikwissenschaft, der es um die Zusammenführung externer Beobachtungspositionen und -inhalte mit einem internen, an der überzeitlichen, inhärenten disziplinaren Logik orientierten Wissenschaftsdiskurs über die Generationen hinweg geht, operieren wir mit einem auf den folgenden Seiten nur zu skizzierenden Vier-Generationen-Modell. Die erste Generation besteht dabei aus den in der unmittelbaren Nachkriegszeit tätig werdenden Gründungsvätern der Disziplin (1945-Mitte der fünfziger Jahre). Geboren sind die Angehörigen dieser Gruppe ungefähr zwischen Ende des 19.Jahrhunderts und 1918. Die zweite Generation sieht sich als Schüler der Gründungsväter schon mit der gelungenen universitären Etablierung des Fachs konfrontiert und begleitet einen langsamen aber stetigen Ausbau der Disziplin, der Ende der fünziger Jahre/ Anfang der sechziger Jahre an Geschwindigkeit gewinnt. Diese Generation entstammt den Jahrgängen 1918/1920-1933. Die folgende dritte Generation rückt Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre auf die freiwerdenen Lehrstühle nach und erlebt eine massive personelle Aufstockung politikwissenschaftlicher Ausbildungskapazitäten, von der sie in großem Umfang profitiert. Diese Generation (Geburtsjahrgänge 1930er-Ende der vierziger Jahre) prägt bis heute die Disziplin. Im Fach besteht schon zu dieser Zeit ein festes Rekrutierungs- und Karrieremuster, das die meisten über eine Zeit als Assistent/ Oberassistent führt und in einer Lehrstuhlberufung mündet. Diese Phase der Assistententätigkeit wird wissenschaftlich (Theorieimport insbesondere aus den USA) und auch politisch (Studentenbewegung, Bundesassistentenkonferenz) zur Achsenzeit. Die anschließende vierte Generation (Geburtsjahrgänge der 50er Jahre) ist an den Hochschulen noch nicht oder nur marginal in die Professorenränge nachgerückt. Von ihr kann wissenschaftlich nur als potentielle Generation gesprochen werden. Sozial und wissenschaftlich könnte sie - etwa aufgrund der Altersstruktur der Gruppe der heutigen Lehrstuhlinhaber - zur "verlorenen Generation" der deutschen Politikwissenschaft werden.

89

Vgl. vielfache Zeugnisse in: Hans Karl Rupp/ Thomas Noetzel, Macht, Freiheit, Demokratie - Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft. Biographische Annäherungen, Marburg 1991 und Dies. (Hrsg.), Macht, Freiheit, Demokratie Bd. 2 - Die zweite Generation westdeutscher Politikwissenschaft, Marburg 1994

Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

83

Die erste Generation 90 Gerade weil sich die deutsche Politikwissenschaft - im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Erziehung zum Anschluß an das westliche Projekt der liberalen, pluralistischen Gesellschafts- und Staatsordnung - als Demokratiewissenschaft konstituiert, lastet auf ihr der Makel der "Unwissenschaftlichkeit". Mit diesem Argument hat ja dann auch das etablierte deutsche Universitätswesen die Einführung der Wissenschaft von der Politik als akademische Disziplin mit Mißtrauen begleitet. Die westlichen Besatzungsmächte dringen im Rahmen ihrer Politik der Re-education dann auch auf die Konstituierung einer wissenschaftlichen Disziplin, die die Akzeptanz der liberal-demokratischen Grundordnung sichern hilft: Politikwissenschaft ist für sie selbstverständlich Demokratiewissenschaft91. Die Vorhaben der Westmächte ermunterte westdeutsche und Berliner Politiker - wobei sich Sozialdemokraten und Liberale besonders hervortaten 92 . Professuren wurden durchaus nicht gleichmäßig und gleichzeitig über Westdeutschland und Westberlin verteilt. Es gab unterschiedliche Umsetzungsstrategien des gemeinsamen Willens der alliierten und deutschen Autoritäten: zentrale Hochschulen für Politik versus dezentrale politikwissenschaftliche Institute an Universitäten; es gab darüber hinaus unterschiedliche Geschwindigkeiten: Kultusministerien in sozialdemokratisch dominierten Länderregierungen handelten zügiger als Kulturressorts in christdemokratisch geführten Kabinetten. Die Berufenen erwiesen sich auch unterschiedlich interessiert und engagiert: einige wollten eigentlich nur eine Gastrolle in Deutschland spielen so Carl Joachim Friedrich, der nie ganz nach Deutschland zurückkehrte; an-

90

Wolfgang Abendroth, Arnold Bergstraesser, Theodor Eschenburg, Ossip K. Flechtheim, Ernst Fraenkel, A. R. L. Gurland, Ferdinand A. Hermens, Eugen Kogon, Siegfried Landshut, Franz L. Neumann, Carlo Schmid, Otto Stammer, Dolf Sternberger, Otto Suhr, Eric Voegelin.

91

Die Sowjetunion verfolgte ein anderes Ziel: daß der Erziehung zu ihrem Sozialismusmodell. Obwohl die DDR Mitglied in der International Political Science Association (IPSA) war, hat sie auf eine Wissenschaft von der Politik verzichtet. Vgl. Max Kaase, Auferstehung der Ruinen - Zur Lage der Politikwissenschaft und Soziologie in den neuen Ländern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 5.1991, S. 35. Michael Th. Greven/ Dieter Koop (Hrsg.), War der wissenschaftliche Kommunismus eine Wissenschaft? Vom Wissenschaftlichen Kommunismus zur Politikwissenschaft, Opladen 1993

92

Vgl. die Gründungskonferenzen in Waldleiningen und Königstein und die Arbeiten von Arno Mohr, Politikwissenschaft als Alternative - Stationen einer wissenschaftlichen Disziplin auf dem Wege zu ihrer Selbstständigkeit in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1965, (Politikwissenschaftliche Paperbacks Bd. 13) Bochum 1988 und Hubertus Buchstein, Politikwissenschaft und Demokratie - Wissenschaftskonzeption und Demokratietheorie sozialdemokratischer Nachkriegspolitologen in Berlin, (Nomos Universitätsschriften Politik Bd. 31), Baden-Baden 1992.

84

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

dere entschieden sich kurz nach ihrer Berufung lieber doch wieder für den diplomatischen Dienst - so Ernst Wilhelm Meyer. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat sich in die ersten Lehrstuhlinhaber nachhaltig eingeschrieben. Erster Weltkrieg, November-Revolution und Etablierung der UdSSR als staatsterroristisches System, Zwischenkriegszeit und Zusammenbruch der Weimarer Republik, europäische Faschisierung und Holocaust, Zweiter Weltkrieg, Ende des Faschismus und Kalter Krieg markieren den Erfahrungsraum dieser Repräsentanten des Faches. Die nachfolgenden Schüler sahen sich einem solchen Erlebnishorizont nicht mehr ausgesetzt. Die "Gründungsväter" sind Beobachter, Teilnehmer, Opfer der Wechsel _von 1918, 1933 und 1945. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Anspruch politikwissenschaftlicher Orientierung seine Dramatik. Fast alle Gründer (vielleicht mit Ausnahme des Kölners Ferdinand A. Hermens) waren stark geistesgeschichtlich-normativ orientiert. Und selbst Hermens umfangreiche Beschäftigung mit Wahlrechtsfragen, seine detaillierten und komparativen Untersuchungen zum Mehrheits- und Verhältniswahlrecht speisen sich aus der Erfahrung des verfassungsrechtlich dysfunktional gelagerten Weimarer Reichstages und der Sorge um die Stabilität der Bundesrepublik. Normativität ist dann auch das entscheidende Stichwort bei der weiteren Kennzeichnung der ersten Generation. Diese deutliche Werthaltung, die die Frage nach dem Soll politischer Ordnung in den Mittelpunkt ihrer Reflexionen stellt, ist auch eine Reaktion auf das Erleben eines dreimaligen Wechsels des politischen Regimes. Die Gründungsväter sind die eigentlichen "Übergangsmenschen" der Disziplin 93 . Zu diesem Muster gehören auch die politischen Bildungsaktivitäten rund um die Deutsche Hochschule für Politik (DHfP). Hier soll nicht auf die Deskription von Kontinuitäten und Brüchen bei der Installierung der westdeutschen Politikwissenschaft näher eingegegangen werden 9 4 , doch stellt etwa das Rechtsdenken Hugo Sinzheimers einen Knotenpunkt der späteren Disziplin dar. Von Sinzheimer wurden - mehr oder weniger stark - Franz L. Neumann, Ernst Fraenkel, Carlo Schmid und Wolfgang Abendroth geprägt. Und von dieser Frankfurter Arbeitsrechtsschule weisen Pfade zur Bildungsarbeit eines Teils der Arbeiterbewegung und zur DHfP. Ohne die Arbeit der DHfP 93

Martin Doerry, Übergangsmenschen - Die Mentalität der Wilhelminer und die Krise des Kaiserreichs, 2 Bde. Weinheim/ München 1986, dort auch eine erhellende Diskussion von Mannheims Generationen-Konzept.

94

Gerhard Göhler, Die Wiederbegründung der Deutschen Hochschule für Politik - Traditionspflege oder wissenschaftlicher Neubeginn?, in: Ders.,/ Zeuner, Kontinuitäten und Brüche, S. 144- 164 und Ders., Einleitende Überlegungen zum Kontinuitätsproblem, in: Ebd., S. 8-22.

Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

85

romantisieren und ihre Kontinuität zur westdeutschen Politikwissenschaft überschätzen zu wollen 95 , kann doch darauf hingewiesen werden, daß ihre Tätigkeit sozusagen einen (zum Teil mißglückten) Probelauf für die Nachkriegs-Disziplin bedeutete. Es ist gleichwohl für den Horizont dieser Gruppe schon bezeichnend, daß eine Auseinandersetzung mit der problematischen Nähe der DHfP zum völkischen Nationalismus in der Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus unterbleibt.96 Aber es gibt auch die Tradition einer leibphilosophischen, vernunftkritischen

Stellung

zur

gesellschaftlichen

und

politischen

Modernisierung

Deutschlands in der Zwischenkriegszeit, die sich im Werk Bergstraessers und Voegelins manifestiert und für die Entwicklung des Faches nach 1945 nicht unerheblich ist. Neben der sozialdemokratischen Traditionslinie steht damit auch eine spezifische konservative Krisendiagnostik am Beginn der westdeutschen Politologie. Bergstraesser und Voegelin haben schon in der Zwischenkriegszeit gegen die faschistischen Mobilisierungen Konzepte autoritärer (nicht faschistischer) Stabilisierung des politischen Systems entwickelt. Beide überprüfen beispielsweise Szenarien ständestaatlicher Politikformen auf ihre scheinbare Gemeinwohlorientierung jenseits partikularer Differenzierung ohne Einheitsstiftung. Dazwischen ist der klassisch liberale Diskurs des Politischen anzusiedeln, wie er sich im Denken Eschenburgs und Sternbergers schon in den zwanziger und dreißiger Jahren manifestiert und relativ unverändert in die Bundesrepublik hinübergerettet wird. Andererseits kennzeichnet

die

frühe

Politikwissenschaft

der

Bundesrepublik

ein

"demokratisches Belehrungspathos" (von Beyme), das in seiner Normativität gerade praktisch-politisch, publizistisch und öffentlichkeitsorientiert von Kogon oder (wenn auch mit anderen Akzenten) Flechtheim verkörpert wird. Politikwissenschaftlich ist allerdings der Theorieimport der frühen Politikwissenschaftler durchaus beträchtlich. Sie führen Ideen des Pragmatismus, der Phänomenologie, des Pluralismus, des Marxismus und Hegelianismus, der Ontologie und Metaphysik(kritik) in die Disziplin ein. Die Erfahrung schnell wechselnder politischer Ordnungen führt hier bei einigen zu einer Rezeption spezifischer Teile westlicher Sozialwissenschaft, die aber zumeist noch in der Emigration rezepiert worden sind und nach 1945 als Begründungsfiguren in der demokratiehteoretischen Argmentation dienen. Erinnert werden soll in

95

Detlef Lehnert, "Politik als Wissenschaft": Beiträge zur Institutionalisierung einer Fachdisziplin in Forschung und Lehre der Deutschen Hochschule für Politik (1920-1933), in: Politische Vierteljahresschrift, 31. Jg., 1989, Heft 3, S. 443-465.

96

Vgl. Rainer Eisfeld, Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920-1945, Baden-Baden 1991

86

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

diesem Zusammenhang an Fraenkels Rezeption des anglo-amerikanischen Neo-Pluralismus. Andere verfolgen demgegenüber Konzepte der Rekonstruierung klassischer Begriffsfüllungen des Politischen, wenden sich antiken Denkfiguren zu, versuchen politische Zyklen an die Geschichte menschlicher Zivilisationen zu binden. An diesen knappen Hinweisen wird nicht nur die relative Heterogenität dieser Gründergeneration deutlich, die aufgrund der ordinarialen Struktur der westdeutschen Universität ihren persönlichen wissenschaftlichen Vorlieben folgen konnten, sondern auch die Weite des durch die Regimewechsel hervorgerufenen Suchhorizontes.

Die zweite Generation97 Die zweite Generation der Politikwissenschaft in Deutschland nach dem Kriege läßt sich zunächst einmal aus ihrer biographischen Differenz zur ersten Generation erklären: Während sämtliche Gründerväter aus der Zeit des Kaiserreichs bzw. des Ersten Weltkrieges stammen, also ihre Jugend in der Zeit des Ersten Weltkriegs und den Jahren der Weimarer Republik erlebten, bezeichnen wir als Angehörige der zweiten Generation jene, die in den Jahren der Weimarer Republik geboren wurden. Diese Generation besetzte ungefähr ab Anfang der sechziger Jahre die freiwerdenden bzw. neuausgeschriebenen Lehrstühle für Politikwissenschaft. Es entstand in diesen Jahren eine Gemeinschaft originärer westdeutscher Politikwissenschaftler, was auch darin deutlich wird, daß die ihr Angehörenden erstmals in der Geschichte der Disziplin als Politikwissenschaftler habilitieren konnten und eine entsprechende venia erhielten. An dieser Stelle sollen einige Aspekte dieser Prägung durch ihre jeweiligen (kollektiven) Erfahrungen in der Zeit des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges angesprochen werden: Die Angehörigen der Jahrgänge 1919 bis 1933 eint die Erfahrung eines menschenverachtenden totalitären Systems, dem sie wenig entgegensetzen konnten. Ob es im Einzelfall möglich war, in der Familie genug moralische Substanz und Geborgenheit zu erfahren, um der totalitären Faszination zu widerstehen, muß jeweils fraglich bleiben. Wenn sich Wissenschaftler im Rückblick hierzu äußern - so etwa Iring Fetscher wird die erhebliche Verführungskraft der ihre Jugendlichkeit und Zukunftsorientiertheit betonenden und damit die "Bürgerlichkeit" des Elternhauses attak97

Etwa Hans Buchheim, Karl Dietrich Bracher, Ernst-Otto Czempiel, Thomas Ellwein, Iring Fetscher, Wilhelm Hennis, Gerhard Lehmbruch, Kurt Lenk, Peter Christian Ludz, Hans Maier, Peter von Oertzen, Kurt Sontheimer, Rudolf Wildenmann.

Zur Generationenfolge

in der westdeutschen

Politikwissenschaft

87

kierenden NS-Jugendorganisationen bezeugt. Gleichzeitig finden sich allerdings auch oft Erzählungen - etwa bei Czempiel, Hennis, Maier - der relativen Resistenz gegenüber den totalitären Gleichschaltungsversuchen, wobei insbesondere die politische und/ oder religiöse Orientierung des Elternhauses verhaltene Oppositionshaltungen verstärkte. Ein weiteres einschneidendes Erlebnis dieser Generation markiert der 8.Mai 1945. Das Ende des Krieges wurde als Befreiung wahrgenommen; tiefreichend sollte die Erfahrung der Überlegenheit des liberal-demokratischen Wertesystems gegenüber dem nationalsozialistischen Regime wirken. Erhard Eppler hat aber auch beispielhaft die plötzliche Furcht Vieler bezeugt, für die Kosten der Nazi-Ideologie ein Leben lang büßen zu müssen. Damit einher ging die Wahrnehmung einer umfassenden Perspektivlosigkeit: "Wer in aller Welt sollte daran interessiert sein, uns den verdorbenen Resten einer verheizten Generation, eine Chance zu geben?" 98 Hieraus ergibt sich aber nicht nur eine quasi kompensatorische Übernahme von Wertehaltungen der "Sieger", die schnell verinnerlicht und nach außen leidenschaftlich verteidigt werden. Prägend ist neben der Furcht der Haftbarmachung auch die Entschlossenheit dieser Generation, das neue, demokratische Staatswesen aufbauen zu wollen. Immer wieder artikuliert sie ihre große Loyalität zum politischen System der Bundesrepublik. Diese Bindung zur neuen demokratischen Grundordnung und ihren Institutionen liefert auch einen Grund für die rigorose Stellungnahme einiger Gelehrter zu antiliberalen Positionen in der "Achtundsechziger"-Bewegung. Gerade in den kulturellen Aspekten des Protestes wurden die tradierten "unpolitischen Tugenden" auch der Aufbaugeneration wie Disziplin, Härte gegen sich selbst, Bereitschaft zur Unterordnung herausgefordert. Bemerkenswerterweise begegnete die Großväter-Generation (Carlo Schmid, Dolf Sternberger z.B.) diesen - vorübergehenden - Phänomenen eher mit Heiterkeit und Ironie; die fast noch jungen Professoren wie Kurt Sontheimer und Karl-Dietrich Bracher ließen sich herausfordern. Durchaus ging es bei diesem zentralen Konflikt in der Hochschul-Zeit dieser Fachvertreter inhaltlich um die Frage liberale Demokratie

versus

Erlösungsmythen

einer

uneinlösbaren

Zukunft,

um

"Zivilgesellschaft" versus "Jakobinischer Terror-Herrschaft". Dahinter stand aber

auch ein gesamtgesellschaftlicher

Führungsanspruch

der

liberal-

demokratischen Aufbaugeneration, der in den sechziger Jahren plötzlich in Legitimationsschwierigkeiten geraten war: Der Krieg in Vietnam ließ die mora-

98

Werner Filmer/ Heribert Schwan (Hrsg.), Mensch, der Krieg ist aus. Zeitzeugen erinnern sich, Düsseldorf/ Wien 1985, S. 90

88

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

lische Überlegenheit eines antitotalitären Systems wie der USA plötzlich zweifelhaft werden. Im Rückblick und mit dem gegenwärtigen Wissen kann man feststellen, daß die hier vorgestellte Wissenschaftler-Generation historisch Recht behalten hat: "annus mirabilis" 1989 (Bracher) präsentierte einen erneuten Sieg jenes Demokratiemodells, das in den Kriegsgefangenenlagern der USA und Großbritanniens (den berühmten "Lageruniversitäten") und den Bildungsbemühungen der unmittelbaren Nachkriegszeit gelehrt worden w a r . " Demokratie wurde quasi selbstverständlich als Sicherung der individellen Freiheitsrechte der Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, des normativen und politischen Pluralismus, der systemischen "checks and balances", hinter denen sich die Schutzräume gegen staatliche Übergriffe öffnen, verstanden. Westbindung und Überwindung deutscher Sonderwege machten die Angehörigen der zweiten Generation zu ihrer (auch ganz persönlichen) Angelegenheit. In diesem Kontext müssen nicht zuletzt die Aktivitäten im Rahmen einer Aussöhnung mit den westlichen - und schließlich auch östlichen - Nachbarn Deutschlands genannt werden, die von der Mitarbeit in entsprechenden internationalen Gruppen, Jugendwerken bis zum akademischen Austausch und dem Knüpfen intellektueller, grenzüberschreitender Verbindungen reichen. Die zweite Generation war international orientiert. Eine Sonderrolle wird der Bundesrepublik nicht mehr zugeschrieben; und die hier porträtierten Politikwissenschaftler brechen mit einer verhängnisvollen Tradition des politischen Denkens in Deutschland, das sich immer wieder in metaphysischer Spekulation und geopolitischer Kurzschlüssigkeit eines germanischen Sonderwegs oder besonderen Ordnungsaufgaben Deutschlands in Europa verfangen hatte. Diese Westbindung prägt einen großen Teil der Angehörigen dieser Generation bis in ihre methodologischen Anstrengungen hinein. Wurde die politikwissenschaftliche Arbeit der Gründungsväter vor allem durch hermeneutische Bemühungen bestimmt, die sich selbst als Fortsetzung einschlägiger Traditionslinien im geisteswissenschaftlichen Diskurs verstanden und bis auf Schleiermacher und Dilthey zurückreichten, und war der darüberhinausgehende Theorieimport - wenn auch nicht unbeachtlich - vor allem doch eklektizistisch, so öffnet sich die folgende Wissenschaftlerkohorte internationalen, besonders in Großbritannien und den USA geführten Debatten über Theorie und Methodologie politischer Wissenschaft. In diesem Zusammenhang sei nur auf den Import systemfunktionaler Theorien und Modellüber99

Vgl. Bernhard Pié, Wissenschaft und säkulare Mission. "Amerikanische Sozialwissenschaft" im politischen Sendungsbewußtsein der USA und im geistigen Aufbau der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1990

Zur Generationenfolge in der westdeutschen

Politikwissenschaft

89

legungen hingewiesen. Insgesamt nimmt die erkenntnistheoretische, methodologische und methodische Selbstreflexion des Faches zu. Die Wissenschaft von der Politik entwickelt sich damit analog zu anderen Wissenschaften hin zu stärkerer Differenzierung und Professionalisierung. Demgegenüber tritt das normative Element zurück. Politikwissenschaft bleibt zwar Demokratiewissenschaft und kann ihren normativen Bezugspunkt nur zum Preis ihrer Auflösung als Disziplin aufgeben, aber zunehmend rücken detailorientierte und methodologisch elaborierte Untersuchungsgegenstände ins Blickfeld. Diese Professionalisierung durch Szientifizierung bestimmt die Entwicklung des Faches auch in ihrer ersten Erweiterungsphase zu Beginn der sechziger Jahre. Damit geht eine Spezialisierung und Differenzierung einher, die auch schon die zweite Generation in ihrem wissenschaftlichen Vorgehen prägt. Demgegenüber waren die Vorgänger noch durch die Geste und den Anspruch umfassenden Wissens und allgegenwärtiger Kompetenz bestimmt. In Forschung und Lehre mußten sie alle Bereiche der Disziplin - von der Theorie, über Ideengeschichte und politischer Philosophie bis hin zu Innenpolitiken, Systemvergleichen und internationalen Beziehungen - abdecken. Man denke in diesem Zusammenhang nur an Abendroth, Bergstraesser oder Kogon, in deren Werk all diese Fragestellungen Spuren hinterlassen haben. Doch diese Form akademischen Mehrkampfes kann gegenüber den Ansprüchen einer sich immer weiter auffächernden Disziplin, die in ihren Einzelbereichen nur noch schwer überschaubare Erkenntnisse produziert und eine Eigenlogik der Binnendifferenzierung ausprägt, auf Dauer nicht konkurrieren. Bezeichnenderweise nehmen auch von Generation zu Generation die deutlichen Verbindungen von persönlichem Leben, individuellen Idiosynkrasien, politischen Erfahrungen und wissenschaftlichem Werk ab. Die Arbeit der Gründerväter reflektiert die Jahrhunderterfahrungen der beiden Weltkriege und vor allem die Etablierung totalitärer Systeme mit ihrer Perfektionierung von Terror und Massenmord. Bei aller Unterschiedlichkeit bestimmter Grundüberzeugungen sind die Vertreter der ersten Generation in ihrer Lebenspraxis tiefwirkend durch die Erfahrung des nationalsozialistischen Regimes bestimmt worden. Unterdrückung, Gefährdung und Verfolgung gehörten zu ihrem Leben. Auch die zweite Generation ist noch durch die NS-Herrschaft, Krieg und Befreiung existentiell geprägt; ihre politikwissenschaftlichen Fragestellungen entspringen diesem Erleben. Ähnliche kollektive Prägungen gibt es für die Nachfolger - zum Glück - nicht mehr. Die Logiken der Wissenschaftsentwicklung bestimmen zunehmend den Gang der Dinge. 1 0 0 Gleichzeitig nimmt die 100

Vgl. Joseph Ben-David, The Scientist's Role in Society. A Comparative Study, New Jersey 1971

90

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

Verbindung zur allgemeinen Öffentlichkeit ab. Die frühere Dramatik des Ringens um den Kern humaner, demokratischer Ordnungen kennt der Diskurs der politikwissenschaftlichen Erkenntnis heute nicht mehr. Die vielfältigen "Revolutionen" in den diversen wissenschaftlichen Selbst- und Weltbildern berühren über das Fachpublikum hinaus heute kaum noch jemanden. Wissenschaftliche Erkenntnisproduktion ist in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Bedeutungszuschreibung

bis zur freundlichen oder

unfreundlichen

Gleichgültigkeit entschärft. Wenigstens das verbindet die Politikwissenschaft mit allen anderen Wissenschaften 101 . In der zweiten Generation hat sich ein großer Teil dieser existentialen Bedeutung von Wissenschaft gehalten. Ausdruck findet diese Bedeutungszuschreibung in der zeithistorischen und analytischen Beschäftigung mit dem Scheitern der Weimarer Demokratie und den Schrecken totalitärer Herrschaft. In

den

systematischen

zeitgeschichtlich

orientierten

Studien

zur

NS-

Herrschaft und ihrem ideologischen Umfeld, in den neoaristotelischen Überlegungen nach Begründungsfiguren des summum bonum und Studien zum "Frieden" als politischer Zielgröße - um hier nur einige der Arbeitsfelder dieser Politologen zu nennen - scheint deutlich die Erfahrung von Terror und Krieg hindurch. Die Distanz des Wissenschaftlers verbindet sich produktiv mit dem Leben, der Praxis der Beteiligten, Betroffenen. Der polemische Ton, den viele Mitglieder dieser Generation in den Auseinandersetzungen mit vermeintlichen oder tatsächlichen Gegnern der bundesrepublikanischen Ordnung anstimmen, entspringt noch jener existentiellen Politikerfahrung von Unterdrückung, Krieg, Holocaust. Mit dieser Prägung geht der Wunsch einher, über das enge universitäre Expertenmilieu eine breite Öffentlichkeit erreichen zu wollen. Gerade weil sie die politischen Implikationen einer Wissenschaft von der Politik begreifen, zielen sie über den akademischen Rahmen hinaus. Wobei sie sich aber konsequent an der konkreten, jeder wissenschaftlichen Beschäftigung vorhergehenden Praxis des Politischen in der Bundesrepublik orientieren. Größere Distanz zum politischen System gibt es nicht, und so hat die zweite Generation sich kaum beteiligt an den besonders zu Beginn der siebziger Jahre geführten - und vor allem normativ gespeisten - Diskussionen über Legitimationsprobleme des spät- und/ oder wohlfahrtskapitalistischen Staates. Vielmehr wurden die Chancen zur politischen Einflußnahme in der Mitarbeit in Regie-

101

Vgl. Hermann Lübbe, Wissenschaft und Weltanschauung. Ideenpolitische Fronten im Streit um Emil Du Bois-Reymond, in: Gunter Mann (Hrsg.), Naturwissen und Erkenntnis im 19. Jahrhundert: Emil Du Bois-Reymond, Hildesheim 1981, S. 129-149

Zur Generationenfolge

in der westdeutschen

Politikwissenschaft

91

rungskommissionen, publizistischen Aktivitäten, Beteiligung an Rundfunkräten usw. gesucht. Dieser pragmatische Aspekt korrespondiert mit einer spezifischen Form der wissenschaftlichen Prosa. Neben der Fachorientierung ist ein großer Teil des Werks der zweiten Generation durch essayistische Formen bestimmt. Ihre Sprache ist bildkräftig und mit Gewinn werden Figuren der Erkenntnisproduktion eingesetzt, die gemeinhin den Ansprüchen wissenschaftlicher Begründungsmobilisierung nicht gehorchen, wie Parabel, Analogie, Metapher und andere rhetorische Figuren. Ohne größere Probleme und ohne Reputationsverlust können die Angehörigen dieser "Generation" ihre Ausdrucksformen wechseln. Episoden als Fernseh- und Rundfunkkommentatoren, Leitartikler mehr oder weniger renommierter Zeitungen, schriftstellerische Versuche als humoriger Zeitkritiker usw. gehören dazu. In diesen Ausdrucksgestalten nehmen die Repräsentanten des Fachs die Rolle des universalen Intellektuellen ein, der die Öffentlichkeit kritisch begleitet, ab und an interveniert und die politisch Verantwortlichen berät. Und Politikberatung wird in der Tat zum dritten großen Betätigungsfeld der zweiten Generation. Thomas Ellwein kann in diesem Zusammenhang beispielhaft erwähnt werden, aber auch andere der im folgenden vorgestellten Politikwissenschaftler betonen diese technokratischen Aspekte ihrer Arbeit, wobei diese Beratungstätigkeit nicht nur auf bessere Implementation zielt, sondern eine allgemeine Erhöhung des Rationalitätsniveaus der politischen Auseinandersetzung zum Ziel hat. Dem politischen Tagesgeschäft - wenn diese ökonomistische Metapher hier einmal erlaubt ist - soll (noch) mehr Vernunft beigebracht werden. Partizipation ist in diesen Vorstellungen eng mit einer Vergrößerung des gesellschaftlichen und politischen Reflexionspotentials verknüpft. Entsprechende Irritationen lösen dann auch soziale, politische und wissenschaftliche Erscheinungen aus, die sich diesem Rationalitätsverständnis nicht fügen. Die zweite Generation forscht, schreibt und spricht noch für die klassische, sich selbst noch nicht zum Problem gewordenen Moderne und ist in ihren Wahrnehmungen des Politischen an ebenso klassischen Fragen politischer Ordnung wie Souveränität, das Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen, dem Verteilungskampf, der Beziehung von Staat und Gesellschaft, Macht und Herrschaft etc. interessiert. Ihre Bemühungen sind dabei insgesamt von einem Vertrauen in die Stabilität eines westlichen, atlantischen Projekts der Moderne gegenüber fundamentalistischen Bedrohungen und Beeinträchtigungen der pluralistischen Wertorientierung bestimmt. Verhaltener Optimismus und ein beharrliches, unverdrossenes Festhalten an den Imperativen einer aufklärerischen Grundhaltung kennzeichnen ihre Interventio-

92

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

nen. Bei aller Zeit- und (manchmal sogar) Kulturkritik enthalten sich die Angehörigen der zweiten Generation düsterer Abgrundprophetien. Letztlich wird die Rede vom "Aufbau" zu ihrem eigentlichen Charakteristikum. Dieser Optimismus, diese Mitwirkungs- und Interventionsbereitschaft wurde den Politologen nicht immer gedankt. Die Geschichte der "zweiten Generation" erzählt auch von Enttäuschungen des Ungehörtseins, der Nichtbeachtung, der Marginalisierung. Oft konnte und wollte die politische Praxis auf gebetenen und ungebetenen

Rat verzichten.

Neue

Mitglieder der scientific Community

schauten durchaus auch einmal mit beißender Ironie auf die Wirkungsbemühungen der Älteren, ihren eigentümlichen schriftstellerischen Stil, ihr Verhalten in Lehre, Forschung und Selbstverwaltung der reformierten Universitäten. Einige quittieren diese Mißachtung zeitweise mit der verkrampften Rede der an den Rand gedrängten. Keine angenehme Situation, die Souveränität - und auch davon legen die Polemiken unserer Gelehrten Zeugnis ab - nur schwer aufkommen läßt. Gleichwohl sind sie nie in die Pose der Resignation geflüchtet; im Gegenteil gehört Beharrlichkeit zu ihren wichtigsten Eigenschaften.

Die dritte Generation 102 Die Angehörigen der dritten Generation gruppieren sich politisch und wissenschaftlich fast durchweg um die Studentenbewegung, die Ende der sechziger Jahre ihren Höhepunkt erreicht. Dabei sind es nicht so sehr die studentischen Aktivisten selber, sondern eher die Assistenten des damaligen Wissenschaftsbetriebs - und damit die "Schüler" der Angehörigen der zweiten Generation - die diese dritte Generation ausmachen. Sie profitiert dabei nicht nur von dem studentischen Protest, der das Thema einer umfassenden Hochschulreform auf die politische Tagesordnung setzt. Darüber hinaus korrespondiert dieser universitäre Diskurs mit einer allgemeinen Szientifizierung politischer Entscheidungsprozesse. Wissenschaftliche Politikberatung wird vom politischen System in vielfältigen Formen institutionalisiert. Damit einher geht der Ausbau der Disziplin an den Universitäten; Ende der siebziger Jahre 102 | S t e s m | t Bück a u f die erste und zweite Generation möglich, einige Repräsentanten des Fachs zu benennen und durch eine solche Personalisierung gleichzeitig die Konturen der Disziplin kompetent zu beschreiben, so ist das für die dritte Generation sehr viel schwieriger. Zumal die Beobachter dieser Generation ihr zumeist selber angehören. Gleichwohl wollen wir hier einige uns als in der einen oder anderen Weise typisch erscheinenden Fachvertreter nennen: Ulrich von Alemann, Udo Bermbach, Klaus von Beyme, Jürgen W. Falter, Michael Th. Greven, Adrienne Höretier, Peter Graf Kielmannsegg, Ekkehart Krippendorf, Wolf-Dieter Narr, Frieder Naschold, Fritz. W. Scharpf, Ursula Schmiederer, Dieter Senghaas,

Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

93

beträgt die Zahl der politikwissenschaftlichen Lehrstühle fast 300. An dieser Stelle wird wieder einmal deutlich, wie die politische und gesellschaftliche Umwelt die Entwicklung des Fachs bestimmt. Waren es Ende der fünfziger Jahre die vor allem im Kontext gehäufter antisemitischer Vorfälle geführten Debatten über eine systematische Installierung politischer Bildung an den Schulen (für deren Lehrerausbildung gerade auch die Politikwissenschaft ausgebaut wurde), so ist es in den sechziger Jahren ein ubiquitärer Diskurs über Möglichkeiten politischer Steuerung der Gesellschaft, der zur Expansion des Faches in vorher ungekannten Größenordnungen führt Auf der normativen Ebene setzen die Angehörigen der dritten Generation den demokratietheoretischen Diskurs der Disziplin fort. Allerdings ändern sich - auch angesichts des zeitgenössischen Erfahrungsraumes - die Argumentationsrichtungen, werden doch vielfältige Demokratiedefizite (nicht nur) der bundesrepublikanischen Ordnung beklagt. Dem status quo schuldet diese Gruppe keine Loyalität. Vielmehr werden Konzepte umfassender, "wirklicher" Demokratisierung von Staat und Gesellschaft entwickelt. Zu diesem neuen demokrathietheoretischen Diskurs gehören Versuche, durch den Rückgriff auf hegel-marxistische Denkfiguren die materiale Basis "bürgerlicher" Demokratie auszuweisen und zu kritisieren, und erste Ansätze - etwa in Anlehnung an Etzionis Terminologie der "active Society" - "neue soziale Bewegungen" als eigentliche Trägerschichten politischer Partizipation zu definieren. Durch Beteiligung, durch Herstellen von Öffentlichkeit soll die Rationalität des politischen Systems erhöht werden. Demokratie wird hier deckungsgleich mit Selbstbestimmung der Individuen und Effizienzsteigerung der politischen Mechanik. Diese Debatte über Horizonte demokratischer Ordnungen bezieht einen Teil ihrer Energie auch aus der Kritik an den Handlungsweisen der USamerikanischen Vormacht. Ohnehin kann festgestellt werden, daß für einen beträchtlichen Teil dieser Politikwissenschaftler Empörung über ungerechte, antidemokratische, neofaschistische Erscheinungen ihre wissenschaftlichen Arbeiten bestimmt. Ob aus dieser moralischen Geste schließlich politikwissenschaftliche Theoriebildung folgt, wollen wir an dieser Stelle nicht weiter untersuchen. Festgestellt werden kann allerdings, daß die dritte Generation insgesamt wenig zum Zusammenhang von politischer Normativität und den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Begründungsmobilisierung forscht. Dieser Mangel korreliert mit einigen Veränderungen im Design der Politikwissenschaft. So verliert der Bereich traditioneller politisch-philosophischer "Ideengeschichte" rapide an Bedeutung. Dagegen verstärkt sich - wenigstens quantitativ - der metatheoretische und methodologische Diskurs. Statt Ideengeschichte rückt eine "politische Theorie" in den Mittelpunkt der Bemühungen,

94

Kapitel II: Politikwissenschaft

in

Deutschland

die durch fundierte metatheoretische und methodologische Überlegungen das Reflexionsniveau der Disziplin erhöhen soll. In diesen Jahren erscheinen viele politikwissenschaftliche Einleitungen (Wir erinnern hier an Texte von Abendroth/ Lenk, Görlitz, Kress/Senghaas u.a.); offensichtlich besteht nicht nur ein Bedürfnis, die schnell wachsende Disziplin für die Studienbeginner übersichtlich zu machen, sondern diese verschiedenen Einleitungen dienen darüber hinaus zur Selbstverständigung unterschiedlicher "Schulen" und "Theorien". Wohl nicht zufällig gelingt es Wolf-Dieter Narr, mit seiner Beschreibung einer "Trias" (normativ-ontologisch, empirisch-analytisch, dialektisch-kritisch) der politikwissenschaftlichen Theoriebildungen formbildend zu werden. Diese Definition der Fremd- und Selbstbeschreibungen dient neben wissenstheoretischen Überlegungen auch wisenschaftspolitischen Zielsetzungen, weil - wie immer die jeweilige Trias normativ besetzt wird - in dieser Unterscheidung die Delegitimation bestimmter "Theorien" enthalten ist. Durch diese Trias differenziert sich nicht nur der inhaltliche politikwissenschaftliche Diskurs, auch die institutionellen Vernetzungen sehen sich durch diesen wissenschaftlichenpolitischen Streit in Form der Delegitimation anderer Positionen einer starken Belastungsprobe ausgesetzt. Verglichen mit der Polarisierung des Faches am Ende der sechziger und zu Beginn der siebziger Jahre nehmen sich die Auseinandersetzungen

in

der

Gründergeneration

wie

eine

"Familien-

Geburstagsfeier" (von Beyme) aus. Hinter diesen epistemologisch geführten Debatten steht ein normativ orientierter Disput, der aber nie richtig manifest wird. Über "Parteinahme", Nähe und Feme zum bundesrepublikanischen politischen System, Orientierung auf soziale Bewegungen etc. wird zwar (v)erbittert gestritten, aber letztlich wird dieser Streit scheinhaft verobjektiviert und

zur

Auseinandersetzung

um

"Wissenschaftlichkeit"

oder

"Unwissenschaftlichkeit" gemacht. Das Beharren äuf "szientistischen" Fundierungen verweist neben aller strategischen Orientierung auf eine Statusveränderung der Politikwissenschaft der dritten Generation. Zwar bleibt sie in ihren Relevanzdebatten auf Zuschreibungen aus ihrer Umwelt angewiesen, aber darüber hinaus entwikkelt sich jetzt sehr viel stärker als früher ein inhärenter, binnenlogischer Fachdiskurs. Es paßt zu dieser Modernisierung und Trivialisierung der Disziplin, die in der Entwicklung einer solchen internen Szientifizierung ihre relative Normalität im akademischen Milieu beweist, daß die Außenwirkung der Disziplin scheinbar

nachläßt.

Erwin Faul hat zwar in einem Abriß

der

"Politikwissenschaft im westlichen Deutschland" mit Blick auf die Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft beklagt, daß "... es keine nationale Vereinigung eines anderen Faches (gibt), die so weitgehend in Absenz seiner

Zur Generationenfolge

in der westdeutschen

Politikwissenschaft

95

Pioniere und führender Repräsentanten arbeiten muß wie die unsrige"103; aber genau in dieser "Gesichtslosigkeit" drückt sich die Normalität des Faches aus, die allenfalls durch die Politisierung der wissenschaftlichen Veränderungen eine Sonderstellung einnnimmt. Die Rolle des "praeceptor germaniae", in der der eine oder andere Angehörige der ersten und zweiten Generation brillierte, kann von Politikwissenschaftlern der dritten Generation nicht mehr ausgefüllt werden. Eher drückt sich im Fach der späten sechziger und der siebziger Jahre professionelle Nüchternheit aus. Es mag sein, daß diese Normalisierung (gemessen an den tradierten Standards eingesessener Wissenschaften) auch dem beträchtlichen US-amerikanischen Theorieeinfluß in der westdeutschen Politikwissenschaft dieser Zeit geschuldet ist. Ein gehöriger Teil dieser dritten Generation studiert und forscht in den Vereinigten Staaten; die umfassende Durchsetzung system-funktionaler Theorien geht auf diese Amerikafahrer zurück. Doch diese Rezeption systemtheoretischer, kybernetischer Ideen findet ganz unterschiedliche Rahmungen. Von hier aus entwickelt sich etwa Policy- und Implementationsforschung als technokratische Beratungswissenschaft und - eingebettet in eine Rekonstruktion der "kritischen Theorie" - eine spezifische "kapitalismuskritische" Theorie des Systemfunktionalismus. Normalität bedeutet auch, daß sich das Fach den Problemen der Überfüllung Und Kapazitätsüberlastung stellen muß. Aus dem "Orchideenfach" wird eine Massenveranstaltung; die Zahl von Studierenden der Wissenschaft von der Politik steigt bundesweit in den achtziger Jahren auf über 18.000. Eine solche Nachfrage setzt differenzierte Studien- und Prüfungsordnungen voraus. Die relative Offenheit, die das Fach noch in den sechziger Jahren kennzeichnete, wird notwendig verengt. Die Politikwissenschaftler der dritten Generation werden so sehr viel stärker als ihre Vorgänger nicht nur mit der Bildung, sondern mit der Ausbildung der Studierenden beschäftigt. Der Freiraum für professorale Steckenpferde wird schmal. Zuweilen scheint es, daß ein Teil dieser Generation in den neunziger Jahren so etwas wie eine intellektuelle midlife-crisis durchmacht. Jedenfalls erscheinen seit Ende der achtziger Jahre vermehrt Selbstverständigungstexte zum Sinn, zum Zustand und zur Zukunft der Disziplin, die nicht frei sind von larmoyanten Tönen und grüblerischen Posen. Zur Krisendiagnostik gehört die Feststellung, dem Fach fehlten Methoden, Theorien und Untersuchungsgegenstände. Im Blick auf das Otto-Suhr-Institut, aber mit darüber hinausgehender Bedeutung, schreiben etwa Helmut König und Alfons Söllner über einen "Paradigmenwechsel in der Politologie": "Eine Wissenschaft durch ihr Pa103

Erwin Faul, Politikwissenschaft im westlichen Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift, 20. Jg., 1979, Heft 2, S. 86.

96

Kapitel II: Politikwissenschaft

in

Deutschland

radigma zu definieren, setzt unserer Ansicht nach dreierlei voraus: Die Bestimmung ihres thematischen Kerns bzw. Problems, Klarheit über ihr zentrales methodisches und theoretisches Instrumentarium und ihre Lokalisierung in einer unmißverständlichen Deutung der historischen Situation. Insofern alle drei Postulate am OSI nicht eingelöst werden, kann man in der Tat davon sprechen, daß die von uns betriebene Wissenschaft in der Krise ist."104 Ein solches

Fazit

ist

sicherlich

auch

den

Begründungsproblemen

einer

"dialektisch-kritischen" Politikwissenschaft geschuldet 105 und korrespondiert mit der Krise eines utopischen, geschichtsphilosophischen Denkens der Systemtranszendenz. Aber die zuweilen verkrampft wirkende Bemühung, die Relevanz der Disziplin nachzuweisen, zeigt, daß insgesamt von einem wissenschaftlichen Normalbetrieb oft nur im Sinne des Einschleifens allgemeiner akademischer Unsitten, wie uninspirierter Lehre, partialisierter Forschung, früh kristallisierter Bewußtseinslagen gesprochen werden kann. Auch die Arbeit auf neuen Analysefeldern, in diesem Zusammenhang sei an die fruchtbare Zunahme von Policy-Forschungen erinnert, kann das offensichtlich vorhandene Bedürfnis nach umfassenden Definitionen "der" Politikwissenschaft nicht befriedigen. Ein Unbehagen bleibt: "Am Exempel der Sozialwissenschaften im engeren Sinne, der Soziologie und Politikwissenschaft und ihrer neueren Geschichte insbesondere in der Bundesrepublik illustriert: Diese beiden Fächer, die von der Studentenbewegung und der Bildungsexpansion übermäßig profitierten, haben die ihnen gewährten Pfunde verschleudert. Vor anderem zwei zusammenhängende Ursachenketten sind dafür verantwortlich. Zum einen die, sozialwissenschaftlich gesprochen, katastrophale Formverachtung im eigenen Bereich von Forschung und Lehre. Während ansonsten an Reflexion(sgerede) kein Mangel herrschte, benahmen sich die universitären Sozialwissenschaftler höchst konventionell. Als bedürften ihre Aufgaben nicht neuer institutioneller Bedingungen. Als wehe der sozialwissenschaftliche Geist, wo, wann und wie er wolle. Was Wunder, daß sie früh bürokratisiert, segmentalisiert und privatisiert verkamen. Die zweite Ursachenreihe, die sozialwissenschaftliches Versagen bedingt, besteht in der Unfähigkeit, das Problem der nötigen Distanz zur je aktuellen und dominierend umgebenden

104

Helmut König/ Alfons Söllner, Paradigmenwechsel in der Politologie - Vier Thesen., in: Mitteilungen aus dem Fachbereich Politische Wissenschaften der Freien Universität Berlin, Berlin 1984, S. 59. Vgl. Ulrich Albrecht/ Elmar Altvater/ Ekkehart Krippendorf (Hrsg.), Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir Politikwissenschaft? Kritik und Selbstkritik aus dem Otto-Suhr-Institut, Opladen 1989

105

Vgl. Michael Th. Greven, Was ist aus den Ansprüchen einer kritisch-emanzipatorischen Politikwissenschaft vom Ende der 60er Jahre geworden? Eine Skizze des Paradigmas und seines Scheiterns, a. a. O. (siehe Fn 7)

Zur Generationenfolge in der westdeutschen Politikwissenschaft

97

Wirklichkeit auch nur zu thematisieren, geschweige denn kognitiv, habituell und institutionell anzugehen." 106 Der Frustration ist die merkwürdige Verdehung der Kategorien leicht abzulesen: einerseits soll die Disziplin ihre Oppo' sitionsstellung zur "dominierenden Umwelt",^also wohl dem politischen System, bewahren, andererseits soll sie die m^tatheoretischen Formen wahren. Ob solche Klage mit den eigenen verfehlten Zielen korrespondiert oder die Fallhöhe der abgestürzten Ambitionen nun so hoch denn doch nicht war, bleibt offen. Der Hinweis auf die normale Langeweile des Fachs findet sich nun nicht nur bei ihren Selbstbeobachtungen, sondern gehört fast schon zum guten Ton öffentlicher Auseinandersetzungen mit den sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die ihre Kreativität, Produktivität verloren hätten und der Gesellschaft in ihren Kontingenzen keine Orientierung mehr andienten. Den einzigen Regimewechsel, den diese Generation erlebt (1989), bearbeitet sie nur in Ausnahmefällen. Ein Großteil der Disziplin bleibt bundesrepublikanische Politikwissenschaft und verändert in Folge des Zusammenbruchs des sog. "realen Sozialismus", dem Beitritt der fünf neuen Länder etc. ihre normativen Prämissen, innen- und außenpolitischen Überlegungen usw. eben nicht.

106 Wolf-Dieter Narr, Akademische Theorie im Zeitalter postmoderner Beliebtheiten und Beliebigkeiten, in: Neue politische Literatur, 1993, S. 255. Mit Bernd Guggenberger/ Klaus Hansen, Jenseits von Mittelmaß und Wahn, in: Dies. (Hrsg.), Die Mitte - Vermessungen in Politik und Kultur, Opladen 1993, S. 19 kann aber nach dem unreflektiert vollzogenen Wandel in der normativen Aufladung der Disziplin ¡n den frühen siebziger Jahren festgehalten werden, daß im mainstream westdeutsche Politikwissenschaft - wie keine eine andere Wissenschaft - ihren Gegenstand, die Wirklichkeit des Politischen, denunziert und die Distanz zu ihm betont: "Für ihren miserablen Ruf ist die empirische Politik nicht uneingeschränkt selbst verantwortlich. Keine andere Wissenschaft ist über Jahrzehnte hinweg ähnlich rüde mit ihrem Gegenstand verfahren wie die politische - weder die Medizin mit dem menschlichen Körper noch die Jurisprudenz mit dem Recht, weder die Ökonomie mit den knappen Gütern noch die Soziologen mit den beobachtbaren Regelmäßigkeiten des Sozialverhaltens. Mit ihnen allen verbindet die Politikwissenschaft allenfalls die relative Unkenntnis ihres Gegenstandes, nicht aber dessen quasimasochistische Verketzerung". Vgl. Claus Leggewie (Hrsg.), Wozu Politikwissenschaft? Über das Neue in der Politik, Darmstadt 1994

98

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

Die vierte Generation Solche Beschwerden böten eigentlich den Rahmen für eine junge Generation, die mit den Selbstgewißheiten ihrer wissenschaftlichen (und politischen) "Väter" ins Gericht gehen könnte. Der Zustand der Disziplin verlangt geradezu nach einem "Paradigmawechsel" (Kuhn). Allerdings ist davon wenig zu sehen; eher pflügt der heutige "Mittelbau" - aus deren Kreis irgendwann die vierte Generation in die Lehrstühle nachrücken wird - die alten Furchen weiter aus. Brav stellt man sich in die Traditionspflege, wobei Demokratietheorie und Policy-Forschungen zu den Hauptarbeitsfeldern zu gehören scheinen. Aber, wie gesagt, noch sind die Konturen dieser Generation undeutlich. Diese gepflegte Normalität (um nicht Langeweile zu sagen) entspricht einer etablierten Fachwissenschaft, die sich zu einem großen Teil auf sich selber zurückgezogen hat. Politikwissenschaft ist trivialisiert und existiert in einer trivialisierten Umwelt. Auch politisch scheinen die großen Auseinandersetzungen vorbei zu sein. Diese Veralltäglichung der Wissenschaft und ihrer Umwelt kann auf die Selbstrekrutierungsmechanismen des Fachs nicht ohne Auswirkungen bleiben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es eine intensive Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses - mit einigen inselartigen Ausnahmen - nicht gibt. Der traditionelle Mittelbau existiert schon aufgrund der (letztlich als Nullsummenspiel endenden) Ausweitung von Hochschullehrerstellen zu Beginn der siebziger Jahre nicht mehr. Die dritte Generation hat, wenn man so will, zwar erfolgreich sich selbst etabliert, das Fach erobert, im Wissenschaftsbetrieb weiter etabliert, ausdifferenziert und professionalisiert, dabei aber einen Teil der Zukunft der Disziplin aufgezehrt.lnsgesamt ist ihr ein weiterer Ausbau der Politikwissenschaft nicht gelungen; allerdings hat sich in den achtziger Jahren auch die Umwelt der Disziplin stark verändert. Das Fach hat an Relevanzzuschreibung eingebüßt. Ein Teil der vierten Generation könnte aufgrund der inhaltlichen und altersmäßigen Nähe zur dritten Generation (wenn diese am Ende dieses Jahrhunderts und zu Beginn des nächsten ihre Lehrstühle räumt, sind die Angehörigen der vierten Generation auch schon um die fünfzig) - wenn wir etwas pathetisch werden dürfen - zur "verlorenen Generation" der westdeutschen Politikwissenschaft werden.

In der DDR: Gesellschaftswissenschaff

als politische Wissenschaft

99

Dieter Koop

In der Deutschen Demokratischen Republik: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

Im Zusammenhang mit Untersuchungen zur Transformation des Wissenschafts- und Hochschulsystems in Ostdeutschland wird vor allem auf die jüngere Geschichte rekurriert. Die weiter zurückliegenden Jahre bleiben weitestgehend ausgeblendet oder erscheinen als Vorgeschichte, in der keimhaft das angelegt war, was am Ende zu Fall kam. Arbeiten zu einzelnen Wissenschaftsdisziplinen unterstellen daher häufig eine Kontinuität der Rahmenbedingungen für die Wissenschaftsentwicklung in der SBZ / DDR, die es wenig zweckmäßig erscheinen läßt, sich dem konkreten historischen Kontext und den jeweiligen Akteuren zuzuwenden. Besonders trifft dies auf Fächer zu, die ihre disziplinare Gestalt erst in der jüngeren Vergangenheit ausprägten wie die Politikwissenschaft. Insofern bildet sie einen Sonderfall. Da sie im Fächerspektrum der Hochschulen der DDR nicht vorkam, besitzt sie auch keine eigene Geschichte. Die einzig angemessene Frage, die sich daraus ergibt, ist die nach den Ursachen ihres Fehlens. Ihr nachzugehen, konstituiert einen sinnvollen wissenschaftshistorischen Gegenstand. Der Verweis auf das politische Herrschaftssystem in der DDR und die Dominanz des Marxismus-Leninismus gegenüber den Sozialwissenschaften oder das Fehlen einer demokratisch verfaßten Gesellschaft westlicher Prägung und eines Wissenschaftssystems, das dem Wissenschaftspluralismus verpflichtet ist, mag auf den ersten Blick eine angemessene Erklärung für diesen Sachverhalt abgeben 1 0 7 , die aber in dem Maße an Kraft einbüßt, je mehr die Wissenschaftsentwicklung unmittelbar nach 1945 reflektiert wird. Von der Herrschaft oder Hegemonie des MarxismusLeninismus an den Universitäten konnte in der SBZ noch keine Rede sein, dazu hätten allein die personellen Ressourcen nicht ausgereicht, und das politische System gewann erst allmählich seine Konturen, nachdem zunächst einmal der

"besondere deutsche" - und das hieß "demokratische We.g zum

Sozialismus" - beschritten werden sollte.

107 \/g| Greven,M.Th./ Koop, D. (Hrsg): War der wissenschaftliche Kommunismus eine Wissenschaft?, Opladen 1993

100

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

Gleichzeitig muß berücksichtigt werden, daß die Politikwissenschaft als eigenständige Disziplin an den deutschen Universitäten noch nicht etabliert war, sie keine traditionellen Einbindungen in das akademische Leben aufzuweisen hatte. Ihre 1947/48 beginnende Institutionalisierung in den Westzonen zeigt deutlich die Widerstände, Schwierigkeiten und Konfliktlinien auf, mit der die Protagonisten der Politikwissenschaft zu rechnen hatten. Eine angemessene Betrachtung der Wissenschaftsentwicklung nach 1945 muß diese in weiten Teilen vergleichbare Ausgangslage in den Zonen berücksichtigen. Wenn Lehmbruch für die Aufarbeitung der Geschichte der Politikwissenschaft einen komparativen Ansatz fordert 108 , so hat dieser Vergleich auch eine nationale Dimension vor dem Hintergrund der Wissenschaftsentwicklung im Nachkriegsdeutschland. Indem auf die Genesis und Entwicklung der Gesellschaftswissenschaft in der Ostzone und der Politikwissenschaft in den Westzonen abgehoben wird, führt dies zu Fragestellungen, die erkennen lassen, warum es zu keiner Herausbildung einer selbständigen und autonomen Politikwissenschaft in der SBZ/DDR kam. Dabei ist ein solcher Vergleich nicht nur von heuristischem Wert, sondern auch historisch sinnvoll. Zunächst einmal ist es die relativ synchrone Entwicklung von Gesellschaftswissenschaft im Osten und der Politikwissenschaft im Westen, die einen Vergleich reizvoll erscheinen lassen. Zum anderen sind es aber auch die latenten Unterschiede, nicht nur in den politischen Rahmenbedingungen, die spätestens nach der Herausbildung der beiden deutschen Staaten die Hochschullandschaft prägten und die konstitutiv für divergierende disziplinare Entwicklungen wurden. Vergleicht man die Institutionalisierungphase der Politikwissenschaft in den Westzonen mit der der Gesellschaftswissenschaft in der Ostzone, so ist folgendes auffällig: (1) Beide Disziplinen setzten sich durch politisch motivierte Förderungsschübe durch, verdanken letztlich ihre Existenz wissenschaftsexternen Faktoren; (2) beide Disziplinen stehen im Kontext von "reeducation" und politischer Bildung, sollen einen sichtbaren Beitrag zur demokratischen Erziehung der Studenten an den Hochschulen leisten; (3) beide Disziplinen gewinnen ihr Selbstverständnis über die Thematisierung des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik;

108

Lehmbruch, G.: Die Politikwissenschaft im Prozeß der deutschen Vereinigung, in: Ders. (Hrsg.): Einigung und Zerfall. Deutschland und Europa nach dem Ende des Ost-WestKonflikts, Opladen 1995, S. 329

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische

101

Wissenschaft

(4) beide Disziplinen nehmen sich in ihrer Entwicklung wechselseitig wahr und verstehen sich als Alternative zur jeweils anderen. Das Urteil über die Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten (Gewifa) scheint eindeutig. Ihre Institutionalisierung sollte alte Strukturen sprengen helfen, sie waren als "Speerspitze" gegen die Universität als eine "bürgerliche Instituiton" gerichtet.109 Die Gründung Gesellschaftswissenschaftlicher Fakultäten ab 1947 gilt gemeinhin als sichtbares Zeichen des Verlusts des Autonomie-Status der Universitäten in der sowjetischen Besatzungszone und als Abrücken

von

akademische

der

Humboldtschen

Institutionen"

110

Idee

stehen

der sie

Universität. für

die

Als

"para-

Tendenz

der

"Sowjetisierung" und "Bolschewisierung" der Lehr- und Forschungseinrichtungen.

Gemeinsam

mit

den

Pädagogischen

Fakultäten

seien

sie

das

"Trojanische Pferd" gewesen, mit deren Hilfe das realisiert wurde, was Stalin in einer Rede auf dem kommunistischen Jugendkongreß 1928 (!) als Auftrag formulierte: "Vor uns steht eine Festung. Ihr Name, der Name der Festung, ist Wissenschaft mit ihren zahlreichen Wissenszweigen. Diese Festung müssen wir um jeden Preis nehmen." 111 Seitens der Hochschul- und Wissenschaftsgeschichtsschreibung der DDR wird in ähnlicher Weise argumentiert, nur werden die Resultate anders bewertet. Dort erscheinen die Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten als Vorgeschichte

des

"marxistisch-leninistischen

Grundlagenstudiums",

als

"Kaderschmiede" künftiger Lehrer für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium (MLG) - eine Betrachtung, die die Wissenschaftsgeschichte an die Darstellung der parteioffiziellen Geschichte der SED bindet.112 In beiden Interpretationen wird die Gründung der Gewifa als der Beginn einer Entwicklung gewerteti die einen Bruch zur bisherigen universitären Tradition markiert, an deren Ende die Politisierung von Lehre und Forschung und die Dominanz von Partei und Staat gegenüber dem akademischen Leben stehen. Die Frage ist, ob so zwingende Kausalketten aufgemacht werden können, ob die an diesen Vorgängen beteiligten Akteure tatsächlich solche Intentionen hatten, ob von einer einheitlichen Zentrale aus diese Hochschulpolitik betrieben wurde, die dann auch noch ihre jeweiligen Handlungsbedin109

Schluchter, W.: Die Hochschulen in Ostdeutschland vor und nach der Vereinigung. Über die Rolle des Wissenschaftsrat und Hochschulkommissionen im Umbruch, in: Köhler, W. (Hg.): Zur Situation der Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtigen, Halle 1994, S. 21

110

Richert, E.: "Sozialistische Universität". Die Hochschulpolitik der SED, Berlin 1967, S. 59f.

111

Stalin, J.W.: Werke Bd. 11, Berlin 1954, S. 68

112

Vgl. Feige, H.-U./ Pellmann, D.: Geschichte des Franz-Mehring-Instituts der Karl-MarxUniversität Leipzig 1948-1986, Leipzig 1988

102

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

gungen selbst zu definieren imstande war und diese auch noch beherrschte; oder ob nicht doch eine spezifische Situationslogik unterstellt werden muß, Bedingungen, die zu einem pragmatischen Handeln zwangen, Akteure mit unterschiedlichen Intentionen und Handlungsoptionen, die aber ob der katastrophalen Nachkriegslage zu einem erheblichen Teil überdeckt wurden und erst allmählich und besonders im Gefolge des Kalten Krieges Konturen gewannen. Die Kurzschlüssigkeit der Interpretationen wird an folgendem Beispiel deutlich: Stein des Anstoßes bei der Beurteilung der Gewifa ist die Tatsache, daß ihre Gründung "von außen her" und "nicht innerhalb des akademischen Raumes" erfolgt. 113 Die Bedeutung wissenschaftsexterner Faktoren für die Entwicklung einer neuen wissenschaftlichen Institution beziehungsweise Wissenschaftsdisziplin wird bereits als Teil der beginnenden Indoktrinierung und Sowjetisierung gewertet. 114 Zieht man als Vergleich die Institutionalisierung der westdeutschen Politikwissenschaft heran, so ergibt sich zunächst einmal gar kein anderes Bild - auch sie war ein "politisches Kind". 115 Aber was folgt daraus? Sicher würden die Interpretationen in diesem Fall nicht so weitreichend sein, wenngleich auch hier das Selbstverständnis der deutschen Universität - die Autonomie - zur Disposition stand. Eschenburg beschreibt einige Schwierigkeiten, mit der die Politikwissenschaft zu rechnen hatte: "Die Einführung der Disziplin Politik, oder wie man sie nennen möge, würde auf den entschiedenen Widerstand der Universitäten stoßen mit der Parole: Keine Politisierung! Die Universitäten würden vielfach ungeeignete Kandidaten vorschlagen oder die Berufung überhaupt verschleppen. Oktroyierung würde die neue Disziplin diskreditieren. Mit einer Sabotierung akademischer Veranstaltungen seitens eines großen Teils der 'Deutschen Studentenschaft 1 müsse gerechnet werden." 116 Interessant ist auch eine Darstellung des ehemaligen hessischen Kultusministers Stein, die die Motive für sein Engagement bei der Institutionalisierung der Politikwissenschaft an den Universitäten deutlich werden läßt. 113

Richert a.a.O. S.39

114

Vgl. Reinschke, K. J.: Bolschewisierung der ostdeutschen Universitäten nach dem Zweiten Weltkrieg, dargestellt am Beispiel der Universität Leipzig und der TH Dresden, in: Strobel, K.(Hrsg): Die deutsche Universität im 20. Jahrhundert, Vierow bei Greifswald 1994, S. 116ff.

115

Mohr, A.: Politikwissenschaft als Alternative, Bochum 1988, S. 9: "Wohl selten ist eine wissenschaftliche Disziplin auf eine so nachhaltige Weise gefordert worden wie die Politikwissenschaft im westlichen Deutschland nach 1945. Sie hat sich nicht gleichsam naturwüchsig aus Disziplinen abgespaltet, vielmehr verdankt sie ihre Entstehung einer politischen Entscheidung."

116

Eschenburg, Th.: Anfänge der Politikwissenschaft und das Schulfach Politik in Deutschland seit 1945, Augsburg 1985, S. 27f.

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

103

"Ich sah die Aufgabe darin, Entwicklungen zu verhindern, die zu einem wie auch immer gearteten Faschismus und Militarismus führen konnten. Die Weimarer Republik schied damals für mich aus. Die Weimarer Republik war ja zugrunde gegangen. Man konnte nicht da anknüpfen, weil in der Zwischenzeit das Nazi-Regime lag."117 Die Institutionalisierung der Politikwissenschaft und die Gründungen Gesellschaftswissenschaftlicher Fakultäten waren nicht nur Gegenstand von unterschiedlichen Debatten. Ihre Vertreter verstanden sich auch als Konkurrenten, die jeweils für sich die einzig mögliche Alternative reklamierten. Der beginnende Kalte Krieg verstärkte diese Gegensätzlichkeit und ließ vergessen, daß eine Vielzahl von Argumenten bereits in der Weimarer Republik im Zusammenhang mit den Bemühungen um eine Universitätsreform entstanden waren. In der Diskussion um die Neugründung der Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) im Berliner Stadtparlament am 5. Dezember 1948 entwickelte der Vertreter der SED, Karl Mevis, die Position, daß "die sozialpädagogischen Zielstellungen, wie sie die ältere Hochschule auszeichnete, heute von der gerade erst geschaffenen Pädagogischen Hochschule wahrgenommen werden könne. Auch das zweite große Aufgabenfeld der älteren Hochschule, die Versorgung von Partei- und anderen Funktionsträgern mit fundiertem politischen Wissen, könne heute besser außerhalb der DHfP betrieben werden. Alle Argumente sprächen gegen die Errichtung einer DHfP, es sei denn, man errichtete eine rein wissenschaftliche Hochschule. Als Alternative schlug Mevis den forcierten Ausbau der Gesellschaftswissenschaften an den Universitäten vor. Wolle man allerdings trotzdem von dem Gedanken nicht abkommen, für die wissenschaftliche Bildung und Ausbildung der Funktionäre politischer Parteien zu sorgen, so sei es zweckmäßiger, ein Institut für Politik an einer Universität einzurichten, '...und dort die Möglichkeit geben, in freier Aussprache oder in freier Schulung ohne Diplom, ohne ein späteres Examen eine solche Tätigkeit durchzuführen'."118 Otto Suhr machte später die Gegnerschaft von der anderen Seite her klar: "(N)irgendwo ist der Unterschied des Geistigen größer und stärker spürbar als in dem Widerspruch zwischen den gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten der Ostuniversitäten und dem Studium der Kräfte und Mächte des öffentlichen Lebens an unserer Hochschule."119 Auch bei der Studentenschaft gab es Diskussionen über die Notwendigkeit des sozialwissenschaftlichen Studiums. So stellte der Student Horst Ehmke in 117

Heinemann, M.: Hochschuloffiziere. 1. Wiederaufbau des Hochschulwesens in Westdeutschland 1945- 52. Teil 2: Die US-Zone, Hannover 1990, S. 196

118

Mohr, A. a.a.O. S. 49f.

119

Zitiert bei Mohr, A. a.a.O. S. 56

104

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

der Deutschen Universitätszeitung im April 1949 fest, daß die Errichtung von Hochschulen für Politik nicht genüge. "Gerade das Studium der Sozialwissenschaften muß in den Rahmen der universitas literarum eingebettet werden. Die beste Lösung wäre die Errichtung eines Lehrstuhls für politische Wissenschaften, an dem die heute so schwerwiegenden sozialen und politischen Probleme wissenschaftlich in Angriff genommen werden." 120 Auf diesen "Schrei nach Sozialwissenschaften" reagierte der Leipziger Diplom-Volkswirt Werner Hofmann, der als eine mögliche Alternative die Gewifa empfahl. Man solle bei der Umsetzung seiner "sozialwissenschaftlichen Bedürfnisse" den "Blick statt nach den fernen transatlantischen Gestaden vielmehr nach "Transelbien" lenken. "Unsere Fakultät sieht ihre wissenschaftliche Aufgabe in der Erforschung der materiellen und ideologischen Gestaltungskräfte der Gesellschaft, mit dem Ziel des bewußten und fördernden Eingreifens in ihre Entwicklung von der wissenschaftlichen Erkenntnis her."121 Dem entgegnete Manfred Hellmann, ehemaliger Assistent und Lehrbeauftragter für Mittelalterliche Geschichte an der Leipziger Universität, der inzwischen nach Freiburg gegangen war, daß es sich bei der Gewifa eher um eine Schule für "Jungbolschewisten" handele, denen die "Jugenderziehung und das gesamte öffentliche Leben anvertraut werden soll" und die das Postulat der wissenschaftlichen Objektivität nur als "raffinierten Trick" benutzt. Als Beweis gelten ihm die vielen kommunistischen Professoren wie der Romanist Krauss, der Volkswirt Mayer, der Ethnologe und Rechtssoziologe Lips. Dort, wo keine Parteimitgliedschaft ausgemacht werden konnte, sieht er Ignorantentum, wie im Fall des Literaturwissenschaftlers Hans Mayer. 122 Eine sachliche Debatte um Wissenschaftskonzeptionen und universitäre Reformvorstellungen konnte so nicht stattfinden, war vielleicht auch bei der vonwiegend politisch geführten Auseinandersetzung nicht beabsichtigt. Beide Seiten erlagen der Logik der beginnenden Systemkonfrontation.

120

Ehmke, H.: Der Schrei nach Sozialwissenschaften, in : Deutsche Universitäts-Zeitung, 29.April 1949, S. 8

121

Hofmann, W.: Gesellschaftswissenschaft, in : Deutsche Universitäts-Zeitung, 19. August 1949, S. 7

122

Hellmann, M.: "Gesellschaftswissenschaft'' in der politischen Realität, in: Deutsche Universitäts-Zeitung, 16. Dezember 1949, S. 11

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

105

Allgemeine und hochschulpolitische Rahmenbedingungen Im Juni 1946 wurde von den Landes- und Provinzialverwaltungen der Sowjetzone das "Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schulen" angenommen. In ihm waren jene Intentionen verarbeitet, die bereits im gemeinsamen "Aufruf zur demokratischen Schulreform" von KPD und SPD im Oktober 1945 vertreten wurden und die als Übereinstimmung mit dem Potsdamer Abkommen galten. Darüber hinaus beriefen sich die SMAD wie die deutsche Zentralverwaltung im nachhinein auf die Forderungen der Vier-MächteDirektive Nr.54 zur Demokratisierung des deutschen Bildungswesens von 1947. 123 Für die Hochschulen und Universitäten ergaben sich daraus kurzund langfristig einschneidende Veränderungen ihrer Rahmenbedingungen. Die Reform erstreckte sich vor allem auf drei Bereiche: "Reinigung" der Universitäten von faschistisch belasteten Lehrkräften und "faschistischen Irrlehren" und ihre Ersetzung durch Antifaschisten und "aufrechte" Demokraten, Brechung des bürgerlichen "Bildungsprivilegs" durch die Schaffung von Zugangsvoraussetzungen für das "werktätige Volk" sowie die demokratische Erziehung der Studenten und Lehrenden im "Geiste einer kämpferischen Demokratie". Die bereits im Umfeld der Wiedereröffnung der Universitäten in der SBZ getroffenen Maßnahmen wiesen in diese Richtung. Am 9. Juni 1945 wurde die Sowjetische Militärische Administration in Deutschland (SMAD) gebildet, die bis zur

Gründung der DDR agierte, die mit dem Befehl Nr. 17

vom 27. Juli 1945 unter anderem eine Deutsche Zentralverwaltung für Volkserziehung, später umbenannt in Volksbildung (DZV) als beratendes, planendes und vorschlagendes Gremium schuf.124 Als Präsident der DZV fungierte der Kommunist Paul Wandel, Stellvertreter waren der Mediziner Theodor Brugsch und der Physiker Robert Rompe. Mit dem Befehl Nr. 110 bekamen die Landes-und Provinzialverwaltungen das Recht, Gesetze und Verordnungen zu erlassen und gewannen damit Einfluß auf die Universitäten und Hochschulen. Am 4. September 1945 wurde im Befehl Nr.50 die "Neuaufnahme der Lehr- und Forschungstätigkeit an den Hochschulen" geregelt. Die Durchführungsbestimmungen der DZV ließen keinen Zweifel daran, daß die Wiedereröffnung vom Nachweis des Reformwillens der zuständigen Gremien der bis dahin geltenden akademischen Selbstverwaltung abhängig gemacht werden sollte. Die SMAD machte sich zur Aufgabe, die

Hochschullehrer

(Rektoren, Dekane, Institutsdirektoren, Lehrstuhlinhaber), die Immatrikulation 123 124

Vgl. Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland, Reinbek 1994, S. 23ff. Handel, G. / Köhler, R. (Hrsg.): Dokumente der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland zum Hoch- und Fachschulwesen 1945-1949, Berlin 1975, S. 14f.

106

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

der Studenten, die Lehrpläne und Programme, die Pläne der wissenschaftlichen Forschungsarbeit "zu überprüfen, zu bestätigen und zu kontrollieren", überließ die Ausführung aber weitestgehend der DZV. Insofern hatten es die Universitäten mit drei Instanzen zu tun: der Verwaltung für Volksbildung der SMAD, dessen Leiter Generalleutnant Solotuchin, ehemaliger Rektor der Leningrader Universität und Vizeminister für Volksbildung der RSFSR war sowie die entsprechende Abteilung der S M A auf Länder* und Provinzebene der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung und den Landesministerien für Volksbildung mit ihren Abteilungen für Hochschulen, Wissenschaft und Unterricht. Die einzelnen Kompetenzbereiche waren in der Praxis nicht völlig klar. Gadamer, 1946/47 Rektor der Leipziger Universität, beschreibt die einzelnen Verwaltungsstellen und seine Handlungsmöglichkeiten so: "Im ganzen war die Verständigung mit den russischen KulturOffizieren nicht sehr schwer. Sie hatten ihre Anweisungen zu geben, weil sie die ihnen gegebenen Anweisungen auszuführen hatten. Aber sie waren natürlich keine Offiziere, sondern Professoren in Uniform, mit denen einen vieles verband. Im Unterschied dazu waren die deutschen Stellen in der ersten Zeit bevor der treffliche Dresdner Professor Simon (Chemiker) das Hochschulressort übernahm - engstirnige Doktrinäre, die vor Wichtigkeit und Wichtigtuerei förmlich platzten. Da blieb mir, um mich durchzusetzen, oft nur die Rücktrittsdrohung, die immer wirkte, seit die russischen Dienststellen zu mir Vertrauen gefaßt hatten. Natürlich machte mich das diesen Leuten gegenüber nicht gerade leicht. Besser war das Niveau in der Berliner Zentralverwaltung. Dort waren kluge Leute wie Paul Wandel und Rompe maßgeblich, mit denen ich manches freundschaftliche Gespräch geführt habe. Freilich trennte uns, ganz abgesehen von der Politik, eine Welt." 125 Die Frage, ob die S M A D mit ihrer Politik beabsichtigte, das sowjetische Hochschulmodell auf die SBZ zu übertragen, ist auf den ersten Blick nicht eindeutig zu beantworten und wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Nach Richert kann man erst nach 1949 davon sprechen, also mit der Gründung der DDR. Ziel der S M A D blieb: "die Reste des 'Faschismus' im akademischen Bereich zu beseitigen, eine neue, 'demokratische', 'antifaschistische' Nachwuchs-lntelligenz aufzubauen und bei all diesen Bemühungen den politisch nicht belasteten Teil der Hochschullehrerschaft zum Partner zu gewinnen." 126 Insofern lassen sich Versuche, die Universitäten kommunistisch "zu unterwandern", ebensowenig nachweisen wie das Ziel der SMAD, diese 125 Gadamer, H.-G.: Philosophische Lehrjahre, Frankfurt a.M. 1977, S. 128 126

Richert, E. a.a.O. S. 20

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische Wissenschaft

107

"Übergangsphase" zur "Angleichung des zonalen Hochschulbetriebes an den sowjetisch-bolschewistischen zu gestalten". 127 Damit erhebt sich die Frage, ob die "Verschärfung der Gegensätze" (Studentenproteste, Weggang von Professoren in die Westzonen, Redigierungen von Lehrkräften) nicht dadurch zustandegekommen seien, daß auftretende Konflikte aus "Mangel an Kenntnissen von den Trägern der Macht mißdeutet" wurden. Dies ist mit Blick vor allem auf die deutschen Stellen durchaus nicht aus der Luft gegriffen, gab es doch nur wenig kompetente Funktionäre, die um die Eigenheiten des deutschen Universitätslebens wußten. Richert bezweifelt in diesem Zusammenhang, ob die "Revolutionspolitik gegenüber den Hochschulen" bis 1951/52 überhaupt im "Konzept der Sowjets gelegen hat". 128 Für Lange ist Ziel der Wissenschaftspolitik die Stalinisierung der Hochschulen, d.h. die Installierung eines "gelenkten Wissenschaftsbetriebes" unter Ausschluß eines "freie(n) geistige(n) Wettbewerb(s)". 129 Diese erste Phase setzt Lange von 1945 bis 1950/51 an. "Bei einer zunächst den Schein wahrenden Bemühung der Tradition erfolgte etappenweise die totale Politisierung des Hochschullebens, wobei eine totale Manipulation des politisch relevanten akademischen Lehrstoffes und die totale Bürokratisierung des gesamten Hochschullebens das Ziel war." 130 Mit der Hochschulreform 1950/51 ging die SED-Führung dazu über, offen die "Universitäten in Kaderschmieden" der Partei zu verwandeln. Die "Vorläufige Arbeitsordnung der Universitäten und Hochschulen" ist für Lange Ausdruck einer "manipulierten" Autonomie der Universitäten. 131 Anders dagegen Menke-Gückert. Für ihn vollzog sich die Rezeption des sowjetischen Hochschul-Modells in drei Etappen. In der erste Etappe, der Errichtung der "antifaschistisch - demokratischen Ordnung", die er bis 1951/52 ansetzt, "wurden nur an einigen Stellen der überkommenen deutschen Hochschulverfassung Änderungen oder gezielte Eingriffe vorgenommen". 132 In seinem Urteil über die "Vorläufige Arbeitsordnung" der Universitäten charakterisiert er diese als "Kodifizierung des 1949 verbliebenen Restes an Gemeinsamkeit mitteldeutscher mit westdeutscher Hochschulverfassung. Die deut127

Ebd.

128

Ebd., S. 26

129

Lange, E. G.: Wissenschaft im totalitären Staat, Düsseldorf und Stuttgart 1955, S. 251

130

Ebd., S. 252

131

Ebd., S. 255

132

Menke-Glückert, P.: Aspekte von Hochschulverfassung und Hochschulwirklichkeit in der DDR, in : Luds, P. C.: Studien und Materialien zur Soziologie der DDR, Köln und Opladen 1964, S. 218

108

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

sehe Hochschultradition ist noch gut erkennbar."133 Ausdrücklich bezieht sich die DZV auf diese deutsche Traditionslinie und auf die Reformbemühungen in der Weimarer Republik: "Die vorläufige Arbeitsordnung geht in ihrer Zielsetzung nicht über Bestrebungen hinaus, die als Gemeingut aller im demokratischen Block vereinigten fortschrittlichen Kräfte gelten können. Sie konnten sich daher an Satzungen anlehnen, die den preußischen Universitäten der Weimarer Zeit als Niederschlag der von Kultusminister Becker inaugurierten kleinen Hochschulreform verliehen wurden." Die Universitäten werden in dieser Ordnung als die "höchsten staatlichen Lehranstalten" bezeichnet, die in ihrer "gesamten Lehr -und Forschungstätigkeit der obersten Dienstaufsicht der Deutschen Verwaltung für Volksbildung" unterstehen, unmittelbare Aufsichtsbehörde ist das Volksbildungsministerium des jeweiligen Landes. Hierzu wird von der DZV eine Interpretation nachgereicht. Damit sei auf keinen Fall die "akademische Selbstverwaltung" außer Kraft gesetzt. Denn es heiße in der Ordnung auch, daß die Universitäten "ihre Angelegenheiten im Rahmen dieser Arbeitsordnung selbst" verwalten - allerdings nicht "selbständig".134 Fakultäten behalten bei Neuberufungen das Vorschlagsrecht und sind alleinig für Promotions- und Habilitationsangelegenheiten zuständig. Eine treibende Kraft bei der "Erneuerung" der Universitäten war natürlich die SED. Aber es darf nicht vergessen werden, daß die anderen Parteien, in bezug auf Hochschulfragen besonders die LDP, noch eigenständig agierten, über Positionen in der Verwaltung verfügten und von daher hochschulpolitische Entscheidungen letztlich noch auf Konsens beruhten. In der Zeitschrift "Forum", die 1947 gegründet wurde und in den ersten Jahren durchaus auch ein gesamtdeutsches Forum war, werden die Intentionen der SEDHochschulpolitik gut dokumentiert. Das Geleitwort in der ersten Nummer stammt von Ricarda Huch: "Für alle Studierenden aber gibt es ein Gemeinsames, dem sie dienen: die Wissenschaft und diejenigen Ideale, ohne die es keine Wissenschaft geben kann: die Wahrheit und das eng mit ihr verbundene Recht. Die Despotie, in der sie hineingewachsen sind, hatte an die Stelle der Wahrheit die Lüge, an die Stelle des Rechts das Unrecht gesetzt. Sie stellt die Lehre auf, wahr und recht sei, was dem Volke nütze. Wo diese Lehre allgemein angenommen wird, kann es keine Wissenschaft geben."135 Fünf Jahre später hätten diese Sätze unkommentiert nicht mehr abgedruckt wer> 3 3 Ebd. 134

Ebd., S. 240

135

Huch, R. in: Forum 1947, Nr.1, S. 2.

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

109

den können, legitimierte "das Volk" schon wieder einen ganz bestimmten "Zuschnitt" der Wissenschaft. Bei Wandel steht die Eröffnung der Universitäten im Zeichen der "Idee der Humanität, der Freiheit und des Fortschritts". Der wissenschaftliche Mensch sei ein "mutiger Streiter für Recht, Wahrheit und Demokratie" mit einer "engen Beziehung zum Volke". Gleichzeitig wird durch die Akzentuierung dieser Zusammenhänge behauptet, daß die Universitäten dies bisher nicht geleistet haben beziehungsweise in den zwölf Jahren der Hitler-Diktatur hinter diese Ansprüche zurückgefallen waren. Wissenschaft und Humanität gehen nicht automatisch zusammen, und energisch wurde Jaspers widersprochen, daß "der Kern der Universität in der Verborgenheit standgehalten" habe. 136 Mit dieser Diagnose und der Verarbeitung der Erfahrungen der Weimarer Hochschulpolitik wurde die Umsetzung der Reformvorhaben in der SBZ zu einem Problem der Autonomie der Universität mit einer folgenschweren Entgegensetzung: Reform oder Autonomie. Das Festhalten an autonomen Strukturen wurde von der DZV gleichgesetzt mit Reformunwilligkeit. Eine auf Ausgleich bedachte Universitätspolitik, die auf eine Überwindung dieser Dichotomie abzielte, blieb erfolglos. Das bekam auch der damalige Rektor der Leipziger Universität, Gadamer, zu spüren. Er urteilt rückblickend über seine Zeit in Leipzig: "Was ich lernte, war vor allem die Unfruchtbarkeit und Unmöglichkeit alles restaurativen Denkens, und als ich zwei Jahre später

in den Westen

ging, als Professor nach Frankfurt, war ich über die Illusionen der dortigen Universitätspolitik, an deren Spitze damals Hallstein stand, ziemlich fassungslos." 1 " In der SED gab es die Vorstellung, daß sich die Universitäten dem "neuen gesellschaftlichen Leben" zu öffnen haben und partielle Eingriffe in ihre Autonomie von daher legitim seien. Später dann wurde das Einklagen des Autonomie-Status

seitens

eines

Teils

der

Hochschullehrerschaft

als

eine

"bürgerliche" Forderung, mit einem deutlichen Verweis auf die Entwicklung an westdeutschen Universitäten, abgetan. Die Befürchtung war, daß die Universitäts-Autonomie die "Wissenschaft von der gesellschaftlichen Entwicklung isolieren" könnte. 138 Aber erst nach Veränderungen der allgemeinen politischen Rahmenbedingungen und der Forcierung des Aufbau des Sozialismus nach sowjetischem Vorbild durch die SED zeigten sich die Auswirkungen dieser latenten Übergriffe auf das universitäre Leben. 136

Wandel, P. in: Forum 1947, Nr.1, S. 6

137

Gadamer, H.-G. a.a.O., S. 124

138

Girnus, W.: Zur Idee der sozialistischen Hochschule, in: Das Hochschulwesen 1958, Nr. 7 / 8 , S. 117

110

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

Vieles deutet darauf hin, daß es sich bei dieser

Entwicklung

um

"Phänomene des Übergangs" handelt, keineswegs aber um eindeutige Tendenzen der Stalinisierung der Universitäten. Es ging vorrangig um die Reorganisation des akademischen Raumes, und dies war in einem hohen Maße auch mit dem Auffinden und der Bereitstellung materieller Ressourcen verbunden. Daneben gab es, aus ganz unterschiedlichen Gründen, bis weit in die fünfziger Jahre hinein einen permanenten Mangel an geeigneten Hochschullehrern. Die Hochschulpolitik in der SBZ war, unterstellt man diese Bedingungen, ambivalent und keinesfalls von einem einheitlichen Plan diktiert. "Betrachtet man alles das zusammen, so verstärkt sich das Bild, daß aus einer Vielfalt großenteils wenig koordinierter Belange heraus - teils im traditionell akademischen Raum, teils neben ihm her - zwischen 1945 und 1949 die Weichen für die Weiterentwicklung des sowjetzonalen Hochschulwesens gestellt worden sind. Weder ein klarer Plan noch eine einheitliche Zentralgewalt oder auch nur eine klare Kompetenzentscheidung der Gewalten ist hier wirksam gewesen. Es läßt sich auch nicht sagen, daß eine Art Großangriff gegen den Universitäts-Traditionalismus systematisch in Gang gebracht worden wäre. Aber die Unerfahrenheit der sowjetischen wie der deutsch-kommunistischen Führung

mit

den

Traditionen

der

deutschen

Universitäten,

das

vage

'Antifaschismus-Klischee der Kommunisten und vor allem der Zwang, schnell unbelastete 'neue' Führungskräfte in hinreichender Menge auszubilden, führten zu einer Entwicklung, bei der die Hochschulen 'alten' Stils letztlich auf der Strecke bleiben mußten."139

Die Institutionalisierung der Gewifa an der Leipziger Universität Der Wiedereröffnung der Leipziger Universität am 5. Februar 1946 waren heftige Auseinandersetzungen um die Umsetzung der Befehle der SMAD und der darauf basierenden Durchführungsbestimmungen der DZV vorausgegangen, deren Gegenstand die personelle und inhaltliche Erneuerung der Universität war. Die administrativen Entscheidungsebenen gaben damit gleichzeitig zu erkennen - mit Verweis auf die Zeit der Hitler-Diktatur -, daß die Universitäten aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage seien. Mit dem Rücktritt

139

Richert, E. a.a.O., S. 76 Eine entgegengesetzte Position vertritt Alexander Fischer, für den die Hochschulpolitik in der SBZ eine "musterhafte(r) Verbindung von Theorie und Praxis" darstellt. Fischer, A.: Der Weg zur Gleichschaltung der sowjetzonalen Geschichtswissenschaft 1945-1949, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1962, Heft 2, S. 152.

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische

Wissenschaft

111

des alten, noch von der amerikanischen Besatzungsmacht eingesetzten Rektors Schweitzer und der Wahl Gadamers zum neuen Rektor konnte dieser Konflikt eingedämmt werden. Er nahm wieder an Schärfe zu, als die D Z V für das Wintersemester 1946/47 ein Programm zur Durchführung von Lehrveranstaltungen für alle Fakultäten als verbindlich vorlegte. Für diese Veranstaltungsreihe - "Politische und soziale Probleme der Gegenwart" - sollte der Soziologe und Historiker Meusel verpflichtet werden. Dagegen sprach sich die Senatsmehrheit der Universität für ein "Studium generale" aus, ein eher traditionelles Mittel, um politische Bildung zu realisieren. Es ging aus der Sicht der Gremien der akademischen Selbstverwaltung um die Selbstbehauptung der Universität und die Orientierung am Humboldtschen Universitäts-und Wissenschaftsideal und nicht so sehr um die einzelnen Maßnahmen selbst. Im Mittelpunkt standen die Forderungen nach Autonomie der Universität und Freiheit von Lehre und Forschung. Der Anspruch wurde auch deshalb erhoben, da man wie Schweitzer von der Selbsteinschätzung ausging, daß die Leipziger Universität "mit am meisten unter allen deutschen Hochschulen von schädlichen Einflüssen der NSDAP freigeblieben" sei. 1 4 0 Sekundiert wurde er von Philosophieprofessor Litt, der durch seine Haltung gegen den Nationalsozialismus über beträchtliches Ansehen verfügte. In einem Vortrag zum Thema "Politik und Studium" vor Studenten am 13. Dezember 1945 verteidigte er die Autonomie der Universität und sprach sich gegen deren erneute Politisierung aus. 1 4 1 Diese Diskussion um das Verhältnis von Universität und Gesellschaft beziehungsweise Politik war zur damaligen Zeit kein spezifisch ostdeutsches Phänomen, sondern führte auch zu heftigen Kontroversen an den Universitäten der Westzonen. 1 4 2 Sie betraf das Selbstverständnis der Universität, ihre Tradition, ihr Verhältnis zur Zeit des Nationalsozialismus, ihre Aufgaben beim materiellen und geistigen Wiederaufbau Deutschlands. In dieser Situation wurde am 2. Dezember 1946 von der S M A D der Befehl Nr. 333 -Befehle waren "konstitutive Rechtssetzungsakte" der sowjetischen Besatzungsmacht - zur Gründung von Gesellschaftwissenschaftlichen Fakultäten in Leipzig, Jena und Rostock erlassen. Die Gewifas hatten die Aufgabe, "qualifizierte Kader für die Arbeit in staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlich-demokratischen Einrichtungen und Organisationen in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands" auszubilden, um die "begonnene de140

Keller, D.: Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig (WZ), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 1978, H.1, S. 30f. Ebd.

142

Vgl. Mohr, A. a.a.O. besonders Teil II

112

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

mokratische Umgestaltung Deutschlands zu vollenden und zu festigen". 143 Die Verantwortung für die Durchsetzung dieses Befehls lag bei der D Z V und bei den Rektoren der Universitäten. Natürlich war dieser Befehl bindend. Ergänzt durch eine ausführliche Anlage regelte er die Bereitstellung aller materiellen Ressourcen, Lehrpläne, Immatrikulationsbestimmungen, Berufungen, die Stipendienordnung, Fakultätsstruktur und den Fächerkanon. Es handelte sich in der Tat um eine Neugründung, die bis dahin in der deutschen Universitätslandschaft kein Vorbild hatte. Daraus wird gemeinhin der Schluß gezogen, es sei ein sowjetisches Implantat ähnlich wie die "Institute zur Ausbildung Roter Professoren" und die "Fakultäten für Gesellschaftswissenschaften", deren Gründung 1921 auf einem Beschluß des Rates der Volkskommissare basierte. 144 Ihr Ziel war vor allem die Bildung "kommunistisch indoktrinierter Leitungskader" getreu dem Grundsatz von Lenin und Stalin: "Kader entscheiden alles". Dieses Motiv mag eine Rolle bei der Errichtung der Gewifas gespielt haben, erklärt aber nicht den Verlauf der Institutionalisierung und ihre kurze Existenz. Zum einen darf die Gründung außeruniversitärer Institute in der SBZ/DDR zur Rekrutierung von loyalen Fachleuten bei der Beurteilung nicht außer acht gelassen werden. Zum anderen hatte die Gewifa nicht von vornherein einen solchen Sonderstatus, daß sie als ein "Fremdkörper" im Korpus der Universität erscheinen mußte. In der Anlage heißt es dazu: "Die Studenten und die Lehrkräfte der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultäten werden nach den allgemeinen Grundlagen, die die Sowjetische Militäradministration für die höheren Lehranstalten ...festgelegt hat, ausgewählt." 145 Damit relativieren sich die Sonderbedingungen für die Auswahl der Studenten. Das gilt auch für die Berufungsprozedur. Der Rektor ernennt den Dekan der Gewifa, der danach von der DZV bestätigt wird. Ihre Abteilungsleiter werden vom Rektor ernannt. Vorschlagsrecht für Berufungen hat der Fakultätsrat. Vorschläge gehen über den Rektor, aber ohne Zustimmung des Senats, an das Sächsische Ministerium für Volksbildung. Als obligatorische Disziplinen nennt die Anlage: Philosophie, Politische Ökonomie, Psychologie, Allgemeine Geschichte, Geschichte Deutschlands, der UdSSR, der revolutionärdemokratischen Befreiungsbewegungen, staatliches und gesellschaftliches Recht in Deutschland, Geschichte der deutschen Kultur, Geschichte der russischen Kultur, Programme und Statuten der demokratischen Parteien Deutschlands, Verfassung der demokratischen Staaten Europas und Ameri-

143

Handel, G. / Köhler, R. (Hrg.) a.a.O. S. 56

144

Lenin, W.I.: Über Wissenschaft und Hochschulwesen, Berlin 1977, S. 348f.

145

Handel, G l Köhler, R. (Hrg.) a.a.O., S. 59

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische Wissenschaft

113

kas, Wirtschaftsgeographie Deutschlands, ökonomische und politische Maßnahmen der alliierten Besatzungsmächte zur Demokratisierung Deutschlands, Planung des ökonomischen und kulturellen Lebens in den demokratischen Ländern Europa und Amerika sowie Sprachen (Russisch, Englisch). Die Gewifa kann gegenüber diesen Fächern aber keine Exklusivität beanspruchen, d.h. sie trat damit auch nicht in unmittelbare Konkurrenz zu bereits bestehenden Fakultäten; denn es wird ausdrücklich gesagt: "Sollten einige der oben aufgeführten Lehrfächer bereits in den Plänen anderer Fakultäten ... enthalten sein, so brauchen sie in den Lehrplan der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät nicht aufgenommen werden; die Studenten jedoch sind dann verpflichtet, diese Fächer an den Fakultäten zu hören, wo sie gelehrt werden."! 46 Bei der Vorbereitung des Befehls 333 waren offensichtlich auch deutsche Stellen involviert. Neben der D Z V auch Professoren von Universitäten, so u.a. der Soziologe und Historiker Alfred Meusel, der Ökonom und Statistiker Friedrich Behrens und der Jurist und Rechtsphilosoph Arthur Baumgarten. 1 4 7 Mindestens Meusel und Baumgarten erhielten ihre akademische Sozialisation in der Weimarer Republik, waren als Professoren berufen. Beide kannten genau die Diskussionen um eine längst überfällige Universitätsreform, wie sie besonders in den Denkschriften des Staatssekretärs im Preußischen Kultusministerium Becker zum Ausdruck kam, in denen die Forderung nach einer verstärkten sozialwissenschaftlichen Ausbildung an den Universitäten erhoben wurde. Und nicht umsonst wurden die Begriffe "gesellschaftswissenschaftlich" und "sozialwissenschaftlich" synonym gebraucht. Dies erklärt auch die Vielzahl von Professuren, die von ihrer Denomination her die Soziologie mit einschlössen. Der Befehl sah vor, daß die Eröffnung der Gewifa an der Leipziger Universität zum 15. Februar 1947 zu erfolgen habe, tatsächlich nahm sie ihren Lehrbetrieb erst am 15. April 1947 auf. Dafür verantwortlich waren Irritationen, Mißverständnisse, aber auch eine bewußte Verhinderungsstrategie; weniger seitens des Rektors, eher durch einige Dekane und einzelne Professoren. 148 Die Widerstände waren aber keineswegs eindeutig bestimmt. Zum einen sollte die Universität nicht zu einer Fachhochschule degradiert werden, dann sah man die Balance zwischen den Fakultäten gefährdet, zum anderen war es aber auch der vermutete Einbruch in die Bildungselite und natürlich auch 146 147

148

Ebd., S. 60 Vgl. Handel, G.: Georg Mayer - Zum Leben und Wirken, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität, 1974, H. 4, S. 516 Ebd., S. 527

114

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

die Möglichkeit des Hineintragens der Parteipolitik in die Universität. Diese verschiedenen Intentionen sind so eindeutig politisch nicht zu gewichten, wie es in der Universitätsgeschichtsschreibung der DDR immer wieder der Fall war. 1 4 9 Die Strategie des Rektors Gadamer und des Dekans der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftlichen Fakultät, Lütge, bestand darin, die Wiso so zu strukturieren, daß dort u.a. die Aufgaben realisiert werden sollten, die man der Gewifa zugedacht hatte. 150 Dieser Vorschlag wurde durch die D Z V zurückgewiesen. Die vom Rektor geplante Senats-Kommission (bestehend aus: Rektor Gadamer, Dekan der Juristenfakultät de Boor, Dekan der WisoFakultät Lütge, Dekan der Philosophischen Gesamtfakultät Klinger und Professor Baumgarten) zur Gründung der Gewifa kam nicht zustande, da nun die Gründungsangelegenheiten zentral geregelt werden sollten. Gegen die Gründung der Gewifa argumentierte neben Lütge vor allem Litt. Auf der Senatssitzung am 5. März 1947 brachte er seine prinzipiellen Bedenken vor, "daß die Universität ihrer wissenschaftlichen Aufgabe nicht zu Gunsten einer parteipolitischen untreu" werden darf. 151 Der Marxismus als "wissenschaftlicher Problemkreis" gehöre an die Universität und müsse auch so behandelt werden, nicht aber, wenn er "als Grundlage für ein bestimmtes politisches Wollen" auftrete. Litt weiter: "Wenn er in Betracht ziehe, daß gewisse leitende Männer d e r neuen Fakultät nicht nur als Vertreter einer wissenschaftlichen Lehre, sondern ganz offenbar auch als Männer bekannt seien, die parteipolitisch etwas erreichen wollten, erfülle ihn das ganze Programm mit ernster Sorge." 152 Gadamer zeigte eine pragmatische Haltung. Es liege an der Universität, "etwas daraus zu machen". 153 Durch die Teilnahme der Dekane der benachbarten Fakultäten an den Fakultätsratssitzungen der Gewifa sollten jene von Litt geäußerten Bedenken ausgeräumt werden. Daß Litt und Lütge nicht nur Vorbehalte gegenüber einer politischen Indoktrinierung durch die sich etablierende kommunistische Macht hatten, sondern auch von fachlichen und universitätspolitischen Erwägungen ausgingen, zeigt nach ihrem Weggang aus Leipzig ihre Haltung zur politischen Bildung und zur Einführung der Politikwissenschaft an den westdeutschen Universitäten. Lütge plädierte wie in Leipzig für die Behandlung politischer Gegenstände im

149

Vgl. Keller, D. a.a.O., S. 28ff.

150

Vgl. Universitätsarchiv Leipzig (UAL), Rektorat (R), 68, Bl. 27

151

UAL, Rektorat (R), 8, Bl. 198

152

Ebd.

153

Ebd., Bl. 199

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

115

Rahmen der bisherigen Disziplinen, Litt sah die Philosophie als den geeigneten Ort politischer Bildung.154 Ganz offensichtlich blieb als Dauerproblem, nach dem sich die Kontroverse um die institutionelle Einbindung der Gewifa etwas gelegt hatte, die Besetzung der Professorenstellen, zumal der Senat zunächst einmal strikt auf Habilitation als Voraussetzung für eine ordentliche Professur bestand. Als kommissarischer Dekan wurde Baumgarten, als kommissarischer Prodekan Behrens durch die DZV bestellt; letzterer wurde dann der erste Dekan der Gewifa. 155 Der Fakultät sollten in der Gründungsphase mit Zustimmung des Senats folgende Personen angehören: neben den beiden oben genannten die Professoren Meusel, Jacobi (Jurist), Erkes (Sinologe), der Historiker Markov und der Oberbürgermeister Zeigner. Für Berufungen bezeihungsweise Lehraufträge waren im Gespräch: Werner Krauss für Kultursoziologie, Martin Drath für öffentliches Recht, Hans Mühlestein für Soziologie, Walter Markov und Ernst Nikisch für Geschichte, Albert Schreiner für deutsche Außenpolitik, Wolfgang Abendroth für Völkerrecht, Gerhard Harig für die gesellschaftliche Bedeutung der Naturwissenschaft und Technik, Georg Mayer für Volkswirtschaftslehre. Die Auswahl von geeigneten Kandidaten für die Professuren war keinesfalls so "von oben" gelenkt wie es in einigen Darstellungen zum Beweis einer stalinistischen Hochschulpolitik behauptet wird. Immerhin muß man davon ausgehen, daß es durch die Entnazifizierungpolitik prinzipiell an Hochschullehrern mangelte. 156 Auch konnte man nicht so ohne weiteres auf ein geeignetes Potential von Parteikadern zurückgreifen. In die Gründungsphase der Gewifa waren seitens der Universität neben dem Rektor Gadamer Meusel, Baumgarten und Behrens einbezogen. Meusel und Baumgarten hielten Gastlehrveranstaltungen in Leipzig, Behrens war Hochschullehrer an der Wiso-Fakultät. Daß Baumgarten an die Universität kommen sollte, geschah allerdings auf Initiative des Dekans der Juristenfakultät de Boor. Dieser beklagte sich in einem Brief an den Staatssekretär im Sächsischen Ministerium für Volksbildung über die personelle Notlage an der Juristenfakultät, insbesondere bei Strafrecht und Rechtsphilosophie, und sah folgende Möglichkeit: "Neuerdings scheint sich aber ein anderer Ausweg zu bieten. Ein gemeinsamer Freund schreibt mir nämlich, daß der ordentliche Professor des Strafrechts und der Rechtsphilosophie, Arthur Baumgarten, geneigt ist, auf einige Zeit wieder in Deutschland zu lesen und wohl für Leipzig zu gewinnen sein

154

Vgl. Mohr, A. a.a.O., S. 108f.

155

UAL, Rektorat (R), 9, Bl. 67

156

UAL, Rektorat (R), 68, Bl. 24-26

116

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

würde...Baumgarten ist ein guter Strafrechtler, ein führender Rechtsphilosoph (Hauptwerk: Die Wissenschaft vom Recht und ihre Methode), und wie ich aus gemeinsamer Tätigkeit in Frankfurt a.M. bezeugen kann, ein trefflicher und vielseitiger Lehrer." De Boor teilt weiter mit, daß Baumgarten nach Basel wegen des Nationalsozialismus ging, er offensichtlich Mitglied der Partei der Arbeit der Schweiz sei und einige sympathisierende Artikel über Lenin und den Kommunismus geschrieben habe. Daraus schlußfolgert er und zeigt sofort auch die taktischen Kalküle einer solchen Gastberufung auf: "Die Gewinnung Baumgartens, wenn auch nur auf Zeit, würde für die Fakultät sehr viel mehr bedeuten, als nur die Berufung eines guten Lehrers und Gelehrten, denn sie würde zeigen, daß selbst neutrale Mitglieder zur Mitarbeit in Leipzig bereit sind. Daß der Einfluß, den Baumgartens Eintritt auf den politischen Status der Fakultät haben würde, der Landesverwaltung höchst erwünscht sein dürfte, brauche ich kaum näher darzulegen."157 Das Lehrpersonal der Gewifa rekrutierte sich also weder aus Absolventen der Antifa-Schulen in der Sowjetunion, noch aus Schnellehrgängen für Dozenten des Marxismus-Leninismus. Sie hatten durchweg ihre Qualifikationen in akademischen Bereichen erworben und waren zum Teil schon in der Weimarer Republik Hochschullehrer. Bei der Wahl der Lehrkräfte an der Gewifa in Leipzig zeigten sich darüber hinaus zwei markante Merkmale. Bei den Berufenen handelte es sich vor allem um Wissenschaftler aus dem westlichen Exil, wie H. Budzislawski, W. Herzfelde, H. Mayer, G. Eisler, A. Schreiner, A. Baumgarten, A. Meusel, H. Großmann, J. Lips, oder/und es waren Wissenschaftler,die schon vor 1933 in einer gewissen Nähe zur Sowjetunion standen, wie G. Mayer, W. Krauss und G.Harig sowie die in den 20er Jahren der "Gesellschaft der Freunde des neuen Rußland",der "Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas" oder der "Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen

Planwirtschaft"

(Arplan) angehörten. 158 Meusel, Baumgarten, Georg Mayer, der langjährige Rektor der Leipziger Universität und G.Harig, der spätere Staatssekretär für Hochschulen, kannten sich alle aus dieser gemeinsamen Zeit. Insofern ist zu vermuten, daß ihr Zusammentreffen in Leipzig kein reiner Zufall war. Daß für Meusel und Baumgarten Leipzig nur Durchgangsstadium blieb, hatte zum Teil persönliche Gründe. Beide haben in der Wissenschaftslandschaft der DDR an wichtiger Stelle mitgewirkt. Meusel wurde Professor für Geschichte an der

157 158

UAL, Personalakte Arthur Baumgarten PA 1840, Bl. 1 Vgl. Kraus, A.: Über in den Jahren 1918-1933 entstandene Voraussetzungen künftiger deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit im Hochschulwesen, in: Köhler.R. ( Hg.): Beitrage

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische Wissenschaft

117

Humboldt-Universität in Berlin und Direktor des Museums für Deutsche Geschichte, Baumgarten Ordinarius an der Humboldt-Universität, Vorsitzender der Juristenvereinigung und Präsident der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft. Die Gewifa durchläuft eine Entwicklung, die man durchaus als Prozeß der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung beschreiben kann. Dies bezieht sich auf die Ausbildung eines Curriculums, die Entwicklung von Prüfungs- und Diplomordnungen und die Ausprägung eines akademischen Selbstverständnisses. 159 Im Juni 1948 wurde von der DZV ein Entwurf über die Fakultätssatzung vorgelegt, der offensichtlich, da mehrere Varianten existieren, in Abstimmung mit dem Fakultätsrat erfolgte. Ab Januar 1949 gab es für die Gewifa eine Diplomprüfungsordnung, die auf ein Vollstudium abzielte. Im Sommersemester 1947 lehrten an der Gewifa Gadamer (Methodenlehre der Wissenschaft), Baumgarten (Soziologie des Rechts und Dialektischen und Historischen Materialismus), Behrens (Theorie und Geschichte der politischen Ökonomie, Menz (Betriebswirtschaftslehre und Presse und Demokratie), Jacobi (Verfassungsgeschichte der Neuzeit), Zeigner (Kommunale Verwaltung, insbesondere der Großstädte), Schaller (Geschichte der Arbeiterbewegung), Markov (Russische Geschichte von der Bauernbefreiung bis Stalingrad). 160 Ab dem Wintersemester 1947/48 differenzieren sich dann in den Lehrveranstaltungen die vier Spezialisierungsrichtungen Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Außenpolitik und Publizistik heraus, letztere wird ab dem Sommersemester im Rahmen der Kulturpolitik angeboten. Es gibt ein umfangreiches Lehrangebot mit Grundvorlesungen für alle an der Gewifa immatrikulierten Studenten sowie Haupt- und SpezialVorlesungen mit dazugehörigen Seminaren und Übungen in den jeweiligen Spezialisierungsrichtungen, die ein politikwissenschaftliches Profil erkennen lassen, das sich allerdings in erster Linie pragmatisch und nicht theoretisch erklären läßt. An der Gewifa lehrten Hochschullehrer, die einen wissenschaftlichen Ruf besaßen oder erwerben sollten, wie die Romanisten Krauss und Klemperer, die Juristen Baumgarten, Jacobi und Abendroth, der Literaturwissenschaftler und Germanist Hans Mayer, die Ökonomen Großmann und Behrens, die Historiker Markov und Engelberg, der Ethnologe und Rechtssoziologe Lips. Das Lehrangebot war breit und keineswegs im Sinne eines dogmatischen Marxismus-Leninismus auf jenen Kanon festgelegt, wie er mit den einschlägizur Entwicklungsgeschichte der antifaschistisch-demokratischen Hochschule, Berlin 1987, S. 17-32 , Handel, G.: Georg Mayer-Zum Leben und Wirken a.a.O. 159

UAL, Rektorat (R), 68 Bl. 30, B164-67 160 Vorlesungsverzeichnis Universität Leipzig Sommersemester 1947, S. 47f.

118

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

gen Kompendien Ende der fünfziger Jahre entstehen sollte.161 Im Sommer 1949 wird die Wiso-Fakultät in die Gewifa eingegliedert, nicht zuletzt, nach dem Weggang einiger Hochschullehrer wie dem Dekan Lütge, aus akutem Personalmangel. Auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung verfügte die Gewifa über sieben Institute und ein Seminar für Wirtschaftspädagogik: das Planökonomische Institut, das Franz-Mehring-Institut, das Institut für Staatenkunde und Weltwirtschaft, das Institut für vergleichendes Verfassungsrecht, das Institut für Verwaltungswissenschaft, das Institut für Publizistik, das Institut für Sozialpolitik und das Seminar für Wirtschaftspädagogik.162

Theoretisches Selbstverständnis der Gewifa und das Verhältnis von Wissenschaft und Politik Bei der Institutionalisierung der Gewifa handele "es sich nicht in erster Linie um die Schaffung neuer Ausbildungsmöglichkeiten für bisher noch nicht der akademischen Bildung erschlossene Berufe, sonden um den Versuch, gegenüber allen anderen Fakultäten ein neuartiges Einteilungsprinzip zur Geltung zu bringen."163 Heinz Herz, Professor für Soziologie an der Rostocker Universität und wesentlich am Aufbau der dortigen Gewifa beteiligt, wählt zur Charakterisierung der Gewifa die Analogie zu Kants Schrift "Streit der Fakultäten". "So wie einst im Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt der bürgerlichen Wissenschaft die größte schöpferische Kraft erwuchs, so haben in der Gegenwart die Denker, die aus der das Bürgertum ablösenden Klasse hervorgegangen sind oder an sie den Anschluß finden, eine besondere Chance, zu wirklich adäquaten, d.h. dem Vergesellschaftungsprozeß entsprechenden Denkergebnissen zu gelangen. Hier liegt der Anspruch der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät begründet, der ihr das Recht gibt, ähnlich wie vor 150 Jahren der philosophischen Fakultät, im Streit der Fakultäten einen besonderen Platz zu beanspruchen."164

Gesellschaftswissenschaft wird ver-

standen als neue Grundlagenwissenschaft mit universalistischem Anspruch. Sie hat es mit der Gesellschaft "als Ganzem" zu tun und untersucht insofern auch das Verhältnis von Gesellschaft und Staat. So verstanden sei Gesell161 vg| Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1946 bis Wintersemester 1950/51 162

Vgl. Feige, H.-U.: Die Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät an der Universität Leipzig (1947-1951), In: Deutschlandarchiv 1992, H.4, S. 580

163

Herz, H. P. J.: Die Gesellschaftswissenschaften im Streit der Fakultäten, in: Forum 1948, Nr. 10, S. 316

164 Ebd.

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische Wissenschaß

119

schaftswissenschaft ein Synonym für Sozialwissenschaft beziehungsweise Soziologie.165 In einem Artikel des Pädagogen Max G. Lange, der später mit dem Wissenschafts-und Erziehungssystem der DDR kritisch ins Gericht geht, wird dieser Gedanke weiter ausgeführt: "Den autonomen Wissenschaften des Bürgertums wird eine einzige einheitliche - historisch-dialektische - Wissenschaft von der Entwicklung der Gesellschaft als eines Ganzen entgegengestellt."166 Dabei werde der politische und soziale Emanzipationskampf der Arbeiterklasse zur erkenntnisleitenden Idee. Bekommt der Marxismus Zugang zu den Universitäten, verändern sich aber auch seine Wirkungsbedingungen. Nach Lange unterliegt er dann den Bedingungen des akademischen Universitätsbetriebes, die zu einer spezifischen Rationalisierung führen. "Die Erfahrungen der letzten Jahre haben bewiesen, daß die Universitätsanforderungen den Marxismus dabei vor Probleme stellen, die bisher nur am Rande seiner wissenschaftlichen Interessen standen. Die dem Marxismus immanente Kritik der bürgerlichen Gesellschaft und Ideologie muß sich mit einer Analyse der von dem jeweiligen Fach geforderten Zusammenhänge verbinden, die trotz aller Modifikationen eine das ganze Fachgebiet umfassende Ausbildung garantieren muß. Diese Anforderungen können nur durch eine erhöhte Arbeitsteilung gelöst werden." 167 Der Widerspruch zwischen Gesellschaftswissenschaft mit Zugriff auf gesellschaftliche Totalität und generalistischem Erklärungsanspruch und Einzelwissenschaften mit abgegrenzten Gegenstandsbereichen konnte unter bestimmten Umständen leicht in einen Gegensatz von ideologischem Dogmatismus und Wissenschaft umschlagen. Ihm zu entgehen konnte nur bedeuten, den Marxismus nicht vom Erkenntnisprozeß der einzelwissenschaftlichen Disziplinen zu trennen. Zentrales Thema der Diskussion um die Reform der Universität und die Institutionalisierung der Gewifa bildete das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Die Forderung nach politischen Lehrstühlen gebe es nicht nur in der SBZ, so Herz. 168 Nicht nur müsse die "Wissenschaft in größere nähe zur Politik" sondern auch die "politik in größere nähe zu Wissenschaft" gebracht werden. Die Forderung Humboldts "fern von der politik " und "frei vom Staat" müsse als eine Forderung verstanden werden, die in einem ganz bestimmten historischen Kontext entstanden sei und keine zeitlose Gültigkeit beanspruchen könne. Spätestens Max Webers Versuch, das Verhältnis zwischen Wissen165 Duncker, H.: Klassenstaat und Gemeinschaftsordnung, in: Forum 1948, Nr.1, S. 2 166

Lange, M. G.: Wissenschaftlicher Sozialismus und Soziologie, in: Forum 1948, Nr. 5, S. 149

167

Ebd., S. 150

168

Herz, H. P. J.: Wissenschaft, gesellschaft und politik, in : Pädagogik 1947, H. 7, S. 385

120

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

schaft und Politik neu zu bestimmen, führe zu einer "zweiweltentheorie", die sich historisch diskreditiert habe. 169 Die Auseinandersetzung mit Max Webers Wissenschaftskonzeption

sowie

mit

Mannheims

These

von

der

"freischwebenden Intelligenz" ist für all diese Arbeiten typisch und deutet auf die Weiterführung jener Kontroversen hin, die bereits in der Zeit der Weimarer Republik geführt wurden. Meusel veröffentlicht 1947 einen Artikel" Zur Frage der Objektivität in den Sozialwissenschaften", der sich weniger mit den methodischen, sondern eher mit den politischen Implikationen des Weberschen "Objektivitätsaufsatzes" und seinem Postulat der Wertfreiheit polemisch auseinandersetzt. Die damit verbundene Haltung vieler Intellektueller habe, so die These, den Faschismus begünstigt. Meusel wendet sich gegen ein Konzept einer unpolitischen Wissenschaft. "Die Möglichkeit, auf soziologischem oder sozialwissenschaftlichem Gebiet zu tatsachenadäquaten Erkenntnissen zu gelangen, schließt die Parteinahme für das Neue und Junge, für die im Aufstieg begriffenen Kräfte ein, selbst wenn diese in einer bestimmten Situation noch wenig stabil sind. Diese Entscheidung, die den Dualismus von Erkennen und Handeln, zwischen Objektivität und Subjektivität aufhebt, beseitigt auch den Zwiespalt oder die Spaltung zwischen Vernunft und Gefühl."170 Ebenfalls aus dem Jahr 1947 stammt der Aufsatz "Geistesfreiheit und Universität" von Baumgarten. Viele würden eine neue Gefahr darin sehen, "daß die Politik in die Stätte der Wissenschaft eingedrungen ist, die Politik mit ihrer leidenschaftlichen Parteinahme, die das Gegenteil jener geistigen Objektivität sei, ohne die es keine Wissenschaft gibt."171 Der Marxismus sei immer auch eine "politische Wissenschaft". Baumgarten versucht die Vorbehalte gegen eine enge Verflechtung von Politik und Wissenschaft zu entkräften, betont aber auch gleichzeitig, daß dieses Verhältnis durchaus nicht immer harmonisch sein muß, daß das politische Geschäft auch zu einer "Störung" der wissenschaftlichen Arbeit führen kann. "Was unsere Dozenten und Studierenden betrifft, so werden sie sich vor Augen halten, daß Politik und Wissenschaft, auch Gesellschaftswissenschaft und politische Wissenschaft im engeren Sinne, trotz ihrer nahen Verbindung zweierlei sind, daß die Wissenschaft nicht der Politik untergeordnet werden darf, daß vielmehr die Politik, indem sie zum Gegenstand der Wissenschaft wird, einen Klärungsprozeß zu durchlaufen hat. Nur so gelangt man zu einer wahrhaft 169

Ebd., S. 387

170

Meusel, A.: Zur Frage der Objektivität in den Sozialwissenschaften, in: Forum 1947, Nr. 10, S. 7

171

Baumgarten, A.: Geistesfreiheit und Universität, in: ders.: Rechtsphilosophie auf dem Wege, Berlin 1972, S. 429

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

einsichtsvollen schaft."

172

Politik

und

zu

einer

lebensvollen

121

Gesellschaftswissen-

Baumgarten konstatiert die Abneigung der studentischen Jugend

gegenüber der Politik und macht die Jahre des Dritten Reiches dafür verantwortlich. Dieser "Widerwille" sei verständlich, für unsere Zeit aber nicht am Platze. "Unsere Zeit ist aber eine andere, für uns ist es heute die dringlichste Aufgabe, die Gesellschaft neu zu ordnen, eine neue Politik zu finden und durchzuführen." Insofern lehnt er eine Wissenschaft als "la science pour la science" ab. Baumgarten verweist immer wieder auf andere historische Umstände, in denen die Wissenschaftler auch politisch engagiert waren. Er nennt Comte, v. Stein, Deway. Politische Leidenschaften würden nicht blind, sondern für das "wissenschaftliche Objekt hellsichtig'' machen, "denn die ganze Wahrheit besitzt niemand."173 Seine Positionen waren nicht erst nach den Erfahrungen mit dem Dritten Reich oder unmittelbar in der SBZ entstanden, sie entstanden in Auseinandersetzung mit den wissenschaftstheoretischen und rechtsphilosophischen Auffassungen der Weimarer Zeit. Aufschlußreich ist seine Abhandlung über Rechtsphilosophie im "Handbuch der Philosophie": "Es bleibt das quälende Problem, ob nicht doch die Wissenschaft uns statt nur die richtigen Mittel zu gegebenen Zwecken auch die über die richtigen Zwecke zu informieren habe. Nicht jeder kann sich zu Max Webers Standpunkt bekennen... So blicken sich denn nicht wenige Juristen sehnsüchtig nach einer Wissenschaft um, die uns über die letzten Ziele des Menschen, nicht die, die er sich tatsächlich setzt, sondern die, die er sich setzen soll, Auskunft erteile."174 Diese "Suche" war aber

zunächst

einmal

"vergeblich".

Später

fand

Baumgarten

diese

"wissenschaftliche Weltanschauung" im Marxismus. In beiden Aufsätzen wird das Verhältnis von Politik und Wissenschaft ausgelotet und durchaus im Sinne eines dialektischen Verhältnisses bestimmt. Wissenschaft ist nicht Selbstzweck, sondern soll von praktischer Relevanz sein. Gleichzeitig kann sie das nur leisten, wenn sie nicht zur Magd der Politik verkommt. Die Gewifa in Leipzig tritt zunächst mit diesem Anspruch auf. Dazu gehört auch ein Verständnis von Marxismus, das ihn nicht zur "reinen" Lehre verkommen

läßt,

sondern

im

Nachweis

seiner

Produktivität

seine

"Überlegenheit" sucht. Sehr treffend drückt dieses Bestreben der Historiker Markov aus: "Niemand wird den Wunsch hegen, den historischen Materialismus für seine Unterdrückung in anderen Teilen Deutschlands durch ein Mo172

Ebd., S. 430

173

Ebd., S. 431

174

Baumgarten, A.: Rechtsphilosophie, in : Handbuch der Philosophie, München und Berlin 1929, S. 19

122

Kapitel II: Politikwissenschaft

in

Deutschland

nopol in der Ostzone zu entschädigen; es sei denn, daß er ihn vorsätzlich durch Inzucht ruinieren möchte. Zu fordern ist für alle deutschen Universitäten der freie Wettstreit beider Theorien, die Verpflichtung, sich mit ihnen bekannt zu machen. Es heißt kein Geheimnis preisgeben, wenn wir behaupten, eine Belehrung darüber, was historischer Materialismus n i c h t

ist, stehe in ihrer

Dringlichkeit bereits vor der Feststellung, was er eigentlich sei."175 Wettbewerb schließe die Erkenntnis ein ,daß es keinen "Universalschlüssel irgendeiner allgemeinen geschichtlich-philosophischen Theorie gibt", die alles erkärt. 176 Der Romanist Werner Krauss widmet sich in einigen Arbeiten, die zum Teil noch aus seiner Marburger Zeit stammen, der Situation an den deutschen Universitäten und der Haltung der Studenten. Insbesondere beklagt er deren politische Apathie. Seine Diagnose lautet: Universitäten und

Wissenschaft

zeigen erhebliche Krisensymptome. Er spricht von einem "Einsturz der letzten Koordinaten". Die jungen Menschen haben sich geschworen, "kein zweites Mal Opfer einer politischen Propaganda zu werden. Die Frage der politischen Einstellung erscheint ihnen als eine bloße Gefühlsfrage, als eine Frage der subjektiven Meinung".177 Als möglichen Ausweg sieht er eine "politische Meinungsbildung", an der grundlegende Fächer beteiligt sein müssen. Aber auch dadurch gäbe es keine Gewähr für eine Besserung. Denn da "die Schranken des Spezialistentums mit der Differenzierung der wissenschaftlichen Arbeit beständig zunehmen", wird auch die allgemeine Verständigung innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen immer schwieriger, ebenso wie "zwischen Wissenschaft

und

dem

außerwissenschaftlichen

Leben." 178

Auch

eine

"volksverbundene Wissenschaft" könne da keine Abhilfe schaffen. "Dagegen müßte es eine 'Grundlagenwissenschaft' geben, die von der konkreten Lage des gegenwärtigen Menschseins ausgehend, einen geschichtlichen Ursprung freilegen und damit auch das Entstehen der drängenden Fragen aufzeigen könnte, zu denen sich als Antworten die modernen Wissenschaften gesellten. Auf einer solchen Grundlage wären überraschende Begegnungen und Quergespräche zwischen und außerhalb der Wissenschaft denkbar." 179 Krauss plädiert hier für eine Reform bisheriger Universitätsstrukturen, die auf eine Überwindung disziplinarer Einengung und Segmentierung des Gegenstandes 175

Markov, W.: Historia Docet, in: Forum 1947, Hr. 1, S. 129

176

Ebd.

177

Krauss, W.: Die Universität in der Entscheidung, in : Literaturtheorie, Philosophie und Politik, Berlin 1984, S. 368

178

Ebd., S. 359

179

Ebd., S. 358

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

123

abziele. Die Verbindung von Wissenschaft und Politik, für die er mit Nachdruck votiert, erschließe der Wissenschaft neue Möglichkeiten ihrer theoretischen Wirksamkeit. Nicht zuletzt waren es auch hier wieder Erfahrungen aus der Zeit des Dritten Reiches, die verarbeitet wurden. Die deutschen Geisteswissenschaftler befürchteten bei der soziologischen Fundierung ihres Faches einen "Absturz in ein außerwissenschaftliches Erkärungssystem". Und dies hatte Folgen. "Alle Fächer wurden in der Isolation ihres 'eigenen Begründungszusammenhangs' gelehrt, und in dieser Haltung nahm man auch die Möglichkeiten wahr, die politischen Ansprüche der Nazis abzuwehren. Eine grundsätzliche Ablehnung dieser Ansprüche erfolgte stets nur auf dem jeweiligen fachlichen Sondergebiet und nicht dadurch, daß man das politische System selbst als eine untragbare Grundlage für alles geistige Leben brandmarkte". 180 Die Akzentuierung einer politischen Wissenschaft war mit der Vorstellung verbunden, daß die Wirklichkeit durch eine "wissenschaftliche Politik" gestaltet werden kann und daß die "Initiative für das historische Geschehen" mehr und mehr auf den Wissenschaftler übergehe. Das setzt eine Gesellschaftswissenschaft voraus, die entsprechend der historischen Möglichkeiten die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer durch die ökonomischen Verhältnisse bedingte Totalität begreift, um sie gestalten zu können. Die Bezugspunkte für eine wissenschaftliche Politik sind von daher Geschichte und Ökonomie. Politik kann zum Objekt einer wissenschaftlichen Analyse werden, nicht aber zu einem so abgegrenzten Gegenstand, der die Autonomie einer wissenschaftlichen Disziplin begründet.

Auseinandersetzungen und das Ende der Gewifa Am 30. Januar 1948 wurden eine Arbeitsgemeinschaft marxistischer Wissenschaftler an der Universität Leipzig gegründet und zwei Schriftenreihen ins Leben gerufen, die der Verbreitung von Forschungsergebnissen vor allem der Angehörigen der Gewifa dienen sollten. Zum einen waren dies die "Leipziger Vorträge der Arbeitsgemeinschaft marxistischer Wissenschaftler", als deren Herausgeber Behrens, Harig, Krauss, Markov und Schreiner fungierten; zum anderen waren es die "Leipziger Schriften zur Gesellschaftswissenschaft", die von Behrens unter Mitwirkung der oben Genannten herausgegeben wurde. Zum Teil handelte es sich dabei um Antrittsvorlesungen und Vorträge, zum 180

Ebd., S. 527

124

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

Teil aber auch um größere monographische Abhandlungen zu den Themen: "Die Entwicklung der politischen Ökonomie in der UdSSR" (Behrens), "Die marxistische Staatstheorie seit dem Kommunistischen Manifest" (Schreiner), "Die Theorie der Produktionspreise, betriebswirtschaftliche Kostentheorie und Gleichgewichtstheorie der Preise" (Behrens), "Historisch-materialistische und biologische Staatslehre als Gegensatz und als politische Gegenwartsprobleme" (Schreiner), "Hermann Heinrich Gossen oder die Geburt der 'wissenschaftlichen Apologetik' des Kapitalismus" (Behrens), "Wirtschaftsplanung und Sachmängelhaftung" (Such). Einige dieser Arbeiten sollten zwei Jahre später Gegenstand offizieller Parteikritik werden. Die Einengung der geistigen Freiheit zeigt sich unter anderem in einem sich ab 1949 verschärfenden Ton gegenüber "unliebsamen" Auffassungen, der besonders durch die Arbeiten von Shdanov und Fadejew hineingetragen wurde. 1 8 1 So auch in einem Artikel von R. O. Gropp, dem späteren Gegenspieler von Ernst Bloch am Philosophischen Institut, mit dem Titel: "Kofier - ein ideologischer Schädling". 182 Das Hauptargument bildete der "Objektivismus"-Vorwurf. Da Gropp an der Gewifa in Leipzig zu dieser Zeit als Externer promovierte, ist seine Argumentation besonders interessant. Noch ein Jahr zuvor riet er Kofier nach dem Erscheinen seines Buches "Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft", "Selbstkritik" zu üben. "Ideologischer Schädling" deutet auf eine schon andere Gangart hin und sollte für Kofier, der zu dem Zeitpunkt noch Professor in Halle war, folgenschwere Konsequenzen haben. Objektivismus bedeutet nach Gropp "Gleichstellung der bürgerlichen 'Wissenschaft' mit dem Marxismus". Es werde geleugnet, "daß der Marxismus die einzige wissenschaftliche Erklärung der Geschichte und eine wissenschaftliche Weltanschauung bietet, er (der Objetivismus - d. Verf.) konstruiert eine parteilose Wissenschaft und Philosophie, die über den Klassengegensätzen steht und zu der neben den Klassikern des Marxismus-Leninismus auch die bürgerlichen Ideologen angeblich gleichwertige Beiträge geliefert haben und liefern." 183 Da die "bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften" seit dem 19. Jahrhundert "keinen Erkenntnisfortschritt" aufzuweisen haben, dürfe man nicht, wie dies der "Objektivist" tut, die "bürgerlichen 'Gelehrten' ebenso ernst nehmen wie die Klassiker des

181

Shdanow, A.: Über Kunst und Wissenschaft, Berlin 1951, insb. Rede auf der Philosophentagung in Moskau, Juni 1947 , Kritische Bemerkungen zu G.F. Alexandrows Buch: "Geschichte der westeuropäischen Philosophie, S. 80-114

182

Gropp, R. O.: Kofier-ein ideologischer Schädling, in: Einheit 1950, H. 5

183

Ebd., S. 457

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische Wissenschaft

125

Marxismus-Leninismus".184 Gropp repräsentiert bereits in dieser Zeit einen anderen Typus an der Universität, den "Kaderphilosophen", der sich in erster Linie als "Parteiarbeiter an der ideologischen Front" versteht. Wie ambivalent aber noch der Kampf gegen den Objektivismus für die SED-Führung war, zeigte die Warnung von Fred Oelßner vor der Geringschätzung der Empirie. "Es ist aber bei uns in letzter Zeit ein gewisses Sektierertum aufgetreten, das seinen Ausdruck darin findet, alles Quellenstudium als 'bürgerlichen Objektivismus' abzutun."185 1 950 erschien Stalins Arbeit "Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft", ein Jahr später wurde dazu vom ZK der SED eine theoretische Konferenz durchgeführt. Mit der Propagierung des Kampfes gegen "Objektivismus und Kosmopolitismus" und durch die Verherrlichung der Führer der kommunistischen Partei als "große" Wissenschaftler, wurde der Versuch unternommen, wissenschaftsinterne Maßstäbe zu zerstören, das Konkurrieren von Theorien über die Erlangung einer Monopolstellung auszuschalten und Mechanismen zu installieren, die es ermöglichen, die Wissenschaft der Politik zu subsumieren. Hier wirkte vor allem das sowjetische Vorbild. Exemplarisch wurde es durch Lyssenko in der Biologie vorgeführt. In seinem Referat zur "Lage in der biologischen Wissenschaft" auf einem Kongreß in Moskau 1949 führte er die kommunistische Partei als wissenschaftlichen Gutachter ein: "Genossen! Bevor ich zu meinem Schlußwort übergehe, halte ich es für meine Pflicht, folgende Erklärung abzugeben: In einer Zuschrift werde ich gefragt, welche Stellung das Zentralkomitee der Partei zu meinem Referat einnimmt. Ich antworte: Das ZK der Partei hat mein Referat geprüft und gutgeheißen. (Stürmischer Beifall, der in eine Ovation übergeht. Alle erheben sich von ihren Plätzen.)"1*6 Im Jahre 1950 trifft auch einige Lehrkräfte der Gewifa der Bannstrahl des Objektvismusvorwurfs. In einem Artikel des Propagandafunktionärs Ernst Hoffmann in der "Einheit" mit dem Titel "Über die marxistisch-leninistische Erziehung der wissenschaftlichen Kader" - solche Artikelüberschriften waren bis dahin ungewöhnlich - wurde der direkte Zugriff auf die Belange der Universität durch die SED klar ausgesprochen, abgeleitet durch den Anspruch, daß die "Partei Vortrupp des Deutschen Volkes" sei. In der Entschließung zum III. Parteitag der SED 1950 wurde ein "Zurückbleiben auf kulturellem Gebiet" dia-

' 8 4 Ebd. 185

Oelßner, F.: Die Bedeutung der Arbeiten des Genossen Stalin über den MarxismusLeninismus und die Fragen der Sprachwissenschaft für die Entwicklung der Wissenschaften. In: Einheit 1951, H. 12, S. 51

186

Die Lage in der biologischen Wissenschaft, Tagung der Lenin-Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften der UdSSR, Stenographischer Bericht, Moskau 1949, S. 758

126

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

gnostiziert. Als eine der Hauptursachen wurden ideologische "Schwächen" angegeben: "Bei vielen Intellektuellen ist noch nicht die Erkenntnis gereift, daß der Aufbau einer fortschrittlichen deutschen Kultur nur im unablässigen Kampfe gegen alle reaktionären Tendenzen auf kulturellem Gebiet, gegen die volksfeindlichen Theorien des Kosmopolitismus, gegen den bürgerlichen Objektivismus und gegen die amerikanische Kulturbarbarei erfolgen kann."187 Organisatorisch wollte man dieser Tendenz durch eine stärkere Zentralisierung des Parteiapparats begegnen. So kam es auf der 4. Tagung des Zentralkomitees der SED vom Januar 1951 zum Beschluß, daß die "Universitätsbetriebsgruppen unserer Partei politisch-ideologisch direkt dem Zentralkommitee unterstellt" werden.188 Häufig findet man jetzt die Wortverbindung von Marxismus-Leninismus, wird von "marxistisch-leninistischer Wissenschaft" gesprochen. So brauche man einen "Typ des Fachwissenschaftlers", "der sich in seiner gesellschaftlichen Tätigkeit und in seiner Lehr-und Forschungsarbeit von den Prinzipien des Marxismus -Leninismus leiten läßt."189 Doch habe an den Universitäten, so in der Entschließung des III. Parteitages der SED, "weder die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit unwissenschaftlichen Auffassungen reaktionärer Hochschullehrer noch der unversöhnliche Kampf gegen reaktionäre Einflüsse, gegen Kosmopolitismus und Objektivismus richtig begonnen."190 Diese Einschätzung galt auch für die Leipziger Universität, so der Vorwurf von Hoffmann. Gegenstand der Kritik ist das Urteil der SED-Betriebsgruppe, daß "zur Zeit keine völlig einwandfreie marxistische Vorlesung an der Universität gehalten werde", trotz der Vielzahl von Marxisten an der Gewifa! Vorgeführt wird dieses Urteil exemplarisch an den Schriften von "Genosse Professor Behrens". Der Vorwurf lautet: Behrens Schriften zeugen "vom Geist der 'Einheit' der bürgerlichen Wissenschaftslehre und der marxistischen politischen Ökonomie".191 Die Schriften Behrens' ließen erkennen, daß er eine "Grundkonzeption besitzt, die Konzeption von der 'einheitlichen' politischen Ökonomie ('unsere Wissenschaft'), von der 'Einheit' der marxistischen und der bürgerlichen Pseudowissenschaft; daß er um dieser Konzeption willen die geschichtliche Wahrheit entstellt, indem er das Verdienst von Marx., und die marxistische politische Ökonomie nach der idealistischen Ausdrucksweise 187

Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. III, Berlin 1952, S. 117

188

Ebd., S. 362

189

Hoffmann, E.: Über die marxistisch - leninistische Erziehung der wissenschaftlichen Kader, in: Einheit 1950, Nr. 9, S. 864

190

Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands a.a.O., S. 118

191

Hoffmann, E. a.a.O., S. 866

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft als politische Wissenschaft

127

Hegels in die 'Selbsterkenntnis der kapitalistischen Produktionsweise' umfälscht; daß er die scheinwissenschaftliche

Verteidigung des Kapitalismus

durch die bürgerliche Ideologie als 'ein System der wissenschaftlichen

Apolo-

getik' beschönigt und Ideologen des Monopolkapitals als wissenschaftliche Pioniere...glorifiziert."192 Aber der eigentliche Punkt war damit gegen Behrens noch nicht gefunden. Entscheidend problematischer erschien Behrens' Verhältnis zur Sowjetwissenschaft. So erscheine Stalin als jemand, der lediglich die "Bilanz der wissenschaftlichen Entwicklung...anderer...gezogen" habe. Daß Stalin nach dem Tode Lenins der "Schöpfer der politischen Ökonomie des Sozialismus ist", bleibe unerwähnt.193 Für Leipzig sei dies kein Einzelfall. Der Artikel nennt neben Behrens auch Bloch, Markov und Such. Den Genannten wird vorgeworfen,

im "Geist des Objektivismus" zu handeln, den

"akademischen Kollegengeist" zu pflegen und die "ideologische Auseinandersetzung" an der Universität zu unterlaufen. Die erfahrene Schelte ließe sich weiter demonstrieren. Was den marxistischen oder mit dem Marxismus sympathisierenden Wissenschaftlern an der Leipziger Universität vorgeworfen wurde, war die mangelnde Einsicht in die "Entwicklungsgesetze des Klassenkampfes" und das offensichtliche Unvermögen, "die unverfälschte Lehre des Marxismus-Leninismus" zu vermitteln.194 Der Wissenschaftler sollte sich in erster Linie als "Kämpfer an der ideologischen Front" verstehen, d.h. politischideologische Prämissen sollten die wissenschaftlichen Maßstäbe und die Kultur des wissenschaftlichen Meinungsstreits ersetzen. Der Vertreter einer anderen Theorie ist nicht schlechthin der "Berufskollege", sondern der "Gegner". Diese Zuspitzung hat eine gnoseologische Attitüde. Es gibt eine objektive Wirklichkeit und demzufolge auch nur eine adäquate Theorie über diese Wirklichkeit. Die legitime Anerkennnung von konkurrierenden Ansätzen widerspricht einem monistischen Wahrheitsverständnis. Sie erscheint als "Überparteilichkeit", "Neutralität", "Ausweichung vor klaren Entscheidungen". Zum Gralshüter dieser einen Wahrheit beruft sich selbst die marxistischleninistische Partei. Damit wird die "Parteilichkeit in der Wissenschaft" nicht mehr zu einer Frage der Einstellung und eigenen Entscheidung jedes einzelnen Gesellschaftswissenschaftlers, sondern zu einer aufgezwungenen Vorbedingung für die wissenschaftliche Arbeit an den Universitäten, der auch die marxistischen Wissenschaftler unterliegen.

192

Ebd., S. 867

193

Ebd., S. 868

194

Ebd., S. 869

128

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

In diesem Umfeld entsteht ein neues Verständnis von Gesellschaftswissenschaften, die nun mit dem Attribut "marxistisch-leninistisch" versehen werden und der Definitionsmacht der SED unterliegen. Auf einer Funktionärstagung der FDJ 1950 referierte Ulbricht "Über die Bedeutung des Studiums der Gesellschaftswissenschaft". Hier führte er exemplarisch vor, was von der Gesellschaftswissenschaft erwartet wurde - sie sollte die ideologische Begleitmusik für die Politik der SED liefern.195 Daß der Marxismus nicht zu "einem vulgären Dogma für flache Hirne" verkomme, so die Befürchtungen von Otto Stammer 1947 in der "Einheit"196, war somit geschehen. Neben diesen ideologischen Veränderungen war es der neue Kurs der SED, der sich von der antifaschistisch-demokratischen Orientierung und einem besonderen deutschen Weg zum Sozialismus absetzte. Eine Zäsur in der Entwicklung stellte das Jahr 1950 dar. Im Juni 1950 fand der III. Parteitag der SED statt. Auf ihm wurde der Weg zu einer sozialistischen Entwicklung eingeschlagen: die SED sollte sich schnell zu einer Partei neuen Typs (seit 1948 begonnen) entwickeln, systematische marxistisch-leninistische Schulungen sollten diese Entwicklung ideologisch absichern, die Bindung an das sowjetische Modell wurde propagiert, mit dem Entwurf für den ersten Fünfjahrplan waren die Weichen für die "weitere revolutionäre Umgestaltung" der Gesellschaft gestellt. Das hatte Auswirkungen auf die Universitäten. Auf einer Kulturtagung der SED in Leipzig 1947 zeichnete Wandel ein Bild von den derzeitigen Universitäten, das sehr genau die strategischen Überlegungen der SED-Führung wiedergab. "Bei den Universitäten standen wir vor der schwierigen Überlegung, ob wir uns nicht lieber eigene Hochschulen schaffen sollten; wir sind indes zu dem Schluß gekommen, daß das falsch wäre, - wir fühlen Kraft genug in uns, um aus dem Bollwerk der Reaktion demokratische Schulen des Volkes zu machen. Wir müssen uns dabei allerdings als gute Psychologen im Umgang sowohl mit den Lehrkräften wie mit den Studierenden erweisen, die nur zu einem kleinen Teil ausgemachte Reaktionäre sind, während ein größerer Teil nur schwankt."197 Die Hochschulpolitik der SED und der deutschen Verwaltung pendelte in den vierziger Jahren zwischen Wiederherstellung, Reform und "revolutionärer Umgestaltung"198. Insofern waren die Konzepte keineswegs eindeutig und ihre Umsetzung keineswegs stringent. Drei Momente fallen auf: eine starke 195

Vgl. Ulbricht, W.: Über die Bedeutung des Studiums der Gesellschaftswissenschaft, in: Pädadogik 1951, H. 1

196

Stammer, O.: Die Ideologie in der Geschichte, in: Einheit 1947, H. 5, S. 480

197

Leipziger Volkszeitung, 14. Juni 1947, S. 2

198

Vgl. Einheit 1947, H. 5, S. 507f.

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische Wissenschaft

129

Bindung (Direktiven und Kontrolle) der Universitäten an den Staat, Veränderungen der sozialen Zusammensetzung der Studentenschaft und die Gründung neuer Institute. Von hier aus erhoffte man sich Effekte für die im Entstehen begriffene neue Ordnung. Einen radikalen Bruch vollzog man nicht, selbst wenn dazu bei einigen Funktionären offensichtlich die Bereitschaft vorhanden war, die dann auch in den offiziellen Parteidokumenten als "linke Sektierer" abgetan wurden. Die Gründe dafür mögen politischer Natur gewesen sein, sie liegen aber auch in der Natur des Systems der Wissenschaften schlechthin, das höchst sensibel auf Neuerungen reagiert. Wissenschaft als eine gesellschaftliche Institution, in der akkumuliertes Wissen gespeichert und verwertet wird, unterliegt Mechanismen, die den "radikalen Bruch mit der Vergangenheit zugleich mit dem Verlust der Existenz dieser Institution bestrafen". Gleichwohl stellen Neugründungen keinen Gegensatz zur bisherigen akademischen Welt dar. "Jede Neugründung im Bereich der Wissenschaft kann jedoch mit ihrer Etablierung nicht etwa ein isoliertes Eigenleben führen, sondern steht unabdingbar im produktiven Kontext zu den schon bestehenden Einrichtungen". 199 Ab 1948 änderte sich diese Konzeption durch die Gründung einer Reihe von Institutionen außerhalb der Universitäten. Nach der Parteihochschule beim ZK der SED, die bereits 1946 gegründet wurde, waren dies die Deutsche Verwaltungsakademie in Forst-Zinna, die Hochschule für Justiz in Babelsberg und 1949 die Hochschule für Planökonomie in Berlin-Karlshorst. Alle diese Fachhochschulen unterstanden nicht der Deutschen Verwaltung für Volksbildung, sondern der Verwaltung des Innern bzw. der Justiz oder anderer Ressorts. Die Universitäten waren offensichtlich überfordert in der Bereitstellung von genügend Fachleuten für Verwaltung, Wirtschaft, Kultur, die als loyale Fachleute sowohl über die nötige Fachkompetenz als auch über ein bestimmtes Maß an ideologischer und politischer Überzeugung verfügten. Kompetenter Fachmann und guter Genosse, diese Verbindung erwies sich in der Realität zunehmend als ein nicht durchzuhaltender Spagat. Mit dem volkswirtschaftlichen Zweijahrplan kamen auch Veränderungen auf das Wissenschaftssystem zu. Wissenschaft sei "Mittel zum Zweck" und unterliege somit den gleichen Anforderungen wie die Wirtschaft. 200 Das gelte auch für die Geisteswissenschaften. Es sei erforderlich, "dem sozialen und ökonomischen Hintergrund jeder Geisteswissenschaft sorgfältige und tiefschürfende Aufmerksamkeit zu widmen." Als konkrete Aufgaben wurden for199

Burrichter, C.: Reflexionen zum Systemvergleich, Problemskizze : Wissenschaften, in : Wissenschaft in der DDR, Institut für Gesellschaft und Wissenschaft Erlangen (Hg.), S. 12

200

Kamnitzer, H.: Zweijahrplan und Geisteswissenschaft, in: Forum 1949, Nr. 1, S. 4

130

Kapitel II: Politikwissenschaft in Deutschland

muliert: Untersuchungen zum deutschen Partikularismus, zum "verhängnisvollen Dualismus" von Potsdam und Weimar, Arbeiten über "das historische Wesen des Staates, der Freiheit, der Demokratie, der Nation u.a. 201 In ähnlicher Weise trat Fritz Selbmann, Vizepräsident der Deutschen Wirtschaftskommission, in einer Veranstaltung im November 1948 in Leipzig auf. Erforderte die "Verbindung des gesamten Lehrstoffes mit den Problemen des Zweijahrplanes". Die Universitäten müssen zu einer Forschungsstätte im Dienste des Zweijahrplanes" werden,

und die

Studenten wurden

zur

"praktischen Teilnahme" aufgefordert.202 Wissenschaft und Universität sollten geplant und gelenkt und wie jeder andere Bereich der Gesellschaft letztlich den volkswirtschaftlichen Bedingungen untergeordnet werden. Als am 10. April 1951 das offizielle Schreiben des Staatssekretärs für das Hochschulwesen, Harig, an die Universität Leipzig erging, daß die Gewifa aufgelöst wird, war sie bereits zu einem Torso verkümmert. Die meisten Wissenschaftler waren bereits wie Hans Mayer und Herzfelde an die Philosophische, oder wie der Jurist Polak, an die Juristische Fakultät gewechselt. Die anderen gingen nach der Auflösung an die neugegründete Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät oder gingen später nach Berlin wie Schreiner. Die Studenten wechselten an die anderen Fakultäten oder blieben am FranzMehring-Institut. Im Brief des Staatssekretariats wurde eine Begündung für die Auflösung mitgereicht. Sie erfolge im "Zuge der strukturellen Neugliederung der Universität Leipzig, die sich aus den neuen Aufgaben der wissenschaftlichen Lehre und Forschung im Rahmen des Fünfjahrplans und der Vorbereitung des 10-Monate-Studienjahres ergibt."203 Die einzelnen Institute wurden anderen Fakultäten zugeordnet. Aus der Konkursmasse blieb als selbständiges Institut das Franz-Mehring-Institut übrig.

Ihm

fiel

mit

der

obligatorischen

Einführung

des

"Gesellschafts-

wissenschaftlichen Grundstudiums" ab 1951 die Aufgabe zu, "das gesellschaftswissenschaftliche

Grundstudium

in 'Grundlagen

des

Marxismus-

Leninismus' an allen Fakultäten der Universität Leipzig fachlich anzuleiten und zu kontrollieren" und die "Ausbildung der Lehrer für

Marxismus-

Leninismus durchzuführen" 204 Für jene Ausbildung wurde dann der Begriff des "Schmalspurmarxismus" (Bloch) gefunden, der nichts mehr mit dem Studium an der Gewifa gemein hatte. Es war das "marxistisch-leninistische

201

Ebd., S. 5

202

Ebd.

203

UAL, Rektorat 1945-1968/69 (R)55

204 Ebd.

In der DDR: Gesellschaftswissenschaft

als politische

Wissenschaft

131

Grundstudium" und die damit verbundenen prinzipiellen Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die im nachhinein zur Stigmatisierung der Gewifa beitrugen. Die Anfänge einer nichtdogmatischen, marxistischen Sozialwissenschaft fanden so ein jähes Ende.

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa.

Anton Pelinka

Die Politikwissenschaft in Österreich

Entwicklung und Stand Die Politikwissenschaft ist in Österreich durch ihre Verspätung und durch ihre doppelte Dependenz gekennzeichnet. Politikwissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin hat sich in Österreich erst in den 60er Jahren entwickelt und ist erst Anfang der 70er Jahre an den österreichischen Universitäten als Studienrichtung verankert worden. Dabei ist sie von ihrer Abhängigkeit vom "Zentrum" USA und vom "Zentrum in der Peripherie" Deutschland in doppelter Weise bestimmt worden.

Die Verspätung der österreichischen Politikwissenschaft Ansätze zu einer sozialwissenschaftlichen Analyse politischer Phänomene gab es in der österreichischen Entwicklung schon relativ früh: (Johnston 1972; Schorske 1980): - Die "österreichische Schule der Nationalökonomie" hat schon um die Wende zum 20.Jahrhundert ein methodisches Denken akademisch etabliert, das sich - etwa durch die dann vor allem in den USA entwickelte "Neue Politische Ökonomie" - hervorragend zur Erklärung politischer Prozesse eignet. Nicht zufällig ist Joseph P. Schumpeters Demokratietheorie in der Tradition der in Österreich entwickelten Wirtschaftswissenschaften zu sehen. - Die Rechtswissenschaften, einschließlich einer rechtssoziologischen Schule, haben ebenfalls schon am Beginn des 20. Jahrhunderts in Österreich zu einem spezifischen Verständnis von Politik beigetragen. Hans Kelsens theoretische Arbeiten, die nicht unter seinen Rechtspositivismus zu subsumie-

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ren sind, sind ein Bestandteil dieser relativ frühen Erklärungsansätze von Politik. - Bestimmte interessen- und wertbesetzte Traditionen von Politik, die sich im Zusammenhang mit der Entstehung politischer Bewegungen und deren Verfestigung zu politisch-weltanschaulichen Lagern gegen das Ende des 19. Jahrhunderts in Österreich entwickein konnten, haben ebenfalls einen "wissenschaftlichen" Umgang mit Politik gefördert - allen voran der Austromarxismus (Rabinbach 1985). Diese Ansätze, die durchaus das Potential zu einer eigenständigen und relativ frühen, jedenfalls nicht - im westeuropäischen Vergleich - verspäteten Entwicklung der Politikwissenschaft geboten hätten, wurden durch die politischen Entwicklungen von 1933/34 bzw. 1938 bis 1945 verschüttet. Der autoritäre Ständestaat bewirkte eine Einschränkung wissenschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten und provozierte so die Emigration solcher Wissenschafter wie z.B. von Paul F. Lazarsfeld. Der totalitäre Nationalsozialismus ab 1938 bedeutete das Ende sozialwissenschaftlicher Forschung und Lehre überhaupt. Der durch den Antisemitismus des Systems bewirkte Exodus der "jüdischen" Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen traf vor allem die Sozialwissenschaften. Diese Rückschläge waren von der Entwicklung in anderen Staaten Europas, insbesondere von der in Deutschland, nicht grundlegend verschieden. Aber während in Deutschland ab 1945 von den Alliierten - und bezüglich der Politikwissenschaft vor allem von den USA - im Zuge einer systematischen "reeducation" Sozialwissenschaften generell und die Politikwissenschaft speziell auf- und ausgebaut und Remigranten in Schlüsselpositionen eingesetzt wurden, kam es in Österreich weder zu einer Rückberufung der Emigranten und Emigrantinnen, noch zu einer - kritisch motivierten - Neustrukturierung des Wissenschaftsbetriebes. Die akademischen, insbesondere universitären Strukturen der Nachkriegszeit wurden von Paul F. Lazarsfeld in einem undatierten (um 1960 verfaßten) Bericht an die Ford-Foundation wie folgt kritisch charakterisiert: "The revitalization of intellectual activities in Austria is faced by three major difficulties: a. A sequence of 'purges' since 1934 has led to an unusual scarcity of talent. b. The present political Situation in Austria makes acceptance by one of the two party machineries a major condition for personal advancement and thereby favors conventional Performance.

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

c. The greater prosperity of Western Germany makes for a continuing migration of talent, a problem incidentally which has existed since the end of the First World War. This makes the situation in Austria different from say, Poland What under these circumstances can be done to develop talent and interest in the behavioral an cultural sciences? There seems to be a general agreement, that some temporary importation of creative personalities is necessary. This can take two forms: A. The creation of some kind of new teaching and research center, which would offer work supplementary to the Austrian institutions B. Giving existing institutions the financial opportunity to invite outsiders." (zit. nach Marin 1978, 44) Lazarsfelds Bericht war die Basis für die 1963 erfolgte Gründung des "Instituts für Höhere Studien" in Wien. Maßgeblich war die Ford-Foundation, deren Starthilfe ein postgraduiertes Institut enstehen ließ, indem erstmals in Österreich Politikwissenschaft als eigenständige Disziplin auftrat - als eine parallel zu den Abteilungen für Soziologie und Ökonomie geführte Abteilung. Die "Scholaren" der Abteilung Politikwissenschaft waren Absolventen österreichischer Universitäten, vor allem mit juristischen oder historischen Abschlüssen. Sie wurden von Gastprofessoren - vonwiegend aus den USA - unterrichtet. Unter den ersten dieser Gastprofessoren waren Heinz Eulau und Dvaine Marvick; Robert Dahl, Maurice Duverger und andere kamen zu Gastvorträgen. Das IHS erfüllte für die österreichische Politikwissenschaft grundsätzlich die Funktion, die Lazarsfeld einem solchen "new teaching und research center" zugedacht hatte. Die Wirkung des IHS läßt sich noch Jahrzehnte später feststellen. Mit Stichtag 1. Januar 1996 waren von den insgesamt 14 ordentlichen (in deutscher Terminologie: C 4) und außerordentlichen (C 3) Professoren und Professorinnen immerhin 7 (5 von der Universität Wien, 2 von der Universität Innsbruck), die als Scholaren eine Ausbildung an der Abteilung Politikwissenschaft des IHS erhalten hatten. Doch auch die Dependenz von Deutschland, die von Lazarsfeld ungefähr 35 Jahre zuvor angesprochen wurde, kann zum 1. Januar 1996 festgestellt werden: Von den 14 Professor(inn)en hatten immerhin 5 (2 von der Universität Wien, 2 von der Universität Innsbruck, einer von der Universität Salzburg) vor ihrer Berufung nach Österreich Positionen an deutschen Universitäten; einer (von der Universität Salzburg) hatte zuvor eine Position an einer USUniversität.

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Nach der Etablierung der Politikwissenschaft als Abteilung des IHS folgte in zwei Schritten ihre Verankerung an den Universitäten. Ende der 60er Jahre wurden an der Universität Wien (ausgehend vom Philosophischen Institut) und an der Universität Salzburg (ausgehend von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät) systematisch politikwissenschaftliche Lehrangebote im Sinne von Wahl- und Ergänzungsfächern oder auch von Studienversuchen erstellt. 1971 folgte dann die gesetzliche Fundierung einer eigenständigen Studienrichtung Politikwissenschaft an den Universitäten Wien und Salzburg, zu denen 1985 noch die Universität Innsbruck kam. Der politische Hintergrund der Etablierung der Politikwissenschaft an den Universitäten steht mit der Universitätsreform in engem Zusammenhang. Die sozialdemokratische Regierung ("Ära Kreisky" 1970 - 1983) betrieb den Ausbau der Sozialwissenschaften als Teil eines umfassenden Reformprogramms (Welan 1980). Die Etablierung der Politikwissenschaft war auch gegen den scharf formulierten Widerstand von Interessen durchgesetzt worden, die in dieser Disziplin eine "Revolutionswissenschaft" sehen wollten (Pelinka 1970, Dokumentation 1970, Wicha 1972). Das Engagement einer US-amerikanischen Stiftung in den 60er Jahren und Weichenstellungen einer sozialdemokratischen Reformpolitik in den 70er Jahren weisen die Etablierung der Politikwissenschaft in Österreich als einen Nachvollzug dessen aus, was in Deutschland unmittelbar nach dem Ende der NS-Herrschaft als Teil der "reeducation" und einer "Erziehung zur Demokratie" entwickelt wurde.

Die Struktur der österreichischen Politikwissenschaft In den 80er Jahren kam die Entwicklung der österreichischen Politikwissenschaft auf einem - nach quantitativen Maßstäben jedenfalls - bescheidenen Entwicklungsniveau zu einem gewissen strukturellen Abschluß. An den Universitäten Wien, Salzburg und Innsbruck ist Politikwissenschaft als Studienrichtung existent; in Verbindung mit einem Kombinationsfach kann nach einem (mindestens) 8-semestrigen Studium der akademische Grad "Magister (Magistra) der Philosophie" erworben werden. In einem (mindestens) 4semestrigen Aufbaustudium kann hier auch, mittels einer politikwissenschaftlichen Dissertation, der Grad "Doktor der Philosophie" erreicht werden. Über dieses "Vollstudium" hinaus existiert Politikwissenschaft auch als Wahlfach in den verschiedensten Kombinationsmöglichkeiten, vor allem im Rahmen der rechtswissenschaftlichen und der sozial- und wirtschaftswissen-

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

schaftlichen Studienrichtungen; und dies nicht nur in Wien, Salzburg und Innsbruck, sondern auch an den Universitäten Graz und Linz. Die personelle Struktur der Politikwissenschaft an den Universitäten, die das politikwissenschaftliche Vollstudium anbieten, zeigt die Begrenztheit der Möglichkeiten: An der Universität Wien verfügen die beiden Institute, die in Kooperation die Studienrichtung Politikwissenschaft betreiben, über insgesamt 6 Professor(inn)en- und 7 "Mittelbau'-Stellen (v.a. Assistenten und Assistentinnen, die sich auf dieser Position durch entsprechende Qualifikation eine Lebenszeitstellung als Assistenzprofessoren und -innen sichern können); in Salzburg verfügt das zuständige Institut über 4 Professor(inn)en- und 6 "Mittelbau'-Stellen, in Innsbruck über deren 4 und 7. Damit umfaßt der gesamte Personalstand der universitären Politikwissenschaft in Österreich 34 Positionen, - das ist die Größenordnung eines gut ausgebauten Politicalscience-departments einer großen US-Universität; das ist geringer als der personelle Umfang des Otto Suhr-Instituts der Freien Universität Berlin. Von diesen 34 Positionen sind etwa 25 Prozent mit Frauen besetzt - genaue Angaben sind wegen der Fluktuationen nur mit Bezug auf einen bestimmten Stichtag möglich. Am 1. Januar 1996 lag bei den 14 Professorenstellen die Mann-Frau-Relation bei 12 zu 2. Dieses wissenschaftliche Personal ist für das Lehrangebot verantwortlich, das von - im Studienjahr 1995/96 - etwa 7000 Studierenden (davon mehr als zwei Drittel in Wien) nachgefragt wird. Diese Zahl 7000 ist freilich insofern mit Vorsicht zu interpretieren, weil sich - Ausdruck der spezifischen österreichischen Universitätssituation - darin auch (mindestens ein Drittel) pro formaStudierende verbergen; und weil die Studierenden der Politikwissenschaft auch dem Lehrangebot der jeweils gewählten zweiten

Studienrichtung

(bevorzugt vor allem: Publizistik, Geschichte, aber auch individuell zusammengestellte "Fächerkombinationen") zuzurechnen sind. Dennoch ist klar, daß die Lehre, insbesondere an der Universität Wien, auch auf die in Form von Lehraufträgen ausgeübte Lehrtätigkeit auswärtiger Lektoren und Gastprofessoren angewiesen ist. Die insgesamt ungünstige Relation Lehrende-Lernende führt zu einer zunehmenden Auslagerung der politikwissenschaftlichen Forschung. Ein Großteil der Forschungsaktivitäten findet außerhalb der Universitäten statt - vor allem an relativ kleinen Instituten, die entweder Forschung mit einer speziellen post-graduierten Lehre verbinden (Beispiel: Institut für höhere Studien) oder aber ausschließlich (zumeist der angewandten) Forschung verpflichtet sind (Beispiel: Institut für Konfliktforschung, Wien).

Die Politikwissenschaft in Österreich

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Die Struktur des Studiums der Politikwissenschaft folgt in Österreich grundsätzlich den Merkmalen, die international gelten. Das Studiengesetz legt vier Hauptfächer fest: - Polltische Theorie und Geschichte politischer Ideen - Internationale Politik - Vergleich politischer Systeme - Politisches System Österreichs. Im ersten Abschnitt des in zwei Studienabschnitte gegliederten Diplomstudiums sind die entsprechenden Methodenfächer (Statistik sowie Empirische Sozialforschung) zu absolvieren. Dieses Studium vermittelt aber keine Qualifikation für ein bestimmtes Lehramt - Politikwissenschaft in Österreich führt zu keinem schulbezogenen Berufsbild. Von den beruflichen Karrieremöglichkeiten, denen die Absolvent(innen) folgen, stehen journalistische und andere medienbezogene Berufe, Berufe im Nahbereich

von

Parteien

und

Verbänden

sowie

Berufe

mit

(nicht-

schulischem) Bildungsbezug im Mittelpunkt - Positionen im öffentlichen Dienst hingegen sind den Politikwissenschafter(innen) in Österreich bisher nur in geringem Ausmaß geöffnet worden.

Schwerpunkte der österreichischen Politikwissenschaft Die inhaltliche Entwicklung der österreichischen Politikwissenschaft Ist durch einen besonderen Nischencharakter gekennzeichnet. Die österreichische Politikwissenschaft konzentriert sich sehr stark auf Österreich als Forschungsobjekt, d.h. sowohl in der Beschreibung und Analyse politischer Systeme als auch in der Behandlung Internationaler Beziehungen stehen die Bezüge zu Österreich fast immer im Zentrum der Betrachtung. Dies bedeutet eine auffallende Vernachlässigung der Politischen Theorie. Eine Analyse, die die Vierteljahresschrift "österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft" von 1972 bis 1989 vornahm, wies nur zwei (von insgesamt 69) Schwerpunkte im Bereich der Politischen Theorie aus (Karlhofer, Pelinka 1991). Themen zum österreichischen politischen System überwiegen bei weitem, und auch die relativ stark vertretenen Schwerpunkte der Internationalen Politik sind zumeist mit Österreich-Bezügen versehen. Diese für die österreichische Schwerpunktbildung

demonstriert

Politikwissenschaft wohl eine

Neigung

zum

repräsentative

Rückzug

in eine

"geschützte Werkstätte". In der Beschäftigung mit österreichischen politischen Phänomenen hat die österreichische Politikwissenschaft gegenüber interna-

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Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und Südeuropa

tionaler Konkurrenz Startvorteile. Der Kleinstaatcharakter wird zur Prämie und gleichzeitig zur Barriere. In der Analyse Österreichs hat die österreichische Politikwissenschaft wenig externen Wettbewerb zu fürchten - und deshalb besteht die Tendenz, nicht Österreich-relevante Themen zu vermeiden. Dieser Nischencharakter wird durch die Forschungsförderung öffentlicher Stellen zusätzlich gefördert. Das Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, einer der wichtigsten Auftraggeber politikwissenschaftlicher Forschung, fördert größtenteils - gelegentlich sogar explizit - nur Forschungsvorhaben mit Österreich-Bezug. Das indirekt mit dem Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten verknüpfte Österreichische Institut für Internationale Politik ist fast ausschließlich mit Österreich-relevanter Forschung befaßt. Dieser Österreich-bias der Forschungsförderung hat - aus der Interessenlage der Bundesministerien gesehen - seinen Sinn. Für die österreichische Politikwissenschaft bedeutet diese Tendenz jedoch eine Verstärkung der ohnehin schon vorhandenen Neigung, sich vor allem mit dem eigenen Land zu beschäftigen. Eben deshalb ist Politische Theorie Stiefkind der österreichischen Politikwissenschaft; eben deshalb sind im Bereich "Comparative Politics"-Forschungen ohne Einbeziehung Österreichs selten; eben deshalb wird Internationale Politik vor allem in Verbindung mit österreichischer Außenpolitik betrieben. Die Verspätung der österreichischen Politikwissenschaft kann als eine rechtfertigende Begründung dieser "bias" gesehen werden. Durch das Fehlen einer genuin politikwissenschaftlichen Erforschung und Darstellung solcher primär interessierenden Phänomene wie des österreichischen Parteiensystems, des Wahlverhaltens in Österreich, der österreichischen Sozialpartnerschaft, der Neutralitätspolitik und anderer Politikfelder hat die österreichische Politikwissenschaft, beginnend mit den 60er Jahren, eine auffallende Lücke schließen müssen. Die ersten Beiträge zu diesem Nachholverfähren aus der Abteilung Politikwissenschaft des IHS betrafen deshalb auch Studien zum Wahlverhalten und zum Parlamentarismus in Österreich (Stiefbold et al.1966 und 1968; Gerlich, Kramer 1969). Diese ersten Veröffentlichungen zeigen auch den Einfluß der Gastprofessoren, die - im Sinne des Konzepts Lazarsfelds - die österreichische Politikwissenschaft stimulierten: Die Studie zum Wahlverhalten ist vor allem von Dvaine Marvick, die zum Parlamentarismus vor allem von Heinz Eulau beeinflußt. Verspätung, Dependenz und Nischencharakter haben hier - einander beeinflussend - zusammengespielt.

Die Politikwissenschall in Österreich

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An theoretischen Zugängen dominieren daher auch die von der Vergleichenden Politikwissenschaft allgemein entwickelten Paradigmata, die sich für das Verständnis österreichischer Politik besonders eignen: Konkordanzdemokratie ("Proporzdemokratie", "consociational democracy"), Versäulung ("Lagermentalität"), Korporatismus ("Austro-Keynesianismus", "Sozialpartnerschaft"), Kleinstaatentheorie (vor allem in Verbindung mit Neutralität), Verspätung (vor allem in Verbindung mit den Folgewirkungen der nationalsozialistischen Vergangenheit). Diese theoretischen Zugänge erlauben auch der österreichischen Politikwissenschaft eine internationale Präsenz, die dem Nischencharakter entspricht: Wenn Österreich politische (politikwissenschaftliche) Beachtung findet, wird die österreichische Politikwissenschaft gehört, werden ihre Vertreterinnen wahrgenommen. Die aus der politikwissenschaftlichen Komparatistik für die Analyse österreichischer Politik nutzbar gemachten Paradigmata ermöglichen einen politikwissenschaftlichen Diskurs, der den Österreicherlinnen - Produkt des Nischencharakters der Disziplin - einen gewissen Startvorsprung ermöglicht. Beispiele für diese internationale Beachtung österreichischer Politik mit einer dann konsequenten Beteiligung der österreichischen Politikwissenschaft am wissenschaftlichen Diskurs sind eben die im Vergleich der Systeme auffallenden Besonderheiten - Konkordanzdemokratie (insbesondere Sozialpartnerschaft), Neutralität, Nationalsozialismus. Die österreichische Politikwissenschaft konnte sich dabei, in ihren Anfängen, auf die Ergebnisse des internationalen Interesses an diesen Phänomenen stützen - auf politikwissenschaftliche Arbeiten über Österreich, die nicht aus Österreich kamen. Die Mehrzahl der ersten umfassenden Arbeiten zum politischen System Österreichs wurden von Politikwissenschaftern aus den USA und aus Deutschland geschrieben. (Lehmbruch 1967, Nassmacher 1968, Steiner 1972, Bluhm 1973). Dies bedeutete eine methodisch-paradigmatische Vorgabe, die einerseits die österreichische Politikwissenschaft in einen internationalen Kontext stellte, andererseits aber auch Ausdruck der Dependenz war. Lehmbruchs "amicabilis compositio'-Ansatz etwa prägte dauerhaft das Verständnis vom politischen System Österreichs, in seiner reduzierten Wettbewerbs- und seiner forcierten Kompromißorientierung. Ebenso prägte Steiners aus der US-amerikanischen "Civic Culture"-"Comparative Politics'-Schule kommender Ansatz das in der österreichischen Politikwissenschaft vorherrschende Erklärungsmuster des dynamischen Wandels von einer "centrifugal" zu einer "consociational democracy" und, teilweise explorativ, zu einer "competitive democracy".

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Kapitel III: Politikwissenschaft in Wesf- und Südeuropa

Berufsaussichten für Politikwissenschafterinnen Das Studium der Politikwissenschaft in Österreich zielt auf kein klares Berufsbild. In Konkurrenz mit dem Studium der Rechts- oder auch der Wirtschaftswissenschaften bietet die Politikwissenschaft in Österreich statt dessen lediglich eine diffuse Perspektive. Dieser Umstand ist Nach- und Vorteil zugleich: Zunächst bietet er nur wenig Sicherheit, insbesondere im Vergleich mit den traditionelleren, vom gesellschaftlichen Umfeld selbstverständlicher akzeptierten Studiengängen. Aber diese Diffusität kann auch zum Vorteil werden, weil die Studierenden zur Überlegung und Planung individuell erarbeiteter (und nicht vorgeformter) beruflicher Perspektiven veranlaßt werden. Bei einer Untersuchung der beruflichen Entwicklung der insgesamt 136 Studierenden, die zwischen 1987 und 1995 an der Universität Innsbruck das (Diplom-)Studium der Politikwissenschaft absolviert hatten, wurde - bei einer Rücklaufquote von 49 Prozent - folgendes Ergebnis festgestellt: (Politik studieren, 1996, 52) - 28 Prozent der Absolventinnen sind in der "Privatwirtschaft" tätig; - 21 Prozent im Journalismus; - 18 Prozent studieren noch (wieder), offenkundig vor allem im Rahmen eines Doktoratsstudiums; - 9 Prozent sind im öffentlichen Dienst tätig; - ebenfalls 9 Prozent arbeiten in der Wissenschaft; - 6 Prozent arbeiten für politische Parteien; - ebenfalls 6 Prozent sind arbeitslos; - 3 Prozent arbeiten für NGOs. Aus der Sicht dieser Absolventinnen sind Zusatzqualifikationen (etwa Sprachen oder Kenntnisse in EDV, aber auch Rechts- oder Wirtschaftswissenschaften) ein wichtiger Faktor der Verbesserung von Karrierechancen; ebenso ist die Entwicklung eines auf den Beruf vorbereitenden, politikwissenschaftlichen Praktikums aus der Sicht der Befragten ein fördernder Faktor beim Übergang von einem politikwissenschaftlichen Studium in ein der Ausbildung ensprechendes Berufsleben. Auch Studienaufenthalte im Ausland werden als förderlich angesehen (Politik studieren 1996, 54 f.). Solche Erhebungen zeigen, daß sich das Studium der Politikwissenschaft in Österreich auf einer bestimmten Entwicklungsstufe "normalisiert" hat: Die Bilanz des Studiums als Vermittlung von Lebenschancen ist daher ambivalent. Weder "produziert" das Studium der Politikwissenschaft in relevanter

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in Österreich

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Zahl Arbeitslose, noch ist der Arbeitsmarkt auf die Politikwissenschafterinnen angemessen eingestellt.

Tendenzen für die Zukunft Mit dem Abschluß der Etablierung der österreichischen Politikwissenschaft auf einem relativ bescheidenen Entwicklungsniveau in den 80er Jahren ist auch der Abschluß des primären Nachholbedarfs abzusehen. Zahlreiche Monographien und die Publikationen der (seit 1972 erscheinenden) österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft sowie des (seit 1977 erscheinenden) Österreichischen Jahrbuches für Politik (Khol et al., ab 1977) demonstrieren, daß von einer generellen, auffallenden Forschungslücke im Bereich österreichischer Politik nicht mehr gesprochen werden kann. Die Rechtfertigung des Nischencharakters ist vorbei. Die Folge ist, daß verschiedenste Überlegungen nach der Konsumation des extremen Nachholbedarfs der Anfangszeit der Disziplin angestellt werden (Lauber 1987, Pelinka 1995). Die Überschaubarkeit der österreichischen Politikwissenschaft erlaubt es, in arbeitsteiliger Form an den verschiedenen Instituten neue Schwerpunkte zu entwickeln. Verschiedene Einrichtungen, die die österreichische Politikwissenschaft verklammern, werden für die Formulierung dieser Arbeitsteilung genützt - so die 1970 gegründete österreichische Gesellschaft für Politikwissenschaft, die Österreich auch im Rahmen der International Political Science Association (IPSA) vertritt. Die Entwicklung der Schwerpunkte der österreichischen Politikwissenschaft weist daher auch zunehmend in neue Richtungen. Dazu zählt - an den Universitäten Innsbruck und Wien - die feministische politikwissenschaftliche Forschung. Durch die Besetzung von Stellen mit Frauen (beginnend in den späten 80er Jahren), die sich vor allem diesem Schwerpunkt widmen, bekommt die österreichische Politikwissenschaft entsprechende neue Akzente. Dazu zählt der an der Universität Salzburg forcierte Schwerpunkt "Ökologie und Politik". Und dazu zählt auch der Versuch, Politische Theorie in Österreich zu stimulieren - wie etwa der am IHS beheimatete Arbeitskreis Demokratietheorie. Verstärkt wird die Notwendigkeit, neue Akzente zu setzen, durch die unvermeidliche Öffnung der Politikwissenschaft. Bis zum Beitritt Österreichs zum EWR bzw. zur Europäischen Union waren Nicht-Österreicherinnen nur auf der Ebene der ordentlichen Professorinnen im Wettbewerb um Positionen Österreicherinnen wirklich gleichgestellt. Das hat sich, mit Bezug auf EWR bzw.

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Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und

Südeuropa

EU, nun geändert - verschärfte Wettbewerbsbedingungen werden langfristig zu einem vermehrten personellen internationalen Austausch führen. Angesichts der sprachlichen Verhältnisse kann dies freilich auch zu einer Verstärkung der Verflechtung und damit Dependenz gegenüber der deutschen Politikwissenschaft führen. Diese Internationalisierung wird auch durch die Arbeitsmarktsituation forciert: Absolventinnen der Politikwissenschaft, die in ihrer Disziplin wissenschaftlich weiter arbeiten und sich entsprechend qualifizieren wollen, werden zunehmend auf das (vor allem EU-europäische und US-amerikanische) Ausland verwiesen. Die Marginalität des österreichischen akademischen Marktes in Zusammenhang mit der Blockierung der vorhandenen Stellen durch größtenteils auf Lebenszeit ernannte Politikwissenschafterinnen forciert eine Internationalität der jüngeren Generation. Durch die Beteiligung der politikwissenschaftlichen

Institute

an

entsprechenden

internationalen

Kooperationen

(ECPR, Erasmus-Programme, etc.) wird internationale Orientierung zu einer immer größeren Selbstverständlichkeit. Besondere

Förderungsprogramme

führen Politikwissenschafterinnen im Habilitationsstadium ins Ausland - vor allem in die USA. Ein hoher Prozentanteil der Politikwissenschafterinnen, die an den österreichischen Universitäten lehren, haben die Möglichkeit zu solchen Forschungs-, oft aber auch zu Lehraufenthalten im Ausland, genutzt. Auch aus diesem Grund wird der Nischencharkter der österreichischen Politikwissenschaft - ihr dominanter Österreich-Bezug - zunehmend in Frage gestellt. Wenn die Mehrzahl der an den Universitäten oder in den (wenigen) Forschungsinstituten tätigen Politikwissenschafterinnen für längere Zeit systematisch mit der internationalen Politikwissenschaft konfrontiert ist, muß dies einen Effekt für die Nische, die die österreichische Politikwissenschaft lange Zeit darstellte, haben. Der Verlust dieses Nischencharakters würde freilich auch den Verlust einer gewissen Besonderheit, einer Spezifität der Peripherie, bedeuten. Wenn sich die österreichische Politikwissenschaft nicht mehr primär als österreichkompetente Disziplin definieren läßt, dann ist sie in der Situation der Politikwissenschaft des Bundesstaates Colorado oder des Landes Niedersachsen; dann mögen einzelne Vertrerlnnen des Faches internationales Profil besitzen - ein Österreich-spezifisches Profil wird es jedoch nicht mehr geben.

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Literatur

Wiliam T. Bluhm 1973, Building an Austrian Nation. The Political Integration of a Western State. New Haven. Dokumentation 1970, Politologie = Revolution. Professor = Angst. Ein vertrauliches Dokument, rechtzeitig zum 25.Jahrestag der Republik Österreich. Neues Forum, Mai, 5921f. Peter Gerlich/Helmut Kramer 1969, Abgeordnete in der Parteiendemokratie. Eine empirische Untersuchung des Wiener Gemeinderates und Landtages. Wien. Wiliam M. Johnston 1972, The Austrian Mind. An Intellectual and Social History 1848 -1938. Berkeley. Ferdinand Karlhofer/Anton Pelinka 1991, Austrian poitical science: the state of the art. European Journal of Political Research 20: 399411. Andreas Khol et al. (Hrsg.) 1978ff., österreichisches Jahrbuch für Politik. Wien und München. Volkmar Lauber 1987, Habe nun, ach! Politologie... Betrachtungen zum Studium der Politikwissenschaft. ÖZP 4: 409-423. Gerhard Lehmbruch 1967, Proporzdemokratie. Politisches System und politische Kultur in der Schweiz und in Österreich. Tübingen. Bernd Marin 1978, Politische Organisation sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeit. Fallstudie zum Institut für Höhere Studien. Wien. Karl-Heinz Nassmacher 1968, Das österreichische Regierungssystem. Große Koalition oder alternierende Regierung? Köln. Anton Pelinka 1971, Blinde Juristen sind besser. Zur Politologiedebatte in Österreich. Neues Forum, Jänner/Februar, 1174. Ders. 1995, Fluch und Segen der Normalität. Zur Situation der Politikwissenschaft in Österreich. ÖZP 4: 347 - 351. Politik studieren, 1996, Beiträge zu Ausbildung und Verbleib von Politologinnen. Universität Innsbruck, Institut für Politikwissenschaft. Anson Rabinbach (Hrsg.) 1985, The Austrian Socialist Experiment. Social Democracy and Austromarxism, 1918 - 1934. Boulder.

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Kapitel III: Politikwissenschaff in West- und Südeuropa

Carl E. Schorske 1980, Fin-de-Siècle Vienna. Politics and Culture. New York. Kurt Steiner 1972, Politics in Austria. Boston. Rodney Stiefbold et al. (Hrsg.) 1966 und 1968, Wahlen und Parteien in Österreich. 4 Bände. Wien. Manfred Welan 1980, 5 Jahre UOG. ÖZP 3: 373 - 376. Barbara Wicha 1972, Politikwissenschaft in Österreich. ÖZP 1: 89 - 96.

Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz

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Wolf Linder

Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz

1. Die institutionelle Entwicklung der Disziplin Die schweizerische Politikwissenschaft gilt als kleine Disziplin, einmal im Vergleich zu den anderen sozialwissenschaftlichen Fächern an den schweizerischen Universitäten, dann aber erst recht im internationalen Vergleich. Etwa ein Drittel der rund 30 Politiklehrstühle konzentriert sich auf die Universität Genf und das Institut universitaire de hautes études internationales. Bei Betrachtung des universitären Gesamtpersonals insgesamt ergibt sich ein ähnliches Bild: von den rund 120 Vollzeitstellen konzentrieren sich 60% in der Westschweiz (Rüegg 1992). Genf ist bis heute das einzige Zentrum geblieben, das sich von seiner Größe und Ausstattung her mit einem größeren politologischen Departement einer europäischen Universität messen könnte. Genf, Lausanne und Neuchätel haben seit langem eine Lizentiatsausbildung eingeführt, in welcher derzeit rund 2000 Studierende stehen. In der Deutschschweiz dagegen kann das Hauptfach erst seit kurzem in Zürich und Bern studiert werden, sieht man vom staatswissenschaftlichen Lehrgang St. Gallens ab. Der größte Teil der rund 1000 Studierenden in der Deutschschweiz beschränkt sich daher noch auf das Nebenfach. In dieser ungleichen Entwicklung der Disziplin liegen einige erklärbare Besonderheiten, aber auch viele Zufälligkeiten. An der Universität Lausanne kommt es bereits 1902 zur Gründung einer "Ecole des sciences sociales et politiques, in Genf zur "Faculté des sciences économiques et sociales", wo 1927 das Institut universitaire de hautes études internationales (IUHEI) seine Pforten öffnet. Das sind offenbar günstige Vorbedingungen für die Entwicklung moderner Politikwissenschaft in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die Westschweizer ihre guten internationalen Kontakte zur Association internationale de science politique (AISP) nutzen. John Goormaghtigh und der renommierte Kanadier Jean Meynaud werden 1959 auf die ersten Lehrstühle in Genf und Lausanne berufen. Insbesondere im innovativen Hochschulbereich Genfs gelingt in der Folge ein kontinuierlicher Aufbau der Forschung und der Lehre (Wemegah 1980). Diese Entwicklung ist wissenschaftsbetont und international orientiert.

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

In Bern und Zürich dagegen, mit ihren "staatswissenschaftlichen" Fakultäten, dominieren Juristen und Ökonomen. Schweizerische Staatsrechtler hatten sich während Jahrzehnten stark mit politologischen Fragen befaßt (z.B. Aubert 1983 zum politischen Entscheidungsprozeß, Bäumlin 1978 zur Demokratietheorie, Saladin 1984 zur Staatstheorie). Einige bemühen sich, wie Marcel Bridel oder Jacques Freymond in der Westschweiz, um die Entwicklung einer schweizerischen Politikwissenschaft. Sie bilden eine Minderheit: der Großteil der Juristen hält diese Disziplin für entbehrlich oder betrachtet sie, ähnlich wie die meisten Historiker, als eine bloße "Hilfswissenschaft" . Der Historiker und Politologe Erich Gruner, der in Bern 1960 eine Forschungsprofessur des schweizerischen Nationalfonds erhält, muß seine breite Forschungstätigkeit offiziell in das enge Etikett einer "Geschichte und Soziologie der schweizerischen Politik" zwängen. Trotz großem internationalem Ansehen, das Gruner erringt, und trotz der Herausgabe der vielbeachteten jährlichen "Chronik schweizerischer Politik" (seit 1965) sowie der Nachbefragungen schweizerischer Urnengänge (VOX-Analysen, seit 1977) braucht das Institut wiederholt politische Unterstützung von außen, um zu überleben. So wird denn die Politikwissenschaft bis in die siebziger Jahre zumeist bloß als Abrundung bestehender ökonomischer, juristischer und historischer Lehrangebote aufgefaßt. In Zürich, St. Gallen und Neuenburg werden Einzelprofessuren eingerichtet. Nicht selten konkurrieren dabei die Politologie und die Soziologie um die Definition ihrer noch wenig gefestigten Arbeitsgebiete und anderes mehr. St. Gallen, Zürich und Bern schaffen allmählich den weiteren Ausbau; in Neuenburg verbleibt es beim einzigen Lehrstuhl. In Fribourg verschwindet das Teilangebot der Politikwissenschaft mit der Emeritierung von Roland Ruffieux. Begegnet die Politikwissenschaft Skepsis und Widerständen an ihren Stammfakultäten, so erfährt sie dafür Entwicklungsschübe von anderer Seite. Eine anwendungsorientierte Nachfrage führt in den siebziger Jahren zur politologischen Planungsforschung und in den neunziger Jahren zur sicherheitspolitischen Forschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich (ETHZ). Am neugegründeten Institut de hautes études en administration publique (IDHEAP) in Lausanne werden 1982 gleich drei Professuren verwaltungs-politologischer Ausrichtung besetzt, und mit dem Europainstitut kommt auch Basel in den neunziger Jahren zu einem politologischen Kern. Der schweizerische Nationalfonds setzt ab 1978 ein Nationales Programm "Entscheidungsvorgänge in der schweizerischen Demokratie", ab 1989 ein Programm "Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen" um, die der politologischen Forschung nachhaltige Impulse verleihen.

Entwicklungen

der Politikwissenschaft

in der Schweiz

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Politologische Forschung, sobald sie aktualitätsbezogen ist, stößt auf das Interesse einer breiteren politischen Öffentlichkeit. Dies bleibt freilich nicht ohne Tücken. Anfänglich werden die "VOX-Analysen", welche Transparenz in das Verhalten der Stimmbürgerschaft bringen, von besorgten Bürgern als Verletzung des Stimmgeheimnisses kritisiert. Germanns (1975) Arbeit über Möglichkeiten der Umgestaltung des Konkordanz- zu einem Konkurrenzsystem wird von Teilen des Establishments als unschweizerisch gebrandmarkt, die Beschäftigung mit den Neuen Sozialen Bewegungen (Kriesi/Levy 1981, Gruner/Hertig 1981) von einzelnen Pressestimmen als subversiv aufgefaßt. Diese Zeiten sind mittlerweile vorbei. Politologen und Politologinnen reden mit in den Expertenkommissionen des Bundes und der Kantone und gehören zum Kreis der regelmäßigen Gutachter. Die Stimme der Politologen ist gefragt in Medien und Öffentlichkeit. Politologischer Systemkritik begegnet die politische Öffentlichkeit heute mit Gelassenheit. Das Bewußtsein um die häufige Sensitivität politologischer Ergebnisse mag die fortschreitende Professionalisierung der Forschung mit begünstigt haben. Auf jeden Fall scheint ihr dadurch ein doppelter Erfolg zuzufallen: die kompetentere Darstellung gegen außen, und die Erringung höherer Reputation gegen innen im Wissenschaftssystem. Aufgrund einer Evaluation der Sozialwissenschaften durch ausländische Experten ("Revitalizing Swiss Social Science", 1993) wird die Politikwissenschaft anfangs der neunziger Jahre von den wissenschaftspolitischen Instanzen als besonders förderungswürdig bezeichnet. Für die gesamtschweizerische Entwicklung hat die Schweizerische Vereinigung für politische Wissenschaft von allem Anfang an eine bedeutende Rolle gespielt. 1959 gegiündet, fördert sie die Belange der Disziplin durch Vermittlung internationaler Kontakte, jährliche Kongresse und Arbeitsgruppen. In den achtziger Jahren organisiert sie die Herausgabe von vier Handbüchern zum politischen System der Schweiz, die von der Schweizerischen Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften finanziert wird. Im Zeichen zunehmender Professionalisierung und eines größeren Forschungspotentials wird das seit 1960 erscheinende Jahrbuch 1995 in eine Zeitschrift umgewandelt. Damit normalisiert sich die Lage der Politikwissenschaft in der Schweiz. Die Forschung differenziert sich aus, ihre Vernetzung und ihr Beitrag in der internationalen Fachwelt steigt. Neben der akademischen Forschung entwickelt sich eine zum Teil außeruniversitäre, praxisorientierte Politikforschung und beratung. Mit der verdoppelten Nachfrage der Studierenden für das Hauptwie das Nebenfach in den achtziger Jahren steigt auch das Potential für die Nachwuchsförderung. Zu erwarten ist, daß sich der außeruniversitätere Beruf der Politologin und des Politologen auch in der Deutschschweiz durchsetzt,

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Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und Südeuropa

zumal dann, wenn die Ausbildung neben theoretischer Orientierung auch die Anwendung eines soliden Methodensets empirischer Sozialforschung vermittelt. Dies eröffnet der Disziplin Marktlücken zwischen den engeren Fachausbildungen des Rechts, der Ökonomie und der Geschichte. Bereits in den achtziger Jahren ist in der Westschweiz festzustellen, daß die Absolventen und Absolventinnen keineswegs nur in die "klassischen" Domänen der Verwaltung, der politischen Organisationen und des Lehrfachs eintreten, sondern zunehmend in großen Industrie- und Dienstleistungsunternehmen, in Beratungsbüros oder bei den Medien nachgefragt werden. Was sind die Gründe dieser Erfolgsgeschichte? Die Überwindung der Widerstände, die sich in der Deutschschweiz im Gegensatz zur Romandie stellten, scheint auch im nachhinein nicht selbstverständlich. Auffällig am Deutschschweizer Muster ist in einer frühen Phase die Kompensation fehlender universitätsinterner Reputation durch Anerkennung von außen, die später zu einer breiten Forschungsförderung führt. Entgegen einer eher "exogenen" Entwicklung in der Westschweiz, die auf der Rezeption ausländischer Muster beruht, verläuft die Deutschschweizer Entwicklung eher endogen: hier stellt sich die Politologie zunächst auf die jeweils spezifischen Bedingungen der örtlichen Fakultäten ein, was auch zur Entfaltung unterschiedlicher Nebenund Hauptfächer führt. An institutionellen Neugründungen wie dem Lausanner Institut für öffentliche Verwaltung dominierten naturgemäß praktische Fragestellungen, wie sie sich typischerweise in der Verwaltungs- und PolicyForschung stellen. Hier ließ sich politologische Arbeit auf eine ausgeprägte interdisziplinäre Vernetzung, etwa mit den technischen oder den Umweltwissenschaften, ein. Eine insgesamt pragmatische Linie, die sich etwas weniger mit der internationalen Theoriediskussion als mit den Besonderheiten des schweizerischen Systems und praktischen Fragestellungen befaßt, kennzeichnet damit den nachfrageorientierten Mainstream schweizerischer Politikwissenschaft. Relativ spät erst hat die Disziplin gelernt, sich aus lähmenden Rivalitäten zu befreien und sich erfolgreich zusammen zu tun für die gesamtschweizerische Vertretung ihrer Anliegen in der Hochschul- und Forschungspolitik. Das große Gewicht der Romands (noch heute befindet sich etwa die Hälfte der politologischen Stellen in der Westschweiz) war dem Kontakt, der gegenseitigen Rezeption und dem personellen Austausch zwischen den unterschiedlichen Wissenschaftskulturen förderlich. Hinzu kommen die Impulse von ausländischen Politologen auf die schweizerischen Professuren, denen vieles an der Öffnung der Disziplin zu verdanken ist. Die Förderung durch die nationalen Wissenschafts- und Forschungsinstanzen sowie die steigende Nachfrage nach politologischen Dienstleistungen trugen entscheidend dazu

Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz

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bei, Rückstände auf andere Fächer wett zu machen. Die stets steigenden Studierendenzahlen sind gute Argumente bei der inneruniversitären Prioritätensetzung. Heute gilt Politologie als aktive und innovative Disziplin unter den Sozialwissenschaften. Was sind die künftigen Perspektiven? Ein neues nationales Schwerpunktprogramm strebt die weitere Professionalisierung und Internationalisierung der schweizerischen Sozialwissenschaften an. Dabei wird es darauf ankommen, "Gräben" zwischen international-akademischer und praxisorientierter Forschung nicht zu groß werden zu lassen. Die Grenzen des Wissenschaftssystems einer kleineren Gesellschaft sind spürbar: jede Disziplin in der Schweiz wird künftig nur einen kleinen Teil ihrer Spezialisierungen erfolgreich betreiben können. Nationale Forschungsgelder sind bisher nicht das Problem, aber die kantonalen Hochschulen werden generell eher eine Konzentration ihrer Angebote erleben. Das wird auch für die Politikwissenschaft gelten; sie wird eine Schwerpunktbildung an vielleicht vier bis fünf Kompetenzzentren suchen müssen. Relative Kleinheit ist allerdings nicht nur Begrenzung, sondern auch Chance. Die frühe Politologie machte Mangel an Systemausdifferenzierung durch eine Generation von Persönlichkeiten wett, die sich als Generalisten auszeichneten. Beim heutigen Spezialisierungsgrad ist die Zusammenarbeit und Vernetzung verschiedener Teilkompetenzen aussichtsreich. Die Beziehungen zwischen Wissenschaft und politischer Praxis sind in der Schweiz vermutlich bedeutend enger als in den meisten größeren Ländern: schweizerische Politikwissenschaft hat mehr als anderswo Möglichkeiten, mit ihren Forschungs- und Beratungsleistungen Vorgänge in der polity, in policies und politics zu beeinflussen. Die Kleinheit des Systems schränkt zwar die Möglichkeiten autonomer Wissenschaftsentwicklung ein, die sich ihre Probleme selbst stellt, bietet aber besondere Chancen der Realitätsorientierung und der wissenschaftlichen Beratung der Politik. Im folgenden sollen Ergebnisse politologischer Forschung an vier Schwerpunkten aufgezeigt werden.

2. Das schweizerische Konkordanzsystem und seine Institutionen Es liegt auf der Hand, daß sich die schweizerische Politikwissenschaft schwerpunktmäßig mit ihrem eigenen System auseinandersetzt, das sich im internationalen Vergleich durch seinen starken Föderalismus, den Politikstil der Konkordanz und durch seine direkte Demokratie auszeichnet. Neben einer Reihe eher deskriptiver Gesamtdarstellungen des Entscheidungssystems

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Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und

Südeuropa

(Urio 1985, Linder 1987, 1996, Gabriel 1990, Kriesi 1995) oder zur Entwicklung des Interventions- und Leistungsstaats (Gruner 1964, Linder 1983) stehen Arbeiten mit eher theoretischem Fokus. Ausländische Beobachter haben sich stets gewundert, wie eine kleine, vielsprachige Gesellschaft mit unterschiedlichen Konfessionen und Sprachen ihre Einheit finden und behalten konnte: unter dem Aspekt politischer Kultur interessiert die Schweiz vor allem als "paradigmatischer Fall politischer Integration und Beispiel gelungenen multikulturellen Zusammenlebens (Deutsch 1976, McRae 1983). Andere Autoren betonen eher die Bedeutung der Institutionen der Konkordanz als Mittel einvernehmlicher Konfliktlösung. Am frühesten hat sich Gerhard Lehmbruch damit befaßt: unter dem Titel "Proporzdemokratie" (1967) hat er auf den Politikstil politischer Machtteilung und Verhandlung hingewiesen, der heute als "Konkordanz", "power sharing", "Verhandlungsdemokratie", "consociational" oder "consensus democracy" diskutiert wird und bei Arend Lijphart (1984) als eigentliches Gegenmodell zur "majoritarian democracy" erscheint. Insbesondere die Arbeiten Lijpharts haben aufgezeigt, daß das schweizerische System trotz vieler Besonderheiten durchaus mit andern vergleichbar ist und in einer institutionellen Komparatistik seinen Platz findet. In Lijpharts Gegenüberstellung von Modellen der "majoritarian" und "consensus democracy" erscheint Großbritannien auf der einen Seite als besonders deutliches Beispiel der "Mehrheits"-, die Schweiz auf der anderen Seite des Kontinuums als profilierter Fall der "Konsensdemokratie". Abgesehen von seinen institutionellen Merkmalen (Machtteilung durch übergroße Parteienkoalition in der Regierung, proportionales Wahlsystem, Vielparteien- und Zweikammersystem, Föderalismus und geschriebene Verfassung) wird dem Modell der Konsensdemokratie eine wichtige Eigenschaft zugeschrieben: es scheint besser geeignet zur Lösung des multikulturellen Konflikts als das Modell der Mehrheitsoder Konkurrenzdemokratie. So haben denn schweizerische Politikwissenschafter von den siebziger Jahren bis heute jene theoretischen und praktischen Vorzüge des Konkordanzmodells analysiert, die sich mit Bezug auf eine multikulturelle Gesellschaft ergeben: die schweizerische Gesellschaft, viersprachig, ohne gemeinsame kulturelle Tradition, konfessionell während Jahrhunderten gespalten, verdankt Institutionen der föderalistischen Autonomie und der proportionalen Machtteilung nicht nur die friedliche Lösung des Konflikts, sondern in hohem Maße ihre Integration und Identität als Kleingesellschaft. Ob eine solche politische Kultur schon stark in Geschichte und Gesellschaft angelegt sein muß, wie Jürg Steiners klassische Untersuchung "Amicable Agreement versus Majority Rule" (1974) neben ausländischen Autoren (etwa: Barber 1974), vermu-

Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz

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tet, oder ob eher die Institutionen selbst prägend waren, wie Linder (1994) oder Kriesi (1995) nahelegen, kann offen bleiben. Jedenfalls darf nicht übersehen werden, was Neidharts bahnbrechende Studie "Plebiszit und pluralitäre Demokratie (1970) zum Verständnis des schweizerischen Politiksystems herausgearbeitet hat: daß nämlich vom direktdemokatischen Instrument des Referendums neben dem Handlungszwang zur Kompromißfindung auch ein eigentlicher strukturbildender Zwang von Konkordanzmechanismen ausgehen kann, der im Fall der Schweiz zu einem eigentlichen Umbau des Politiksystems von der Mehrheits- zur Proporzdemokratie im 20. Jahrhundert geführt hat. Die Theorie billigt Konkordanzsystemen höhere Integrations-, aber geringere Innovationsfähigkeiten zu (Michalsky 1991). In diese doppelte Perspektive lassen sich eine ganze Reihe von Arbeiten schweizerischer Systemkritik einordnen. Am ältesten ist die kritische Beurteilung verbandsstaatlicher Mechanismen (Gruner 1956), die im schweizerischen System zu einer starken und inegalitären Machtbildung gegenüber den formellen politischen Gewalten führen. Diesen hinkenden Pluralismus untersuchte Kriesi (1980) anhand elitenund entscheidungstheoretischer Ansätze und stellte dabei zwei Hauptergebnisse in den Vordergrund: trotz hoher pluralistischer Wertberücksichtigung und den Institutionen der direkten Demokratie gibt es Phasen des politischen Entscheidungsprozesses mit relativ hoher Machtkonzentration auf wenige Akteure, und auch ein Konkordanzsystem sichert keineswegs realen, proportionalen Machteinfluß, wenn die politische Linke als bloß "formell kooptiert" erscheint (als Kritik der Kritik: Rey 1990). Noch weiter geht Masnata (1991), der in seinem elitentheoretischen Ansatz hinter der Fassade der Integration eine ungebrochene Macht der wirtschaftlich-politischen Eliten sieht. Diese und weitere Arbeiten stellen das schweizerische System in den Rahmen einer Pluralismuskritik, wie sie Fritz Scharpf (1970) unter demokratietheoretischen Perspektiven vorgenommen hatte: politischer Pluralismus, gerade wenn er hohe und dezentrale Partizipationschancen eröffnet wie im schweizerischen Konkordanzsystem, kann zur "friedlichen Akkommodation saturierter Interessen" geraten, in welcher die Arena zur Austragung grundsätzlicher

Konflikte

strukturell

benachteiligter

Interessen

fehlt.

Germann

(1975) hat darum in seiner nachhaltig wirkenden Habilitationsschrift den Umbau des schweizerischen Konkordanz- in ein bi-polares Konkurrenzmodell skizziert. Die theoretisch höheren Reform- und Innovationschancen dieses Modells sind allerdings zu erkaufen mit einem weitgehenden Abbau von direkter Demokratie, Föderalismus und Bikameralismus (Linder/Ballmer 1991). Das hat schweizerische Ökonomen in den neunziger Jahren allerdings nicht ge-

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Kapitel III: Politikwissenschaff in West- und Südeuropa

hindert, solche Verfassungsreformen nun unter ganz anderen Vorzeichen, nämlich denen einer höheren Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zu verlangen (Borner/Brunetti/Straubhaar 1990). Ob nun freilich die theoretisch geringen Innovationschancen eines Konkordanzsystems für den Fall der Schweiz auch empirisch zutreffen, ist nach dem Stand der Forschung durchaus offen. So weist Keman (1996) nach, daß die Schweiz sich bezüglich ihrer Wirtschaftsund Sozialpolitik im europäischen Vergleich bisher sehr vorteilhaft positionierte, und dies nicht zuletzt dank ihrer relativ reibungslosen Konfliktbewältigung durch Sozialpartnerschaft und politische Konkordanz. Das schweizerische System ist ambivalent in seinem Grundverhältnis von Regierung und Parlament: einerseits erfolgt die Wahl der Regierung durch das Parlament wie in einem parlamentarischen System, auf der andern Seite besteht kein Mißtrauensvotum, was zur gegenseitigen Unabhängigkeit der Gewalten ähnlich den Checks and balances der amerikanischen Verfassung führt. Die außerordentliche Stabilität der schweizerischen Regierung, die seit mehr als 35 Jahren von den gleichen vier Regierungsparteien gebildet wird, sowie das Kollegialsystem von sieben gleichberechtigten Regierungsmitgliedern gehören zu den Eigenheiten, die besonderes politologisches Interesse gefunden haben (z.B. Klöti 1990, Altermatt 1991). Ständige Aufmerksamkeit findet die Frage der Regierungsreform (Germann 1994). Geringe Kontinuität weist die Parlamentsforschung aus: Gruner's (1966/70) frühe Beiträge einer schweizerischen Parlamentssoziologie fanden keine Fortsetzung. Auch Kerr's (1981) scharfsinnige Analyse der Machtverhältnisse im bürgerlich dominierten Parlament hat keine gleichwertige Nachfolgearbeit gefunden; die Studien der achtziger Jahre galten vorab dem Funktionieren des Kommissionensystems und dem Beitrag des Parlaments im gesamten politischen Entscheidungsprozeß (Parlamentsdienste 1991). Nach Ochsner (1987) ist das schweizerische Parlament eher als Arbeits- denn als Redeparlament einzustufen, und dies trotz seiner eher geringen Ressourcenausstattung

und

Professionalisierung

als

nebenamtliches

Milizgremium

(Riklin/Ochsner 1984). Der schweizerische Föderalismus weist zahlreiche institutionelle Ähnlichkeiten zu demjenigen Deutschlands oder der USA aus, hat aber andere geschichtliche Hintergründe und Funktionen. Ein Großteil politologischer Literatur galt bis vor kurzem der Beschreibung institutioneller Eigenheiten der 26 Kantone (Weibel 1990, Stadlin 1990) und rund 3000 Gemeinden (Linder 1991), sowie den Mechanismen vertikaler und horizontaler Politikverflechtung (Handbuch Politisches System, Bd. 3 1984, Nüssli 1985). Die institutionellen, kulturellen und konfessionellen Unterschiede der Gliedstaaten böten ein au-

Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz

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ßerordentlich reichhaltiges Labor für Vergleichsstudien (Moser 1987), das allerdings noch wenig genutzt wurde. Die überaus hohe Resistenz des schweizerischen Systems gegenüber Zentralisierungstendenzen scheint schweizerischen Autoren durchaus plausibel erklärt vor dem Hintergrund der schweizerischen Staatsbildung und dem Einfluß der direkten Demokratie; ein systematischer internationaler Vergleich steht allerdings aus (Linder 1996). Mit der kritisch gewordenen Balance zwischen Demokratie- und Föderalismusprinzip befaßt sich Germann (1991). Neue Demokratien der 2. und 3. Welt sind sehr stark angezogen vom Modell des schweizerischen Föderalismus als Beitrag zur Lösung des multikulturellen Konflikts (Samardzic/Fleiner 1995). Aus politologischer Sicht erstaunt das wenig: amerikanische Theoriebeiträge haben sich in den achtziger Jahren mit diesem Thema befaßt, und zwar im Zusammenhang von "federalism and consociational Regimes" (Elazar 1985, Duchacek 1985). Was unter dem Label der international-vergleichenden (Neo-) Korporatismusforschung in den achtziger Jahren politologische Konjunktur erlebte, wurde in der Schweiz vor allem als Phänomen des "Verbandsstaats" untersucht. Die starke Stellung der Wirtschaftsverbände im schweizerischen Politiksystem reicht bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurück und hat sich strukturell vor allem in der Zeit vor und nach dem 2. Weltkrieg verfestigt (Gruner 1956). Im Zentrum neueren politologischen Interesses stand die Funktion der Verbände zur vorparlamentarischen Kompromißfindung unter Nutzung der sogenannte "Referendumsmacht" (Neidhart 1970, Lehner 1987), sowie ihre Stellung als Träger öffentlicher Politik (Höpflinger 1984, Farago 1987) oder als "parastaatliche Organisationen" im Vollzug politischer Aufgaben (Ackermann/Steinmann 1984, Jörin /Rieder 1985, Linder 1987). Die international-vergleichende Forschung hat sich auch hier für den Fall der Schweiz interessiert (Katzenstein 1984). Gegenüber gängigen Korporatismusmustern sind einige Abweichungen festzuhalten (Armingeon 1996). Zunächst lokalisiert die Forschung für die Schweiz kein "Gleichgewicht" zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite, sondern eine relativ schwache Stellung der Gewerkschaften. Sodann sind korporatistische Lösungsmuster nicht allein auf die Lösung von Konflikten zwischen Kapital und Arbeit beschränkt, sondern beschlagen als kompromißhafte und organisierte Konfliktlösung praktisch alle politischen Aufgabenbereiche. Drittens sind die Strukturen des Verbandsstaats hoch segmentiert oder dezentralisiert, was auch zu stark fragmentierten Politikergebnissen, und in der Wirtschaftspolitik bis in die jüngste Zeit auch zu einem ausgeprägten Branchenprotektionismus geführt hat.

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Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und

Südeuropa

Im Forschungsfeld der Kommunalpolitik weckte die Verbindung von lokaler Kleingesellschaft und (direkter) Demokratie zunächst das Interesse ausländischer Forscher (z.B. Barber 1974). Einer Idealisierung harmonischer Gemeinschaft, in der die Dichotomie zwischen Behörden und Volk und damit das Problem von Herrschaft im Sinne einer Rousseau'schen "volonté générale" verschwinden würden, widersprachen schweizerische Forschungsbeiträge allerdings entschieden. Die Konflikthaftigkeit selbst kleiner Berggemeinden hat Windisch's (1976) interessante Studie über die (inzwischen verschwindenden) lokalen Familienclans hingewiesen. Von der amerikanischen "Community power"-Forschung inspiriert, hat Bassand (1974) die lokale Elitenstruktur schweizerischer Städte untersucht, aber zudem auf die Ambivalenz der Instrumente direkter Demokratie hingewiesen (Bassand/Fragnière 1976): diese haben zwar durchaus einen Légitimations- und Integrationseffekt, können aber in der Kontrolle lokaler Eliten gerade auch dazu benutzt werden, eigentliche Schlüsselentscheidungen der direktdemokratischen Nachkontrolle zu entziehen. Aus diesen frühen Studien wäre eigentlich eine Entwicklung politologischer Forschung denkbar gewesen, welche die zentralen Fragen lokaler Machtstrukturen und Demokratie vertieft und differenziert hätte. Davon hat wenig stattgefunden. Die spätere Forschung würde vor allem von Soziologen vorangetrieben, die sich u.a. mit den Funktionen des Milizsystems und den lokalen Verwaltungsstrukturen (Geser et al. 1987) befassen. Während die historische Entwicklung des schweizerischen VielParteiensystems gut dokumentiert ist (Gruner 1977), fehlen Gesamtdarstellung der neueren Zeit weitgehend (SVPW-Jahrbuch 1986, Politische Parteien und neue Bewegungen). Grundlegende Thesen wie die des Dealignmentsoder Realignments werden zwar auch für das schweizerische Parteiensystem angeführt, sind aber, mit Ausnahme der Erosion der Parteibindungen, noch kaum systematisch mit den Methoden empirischer Sozialforschung untersucht worden. Immerhin gibt es empirisch gesättigte und theoretisch fruchtbare Ansätze zur kommunalen Parteiforschung (Ladner 1991, Geser et ai. 1994) sowie zur politischen Elitenforschung (Ayberk et al. 1991). Dem unausgeschöpften Bereich der Parteienforschung steht eine reiche Literatur zu den neuen sozialen Bewegungen gegenüber, welche sich in der Schweiz seit den siebziger Jahren stark entwickeln konnten und auf einem hohen Aktivitätsniveau verharren. Die breit angelegten Studien von Kriesi/ Levy (1981) zu Friedens-, Anti-AKW-, Schüler-, alternativen Bauern-, den jurassischen Sezessions- und weiteren Bewegungen haben Entstehungsgründe, sozio-demographische Profile, Aktionsformen, Erfolgsbedingungen und Marginalisierungsrisiken alternativer Politik vergleichend untersucht. Neben

Entwicklungen

der Politikwissenschaft

in der Schweiz

155

einem klassisch-linken wurden auch kulturell-alternative und konservative Protestpotentiale identifiziert. Daß - international vergleichend - nicht nur historische Bestände politischer Kultur, sondern auch institutionelle Eigenheiten prägend sind für den Basisprotest, hat Kriesi (1995a) jüngst am Rechtsextremismus aufgezeigt. Als Ergebnis vieler Einzelstudien wird den Basis- und Protestbewegungen in der halbdirekten Demokratie eine gute Entfaltungsmöglichkeit zugeschrieben; sie gelten als neues Element der Kultur politischer Partizipation, das jedoch unter den Bedingungen der Konkordanz durch die Behördenpolitik absorbiert wird (Epple-Gass 1991). Es wäre interessant, die These der Integration sozialer Bewegungen durch die Consensus-Demokratie international-vergleichend zu überprüfen.

3. Politisches Verhalten und direkte Demokratie Die Schweiz bietet ein außerordentlich interessantes Feld der Wahl- und Abstimmungsforschung dar: Über Wahlen hinaus weist sie wegen der Instrumente des Referendums (Neidhart 1970, Delley 1978) und der Volksinitiative (Sigg 1978, Werder 1978) eine Agenda permanenter Volksabstimmungen aus, die auf allen drei Ebenen des föderalistischen Systems stattfinden. Der bisher größte Teil der Abstimmungsforschung entfiel seit 1977 auf die VOX- Analysen, regelmäßige Nachbefragungen im Anschluß an eidgenössische Urnengänge. Sie werden von den politikwissenschaftlichen Instituten Bern, Genf und Zürich in Zusammenarbeit mit der Gesellschaft für praktische Sozialforschung realisiert. Den VOX-Analysen (1977-) verdankt die Politikwissenschaft viele außerordentlich erhellende Ergebnisse zur Partizipation der Bürgerschaft, zu ihren Werthaltungen und Einstellungen, zum eigentlichen Abstimmungsverhalten, zur Meinungsbildung bei Abstimmungen (Befolgung von Parolen politscher Parteien und von Interessengruppen, Einfluß von Medien und Propaganda), sowie zu den typischen Konfliktlinien in wichtigen Issues.

In jüngerer Zeit sind verstärkte Anstrengungen

wissenschaftlich-

analytischer Vertiefung in Längs- und Querschnittsanalysen festzustellen. Diese Studien stützen sich einerseits auf das wachsende Corpus der VOXund anderer Individualdaten, auf Aggregatsdatenanalysen und auf den Versuch des Einbezugs institutioneller und sonstiger Kontextdaten. Zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten von Nef (1980), Gruner/Hertig (1983), Joye (1984) Gilg (1987), Linder/Longchamp/Stämpfli (1991), Papadopoulos (1994), und Kriesi (1993).

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Der Ertrag schweizerischer Abstimmungs- und Wahlstudien bestätigt zunächst einmal einige Regelmäßigkeiten politischer Partizipation, die in der internationalen Forschung diskutiert werden. Dazu gehören die sinkende Wahlbeteiligung seit dem 2. Weltkrieg sowie die relativ geringere Beteiligung der unteren sozialen Schichten, die um so ausgeprägter ausfällt, je anspruchsvoller die Partizipationsformen sind. Auch schweizerische Studien identifizieren abnehmende Parteibindungen und unterscheiden in der Stimmbürgerschaft 20% abstinente, 50% gelegentliche und 30% regelmäßige Urnengängerinnen. Wird in der öffentlichen Meinung das Problem der sinkenden Wahlbeteiligung als beunruhigend taxiert, kommt die Abstimmungs- und Wahlforschung zu differenzierteren Schlüssen: zählt man zur Kultur politischer Partizipation nicht nur den Urnengang, sondern auch die Beteiligung an Interessengruppen, jede Form von Basisaktivitäten und die finanzielle Unterstützung politischer Gruppierungen, so nimmt die politische Beteiligung nicht nur ab, sondern gleichzeitig zu. Neue Erkenntnisse in der Wahlforschung verspricht ein derzeit laufendes, größeres Verbundprojekt (Farago 1995). Die Ergebnisse zum eigentlichen Abstimmungsverhalten sind wenig einheitlich. Ziemlich gesichert erscheint zunächst der relativ hohe Einfluß der Schlagwort-Propaganda gegenüber den Abstimmungsparolen der Parteien, Empfehlungen der Behörden oder den Informationen und Kommentaren der Medien (Gruner/Hertig 1983). Im übrigen konkurrieren die Paradigmen. Einzelne Studien betonen den Einfluß sozio-struktureller Variablen und möchten die Wählerschaft in relativ stabile Segmente z.B. einer konservativinnengeleiteten und progressiv-außengeleiteten Polit-Kultur einteilen (z.B. Nef 1980, z.T. Gilg 1987). Modelle ökonomischen Eigennutzverhaltens, deren Überprüfung zu Beginn der achtziger Jahre mit überraschenden Resultaten aufwarteten (z.B. Schneider 1985), haben ihren Glanz in der Zwischenzeit nicht halten können. Der Mainstream des sozial-psychologischen Ansatzes hat einige interessante Ergebnisse hervorgebracht durch Einführung von Ingleharts Wertwandelsthese und der Kombination des "neuen" industriellpostindustriellen Wertkonflikts mit der traditionellen Links-Rechts Konfliktachse (Longchamp 1991). Die Anwendung des "issue voting'-Ansatzes erklärt zwar sehr vieles zur stark schwankenden Beteiligung an Sachabstimmungen, hat aber bisher wenig zur theoretischen Durchdringung des Abstimmungsverhaltens beitragen können. Wenn sich aus den zahlreichen Studien, auf die hier nicht gesondert eingegangen werden kann, weder ein "roter Faden" noch ein einheitliches Erklärungsmuster herauslesen läßt, so muß das nicht unbedingt erstaunen. Eher müßte der (wissenschaftliche) Anspruch hinterfragt werden, mit einer Theorie die volle Komplexität des Wählerverhaltens erklären

Entwicklungen der Politikwissenschaft in der Schweiz

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zu wollen. Gerade darum scheint es aus einer theoretischen Perspektive interessant, den Ansatz Vatters (1994) weiter zu verfolgen, der anhand einer größeren Zahl von Fallstudien untersucht hat, unter welchen Bedingungen die (unabhängigen) Variablen des individuellen Eigennutzens, der Sozialstruktur oder der issue-prägenden Parteiparolen Einfluß auf das Wählerinnenverhalten haben. Ein außerordentlich hohes demokratietheoretisches Interesse beansprucht die Frage nach den Auswirkungen direkter Demokratie: die Kontroverse über Möglichkeiten und Grenzen der Mitwirkung des Volkes ist seit Jefferson und Madison's Zeiten keineswegs abgeflaut. Zunächst einmal widerlegt der Fall der Schweiz die These, wonach Einrichtungen direkter Demokratie unverträglich wären mit der Komplexität moderner Industriegesellschaften. Referendum und Volksinitiative, welche der Stimmbürgerschaft Anregung und Korrektur parlamentarischer Entscheidung ermöglichen, sind in der Schweiz seit ihrer Einführung im 19. Jahrhundert nicht ab- sondern ausgebaut worden. Die politologische Forschung hat aber gerade auf diesem Gebiet der Mythenbildung entgegengewirkt und ein realistisches Bild direkter Demokratie vermittelt. Zunächst verbleibt der Schwerpunkt der Gesetzgebungstätigkeit beim Parlament. Die Teilnahme des Volkes ist selektiv nach Wichtigkeit und Umstrittenheit der Entscheide geregelt. Das System der Verbindung repräsentativer und direktdemokratischer

Entscheidung

kann

deshalb

auch

als

Typus

"halbdirekter Demokratie" bezeichnet werden (Möckli 1994, zur juristischinstitutionellen Analyse: Rhinow 1984). Die Entscheidwirkungen scheinen von den Befürwortern wie von den Gegnern direkter Volksbeteiligung überschätzt zu werden. Cronins (1989) Befund für die direkte Demokratie in den Einzelstaaten der USA dürfte auch für die Schweiz gelten: Volksrechte führen nicht zu schlechterer Qualität der Gesetzgebung, bevorteilen eher Ein-ThemenGruppen als die politischen Parteien, können die politische Agenda zugunsten von issues verändern, die schlecht organisierbar sind, und vermögen damit die Responsivität der Behörden zu vergrößern. Unter dem Aspekt der Systemwirkungen wird die direkte Demokratie die schweizerische Politikwissenschaft noch lange beschäftigen. Ein Hauptergebnis bisheriger Forschung war der systembildende Charakter des Referendums, das als institutioneller Zwang den historischen Übergang vom Mehrheits- zum Konkordanzsystem bewirkt hat (Neidhart 1970, kritisch Auer/Delley 1978). Andere Autoren hoben die Integrationsfunktion der Volksrechte zur Überwindung der Spaltungen zwischen den Konfessionen und Sprachkulturen sowie zur Lösung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit im 20. Jahrhundert hervor, oder sie identifizierten die konservierende Funktion des Referen-

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

dums und die innovative Wirkung der Volksinitiative (Sigg 1978, Werder 1978). Noch wenig erforscht ist die Frage, ob halbdirekte Demokratien den Einfluß der Stimmbürgerschaft tatsächlich vergrößern, oder ob sie gleichzeitig zur Entwertung des Einflusses durch Wahlen führen, wie Linder (1994) vermutet.

4. Außenpolitik und internationale Beziehungen Der Fokus politologischer Arbeiten war lange geprägt von der Sonderstellung der Schweiz als neutraler Kleinstaat, der zwar ökonomisch stark in die Weltwirtschaft und ihre Organisationen integriert ist, im übrigen aber seit dem 2. Weltkrieg als Nicht-Mitglied der UNO, der NATO oder der EU ein ausgesprochenes politisches Nicht-Engagement gepflegt hat (als Übersichten etwa: Neues Handbuch der Schweiz. Außenpolitik 1992, Frei 1983, Kreis 1992 sowie Gabriel 1994). Damit befassen sich viele zeitgeschichtliche Studien mit der schweizerischen Neutralitätspolitik und ihren sicherheits- wie handelspolitischen Implikationen. Entsprechend den europäischen Veränderungen seit 1989 mehren sich heute kritische Positionen zur Neutralitätspolitik (z.B. Riklin 1991, Gabriel 1992, Kux 1994). Dabei geht es nicht zuletzt um die Frage, ob nach dem Wegfall der günstigen Situation des Neutralen in der Ost-WestKonfrontation und mit der zunehmenden Bedeutung der Systeme kollektiver Sicherheit die Neutralität nicht in die Isolation führt oder von Dritten als FreeRider-Position wahrgenommen wird (Bächler 1994, Riklin 1995). Besondere Aufmerksamkeit haben Politologinnen und Politologen selbstverständlich auch der Frage der europäischen Integration zugewandt. Die Analyse

der

Niederlage

von

Regierung

und

Parlament

in der

EWR-

Abstimmung 1992 hat als Bestimmungsfaktoren sowohl ökonomische Interessen wie politische Identitätswerte zutage gefördert (Kriesi 1993). Ein dauerhaftes Problem bleibt neben der gegenwärtigen, auf bilaterale Verhandlungen beschränkten Integrationspolitik (Germann 1995) die Vermittlung der Außenpolitik in der direktdemokratischen Willensbildung (Goetschel 1994, Schneider/Hess 1995). Hinzu kommt die Frage einer Öffnung schweizerischer Identitätswerte (Linder/Lanfranchi/Weibel 1996) unter starker Veränderung ökonomischer Rahmenbedingungen (Hug/Sciarini 1995) und ungewisser Konfliktlinien in der schweizerischen Bevölkerung (etwa zwischen Romandie und Deutschschweiz, Widmer/Buri 1992). Eine Erweiterung der Problematik plebiszitärer Außenpolitik bieten Schneider/Weitsman (1996) in internationalvergleichender Perspektive.

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Thematisch standen während langer Zeit Sicherheitsstudien (z.B. Gabriel 1992) im Zentrum der Forschungsinteressen. Die internationale politische Ökonomie (Intriligator/Luterbacher 1994) dominiert vor allem bei den jüngeren Autoren (Dupont/Sciarini 1995, Schneider/Weitsmann/Bernauer 1995), die sich in Abkehr vom Neo-Realismus nicht zuletzt der wiederentdeckten Spieltheorie zuwenden. Die neueren schweizerischen Beiträge zu Internationalen Beziehungen sind heterogen. Eher auf der Ebene von Theorievergleichen bewegen sich Allan/Schmidt (1994) oder Allan/Goldmann (1992) und Schneider/Widmer/Ruloff (1993) zum Ende des Kalten Krieges. Stärker empirisch orientiert sind etwa Studien zur Rolle der UmWeltorganisationen in der internationalen Politik (Finger/Princen 1994) oder zur Friedensforschung (Bächler 1992 und Bächler/Hug 1989). Die schweizerische Außenpolitik, ein bisher wenig systematisches Forschungsfeld, erhält derzeit starke Impulse von einem nationalen Forschungsprogramm, an welchem die Politikwissenschaft stark partizipiert. Vergleichende Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen nähern sich an; ein illustratives Beispiel dazu ist die Studie von Sciarini (1994).

5. Policy-Analyse und -evaluation. Die schweizerische Policy-Analyse hat von drei Seiten Anregung erhalten. Seit den siebziger Jahren dominierten erstens Ansätze der Planungs- und Verwaltungsforschung, wie sie in Deutschland etwa von Renate Mayntz und Fritz Scharpf vertreten wurden. Schweizerische Arbeiten befaßten sich unter dem Aspekt der Optimierung von "Binnenstrukturen staatlicher Organisation" etwa mit Fragen politischer Planung unter den Bedingungen direkter Demokratie (Linder/Hotz /Werder 1979), der Funktion und Reichweite von Regierungsprogrammen in der Konkordanzdemokratie (Klöti 1985), der Effizienz der nebenberuflichen Milizverwaltung (Germann 1981, Geser 1987) oder der Regierungs- und Verwaltungsreform (Germann 1994). Die neuesten Arbeiten konzentrieren sich auf das "New Public Management" (Hablützel et al. 1995). Zweitens hat der Mainstream der Implementations- und später der Evaluationsforschung direkte international-vergleichende Studien angeregt, am frühesten mit Knoepfel's (1985) Arbeiten im Umweltbereich, etwa zur Kontrolle 2 der CO -Emissionen. Drittens hat die Implementations- und Evaluationsforschung durch zwei größere Forschungsprogramme des schweizerischen Nationalfonds besondere Impulse erhalten. Im Rahmen des nationalen Pro-

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

gramms "Entscheidungsvorgänge in der schweizerischen Demokratie" wurden anhand von ausgewählten Rechts-, Sozial-, Landwirtschafts-, Wirtschafts-, und Infrastrukturpolitiken die Vollzugsbedingungen der direkten Demokratie, des Föderalismus, der parastaatlichen Organisationen sowie der Milizverwaltung untersucht. Von bleibendem Wert für die Policy-Analyse dürften diejenigen zu den Vollzugsbedingungen des Föderalismus (Delley 1982, Schwartz 1986, Bassand/Chevalier/Zimmermann 1984), der parastaatlichen Organisationen (Hauser 1983, Jörin/Rieder 1985) sowie der wissenschaftlichen Beratung der Politik (Freiburghaus/Zimmermann 1985) gehören. Das zweite Programm "Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen" war vermehrt praxisorientiert, pluridisziplinär, konnte sich am internationalen Theorie-und Methodenfortschritt ausrichten, war indessen weniger auf genuin politologische Fragestellungen ausgerichtet. Auch hier wurden Untersuchungen auf allen Ebenen des föderalistischen Systems und aus dem gesamten Spektrum politischer Aufgaben durchgeführt, etwa zur Agrarpolitik (Felder/Rieder 1994, Baur/Meyer/Rieder 1994), zur kantonalen Wirtschaftsförderung (Rey 1993), oder zur Umweltpolitik (Balthasar/Knoepfel 1994). Unabhängig von diesen Programmanstößen entstand eine Reihe weiterer Arbeiten. Aus politologischer Sicht ergiebig und erwähnenswert ist die Übersicht über die schweizerischen Politikaufgaben im Handbuch IV des Politiksystems Schweiz, der Sammelband über die "Staatstätigkeit Schweiz" (Abromeit/Pommerehne 1992), die Studie von Klöti/Schneider (1989) über die Informationsbasis des schweizerischen Gesetzgebers. Neben Horber (1990) verschafft das Schweizerische Jahrbuch für Politische Wissenschaft 1993 (Vollzugsprobleme) einen guten Überblick über den Stand der politologischen Evaluationsforschung. Besondere Erwähnung verdienen die zahlreichen Studien zur Gleichstellung der Frau, ein Politikfeld, das nicht zuletzt durch entsprechende Bemühungen des Gesetzgebers und der schweizerischen Forschungsinstanzen stimuliert wurde (als Übersicht z.B. Schweizerisches Jahrbuch für Politische Wissenschaft 1994, Frauen und Politik). Hier wurden etwa Erfolgsbedingungen generell der Frauenpolitik und der Frauenbewegung (Senti 1995), die Analyse der Frauenbeteiligung an der schweizerischen Politik (Ballmer-Cao 1988) oder die Wirkung der Gleichstellungspolitik in internationalvergleichender Sekundäranalyse (Linder 1988) untersucht.

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161

Literatur

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Kapitel III: Politikwissenschaft

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Entstehung und Entwicklung an den französischen Universitäten

171

Werner Zettelmeier

Entstehung und Entwicklung der politikwissenschaftlichen Lehre an den französischen Universitäten. Zwischen Marginalität und Autonomie203

1. Einleitung Der ausländische Beobachter, der sich für die Organisation von Lehre und Forschung in der Politikwissenschaft in Frankreich interessiert, wird dabei zuerst an das Institut d'études politiques (IEP) von Paris, kurz Sciences-Po genannt, denken. Das in der mittlerweile über 120jährigen Geschichte gewonnene nationale und internationale Prestige dieser, auf privater Initiative gegründeten, außeruniversitären Institution206 mag diese gedankliche Assoziation erklären. Sie ist auch zweifellos bei derzeit ca. 4000 eingeschriebenen Studenten von der unter rein quantitativen Gesichtspunkten betrachteten Ausbildungsleistung her gerechtfertigt, wenn man sie mit den anderen Orten bzw. Ausbildungsstätten, an denen Politikwissenschaft gelehrt wird, vergleicht. Weder die mittlerweile acht Instituts d'études politiques in der Provinz (Straßburg, Lille, Rennes, Lyon, Grenoble, Bordeaux, Aix-en-Provence, Toulouse) noch die den rechtswissenschaftlichen Fakultäten bzw. Fachbereichen angegliederten politikwissenschaftlichen Studiengänge der Universitäten können mit auch nur annähernd hohen Einschreibzahlen aufwarten. Daß diese gedankliche Assoziation aber problematisch sein kann, ja die Ineinssetzung der Lehr- und Forschungstätigkeit des IEP Paris bzw. aller IEP mit "der" französischen Politikwissenschaft überhaupt den am deutschen Verständnis von politischer Wissenschaft geschulten Beobachter in die Irre führen kann, hat immer wieder zu nicht nur sprachlichen Mißverständnissen zwischen deutschen und französischen Vertretern des Fachs geführt. Eben dieses Fach als autonome wissenschaftliche Disziplin ist in Frankreich erst nach dem Zweiten

205 Dieser Beitrag ist hervorgegangen aus den Arbeiten zu einem Forschungsprojekt zum Thema "Deutsch-französische Hochschulzusammenarbeit in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften", das das CIRAC mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung (Stuttgart) durchgeführt hat. 206 siehe hierzu den Beitrag von Hans Manfred Bock in diesem Band

172

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Weltkrieg entstanden 2 0 7 , wobei nach Meinung vieler französischer Politikwissenschaftler dieser Konstituierungsprozeß bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Für Favre existierte die französische Politikwissenschaft in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts nur dem Namen nach, da es keine sich als Politikwissenschaftler bezeichnende "scientific Community", keine Fachzeitschriften und keine Lehrbücher in dieser Disziplin gab. Die privatrechtlich organisierte Ecole libre des sciences politiques, aus der das Institut d'études politiques 1945 im Zuge einer "Verstaatlichung"208 hervorgeht, bereitete in erster Linie die Studenten auf die Auswahlwettbewerbe für den höheren Staatsdienst vor, ihre Ausbildungsinhalte waren daher überwiegend der Wirtschaftswissenschaft, der Rechtswissenschaft schaft zuzurechnen

209

und der

Geschichtswissen-

. An der pluridisziplinären Ausrichtung der Ausbildungs-

inhalte an Sciences-Po

Paris und in den später in der Provinz gegründeten

IEP, sowie an ihrer Funktion einer Vorbereitung auf Spitzenpositionen in öffentlicher Verwaltung und Wirtschaft änderte sich auch 1945 zunächst nur wenig. Entscheidende Impulse für die Konstituierung der Politikwissenschaft als autonomer wissenschaftlicher Disziplin werden vor allem ab den 50er Jahren von der Reformentwicklung an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten bzw. vom Modernisierungsdruck, unter den die Universitäten insgesamt in der Folgezeit geraten, ausgehen. Diese Entwicklung einer langsamen Autonomisierung der Politikwissenschaft als akademisches Fach soll im folgenden aufgezeichnet werden. Das Hauptinteresse gilt dabei verschiedenen Aspekten der institutionellen Verankerung der Disziplin im Lehrangebot der französischen Universitäten und weniger den erkenntnistheoretischen und legitimatorischen Problemen und Debatten bezüglich der Konstituierung des Fachs in Abgrenzung von anderen Disziplinen, wenn auch zwischen beiden Aspekten zweifellos eine dialektische Beziehung besteht, die eine eigene Untersuchung verdiente. Auch die Organisation der politikwissenschaftlichen Forschung in-

207

Der Pariser Politikwissenschaftler Pierre Favre hat sich in seinen Publikationen eingehend mit der Geschichte seines Fachs beschäftigt. Zur Entwicklung seit 1945 siehe insbesondere: Pierre Favre: La science politique en France depuis 1945, in: International Political Science Review, Vol. 2, Nr 1, 1981, S. 95-120

208

Der Begriff ist irreführend, denn die Nationalisierung hatte keineswegs den Strafcharakter, mit dem zur gleichen Zeit andere Verstaatlichungen als Reaktion auf Kollaboration während der deutschen Besatzung durchgeführt wurden. Es wurde nämlich mit der Fondation nationale des sciences politiques (FNSP) eine Stiftung gegründet, innerhalb derer das Institut d'études politiques als Institut der Universität von Paris die Ausbildungstätigkeit der Ecole libre fortsetzte. Diese komplexe rechtliche Konstruktion macht das IEP aber de facto weitgehend unabhängig von der Universität, der es theoretisch untersteht. S. hierzu auch Christophe Charle: Entre l'élite et le pouvoir, in: Le Débat, Nr. 64/1991, S. 99

209

Favre, 1981, S. 96

Entstehung und Entwicklung an den französischen Universitäten

173

nerhalb und außerhalb der Universität und deren Verknüpfung mit der Lehre kann in diesem Zusammenhang nicht aufgezeigt werden.

2. Die Entwicklung nach 1945 bis zu Beginn der 80er Jahre: Neubeginn einer vormals gescheiterten Emanzipation Die komplexen Beziehungen zwischen der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft an den französischen Universitäten vor 1945, die sonstigen, sozusagen als Geburtshelfer beteiligten Disziplinen, sowie die anderen mit der Politikwissenschaft um Legitimität rivalisierenden neuen Disziplinen hat Pierre Favre in seinem Standardwerk zu den Ursprüngen der Politikwissenschaft in Frankreich210 sehr faktenreich und anschaulich gerade auch im Hinblick auf ausländische und speziell deutsche Einflüsse geschildert. Nur innerhalb der Rechtswissenschaft ist es dann aber an den Universitäten nach 1945 zur Konstituierung eines in Lehre und Forschung schrittweise eigenständiger werdenden Fachs unter der Bezeichnung science politique gekommen. Zum besseren Verständnis dieser spezifischen Entwicklung soll daher im folgenden die Vorgeschichte noch einmal kurz im Rückgriff auf die Darstellung Favres skizziert werden.

Die Entwicklung vor 1945 Im Zuge mehrerer Reformen, die zwischen 1877 und 1898 die Organisation und die Inhalte des rechtswissenschaftlichen Studiums an den Universitäten betrafen und mit denen man die bis dahin geltende starke und an manchen Fakultäten gar ausschließliche Konzentration der Studieninhalte auf das römische Recht und das französische Zivilrecht brechen wollte, finden unter der Bezeichnung sciences politiques et économiques oder sciences économiques et administratives neue Inhalte, teils als obligatorische, teils als fakultative Studienanteile Eingang ins Jura-Studium. Wie Favre aber schon in der Überschrift des dieser Entwicklung gewidmeten Kapitels211 feststellt, handelt es sich um eine 'Scheingeburt', denn es herrscht keineswegs Klarheit über den bzw. die Gegenstände dieser sciences politiques - der Plural deutet die epistemologiche Unbestimmtheit an. Auch der 1895 verfügte Erlaß über die 2,0

Pierre Favre: Naissances de la science politique en France 1870-1914, Paris, Fayard, 1989, 331 S.

211

"La fausse entrée de la science politique dans les facultés de droit", Favre, 1989, S. 91-97

174

Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und

Südeuropa

Einführung eines doctorat en sciences politiques et économiques wird 1898 zugunsten eines fast ausschließlich auf rechtswissenschaftliche Inhalte abhebenden Verständnisses dieser sciences politiques modifiziert. Die 1895 festgelegte Liste der Prüfungsinhalte sieht folgende Teilgebiete vor: Geschichte des öffentlichen französischen Rechts, Grundprinzipien des öffentlichen Rechts, vergleichendes Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, internationales öffentliches Recht in einer ersten Prüfung, politische Ökonomie, Geschichte der Wirtschaftsdoktrinen, die französische Finanzgesetzgebung und die Finanzwissenschaft, sowie ein weiteres Wahlfach in einer zweiten Prüfung. Im Anschluß an diese Prüfungen findet die Verteidigung einer Doktorarbeit statt, die thematisch einem der genannten Prüfungsinhalte zugeordnet ist. In der Neufassung des Erlaßes wird dann drei Jahre später eine eindeutige Hierarchie der Prüfungsinhalte zugunsten des öffentlichen Rechts festgelegt, so daß die sciences politiques im Grunde genommen nur wie eine andere Bezeichnung für das droit public erscheinen, dessen Vertreter mit diesem terminologischen Kunstgriff die Vorherrschaft der Zivilrechtler und der Repräsentanten des römischen Rechts erfolgreich brechen. Zum anderen geht es den rechtswissenschaftlichen Fakultäten und manchen Vertretern der Staatsverwaltung aber auch darum, ein Ausbildungsterrain und die damit verbundenen (hochschul)politischen Einflußmöglichkeiten sich anzueignen bzw. zurückzuerobern, die den Juristen der Universität seit der Gründung der privaten Ecole libre des sciences politiques zu entgleiten drohten. Aus diesem Machtkampf 212 um wissenschaftliche Legitimation und politischen Einfluß zwischen der Ecole libre und den rechtswissenschaftlichen Fakultäten gehen letztere durch die beschriebene Offensivtaktik als Sieger hervor, ohne wesentliche inhaltliche Zugeständnisse zu machen 213 . Somit kommt es auch nicht zur Schaffung einer agrégation de sciences politiques et économiques oder einer agrégation de sciences politiques, die eigentlich die logische Konsequenz der Schaffung eines doctorat de sciences politiques hätte sein müssen. Es bleibt bei der agrégation de droit public als dem auch auf das neue doctorat folgen212

Favre berichtet von einem wahren, auf die Protagonisten beider Seiten zugespitzten Schlagabtausch zwischen Emile Boutmy, dem Gründer und Direktor der Ecole libre, und Claude Bufnor, einflußreicher, weil in zahlreichen Gremien vertretener Inhaber des Lehrstuhls für Zivilrecht der Pariser Universität von 1867 bis zu seinem Tod 1898; Favre, 1989, S. 86ff.

213

Über die im Vergleich zu den anderen Fakultäten besonders ausgeprägte Reformresistenz der juristischen Fakultäten innerhalb der Universitäten sowie überhaupt deren Sonderentwicklung im Vergleich zur naturwissenschaftlichen, medizinischen und geisteswissenschaftlichen Fakultät gibt Christophe Charle in seiner Untersuchung über die Universitätsentwicklung in der III. Republik Auskunft. So untersucht er die soziokulturellen Hintergründe für den Corpsgeist des ordre des juristes (S. 243-288). Christophe Charle: La République des universitaires 1870-1940, Paris, Seuil, 1994, 507 S.

Entstehung und Entwicklung an den französischen Universitäten

175

den, obligatorischen Auswahlwettbewerb für die Rekrutierung zum Hochschullehrer. Nachdem dieser Wettbewerb ursprünglich für alle Juristen einheitlich war, bestehen seit 1896 vier Spezialisierungsmöglichkeiten:

öffentliches

Recht, Rechtsgeschichte und Römisches Recht, Privatrecht und schließlich Politische Ökonomie. An dieser Aufteilung ändert sich bis in die 60er Jahre hinein nichts. Im Gegensatz zur heutigen agrégation war diese damals allerdings noch nicht mit der automatischen Ernennung zum Hochschulprofessor verbunden. Die Prüfungsinhalte im droit public der agrégation und in sciences politiques des Doktorats sind weitgehend identisch, so daß in der Folgezeit das öffentliche Recht auch den Begriff der sciences politiques aus dem Sprachgebrauch der rechtswissenschaftlichen Fakultäten weitgehend verdrängt. Aber auch Boutmy kann letztlich mit der Entwicklung zufrieden sein, denn die institutionelle Autonomie der Ecole libre ist aus diesem Streit unversehrt hervorgegangen um den Preis des Verzichts auf eine eindeutige erkenntnistheoretische Bestimmung des Lehrinhaltes. Es fehlt letztlich die Legitimation als Wissenschaft, wofür der Plural in der Namensgebung (Ecole libre des sciences politiques) in gewisser Weise ein Ausdruck ist. Da der Gründungsversuch einer staatlichen Verwaltungshochschule zum damaligen Zeitpunkt gescheitert war und ein erneuter (diesmal erfolgreicher) Anlauf erst 1945 unternommen wurde, hat die Ecole libre für lange Zeit das weitgehend unbestrittene Monopol für die Vorbereitung auf den höheren Staats- und Verwaltungsdienst. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts bildet sich sogar eine Art Arbeitsteilung zwischen der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Paris und der Ecole libre heraus, denn viele der an der Ecole eingeschriebenen Studenten sind gleichzeitig für ein Jura-Studium eingeschrieben und verbinden somit akademisches Studium mit pluridisziplinärer Berufsvorbereitung.

Allmähliche Autonomisierung der Politikwissenschaft zwischen 1945 und dem Beginn der 70er Jahre In der Zeit zwischen 1945 und Mitte der fünfziger Jahre werden nur an den außeruniversitären IEP Diplome in études politiques verliehen. An den Universitäten gibt es keine Diplome in Politikwissenschaft, obwohl in den rechtswissenschaftlichen und auch in einigen geisteswissenschaftlichen Studiengängen politikwissenschaftlich relevante Inhalte gelehrt werden. Im Zuge einer umfassenden Reform des Jura-Studiums wird an den facultés de droit et de sciences économiques im Jahre 1956 ein Diplom in Politikwissenschaft

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

eingeführt. Bei diesem diplôme d'études supérieures (DES) de science politique handelt es sich allerdings lediglich um ein Spezialisierungsjahr in Politikwissenschaft, das sich an das im Jahre 1954 von drei auf vier Jahre verlängerte rechtswissenschaftliche Studium bis zum Erhalt einer licence en droit anschließt. Dieses DES figuriert nun gleichberechtigt neben den vier schon seit 1924 bestehenden und in Anlehnung an die Spezialisierungsmöglichkeiten der agrégation geschaffenen DES, nämlich im öffentlichen Recht, im Privatrecht, in Rechtsgeschichte und in politischer Ökonomie214. Das neue DES bietet nun die Möglichkeit der Vorbereitung einer thèse d'Etat (der deutschen Habilitationsschrift vergleichbar) in Politikwissenschaft. Der erste Stein einer institutionellen Autonomisierung der Politikwissenschaft innerhalb der Rechtswissenschaft ist damit gelegt, wobei diese Verselbständigung sich interessanterweise nicht als ein schrittweiser Aufbau eines grundständigen Studiums 'von unten' vollzieht, da sich das neue Diplom an eine vierjährige rechtswissenschaftliche Grundausbildung anschließt. Diese Reform ist wesentlich mit den Namen der Gründerväter der modernen französischen Politikwissenschaft verbunden wie Maurice Duverger, Georges Vedel, Marcel Prélot und Georges Burdeau, die alle eine traditionelle juristische Ausbildung und Hochschullaufbahn durchlaufen haben, deren Forschungen und Veröffentlichungen aber entscheidenden Anteil an der Herausbildung einer eigenständigeren science politique haben. Die Reform spiegelt somit eine neue Legitimität wider, die dieses Fach als eine vom öffentlichen Recht verschiedene Disziplin schon seit Mitte der 30er Jahre, dann mit neuer Dynamik nach 1945 langsam aber sicher gewonnen hat. Favre weist zu Recht auf die engen Rückwirkungen zwischen dieser Entwicklung und den innen* und weltpolitischen Umbrüchen der damaligen Zeit hin 215 . Die Verlängerung des rechtswissenschaftlichen Studiums erlaubt nun auch die Aufnahme neuer bzw. zusätzlicher Studieninhalte216 vor allem ins vierte Studienjahr. Die Politikwissenschaft profitiert davon, insofern als sie in dieser Service-Funktion für die rechtswissenschaftliche Ausbildung eine auch in institutioneller Hinsicht gestärkte Legitimität bekommt. Sie gerät aber auf diese 214

Favre, 1989, S. 96

215

Favre, 1989, S. 310ff

216 Favre beziffert für die Zeit nach 1954 den Anteil politikwissenschaftlich relevanter Studienelemente an den juristischen Fachbereichen auf ca. ein Fünftel des gesamten Lehrangebots und listet als Themenbereiche auf: Verfassungsrecht und politische Institutionen, Einführung in die politische Soziologie, internationale Institutionen, Methoden der Sozialwissenschaften, politische Ideengeschichte bis Ende des 18. Jahrhunderts, Geschichte der politischen Ideen seit dem 19. Jahrhundert, große politische Probleme der Gegenwart; Favre, 1981, S. 100

Entstehung und Entwicklung an den französischen Universitäten

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Weise in eine dauerhafte Minderheitsposition bzw. in die Rolle einer Hilfswissenschaft gegenüber der Rechtswissenschaft, was ihren institutionellen Status innerhalb der Universität bis heute prägt. Wesentliche Schritte für die weitere Entwicklung der institutionellen Autonomisierung der Lehre in Politikwissenschaft werden in der Folge der hochschul- und gesellschaftspolitischen Umbrüche nach 1968 gemacht. Im Zuge der 1968 durchgeführten Hochschulreform bekommen die Universitäten mehr Freiräume in der Gestaltung ihres Lehr- und Forschungsangebots. Die Universität Paris I nutzt dies durch Gründung der bis heute einzigen selbständigen, d. h. organisatorisch und rechtlich vom juristischen Fachbereich getrennten universitären Einheit in Form des Département de science politique de la Sorbonne, die sich in Lehre und Forschung der Politikwissenschaft widmet. Wieder ist es Maurice Duverger, der zusammen mit Jean-Jacques Chevallier, Madeleine Gravitz, Léo Hamon, Bertrand de Jouvenel und Marcel Merle diese Entwicklung vorantreibt. In allen anderen Universitäten bleibt die Politikwissenschaft somit bis heute voll in die juristischen Fachbereiche integriert. Zu Beginn der 70er Jahre bekommt die Politikwissenschaft eine eigene Sektion im Conseil National des Universités (damals noch unter anderer Bezeichnung). Dieser CNU, für den es in der deutschen Hochschullandschaft keine Entsprechung gibt, ist ein wichtiges nationales Repräsentationsorgan der französischen Hochschullehrer. Er ist in Sektionen aufgeteilt, die in etwa den an den Universitäten gelehrten Disziplinen entsprechen und in denen gewählte und ernannte Vertreter auf nationaler Ebene wichtige korporative Interessen der jeweiligen Disziplin wahrnehmen. Dabei handelt es sich einmal um die Vertretung der fachspezifischen Interessen insgesamt gegenüber dem Ministerium. Vor allem aber hat der CNU eine Schlüsselfunktion in der Gestaltung der Karriere der Hochschullehrer, sowohl für deren Ernennung als auch für den weiteren Verlauf der Karriere. In der zuletzt angesprochenen Funktion arbeitet der CNU eng zusammen mit seinen lokalen Ablegern, den commissions de spécialistes, die in jeder nach Disziplinen bzw. Fachgruppen getrennten organisatorischen Basiseinheit der Universität (Unité de formation et de recherche, Département) gebildet werden. Die wechselseitigen Befugnisse beider Entscheidungsebenen, aber auch die Sektionsaufteilung des CNU sind in den letzten 20 Jahren, oft im Zusammenhang mit einem Regierungswechsel, immer wieder modifiziert worden. Diese häufigen Änderungen zeigen, daß es sich hierbei um eine für die institutionelle Anerkennung und das Selbstverständnis eines jeden Fachs bzw. dessen Vertreter äußerst sensible Angelegenheit handelt. Den mit Lehraufgaben in Politikwissenschaft betrauten Hochschullehrern an den Universitäten, die von der Ausbildung her meist

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Juristen waren, wurde nun freigestellt, der neuen section 04 'science politique' des CNU beizutreten. Diesen Schritt haben aber längst nicht alle Betroffenen vollzogen, wie die bis heute immer noch vergleichsweise geringe Zahl der Sektionsangehörigen (knapp 200 im Jahre 1991 217 ) zeigt. Der nächste entscheidende Schritt bestand in der Schaffung einer eigenständigen, d.h. von der agrégation de droit public getrennten agrégation de science politique im Jahre 1973 als dem für Rekrutierung von Professoren in diesem Fach gültigen Ernennungsverfahren. Diese Neuerung ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert: einerseits ist es die logische Konsequenz im Bemühen um Autonomie, andererseits bleibt die Rekrutierung von Professoren in der Politikwissenschaft mit dieser speziellen agrégation dem Modell der Rechtswissenschaft verhaftet. Seit 1855 218

ist, wie bereits gesagt, die

agrégation nach dem Erwerb einer licence und eines doctorat der für die Ernennung zum Professor geltende Auswahlmechanismus an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Das Prinzip eines eigens organisierten, nationalen Auswahlwettbewerbs zur Besetzung von Professorenstellen gilt auch heute noch für alle aus den Rechtswissenschaften hervorgegangenen Disziplinen, nämlich den sciences économiques, der gestion, die wiederum in den 70er Jahren dieses Jahrhunderts aus den sciences économiques hervorgegangen ist und deren Lehrpraxis nur bedingt mit dem deutschen Verständnis eines Betriebswirtschaftsstudiums übereinstimmt, und eben der science politique. Nur in diesen Disziplinen wird zur Ernennung von Professoren eine agrégation de l'enseignement supérieur durchgeführt, wie dies die derzeit geltenden offiziellen Texte zeigen. 219 In den geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Disziplinen ist die agrégation in erster Linie ein Auswahlwettbewerb für die Kandidaten des höheren Schuldienstes und der Vorbereitungsklassen der Grandes Ecoles. Die Professoren in diesen Disziplinen werden, wenn die entsprechenden laufbahnrechtlichen Voraussetzungen er-

217

218 219

Siehe hierzu: Jacques Lagroye: L'enseignement de la science politique dans les universités, (unveröffentlichtes Manuskript), 1992, Dokumententeil. Bei diesem Text handelt es sich um eine Zustandsbeschreibung der politikwissenschaftlichen Lehre an den Universitäten, mit der der Autor, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Paris I, vom Erziehungsministerium beauftragt worden war. Die 191 der 4. Sektion des CNU angehörenden Politikwissenschaftler teilen sich in 87 Professoren und 104 Maîtres de conférences (den deutschen Privatdozenten vergleichbare, im Unterschied zu diesen allerdings in Lebenszeitstellungen berufene Hochschullehrer) auf. Favre, 1989, S. 91 Siehe hierzu: Dekret Nr. 84-431 vom 6. Juni 1984 in der modifizierten Fassung vom 16. Januar 1992 unter dem Titel: Dispositions statutaires communes applicables aux enseignants-chercheurs et statut particulier du corps des professeurs des universités et du corps des maîtres de conférences, insbesondere Art. 49-4; Journal Officiel, 16.1.1992

Entstehung und Entwicklung an den französischen Universitäten

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füllt sind, in einem Verfahren ernannt, an dem die bereits erwähnten commissions de spécialistes und der CNU beteiligt sind.

Exkurs: Die Durchführung der agrégation de science politique Die agrégation de science politique, an der nur Kandidaten mit abgeschlossener Promotion und mit nachgewiesener Lehrerfahrung teilnehmen können, wird alle zwei Jahre durchgeführt, wobei etwa fünf bis sechs Professorenstellen zu besetzen sind, gegenüber etwa 30 Stellen bei der agrégation de droit public. Von den zwei Varianten der Durchführung dieser agrégation soll an dieser Stelle lediglich die für die meisten Kandidaten in Frage kommende (concours externe genannt) etwas ausführlicher geschildert werden, weil sie wiederum für das Selbstverständnis der auf diese Weise berufenen Politikwissenschaftler im Sinne einer corporate identity im Vergleich etwa zu den in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten beheimateten Soziologen und Historikern aufschlußreich ist. Die Wettbewerbsprüfung umfaßt vier Etappen und erstreckt sich über mehrere Monate. Für die erste Teilprüfung (épreuve de sous-admissibilité) muß der Kandidat seine Veröffentlichungen vorlegen, die von zwei Gutachtern in einem Bericht bewertet werden. Der Kandidat stellt selbst seine Arbeiten vor und wird dazu von einer Kommission befragt. Wenn diese Hürde genommen ist, besteht die zweite Teilprüfung (épreuve d'admissibilité) in der Vorbereitung eines halbstündigen Vortrags zu einem von der Jury gestellten Thema, das der Kandidat aus fünf, bei der Ausschreibung des Wettbewerbs festgelegten Teilbereichen der Politikwissenschaft (politische Soziologie, Methoden der Sozialwissenschaft, politische Ideengeschichte, internationale Beziehungen und Verwaltungswissenschaft) als erste Option auswählt. Der Kandidat bereitet diesen Vortrag selbständig innerhalb von acht Stunden en loge vor, das heißt, er darf keinerlei Quellen oder Dokumente benutzen. Mit dem Bestehen dieser Teilprüfung wird die Zulassung zu den weiteren Prüfungsteilen ausgesprochen. Die dritte Teilprüfung besteht in einer leçon libre, d. h. eines Vortrags zu einem selbst gewählten Thema zur politischen Geschichte seit 1800. Die Vorbereitungszeit beträgt diesmal 24 Stunden, Quellen dürfen benutzt werden, außerdem kann sich der Kandidat während dieser Zeit mit Kollegen beraten. Die letzte Teilprüfung besteht wiederum in der Vorbereitung eines halbstündigen Vortrags en loge über eine zweite Option aus der bereits erwähnten Liste der zweiten Teilprüfung. Diesem halbstündigen Vortrag liegt ein von der Jury bestimmter Text als support documentaire zugrunde. Wie schon bei der dritten Teilprüfung kann

180

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die Kommission auch diesmal wiederum den Kandidaten zu seinem Vortrag befragen. Die zweite Variante des Wettbewerbs könnte als eine Art kumulative agrégation bezeichnet werden. Diese concours interne genannte Variante ist bislang allerdings erst einmal durchgeführt worden und ist Kandidaten mit mindestens zehnjähriger Lehrerfahrung im Hochschuldienst, davon fünf Jahre als maître de conférences, vorbehalten. Hierbei handelt es sich um eine einzige Prüfung in Form eines Kolloquiums, in dem der Kandidat zu seinen Arbeiten und zu seiner pädagogischen Erfahrung befragt wird. Die Zahl der für diese zweite Variante des Wettbewerbs ausgeschriebenen Stellen darf die der für die erste Variante ausgeschriebenen nicht überschreiten. Die Kommission besteht in beiden Fällen aus einem vom Minister ernannten Vorsitzenden, der das Fach in Lehre und Forschung als Professor vertritt. Der Vorsitzende wiederum schlägt dem Minister weitere sechs Kommissionsmitglieder zur Ernennung vor, wovon mindestens vier Professoren in politischer Wissenschaft sein müssen. Zwei weitere Mitglieder können fachfremde Professoren oder auch nicht der Universität angehörende, französische oder ausländische Persönlichkeiten des öffentlichen Dienstes oder auch der Privatwirtschaft sein, wenn sie sich um das Fach verdient gemacht haben. Die Einführung einer agrégation de science politique erlaubt den Politikwissenschaftlern die Rekrutierung des wissenschaftlichen Nachwuchses auch auf der höchsten Ebene in eigene Hände zu nehmen 2 2 0 . Sie führt dazu, daß diese neue Generation von Hochschullehrern ein wesentlich differenziertes Ausbildungsprofil aufweist, weil sich auch Kandidaten mit eher geisteswissenschaftlicher Vorbildung für diese Stellen bewerben können und auch rekrutiert werden. Dies hat sich bereits auf das politikwissenschaftliche Lehr- und Forschungsangebot an den entsprechenden Fachbereichen ausgewirkt, wie sich z.B. anhand der mittlerweile bestehenden thematischen Spezialisierungen des dritten Studienzyklus (DEA und DESS) zeigen läßt. Der nach dem Regierungswechsel von 1981 mit dem Anspruch der Demokratisierung der Hochschulen unternommene Versuch, die agrégation als obligatorisches Rekrutierungsverfahren für die Professoren an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten abzuschaffen, scheiterte nicht zuletzt am Widerstand einer auch von Universitätspolitologen mitbegründeten Association pour la défense des concours. Sahen sie doch gerade in dieser fachspezifischen Wettbewerbsprüfung eine Garantie für eine stärkere Autonomie und Identität der noch jungen Dis220

Die Maîtres de conférences in Politikwissenschaft werden, wie auch in allen anderen Disziplinen üblich, in einem Verfahren berufen, an dem die commissions de spécialistes des jeweiligen Fachbereichs und der CNU beteiligt sind.

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ziplin im Fächerkanon der Universitäten. Ihre Periodizität sei darüber hinaus Garant für eine im Umfang bescheidene, aber doch stetige Verstärkung des Lehr- und Forschungspersonals mit jüngeren Wissenschaftlern.

Konsolidierung des Fachs als Vertiefungs- bzw. Aufbaustudium in den 70er und 80er Jahren Für die weitere Entwicklung der Studienorganisation in der Politikwissenschaft sind nun noch zwei Daten bedeutsam. Einmal handelt es sich um die 1974 für alle Disziplinen wirksam werdende Reform des DES, das aufgeteilt wird in das diplôme d'études approfondies (DEA), das ein forschungsorientiertes, einjähriges Aufbaustudium im Anschluß an ein vierjähriges Basisstudium darstellt. Das DEA wird somit die Voraussetzung für die Zulassung zum Doktorat. Zum anderen handelt es sich um das praxisorientierte und ein Berufsfeld vorbereitende, pluri- bzw. interdisziplinär ausgerichtete diplome d'études supérieures spécialisées (DESS). Diese Änderung ermöglicht eine Diversifizierung des Lehrangebots und gerade für die noch junge universitäre Politikwissenschaft eine Stärkung ihres Forschungspotentials durch Einführung thematisch eindeutiger profilierter DEA, als das bis dahin im Rahmen der thematisch nicht differenzierten, wenigen DES in Politikwissenschaft möglich war. Einer Aufstellung des Hochschulministeriums221

für das Studienjahr

1993/94 zufolge existieren an den Universitäten knapp 300 DEA in der Fächergruppe "Rechts-, Politik- und Wirtschaftswissenschaften". Gut 160 davon sind den Rechtswissenschaften zugeordnet, knapp 25 weitere - die meisten davon wurden in den 80er Jahren geschaffen - können von der Bezeichnung her der Politikwissenschaft zugeordnet werden, wovon wiederum über fünfzehn DEA in einem Teilbereich der Politikwissenschaft spezialisiert sind 222 . 221

Ministère de l'enseignement supérieur et de la recherche: Diplômes d'études approfondies 1993/94, 1994, 75 S.

222

Eine solche Auflistung ist allerdings nur ein bedingt zuverlässiger Indikator, weil nur eine eingehende Analyse des jeweiligen Lehrangebots Aufschluß über die Spezialisierungen geben könnte. Die Liste ändert sich von Jahr zu Jahr, denn die Berechtigung zur Verleihung von Diplomen (habilitation) in diesen Aufbaustudiengängen (DEA und DESS), sowie die mit der Einrichtung der Studiengänge verbundenen Mittel muß der Fachbereich beim Ministerium beantragen. Ein einmal vom Ministerium bewilligter Studiengang muß alle vier Jahre evaluiert werden, damit die habilitation verlängert werden kann. Die Einrichtung dieser Aufbaustudiengänge ist für die Universitäten bzw. Fachbereiche eine Möglichkeit, ein spezielles Ausbildungsprofil, sowie nationale und internationale Anerkennung zu gewinnen. Die selektive Zulassung zu diesen Studiengängen (in der Regel werden pro Diplom und Jahr nicht mehr als 20 bis 25 Studenten von einer eigens dafür an jedem Fachbereich einberufenen Kommission ausgewählt) soll die Qualität und die Reputation dieser Studiengänge sichern.

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Der Anspruch, nun aber auch praxisorientierte Studienangebote im Rahmen der universitären Politikwissenschaft als interdisziplinäres Aufbaustudium anzubieten, führt den Politikwissenschaftlern neue Studenten zu, die nun nicht mehr in ihrer überwiegenden Mehrheit ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert haben. Dies gilt auch für die Studenten, die sich ab 1977 in die in diesem Jahr geschaffene maîtrise de science politique einschreiben werden. Das rechtswissenschaftliche Studium war kurz zuvor wieder auf drei Jahre bis zum Erhalt einer licence verkürzt worden, das vierte Jahr schließt nun, wie in den geisteswissenschaftlichen Fächern, mit einer maîtrise ab. Die Studienordnung dieses neuen Diploms sah ursprünglich mindestens 375 Stunden vor, von denen wiederum 262 sich auf folgende Teilbereiche zu verteilen hatten: Vergleichende Institutionenlehre (75 Stunden), Analyse des politischen Verhaltens (75 Std.), politische Philosophie und Analyse von Ideologien (75 Std.), Methoden der Politikwissenschaft und Datenanalyse (37 Std.). Darüber hinaus waren mindestens 75 Stunden in Form von praktischen Übungen abzuhalten. Ohne Zusatzprüfung konnten sich grundsätzlich Studenten im Besitz einer licence en droit einschreiben. Die Zulassung von Kandidaten mit einer nicht rechtswissenschaftlichen Ausbildung konnte der Auswahlausschuß von bestimmten Studien- oder zusätzlichen Prüfungsauflagen abhängig m a c h e n 2 2 3 . Die z.Zt. gültige Fassung dieses Erlaßes, der zuletzt im Jahre 1994 modifiziert worden ist, zeigt die Entwicklung der obligatorischen Studieninhalte innerhalb der letzten 15 Jahre auf. Danach umfaßt das Programm nun mindestens 500 Stunden, wovon wiederum mindestens 350 Stunden sich auf folgende sieben Bereich verteilen müssen: Theorie und Analyse öffentlicher Politiken, vergleichende Institutionen- und Regierungslehre, politische Soziologie, politische Philosophie und politische Ideengeschichte, internationale Beziehungen, Verwaltungswissenschaft, Methoden der Politikwissenschaft und Datenanalyse. Innerhalb dieser Prüfung ist die Anfertigung einer längeren wissenschaftlichen Arbeit, wie sie etwa der deutschen Magisterarbeit oder auch den entsprechenden mémoires de maîtrise in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereichen der französischen Universitäten entspricht, nicht vorgeschrieben und daher auch nicht üblich. Eine derartige Arbeit ist erst für die im DEA, also im fünften Studienjahr, eingeschriebenen Studenten obligatorisch. Mit der Einführung der maîtrise de science politique ist die institutionelle Autonomisierung der Politikwissenschaft vorerst abgeschlossen. Eine licence 223

Journal Officiel, Dekret vom 7. Juli 1977

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de science politique gibt es nur an sehr wenigen Universitäten: an der Universität Paris I seit 1985 zunächst als licence expérimentale d'études politiques et administratives, später einer licence d'administration publique, aus der dann 1991 eine licence de science politique mit allerdings sehr geringen Zulassungsquoten wurde; an der Faculté de droit et des sciences politiques et sociales der Universität von Amiens ist zum Studienjahr 1994/95 eine licence eingeführt worden. Die Gründe dafür sollen im folgenden Kapitel im Versuch einer Gesamtskizze der derzeitigen Situation, die die Probleme und die weiteren Perspektiven der Disziplin aufzeigen soll, dargelegt werden.

3. Aktuelle Situation und Perspektiven der politikwissenschaftlichen Lehre an den Universitäten Zur Klärung des heutigen Selbstverständnisses der Politikwissenschaft bzw. ihrer Vertreter in Frankreich ist der erste Satz des bereits zitierten Berichts von Jacques Lagroye aufschlußreich, klingt er doch wie ein Versuch, die dieser Disziplin seit ihren Ursprüngen immer wieder vorgeworfenen Legitimationsdefizite als für nunmehr überwunden zu erklären. Lagroye schreibt: "Die Politikwissenschaft kann heute nicht mehr als eine Disziplin mit unklaren Konturen und schlecht abgesicherten Methoden betrachtet werden, die von Amateuren unterrichtet wird, welche wenig über die neuesten Entwicklungen des Fachs wissen und sich über dessen intellektuelle Anforderungen nicht im klaren sind. Sie zeichnet sich (heute) vielmehr durch klar umrissene Ausbildungsziele und durch die Erkenntnisse der in Frankreich und im Ausland betriebenen Forschungen aus" 2 2 4 . Die heutige Organisation der Lehre des Fachs an den französischen Universitäten trägt aber immer noch schwer am Erbe seiner im Vergleich zu anderen Ländern gleich in mehrfacher Hinsicht besonderen Entstehungsgeschichte. Dies gilt, um nur die hervorstechendsten Merkmale zu nennen, für den nach wie vor starken Einfluß der Rechtswissenschaft, für den fortbestehenden Dualismus zwischen universitärem Lehrangebot und außeruniversitärer Ausbildung an den IEP und auch für die Tatsache, daß das politikwissenschaftliche Lehrangebot an den Universitäten eher Vertiefungs- und Ergänzungscharakter hat. Ein grundständiges Studium in Politikwissenschaft ist nach wie vor an den Universitäten nicht möglich und wird auch auf absehbare Zeit nicht Wirklichkeit werden. Lagroye, der sich in seiner Untersuchung auf eine Befragung von 28 der 4 0 in Frage kommenden

224

Eigene Übersetzung (W.Z.)

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rechtswissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereiche stützt, kommt zu dem Ergebnis, daß die Einführung eines politikwissenschaftliches Vollstudiums vom ersten Studienjahr an von den verantwortlichen Hochschullehrern aus mehreren Gründen abgelehnt wird. Dies hängt natürlich mit der Konkurrenz der Ausbildungsangebote an den IEP zusammen, an denen politikwissenschaftliche Studieninhalte während der dreijährigen Ausbildungsdauer von Anfang an Teil des Programms sind. Gegenüber den Absolventen der IEP hätten Universitätsabsolventen mit einem abgeschlossenen, drei oder vierjährigen Vollstudium in Politikwissenschaft nach Meinung der meisten Hochschullehrer nur sehr geringe Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Zum anderen seien die derzeit knapp 200 Politikwissenschaftler an den Universitäten auch personell gar nicht in der Lage, an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten ein Lehrangebot für ein dreijähriges Vollstudium bis zu einer licence in ihrer Disziplin zu gewährleisten. An einigen der neun Universitäten (Bordeaux I, Lyon III, Nizza, Paris I, Paris II, Paris X, Rennes i, Straßburg III, Toulouse I), die im Studienjahr 1992/93 eine maîtrise de science politique anboten, sei es schon schwierig, dieses einjährige maîtrise-Programm mit einer ausreichenden Zahl von Politikwissenschaftlern zu organisieren, ohne auf fachfremde Hochschullehrer bzw. Lehrbeauftragte zurückgreifen zu müssen. Lagroye nennt die Zahl von 10 Professoren und maîtres de conférences als ausreichende Grundausstattung. Diese Bedingung war allerdings - zum Zeitpunkt der Befragung - an den Universitäten von Lyon III und Straßburg III nicht gegeben, in Bordeaux I und Toulouse I konnte die Zahl mit Hilfe von an den örtlichen IEP tätigen Hochschullehrern erreicht werden 2 2 5 . Trotz dieser Einschränkungen weist das Lehrangebot der maîtrise von der offiziellen Studienordnung her den breitesten Fächer politikwissenschaftlicher Studieninhalte auf. Dieser für alle Universitäten grundsätzlich verbindliche Text wird jedoch vor Ort offenbar unterschiedlich umgesetzt. Wie Lagroye zeigt, sind fünf Bereiche, nämlich die (vergleichende) Lehre politischer Systeme und Institutionen, die politische Ideengeschichte, die politische Soziologie, die Methodenlehre und die Verwaltungswissenschaft in allen neun Universitäten mehr oder weniger gleichwertig abgedeckt. Der Analyse der internationalen Beziehungen wird vor allem an den Universitäten Paris I und Paris X breiter Raum gewährt, während dieser Bereich an anderen Universitäten eher unterrepräsentiert ist. In drei Bereichen habe sich die politikwissenschaftliche Lehre, unterstützt von entsprechenden thematischen Forschungsprogrammen des CNRS und anderer Forschungs(förder)institutionen, in den

225

Lagroye, 1992, S.7f

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letzten 15 Jahren besonders stark entwickelt: Analyse öffentlicher Politiken, Analyse der politischen Kommunikation und, wenn auch in geringerem Maße, in den Studien zur europäischen Integration. Die maîtrise-Programme

der

neun Universitäten spiegeln eine sehr unterschiedliche Rezeption dieser Trends wider. Nur die Universitäten Paris I und Paris X, aber auch Rennes I bieten in allen drei Bereichen Veranstaltungen a n 2 2 6 . Interessant ist schließlich die durchgängig große Bedeutung, die der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre an allen Universitäten beigemessen wird. Dies kann, angesichts der sehr unterschiedlichen Vorbildungen der Studenten, mit der Notwendigkeit, ein einheitliches methodisches Grundlagenwissen in dieser, für die Studenten neuen Disziplin erklärt werden. So ist das eine Jahr der maîtrise de science politique das Kernstück der politikwissenschaftlichen Ausbildung an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten. Die Erfahrungen der wenigen Universitäten, die vor der maîtrise auch einen licence-Abschluß

anbieten, lassen sich nicht als richtungsweisend für

die Zukunft verallgemeinem, zu sehr ist deren Situation an lokale Sonderentwicklungen gebunden. Dies gilt, wie bereits gezeigt, für die Universität Paris I, es gilt auch für die sehr starke Stellung der Politikwissenschaft innerhalb der Universität von Amiens 2 2 7 . Auch die Erfahrung der Universität Paris VIII mit ihrer licence in Politikwissenschaft ist nicht repräsentativ aufgrund des Sonderstatus dieser Universität, der mit der Geschichte ihrer Gründung als Université de Paris-Vincennes zusammenhängt. Über das licence- bzw. maffrise-Programm hinaus werden politikwissenschaftliche Inhalte noch in den bereits erwähnten DEA und DESS Studiengängen angeboten. Wegen der teilweise recht ausgeprägten thematischen Diversifizierung als Folge der engen Verbindung mit den politikwissenschaftlichen Forschungsaktivitäten und -Zentren der einzelnen Universitäten kann allerdings in diesem Zusammenhang auf diese Studiengänge nicht weiter 226 Lagroye, 1992, S. 7 227 Die Sonderstellung von Amiens nicht nur unter den Provinzuniversitäten, sondern auch im Vergleich zu manchen Pariser Universitäten hängt zweifellos mit dem Einfluß, den die dortigen Politologen auf die Berufungspolitik an der Fakultät nehmen konnten, sowie mit der Existenz eines in der Verwaltungsforschung sehr aktiven und national anerkannten Forschungsinstituts zusammen. Dieses Centre Universitaire de Recherches Administratives et Poiitiques de Picardie (CURAPP) wurde .1971 gegründet und ist seit 1982 dem CNRS assoziiert. Jacques Chevallier, sein langjähriger Direktor (1982-1994), von der Ausbildung her Jurist, war eine Zeitlang auch Dekan der Fakultät. In einer für eine Provinzuniversität eher ungewöhnlichen Konstellation sind derzeit ein Viertel der Professorenstellen der Fakultät und ein Drittel der Mattres de conterences-Stellen mit Politologen besetzt. Eine Kurzvorstellung des CURAPP, sowie der laufenden Forschungen und der Publikationen findet sich in der ersten Nummer des seit Ende 1994 erscheinenden Informationsbulletins Lettre du CURAPP-CNRS, Nr. 1, Dezember 1994.

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

eingegangen werden. Zur Veranschaulichung der Anforderungen an die Studenten soll das Programm des Studienjahres 1994/95 für das DEA sciences administratives et politiques der Universität Amiens kurz dargestellt werden. Laut Studienordnung verteilen sich die 200 Pflichtstunden auf 100 Stunden sog. directions d'études, wobei es sich um vier seminarähnliche Veranstaltungen vor allem zu Teilgebieten der Verwaltungswissenschaft handelt. Eine obligatorische Vorlesung zu den Methoden der Sozialwissenschaft umfaßt 25 Stunden, wobei die Studenten zwischen einer Vorlesung zur Erkenntnistheorie und einer zur historischen Methode auswählen konnten. Die restlichen 75 Stunden bestehen aus zwei obligatorischen Forschungsseminaren, die die Studenten aus einem Angebot von fünf entsprechenden Veranstaltungen auswählen konnten. Eines dieser Seminare soll in thematischem Zusammenhang mit der Diplomarbeit stehen, die der Student im Rahmen des DEA anfertigen muß. Es liegt auf der Hand, daß ein derartig strukturierter Studiengang nicht mit hohen Immatrikulations- bzw. Absolventenzahlen aulwarten kann. In den offiziellen Statistiken des Ministeriums228 werden die Studenten der Politikwissenschaft nicht getrennt aufgeführt, sondern unter die der Rechtswissenschaft subsumiert. Im Studienjahr 1993/94 waren im zweiten Studienabschnitt des rechtswissenschaftlichen Studiums (licence- und ma/fnse-Jahr) 63265 Studenten an den Universitäten eingeschrieben 229 , die Zahl der für ein politikwissenschaftliches Diplom eingeschriebenen Studenten dürfte ein Bruchteil davon betragen. Die Zahl der maîtrise-Studenten an der Universität Paris I beträgt pro Jahr etwa 160 Studenten, die von Paris II etwa 200 Studenten, die in Amiens variiert zwischen 60 und 80 Studenten pro Studienjahr, die von Paris X zwischen 80 und 120 Studenten und die von Rennes zwischen 50 und 60 Studenten, um nur die größten Jahrgangsstärken zu nennen 2 3 0 . Im Studienjahr 1992/93 haben 57 Studenten eine licence und 647 Studenten eine maîtrise de science politique erfolgreich abgelegt 231 . In einer Untersuchung des Centre d'études et de recherches sur les qualifications (CEREQ) sind die französischen Universitätsabgänger des Studienjahres 1987/88 33 Monate 228

229

So z.B. in der jährlich erscheinenden Datensammlung des Erziehungsministeriums: Repères et références statistiques sur les enseignements et la formation - année scolaire et universitaire 1992-93, Direction de l'évaluation et de la prospective, Vanves, 1994, 299 S. In: Note d'information, Ministère de l'Education nationale, Nr. 94-16, März 1994, S. 2

230

Die Zahlen beruhen auf Angaben, die dem Autor von Professoren der entsprechenden Fachbereiche mitgeteilt wurden.

231

Siehe hierzu die von der Direction de l'évaluation et de la prospective des Erziehungsministeriums veröffentlichten Statistiken: Tableaux statistiques, Nr. 6324

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nach Erhalt ihres Diploms zum Verlauf ihrer beruflichen Integration befragt worden. Für die Abgänger mit einem Diplom in Politikwissenschaft ergibt sich dabei folgendes Bild: 36 Studenten haben die Universität mit einer licence de science politique verlassen, 88 Studenten mit einer maîtrise de science politique, 581 Studenten mit einem Abschluß eines IEP, 143 Studenten mit einem DEA oder DESS und 12 Studenten mit einem Doktorat 232 . Diese Zahlen zeigen, daß in der Politikwissenschaft ein DEA oder ein DESS eher als eine maîtrise von den Studenten als eine ausreichende Qualifikation für den Arbeitsmarkt angesehen werden. Die in dieser Untersuchung vorgenommene Subsumierung der hohen Zahl der IEP-Absolventen unter die Universitätsdiplome verzerrt das Bild zur beruflichen Eingliederung der Kohorte der Berufsanfänger mit politikwissenschaftlicher Ausbildung. Sie ist in gewisser Weise gerechtfertigt von der rechtlichen Stellung der acht IEP in der Provinz her, die nämlich alle einer Universität angegliedert sind, innerhalb derselben aber einen Sonderstatus haben, was z.B. die Auswahl der Studenten und die Gestaltung des Lehrangebots angeht. Das IEP von Paris ist allerdings seit einem Dekret von 1984 ein sogenanntes "grand établissement', das von den Universitätsstrukturen und -Statuten vollkommen unabhängig ist, was sich in den völlig andersgearteten Lehrinhalten und -methoden ausdrückt. Die Studie des CEREQ bestätigt im Grunde genommen diese grundsätzlichen Unterschiede, wenn sie auf die im Vergleich zu den Universitätsabsolventen ungleich besseren beruflichen Einstiegschancen der IEP-Absolventen hinweist. Dies zeigt sich nicht zuletzt auch in den ermittelten Gehaltsunterschieden. So betrug das durchschnittliche Monatsgehalt eines lEP-Abgängers drei Jahre nach seinem Diplom ca. 11500 FF, während die Abgänger mit einer universitären maîtrise (in allen Fachrichtungen) auf durchschnittlich nur 9000 FF kamen 2 3 3 .

Politikwissenschaftliche Lehrangebote als Service-Leistungen für andere Disziplinen Die Beteiligung von Politologen an der Ausbildung in den rechtswissenschaftlichen Studiengängen ist grundsätzlich an allen in Frage kommenden Universitäten gegeben, der Umfang dieser Mitwirkung und vor allem die Frage der Zuteilung von obligatorischen oder fakultativen Lehrveranstaltungen sind jedoch immer Ergebnis örtlicher Gegebenheiten und Machtverhältnisse 232 Daniel Martineiii: Diplômés de l'université. Insertion au début des années 1990, Documents du CEREQ, Nr. 100, Oktober 1994 233

Martineiii, 1994, S. 35

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zwischen Juristen und Politologen 234 . Während die meisten der im rechtswissenschaftlichen Grundstudium angebotenen, bis 1993/94 noch überwiegend fakultativen "Einführung(en) in die Politikwissenschaft" von Politologen durchgeführt werden, ist die zentrale Pflichtveranstaltung "Verfassungsrecht und politische Institutionen", wie das Verfassungsrecht seit der Reform von 1954 bis zur Neufassung der Studienordnung von 1992 bzw. 1994 genannt wird, nur in den wenigsten Fällen (Amiens, Bordeaux I, Paris I, Montpellier und Rennes I) in Händen der Politologen 235 . Die Tatsache, daß an manchen rechtswissenschaftlichen Fakultäten (Angers, Besançon, Brest, Caen, Chambéry, Corte, Le Havre, Le Mans, Metz, Nantes, Orléans, Perpignan, La Réunion, Rouen, Saint Etienne, Toulon, Tours, Valenciennes, Paris XII) -wenn überhaupt - nur ein Politologe sein Fach in der Lehre vertrat bzw. vertritt 236 , begünstigte die Stellung der ohnehin wesentlich zahlreicheren Juristen, die in den meisten Fällen trotz der Umbenennung diese Teildisziplin als ihre angestammte Domäne betrachten. Eine ähnliche Konkurrenz zuungunsten der Politologen gab bzw. gibt es auch bei den Lehrangeboten zur politischen Ideengeschichte und zu den internationalen Beziehungen. Nur an den wenigen, bereits mehrfach erwähnten Fachbereichen mit einer ausreichenden Zahl von Politologen konnten sich - zum Zeitpunkt der Datenerhebung - letztere in den besagten Lehrangeboten gegenüber den Juristen durchsetzen. Auch diese beiden Teilbereiche, die nach der alten Studienordnung zum Wahlbereich gehörten, sind nach den modifizierten Texten Pflichtfächer geworden. Insgesamt ist die Mindeststundenzahl für das zweijährige Grundstudium (diplôme d'études universitaires générales) in der Rechtswissenschaft von 900 auf 1000 Stunden aufgestockt worden. Außerhalb der rechtswissenschaftlichen Ausbildungsgänge sind politikwissenschaftliche Lehrangebote - von einigen Ausnahmen, wie z.B. der wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten Universität Paris IX, die im ersten Studienjahr eine obligatorische Einführung in die Politikwissenschaft und für das zweite, dritte und vierte Studienjahr fakultative Lehrveranstaltungen in dieser Disziplin anbietet, abgesehen - kaum feststellbar. Das gilt sowohl für die klassischen Studiengângë der anderen

wirtschaftswissenschaftlichen

Fachbereiche als auch für den erst vor knapp 20 Jahren als Vollstudium konzipierten praxisorientierten Studiengang Administration économique et sociale 234 235

236

Lagroye, 1992, S. 8ff In der Neufassung der Studienordnung von 1994 wurde diese Veranstaltung ein obligatorischer Bestandteil des ersten Studienjahres; siehe hierzu: Journal Officiel, Arrêté du 12.4.1994 Lagroye, 1992, S. 24

Entstehung und Entwicklung an den franzosischen Universitäten 189

(AES). An der Organisation dieses pluridisziplinär ausgerichteten Studiengangs sind in der Regel vor allem Wirtschaftswissenschaftler und Juristen beteiligt, den sozialwissenschaftlich relevanten Anteil, den auch und gerade Politologen übernehmen könnten, haben offenbar, wiederum von wenigen Ausnahmen abgesehen (Bordeaux), Soziologen und vor allem Sozialrechtler übernommen 237 . Aussichtsreiche Tätigkeitsbereiche für Politologen zeichnen sich zudem für die Zukunft zum einen in der Journalistenausbildung ab, für die es in Frankreich sehr viel stärker als in Deutschland auch universitäre A u s b i l d u n g s a n g e b o t e gibt (z. B. a m Institut universitaire

de technologie

von

Bordeaux, sowie an den Universitäten von Aix-Marseille und Paris II). Zum anderen wünscht sich Lagroye in seinen Abschlußempfehlungen eine stärkere Beteiligung der Politologen an den 1991 in jeder Region geschaffenen, universitären Lehrerausbildungsstätten (Instituts universitaires

des ma/fres)

238

de

formation

, ein Bereich, auf den die Politologen insgesamt bislang eher

geringen Einfluß hatten, was interessanterweise aber auch speziell für die Ausbildung der Sozialkundelehrer galt bzw. noch gilt 239 .

4. Schluß Dieser Beitrag konnte nur einige Aspekte der Konstituierung und wissenschaftssoziologischen Entwicklung der Politikwissenschaft als eigenständige Disziplin in Frankreich seit 1945 aufzeigen. Weitere Untersuchungen wie z.B. zur Organisation und thematischen Differenzierung der politikwissenschaftlichen

Forschung,

zur

Selbstorganisation

der

Politikwissenschaftler

als

"scientific Community", zur Entwicklung der Beziehungen des Fachs zu anderen Disziplinen in Lehre und Forschung, insbesondere zur Soziologie, zur Geschichte und zur Philosophie, zur beruflichen Integration der politikwissenschaftlich ausgebildeten Studenten, usw. würden helfen, das Bild zu vervollständigen. Nicht zuletzt wären auch Untersuchungen zur Intensität und zu den Dimensionen der internationalen Kooperation der französischen Politikwissenschaftler in Lehre und Forschung aufschlußreich für das Verständnis der Perzeption der französischen Politikwissenschaft im Ausland, sowie für 237

Lagroye, 1992, S. 15

238

Lagroye, 1992, S. 32

239

Siehe hierzu eine recht aufschlußreiche Sammlung von Beiträgen zu Ausbildung, pädagogischer Praxis und Selbstverständnis französischer Sozialkundelehrer, in: Centre National de Documentation Pédagogique: Sociologie politique, in der Reihe Documents pour l'enseignement économique et social, Nr. 81, Oktober 1990, 99 S.

190

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

die Wahrnehmung ausländischer Politikwissenschaften bzw. ihrer Vertreter in Frankreich. Gerade die deutsch-französische Kooperation in diesem Bereich böte sich als Fallbeispiel einer solchen Untersuchung an. Die von Hans Manfred Bock in einem kürzlich erschienenen Beitrag beklagte "souveräne (gegenseitige) Ignorierung" 240 deutscher und französischer Politikwissenschaftler ist angesichts der darüber hinaus engen deutsch-französischen Zusammenarbeit in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur ein Anachronismus.

240

Hans Manfred Bock: Sciences-Po zwischen Tradition und Innovation. Zur neueren Entwicklung der Politikwissenschaften in Frankreich, in: Lendemains, Nr. 75/76, 1994, S. 212226

Nationale Elitenbildung

191

Hans Manfred Bock

Nationale Eliten-Bildung und Ausbildung politischadministrativer Führungskräfte. Zum Modell der Sciences politiques in Frankreich

Wenn es richtig ist, daß das sozio-ökonomische System Frankreichs sich nach dem Ende des Seconde Empire im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts von der Notabein- zur Klassengesellschaft umformte und die "republikanische Synthese" fand, die dann von der Jahrhundertwende bis zu Beginn der dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts verbindlich blieb,241 dann ist nach der Stellung und Funktion der Sciences politiques in diesem Kontext zu fragen. Die École libre des Sciences Politiques entstand mit der Dritten Republik 1871 und endete in ihrer ursprünglichen Form mit dieser im Zweiten Weltkrieg, um dann in der Vierten und Fünften Republik mit verändertem rechtlichen Status in der sich umgestaltenden Hochschullandschaft die gleichbleibende gesellschaftliche Funktion der administrativen Eliten-Ausbildung wahrzunehmen.

1. Die Geburt der neueren Politikwissenschaft aus dem Bewußtsein der Krise Die École libre des Sciences Politiques entstand unmittelbar aus der "deutschen Krise des französischen Denkens" nach dem deutschfranzösischen Krieg von 1870/71.242 Sie sollte gemäß den Vorstellungen ihrer Gründer zur geistigen und moralischen Erneuerung der politischen und administrativen Führungskräfte des Landes beitragen und damit helfen, Frankreich aus seiner (vermeintlich überwiegend selbst verschuldeten) Niederlage und kollektiven Bewußtseinskrise herauszuführen. Der unmittelbare Gründer der Politik-Hochschule in Paris, der Publizist Emile Boutmy (1835-

241

Vgl. dazu Serge Berstein, Odile Rudelle (Hrsg.): Le modèle républicain, Paris 1992. Vgl. auch allgemein zur Gesellschaftsgeschichte Heinz-Gerhard Haupt: Sozialgeschichte Frankreichs seit 1789, Frankfurt/Main 1988.

242

Zum größeren gesellschaftlichen Kontext dieses Krisenbewußtseins s. Claude Digeon: La crise allemande de la pensée française 1870-1914, Paris 1992 (2. Aufl.).

192

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

1906), 2 4 3 schrieb im Februar 1871, nach weit verbreiteter und zutreffender Ansicht in Frankreich habe bei Königgrätz das Humboldtsche Universitätssystem gesiegt und man finde einen Ausweg aus der aktuellen Notlage des eigenen Landes nur mit Hilfe einer vergleichbaren resoluten Reform des Hochschulwesens. Wichtiger noch als die Neugestaltung und die Anhebung der allgemeinen Bildung sei gegenwärtig die Erneuerung der Eliten durch neue Initiativen im Universitätssystem; es gelte, "dem Volke den Kopf wiederherzustellen." Die Grandes Écoles (École Polytechnique, École Normale Supérieure) bereiteten auf rein berufliche, die Sorbonne sowie das Collège de France auf wissenschaftliche und intellektuelle Tätigkeiten vor. "Aber woher kommt der aufgeklärte Mann, der aufmerksam die großen geistigen Bewegungen seines Jahrhunderts beobachtet und fähig ist, sie zu mäßigen oder zu fördern? Woher kommt der urteilskräftige Bürger, der die politischen Fragen kompetent einschätzen kann und der fähig ist, stichhaltig zu diskutieren und die Meinung zu lenken? W o ist die Schule, die ihn ausbildet?" 244 Nach Boutmys Überzeugung durfte man die Entstehung eines solchen besonderen Kompetenz-Profils in den Eliten nicht dem Zufall überlassen, sondern man mußte

sie

vielmehr

gezielt

fördern

durch

zweckdienliche

Hochschul-

Einrichtungen. Die dann 1872 aus diesen Erwägungen von Emile Boutmy als nichtstaatliche Einrichtung ins Leben gerufene École libre des Sciences Politiques erwies sich in den folgenden Jahrzehnten als durchaus lebensfähig, allerdings um den Preis der fortgesetzten Anpassung der Politik-Hochschule an neue gesellschaftliche Anforderungen. 245

Im Ausland, wo weniger diese internen

Entwicklungen wahrgenommen, sondern vor allem die äußeren Ergebnisse, d.h. die Bedeutung der Hochschule für die Rekrutierung der politischen Führungs- und Verwaltungskräfte der Dritten Republik gesehen wurden, avancierte die École libre bald zum Mythos und wurde in mehreren europäischen Ländern zum Modell für eigene Neugründungen. 246 Die früheste dieser Parallelgründungen von Politik-Hochschulen fand 1875 in Florenz statt, wo Carlo Al243

Als Skizze einer intellektuellen Biographie Boutmys s. Pierre Favre: Les sciences d'État entre déterminisme et libéralisme. Emile Boutmy (1835-1906) et la création de l'École libre des sciences politiques, in: Revue française de sociologie, Jg. 1981, S. 429-465.

244

Emile Boutmy: Quelques idées sur la création d'une faculté libre d'enseignement supérieur, Paris 1871. Die Übersetzung der französischen Texte ist im folgenden - soweit nicht anders vermerkt - vom Verfasser des vorliegenden Aufsatzes.

245

Dazu Pierre Favre: Naissances de la science politique en France 1870-1914, Paris 1989, bes. S. 50ff.

246

S. die Hinweise auf diesen Modell-Charakter in Margarethe Rosenbauer: L'École libre des Sciences Politiques de 1871 à 1896. L'enseignement des sciences politiques sons la llle République, Diss. phil. Marburg/Lahn 1969, S. 216ff.

Nationale Elitenbildung

193

fieri der neuen Institution die Aufgabe zuwies, nach der Vollendung der staatlichen Vereinigung Italiens die Ausbildung einer gebildeten und kompetenten politischen Führungsschicht zu ermöglichen. Die wohl späteste Gründung einer Hochschule für Politik fand, rund fünfzig Jahre nach Emile Boutmys Pariser Unternehmung, 1920 in Deutschland statt, wo es - wie vordem in Frankreich - die Kriegsniederlage und die Nachkriegskrise waren, die den entscheidenden Anstoß für den Aufbau einer staatsunabhängigen Politik-Hochschule gaben.247 Die Analogien und die Grenzen der Vergleichbarkeit zwischen der Gründung der Pariser Institution im Januar 1872 und der Berliner "Deutschen Hochschule für Politik" im Oktober 1920 wurden bereits in der Eröffnungsrede eines der maßgeblichen Initiatoren der Neugründung am Schinkelplatz erörtert. Ernst Jäckh, langjähriger Mitarbeiter Friedrich Naumanns und linksliberaler Politiker in der Weimarer Republik, sowie Reichsaußenminister Walter Simons, wiesen in ihren Ansprachen anläßlich der Eröffnung der Berliner Politik-Hochschule auf die Pariser École libre des Sciences Politiques als Vorbild und als Gegenbild zugleich hin. Jäckh griff Emile Boutmys Diktum von der Berliner Reform-Universität, die bei Königgrätz gesiegt habe, wörtlich auf und replizierte: 'Wir können heute mit gleichem Recht sagen: Die École libre war es, die politisch im Weltkrieg siegte."248 Nach seiner Auffassung waren Anlaß und Ziel der Hochschul-Gründungen in der französischen Metropole nach 1871 und in der deutschen Hauptstadt nach 1918 ähnlich: In beiden Fällen sollten die Politik-Hochschulen nach der militärischen Niederlage zur inneren Erneuerung und Stabilisierung des nationalen Zusammenhalts beitragen. "Gemeinsam und gleich ist uns als geschichtliche Grundlage die bewußte Erinnerung an 1810, für Emile Boutmy anno 1872 wie für uns 1920: der nationale Idealismus soll wieder lebendig werden und fruchtbar werden."249 Nicht vergleichbar erschien Jäckh die Tiefe der Krise in Frankreich nach 1871 und in Deutschland nach 1918 und damit auch die Größe der politischen Erneuerungsaufgabe. Diesen Aspekt des deutsch-französischen Vergleichs führte gelegentlich ein anderer Repräsentant der Berliner Hochschule, Wilhelm Haas, in der folgenden Weise aus: "Beide Schöpfungen sind entstanden aus einem Unglück der Nation. Aber das Débâcle Frankreichs war die Folge eines

247

Der Wunsch, eine deutsche Hochschule für Politik einzurichten, wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg mit nachdrücklichem Hinweis auf die École libre in Paris diskutiert. S. dazu die Dokumentation in Antonio Missiroli: Die Deutsche Hochschule für Politik, Sankt Augustin 1988, bes. S. 104ff.

248

S. ebenda, S. 145-149 die Wiedergabe der Rede; Zitat S. 147.

249

Ebenda.

194

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

isolierten Duells, das unter den mißtrauischen Augen eines beobachtenden Europa stattfand, Deutschland brach unter dem Ansturm der vereinigten Welt zusammen, und der Wille, den Zusammenbruch zu verewigen, überdauerte den Krieg. Die Entstehung der französischen Hochschule darf man auffassen als ein Symptom der Elastizität, mit der sich ein großes Volk wieder aufrichten wollte, das im vollen Besitz seiner inneren und äußeren Reserven geblieben, und dessen nationaler Wille einig darin war, sich von der Vergangenheit weg einer tätigen Zukunft zuzuwenden, die das Verlorene wiederbringen sollte. Der Zustand dagegen, in dem sich Deutschland am Ende des Krieges befand, war der der totalen Erschöpfung, der restlosen Verbrauchtheit seiner psychischen und physischen Kräfte. [...] Der auf ein Ziel gerichtete einheitliche nationale Wille, der in Frankreich die selbstverständliche Grundlage abgab, konnte in Deutschland zunächst nur als Wunsch und Idee vorhanden sein. So erklärt es sich leicht, daß der heutige Stand und Besitz der Hochschule für Politik über Umweg und Hemmung erst erworben und gesichert werden mußte." 250 Daß die Pariser École libre des Sciences Politiques in diesen historischen Vergleichen der deutschen Beobachter in den zwanziger Jahren zugleich legitimationsstiftendes Vorbild für die eigene Initiative und nationalpolitisches Gegenbild war, wird faßbar in der divergierenden Einschätzung ihrer politischen Wirksamkeit von der deutschen und von der französischen Seite. Wenn Ernst Jäckh 251 in seiner Eröffnungs-Ansprache vom Oktober 1920 behauptete, die Pariser École libre habe politisch im Weltkrieg gesiegt, so bezog er dies auf ihre ideelle und ihre personelle Auswirkung. Hinsichtlich ihrer ideologischen Wirkungsmächtigkeit formuliert er seinen Eindruck: "Die Einheitlichkeit des Willens, die Klarheit des Zieles, die Erkenntnis der Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die Ausdauer der nationalen Energien - für all das war die Schulung der französischen Führer in der Pariser École durch eine ganze Generation hindurch die große Kraftquelle - für die geistige Führung wie für die geführte Volkseinheit."252 Hinsichtlich der personellen Rekrutierungsfunktion der von Boutmy gegründeten Politik-Hochschule war sich Jäckh mit dem derzeitigen deutschen Außenminister in dem Urteil einig, daß "jeder einflußstarke Politiker Frankreichs, ob Parlamentarier oder Minister, ob Diplomat oder Journalist [...] seine Materialkenntnis, sein point de vue, seine 250

Wilhelm Haas: Deutsche Hochschule für Politik, in: Europäische Revue, Jg. 1927, S. 54.

251

Zu Ernst Jäckh s. Alfons Söllner: Gruppenbild mit Jäckh, in: Gerhard Göhler, Bodo Zeuner (Hrsg.): Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Politikwissenschaft, Baden-Baden 1991, S. 41ff.

252

S. den Text in Antonio Missiroli, a. a. O., S. 147.

Nationale Elitenbildung

195

Willensbildung wesentlich in und aus der Pariser école bezogen" habe. 253 Hier wurde ganz offensichtlich die Rolle der Pariser Politik-Hocbschule für die Ausprägung der politischen Kultur in Frankreich übersteigert, teils um eine Erklärung für die Niederlage zu finden, teils um die Bedeutung der eigenen Neugründung ins rechte Licht zu rücken. Daß die Einschätzung der Effizienz der Hochschule in der Pariser rue Saint-Guillaume254 bei deren Insidern sehr viel nüchterner ausfiel, zeigt eine Darstellung ihres Stellvertretenden Direktors, die dieser 1927 in einer deutschen Zeitschrift veröffentlichte.255 Charles Dupuis, seit 1895 Generalsekretär der École libre des Sciences Politiques,256 hielt in der frühen Locarno-Ära an der Deutschen Hochschule für Politik einen Vortrag über die Erfahrungen der eigenen Institution bezüglich der Verbesserung des intellektuellen und moralischen Niveaus der politischen Klasse und kam zu nachgerade resignativen Schlüssen. Dupuis erinnerte daran, daß gerade die in der Katastrophe zutage getretenen Unzulänglichkeiten der politischen Elite der Nation der Ausgangspunkt der Überlegungen Emile Boutmys für die Gründung seiner Hochschule gewesen war. Und er konstatierte nach mehr als einem halben Jahrhundert Erfahrungen, daß die weit gesteckten Ziele ihres Gründers, nämlich die geistig-moralische Bildung der Inhaber politischer Führungspositionen zu verbessern, nicht erreicht worden seien. "Nach Absicht ihrer Gründer sollte ihr Unterricht aller liberalen Erziehung die letzte Vollendung geben. Sie hatten davon geträumt, vor allem die kultivierten und uneigennützigen Geister an sich zu ziehen, die begierig wären zu lernen, was aufgeklärte Bürger wissen müssen, um die öffentlichen Angelegenheiten zu verstehen, zu verfolgen, zu kontrollieren und, gegebenenfalls, zu leiten. Sie hatten sich der Hoffnung hingegeben, daß die Elite der Nation ihnen in ihrem Bestreben folgen würde, sich zu unterrichten, durch Wissen den Anspruch auf moralische Autorität, durch Fähigkeit und Zuständigkeit das Recht auf Führung der Massen zu erobern. Es war jedoch nur eine ganz geringe Minderzahl redlicher Männer, die sich, von ihren geistigen Interessen oder dem Eifer für die öffentliche Wohlfahrt getrieben, um die Katheder Emile Boutmys, Paul Leroy-Beaulieus, Henri Gaidoz', Emile Levasseurs und Paul Janets scharten. Zukünftige Politiker waren besonders selten. Diese Tatsache läßt sich nur allzu leicht erklären. Das 253 Ebenda. 254

Im Jahre 1882 zog die École libre in das Stammgebäude in der rue Saint-Guillaume ein, das noch heute einen großen Teil der Veranstaltungsräume und Lesesäle beherbergt. S. dazu Pierre Rain: L'École libre des Sciences Politiques 1871-1945, Paris 1963, S. 31ff.

255 Europäische Revue, Jg. 1927, S. 50ff. 256

S. sein Kurzporträt in Pierre Rain, a. a. O., S. 44f.

196

Kapitel III: Politikwissenschaff in West- und Südeuropa

allgemeine Wahlrecht und die demokratische Orientierung verlangten, zu Zwecken des Wählerfangs, andere Versprechungen und andere Vorteile als das Studium der Geschichte, Europas oder der Finanzen. Die École des Sciences Politiques lehrte nicht die Kunst, ein Abgeordnetenmandat zu erjagen; sie lehrte nur das Wissen, das unerläßlich war, um dieses Mandat gut auszuüben. Das aber interessierte die allzu zahlreichen Politiker nicht, die mehr von Machtgier, Ehrgeiz und Gewinnsucht getrieben werden als von der Sorge, die für die schwere Kunst des Regierens erforderlichen Kenntnisse zu erwerben."257 Der Generalsekretär der École libre des Sciences Politiques konstatierte also nach mehr als fünf Jahrzehnten das weitgehende Scheitern des Ziels der wissenschaftlichen Bildung der politischen Eliten, des primären Zwecks der Hochschulgründung Boutmys. Er sah die Grundlage ihrer Konsolidierung über die Jahrzehnte hin nicht in der wissenschaftlich angeleiteten politischen Eliten-Bildung, sondern in der erfolgreichen Praxis der Ausbildung administrativer und diplomatischer Führungskräfte in der rue Saint-Guillaume: "Wenn die von politischem Ehrgeiz gequälten jungen Leute die École des Sciences Politiques zumeist nicht kannten oder verachteten, so wurden die Anwärter auf die diplomatische und administrative Laufbahn durch die Neuheit und Ursprünglichkeit des Unterrichts von ihr angezogen."258 Tatsächlich resultierte die Attraktivität der Pariser Politik-Hochschule nicht aus ihrem primären nationalpolitischen Erneuerungs-lmpetus, sondern - nach einem eher widerwillig vollzogenen Professionalisierungsvorgang - aus ihrer anfangs für nebensächlich angesehenen Schleusen-Funktion für den Zugang zu politisch-administrativen Karrieren, die über die nationalen Wettbewerbs-Prüfungen reguliert wurde.259 In der Wahrnehmung der deutschen Beobachter wurde dieser Aspekt hypostasiert und damit die gesellschaftliche und politische Bedeutung des Traditions-Instituts in Paris pauschal überbewertet. Daß man dieses übersteigerte Gegenbild aus eigenlegitimatorischen Gründen brauchte, wird greifbar, wenn z. B. Theodor Heuss, neben Ernst Jäckh einer der Gründerväter der Berliner PolitikHochschule, in einem Porträt dieser Berliner Institution die Aufnahme ausländischer Studenten im Jahre 1926 mit den folgenden Betrachtungen rechtfertigte: "Wir reden in diesem Zusammenhang gar nicht davon, daß dort, wo ein Vertrauens- und ein Dankverhältnis entstand, es für Deutschland schlechthin wertvoll sein mag, im fremden Land Journalisten und Beamte zu wissen, die 257

Charles Dupuis in: Europäische Revue, Jg. 1927, S. 51.

258

Ebenda, S. 52.

259

Vgl. dazu kursorisch Gérard Vincent: Sciences Politiques. Histoire d'une réussite, Paris 1988, S. 61ff. Zu dieser Entwicklung s. auch Kapitel 2 des vorliegenden Aufsatzes.

Nationale Elitenbildung

197

nun nicht bloß auf die große Propagandaanstalt der École libre des sciences politiques in Paris zurückblicken, sondern ihrer politischen Studienzeit in Berlin verbunden bleiben."260

2. Die École libre des Sciences Politiques in der Dritten Republik: Die Modernisierung der Notabeln-Gesellschaft In der langen Existenz der École libre des Sciences Politiques von Beginn der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts bis zu Beginn der vierziger Jahre unseres Jahrhunderts sind in der Arbeit dieser Pariser Institution erstaunliche strukturelle Beharrungskräfte und ein eher ungewollter funktionaler Wandel feststellbar. Die Elemente der Beharrung und Kontinuität finden sich ausgeprägt in der Struktur ihrer gesellschaftlichen Trägergruppen, in ihrer rechtlichen Status-Zuweisung und in der Rekrutierung ihrer Klientel. Der nicht beabsichtigte, aber schon im 19. Jahrhundert vollzogene Wandel ist beobachtbar in der gesellschaftlichen Funktion der École libre. Die Eröffnung der Pariser Politik-Hochschule im Januar 1872 fand außerhalb der Universität statt, die in ihrer 1808 dekretierten Gestalt der "Université impériale" als ungeeignet galt für Innovationen.261 Damit stellte sich für den Gründer der École libre das Problem, neben der geistigen Unterstützung für die geplante Institution auch eine materielle Grundlage zu schaffen. Während die intellektuelle Hilfestellung für Boutmys Projekt breit war und von führenden Repräsentanten des kulturellen Lebens (Hippolyte Taine, Ernest Renan) bereitwillig geleistet wurde,262 fand der private Hochschulgründer die finanzielle Basis überwiegend in den Kreisen protestantischer Bankiers, Industrieller und hoher Beamter.263 Es waren - nicht ausschließlich, aber überproportional vertreten - Angehörige der protestantischen Minderheit in Frankreich, die für die Auffassung zu gewinnen waren, daß die erworbenen sozio-ökonomischen Machtpositionen nur um den Preis individueller Bildungsanstrengung und wis260

Theodor Heuss: Deutsche Hochschule für Politik, in: Weltpolitische Bildungsarbeit an Preußischen Hochschulen. Festschrift Carl Heinrich Becker, Berlin 1926, S. 162.

261

Zur französischen Universität im 19. Jahrhundert s. Christophe Charle: La république des universitaires 1870-1940, Paris 1994, bes. 61 ff.

262 Auszüge aus den entsprechende Stellungnahmen abgedruckt in: Politix. Science Politique, Jg. 1987, Nr. 3, S. 149ff„ dort Texte von Boutmy, François Guizot, Edouard Laboulaye und Hippolyte Taine. 263

Dies belegt detailliert Dominique Damamme: Genèse sociale d'une institution scolaire. L'école libre des sciences politiques, in: Actes de la recherche en sciences sociales, Jg. 1987, Nr. 70, S 31-46.

198

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

senschaftlichen Kompetenzerwerbs zu behaupten seien. 2 6 4 Dies war eines der zentralen Argumente Boutmys für die Einrichtung einer PolitikHochschule: Ihr Lehrangebot sollte sich an die "gehobenen Klassen" richten, deren politisches Übergewicht nach der Kriegsniederlage und dem Schock des Kommune-Aufstandes von 1871 bedroht sei. Diese Gesellschaftsschichten könnten angesichts des Drucks der großen Zahl in der Demokratie ihre "politische Hegemonie nur dann bewahren, wenn sie sich auf das Recht der höheren Fähigkeiten zu berufen" vermöchten. 265 Dieser Appell Boutmys an die gesellschaftlichen Notabein, sich nicht mehr allein auf ihre erworbenen Rechte zu stützen, sondern ihre Legitimität zu sichern durch höhere Leistungsfähigkeit, überzeugte die Anteilseigner der Aktiengesellschaft (ohne Gewinnausschüttung), die ihm das Gründungskapital für die École libre zur Verfügung stellten. Finanziell existenzfähig wurde die Neugründung dann erst durch teilweise üppige Schenkungen ihrer großbürgerlichen und aristokratischen Gönner und später aufgrund der wachsenden Bedeutung der Einschreibungsgebühren der stets zunehmenden Zahl der Studenten. Bis zur Auflösung der Boutmyschen Ecole libre im Jahre 1945 blieb das Kapital der Aktiengesellschaft der finanzielle Grundstock des Unternehmens. 2 6 6 Die private Hochschul-Gründung Boutmys war 1872 nicht der erste Versuch in Frankreich, eine besondere Bildungseinrichtung für die Qualifizierung des Spitzenpersonals der öffentlichen Verwaltung aufzubauen. Die naheliegende Möglichkeit der rechtlichen Verortung einer solchen Gründungsinitiative war die seit der Revolution von 1789 entstandene Parallelstruktur tertiärer Bildung, die in den Grandes Écoles wie der École Polytechnique oder der École Normale Supérieure neben der Universität Gestalt angenommen hatte. Allerdings waren diese Grandes Écoles allesamt an einzelne Ministerien angebunden und hatten somit einen öffentlich-rechtlichen Status. In diese Richtung zielten daher auch die Pläne und Versuche einer institutionellen Absicherung für die bessere Qualifizierung des politischen und administrativen Personals ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Der erste Anlauf erfolgte 1848, als der Erziehungsminister der provisorischen Regierung eine kurzfristig vorbereitete École d'administration eröffnete, die im internen Reglement der 264

Dieselbe Initiativrolle protestantischer bürgerlicher Notabein ist nachweisbar bei der Gründung einer anderen Pariser Reform-Institution mit stärker sozialpolitischer Zielsetzung, dem 1894 eröffneten Musée social. S. dazu Jane Regina Hörne: Republican social reform in France. The case of the Musée social 1894-1914, Ann Arbor 1991.

265

Emile Boutmy: Quelques idées sur la création d'une Faculté libre d'enseignement supérieur, Paris 1871, S. 14f.

266

Vgl. Gérard Vincent, a.a.O., S. 110. Die Aktiengesellschaft, die niemals Dividende ausgeschüttet hatte, übergab ihr Eigentum der Republik.

Nationale Elitenbildung

199

École Polytechnique nachgebildet und anfangs an das Collège de France, eine andere außeruniversitäre Institution, angebunden war. 2 6 7 Diese École d'administration, die ihre Studierenden nach dem Prinzip des "élitisme républicain" in streng selektiven Wettbewerbsprüfungen auswählte, existierte nur von Juli 1848 bis August 1849 und wurde ein Opfer der politischen Wechselfälle der 48er Revolution. Ihr Lehrplan sah Elemente des vergleichenden und internationalen Rechts sowie der Wirtschaftswissenschaften und Statistik vor. Der zweite Versuch, eine Vorbereitungs-Hochschule für politische Spitzenbeamte zu instituieren, folgte dann 1869, als einer der letzten Erziehungsminister des Second Empire die außeruniversitäre École Pratique des Hautes Études (EPHE) um eine Sektion für Wirtschaftswissenschaften erweiterte. Die E P H E war im Jahre 1868 von Napoleon III. ins Leben gerufen worden, um die Forschungskapazität der französischen Hochschuleinrichtungen zu verbessern. Deren Stand wurde - im Vergleich mit den deutschen Universitäten - in Frankreich selbst sehr kritisch gesehen. 2 6 8 Die neue 5. Sektion für Wirtschaftswissenschaften sollte die Industrialisierung und den sozialen Frieden befördern. Sie sollte gemäß ihrem Gründungs-Erlaß politische Ökonomie, Finanzwesen, öffentliches Recht (unter besonderer Berücksichtigung des Verwaltungsrechts) und Statistik lehren. Auch dieser zweite Anlauf einer staatlichen Gründung scheiterte an politischen Revirements, als der Initiator (Victor Duruy) im Juli 1869 sein Ministeramt verlor und das Projekt der 5. Sektion der E P H E fallen gelassen wurde. 2 6 9 In der Folgezeit erfüllte die École libre des Sciences Politiques einen Teil der Funktionen, die eine staatliche Spezialhochschule für die Ausbildung des höheren politisch-administrativen Personals hätte ausüben sollen. Es wurde noch lange Zeit als paradox angesehen, daß eine private Hochschule wie die École libre je länger, je mehr die Ausbildungsaufgabe für die Rekrutierung der staatlichen Haute Administration wahrnahm. So gab es 1877 noch einmal eine Initiative für die Wiedergründung der 1849 gescheiterten staatlichen École nationale d'Administration, deren Gelingen die weitere Arbeit der École libre in Frage gestellt hätte. 2 7 0 Jules Ferry, der maßgebliche Bildungsreformer der frühen Dritten Republik, entschied sich danach in den achtziger Jahren für die Institution Boutmys, die

267 268

Vgl. dazu umfassend Guy Thuillier: L'ENA avant l'ENA, Paris 1983. Dazu Brigitte Mazon: Aux origines de l'École des Hautes Études en Sciences Sociales. Le rôle du mécénat américain (1920-1960), Paris 1988, S. 17ff. Zur Bedeutung des Vergleichs in Frankreich mit den deutschen Universitäten s. auch Christophe Charle: La République des universitaires (a.a.O.), S. 21ff.

269

Brigitte Mazon, a.a.O., S. 21.

270

Dazu zusammenfassend Gérard Vincent, a.a.O., S. 68ff.

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

dabei war, sich zu einer praxisorientierten Verwaltungs-Hochschule zu entwickeln. Die Infragestellung der Politik-Hochschule in der rue Saint-Guillaume durch die Schaffung einer staatlichen Verwaltungs-Hochschule begleitete deren Geschichte auch im 20. Jahrhundert. Hier kam eine neue Initiative für die Errichtung einer staatlichen Ausbildungs-Institution für den höheren öffentlichen Dienst vom Erziehungsminister der Volksfront-Regierung. Dessen Pläne für die École nationale d'Administration nahmen einige Grundideen von 1848 wieder auf und gelangten 1938 zur Abstimmung und Annahme im Parlament, wurden jedoch im Senat dilatorisch behandelt und schließlich ein Opfer des Kriegsbeginns 1939. Die Direktoren der École libre hatten seit Emile Boumty die Infragestellungen ihres privaten Rechts-Status niemals frontal abzuwehren versucht, sondern Kompromisse angestrebt und auf solide Unterstützung aus Gesellschaft und Politik zählen können, mit deren wichtigsten Repräsentanten sie ein dichtes Beziehungsnetz verband. Erst der Zusammenbruch dieses Gesellschafts- und Verfassungs-Systems der Dritten Republik machte die Neuordnung des rechtlichen Status der Pariser Politik-Hochschule unabwendbar.271 Die Studierenden der privaten Politik-Hochschule in der Dritten Republik kamen überwiegend aus den Gesellschaftsschichten, die durch Eigentum und Bildung privilegiert waren. Durchbrochen wurde diese Regel aufgrund einiger Stipendien, die seit den Anfangsjahren von der Banque de France, dem Crédit foncier und einer Eisenbahngesellschaft an verdiente und begabte Mitarbeiter zum Studium an der École libre vergeben wurden. Die Zahl der in "Sciences-Po" Eingeschriebenen wuchs beständig, ihre soziale Zusammensetzung veränderte sich indes nur langsam. Man begann 1872 mit 95 Hörern, zählte 1880 rund 220, 1890: 360 und registrierte vor dem Ersten Weltkrieg etwa 800 Studenten in der rue Saint-Guillaume.272 Während der Kriegsjahre fiel die Hörerzahl auf den Stand von 1872 zurück, stieg aber sprungartig an nach der Demobilisierung und man zählte 1919 wieder 800 Studierende, darunter 150 Ausländer und (erstmals in der Geschichte des Hauses) auch 6 Frauen. Im Studienjahr 1938/39 zählte Sciences Politiques rund 1800 Einschreibungen, ohne daß sich deren soziales Profil wesentlich verändert hätte. Der linksliberale Erziehungsminister der Volksfront-Regierung begründete zur selben Zeit seinen Plan der Ersetzung der École libre durch eine staatliche Hochschule mit dem Argument, daß ihre Rekrutierung rein bürgerlich geblie271

Eine Reihe von internen Reformen waren schon in den späten dreißiger Jahren begonnen worden. S. dazu Jacques Chapsal: L'École et la guerre. La transformation de son statut 1939-1945, in: Pierre Rain, a.a.O., S. 114ff.

272 vgl. die Übersicht bei Gérard Vincent, a.a.O., S. 66. S. auch Pierre Rain, a.a.O., S. 102.

Nationale Elitenbildung

201

ben sei und daß sie mit orthodox-liberalen Konzepten die Probleme der Gegenwart zu lösen versuche. 273 Anhand der (eher spärlichen) empirischen Daten über die Herkunft der französischen Studierenden in "Sciences-Po" wird diese Charakterisierung durchaus bestätigt. In der Zeitspanne von 1885 bis 1913 kamen 83,1% dieser Studenten aus dem Groß- oder mittleren Bürgertum; damit war die soziale Rekrutierung der École libre dieser Zeit homogener als diejenige der École polytechnique oder der École Normale Supérieure. 274 Am Ende ihrer Existenz hatte sich das Sozialprofil der Pariser Politik-Hochschule zwar geringfügig verändert, aber 1944/45 waren immer noch über 70% ihrer Studenten Kinder aus Familien des großen und mittleren Bürgertums. 275 Der Schlüssel zum Verständnis dieser ungewöhnlich lange gleichbleibenden Sozialstruktur der Klientel von "Sciences-Po" liegt in der Neigung des gehobenen und mittleren Bürgertums der Dritten Republik, die Spitzenpositionen des expandierenden Bereichs der öffentlichen Verwaltung zu besetzen und durch ein hohes Maß an Selbstrekrutierung seinen Einfluß in Wirtschaft und Gesellschaft zu sichern. Die Gesellschaft der bürgerlichen Notabein modernisierte sich, ohne ihren exklusiven Charakter aufgeben zu müssen. Die gesellschaftliche Funktion der École libre wurde weitgehend von diesen Imperativen diktiert. Daß die Pariser Politik-Hochschule in der Dritten Republik weniger zur Anhebung der geistigen und moralischen Qualität der politischen Klasse, sondern vielmehr zur Professionalisierung der öffentlichen Verwaltung beitrug, war hauptsächlich bedingt durch die Beharrungs- und Anziehungskraft der Grands Corps de l'État, der für die politische Tradition Frankreichs charakteristischen zentralen Verwaltungsbehörden (Conseil d'État, Inspection des Finances, Cour des Comptes, diplomatische und präfektorale Spitzenpositionen). Boutmys Hochschulgründung sollte in erster Linie der Verbesserung der Sachkompetenz und der Bürgertugenden der politischen Akteure dienen; spätestens seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde sie statt dessen vorrangig zu einem Selektionsmechanismus für die Besetzung der prestigereichen Ämter in den Grands Corps. Obwohl diese Umkehrung der Prioritäten regelmäßig von den Repräsentanten der Hochschule bedauert wurde, gab es doch nie einen Zweifel daran, daß die erfolgreiche Vorberei273

Gerard Vincent, a.a.O., S. 105f.

274

Zu diesen soziologischen Aspekten s. vor allem Christophe Charte: Entre l'élite et le pouvoir, in: Le Débat. Histoire, politique, société, Jg. 1991, Nr. 64, S. 104ff.

275

Vgl. dazu auch die Zahlen in Robert J. Smith: The social origins of students of the École libre and the Institut d'Études politiques 1885-1970, in: History of Education, Jg. 1988, Nr. 3, S. 234.

202

Kapitel III: Politikwissenschaft

In West- und

Südeuropa

tung auf die Wettbewerbsprüfungen für die Aufnahme in die zentralen Verwaltungsbehörden der Republik die entscheidende Ursache für die beständig wachsende Zahl der Einschreibungen in der rue Saint-Guillaume war. In der Selbstdarstellung der Hochschule wurde diese Schleusenfunktion werbewirksam herausgehoben. So hieß es z. B. 1935, seit Beginn des 20. Jahrhunderts seien von 117 erfolgreichen Kandidaten für die Aufnahme in den Coseil d'État 113 Schüler von "Sciences-Po" gewesen, von 211 in der Inspection des Finances 202, von 92 in der Cour des Comptes 82 und von 280 Neuaufnahmen im Diplomatischen Dienst seien 246 Absolventen der École libre gewesen.276 Wenngleich diese Erfolgsbilanz nicht ganz glaubwürdig ist,277 so war doch die führende Rolle der Politik-Hochschule in der Vorbereitung von administrativen Elite-Karrieren im Laufe der Dritten Republik immer deutlicher ausgeprägt. Man hat die enge Verknüpfung zwischen Sciences-Po und den Grands Corps auch in der Zusammensetzung des Lehrpersonals nachgewiesen, das seit den Anfängen der Hochschule überwiegend aus Lehrbeauftragten besteht, die aus den Berufsfeldern kommen, die das Ziel des Ehrgeizes der Studierenden in der rue Saint-Guillaume sind. Im Zeitabschnitt von der Jahrhundertwende bis Ende der dreißiger Jahre ging die Zahl der Dozenten, die ein generalistisches Profil aufwiesen, in dem Maße zurück wie die Zahl der Lehrenden zunahm, die ihrem Hauptberuf in den Grands Corps nachgingen.278 Das bedeutete, daß die Lehre immer ausschließlicher zu einem Wissenstransfer aus der Praxis für die Praxis wurde und für die epistomologischen Fragen der Politikanalyse wenig Raum blieb. Die informelle, aber enge Verbindung zwischen der École libre und den nationalen Spitzenverwaltungen wurde nicht zuletzt gefördert und gepflegt durch die Arbeit der bereits 1875 gegründeten Ehemaligen-Vereinigung, der Société des anciens élèves et élèves, in der auch eine Reihe einflußreicher Politiker aktiv war.279 Die Tendenz der École libre, einen eigenen Corpsgeist hervorzubringen, wurde durch diese vielgestaltige Wechselbeziehung mit den Grands Corps nachhaltig verstärkt. Sie trug dazu bei, daß eine Art geschlossener Kreislauf und Kooptationsbeziehungen zwischen beiden Institutionen entstanden, die zu den Erstarrungserscheinungen im intellektuellen Leben in der rue Saint-Guillaume führ-

276 pjerre Rain, a.a.O., S. 90. 277

Kritische Diskussion dieser Zahlen bei Pierre Favre (Naissances de la science politique, a.a.O., S. 41), der darauf hinweist, daß bei diesen Erfolgsmeldungen der École libre auch die Studenten vereinnahmt werden, die nur die externen Vorbereitungskurse und nicht den vollen Studiengang in der rue Saint-Guillaume absolviert haben.

278

Christophe Charte: Entre l'élite et le pouvoir (a.a.O.), S. 99ff.

279

S. Pierre Rain, a.a.O., S. 34f.

Nationale Elitenbildung

203

te, die in der Zwischenkriegszeit zunehmend zum Gegenstand der Kritik an der École libre wurden. Die Lehrpläne der Pariser Politik-Hochschule wurden weitgehend bestimmt durch ihr Hauptziel der Vorbereitung für die Aufnahmeprüfungen in die Haute Administration. Zu Lebzeiten Boutmys war die Programmstruktur der Lehre zuerst gegliedert in zwei Sektionen, die "Section diplomatique" und die "Section administrative et financière."280 In der ersten Abteilung der Hochschule wurde angeboten: Diplomatiegeschichte seit dem Westfälischen Frieden, Völkerrecht und internationales Vertragsrecht, vergleichendes Handelsrecht, Statistik und Wirtschaft, Zoll- und Handelsrecht sowie Wirtschaftsgeographie. In der anderen Sektion ("Verwaltung und Finanzen") standen im Mittelpunkt des Lehrkanons: Die Organisation der öffentlichen Institutionen, Verwaltungs- und Finanzwesen, öffentlicher Haushalt, vergleichendes Verfassungsrecht, vergleichendes Privatrecht, politische Ökonomie und Geschichte des Parlamentarismus in Frankreich. In beiden Sektionen war das Erlernen der englischen und der deutschen Sprache verbindlich. Es entstand dann schon vor der Jahrhundertwende ein Organisationsmuster von 5 Sektionen, deren Lehrinhalte für unterschiedliche Tätigkeitsfelder die erforderlichen Kenntnisse bereitstellen sollten: Traditionell zogen in der École libre die Sektion "Wirtschaft und Finanzen" sowie "Diplomatie" die meisten Studierenden an.281 Daneben wuchsen in der Periode von 1900 bis 1939 die Einschreibungen in den Sektoren "Verwaltung" und "Allgemeines" überproportional zum Anstieg der Studentenzahlen an, während die Sektion "Wirtschaft und Soziales" ihre Bedeutung verlor. Versuche, diesen Lehrkanon um andere Sektionen zu ergänzen (z.B. durch eine Sektion "Kolonialwesen" im Jahre 1887 282 ) erwiesen sich als nicht dauerhaft. Gemäß den curricularen Grundsätzen Emile Boutmys von 1872 sollte die Lehre in Sciences-Po europäisch vergleichend, gegenwartsbezogen und historisch-kritisch hinsichtlich ihrer Methoden sein.283 Ob diese (recht aktuell anmutenden) Prinzipien tatsächlich in der Lehrpraxis vorherrschten, kann kaum überprüft werden und mag zweifelhaft sein. Weniger zweifelhaft ist es hingegen, daß in der rue SaintGuillaume schon sehr früh eine besondere Lehrmethode eingeführt wurde,

280 vg| dazu besonders Margarethe Rosenbauer, a.a.O., S. 92ff. 281

S. Pierre Rain, a.a.O., S. 102. Vgl. auch Margarethe Rosenbauer, a.a.O., Bd. 2, S. 1 ff.

282

Diese Sektion wurde 1892 wieder geschlossen und ihre Lehrinhalte auf die anderen Sektionen verteilt. 1889 wurde eine staatliche École coloniale française gegründet. Vgl. auch Margarethe Rosenbauer, a.a.O., S. 107ff.

283

So Emile Boutmy in seiner Werbeschrift für die École libre, abgedruckt in Pierre Rain, a.a.O., Anhang; dort S. 6 (nicht paginiert).

204

Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und

Sildeuropa

die zum Teil die allenthalben belegte Prägekraft des Hauses als Sozialisations-lnstanz begründete. Bereits ab 1873 wurde von Emile Boutmy neben dem frontalen Vorlesungsbetrieb die "conférence" eingeführt, die eine unmittelbare seminaristische Form der Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden ermöglichte.284 Diese (wahrscheinlich vom Beispiel der Seminare an den deutschen Universitäten übernommene285 ) Komponente im Lehrbetrieb von Sciences-Po wurde experimentierend weiterentwickelt und blieb eines ihrer besonderen Merkmale. Neben den faktischen sozialen Auslesefaktoren Besitz und Vorbildung gab es in der École libre jahrzehntelang keinerlei formale Aufnahmebedingung. Erst 1931 wurde das Abitur zur Voraussetzung für die französischen Bewerber, und für die (mit rund 10% relativ zahlreichen) ausländischen Studenten wurde eine Sprachprüfung obligatorisch. Die École libre des Sciences Politiques hatte im europäischen Kontext eine Schrittmacherrolle für die institutionelle Konstituierung der Politikwissenschaften als eigene Disziplin.Von einer ähnlich innovatorischen Rolle bezüglich der wissenschaftstheoretischen und forschungspraktischen Grundlegung moderner Politikwissenschaft kann hingegen (nach dem vergleichenden Urteil französischer Wissenschaftshistoriker) nicht die Rede sein. Die Sciences politiques stellten sich am Ende ihrer überwiegend institutionellen Konstituierungsperiode in Frankreich um die Jahrhundertwende dar als ein Ensemble von "technischen Wissensbeständen, deren Kenntnis für die Verwaltungsfachleute unentbehrlich ist (Wirtschaft, Finanzen, Haushalts- und Verwaltungsrecht)" und deren Ergebnisse "in ritualisierter Darstellung" vorgetragen wurden, in der "die elegante Form viel zählte"; "sie umgingen also die wissenschaftliche Forschung im eigentlichen Sinne, die an den konzeptualisierten Ausdruck des Wissens gebunden ist."286 Man hat nachzuweisen versucht, daß diese Umgehung wissenschaftstheoretischer und konzeptueller Begründung der Politikwissenschaften die Fortexistenz der traditionellen philosophisch-normativen "Sciences morales et politiques"287 über die Jahrhundertwende hinaus ermöglichte. Die Vorherrschaft dieser vonwissenschaftlichen Denktradition wurde vor dem Ersten Weltkrieg zwar erschüttert, aber nicht beseitigt durch drei

284

Dazu a m ausführlichsten Margarethe Rosenbauer, a.a.O., S. 120ff.

285

Die "Modelle", die für die Praxis der Institution Pate gestanden haben, werden erörtert bei Christophe Charle: La République des universitaires (a.a.O.), S. 441f.

286

So Pierre Favre: Histoire de la science politique, in: Madeleine Grawitz/Jean Leca (Hrsg.): Traité de science politique, Paris 1985, Bd. 1, S. 31.

287

Diese Art des politisch-moralischen Raisonnements hat ihren institutionellen Ort in der Académie des Sciences morales et politiques, der jüngsten (1832 gegründeten) der fünf Akademien des Institut de France.

Nationale Elitenbildung

205

neue Konzeptualisierungsansätze:288 Eine an den Methoden der Naturwissenschaften orientierte Denkweise, die republikanisch und antireligiös motiviert war, wollte die Politikwissenschaften als "positive Wissenschaft" begründen; sie vermochte jedoch nicht, sich gegen die philosophisch-normative Tradition durchzusetzen, mit der sie eine Reihe uneingestandener Gemeinsamkeiten aufwies. Teilweise identisch mit der Entstehung des Verwaltungsrechts zeichnete sich gegen Ende des Jahrhunderts ein staatswissenschaftlicher Konzeptualisierungsansatz ab, der (mit dem Blick auf die älteren Vorläufer der Kameralwissenschaften in Deutschland) sich u.a. mit dem Namen "sciences camérales" zu profilieren versuchte. Überaus einflußreich war schließlich in der die Politik analysierenden Literatur der letzten Vorkriegsjahrzehnte eine Art sozialpsychologische Argumentation, die - teils völkerpsychologisch, teils massenpsychologisch ausgelegt - beanspruchte, die Mechanismen des kollektiven Verhaltens aufzudecken. Während diese Konzeptualisierungsversuche ihre Konjunkturen hatten, ohne neue epistomologische Grundlagen zu hinterlassen, hatten die wahlgeographischen Fragestellungen, die André Siegfried in seinem Buch "Tableau politique de la France de l'Ouest" (1913) skizzierte, jahrzehntelang kaum Resonanz und wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem besonderen Forschungskonzept der französischen Politikwissenschaft weiterentwickelt.289 Um die Jahrhundertwende reklamierten die Rechts-Fakultäten für sich die Zuständigkeit für die Lehre der Wirtschafts- und Politik-Wissenschaften, die philosophische Fakultät (Lettres) beherbergte die Soziologie und beide schlössen sich gegeneinander ab.290 Die Sozialwissenschaften begannen erst im 20. Jahrhundert einen mühsamen Weg ihrer Institutionalisierung, der wesentlich von außeruniversitären Kräften geebnet wurde.291 In der engeren fachlichen Nachbarschaft der École libre des Sciences politiques entstand Anfang 1935 mit Hilfe der RockefellerStiftung ein Centre de politique étrangère, das nach dem Willen seiner Gründer eine politikberatende Funktion nach dem Vorbild des Londoner Chatham House erfüllen sollte.292 288 Das Folgende nach der sehr eingehenden Studie Pierre Favre: Naissances de la science politique (a.a.O.), S. 51 ff. 289

Vgl. dazu ebenda, S. 235ff.

290

S. ebenda, S. 127ff.

291

292

S. Brigitte Mazon, a.a.O., S. Im Jahr 1920 wurde aufgrund einer Stiftungs-Initiative an der École Normale Supérieure ein "Centre de documentation sociale" (Celestin Bouglé) gegründet. 1933 begann das "Institut scientifique de recherches économiques et sociales" zu arbeiten, das von dem Ökonomen Charles Rist (wiederum ein Vertreter des französischen Protestantismus!) mit der Hilfe der Rockefeller-Stiftung ins Leben gerufen wurde. Vgl. dazu die Skizzen bei Brigitte Mazon, a.a.O., S. 31ff. und S. 43ff. S. ebenda, S. 59f.

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Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und

Südeuropa

3. Die Fondation Nationale des Sciences Politiques und die Instituts d'Études Politiques in der 4. und 5. Republik: Die Imperative der Modernisierung und Demokratisierung von Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft Nach der militärischen Niederlage von 1940, dem autoritären VichyRegime und der Befreiung Frankreichs im Herbst 1944 waren sich alle maßgeblichen politischen Kräfte, die aus der Résistance hervorgegangen waren, einig in der Überzeugung, daß der Wiederaufbau des Landes im Zeichen der Modernisierung und Demokratisierung stehen müsse und daß die Neuordnung der öffentlichen Verwaltung deren Voraussetzung sei. So wurden seit Frühjahr 1945 unter der Leitung eines engen Mitarbeiters von General de Gaulle, Michel Debré, konkrete Planungen für die Neugestaltung des gesamten öffentlichen Dienstes und vorrangig für die Reform der Ausbildung seines Spitzenpersonals vorgenommen. Sie mündeten am 9. Oktober 1945 ein in die Verordnung (ENA).

293

über

die Schaffung der

École

Nationale

d'Administration

Die Gründung der ENA und die mit ihr verbundene Status- und

Funktions-Veränderung von Sciences-Po sind das wichtigste Datum in der Institutionalisierungsgeschichte der Politikwissenschaften in Frankreich seit der Gründung der École libre durch Emile Boutmy. In den Vorüberlegungen zur Gründung der ENA spielte die Kritik an den Unzulänglichkeiten der alten Politik-Hochschule eine richtungweisende Rolle. Es sollten folgende ihrer Funktionsschwächen in der neuen Ausbildungs-Institution für die Haute Administration vermieden werden: die auf das große und mittlere Bürgertum und auf Paris zentrierte Rekrutierung, der dort geförderte Corpsgeist, die quasi Kooptationsbeziehungen zu den Grands Corps und die fehlenden Querverbindungen zu den universitären Nachbardisziplinen.294

Die Leitvorstellung

Michel Debrés für die umfassende Verwaltungs-Reform war, daß ein Staat, der Beamte haben wolle, die seiner würdig seien, diese erst einmal ausbilden müsse: "Nach 1871 hatten dies manche Franzosen schon verstanden. Sie haben damals versucht, den künftigen Beamten durch die Schaffung einer privaten Grande École ein Staatsbewußtsein zu vermitteln und hatten eine Zeitlang Erfolg damit. Heute erfordert (...) die Erneuerung der Führungskräfte der Verwaltung (...) die Gründung einer Hochschule für Politik und Verwaltung; die eine Elite der jungen Leute aus allen Klassen der Nation dem

293

S. Jean-François Kesler: L'ENA, la société, l'État, Paris 1985, S. 53ff.

294 zusammenfassend ebenda, S. 31ff.

Nationale Elitenbildung

207

Staatsdienst zuführt, ohne das Monopol der Rekrutierung des Personals für die öffentlichen Ämter zu besitzen."295 Mit der Verordnung vom 9. Oktober 1945 zur Gründung der ENA trat - wiederum an einer Bruchstelle der nationalen Geschichte - die seit 1848 mehrfach geplante staatliche Hochschule für Verwaltung ins Leben, deren Verhinderung über die Jahrzehnte die Voraussetzung der École libre des Sciences Politiques gewesen war. Diese Traditions-Anstalt entzog sich dem nach der Libération starken politischen Trend zur Nationalisierung, indem sie nach Verhandlungen mit den politischen Reformkräften ihr Eigentum in eine Stiftung einbrachte, die gleichzeitig mit der ENA eingerichtet wurde und den Namen Fondation Nationale des Sciences Politiques (FNSP) erhielt. Im Verwaltungsrat der FNSP erhielten die Repräsentanten der vormaligen École libre 12 von 27 Sitzen, während die übrigen Ratsmitglieder staatlich ernannt wurden. Da die Entscheidungen des Verwaltungsrats mit Zweidrittel-Mehrheit getroffen wurden, hatten die Traditionswalter der École libre eine Sperrminorität. Der Präsident der FNSP kann nur aus ihren Reihen gewählt werden.296 Obwohl rund 75% der finanziellen Mittel der FNSP aus öffentlichen Haushalten stammten, vermochte sie von Anfang an ein hohes Maß an Selbständigkeit in ihren Entscheidungen zu wahren. Ihre Hauptaufgabe wurde im GründungsErlaß vorgegeben: Sie hatte Sorge zu tragen für den "Fortschritt und die Verbreitung der Politik-, Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften in Frankreich, dem Kolonialreich und im Ausland." Die FNSP ist bis heute die maßgebliche Institution der französischen Politikwissenschaft außerhalb der Universitäten. Sie initiiert und fördert z.B. politikwissenschaftliche Forschungseinrichtungen und unterhält seit 1975 einen eigenen Verlag. Von den fünfziger Jahren bis heute wurden von der FNSP insgesamt 8 Forschungs-Institute ins Leben gerufen, deren Arbeitsfelder die Schwerpunkte politikwissenschaftlicher Produktion umreißen: Centre d'études et de recherches internationales (CERI): Direktor Jean-Luc Domenach Centre d'étude de la vie politique française (CEVIPOF): Direktor Pascal Perrineau Centre d'histoire de l'Europe du XXe siècle (CHEVS): Direktor Pierre Milza Centre de recherches administratives (CRA): Direktor Jean-Luc Bodiguel Observatoire français des conjonctures économiques (OFCE): Direktor Jean-Paul Fitoussi 295

296

Michel Debré: Refaire la France, Paris 1945, S. 139f. Das Buch erschien unter dem Pseudonym Jacquier-Bruère. Pierre Rain, a.a.O., S. 125.

208

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Observatoire interrégional du politique (OIP); Direktoren: Alain Lancelot und Elisabeth Dupoirier Observatoire sociologique du changement (OSC): Direktor: Henri Mendras Service d'étude de l'activité économique (SEAE): Direktor: Jean-Claude Casanova. 297 Die wissenschaftlichen Mitarbeiter dieser Forschungsinstitute stehen teilweise in den Diensten der FNSP selbst, teilweise sind sie Mitglieder der großen zentralen Forschungsinstitution Centre national de la Recherche scientifique (CNRS). Einige dieser Pariser politikwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen entstanden aus der Initiative der FNSP, andere aus der gemeinsamen Überlegung von FNSP und CNRS. Das CEVIPOF z.B., in dessen neuerer Arbeit die politische Soziologie aus dem Schattendasein heraustritt, in das sie die traditionelle Trennung von Sciences-Po und Soziologie verwiesen hatte, entstand 1960 als Gründung der FNSP und wurde 1968 dem CNRS angeschlossen. Es umfaßt gegenwärtig rund 50 Forschende und bearbeitet als ständige Forschungsfelder: "Politische Kultur, Einstellungen und Verhaltensweisen", "Wahlanalyse und politische Partizipation", "Politische Institutionen, politisches Personal und politische Kräfte", "Geschichte und politisches Denken" sowie "Recht, Politik und Gesellschaft".298 Viele Mitarbeiter des CEVIPOF sind nicht nur sehr aktiv in den Medien präsent, sondern sie stehen temporär und punktuell auch für die Zwecke der Politikberatung zur Verfügung. Ein jüngeres Beispiel für die Entstehung eines der Pariser politikwissenschaftlichen Forschungszentren ist das Observatoire interrégional du politique (OIP). Es wurde 1985 gemeinsam von FNSP und CNRS gegründet und ganz offensichtlich konzipiert als Instrument für die Implementierung eines der wichtigsten Modernisierungsprogramme der Nachkriegszeit, nämlich der Dezentralisierungs-Gesetzgebung der ersten sozialistischen Regierung nach der Wahl Mitterrands zum Präsidenten. Das OIP hat Außenstellen in 22 Regionen, die durch die Dezentralisierungs-Gesetze administrativ aufgewertet wurden, und es hat als zentrale Aufgabe, das politische Leben in den Regionen zu analysieren, d.h. die ökonomischen, politischen und sozialen Entwicklungen sowie das Bild der Bevölkerung von den Regionen bzw. ihre Einstellung zu ihnen. Die vom OIP auf der Basis von empirischen Befragungen auf-

297

298

Sciences-Po. Admission, scolarité, programmes des enseignements 1994, Paris 1994, S. 384. CEVIPOF. Centre d'étude de la vie politique française, Paris o.J. (1994).

Nationale Elitenbildung

209

gebaute Datenbank in Grenoble steht den Regionen als Informationsquelle zur Verfügung.299 Die dominante Rolle der FNSP, der partiellen Nachfolgeinstitution der École libre des Sciences Politiques, für die Entstehung einer scientific Community der Politikwissenschaften in Frankreich in den letzten 50 Jahren wird auch deutlich in ihren publizistischen Unternehmungen. In den zwanzig Jahren seiner Existenz hat das Verlagshaus der FNSP (Presses de la Fondation Nationale des Sciences Politiques) rund 600 Bücher veröffentlicht. Gegenwärtig erscheinen 7 Fachzeitschriften in seiner Regie, in denen sich der größte Teil der politikwissenschaftlichen Forschungserträge und Diskussionen spiegelt. Neben dem Flaggschiff der französischen Politikwissenschaft, der 1951 gegründeten Revue française de science politique, hat sich inzwischen (seit März 1987) ein leichteres Vehikel als seetüchtig erwiesen, das anfänglich im Universitätsbereich (Paris I) lanciert wurde und nun auch zur Flotte der Presses de la FNSP gehört: In der jährlich dreimal erscheinenden Zeitschrift "Politix. Travaux de science politique" werden Fragen der Vergangenheit und Zukunft der Politikwissenschaften sowie deren wissenschaftstheoretische und institutionelle Grundlagen vergleichsweise lebhafter diskutiert als im etablierten Repräsentations-Organ, der Revue française de science politique. Eine der Fachzeitschriften ist ausschließlich der wissenschaftlichen Erörterung der politischen Sprache gewidmet: "Mots. Les langages du politique". Das zeitgeschichtliche Periodikum der Presses de la FNSP "Vingtième siècle. Revue d'histoire" ist eine methodologisch innovative Zeitschrift, deren Beiträge im weiten Feld zwischen (politischer) Ideengeschichte und Sozialgeschichte angesiedelt sind.300 Die Initiativ- und Steuerungsrolle der FNSP für die wissenschaftliche Fundierung und Expansion der Politikwissenschaften in Frankreich nach 1945 ist ebenso unzweifelhaft wie bislang unzureichend erforscht.301 Diese einflußreiche Stellung der Stiftung beruht - neben der Gründung von Forschungszentren und wissenschaftlichen Publikationsforen - vor allem darauf, daß ihr mit Erlaß vom 9. Oktober 1945 die administrative und finanzielle Leitung des gleichzeitig errichteten "Institut d'Études Politiques" (IEP) in Paris übertragen wurde. Die Gründung von solchen IEP war ein Element der Reform Debré 299

S. dazu Annick Percheron: L'OIP. Observatoire Interrégional du Politique, in: Politix. Travaux de science politique, Jg. 1989, Nr. 7/8, S. 158f.

300

Drei weitere Periodika erscheinen im Verlagshaus der FNSP: Bulletin analytique de documentation politique, économique et sociale contemporaine; Observations et diagnostiques économiques und die Revue économique.

301

So Gérard Vincent, a.a.O., S. 204.

210

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

vom Oktober 1945. Diese sah vor, daß in Paris und anderen Universitätsstädten politikwissenschaftliche Lehrinstitute aufgebaut wurden, die das Studium der Rechts- und der Geisteswissenschaften durch die Kenntnisse aus den Wirtschafts-, Gesellschafts- und Politikwissenschaften ergänzen und eine allgemeine Bildung in Fragen des öffentlichen Lebens gewährleisten sollten. Die FNSP beherbergte nach 1945 anfangs sowohl das neu gegründete IEP als auch die ENA, bevor letztere für rund drei Jahrzehnte in der Parallelstraße zur rue Saint-Guillaume ihre Bleibe fand.302 Beide Institutionen waren auch auf die Bibliothek der alten École libre angewiesen, die in das Eigentum der FNSP überging und rapide ausgebaut wurde. Insbesondere im Pariser IEP wurde personell, curricular und lehrmethodisch in vielen Aspekten an die Tradition der École libre angeknüpft.303 Der letzte Präsident der Boutmyschen École wurde der erste Präsident der FNSP (André Siegfried). Der letzte Direktor der alten Politik-Hochschule wurde der erste Direktor des IEP (Roger Seydoux). Die Texte vom 9.10.1945 zur Errichtung der neuen PolitikInstitutionen legten fest, daß die Funktion des Administrators der FNSP und diejenige des Direktors des Pariser IEP in Personalunion ausgeübt werden sollten. Das interne Funktionieren des IEP wurde durch eine Vereinbarung der FNSP mit der Pariser Universität vom 27.10.1945 geregelt. Die Direktoren des IEP werden faktisch vom ausscheidenden Amtsvorgänger benannt, von den zuständigen Gremien der FNSP und des IEP offiziell vorgeschlagen und vom Regierungschef sowie dem Erziehungsminister ernannt.304 Waren die Direktoren der École libre schon ausdauernde Amtsinhaber, so blieb auch das IEP dieser Regel treu. In fünfzig Jahren gab es nur 4 Direktoren, von denen Jacques Chapsal allein 33 Jahre diese Funktion innehatte. In der Folge des ersten großen Universitätsreformgesetzes von 1968 wurde die Zusammensetzung des Verwaltungsrates des Pariser IEP, des mit über 3000 Studierenden größten politikwissenschaftlichen Instituts in Frankreich, neu geregelt. Er umfaßt 8 Professoren, 8 Studenten und 8 externe Repräsentanten, von denen 4 von der FNSP und je einer von einer Pariser Universität, von der Arbeitgebervereinigung und von den Gewerkschaften delegiert wird. Die Neufassung der Statuten des IEP vom 10. Mai 1985, also nach Übernahme der Staatsführung durch die Sozialisten,305 blieb unerheblich und weitgehend von 302

Die ENA zog aus der rue des Saints-Pères im Herbst 1977 in die (nahegelegene) rue de I l'Université um und ist seit 1993 teilweise in Paris, teilweise in Straßburg lokalisiert.

303

Dies betont Jacques Chapsal in: Pierre Rain, a.a.O., S. 124f.

304

Gérard Vincent, a.a.O., S. 181ff.

305 Dj e Parteiprogramme der Sozialisten hatten in den siebziger Jahren die Integration der Grandes Écoles (also auch von Sciences-Po) in das Universitätssystem vorgesehen. Zur Programmatik und Praxis der Hochschulpolitik des Parti Socialiste s. Hans Manfred Bock:

Nationale Elitenbildung

211

den Repräsentanten des Hauses in der rue-Saint-Guillaume selbst bestimmt.306 Aufgrund der räumlichen und funktionalen Affinität des Pariser IEP zur FNSP (und ihren Ressourcen) sowie zur ENA wurde dieses Politik-Institut in dem halben Jahrhundert bis heute zum Modell der außeruniversitären Lehre und Forschung in der französischen Politikwissenschaft. Die 1945 politisch beschlossene Gründung von IEP in ausgewählten Universitätsstädten außerhalb der Pariser Region konnte von den Nachlaßverwaltern der École libre nicht verhindert werden; 307 sie erstreckte sich jedoch über eine große Zeitspanne. Nach der Errichtung des Pariser IEP erfolgte als nächste Gründung das IEP in Straßburg, und die neuesten Gründungen datieren erst aus dem Jahre 1991 (Rennes und Lille). Diese IEP außerhalb der Metropole haben in der Regel einen teilautonomen Status innerhalb der Universität; allein das IEP in Straßburg ist voll in die Universität integriert. Sie existieren in der Regel in einer Art Symbiose mit Politik- und Verwaltungs-Forschungsinstituten, die teilweise (z. B. in Rennes und Lille) schon vor ihrer Gründung vorhanden und aus Initiativen der juristischen Fakultät entstanden waren. Die FNSP unterhält Arbeitsbeziehungen in Fragen der Lehre, Dokumentation und Forschung zum IEP in Grenoble (Centre de recherches sur le politique, l'administration et le territoire, CERAT) und zum IEP in Bordeaux (u.a. Centre d'études d'Afrique noire und Centre d'études canadiennes en sciences sociales). Den meisten dieser politikwissenschaftlichen Forschungsinstitute ist gemeinsam, daß sie Dienstleistungen für das große Modernisierungsprojekt Dezentralisierung erbringen. Ihr je eigenes Profil wird geformt durch die Spezialisierung ihrer Arbeit auf bestimmte Großregionen (Europa, Maghreb, Schwarzafrika, Kanada). Das Vorhandensein der Forschungsinstitute in den Städten der Provinz ermöglicht den IEP u.a., deren Dokumentations- und Bibliothekseinrichtungen für postgraduale Studienangebote zu nutzen. Im IEP in Grenoble, in dem zu Beginn der neunziger Jahre rund 800 Studierende eingeschrieben waren, gibt es neben dem CERAT 3 0 8 ein quantitativ sozialwissenschaftlich orientiertes Centre d'information et de documentation socio-politique (CIDSP). Im IEP Bordeaux, das etwa dieselben Einschreibungszahlen hat wie Grenoble, bietet

Die Reform der Reform der Reform? Zur Hochschul- und Studienreform in Frankreich 1981-1984, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, Jg. 1987, Nr. 49, S. 106117. 306 so Gérard Vincent, a.a.O., S. 190. 307 Diese Auffassung wird erkennbar bei Jacques Chapsal in: Pierre Rain, a.a.O., S. 124. 308 s. dazu Bruno Jobert: Le CERAT. Centre de recherche sur le politique, l'administration et le territoire, in: Politix. Travaux de science politique, Jg. 1989, Nr. 6, S. 80-83.

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seit 1966 das Centre d'étude et de recherche sur la vie locale (CERVL) spezifische Forschungsmöglichkeiten zu Fragen der Gebietskörperschaften. Das 1956 in Aix-en-Provence gegründete IEP (gegenwärtig ca. 550 eingeschriebene Studierende) eröffnet Spezialisierungsmöglichkeiten in der MaghrebForschung aufgrund der langjährigen Arbeit der CNRS-Einrichtung "Institut de recherches et d'études sur le monde arabe et musulman" (IREMAM). 309 Das 1991 gegründete IEP in Rennes konnte im ersten Jahr von rund 1000 Bewerbern nur 150 aufnehmen; es steht mit dem schon seit 1973 vor Ort arbeitenden Centre de recherches administratives et politiques (CRAP) seit 1992 in einem formellen Kooperations-Verhältnis. 310 Alle diese expandierenden IEP außerhalb von Paris konkurrieren heute mit dem Pariser Traditionshaus in der rue Saint-Guillaume in der Vorbereitung für die Aufnahmeprüfung in die ENA und in der Erteilung von Diplomen. Während jedoch die Varietät und Quantität ihrer Diplomabschlüsse, meist inhaltlich spezialisierte DEA und DESS, 311 wächst, ist der Anteil ihrer Erfolgsquote bei der Vorbereitung auf die Wettbewerbsprüfung (concours) für die Aufnahme in die ENA im Vergleich mit dem Pariser IEP unbedeutend. Dieses Politik-Institut leitet sein Prestige von seinen zentralen Standortvorteilen, seiner Tradition und von seiner Funktion als erfolgspatentierte Vorbereitungs-Schule für die ENA ab. Nach den Erfahrungen eines Insiders verteilten sich Ende der siebziger Jahre die Erfolgschancen für die ENA-Aufnahme auf die verschiedenen Vorbereitungsmöglichkeiten in der folgenden Weise: Studenten aus den Provinz-IEP: 1 zu 30, Absolventen einer Universität bzw. Grande École: 1 zu 22, Studierende des Pariser IEP: 1 zu 10 bzw. 1 zu 5, sofern sie neben dem IEPDiplom noch einen anderen Hochschul-Abschluß hatten. 312 Von allen ENAStudenten zwischen 1952 und 1969 kamen 77,5% aus dem Pariser IEP. Die enge Verbindung zwischen beiden Institutionen wird zusätzlich verstärkt durch die Tatsache, daß viele ENA-Absolventen später aus ihrem Berufsleben zeitweilig wieder als Dozenten in das IEP zurückkehren. In der rue Saint309 zu den Kurzporträts anderer Forschungsinstitute vgl. auch meine Darstellung in: Sciences-Po zwischen Tradition und Innovation. Zur neueren Entwicklung der Politikwissenschaften in Frankreich, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, Jg. 1994, Nr. 75/76, bes. S. 218ff. 310

So die Hausbroschüre des IEP in Rennes: L'Institut d'Études Politiques de Rennes, Rennes o.J., S. 15.

311

Bei dem Diplôme d'Études Approfondies (DEA) handelt es sich um einen forschungsbezogenen, beim Diplôme d'Études Supérieures Spécialisées (DESS) um einen praxisorientierten Abschluß.

312

S. Gérard Vincent, a.a.O., S. 188. Vgl. vor allem Jean-François Kesler, a.a.O., S. 267ff.; dort statistisch erhärtete Daten.

Nationale Elitenbildung

213

Guillaume wurde nämlich die alte Gepflogenheit der École libre beibehalten, daß sich die übergroße Zahl der Lehrenden rekrutiert aus Vertretern verschiedener Praxisbereiche, die in der Regel vom lEP-Direktor ausgewählt werden. 1993/94 waren von 1200 Dozenten am Pariser IEP nur rund 50 Vollzeitbeschäftigte des Instituts mit universitärem Status. Von den 1150 Lehrbeauftragten kamen 40% aus dem Universitätsbereich, 30% aus der öffentlichen Verwaltung und 30% aus der Privatwirtschaft.313 Auch die Schwerpunktsetzung in der Lehre, die Einteilung in Sektionen, wurde im IEP Paris beibehalten (und von den neueren IEP weitgehend übernommen.)314 Inhaltlich wurden die Sektionen in den 50 Jahren der Geschichte des Politik-Instituts fortlaufend auf den Stand der gesellschaftlichen Problemwahrnehmung und der wissenschaftlichen Diskussion gebracht. Die vom gegenwärtigen lEP-Direktor (Alain Lancelot) seit Ende der achtziger Jahre auf den Weg gebrachte neueste Reform der Lehrziele und Lehrinhalte greift die alte Frage des Verhältnisses von Bildung und Ausbildung abermals auf und versucht, das Gewicht zugunsten des Erwerbs umfassender Fragekompetenz zu verlagern.315 Durch die "Reform Lancelot" wurden so u.a. Überblicksveranstaltungen verbindlich gemacht, die den Problemkomplexen "Kräfteverhältnisse in der gegenwärtigen Welt" im 2. Jahr und "Zentrale Probleme der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussion" im 3. Jahr gewidmet sind. Die Spezialisierungsmöglichkeiten in den einzelnen Sektionen sehen seit der neuesten Reform in der folgenden Weise aus: Die Sektion "Öffentlicher Dienst", die u.a. für die Aufnahmeprüfung in die ENA vorbereitet, wurde erweitert um den Kompetenzerwerb für die Tätigkeit in den Gebietskörperschaften, der Sozialverwaltung und in den Banken. In dieser Sektion studierten 1990/91 32% der im 2. Jahr Eingeschriebenen.316 Die Sektion "Wirtschaft und Finanzen" ist die klassische Vorbereitung auf die Berufstätigkeit in den Unternehmen mit einem Schwerpunkt Haushaltsfragen, Finanzanalyse und -planung. Sie ist als einzige unter der Kurzbezeichnung "Eco-fi" auch in allen IEP außerhalb der Pariser Region vertreten und ist in der Regel die am stärksten nachgefragte Spezialisierungsmöglichkeit. Im Pariser IEP waren im Studienjahr 1990/91 28% der Studenten im 2. Jahr dort eingeschrieben. Die dritte Sektion, traditionell in 313 314

315 316

So das Veranstaltungsverzeichnis des IEP: Sciences Po. Admissions ... (a.a.O.), S. 19. Ein Überblick über die in den einzelnen IEP vertretenen Sektionen im Studienberatungsbuch von Françoise Blain: Réussir Sciences-Po. Le tour de France des IEP, Paris 1989 S 27. S. ebenda, S. 102ff. und 186ff. Diese Zahlen und eine sehr instruktive Zusammenfassung der Leitideen seiner Reform finden sich in: A l'heure de la mondialisation. Entretien avec Alain Lancelot, in: Le Débat. Histoire, politique, société, Jg. 1991, Nr. 64, S. 82ff.

214

Kapitel III: Politikwissenschaft in Wesf- und Südeuropa

der Nachkriegszeit "Politik, Wirtschaft und Soziales" genannt, wurde in Paris seit Anfang der neunziger Jahre in "Kommunikation und Human-Ressourcen" umbenannt und zog 26% der Studierenden des 2. Jahres an. Hier werden als Berufsfeldorientierungen unterschieden Kommunikation (Medien), Betriebsmanagment sowie Forschung und Lehre. Die letzte der vier Sektionen im Pariser IEP, "Internationales", fand Anfang der neunziger Jahre das Interesse von 14% der Studierenden und spielt somit nicht mehr die wichtige Rolle wie die Diplomatie-Sektion der alte École libre. Sie bereitet allerdings auch nicht mehr direkt für die Aufnahme in den diplomatischen Dienst vor, sondern erlaubt drei Berufsfeldoptionen: Die internationalen Transaktionen der Unternehmen, die Institutionen der Europäischen Union und eine forschungsorientierte Ausrichtung der Studien in "Internationale Beziehungen". Die Sektion "Internationales" gab es Anfang der neunziger Jahre außerhalb von Paris nur in den IEP von Aix-en-Provence und Straßburg. Der Modellcharakter des Pariser Instituts wird nicht nur in der Übernahme der Studienorganisation durch die anderen IEP deutlich, sondern auch in deren Versuch, die Gestaltung der Lehrpraxis (Vorlesungen,

Seminare und die legendäre "conférence de

méthode"317 ) zum Vorbild zu nehmen. Nimmt man die Forschungs- und Lehrstätten der Politikwissenschaften im institutionellen Bereich der FNSP, der IEP und der Universitäten318 zusammen, so ergibt sich das Bild einer beträchtlichen Expansion dieser Disziplin seit dem Zweiten Weltkrieg. Trotz der langen Tradition von Sciences-Po und trotz dieser Expansion ist in den französischen Bilanzen zur Entwicklung des Faches meist von seiner erst jungen Institutionalisierung die Rede. Damit ist dessen Konstituierung als scientific Community gemeint, die Ausprägung eines wissenschaftstheoretischen und forschungspraktischen Konsenses der in diesem Bereich tätigen Wissenschaftler. Die Entstehung einer Diskussion, die einen solchen Konsens überhaupt anstrebt, ist aufgrund der Monopolisierung des Begriffs "Sciences politiques" durch die École libre und ihre Nachfolgeinstitutionen eher verzögert als gefördert worden. Der beste Kenner der Geschichte der Politikwissenschaften in Frankreich zog Ende der siebziger Jähre 317

Sie wird im Veranstaltungsverzeichnis des Pariser IEP (S. 18) definiert: "Die conférence de méthode ist wahrscheinlich die charakteristischste Veranstaltungsform des Hauses. Sie versammelt jede Woche etwa 20 Studierende und spielt eine wesentliche Funktion in ihrer Ausbildung. Sie ist dazu bestimmt, ihnen im Rahmen jeder Disziplin eine persönliche Arbeitsmethode zu ermöglichen durch die Aneignung der verschiedenen Mittel des Argumentierens und des Ausdrucks: sie soll ihnen die Fähigkeit vermitteln, direkt zum Wesentlichen zu kommen, einen Geist der Synthese zu entwickeln und sich klar und einfach auszudrükken."

318 zur Verankerung der Politikwissenschaft in den Universitäten vgl. den Aufsatz von Werner Zettelmeier in diesem Band.

Nationale Elitenbildung

215

folgende Zwischenbilanz zur inneren Lage der Disziplin319 : Verglichen mit der Differenzierung der Arbeitsfelder in der politologischen Arbeit anderer Länder sei die Zahl der Themen, zu denen kumulativ geforscht worden sei, in Frankreich gering. Als produktivste Forschungsgebiete zeichneten sich ab die Wahlgeographie, die juristische, historische und soziologische Analyse der politischen Institutionen, die politischen Ideen, politische Systeme des Auslands und (lange Zeit von Historikern dominiert) ansatzweise die Internationalen Beziehungen. Die deutlichsten Defizite seien konstatierbar im Bereich der Epistemologie und Methodologie, in der Policy-Forschung, der Analyse der sozialen Bewegungen, der pressure-groups sowie der politischen Kulturforschung. Diese Bilanz würde heute anders ausfallen, nachdem in den letzten 15 Jahren ein Teil der Defizite behoben und neue Forschungsschwerpunkte etabliert worden sind.320 Dieser fortschreitende zweite Institutionalisierungsprozeß der Politikwissenschaft in Frankreich, in dessen Mittelpunkt die Konstituierung als scientific community steht, ist ablesbar an einigen Daten, die diesen Gang der Entwicklung markieren. Bedingt u.a. durch die beginnende Etablierung des Fachs in den Universitäten und zeitgleich mit dem Beginn des pluridisziplinären Forschungsprogramms der "aires culturelles" an der VI. Sektion der École Pratique des Hautes Études,321 begann das Pariser IEP ab 1956, einen "Cycle supérieur d'études politiques" aufzubauen, dessen Leitung René Rémond (später Präsident der FNSP) und Alfred Grosser übernahmen.322 Dies bedeutete den Einstieg in die postgraduale Politologenausbildung und langfristig auch die Grundlegung für die fachspezifische Eigenrekrutierung der Hochschullehrer für Politikwissenschaft in deren Expansionsphase seit den siebziger Jahren. In der Regel mußten die Studenten bis zu den siebziger Jahren ein dreijähriges Jurastudium absolvieren und zusätzliche Kurse am IEP, an der École des Hautes Études oder in Soziologie, Geschichte bzw. Philosophie belegen, um in das postgraduale Politikstudium 319

Das Folgende nach Pierre Favre: La Science Politique en France depuis 1945, in: International Politicai Science Review, Jg. 1981, Bd. 2, Nr. 1, S. 109ff.

320 Diese neueren Entwicklungen der politikwissenschaftlichen Forschung unter dem Aspekt ihrer Themenfelder und Fragestellungen darzustellen, erfordert eine eigene Studie. Es gehört z u Defiziten der Kommunikation zwischen den Politologen in Frankreich und Deutschland, daß man die laufende Forschung beim anderen allenfalls bibliographisch zur Kenntnis nimmt. Allem Anschein nach sind die Politikwissenschaften so sehr Produkt ihrer nationalen politischen Kultur, daß es schwer fällt, sich auf die Diskussion der Disziplin im Nachbarland einzulassen. 321

322

Zur Gründung der VI. Sektion und zu ihrer Bedeutung im wissenschaftlichen und intellektuellen Leben in Paris vgl.Brigitte Mazon, a.a.O., 120ff. Die von der Autorin nachgewiesene Rolle amerikanischer Förderung für diese intellektuell ausstrahlungsstarke Institution wäre auch für die Anfange der Sciences-Po im Frankreich der Nachkriegsperiode zu klären. S. dazu auch Alfred Grosser: Mein Deutschland, Hamburg 1993, S. 87ff.

216

Kapitel III: Politikwissenschalt in West- und Südeuropa

einzusteigen. 3 2 3 Die Hochschulreform von 1968 erlaubte die fachliche Ausdifferenzierung auch für die Politikwissenschaften und seit 1971 gab es den ersten concours d'agrégation (Auswahlprüfung) für die Rekrutierung von Hochschullehrern

für

Politikwissenschaft.

1977

wurde

die

maîtrise

(wissenschaftlicher Abschluß nach 4 Jahren Studium) prinzipiell für diese Disziplin vom Erziehungsministerium zugelassen. Die seit Kriegsende existierende Association Française de Science Politique begann ab 1981, in mehrjährigen Abständen wissenschaftliche Kongresse auszurichten. Die staatliche Anerkennung der Politikwissenschaft als scientific Community schloß sich 1993 an mit der Gründung einer eigenen Sektion in der großen Forschungsinstitution C N R S . Während dieser zweite Institutionalisierungsprozeß die französische Politikwissenschaft fortschreitend den Gepflogenheiten der ForschungsLehrpraxis

amerikanisch-europäischer

Provenienz

annähert,

und

weisen

die

Sciences-Po im Umkreis der F N S P und der IEP doch nach wie vor sehr spezifische Eigenarten auf. Diese Charakteristika bestehen in ihrer vergleichsweise großen Nähe z u m politischen Prozeß und zur politischen Klasse in Frankreich.

Im Vergleich zur Konstituierungsgeschichte der

Politikwissen-

schaften in Deutschland, die durch den demokratiepädagogischen Auftrag a m Anfang und den oppositionswissenschaftlichen Impuls in der Mitte ihrer bisherigen Entwicklung geformt wurden, sind die Sciences-Po auch in der Nachkriegs-Periode in erster Linie administrative Elitenschule geblieben. 3 2 4

Ohne

fundamentale Erschütterungen, aber nicht ohne Konzessionen an irreversible Veränderungen in Gesellschaft und Politik sind sie durch die Vierte Republik, durch die Mai-Revolte von 1968 und durch die Fünfte Republik hindurchgeschritten. Das Pariser IEP hat z u m zweiten Institutionalisierungsschub der Politikwissenschaften beigetragen, und es hat einen großen Teil des Personals der Vierten und der Fünften Republik (mit) ausgebildet, das den nachholenden Modernisierungsprozeß Frankreichs in der Nachkriegszeit ermöglicht hat. Hingegen ist nicht erkennbar, daß die Demokratisierungsforderung der Erneuerungsprogramme für die öffentliche Verwaltung, die in den ersten Nachkriegsjahren aufgestellt wurde, hinsichtlich der Personalauswahl für deren Spitzenposition in den fünf Jahrzehnten bis heute eingelöst wurde. Die (wenigen) konkreten Zahlen über die soziale Herkunft der IEP-Absolventen in der Nachkriegszeit ergeben ein überaus drastisches Bild von der unveränderten Selbstrekrutierung der führenden Gesellschaftsschichten: In einer Befra323 324

Pierre Favre: La Science Politique en France depuis 1945, a.a.O., S. 100. Zur Stellung des Komplexes IEP/ENA im Feld der Elitenrekrutierung vgl. Pierre Bourdieu: La Noblesse d'État, Paris 1989, bes. S. 239ff.

Nationale Elitenbildung

217

gung ehemaliger Pariser IEP-Studenten von 1975 stellte sich heraus, daß (ermittelt auf der Basis von 2356 verwertbaren Antworten der Absolventen) 76 aus den sozialen Unterschichten kamen, 268 aus den Mittelschichten und 1979 aus den Oberschichten.325 Die Absolventen definierten ihren eigenen sozialen Status wie folgt: Unterschichten: 0, Mittelschichten: 39, Oberschichten 1903. 326 Eine neue Dimension gewann diese wenig demokratisierte Art der

Ausbildung

für

die

Führungspositionen

(zunehmend auch) der privaten Verwaltung

327

in

der

öffentlichen

und

in der Fünften Republik seit

den sechziger Jahren. Seit de Gaulle gab es unter mehreren Präsidentschaften der Fünften Republik die ausdrückliche Ermunterung für die Absolventen der Grandes Écoles im allgemeinen und für die Diplomierten des IEP und/oder der ENA im besonderen, sich um den Erwerb politischer Ämter und Funktionen zu bemühen (im persönlichen Mitarbeiterstab von Ministern, den cabinets ministériels, oder als Parlaments-Abgeordnete). Aufgrund dieser Entwicklung, die man als eine neue Variante der Notabilisierung der Politik unter den Vorzeichen der Technokratie bezeichnet hat, 328 wurde die gesellschaftliche und die politische Funktionsverbindung und Machtstellung der neuen Eliten, als deren Prototyp der IEP/ENA-Absolvent gilt, zum öffentlichen Thema. 329 Dessen Diskussion dauert gegenwärtig an, nachdem mit Jacques Chirac ein klassischer Vertreter dieses Wegs in die Politik zum Präsidenten der Republik gewählt wurde. 330 Ein langjähriger externer Beobachter und guter Kenner der Verwaltungseliten im Frankreich der Nachkriegszeit testiert diesen einerseits einen entscheidenden Beitrag zur Modernisierung des Lan325

326

Gérard Vincent: Sciences Politiques. Histoire d'une réussite (a.a.O.); S. 402. Die Zuordnung wird vom Autor nach den Definitionen der offiziellen Sozialstatistik gemäß den Kategorien des INSEE vorgenommen. Der Autor stellt klar, daß es sich bei den Befragten nicht um eine repräsentative, sondern um eine pragmatisch-zufällige Auswahl handelt. Dennoch sind die gefundenen Relationen eindeutig. Zumal, wenn man die Deszendenz bis zur zweiten Generation zurückverfolgt. Bei 2227 Antworten zum sozialen Status des Großvaters väterlicherseits ergaben sich folgende Daten: 198 Unterschichten-, 606 Mittelschichten-, 1400 Oberschichten-Zugehörigkeit. Ebenda, S. 402.

327

Christophe Charle (Entre l'élite et le pouvoir, a.a.O., S. 104 f.) stellt eine langfristige Tendenz der IEP bzw. ENA-Absolventen zur Berufsfindung im privaten Sektor fest.

328

François Bezin/Joseph Macé-Scaron: Les politocrates. Vie, moeurs et coutumes de la classe politique, Paris 1993, S. 47f.

329

Neben den kultursoziologischen Studien von Pierre Bourdieu zu diesem Thema (s. o. Anm. 323) gibt es in Frankreich eine umfangreiche politische Publizistik, in der sich der Informations* und der Unterhaltungswert in variablen Proportionen mischen. Dazu gehört das Buch von Bazin/Macé-Scaron (Anm. 327) und der folgende Titel (Anm. 329) von Blanquer/Cordelier.

330

S. dazu die Studie zur Abschlußklasse Chiracs in der ENA: Jean-Michel Blanquer/Jérôme Cordelier: Le sérail. Histoire d'une promotion de l'ENA, Paris 1995.

218

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

des. Andererseits sieht er in der Kluft zwischen der Bevölkerung und den vielfach privilegierten politisch-administrativen Eliten in der Fünften Republik, einer "Aristokratie in der Demokratie", 331 selbst ein Modernisierungshindernis.

331 Ezra N. Suleiman: Les ressorts cachés de la réussite française, Paris 1995, S. 264ff.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

219

André Kaiser

Die Entwicklung der Politikwissenschaft. Zwischen Tradition und Professionalisierung

1. Einleitung "Ever since Macaulay ridiculed Mill and denounced his ahistorical method, the dominant tradition in British political science has sought to resist deductive models and positivism whenever they have been proposed." 332 Der Historiker und Essayist Thomas

Babington

Macaulay333

und der utilitaristische So-

zialtheoretiker James Mill markieren eine Spannungslinie, weit vor der Ausdifferenzierung des sozialwissenschaftlichen Fächerkanons, die sich - natürlich in den immer neuen Idiomen der gerade in Mode befindlichen Diskurse - bis heute durch alle Selbstverständnisdebatten der britischen Politikwissenschaft hindurchzieht. Die Skepsis gegenüber deduktiv vorgehenden, allzu nah am Gesetzesbegriff der Naturwissenschaften orientierten Konzeptionen, dazu das Festhalten an einer engen Verzahnung mit Geschichte und Philosophie - das hat seit Macaulay die "noble science of politics"334 als dominierendes Denkmuster, als weithin geteilte "language" 335 des Fachs gekennzeichnet. Obwohl mit dem aus der schottischen Moralphilosophie heraus entwickelten Utilitarismus auch in Großbritannien eine Entwicklungslinie hin zu einer positivistischen Politikwissenschaft bereitstand, ist hier ein solches Verständnis erst im Zuge der Professionalisierung und Internationalisierung des Fachs in den letzten beiden Dekaden auf Resonanz gestoßen.

332

Andrew Gamble: Theories of British Politics, in: Political Studies 38 (1990), S. 408.

333

Zu Macaulay vgl. Jürgen Osterhammel: Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von Hume bis Macaulay, in: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 281-340.

334

Thomas B. Macaulay: Mill's Essay on Government. Utilitarian Logic and Politics, in: The Edinburgh Review 49 (1829), S. 189. Vgl. dazu Stefan Collini/Donald Winch/John Burrow. That Noble Science of Politics. A study in nineteenth-century intellectual history, Cambridge: UP 1983.

335

Ich verwende den Begriff hier im Pocockschen Sinne: John G.A. Pocock: The Concept of a Language and the métier d'historien: some considerations on practice, in: Anthony Pagden (ed.): The Languages of Political Theory in Early-Modern Europe, Cambridge: UP 1987, S. 19-38.

220

Kapitel III: Politikwissenschaft

in West- und

Südeuropa

Diesen beiden Linien will ich folgen, um die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft zu skizzieren. Die leitende Frage soll dabei sein, wie sich das skizzierte Traditionsmuster im Zuge der Etablierung der akademischen Politikwissenschaft herausgebildet und behauptet hat und in welchem Maße vor diesem Hintergrund die durch die Professionalisierung und Internationalisierung des Fachs336 ausgelösten Diffusionsprozesse in den vergangenen beiden Dekaden zu einer Ausdifferenzierung der Forschungsansätze und methoden beigetragen haben. In der Geschichte der britischen Politikwissenschaft lassen sich drei Phasen unterscheiden: 1. die Phase der Gründergeneration von der Jahrhundertwende bis in die fünfziger Jahre, 2. die Konsolidierungsphase des Auf- und Ausbaus der Politikwissenschaft als Normaldisziplin im Fächerkanon der Universitäten bis in die frühen siebziger Jahre und 3. schließlich die aktuelle Phase der Ausdifferenzierung des Fachs in thematisch verbundene, als internationale scientific communities wirkende Forschergruppen. Entlang diesen drei chronologischen Schritten sollen zwei Blickwinkel eingenommen werden. Zum einen sollen die Organisations- und Gelehrtengeschichte des Fachs geschildert werden. Zum anderen soll aus intellektualgeschichtlicher Perspektive wenigstens angedeutet werden, wie die Fachdiskussionen in umfassendere kulturelle Entwicklungen eingebettet sind.337 Dabei wird sich zeigen, daß die immer wieder vorgetragene Charakterisierung der Traditionsmuster der britischen Politikwissenschaft - als "insular" orientiert und methodisch überwiegend einem unprofessionellen "muddling through" verschrieben - modifiziert werden muß.338 Zwar findet sich durchgängig ein immer noch am ideal der "moral science" orientierter Zweifel ge336

Vgl. dazu allgemein Richard Rose: Institutionalizing Professional Political Science in Europe: A Dynamic Model. IPSA Committee on the Study of Political Science as a Discipline, Paris 1990, Ms.

337

Z u m methodologischen Anliegen der intellektualgeschichtlichen Perspektive vgl. Stefan Collini: "Discipline History" and "Intellectual History". Reflections on the Historiography of the Social Sciences in Britain and France, in: Revue de synthèse 109 (1988), S. 387-399.

338

So der Tenor bei Jack Hayward: Cultural and contextual constraints upon the development of political science in Great Britain, in: David Easton/John G. Gunnell/Luigi Graziano (eds.): The Development of Political Science. A Comparative Survey, London and New York: Routledge 1991, S. 93-107 sowie ders.: The Political Science of Muddling Through: The de facto Paradigm?, in: ders./Philip Norton (eds.): The Political Science of British Politics, Brighton: Wheatsheaf 1986, S. 3-20. Im Hinblick auf die vergleichende Regierungslehre kommt zu einem ahnlichen Ergebnis Philip Norton: Discrete and Insular Study: British Government in the 1980s, in: West European Politics 10 (1987), S. 137-144.

Die Entwicklung der britischen

Politikwissenschaft

221

genüber dem szientistischen "knowing more and more about less and less."339 Das bedeutet aber nicht, daß die vorwiegend aus den USA nach Europa importierten Ansätze wie der "behavioural approach", die Spieltheorie oder Public Choice nicht rezipiert würden. Vielmehr werden sie mit einer nüchtern abwägenden Haltung aufgenommen und in die traditionellen Vorgehensweisen integriert. Allerdings dürfte es zukünftig immer schwieriger werden, noch eine spezifisch "britische" Politikwissenschaft ausfindig zu machen. Britische Politikwissenschaftler haben sich zwar einige Eigenheiten erhalten was für sie, nebenbei bemerkt, kein Schaden ist -, aber sie haben sich im Zuge der fachlichen Spezialisierung, zuweilen an führender Stelle, in die internationalen scientific communities eingegliedert. Der nationale Kontext verliert nach und nach an Prägekraft.

2. Die Gründergeneration: Von der Jahrhundertwende bis zur Political Studies Association Üblicherweise wird die eigentliche formative Periode der britischen Politikwissenschaft in den fünfziger und frühen sechziger Jahren angesetzt.340 Das ist in quantitativer Hinsicht, also bezüglich der Zahl der "departments", Studenten und Dozenten, sicherlich richtig. Aber die Anfänge liegen viel weiter zurück, was organisationsgeschichtlich wie ideengeschichtlich Folgewirkungen hatte. Denn gerade diese Frühphase erwies sich als so prägend, daß die britische Politikwissenschaft besonders resistent wurde gegen das, was Bernard Crick treffend die "American Science of Politics" genannt hat.341 An der Entstehung342 akademischer Politikwissenschaft um die Jahrhundertwende waren drei intellektuelle Richtungen beteiligt, die gleichermaßen vom Krisendiskurs der "condition of England'-Debatte des ausgehenden vik339 g 0 die ironische Charakterisierung von R.N. Berki: The Belated Impact of Marxism, in: Jack Hayward/Philip Norton (eds.): The Political Science of British Politics, Brighton: Wheatsheaf 1986, S. 49. 340 go auch im bislang einzigen deutschsprachigen Überblick von N. Lepszy: Politische Wissenschaft in Großbritannien, in: Jürgen Bellers (Hg.): Politikwissenschaft in Europa, Münster 1990, S. 252. 341

Bernard Crick: The American Science of Politics. Its Origins and Conditions, London: Routledge & Kegan Paul 1959.

342

Für eine ausführliche Darstellung der Gründungsphase der akademischen Politikwissenschaft im ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. André Kaiser: Politik als Wissenschaft. Zur Entstehung akademischer Politikwissenschaft in Großbritannien, in: Friedrich Wilhelm Graf/Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch (Hg.): Idealismus und Positivismus. Die Grundspannung in Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Stuttgart i.E.

222

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

torianischen Zeitalters geprägt waren und auf eine reformierte fachliche Schulung der Beamtenschaft, nicht zuletzt der Kolonialbeamten, abzielten: 343 Erstens ein von Historikern vorangetriebenes Bemühen um eine Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung, in deren Windschatten die Geschichte politischer Institutionen Einzug in die Lehrpläne der Universitäten Cambridge und Oxford hielt; 344 zweitens im Umfeld der Fabian Society die Propagierung einer utilitaristisch fundierten Wissenschaft von den politischen und administrativen Institutionen, die über die Lehr- und Forschungskapazitäten der 1895 eröffneten London School of Economics and Political Science (LSE) Eingang in das Denken und Handeln der politischen Eliten und des Beamtenapparats finden sollte; 345

drittens schließlich eine von dem ersten Lehr-

stuhlinhaber für "political science" an der LSE, Graham Wallas, skizzierte, aus den damals modischen Evolutionstheorien und einer beträchtlichen Skepsis gegenüber der Rationalität des homo politicus gespeiste politische Verhaltenswissenschaft, die zwar in Großbritannien selbst kaum Wirkung entfaltete, in den USA dagegen mit anderen Strömungen dem Behaviourismus zum Durchbruch verhalf. 346 Die Etäblierung politikwissenschaftlicher Lehrveranstaltungen gelang also im Zuge der Diskussion um die Reform der Hochschulausbildung. Ein nicht zu unterschätzender Faktor war dabei das ausgeprägte Konkurrenzdenken zwischen den beiden altehrwürdigen Universitäten Oxford und Cambridge und der neuen Ausbildungsstätte der Fabier. Die LSE beschritt zunächst den Weg praxisnaher, fachlicher Schulung im Sinne der fabischen Doktrin der "national 343

Vgl. dazu Stefan Collini: Public Moralists. Political Thought and Intellectual Life in Britain 1850-1930, Oxford: Clarendon 1991.

344

Die wichtigsten Namen sind hier Sir John Seeley (Introduction to Political Science, London: Macmillan 1896), Edward A. Freeman (Comparative Politics, London: Macmillan 1873) und James Bryce (The American Commonwealth, 2 vols., London: Macmillan 1889). Seeley, 1869 auf die Regius Professur für Modern History an der Universität Cambridge berufen, formulierte in seiner Antrittsvorlesung unter dem Titel "The Teaching of Politics": "We shall never have a supply of competent politicians until political science - that is, roughly, political economy and history together - are made a prominent part of the higher education." (The teaching of politics, in: ders.: Lectures and Essays, London: Macmillan 1870, S. 305).

345

Beatrice Webb formulierte in ihrem Tagebuch die Grundlage und Zielsetzung der LSE folgendermaßen: "our common faith in the practicability and urgent necessity of a concrete science of society implemented through historical research, personal observation and statistical verification" (Our Partnership. Ed. by Barbara Drake and Margaret Cole, London: Longman 1948, S. 88).

346

Das maßgebliche Werk ist hier Graham Wallas: Human Nature in Politics, London: Constable 1908. Für die Rezeptionsgeschichte in den USA im Zusammenhang mit der "behavioural revolution" siehe z.B. Herbert A. Simon: Human Nature in Politics. The Dialogue of Psychology with Political Science, in: American Political Science Review 79 (1985), S. 293-304.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschalt

223

efficiency" 347 , während Oxford und Cambridge die Politikwissenschaft in ihre umfassenderen kulturwissenschaftlichen Ausbildungsgänge zur Vorbereitung auf ein "public life" integrierten. In Cambridge geschah dies im Rahmen des Historical Tripos und, mit geringerem Gewicht, des Moral Sciences Tripos', in Oxford in der Honour School of Literae Humaniores, aus der dann 1920 die Final Honour School of Philosophy, Politics and Economics (PPE, auch als "Modern Greats" bezeichnet) entstand. Entscheidend für die weitere Entwicklung ist nun, daß die LSE sich bereits nach kurzer Zeit an den klassischen Bildungsstätten für die Eliten zu orientieren begann, statt ihre fachwissenschaftliche, positivistisch motivierte Konzeption voranzutreiben: "(E)ven here what began as a kind of business school-cum-advanced institute for applied social research came in time to be largely devoted to the conventional pattern of undergraduate education."348 Entsprechend folgten z.B. auf Graham Wallas, der 1914 auf den ersten Lehrstuhl für Politikwissenschaft an der LSE berufen worden war, mit Harold Laski und Michael Oakeshott Wissenschaftler, die auf je eigene Weise auf dem Gebiet der politischen Ideengeschichte und Philosophie Berühmtheit erlangten. Oxford 349 hielt im Hinblick auf den ersten Lehrstuhl für Politikwissenschaft in Großbritannien einen knappen Vorsprung vor der Konkurrenz. 1912 wurde die Gladstone Professur für Political Theory and Institutions geschaffen, die 1940, entsprechend der vorangeschrittenen Spezialisierung des Fachs, in zwei Professuren aufgeteilt wurde: die Gladstone Professur für Social Administration bzw. seit 1957 für Government and Public Administration und die ungleich gewichtigere Chichele Professur für Social and Political Theory, die mit so berühmten Namen wie G.D.H. Cole, Isaiah Berlin, John Plamenatz und Charles Taylor besetzt werden konnte. Insbesondere in Oxford wird dem Ideal der breiten humanistischen Bildung der Vorzug vor der Orientierung an den exakten Wissenschaften gegeben. Daran konnte die ebenfalls hier beheimatete analytische Philosophie (Ludwig Wittgenstein, Sir Alfred Ayer u.a.) kaum etwas ändern, wie sie überhaupt eine seltsam geringe Ausstrahlungskraft auf

347

E.J.T. Brennan: Education for National Efficiency: the Contribution of Sidney and Beatrice Webb, London: Athlone 1975.

348

Stefan Collini: Public Moralists. Political Thought and Intellectual Life in Britain 1850-1930, Oxford: Clarendon 1991, S. 207.

349

Zur Entwicklung der Sozialwissenschaften in Oxford vgl. Norman Chester: Economics, Politics and Social Studies in Oxford, 1900-85, London and Basingstoke: Macmillan 1986 und neuerdings Robert Currie: The Arts and Social Studies, 1914-1939, in: Brian Harrison (ed.): The History of the University of Oxford. Vol. 8: The Twentieth Century, Oxford: Clarendon 1994, S. 109-138 sowie José Harris: The Arts and Social Sciences, 1939-1970, in: ebda., S. 217-249.

224

Kapitel III: Politikwissenschaft in Wesf- und Sildeuropa

die Politikwissenschaft gehabt hat. 3 5 0 Das Oxforder Beispiel der Einbindung der Politikwissenschaft in umfassendere kulturwissenschaftliche Studiengänge ist insoweit prägend gewesen, als in Großbritannien auch heute noch die Grenzen zwischen den Disziplinen relativ durchlässig sind. "The career of G.D.H. Cole, who for many years was the most prominent figure in the faculty of social studies, was a case in point. Cole had graduated in Greats, wrote books of political thought and social history, tutored in political institutions, was promoted to a readership in economics, and in 1944 became the first Chichele Professor of Social and Political Theory: a personal Odyssey that exactly mirrored the underlying academic philosophy of the early days of PPE."351

Cambridge 3 5 2

erhielt seinen ersten politikwissenschaftlichen

Lehrstuhl

1928. Von dem ersten Inhaber, Ernest Barker, an wird Politikwissenschaft hier vorrangig als "History of Political Thought" in enger Anbindung an die Geschichtswissenschaft betrieben. Das Fach fristet in Cambridge eher ein "Nischendasein", und entsprechend gehört das "department" zu den kleinsten in Großbritannien. Die Erforschung dauerhafter Friedensbedingungen hatte in Großbritannien von Anfang an großes Gewicht. 1919 wurde im Zuge der in Großbritannien besonders einflußreichen Völkerbund-Bewegung an der University of Wales, Aberystwyth

der weltweit erste Lehrstuhl für Internationale Beziehungen ein-

gerichtet. Bereits ein Jahr später entstand das Royal Institute of

International

Affairs, das bis heute Diplomaten und Wissenschaftler zu Konferenzen zusammenführt und der wissenschaftlichen Politikberatung dient. Die frühe Schwerpunktsetzung in der internationalen Politik erklärt auch, warum heute an acht Universitäten eigenständige Departments

of International

Relations

neben der Politikwissenschaft im engeren Sinne existieren. 3 5 3 Es mag erstaunen, daß ausgerechnet in Schottland mit seiner führenden Rolle in Moralphilosophie, politischer Ökonomie und Sozialtheorie im 18. und 350 w e n n man davon absieht, daß unter ihrem Einfluß die politische Philosophie beinahe zum Erliegen kam, so daß Peter Laslett 1956 erklären mußte: "For the moment, anyway, political philosophy is dead" (Peter Laslett (ed.): Philosophy, Politics and Society. A Collection, Oxford: Blackwell 1956, S. VIII). 351 j 0 S é Harris: The Arts and Social Sciences, 1939-1970, in: Brian Harrison (ed.): The History of the University of Oxford. Vol. 8: The Twentieth Century, Oxford: Clarendon 1994, S. 242. 352

Zur Entwicklung einer "political science" als Teil der Geschichtswissenschaft in Cambridge vgl. Stefan Collini/Donald Winch/John Burrow: That Noble Science of Politics. A study in nineteenth-century intellectual history, Cambridge: UP 1983, S. 339ff.

353

Vgl. Fred Halliday: The Pertinence of International Relations, in: Political Studies 38 (1990), S. 504.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

225

19. Jahrhundert das Fach erst in den sechziger Jahren Fuß fassen konnte. 354 Auch daran wird deutlich, daß die viel frühere Ausdifferenzierung des Fächerkanons an den genannten englischen Hochschulen keineswegs allein mit innerwissenschaftlichen Faktoren erklärt werden kann. Es mußten äußere Antriebe hinzukommen, und hinsichtlich der Elitenausbildung war Schottland nun einmal Peripherie. Positivismus und Idealismus waren auch in Großbritannien die intellektuellen Strömungen, die das Koordinatensystem für die Selbstverständnisdebatten des jungen Fachs abgaben. Obwohl mit dem Utilitarismus, dem fabischen Konzept der Sozialwissenschaften als Sozialtechnologie und der Wallasschen politischen Verhaltenswissenschaft durchaus Anknüpfungspunkte für eine szientistische355 Politikwissenschaft zur Verfügung standen, ging die Entwicklung unter dem Einfluß des Bildungsideals der Traditionsuniversitäten in die andere Richtung. Das belegen eindrucksvoll die Antrittsvorlesungen der wichtigsten Vertreter des neuen Fachs. Fast einhellig wurde die Bezeichnung "science" für die Diszplin abgelehnt. 356 Harold Laski, der Nachfolger von Graham Wallas an der LSE, zeigte sich noch am ehesten offen für eine positivistische Orientierung, wenn er auch auf einem unaufhebbaren Unterschied zu den Naturwissenschaften bestand. "Political science has not the axiomatic quality of mathematics. (...) We deal with tendencies; we can predict upon the basis of experience. But our predictions are limited by the necessity of recognizing that the facts are not within our control. We can influence and attempt and hope; the certainty and precision of the chemist (...) can never be ours".357 Noch kurz vor seinem Tod im Vorfeld der Gründung der Political Studies Association (PSA) 1950 trat er als einer der wenigen mit Entschiedenheit, aber letztlich erfolglos, dafür ein, im Namen des Verbands den Begriff "science" zu verwenden. 358 In der Pra354

So wurde in Aberdeen Frank Bealey 1964 zum ersten Professor für Politikwissenschaft ernannt, wenn auch bereits in den fünfziger Jahren politikwissenschaftliche Lehrveranstaltungen im Rahmen anderer Studiengange angeboten worden waren (Information von Frank Bealey vom 5. September 1994).

355

Zu Utilitarismus, Comfe-Rezeption, verschiedenen Varianten sozialer Evolutionstheorien und Psychologie, die den Resonanzboden für Konzepte einer szientistischen Sozialwissenschaft bereitstellten, vgl. W.H. Greenleaf: The British Political Tradition. Vol. 1: The Rise of Collectivism, London: Methuen 1983, S. 247ff.

356

Anders als im französischen und deutschen Sprachraum hat im Englischen "science" in Abgrenzung von "arts" die starke Konnotation einer exakten Gesetzeswissenschaft.

357

H.J. Laski: On the Study of Politics, in: Preston King (ed.): The Study of Politics. A Collection of Inaugural Lectures, London: Cass 1977, S. 2.

358

Zur Gründung der PSA vgl. Norman Chester: Political Studies in Britain: Recollections and Comments, in: Political Studies 23 (1975), S. 29ff.

226

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

xis aber war auch Laski ein typisch "britischer" Vertreter des Fachs. In seinen Arbeiten spielte die geschichtliche Perspektive, insbesondere die ideengeschichtliche, immer eine entscheidende Rolle. Das gilt sowohl für die frühen Arbeiten zum Souveränitätsproblem des modernen Staats, die seinen Ruf als Pluralismustheoretiker359 begründeten, als auch für die durch einen unkonventionellen Marxismus inspirierten späteren Schriften.360 Ernest Barker, der die von Thomas H. Green und Bernard Bosanquet begonnene Tradition der Oxforder idealistischen Philosophie weiterführte, steifte in seiner Antrittsvorlesung unmißverständlich fest: "I am not altogether happy about the term 'Science'. (...) If I am to use the designation of Political Science, I shall use it, (...), to signify a method, or form of inquiry, concerned with the moral phenomena of human behaviour in political studies."361 Für eine grundsätzlich normativ-philosophische Aufgabenbestimmung trat auch G.D.H. Cole ein: "When I study past Social Theories, or for that matter the contemporary Social Theories of different societies or of schools of thought to which I do not belong, I do so, not primarily as historian or recorder or for the purpose of analysis and comparison - important as they are - but for the practical purpose of suggesting to anyone I can influence, and above all to the society to which I belong, what is the right pattern of social thought to guide social action in the circumstances of the here and now."362 Von Michael Oakeshott stammt die wohl schärfste Absage an ein szientistisches Leitbild. Nicht Wissenschaft, sondern "political education" ist sein Ziel; seine Aufgabe formuliert er als die in der "language of history" formulierte Erfassung und Vermittlung der Denk- und Handlungstraditionen einer spezifischen Gesellschaft. Denn: "Politics is the activity of attending to the general arrangements of a collection of people who, in respect of their common recognition of a manner of attending to its arrangements, compose a single community. (...)

359

Vgl. dazu Paul Q. Hirst (ed.): The Pluralist Theory of the State. Selected Writings of G.D.H. Cole, J.N. Figgis, and H.J. Laski, London and New York: Routledge 1989.

360

Inzwischen liegt eine vorzügliche Biographie vor, die insbesondere die umstrittene öffentliche Figur Harold Laski nicht mehr - wie lange Zeit üblich - einfach nur in das Koordinatensystem des Ost-West-Konflikts einordnet: Michael Newman: Harold Laski. A Political Biography, London and Basingstoke: Macmillan 1993.

361

Ernest Barker: The Study of Political Science, in: Preston King (ed.): The Study of Politics. A Collection of Inaugural Lectures, London: Cass 1977, S. 18.

362

G.D.H. Cole: Scope and Method in Social and Political Theory, in: Preston King (ed.): The Study of Politics. A Collection of Inaugural Lectures, London: Cass 1977, S. 51.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

227

This activity, then, springs neither from instant desires, nor from general principles, but from the existing traditions of behaviour themselves."363 Wir können also festhalten: Von Beginn an war die britische Politikwissenschaft geprägt von einem humanistischen Bildungsideal, einem kulturwissenschaftlich angelegten Verständnis des Gegenstands und Skepsis gegenüber positivistischen Zielvorstellungen.364 Eine Besonderheit des britischen Falls ist, etwa im Unterschied zu Deutschland oder Frankreich, die geringe Bedeutung der Rechtswissenschaft, insbesondere der Staatsrechtslehre, bei der Etablierung der Politikwissenschaft. Kaum einer der Dozenten des neuen Fachs hatte einen solchen Ausbildungshintergrund. Entsprechend beschäftigte man sich unvoreingenommener als auf dem Kontinent mit Parteien, Interessengruppen und der "public opinion" als politischen Akteuren 365 und entwickelte so ein Verständnis von den Aufgaben der vergleichenden Regierungslehre, das andernorts erst sehr spät in Abgrenzung von der Staatsrechtslehre mühsam gewonnen werden mußte. Ein "formaler Institutionalismus" konnte sich also gar nicht erst etablieren. Kennzeichnend war vielmehr ein Verständnis von politischen Institutionen, wie es der Oakeshott-Schü\er William H. Greenleaf in seiner Antrittsvorlesung skizziert hat: "(A) political institution is a form of activity which can only properly be comprehended if the ideas and purposes implicit in it and which give it meaning are also grasped".366 Auch hier finden wir wieder eine enge Anbindung von Politikwissenschaft an die Ideengeschichte.

363

Michael Oakeshott: Political Education, in: Rationalism in Politics and other essays, Indianapolis: Liberty 1991, S. 56 (Hervorhebung A.K.). Siehe auch ders.: The study of'politics' in a university, in: ebda., S. 184-218.

364

Zuletzt hat diese Zweifel an der Leistungsfähigkeit einer so verstandenen Politikwissenschaft Nevil Johnson in einem längeren Essay formuliert: Nevil Johnson: The Limits of Political Science, Oxford: Clarendon 1989. Zu seiner Einschätzung, daß das "idiom of positivism" und das "idiom of current affairs" in Großbritannien zur Vorherrschaft gelangt seien, siehe den meiner Ansicht nach berechtigten Hinweis von Dennis Kavanagh: "Many foreign observers (...) will be amazed at Johnson's portrait of British political science. They consider that it has retained its links with history and philosophy to a greater extent than in most other Western states" (Dead-end job, in: Times Higher Education Supplement vom 28.7.1989).

365

Man denke etwa an die vergleichenden Analysen von James Bryce: Moderne Demokratien. Übersetzt von Karl Loewenstein und Albrecht Mendelssohn Bartholdy, 3 Bde., München 1923-1926 [Orig. 1921],

366

W.H. Greenleaf, The World of Politics, in: Preston King (ed.): The Study of Politics. A Collection of Inaugural Lectures, London: Cass 1977, S. 242. Dieses Programm hat er meisterhaft umgesetzt in: The British Political Tradition. Vol 1: The Rise of Collectivism, vol. 2: The Ideological Heritage, vol. 3: A Much Governed Nation (in two parts), London: Methuen 1983-1987 (ein angekündigter vierter Band ist noch nicht erschienen).

228

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

3. Die Konsolidierungsphase Als auf Betreiben der UNESCO

Ende der vierziger Jahre die International

Political Science Association (IPSA) gegründet wurde, war die britische Politikwissenschaft mit William Robson an führender Stelle beteiligt. In unmittelbarem Zusammenhang damit entstand 1950 die Political Studies

Association

(PSA) als nationaler Verband. Bereits die erste Konferenz zählte ca. 50 Teilnehmer von 12 Universitäten. 367 Allerdings zeigte sich auch in dieser Hinsicht die Abneigung der Briten gegen allzuviel Professionalismus. Bis in die siebziger Jahre ähnelten PSA-Konferenzen mehr einem Clubtreffen als einer wissenschaftlichen Jahrestagung, ehe dann eine jüngere Generation die Geschicke des Verbands übernahm. 368 Die fünfziger und sechziger Jahre waren geprägt von einer regelrechten Gründungswelle neuer Universitäten und der festen Etablierung des Fachs im Kanon der Standarddisziplinen. Den Anfang machte Manchester, wo schon vorher vereinzelt Veranstaltungen zu "public administration" angeboten worden waren. 3 6 9 Bis 1960 kamen Durham, Keele 3 7 0 , Leicester und Liverpool hinzu. 1993 schließlich bestanden an 80 Universitäten Institute für Politikwissenschaft mit ca. 1.400 Dozenten. 371 Der Hinweis von Richard Rose mag für 367

Norman Chester: Political Studies in Britain: Recollections and Comments, in: Political Studies 23 (1975), S. 29ff.

368

Noch über die Jahreskonferenz von 1975 berichtete Ivor Crewe, einer der führenden britischen politischen Soziologen und Wahlforscher: "(A)cademic conferences reflect the discipline's self-image. The customary thinness of numbers and activities, the pervading atmosphere of gentle muddle, the cultivated casualness of approach all reflected an underlying lack of confidence in political science as an academic subject." (Ivor Crewe: Britain's most backward social science, in: Times Higher Education Supplement vom 11. April 1975, S. 5).

369

Vgl. dazu A.H. Birch/R.N. Spann: Mackenzie at Manchester, in: Brian Chapman/Allen Potter (eds.): W.J.M.M. Political Questions. Essays in honour of W.J.M. Mackenzie, Manchester: UP 1974, S. 1-23.

370

Hier wurde der 1993 verstorbene Samuel Finer zum ersten Professor of Political Institutions berufen. Er kann als führender Repräsentant eines historisch fundierten Institutionalismus gelten, der für den amerikanischen "mainstream" nur Spott übrig hatte: "Driven on towards the value-free empirical natural-science of politics, this great caravan comes not a whit nearer this chimaerical destination" (Samuel Finer: An Idiosyncratic Retrospect of a Putative Discipline, in: Government and Opposition 15 (1980), S. 359).

371

The Political Studies Association of the United Kingdom: Staff Directory 1993-94, o.O., o.J. Die beiden Oxforder Colleges für die Graduiertenausbildung, Nuffield College und St. Anthony's College, und die der Londoner Universität angeschlossenen Colleges werden als eigenständige Einheiten gezählt. Die gegenüber den achtziger Jahren zu verzeichnende hohe Zunahme sowohl der Zahl der Institute als auch des Personals geht auf die Anhebung der Polytechnics zu Universitäten zurück. Für die achtziger Jahre vgl. Pippa Norris: Political Studies in British Universities, in: PS: Political Science and Politics 21 (1988), S. 784.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

229

viele Länder zutreffen, daß das Fach in dieser Expansionsphase gleichzeitig auch eine inhaltliche Neuorientierung durchlief: "New chairs were usually at new institutions, where there was no problem of opposition from professors defending traditional definitions of subjects and subject matter".372 Für den britischen Fall gilt jedoch, daß das Personal überwiegend von Oxford und der LSE gestellt wurde, so daß bei allem Neuanfang ein erhebliches Maß an Kontinuität gewahrt blieb. Das heißt aber nicht, daß die britische Politikwissenschaft grundsätzlich neuerungsfeindlich war. Innovationen gingen keineswegs nur von den Neugründungen der sechziger Jahre aus. Die empirische Wahlforschung etwa begann am Nuffield College373 in Oxford, wo seit der Unterhauswahl von 1945 eine Forschergruppe um David Butler tätig ist.374 Das Nuffield College gehört heute neben Strathclyde und Essex zu den Zentren einer eher quantitativ-empirisch ausgerichteten Politikwissenschaft.375 Mit der Konsolidierung des Fachs an den britischen Universitäten war mithin kein Durchbruch szientistischer Konzepte verbunden - eher eine Einbindung, denn selbst quantitativ-empirisch arbeitende Politikwissenschaftler behielten eine gewisse Reserve gegenüber dem Enthusiasmus, mit dem vor allem ihre amerikanischen Kollegen sich der neuen Techniken und Ansätze bedienten. So hat z.B. Patrick Dunleavy, ein politischer Soziologe der jüngeren Generation in einem "state of the art"-Bericht ernüchtert festgestellt: "(T)he elaboration of methods and collection of data have outrun the available ways of theorizing or making much sense of what is discovered."376 Und selbst ein so "amerikanisch" orientierter Fachvertreter wie Jean Blondel, der sich in zahlreichen Arbeiten zur vergleichenden Regierungslehre quantitativer Methoden bedient hat, entfernt sich bei seiner Aufga372

Richard Rose: Institutionalizing Professional Political Science in Europe: A Dynamic Model. IPSA Committee on the Study of Political Science as a Discipline, Paris 1990, Ms., S. 9.

373

Vgl. Norman Chester: Economics, Politics and Social Studies in Oxford, 1900-85, London and Basingstoke: Macmillan 1986, S. 83ff.

374

Die Nuffield College Election Studies wurden von R.B. McCallum und Alison Readman (The British General Election of 1945, Oxford: UP 1947) und H. Nicholas (The British General Election of 1950, London: Macmillan 1951) begründet und ab der Unterhauswahl von 1951 von David Butler mit wechselnden Co-Autoren fortgeführt.

375

Philip Norton/Jack Hayward: Retrospective Reflections, in: dies, (eds.): The Political Science of British Politics, Brighton: Wheatsheaf 1986, S. 206.

376

Patrick Dunleavy: Mass Political Behaviour: Is There More to Learn?, in: Political Studies 38 (1990), S. 453. Derselbe Autor hat in typisch britisch-nüchterner Manier die gelaufigen Konzepte der Public Choice-Forschung einer konstruktiven Kritik unterzogen und damit einen, wie ich finde, bemerkenswerten Beitrag zur Überwindung des "dialogue of the d e a f zwischen den Anhängern von Rational Actor-Erklärungen und dem politikwissenschaftlichen "Normalbetrieb" geliefert (Democracy, Bureaucracy and Public Choice. Economic Explanations in Political Science, Hemel Hempstead: Harvester Wheatsheaf 1991).

230

Kapitel III: Politikwissenschaff

in West- und SUdeuropa

benbestimmung der Politikwissenschaft nicht sehr weit von den Aussagen der Gründergeneration: "(P)olitical science is not, and cannot be, merely the study of what is, however this is defined; it is also the study of what ought to be. (...) Such a recognition does not make political science 'unscientific'; but it has the effect of leading to the conclusion that political science has to develop, alongside the other social sciences, in its own special way." 3 7 7 Die britische Politikwissenschaft hat sich mithin durchaus aufnahmebereit für neue Trends gezeigt, ohne allerdings die eigenen Traditionen aus den Augen zu verlieren. 3 7 8 Deshalb konnten die in den sechziger Jahren in anderen Ländern so vehement geführten methodologischen Debatten und wissenschaftsideologischen Konflikte weitgehend vermieden werden. Ich würde diese Reserviertheit nicht als "muddling through" bezeichnen, wie das bisweilen geschehen ist. Bernard

Cricks Auseinandersetzung mit der amerikanischen

"behavioural revolution" Ende der fünfziger Jahre mündete so auch nicht in blanke Ablehnung, sondern vielmehr in den Versuch des Nachweises, daß die Dominanz eines szientistischen Verständnisses von Sozialwissenschaft als Resultat einer spezifischen politischen Kultur und entsprechender intellektueller Diskurse in den USA interpretiert werden müsse, so wie der deskriptive Empirismus eine spezifische britische Tradition sei: "The 'science of politics' has been a political doctrine and an intellectual movement passionately concerned to regain that original American sense of uniqueness and completeness which has been frustrated by the incalculable politics of an undeniable reinvolvement in a complicated and changing outside world. Such a movement could only succeed in the sense of foresaking actual politics for the abstract safety and certainty of pseudo-science". 3 7 9 Für die Immunität gegenüber positivistischen Vorgehensweisen dürfte auch die Abgeschlossenheit der Welt von Whitehall verantwortlich sein. Die Forschung hat hier wegen der bis heute geltenden Bestimmungen des Official Secrets Act kaum einen unmittelbaren Zugang zu den Details des politischen 377

Jean Blondel: Political Science, in: Jessica Kuper (ed.): Political Science and Political Theory, London and New York: Routledge & Kegan Paul 1987, S. viii.

378

Das gilt selbst für Wissenschaftler mit einem ausgeprägten amerikanischen Ausbildungshintergrund. So weist Bernard Crick darauf hin, daß Richard Rose sich seit der ersten Auflage von "Politics in England" (Boston: Little, Brown 1964), die noch ganz in den Kategorien des systemtheoretischen Vokabulars von Almond und Powell gehalten war, relativ schnell in die britische Tradition eingefunden habe. "By the time of his fine study of Northern Ireland, Governing Without Consensus, (im Jahr 1971; A.K.) he was himself, as it were, fully socialized into British politics." (Bernard Crick: The British Way, in: Government and Opposition 15 (1980), S. 301).

379

Bernard Crick: The American Science of Politics. Its Origins and Conditions, London: Routledge & Kegan Paul 1959, S. 248. Zum britischen Empirismus siehe auch ders.: The British Way, in: Government and Opposition 15 (1980), S. 299f.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

231

Prozesses. 380 So können etwa Informationen aus Interviews mit Ministerialbeamten nur unter erheblichen Beschränkungen wissenschaftlich ausgewertet und der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht werden. 381 Um so ausgeprägter hat sich seit den siebziger Jahren das Genre der Tagebücher, Memoiren und Biographien führender Politiker zu einer wichtigen Quelle für politikwissenschaftliche Forschung entwickelt.382

Britische Politikwissenschaftler

sind "outsiders" im politischen Tagesgeschehen, auch wenn der eine oder andere als Wahlforscher für das Fernsehen oder als Kolumnist für die Presse durchaus über öffentliches Ansehen und Einfluß verfügt.383 Obwohl in den USA schon immer intensiv über britische Politik geforscht und geschrieben wurde, hatte dies fast keine methodische Ausstrahlung auf die britische Politikwissenschaft.384 Im Gegenteil, zuweilen kann man den Eindruck gewinnen, daß amerikanische Großbritannien-Forscher mit dem Gegenstand gleich auch die traditionelle britische Herangehensweise übernommen haben. 385 Dieselbe Immunität gegenüber aktuellen Trends zeigt sich auch im Hinblick auf den Marxismus. Wie in der allgemeinen politischen Entwicklung, so setzte auch in der Politikwissenschaft erst sehr spät und eher indirekt eine Rezeption ein, obwohl doch gerade Großbritannien als entwickeltste Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts den ursprünglichen Gegenstand abgegeben hatte, an dem marxistische Theorie entwickelt worden war. Sieht man einmal 380

Das wird auch in einem jüngeren behaviouristisch orientierten "textbook" hervorgehoben: John Greenaway/Steve Smith/John Street: Deciding factors in British politics. A casestudies approach, London: Routledge 1992, S. 13f.

381

Dies hat der Autor vorliegender Studie in anderem Zusammenhang (André Kaiser: Staatshandeln ohne Staatsverständnis. Die Entwicklung des Politikfeldes Arbeitsbeziehungen in Großbritannien 1965-1990, Bochum i.E.) selbst erfahren müssen.

382

Den Anfang haben dabei die Tagebücher des Politikwissenschaftlers und LabourPolitikers Richard Crossman gemacht: The Diaries of a Cabinet Minister, 3 vols., London: Hamish Hamilton and Jonathan Cape 1975-1977.

383

Das betont auch der amerikanische Großbritannien-Experte Samuel H. Beer: Politics and Political Science, in: Dennis Kavanagh/Richard Rose (eds.): New Trends in British Politics. Issues for Research, London/Beverly Hills: Sage 1977, S. 5. Vgl. auch Jack Hayward: Cultural and contextual constraints upon the development of political science in Great Britain, in: David Easton/John G. Gunnell/Luigi Graziano (eds.): The Development of Political Science. A Comparative Survey, London and New York: Routledge 1991, S. 99ff.

384

Vgl. den Überblick bei Dennis Kavanagh: An American Science of British Politics, in: Political Studies 22 (1974), S. 251-270. Eine Ausnahme stellt eine Studie von Hugh Hedo und Aaron Wildavsky (The Public Government of Private Money, London: Macmillan 1981) dar, die gezeigt hat, wie empirische Forschung trotz der geltenden gesetzlichen Beschränkungen ministerielle Entscheidungsprozesse analysieren kann.

385

Siehe etwa die Arbeiten von Samuel H. Beer: British Politics in the Collectivist Age, New York: Vintage 1969 und ders.: Britain Against Itself. The Political Contradictions of Collectivism, London: Faber & Faber 1982.

232

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

von Harold Laskis Arbeiten der dreißiger Jahre ab, so finden sich erst im Zusammenhang mit dem Vordringen politökonomischer Erklärungsversuche des "British decline" und dem Aufstieg neokonservativer Politikmodelle seit den siebziger Jahren vermehrt Rückgriffe auf den Marxismus.386

4. Ausdifferenzierung und Professionalisierung Weder im Hinblick auf die Integration in die internationalen politikwissenschaftlichen Vereinigungen noch im Hinblick auf die Beschäftigung mit komparatistischen Fragestellungen oder anderen politischen Systemen kann heute von einer "Insularität" britischer Politikwissenschaft gesprochen werden. Auf den britischen Anteil am Zustandekommen der IPSA ist bereits hingewiesen worden. 387 Auch bei der Gründung des European Consortium for Political Research (ECPR) im Jahr 1970 spielten britische Politikwissenschaftler, allen voran Jean Blondel, eine zentrale Rolle. Von den acht Gründungsinstituten kamen nicht weniger als vier (Essex, Nuffield College, Oxford, Strathclyde) aus Großbritannien. Sowohl was die Beteiligung an Konferenzen angeht als auch hinsichtlich der Mitgliedschaft von Instituten waren die Briten im ECPR von Anfang an führend. 388 Daran hat sich bis heute nichts geändert. Verschiedene Analysen zur internationalen Vernetzung politikwissenschaftlicher Forschung anhand der Beiträge in Fachzeitschriften kommen zu dem Ergebnis, daß die britische Politikwissenschaft in hohem Maße integriert ist. So zeigten Crewes und Norris' Untersuchungen zur Beurteilung der Qualität von Fachzeitschriften durch amerikanische und britische Politikwissenschaftler einen ausgeprägten anglo-amerikanischen Konsensus. Kleinere Abweichungen betreffen allerdings immer noch das Leseverhalten. Briten interes-

386

Siehe dazu R.N. Berki: The Belated Impact of Marxism, in: Jack Hayward/Philip Norton (eds.): The Political Science of British Politics, Brighton: Wheatsheaf 1986, S. 37-51. Ganz anders allerdings die Situation in der britischen Geschichtswissenschaft, die quasi einen erklärungsbedürftigen "deviant case" darstellt.

387

Die Beteiligung britischer Politikwissenschaftler an IPSA-Konferenzen ist traditionell hoch. Auf dem Pariser Kongreß von 1985 kamen z.B. 30,0 % der Referenten aus den USA, 7,6 % aus der Bundesrepublik Deutschland und 6,8 % aus dem Vereinigten Königreich. Vgl. dazu J.A. Laponce: 'Canadian1 Political Science. Its Growth and Diversification in the Last Thirty Years, in: Dag Anckar/Erkki Berndtson (eds.): Political Science Between the Past and the Future. Essays to Mark the 50th Anniversary of the Finnish Political Science Association, Helsinki: FPSA 1988, S. 62.

388 "(T)he British, long the reluctant partners in European experiments, have been the most active single national group within the Consortium" (Kenneth Newton: The European Consortium for Political Research, in: European Journal of Political Research 20 (1991), S. 457).

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

233

sieren sich weiterhin mehr für "qualitative, reflective and theoretical work", während Amerikaner "formal, mathematical and quantitative approaches to research" bevorzugen. 389 Mit dem seit 1971 erscheinenden British Journal of Political Science besteht aber neben den eher traditionell ausgerichteten, weiterhin einen Schwerpunkt in der politischen Theorie setzenden Political Studies auch hier nun eine Plattform für explizit quantitativ-empirische Forschung. Insgesamt kann die ironische Bemerkung von Dennis Kavanagh und Richard Rose: "Until the mid-1960s, the only table a reader was likely to find in a book was the table of contents" 390 heute so nicht mehr gelten. Die britischen Fachzeitschriften sind sowohl bezüglich der Herkunft der Autoren als auch hinsichtlich des Verbreitungsgrads in hohem Maße international ausgerichtet. 391 Dafür sind neben der Integration in die internationalen Fachdiskussionen sicherlich auch außerwissenschaftliche Faktoren verantwortlich: die Dominanz der englischen Sprache in der scientific community, aber auch das Vorhandensein traditionsreicher, angesehener und international orientierter Wissenschaftsverlage in Großbritannien. Von einer Vernachlässigung oder sogar Ablehnung vergleichender Methoden in der britischen Politikwissenschaft kann ebenfalls nicht gesprochen werden. Edward Page kommt in einer statistischen Auswertung zu dem Ergebnis: "(A)n article by a Briton (...) is more likely to be a cross-national comparison than that submitted by a continental European, but less likely than scholars from other nations (above all Americans, Canadians and Australians)." 392 Allerdings weisen die britischen Beiträge in einem auffallend geringen Maße die Anwendung statistischer Methoden auf. Hier zeigt sich bei aller Professionalisierung und Internationalisierung der Disziplin ein Restbestand traditioneller Vorgehensweisen. Gegen die These von der "insularen" Orientierung spricht auch die hier vergleichsweise stark verbreitete Spezialisierung 389

Ivor Crewe/Pippa Norris: British and American Journal Evaluation: Divergence or Convergence, in: PS: Political Science and Politics 24 (1991), S. 525. Vgl. dazu auch Pippa Norris/lvor Crewe: The Reputation of Political Science Journals: Pluralist and Consensus Views, in: Political Studies 41 (1993), S. 5-23.

390

Dennis Kavanagh/Richard Rose: British Politics Since 1945: The Changing Field of Study, in: dies, (eds.): New Trends in British Politics. Issues for research, London and Beverly Hills: Sage 1977, S. 21.

391

Vgl. J.A. Laponce: Political Science: An Import-Export Analysis of Journals and Footnotes, in: Political Studies 28 (1990), S. 401-419. Hinsichtlich der Zitatnachweise von Artikeln aus führenden politikwissenschaftlichen Zeitschriften kommt Laponce zu dem Ergebnis: "A detailed, country-by-country analysis of the sources of imports shows the United States to be by far the main supplier; and Great Britain to be the second, far behind the United States but far ahead of any other country" (S. 409).

392

Edward C. Page: British Political Science and Comparative Politics, in: Political Studies 38 (1990), S. 445.

Kapitel III: Politikwissenschaft

234

in West- und

Südeuropa

in den "area studies": "Britain has continued to produce specialists not just on countries with colonial or Commonwealth connections, but on most regions of the world" 3 9 3 . Nicht nur im Hinblick auf die Zahl von Länderexperten, sondern gerade auch bezüglich der Aufbereitung solcher Forschung in "textbooks" nimmt Großbritannien eine Führungsposition ein. Inzwischen existieren quasi zu allen Regionen der Welt Forschungszentren, in denen Politikwissenschaftler mit Vertretern anderer Disziplinen zusammenarbeiten. Bei aller Angleichung an internationale Trends in den letzten beiden Dekaden lassen sich auch heute noch britische Besonderheiten ausmachen, die die Traditionen des Fachs, aber auch den gesellschaftlichen Kontext spiegeln. Dies mögen zwei Beispiele illustrieren. Auf das besondere Gewicht der "international relations" in der britischen Politikwissenschaft ist bereits hingewiesen worden. Seit den sechziger Jahren hat sich eine zwischen den international in der Teildisziplin dominierenden Grundrichtungen

des

Realismus/Neorealismus

und

des

Idealis-

mus/Globalismus vermittelnde eigenständige Position entwickelt, die insbesondere an der LSE beheimatet ist. Diese u.a. von Martin Wight394

ley Bulß 95

begründete English School of International

Relations 396

und Hedzeichnet

sich durch zwei wesentliche Charakteristika aus: Erstens geht sie davon aus, daß eine über Normen, Regeln und gemeinsame Wertvorstellungen institutionalisierte Ordnung des Staatensystems besteht, die die Perzeptionen und Handlungen der Akteure leitet. Auf dieser Grundlage werden dann auch normative Aussagen getroffen. Es dürfte nicht schwerfallen, hierin die wissenschaftliche Fortsetzung einer Traditionslinie britischer Außenpolitik zu erkennen. Zweitens lehnt diese Schule explizit die sonst dominierenden behaviouristischen und statistischen Methoden zugunsten hermeneutischer Verfahren ab.

393

394

David McKay: Is European political science inferior to or different from American political science, in: European Journal of Political Research 20 (1991), S. 463. Siehe Martin Wight: Power Politics, Leicester: UP 1978.

395

Siehe Hedley Bull: The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, London: Columbia UP 1977.

396

Als Überblick siehe Fred Halliday: The Pertinence of International Relations, in: Political Studies 38 (1990), S. 502-516. Die Bezeichnung "English School" stammt von Roy E. Jones: The English school of international relations: a case for closure, in: Review of International Studies 7 (1981), S. 1-13. Zur Frage des "Schulcharakters" vgl. Sheila Grader: The English school of international relations: evidence and evaluation, in: Review of International Studies 14 (1988), S. 29-44 und Peter Wilson: The English school of international relations: a reply to Sheila Grader, in: Review of International Studies 15 (1989), S. 49-58.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

235

Im Bereich der politischen Theorie ist seit den späten sechziger Jahren die sogenannte Cambridge Schooß91 zu einiger Berühmtheit gelangt. Sie ist ursprünglich aus dem intellektuellen Milieu der Cambridger Ideengeschichte um Peter Laslett hervorgegangen. Ihre beiden wichtigsten Vertreter sind John G.A. Pococ/c398, der heute an der Johns-Hopkins University in Baltimore lehrt, und Quentin Skinner399,

der weiterhin in Cambridge tätig ist. Die Gruppe hat

seit langem die Grenzen einer spezifisch "nationalen" Schule überschritten. 400 Ihre methodologischen Überlegungen laufen auf eine konsequente Historisierung der politischen Ideengeschichte im Sinne einer Geschichte der politischen Diskurse oder "languages" hinaus, die mit Hilfe linguistischer, auf der Austinschen Sprechakttheorie aufbauender sowie anderer hermeneutischer Verfahren rekonstruiert werden sollen. Damit ist es ihr gelungen, Einwänden der "mainstream"-Politikwissenschaft gegen die Beschäftigung mit den Klassikern wirksam zu begegnen und zu einer Wiederbelebung der politischen Ideengeschichte beizutragen.401 Im Gegensatz zur topoi-orientierten Ideengeschichte, die die Texte der Klassiker als Beiträge zu einem zeit- und raumlosen Diskurs interpretiert, und einer eher sozialhistorisch argumentierenden Tradition, in der Aussagen politischer Denker letztlich als Reaktionen auf vermeintlich objektive Daten der Außenwelt erscheinen, hält die Cambridge School an der relativen Autonomie sprachlich ausgedrückter Denkund Argumentationsmuster einerseits, an deren Gebundenheit an kulturelle Räume andererseits fest. Politische Sprachen bilden nicht einfach die "äußere" Welt ab, sie konstitutieren sie zu einem guten Teil erst. Der Ansatz

397 vg| dazu a | s überblick Hartmut Rosa: Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie: Der Beitrag der 'Cambridge School' zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S. 197-223. 398

John G.A. Pocock: The Machiavellian Moment. Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition, Princeton, N.J.: UP 1975. In deutscher Sprache liegen jetzt einige Aufsätze vor ders.: Die andere Bürgergesellschaft. Zur Dialektik von Tugend und Korruption, aus dem Englischen von Klaus Blocher, mit einem Vorwort von Werner Sewing, Frankfurt a.M. 1993.

399 Quentin Skinner: The Foundations of Modern Political Thought, 2 vols., Cambridge: UP 1978. Zur methodologischen Position vgl. James Tully (ed.): Meaning and Context. Quentin Skinner and his Critics, Cambridge: Polity 1988. 400

Bei näherem Hinschauen zeigen sich eine ganze Reihe von Berührungspunkten zum Anliegen der deutschen Begriffsgeschichte, wie sie insbesondere von Reinhart Koselleck entwickelt worden ist. Darauf hat Melvin Richter (Reconstructing the History of Political Languages: Pocock, Skinner, and the Geschichtliche Grundbegriffe, in: History and Theory 29 (1990), S. 38-70) hingewiesen. In jüngeren Publikationen der Cambridge School wird inzwischen ausdrücklich auf begriffsgeschichtliche Verfahren Bezug genommen.

401 so auch im Ergebnis die kritische Würdigung bei lain Hampsher-Monk: Political Languages in Time - The Work of J.G.A. Pocock, in: British Journal of Political Science 14 (1984), S. 89-116.

236

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

erweist sich somit durchaus als eine Fortsetzung der idealistischen Oxforder Tradition, in die sprachphilosophische Überlegungen der zweiten Phase der analytischen Philosophie Eingang gefunden haben. Auch heute noch ist der Anteil der politischen Ideengeschichte und Philosophie an den Lehrveranstaltungen und Publikationen in der britischen Politikwissenschaft vergleichsweise hoch. Die politische Philosophie hat sich dabei durch die Anwendung von aus der Volkswirtschaftslehre stammenden Ansätzen wie der Spieltheorie, Rational Choice-Modellen und Wohlfahrtsökonomik erneuert. Allerdings ist dies kein britisches Spezifikum, sondern ein internationales Phänomen. Dies allein schon deshalb, weil der Ausgangspunkt der Renaissance ein einziges Buch gewesen ist: John Rawls' "Theory of Justice" aus dem Jahr 1971. In den Worten von Brian Barry. "(T)he most exciting thing about Rawls was that he showed one could sustain rational argument about questions of 'values' over 600 or so pages."402 Auffällig ist allenfalls die "angelsächsische" Dominanz in der seit dem Erscheinen des Buchs nicht nachlassenden Debatte, die zur Zeit im Rahmen der KommunitarismusLiberalismus-Kontroverse fortgesetzt wird. Dies ist jedoch nicht so venwunderlich, wenn man in Rechnung stellt, daß John Rawls und Michael Sandel einen Teil ihres Studiums in Großbritannien absolviert haben, Charles Taylor einige Zeit in Oxford gelehrt hat und umgekehrt Alasdair Maclntyre und Brian Barry in den USA tätig sind bzw. gewesen sind.403 Aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen haben einen beträchtlichen Einfluß auf Themenkonjunkturen in der Politikwissenschaft. Seit Mitte der siebziger Jahre ist in Großbritannien eine Rückkehr zu den "klassischen" Fragestellungen der Disziplin festzustellen. Im Zuge der krisenhaften wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, dem Zerfall des Elitenkonsensus der Nachkriegszeit und der Polarisierung der politischen Lager und besonders des Reformdrucks in den Thatcher-Jahren standen plötzlich wieder institutionelle und konstitutionelle Themen auf der Tagesordnung der öffentlichen Auseinandersetzung, die in die Politikwissenschaft hineinwirkte. Beispiele dafür sind die Debatten über die Wahlrechtsreform und die vermeintliche Transformation des Parteiensystems, ausgehend von Samuel Finers "adversary politics"-These, die die bislang vorherrschende Argumentation, daß das relative Mehrheitswahlrecht zu klaren Regierungsmehrheiten und

402

403

Brian Barry: The Strange Death of Political Philosophy, in: Government and Opposition 15 (1980), S. 285. David Miller: The Resurgence of Political Theory, in: Political Studies 38 (1990), S. 422.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

237

damit zu stabilen politischen Verhältnissen beitrage, quasi umdrehte;404 des weiteren die Warnungen vor einer "elective dictaturship" bzw. vor einer Verlagerung der Machtbalance im Netzwerk des "party government";405 Studien zum Abstimmungsverhalten von MPs und zum neuen System der Select Committees im House of Commons, die zur Erneuerung der Parlamentarismusforschung beigetragen haben; 406 schließlich die Diskussion um den multinationalen Charakter des britischen Einheitsstaates407 - dazu hat Andrew Gamble mit einigem Recht vermerkt: "British politics looks very different when it is viewed not from the centre but from the periphery."408 Der lange Jahrzehnte die britische Politikwissenschaft - und nicht nur diese - bestimmende Glaube an die Vorbildlichkeit des "Westminster model of government" ist nachhaltig erschüttert worden, ohne daß allerdings bisher eine neue dominante "organizing perspective"409 in der Regierungslehre sichtbar geworden wäre. An die Stelle der Tradition ist auch hier eine Vielfalt unterschiedlichster Ansätze und Interpretationsrahmen getreten. Viel dramatischer als durch innerwissenschaftliche Entwicklungen und die Debatte um die Ursachen des "British decline" wurde die Politikwissenschaft, wie die Universitäten insgesamt, allerdings durch die neokonservative Politik der Thatcher-Jahre verändert. Begriffe wie "cost centre" und "managerial ethos" haben Einzug in den Alltag politikwissenschaftlicher Institute gehalten. Die Sozialwissenschaften werden, wie andere Bereiche des öffentlichen Sektors auch, gezwungen, ihre Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit nachzuweisen. 410

Entsprechend sind in der Politikwissenschaft Bemühungen im

Gange, eigenständige Vorschläge für Evaluierungskriterien zu unterbreiten.

404

Samuel E. Finer (ed.): Adversary Politics and Electoral Reform, London: Anthony Wigram 1975.

405

Siehe z.B. Lord Hailsham: The Dilemma of Democracy, London: Collins 1978; Nevil Johnson: In Search of the Constitution, London: Methuen 1977.

406 407

Als Überblick vgl. Philip Norton: Parliament in the 1980s, Oxford: Blackwell 1985. Vgl. z.B. Arthur Midwinter/Michael Keating/James Mitchell: Politics and Public Policy in Scotland, London and Basingstoke: Macmillan 1991.

408 Andrew Gamble: Theories of British Politics, in: Political Studies 38 (1990), S. 414. 409

W.H. Greenleaf: The British Political Tradition. Vol. 1: The Rise of Collectivism, London: Methuen 1983, S. 7.

410

In manchen Fällen ging es in den vergangenen Jahren auch nur schlicht darum, politisch mißliebiger Forschung die finanzielle Basis zu entziehen. Die Regierung konzentrierte sich darauf, den Social Science Research Council (SSRC, inzwischen umbenannt in Economic and Social Research Council [sie!]) unter Anpassungsdruck zu setzen. Vgl. dazu Paul Fiather: 'Pulling Through' - Conspiracies, Counterplots, and how the SSRC escaped the axe in 1982, in: Martin Bulmer (ed.): Social Science Research and Government. Comparative Essays on Britain and the United States, Cambridge: UP, S. 353-372.

238

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

So hat etwa Ivor Crewe neben Rankings von Fachzeitschriften auch eine Untersuchung über die Publikationsleistungen der politikwissenschaftlichen "departments" vorgelegt, in der eine erhebliche Variationsbreite des "output" pro Kopf zum Vorschein kam und anschließend in der Zunft für erheblichen Konfliktstoff sorgte. 411 Es versteht sich von selbst, daß solch eine Änderung der bildungspolitischen Rahmenbedingungen von Forschung und Lehre auf Dauer auch das Selbstverständnis der Disziplin prägen wird. Positivistischer Forschung dürfte es wohl leichter fallen, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen.

5. Schluß Die britische Politikwissenschaft kann sich mit Recht zu den Zentren 412 der Diszplin zählen. Sie ist seit langem eher Exporteur als Importeur wissenschaftlicher Ideen. Weil sie früh eine eigenständige Tradition ausgebildet hat, war sie trotz der kulturellen Nähe relativ resistent gegenüber dem Einfluß der amerikanischen Politikwissenschaft, wie sie auch insgesamt kaum an den "paradigmatic disputes" beteiligt gewesen ist, die die Politikwissenschaft anderer Länder immer wieder einmal heimgesucht haben. Bei aller Internationalisierung und Professionalisierung der Disziplin war und ist eine auf die eigenen Traditionen vertrauende pragmatische Haltung kennzeichnend, wie sie bei Anthony Birch jüngst wieder zum Ausdruck gekommen ist: "What is important is to realize that differing approaches complement one another. It is one of the great merits of political science as a discipline that its students are expected both to be numerate and to be literate, and in addition to have some capacity for philosophical reflection. There are very few academic disciplines

411

Ivor Crewe: The Research Performance of University Departments of Politics: Publications 1978 - 1984 (Ms.). Die Studie war bereits zur Veröffentlichung in der Zeitschrift Political Studies angenommen. Die Redaktion "took legal advice and decided that they were in danger of being sued by those departments that came bottom of the league" (Information von Ivor Crewe vom 25. August 1994), so daß der Artikel schließlich nicht veröffentlicht wurde. Zu dieser Untersuchung siehe auch die heftige Kritik von Kenneth Minogue: Political Science and the Gross Intellectual Product, in: Government and Opposition 21 (1986), S. 396-405.

412

Zur Anwendung des Zentrum-Peripherie-Konzepts auf die internationale Entwicklung der Politikwissenschaft siehe Dag Anckar/Erkki Berndtson: Introduction: Centers and Peripheries, Styles and Strategies, in: dies, (eds.): Political Science between the Past and the Future. Essays to Mark the 50th Anniversary of the Finnish Political Science Association, Helsinki: FPSA 1988, S. 7-22.

Die Entwicklung der britischen Politikwissenschaft

239

for which this claim could be made. Any attempt to impose methodological orthodoxy on the subject is therefore best resisted." 413

413

Anthony H. Birch: The Concepts and Theories of Modern Democracy, London and New York: Routledge 1993, S. 240.

240

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Hans-Jürgen Puhle

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

Der Zustand und die Entwicklung der Politikwissenschaft spiegeln die Politik eines Landes und einer Gesellschaft. Und die spanische Politik im 19. und 20. Jahrhundert hat es, wie es scheint, nicht sonderlich gut gemeint mit der Politikwissenschaft in Spanien: Letztere ist vergleichsweise spät entstanden, lange zurückgeblieben, zeitweise zwecks Regimelegitimation mißbraucht, von oben gegängelt und in ihrer Entwicklung aufgehalten worden, so daß sie selbst heute noch, nach den erheblichen Fortschritten der letzten zwei Jahrzehnte, viel zu wünschen übrig läßt. Sie ist gekennzeichnet durch zahlreiche Desiderate in wichtigen Forschungsbereichen, regionale Fragmentierung, ungleiches Wachstum, ungleiche Qualität und einen gebremsten, aufhaltsamen Professionalisierungsprozeß, dem ein noch relativ geringer Institutionalisierungsgrad entspricht. Die (dritte) Spanische Vereinigung für Politikwissenschaft und Verwaltungswissenschaft (AECPA) ist z.B. 1993 unter der Präsidentschaft von Carlos Alba wieder einmal neu gegründet worden, nachdem ihre Vorgängerin, die 1978 gegründete Asociación Española de Ciencia Política y Derecho Constitucional (seit 1985 unter der Präsidentschaft von Jiménez de Parga) ebenso aktionslos und unauffällig verschwunden war wie schon deren franquistische Vorläuferin aus den 50er Jahren.414 Die große Epochenscheide in der Geschichte der Politikwissenschaft in Spanien ist das Jahr 1985, in dem auf der Grundlage des Gesetzes zur Universitätsreform (LRU) vom August 1983 und einer ergänzenden Verordnung vom September 1984 die Politikwissenschaft von Staats wegen als eigenständige akademische Disziplin (área de conocimiento) etabliert worden ist. Wir müssen uns hier also sozusagen mit einer über hundertjährigen weniger autonomen Vorgeschichte befassen, deren Entwicklungslinien fraglos die Entfaltung der neuen Disziplin entscheidend vorgeprägt haben. An dieser Vorgeschichte wird nicht nur deutlich, wie anderswo auch, daß die Grenzen zwischen der entstehenden Politikwissenschaft und ihren entweder schon 414 Für Anregungen, Hinweise und Diskussion danke ich insbesondere Juan Linz, José Ramón Montero, Jacint Jordana, Peter A. Kraus und Klaus-Jürgen Nagel, die für den Inhalt und für das, was auch jetzt noch fehlt oder auf begrenztem Raum zu kurz kommen mußte, selbstverständlich keine Verantwortung tragen.

Entwicklungslinien der Politikwissenschatt in Spanien

241

etablierten oder ebenfalls gerade entstehenden Nachbarwissenschaften (wie öffentliches Recht, Soziologie, Geschichte, Ökonomie, politische Philosophie) außerordentlich durchlässig sind und sehr lange bleiben. Es wird auch deutlich, daß die Entwicklung der Politikwissenschaft in engstem Zusammenhang mit der Entwicklung und dem Wechsel der jeweiligen politischen Regime steht, auf deren spezifischen Legitimationsbedarf reagiert und regimespezifische Eigenarten ausprägt: Wahl- und Parteienforschung hat z.B. nur in wenigstens halbwegs demokratischen Systemen eine Chance und einen Sinn, die umfassende Analyse politischer Systeme setzt eben diese Systeme (und 'Systematisches') voraus, und wo keine Verfassung ist, sondern nur minimal institutionalisiertes muddling through, wie unter Franco, kann man nicht einmal ordentliches Verfassungsrecht oder Institutionenvergleich betreiben. Politikforschung und in Ansätzen Politikwissenschaft ist in Spanien bis in den Franquismus hinein hauptsächlich und noch bis in die 1980er Jahre überwiegend im Rahmen des 'Derecho Político' betrieben worden, das eben nicht nur Verfassungsrecht ist oder Staatsrecht, sondern eine unsauber abgegrenzte Mischdisziplin, zu der auch Verwaltungsrecht, Institutionenkunde, politische Doktrin- und Ideengeschichte, Sozialphilosophie und einiges an politischer Soziologie und Organisationssoziologie gehörten, die gemeinhin wenig empirisch betrieben wurde und in den Juristischen Fakultäten angesiedelt war. Bevor wir, seit Mitte der 80er Jahre und insbesondere in den 90er Jahren, von einer etablierten und zunehmend ausdifferenzierten, professionalisierten Politikwissenschaft sprechen können, die auch im internationalen Vergleich bestehen kann, lassen sich im Rahmen der "langen" Vorgeschichte grob drei Etappen oder Entwicklungsstadien unterscheiden, bei etwas feinerem Raster sind es sieben Phasen: Erstens die Zeit vom Ende des Ancien Régime am Anfang des 19. Jhts. bis zur Etablierung (2) und Differenzierung (3) des 'Derecho Político' in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jhts; zweitens die Phase der Institutionalisierung politischer Studien im Zeichen des 'Derecho Político' im autoritären Regime unter Franco zwischen 1939 und etwa 1960 (4), und drittens die Etappe des allmählichen und aufhaltsamen Übergangs vom 'Derecho Político' zur Politikwissenschaft seit 1960, der begann mit einer (5) Phase zunehmender Differenzierung unter den Einwirkungen der Modernisierung des autoritären Regimes ab 1960, dann (6) beschleunigt und in bestimmter Form kanalisiert wurde durch den Demokratisierungsprozeß auf der Schiene der 'transición pactada' (oder: 'reforma/ ruptura pactada') seit 1975 und schließlich seinen Abschluß in der institutionellen Neuordnung durch die Universitätsreform von 1985 fand, die eine vorerst letzte (7) Phase kontinuier-

242

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Sildeumpa

licher Expansion der Politikwissenschaft einleitete, die anfangs noch im Zeichen höchst ungleicher Entwicklung und vielfach gebremster Professionalisierung gestanden hat. Die Entwicklung politischer Studien in Spanien, mit mehr oder weniger großen Annäherungen an das, was wir heute Politikwissenschaft nennen, ist in den drei Etappen oder den sieben Phasen, von denen in der Folge

knapp

und skizzenhaft in einer Mischung aus Paradigmengeschichte, Organisations, Schulen- und 'Seilschaften-Geschichte und Gesellschaftsgeschichte zu reden sein wird, ebenso von den Anstößen und Inspirationen wie von den "confining conditions" des spanischen Entwicklungswegs in die Moderne geprägt worden, so u.a. davon, daß bis 1975 politische Modernisierung und sozio-ökonomische Modernisierung in Spanien nie synchron verliefen, daß letztere lange auf die Peripherie beschränkt blieb, der zentralistische Staat mit schwacher Bürgergesellschaft dagegen überwiegend von vormodernen und kaum reformierten Eliten dominiert wurde, daß das Erbe der Aufklärung schwach blieb, daß die Entwicklungsdivergenzen zwischen Zentrum und Peripherie langlebige politische Konflikte produzierten und zur Fragmentierung beitrugen, daß die - in der Regel vorbildlich liberalen - Verfassungen oft suspendiert und durch (militärische oder zivile) Herrschaft 'de hecho' ersetzt wurden (vgl. Puhle 1992, 1994b). Zum spezifisch spanischen Entwicklungsmuster gehört auch, daß es bis 1975 weniger die kurzlebigen liberal-progressiven, demokratischen und parlamentarischen Aufbrüche und Intermezzi gewesen sind, die die Institutionen und die politische Interaktion geprägt haben, z.B. nach 1812, nach 1820 und nach 1868 oder in der Zweiten Republik nach 1931, als vielmehr das konservativ gestimmte, auf Absprachen beruhende Notabeln-Regiment der Restaurationsmonarchie (1874-1923) und die Diktaturen Primo de Riveras (19231930) und Francos (1939-1975) im 20. Jht., die alle drei gleichzeitig ein hohes Modernisierungspotential aufwiesen: In der Restaurationsmonarchie, insbesondere in deren Krisenjahren nach 1898, wurden, auf der Basis vorausgegangener ökonomischer und sozialer Modernisierung an der Peripherie, politisches System und politische Organisationen modernisiert, unter Primo die Entwicklung zum Sozialstaat (von oben) angestoßen und in der letzten Phase des Franquismus nach 1960 ein zweiter umfassender Industrialisierungsprozeß in Gang gesetzt, mit sozialen, kulturellen und politischen Konsequenzen, die die spätere friedliche 'transición pactada' erst ermöglichten. Scholastisch-katholische, absolutistische und zentralistische Traditionen, Modernisierung von oben und die Schwäche von Zivilgesellschaft Und Parlamentarismus (außer in Katalonien) bewirkten, daß Politik überwiegend aus

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

243

der Perspektive des Staats (oder hierarchischer Korporationen) gesehen wurde, und der Staat wesentlich aus dem Blickwinkel der Exekutive. Ausnahmen waren hier die 'regeneracionistas' nach 1898, die katalanischen Föderalisten und die Anarchosyndikalisten. Da Konstitutionalismus und Rechtsstaat aber nicht so fest und dauerhaft verwurzelt waren wie z.B. in Deutschland, blieb gleichzeitig die rechtspositivistische Argumentation im ganzen schwächer; die normativen Inhalte wurden, auch in katholischer Tradition, stärker betont.

A. Vom Ancien Régime zur Etablierung des 'Derecho Político' 1. Ansätze im 19. Jahrhundert: 1810-1898 Bis zum Ende des Ancien Régime um 1810 hat es in Spanien, mit Ausnahme der Anfänge des Völkerrechts und des Kolonial- und Missionsdiskurses im 16. Jahrhundert und der sorgfältigen empirischen Datensammlungen der bourbonischen Reformzeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nur wenig kreative Beschäftigung mit sozialen oder politischen Phänomenen gegeben, und so gut wie überhaupt keine "große" politische Theorie, wie sie rund um die angelsächsischen Revolutionen und - auf dem Kontinent - aus dem Geiste der Aufklärung entstand. Auch im 19. Jht. sind die Bemühungen zur Aufarbeitung und theoretischen Durchdringung des liberalen Aufbruchs nach 1810, trotz intensiver politischer Debatten auf hohem Niveau, zunächst kurzlebig und begrenzt geblieben, z.B. der erste Lehrstuhl für 'Königliche Studien' (Reales Estudios) von San Isidro nach 1812, das 'Derecho Público Constitutione? von Ramón Salas im 'trienio libérât nach 1820 oder zahlreiche Aktivitäten der gleichzeitig entstehenden lokalen und regionalen DiskussionsGesellschaften {Amigos del Pais u.a.). Letzteren verdanken wir mancherorts immerhin eine Reihe wichtiger sozialwissenschaftlich nutzbarer Datensammlungen, Enquêten, Preisschriften o.ä. (vgl. Linz 1972b). José Canga Argüelles publizierte 1826 in Londoner Exil u.a. die aufbereiteten Zensusdaten von 1797 in enzyklopädischer Form. Ebenso materialreich und vielseitig, dabei aber klarer im Argument und im Ansatz vergleichend war Fernando Garridos zweibändiges Werk La España contemporánea (1865). Die systematischen Anstrengungen zur Untersuchung der politischen Elite begannen schon in den 1820er Jahren mit biographisch-prosopographischen Sammlungen über die Parlamentsabgeordneten und hohen Staatsbeamten (z.B. Fermín Cabellero 1836, später Moratilla, Fernández de los Ríos, Rico Amat); die Parlamentarier-Studien wurden in den 80er Jahren intensiviert und

244

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

verfeinert (z.B. Miguel Vigil, Sánchez Ortíz/Berastagui) und nach der Eindämmung der verbreiteten Praxis der Wahlfälschungen zumindest in den Großstädten zunehmend in wahlsoziologischer Absicht ausgebaut (insb. Sánchez de los Santos 1908ff.; vgl. insg. auch Nohlen 1970). Die erste systematische Studie über die politischen Parteien in Spanien von Andrés Borrego datiert von 1884. Wichtige spezifische und typologische Eigenarten des spanischen Regierungs- und Parteiensystems, die sich in diesen 'klassischen' Jahren der Restaurationsmonarchie herausbildeten (z.B. konservativ-liberaler Elitenkompromiß, Honoratiorenparlamentarismus, 'turno', caciquismo) hat allerdings erst Joaquín Costa mit einem originellen Paukenschlag 1901 in seiner Antwort auf eine Umfrage des Ateneo herausgearbeitet, deren ursprünglicher Titel lautete: Oligarquía y caciquismo como forma actual de gobierno en España. Stärker und kontinuierlicher wirkten im 19. Jahrhundert zunächst vor allem noch die Anstrengungen des Ateneo zur Verfassungsinterpretation, die allmählich die Strukturen dessen ausprägten, was seit Donoso Cortés' Buch von 1836 und dann zunehmend in der zweiten Jahrhunderthälfte 'Derecho Político' hieß, eine überwiegend exegetische und affirmative Darstellung und Interpretation des existierenden politischen Systems und seiner gesetzlichen Normen, für die 1857 der erste Lehrstuhl, allerdings in der Verbindung: Derecho Político y Administrativo de España, eingerichtet wurde. Der provinzielle bias war so von Anfang an eingebaut. Dabei verschob sich besonders nach der Stabilisierung des Konstitutionalismus der Akzent von der Verteidigung der liberalen Verfassung der Cortes von Cádiz (1812) und der Begründung progressiver Ansprüche gegenüber deren Suspendierung hin zur Rechtfertigung des autoritären, konservativ-rechtsliberalen Kompromisses der 30er Jahre. Dafür stehen insbesondere die Werke von Juan Donoso Cortés, dessen originelle, katholisch inspirierte Theorie der Diktatur (1849) später nicht nur Carl Schmitt beeindruckte, von Alcalá Galiano und Pacheco (1845), später E. Gil Robles. Der erste Kern des spanischen 'Derecho Político' spiegelt den konstitutionellen Elitenkompromiß einer Gesellschaft, in der die liberale "bürgerliche" Revolution früh versandete und zurückgeworfen wurde. Die positivistische Verfassungs- und Gesetzesexegese blieb entsprechend eklektisch, und neben sie traten Importe aus dem Ausland (vgl. z.B. Colmeiro 1857). Übersetzt wurden außer Constant, Mohl und Blunschli vor allem Stahl und andere konservative Autoren der deutschen historischen Rechtsschule, eines der ersten Beispiele für den 'Transfer' aus einem europäischen Diskurskontext in einen anderen. Englische Anregungen, die vor allem Canga Argüelles aus dem Exil mit zurückbrachte, blieben vorerst im ganzen ebenso

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

245

marginal wie die Diskussion der amerikanischen Federalists in der kurzen Phase der Ersten Republik 1873/74 und vor allem in Katalonien (vgl. Jutglar 1966). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde noch ein weiterer Einfluß bedeutsam: der des 'Krausismo', einer nach dem Hegel-Schüler Karl F. Krause (1781-1832) benannten, auf vereinfachten kantischen und hegelschen Versatzstücken aufbauenden organisch-korporativen Gesellschaftstheorie, die trotz ihrer antiliberalen Rückwärtsgewandtheit im ökonomischen in der Gestalt ihrer spanischen Rezeption (v.a. durch Sanz del Rio und Giner de los Ríos; vgl. Cacho Viu 1962) und im spanischen Kontext vor allem progressive und demokratische Züge aufwies, weil sie radikal laizistisch und antiklerikal war. Die krausistisch inspirierten Programme und Schulen der 1876 gegründeten Institución Libre de Enseñanza blieben bis in die Zweite Republik und den letzten Bürgerkrieg hinein außerordentlich einflußreich. Zwar bestand die "Schule für Sozialwissenschaften" von 1878 nur wenig mehr als ein Jahr, aber die Energien der Institución Libre wirkten auf breiter Front weiter, oft verbunden mit regionalen oder sektoralen Bestrebungen und Bewegungen anderer Provenienz, aus den Ateneos und Akademien, in den "linkeren" Gruppen des Katalanismus (beginnend mit Pi i Margall und Almirall) oder bei den Anarchosyndikalisten und Sozialisten aus der Arbeiterbewegung. Dafür stehen die mehr praxisbezogenen 'Arbeiter-Ateneos' ebenso wie einige der - im ganzen nicht sehr zahlreichen - originelleren Theoretiker der Arbeiterbewegung, z.B. Andréu Nin. Stark beeinflußt vom Krausismo wurden auch die gesellschaftspolitischen Bußprediger, Analytiker und Reformer der unter dem Eindruck der Krise von Staat und Gesellschaft hervortretenden "Generation von 1898", die 'regeneracionistas', vor allem Joaquín Costa, auch der frühe Ortega y Gasset und andere, die die Krise vornehmlich als Krise des ungebremsten Wirtschaftsliberalismus

interpretierten

und

kollektivistische,

genossenschaftliche

und

staatsinterventionistische Reformziele propagierten. Die von ihnen inspirierten Institute, vor allem das Instituto de Reformas Sociales nach der Jahrhundertwende und das Instituto de Reforma Agraria, haben nicht nur die sozialpolitische Gesetzgebung der Primo-Diktatur und der Zweiten Republik wesentlich vorbereitet, sondern auch - neben den statistischen Departements der Ministerien und großen Verbände - wichtige Grundlagen für empirische sozialwissenschaftliche Arbeiten gelegt, in denen die ökonomischen und sozialen Daten im Vordergrund standen (vgl. z.B. Díaz del Moral 1929; Carrión 1932; Palacio Morena 1988). Diese Traditionslinien heutiger Sozial- und Politikwissenschaft in Spanien werden - ebenso wie manche spezifisch katalanische

246

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Entwicklung - oft übersehen neben der in der Tat erdrückenden und beherrschenden Bündelung der "Vorläufer" in den expandierenden Bahnen des empirisch wesentlich ärmeren 'Derecho Político', das sich nach der Jahrhundertwende voll entfaltete.

2. Entfaltung des 'Derecho Político' 1900 -1923 Die endgültige Etablierung des 'Derecho Politico' nach der Jahrhundertwende stand wesentlich im Zeichen der Abtrennung des Verwaltungsrechts (Derecho Administrativo) als einer eigenen Disziplin im Jahre 1900, einer dadurch ermöglichten Ausweitung der Rumpfdisziplin in weite Bereiche der Staatstheorie und der politischen Soziologie und der umfangreichen Systematisierung des neuen corpus des Derecho Político durch den späten V. Santamaría de Paredes (die konservative Variante) und vor allem durch den liberaleren Adolfo González Posada, der 1915 die klassische Staatstheorie als politische Soziologie definierte (Posada 1915, 1, 55; 1929) und - auf krausistischer Grundlage - eine große Zahl einschlägiger ausländischer Autoren breit rezipierte, Spencer, Marx, Durkheim, Tarde, Gierke, Laband und Jellinek ebenso wie Hauriou, Burgess, Wilson, Bryce und Dicey. Auch der verfassungsrechtliche Systemvergleich wurde angestoßen. Im ganzen dominierte aber mehr ein dogmengeschichtlich-beschreibender als ein empirischanalytischer Zugriff, und das neuerlich entgrenzte Konvolut des 'Derecho Político' war viel zu breit und uferlos, um eine disziplinierte Professionalisierung des Fachs zu erlauben (vgl. Rubio Llórente 1970).

3. Differenzierung 1923-1939 Dies änderte sich auch nicht sonderlich in dem auf Posadas "Kodifizierung" folgenden Differenzierungsprozeß der Jahre zwischen dem Beginn der PrimoDiktatur (1923) und dem Ende von Republik und Bürgerkrieg (1939). In dieser Zeit wurden - angeregt und unterstützt durch die Arbeiten des Philosophen José Ortega y Gasset und den Kreis um dessen Revista de Occidente - insb. deutsche Autoren, vor allem Rechtsphilosophen und Kultursoziologen, aber auch die klassischen englischen Theoretiker (v. a. durch T. González u. T. Elorrieta) rezipiert, sowie von den neueren u. a. (nochmals) Jellinek, Kelsen, Harold Laski und Carl Schmitt - hier schließt sich ein Kreis, da Schmitt in manchem an Donoso Cortés anknüpft. Dabei wurden, neben dem mainstre-

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

247

am, zwei Richtungen deutlicher akzentuiert: zum einen eine wieder stärker krausistisch inspirierte, idealistische und humanitär-sozialistische Interpretation von Gesellschaft und Staat, insb. in den Werken von Fernando de los Rios, einem der wichtigeren sozialistischen Politiker der. Republik, und zum anderen eine prononciert katholische Interpretation, insb. im Werk von Carlos Ruiz del Castillo, der später zu einem der führenden Vertreter des 'Derecho Politico' der Franco-Zeit wurde. Letztere profitierte zudem auch von der Konjunktur korporatistischer Ideen in den Jahren der Primo-Diktatur und im Zeichen der politischen Polarisierung der Zweiten Republik (z.B. bei E. Aunós). Die abrupten Regimewechsel und institutionellen Veränderungen der 20er und 30er Jahre vergrößerten zunehmend auch das Interesse eines breiteren Publikums an den unterschiedlichen Möglichkeiten politischer Ordnung und verstärkten die Nachfrage nach empirischen Darstellungen der Verfassungs-, Regierungs-, Wahl- und Parteiensysteme anderer Länder, auf die man z.T. mit Übersetzungen einschlägiger Standardwerke, z.T. auch mit kleineren, gelegentlich sogar vergleichend inspirierten Handbüchern reagierte. Selbst wenn dieses breitere empirische Interesse institutionell in erster Linie der sich entwickelnden Soziologie zugute kam (vgl. z.B. Ayala 1932) und seine Rückwirkungen auf die mit Politik befaßten Wissenschaften in den Jahren der Republik noch auf Enklaven beschränkt blieben (z.B. das Seminari de Ciència Politica der Universität Autònoma de Barcelona), hat sich die Beschäftigung mit den Regierungssystemen anderer Länder auch weiterhin allmählich als ein wichtiger Kern einer zukünftigen empirischen Politikwissenschaft festigen können. Noch die Madrider Studenten der späten 40er und der 50er Jahre haben wesentlich mehr über'zahlreiche europäische und überseeische Verfassungs- und Regierungssysteme erfahren als über das spanische System, das es ja als System auch nicht so recht gab und dessen Ärmlichkeit unter systematischen Gesichtspunkten eher beschämend war. Der Beitrag der Staatsrechtslehre zum Niedergang oder zur Verteidigung der Republik war in Spanien offenbar in beiden Fällen geringer als in Deutschland, weil die Politiker und alle wichtigen Gruppen die - überdies schneller ablaufenden - Ereignisse offenbar viel mehr 'de hecho' betrachteten und nicht so sehr als juristische Probleme. Spanien hatte weder einen Carl Schmitt noch einen Hermann Heller, aber beide wurden fleißig rezipiert, wenn auch fern vom Verlauf der Politik (vgl. Heller 1931; López-Pina Hrsg. 1985). Der gebremste Rechtspositivismus machte die Verfassungsbrüche der Franquisten nicht zu einem größeren Problem; die Fixierung auf inhaltliche Normen, zumal mit katholischem Hintergrund, erleichterte vielen den Übergang zu den neuen Herren; und die Tatsache, daß die einflußreiche krausistische

248

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Tradition nicht hundertprozentig liberal war und auch starke korporativistische Elemente aufwies, schwächte den möglichen Widerstand gegen die antiliberale faschistische Doktrin der "nationalen Bewegung".

B. 'Derecho Político' im autoritären Regime 4. Erste Institutionalisierung im Franquismus 1939 - 1 9 6 0 Es sind ausgerechnet die ersten Jahre des Franquismus gewesen, die einen weiteren Fortschritt der Institutionalisierung "Politischer Studien" und (ausdrücklich) "Politischer Wissenschaften" über das 'Derecho Político' hinaus in Spanien gebracht haben: Das Instituto de Estudios Políticos (IEP, heute: Centro de Estudios Constitucionales) wurde -technisch wohl in loser Anknüpfung an das französische Modell - auf Initiative der Regierung im September 1939 gegründet, seine Zeitschrift Revista de Estudios Políticos 1941. Zwei Jahre später (1943) wurde an der Madrider Zentraluniversität (U. Complutense) die erste Fakultät für Politische und Wirtschaftswissenschaften (Facultad de Ciencias Políticas y Económicas), später: Politische Wissenschaften und Soziologie, gegründet, die 42 Jahre lang (bis 1985) die einzige Spaniens bleiben sollte. Die Motive waren nicht unbedingt in der Wissenschaft oder im Bedarf an wissenschaftlicher Beratung zu suchen. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten des Franquismus, daß ein Regime, dessen Legitimations- und Ideologiebedarf im Vergleich außerordentlich gering war, sogleich eine Institution schuf, die eben dies, Ideologie und Legitimation organisieren und die 'Doktrin' der Bewegung definieren sollte (vgl. Puhle 1995). Zum einen konnte dies der Ruhigstellung und Beschäftigung der faschistischen Falangisten dienen, die im politischen Alltag eher störten. Ein weiterer plausibler Erklärungsansatz ist möglicherweise darin zu suchen, daß die Neigung des Regimes zur Institutionalisierung (etwa in einer neuen Verfassung) noch geringer war als der Bedarf an Ideologie und Legitimation, daß folglich nicht so sehr Verfahrensregeln gefragt, sondern vornehmlich inhaltliche Ziele zu definieren waren und dies nach der überhasteten Zwangsvereinigung von faschistischer Falange und katholischen und konservativen Traditionalisten verschiedener Provenienz im Bürgerkrieg noch eine Menge Programmarbeit und Koordination erforderte, die irgendwo geleistet werden mußte. Wie in der gleichzeitig gegründeten nationalen Forschungsorganisation, dem Consejo Superior de Investiga-ciones Científicas (CSIC), das als Bollwerk der national-katholischen Gruppen der Franco-Bewegung und des

Entwicklungslinien

der Politikwissenschaft

in Spanien

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Opus Dei gegenüber den radikaleren Falangisten konzipiert war, dominierte auch im IEP unter der Leitung von A. García Valdecasas und F.M. Castiella zunächst eine autoritäre, katholisch-korporativistische Orientierung (vgl. Ynfante 1970; CSIC 1964), später unter F.J. Conde eher ein intellektueller Faschismus. Aber die Direktoren und die attraktiveren Professoren der Studienzentren waren überwiegend doch weniger Ideologen und mehr Wissenschaftler mit breiten soziologischen und gesellschafts- und politiktheoretischen Interessen. Die Zeitschrift des Instituts wurde nicht systematisch zensiert, und die Artikel der ersten fünfzehn Jahre weisen neben mancher Mediokrität auch eine gewisse Breite und Liberalität (oder ideologische Schlamperei) aus (vgl. REP, Indice 1957). Die Lehrstühle für 'Derecho Político' in den Juristischen Fakultäten der Universitäten blieben nach dem Bürgerkrieg bestehen, wurden aber personell und inhaltlich von liberalen und republikanischen Spuren gereinigt. Francisco Javier Conde, neben Ruiz del Castillo und später Luis Sánchez Agesta der prononcierteste Vertreter des franquistischen 'Derecho Político' und Direktor des IEP zwischen 1948 und 1956, proklamierte schon 1942 in seiner Introducción al Derecho Político Actual den spanischen 'Sondenweg' in Sachen Staatstheorie: Da die Spanier als einzige in Europa nicht den Weg zum "modernen Staat" eingeschlagen hätten, hätten sie es auch nicht nötig, diesen zu analysieren. Das spanische 'Derecho Político' sei mithin auf völlig neue Grundlagen zu stellen. Dem entsprach die Rückwendung zu den Lehren der katholischen Scholastik und des Naturrechts, ein antipositivistischer Affekt, eine zunehmende Schmitt- (später auch eine konservativ gewendete Heller-) Rezeption und vor allem die Suche nach einer Staatstheorie, die kompatibel war mit den Realitäten des Franco-Regimes und die Conde in der "Theorie autoritärer Führung" ('caudillaje') fand. Die neuen Studienpläne von 1944 gaben der Teoría del Estado, später auch der Teoría de Organización Política und Historia de las Ideas Políticas breiten Raum im curriculum, vor allem an der neuen Madrider Fakultät. 'Derecho Político' zielte bis in die 50er Jahre einerseits ab auf politische Doktrinbildung und das am Ende vergebliche Bemühen, aus passenden selektiven Versatzstücken eine halbwegs plausible und regimenahe Gesellschaftstheorie zu bauen. Andererseits bot es aber auch zunehmend Raum für die Vermittlung allgemeiner und systematischer gesellschaftstheoretischer und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Der Kurs über "Doktrin und Politik der Bewegung" von Fernández Cuesta an der Madrider Fakultät z.B. währte nur kurz und wurde später von Hernández-Rubio in andere Bahnen gelenkt. Selbst Conde vermittelte neben Carl Schmitt u.a. Rousseau, Proudhon,

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Freyer und zahlreiche neuere Konzepte der Soziologie. Comte, Lorenz vom Stein, Max Weber, Tönnies, Scheler, Pareto, Mannheim (merkwürdigerweise nicht Durkheim) wurden gelesen. Das vergleichende Verfassungsrecht wurde zunehmend weltoffen ausgebaut von Garcia Pelayo, später von Ollero und Fraga Iribarne, und Luis Sánchez Agesta begann wieder mit der Analyse der spanischen Verfassungs- und Reglerungssysteme vor 1936. Dabei wirkten sich schon seit den 50er Jahren das Ende der spanischen Isolierung und die Öffnung des Regimes zur westlichen Welt ebenso aus wie die damit einhergehende allmähliche innere Liberalisierung zumindest des intellektuellen Lebens (vgl. Payne 1987; Diaz 1983). Das autoritäre (und eben nicht totalitäre) Regime erhob zunehmend keinen Anspruch mehr auf eine verbindliche Ideologie, pflegte einen gewissen inneren Programm- und Werte"Pluralismus" und erlaubte Differenzierung, die durch die Zahl neugeschaffener Lehrstühle (bzw. Abteilungen des Forschungsinstituts) auch institutionell abgestützt wurde. Carlos Ollero, neben Sánchez Agesta und Francisco Murillo Ferrol (Granada) einer jener einflußreichen Ordinarien der Franco-Zelt, die wahrnahmen, was außerhalb Spaniens in der Zunft geschah, in deren Umkreis kreative (auch ketzerische) Schüler gediehen und die den Wandel der 60er Jahre entscheidend vorbereitet und beeinflußt haben, hat 1960 (zuerst auf deutsch) eine Bilanz der Politischen Wissenschaften in Spanien vorgelegt, die deutlich macht, wie sehr sich bereits gegen Ende der 50er Jahre sowohl das alte 'Derecho Político' als auch die neuere Teoria del Estado' aufgespalten und in Teilbereiche dirimiert hatten (vgl. Ollero 1960). Gefördert wurde dieser Prozeß auch durch die ständige Rezeption der Werke emigrierter spanischer Sozialwissenschaftler, z.B. des dreibändigen Tratado de Sociología von Francisco Ayala (1947) oder der Werke von José Medina Echeverría (1940, 1946), und durch den Import der großen KlassikerEditionen und -Übersetzungen (z.B. Max Weber) lateinamerikanischer Verlage (z.B. Fondo de Cultura Económica in México, Losada in Buenos Aires). Es wäre lohnend, die parallelen Entwicklungen der spanischen Sozialwissenschaften in Spanien und im Exil in ihren Wirkungen aufeinander näher zu untersuchen: Spanien war zunehmend weniger isoliert. Am uninteressantesten erscheinen in jener Zeit in Spanien die wenigen Wahrer der 'klassischen' Breite des 'Derecho Político' (z.B. Pérez Serrano, González García, Carro Martínez) und die Sozialphilosophen (z.B. Fernández Miranda), von eher punktuellem Interesse die mehr historisch orientierten (z.B. Lojendio, Hernández-Rubio, Fernández-Carvajal, der Immerhin als einer der ersten über eine reformistische Welterentwicklung des Franco-Regimes nachdachte) gegenüber den an konkreter Institutionenanalyse Interessierten

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

251

(z.B. Lucas Verdú, Jiménez de Parga, Sevilla) und den ausgeprägten Vertretern politischer Soziologie (Ramiro Rico, Tierno Galván, Murillo). Enrique Tierno, ein Oppositioneller und liberaler Sozialist, der 1954 Ordinarius in Salamanca wurde und später des öfteren vom Regime gemaßregelt, war die große Ausnahme und daher für die Studenten besonders attraktiv. Aber auch der Kreis um Sánchez Agesta, der später nach Madrid ging, den in der akademischen Lehre sehr breit und nachhaltig wirkenden Francisco Murillo und später José Cazorla (und das Archivo) in Granada sowie die große Madrider Fakultät waren wichtige Zentren inhaltlicher und methodischer Differenzierung. Besonders in letzterer etablierte sich neben den einschlägigen klassischen Bereichen wie Verfassungs-, Staats- und Verwaltungsrecht, Ökonomie und politischer Ideengeschichte (z.B. Ollero, Fraga, Diez del Corral, Truyol y Serra, José Antonio Maravall) auf Initiative von Enrique Gómez Arboleya eine vielseitige Abteilung für politische Soziologie, in der auch Saiustiano del Campo, Raúl Morodo und zeitweise der aus Amerika zurückgekommene Juan Linz wirkten. Auch im IEP nahm das Eigenleben der neuen bereichsbezogenen Abteilungen und Arbeitsgruppen zu; einige von ihnen gaben sogar eigene Zeitschriften heraus.

C. Vom 'Derecho Político' zur Politikwissenschaft 5. Differenzierung im Zeichen der Modernisierung des autoritären Regimes: 1960-1975 Josep Maria Vallès hat in seinem Beitrag von 1991 die Periode von 1940 bis 1975 unter das Motto gestellt: "from 'political doctrine' to political science", und er läßt 1975 einen neuen Periodisierungsabschnitt beginnen (Vallès 1991b). Zweifellos ist das Ende des Franco-Regimes und der Beginn der 'transición' 1975 ein wichtiger Phaseneinschnitt, der auch hier respektiert wird. Ich neige aber dazu, die Zunahme der Ausdifferenzierung in der Modernisierungsphase des Franquismus seit etwa 1960 auch im Bereich der spanischen Sozialwissenschaften gerade unter dem Motto: "from 'political doctrine" to political science" für wichtiger zu halten und folglich den Einschnitt um 1960 ebenso wie die Kontinuität zwischen dieser letzten Phase des Franquismus nach 1960 und der weiteren Entwicklung in der nachautoritären Demokratie nach 1975 stärker zu betonen. Von daher ergibt sich hier eine etwas anders akzentuierte Periodisierung. Das "Neue" fing, wie auf anderen Gebieten auch, ganz entscheidend schon im Franquismus an (vgl. Puhle 1994a, 1995).

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Kapitel III: Politikwissenschaft in Wesf- und Südeuropa

Die schon gegen Ende der 50er Jahre zumindest für einige Zentren festgestellte Differenzierung und Segmentierung des 'Derecho Político' und der Sozialwissenschaften im allgemeinen wurde in den 60er Jahren erheblich beschleunigt und verbreitert. Der entscheidende Auslöser war der Wechsel in der Politik des Regimes von der repressiven Verwaltung des Mangels und der Isolierung zu einer umfassenden, technokratisch konzipierten und staatlich gelenkten Modernisierungs- und Entwicklungspolitik, die vielfältigen sozialen und kulturellen Wandel bewirkte und zunehmenden Erwartungsdruck auch für die Politik aufbaute. Regimedoktrin und Staatstheorie wurden endgültig unwichtig; neue Dimensionen und Folgen ökonomischen und sozialen Wandels waren ebenso zu analysieren wie die Voraussetzungen und Chancen ökonomischer und politischer Planung. Zum einen bedeutete dies eine verstärkte Wendung zur Empirie, zum anderen ein Vordringen, insb. amerikanischer systemtheoretisch inspirierter entwicklungstheoretischer ('developmentalist') Ansätze, am deutlichsten zuerst in den Arbeiten von Murillo, Cazorla und anderen in Granada und Madrid. Eng damit verbunden war der zwar etwas verzögerte, aber unaufhaltsame Aufstieg der überwiegend empirischen Soziologie, der ab 1973 in Madrid auch zur licenciatura führte, zunächst vor allem in den scheinbar etwas politikferneren Bereichen der Markt- und Meinungsforschung, der Gruppen- und Verhaltensanalysen, in denen sich nicht nur private Forschungsinstitute unter Anleitung akademischer Soziologen, sondern seit 1964 auch das staatliche Instituto Español de Opinión Pública (später: Centro de Investigaciones Sociológicas, CIS) betätigten, dessen Zeitschrift (Revista Española de Opinión Pública, seit 1978 Revista Española de Investigaciones Sociológicas) im empirischen Bereich bis heute oft das fehlende politikwissenschaftliche Zentralorgan hat ersetzen müssen (vgl. Gómez Arboleya 1958; Giner u. Moreno Hrsg. 1990; de Miguel 1972, 1975b). Die Schwerpunkte der expandierenden soziologischen Forschung lagen vor allem in der Untersuchung ökonomischer und politischer Eliten, auch auf regionaler und lokaler Ebene (z.B. die Studie von J. Linz über das ländliche Andalusien 1971), insbesondere Unternehmern (v.a. Linz u. A. de Miguel 1966), Richtern (Toharia 1975), Parlamentariern (Linz u. J. de Miguel 1977), Beamten und Militärs (z.B. Bertrán 1977; Busquets 1967; Ballbé 1983), in Übersichtsanalysen zur Sozialstruktur und zu Kontinuitätsaspekten des Parteiensystems und des politischen Personals (z.B. Linz 1972a, 1974). Verdienste haben sich hier vor gllem Juan Linz, Amando und Jesús de Miguel, Juan Diez Nicolás und Francisco Andrés Orizo erworben.

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

253

Um 1970 hatten sehr viele spanische Soziologen und Politikwissenschaftler, die auf sich hielten - wenn sie nicht ausschließlich Juristen waren und eine Anwaltskanzlei betrieben - ein kleines privates Markt- oder Meinungsforschungsinstitut an der Hand, das ihnen bessere Arbeitsbedingungen ermöglichte als die Universität und in der Regel den Zugang zu auf dem Markt eingeworbenen Forschungsmitteln und gelegentlich zu Einfluß und zu politischen oder Marktentscheidungen eröffnete. Wir verdanken solchen Instituten, insbesondere den größeren unter ihnen eine Reihe wichtiger Pionierstudien der 60er und 70er Jahre, so z.B. DATA umfassende Untersuchungen zur Sozialstruktur, zum Konsum- und Sparverhalten, über Jugendkohorten, und der FOESSA-Stiftung die großen Informes zum sozialen Wandel und später auch zur politischen Transformation nach 1975 (insb. Linz u.a. 1977, 1981). Der Übergang zu jenen "Aktiengesellschaften" (S.A.), die in den letzten FrancoJahren unter dem Deckmantel "politischer" oder "sozialer Studien" als klandestiner Partei-Ersatz, und oft als Vorstufe der späteren Parteien, fungierten, war fließend. Überdies begünstigte auch der Umstand, daß seit den 60er Jahren die rivalisierenden Fraktionen des franquistischen Herrschaftskartells offener in Erscheinung traten, man sie zählen und ihren jeweiligen Einfluß analysieren konnte, den allgemeinen Trend, daß auch die bescheidenste soziologische Fliegenbeinzählerei nicht länger politikfern sein mußte (vgl. die diversen Sociologías del Franquismo jener Jahre, z.B. de Miguel 1975a; Viver 1978). Die Zeit der politischen Soziologie, die das Regime, seine Institutionen und Fraktionen aussparte, war vorbei. Gleichzeitig verstärkte seit der zweiten Hälfte der 60er Jahre die zunehmende politische Mobilisierung in einem generell liberaler gewordenen Umfeld (in oppositionellen Arbeitergewerkschaften, Studentenverbänden, regionalistischen Gruppen und intellektuellen Zirkeln) auch die Nachfrage nach politischem Sachverstand, nach genauen und systematischen Informationen über die gesellschaftliche Realität Spaniens und die unmittelbare Vergangenheit und nach denkbaren alternativen Modellen für die weitere Entwicklung des Landes. Diese Nachfrage wurde im akademischen Bereich und darüber hinaus, z.B. in den Leitartikeln der Presse, zunächst überwiegend von Zeithistorikern, Philosophen, vereinzelten Ökonomen und Verwaltungsrechtlern und von Vertretern des Derecho Político bedient (vgl. García Fernández 1982), die dadurch auch innerhalb der Juristischen Fakultäten an Reputation gewannen. Unter den gängigsten Medien waren 'Einführungen' (z.B. Solé Tura 1971) und neue Editionen spanischer Verfassungstexte und historischer Dokumente zur Autonomiefrage (z.B. Tierno Galván 1968; González Casanova 1974). In der letzten Phase des Franquismus kam an einigen Universitäten

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Kapitel III: Politikwissenschan in West- und Südeuropa

auch der Wiederbelebung der Idee von der 'relativen Autonomie' des Politischen im Zuge der Rezeption marxistisch inspirierter Staatstheorie besondere Bedeutung zu. Beliebt waren neben älteren und neueren Klassenkampf- und Konflikttheorien Ansätze der New Left, die kritische Theorie der Frankfurter Schule, später (etwas modischer) Gramsci sowie Poulantzas und (vor allem bei den Philosophen in Barcelona) die neueren französischen Autoren zur marxistischen Staatstheorie. So wichtig diese Entwicklungen für die praktische Politik zumindest in dem für die spätere spanische Demokratisierung bedeutsamen intellektuellen und elitären Bereich gewesen sind, so sehr haben sie allerdings auch eine poliiikwissenschaftliche Professionalisierung dieser Teildisziplinen eher verzögert: Zum einen gab es die Versuchungen der leichten und modischen, kampfbezogenen

Ideologieproduktion

-

analog

zur

katalanischen

"Volksfront-

Historiographie" (E. Ucelay da Cal) - und zum anderen waren gerade einige der wichtigsten Exponenten dieser neuen akademischen Strömungen (z.B. E. Tierno Galván, R. Morodo in Madrid/ Salamanca, J. Solé Tura in Barcelona) gleichzeitig auch zentrale Führungsfiguren der antifranquistischen

Oppositi-

on, was die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik verwischte. Mehr zur allmählichen Professionalisierung trug dagegen seit den späten 60er Jahren ein genuiner Political Sc/'ence-Ansatz (wenn auch stark mit politischer Soziologie durchsetzt; wer will das trennen?) bei, der u.a. auf die Rezeption von Duverger, C.J. Friedrich, Loewenstein, Lipset und anderen amerikanischen Klassikern sowie der Meinungsforschung aus Ann Arbor zurückgeht, theoretische und empirische Aspekte verbindet und insbesondere in den Gruppen um Murillo und Ollero (und das Boletín Informativo, 1969-73), in Granada, Madrid und Barcelona gepflegt und differenziert wurde. Umfassende Fragestellungen Max Webers und Paretos wurden nicht nur über Parsons, sondern vor allem auch über den ständig präsenten Juan Linz (Yale University) vermittelt, dessen weiteres oeuvre im amerikanischen und internationalen Kontext (z.B. auch über autoritäre Regime, breakdown of democracy, die Entwicklung von Parteiensystem, Movimiento, Regimeloyalität, Opposition und peripheren Nationalismen in Spanien oder über Methodenfragen, zuletzt über transitions und Regimeübergänge) allerdings nicht ohne weiteres der Politikwissenschaft oder politischen Soziologie in Spanien zugeschrieben werden kann (vgl. auch Jérez Mir 1993). Selbst dem traditionellen Stiefkind des 'Derecho Político', das im Franquismus überdies noch unerwünscht war, der empirischen Analyse des politischen Prozesses in der Interaktion zwischen Institutionen und konkreten politischen Gruppen und Interessen, rückte man vereinzelt zu Leibe, erst in Untersuchungen über Parteien, pressure

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

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groups und Wahlen in der Zweiten Republik, noch sehr formal und altmodisch bei M. Martínez Cuadrado (1969), M. Ramírez (1969) und M. Artola (1974), wesentlich gründlicher und aussagekräftiger bei José Ramón Montero (1977) und Isidre Molas (1972), die inzwischen zwei der wichtigsten Zentren der spanischen Politikwissenschaft leiten, oder bei Javier Tusell (1970/71). Die Kommunikation mit dem europäischen Ausland und den USA nahm zwar schon zu, aber viele Fragestellungen blieben noch der Tradition des 'Derecho Político' verhaftet, empirische Vergleiche äußerst selten. Der neue politikwissenschaftliche Professionalisierungsschub hatte gerade erst begonnen, als das Franco-Regime zu Ende ging (vgl. z.B. den Stand in Fraga u.a. Hrsg., 1974).

6. 'Paktierte' Demokratisierung und Politikwissenschaft: 1975 -1985 Der Übergang vom autoritären Regime zur Demokratie in den Jahren zwischen 1975 und 1982 und die daran anschließende weitere Konsolidierung der spanischen Demokratie haben die skizzierte Entwicklung vom 'Derecho Político' zur Politikwissenschaft nicht unterbrochen, sondern beschleunigt und verbreitert, allerdings allmählich und ungleichgewichtig. Die große institutionelle Neuordnung kam erst mit der Universitätsreform von 1983/85. Vor diesem Einschnitt änderte sich institutionell sehr wenig, personell ohnehin nichts Wesentliches. Die akademischen Selektionsmechanismen, die in Spanien zudem traditionell durch starke Tendenzen zur "Endogamie" und zu Karrieren am Ort mittels Hausberufungen gekennzeichnet sind, blieben dieselben, ebenso die disziplinären Bereiche, die Schulen und die in einer rhetorisch-literarischen und personalistischen Intellektuellenkultur ausgeprägten lokalen und regionalen Seilschaften. Lediglich die beiden großen Staatsinstitute (IEP und IEOP) wurden umbenannt und langsam "demokratisiert", wobei der Professionalisierungsprozess im neuen CIS unter der Leitung von J. Santamaria und Rosa Conde wesentlich schneller verlief und tiefer ging als im neuen CEC, dessen Zeitschrift (REP) noch heute altmodisch und konturlos erscheint. Außerdem wurden eine Reihe neuer Zeitschriften zu speziellen Problemen gegründet, neben den Programmorganen politischer Stiftungen (z.B. 'Sistema) vor allem die 'Revista de Derecho Político' (1978) und die 'Revista de Política Comparada' (1980) sowie die wesentlich weltoffeneren 'Estudis Electorals' (1978) des katalanischen Equip de Sociologia Electoral (ESE) unter Leitung von J.M. Vallès und Maria Rosa Virós. Bemerkenswert war auch die weitere Entfaltung des Verwaltungsrechts (u.a. um Eduardo García de Enterria und die Revista

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Kapitel III: Politikwissenschañ in West- und Sildeuropa

de Administración Pública), dessen Debatten bereits im letzten Jahrzehnt des Franquismus die Rechtsstaats-Diskussion intensiviert und die Institutionen des Regimes zunehmend systematisch in Frage gestellt hatten (vgl. Garcia de Enterria 1961). Die Neugründung der Gesellschaft für Politikwissenschaft und Verfassungsrecht von 1978 blieb dagegen so gut wie folgenlos. Stärkere Anregungen sind demgegenüber ausgegangen von den intensivierten Kontakten mit ausländischen Stiftungen, Institutionen und Kollegen während der eigentlichen 'Transition'-Phase und den gemeinsamen Diskussionen über substantielle, institutionelle und technische Probleme der Demokratisierung, aus denen eine ganze Reihe größerer (aber leider nicht langfristig genug planbarer) kooperativer Forschungsprojekte hervorgegangen sind und die auch beigetragen haben zur schnelleren Professionalisierung eines Teils der jüngeren spanischen Wissenschaftler. Hilfreich waren hier u.a. die Friedrich-Ebert-Stiftung, die sich vor allem am Anfang parallel zu den Verfassungsberatungen um eine zeitgemäße Aufarbeitung der traditionelleren Probleme des Verfassungsrechts und des Institutionenbaus bemüht hat, die Volkswagen-Stiftung, die besonders deutsch-spanische und internationale Gemeinschaftsprojekte im südeuropäischen Vergleich gefördert hat, und das spanisch-amerikanische Committee for Scientific and Technical Cooperation. Die thematischen Schwerpunkte waren u.a. die Probleme parlamentarischer Regierung, Beziehungen zwischen Legislative und Exekutive, Föderalismus und Regionalismus, später die politisch-institutionelle und soziale Entwicklung der neuen 'Autonomen Gemeinschaften' (Comunidades Autónomas), Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit, Verwaltungsreform, zivile Kontrolle der Militärs, Presse- und Informationsfreiheit, Parteienentwicklung und Wahlsoziologie, Gewerkschaftsorganisation und Arbeitsbeziehungen (vgl. u.a. Trujillo 1979; Gunther u.a. 1986; Linz u. Montero Hrsg. 1986; Linz 1986). Dabei ist die spanische Politikwissenschaft allerdings keineswegs über Nacht auf den Stand der weiter entwickelten disziplinaren communities in Westeuropa und Nordamerika gebracht worden. Sie wurde weder zu einer ausstrahlenden "Demokratiewissenschaft", noch strebte sie eine umfassende Gesellschafts- oder Systemanalyse an. Die Fortschritte blieben eher inkrementell. Daß dabei neben den traditionellen staats- und verfassungsrechtlichen Problemen zunächst vor allem die empirische Wahl- und Umfrageforschung im Zentrum der Aufmerksamkeit stand und schnell zum zweiten, auch international konkurrenzfähigen, Standbein der spanischen Politikwissenschaft geworden ist, ist kein Zufall. Zum einen gab es den langen Vorlauf der empirischen Soziologie und entsprechende Forschungsinteressen der spanischen und ausländischen Wissenschaftler. Die Methoden waren leicht über-

Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in Spanien

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tragbar und vermittelbar, die intellektuellen Kosten für die Ausländer gering und die Projektfinanzierung relativ leicht angesichts des großen öffentlichen Interesses an den ersten Wahlen in der neuen Demokratie (vgl. die Überblikke in: Montero u. Pallares 1992; Cotarelo Hrsg. 1994). Zum anderen hat der methodische bias der Entwicklung der Sozialwissenschaften in der Demokratisierungsphase zugunsten des Verfassungsrechts und der Wahlforschung auch mit dem spezifischen Charakter der spanischen Transition' zu tun: Es war eine 'paktierte Transition' in den Bahnen der alten Legalität, reformistisch, ohne revolutionären Bruch und nennenswerte Mobilisierung, die zunächst im Kompromiß der politischen Eliten ausgehandelt wurde. Es ging um einen neuen politischen Institutionenbau und nicht, wie in den 60er Jahren, um umfassenden sozialen Wandel, auch nicht um eine Abrechnung mit oder Aufarbeitung der fast vierzigjährigen Diktatur, die sich noch dazu in ihrer letzten Phase schon halbwegs "zivilisiert" hatte, also keine Schockwirkung mehr verbreitete, wie die Enthüllungen nationalsozialistischer und stalinistischer Verbrechen. Der Umbau der Wirtschaft und soziale Reformen konnten weitgehend ausgeklammert werden (vgl. Maravali 1982; Puhle 1994a). Verfassungs- und Verwaltungsrechtler waren mehr gefragt als Political Scientists; manche haben im Rückblick auf das Jahrzehnt vor 1985 sogar schon von den "verlorenen Jahren" der spanischen Politikwissenschaft gesprochen. An den Parteien, die nicht sehr tief im Lande verwurzelt waren und relativ wenig mobilisierten, interessierten zum einen ihre Elitenkonflikte und zum anderen ihr Abschneiden bei den Wahlen, kaum jedoch ihr Bewegungscharakter, die Mechanismen der Interessenvermittlung, ihre innere Organisation, Finanzierung und die politischen Entscheidungsprozesse. Das unmittelbar instrumenteile Interesse überwog. Umfassende theoriegeleitete Analysen von Parteien, Verbänden und Bewegungen sind erst im späteren Stadium der demokratischen Konsolidierung vereinzelt in Angriff genommen worden, und oft nicht von spanischen Sozialwissenschaftlern. Für die weitere Entwicklung der spanischen Politikwissenschaft bedeutete dies unter anderem, daß die Eigenarten der 'Transition' einerseits durch die Betonung der staats- und verfassungsrechtlichen Probleme die antiempirischen, normativen und deskriptiven Traditionen und die institutionelle Position des 'Derecho Politico', das am Ende des Franquismus schon ein wenig in die Defensive geraten war, neu gestärkt haben, und daß sie andererseits dort, wo die Professionalisierung in den empirischen Sozialwissenschaften weiter fortschritt, durch die starke Akzentuierung der Wahl- und Umfrageforschung einen etwas einseitigen Qualitätssprung befördert haben, der

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

viele andere wichtige Bereiche vorerst unberührt und relativ unterentwickelt ließ (vgl. den Überblick in Cotarelo Hrsg. 1994).

7. Gebremste Professionalisierung und ungleiches Wachstum: Politikwissenschaft in Spanien seit 1985 Das Universitätsreformgesetz von 1983/85, das vor allem die Personalstruktur der Hochschulen und die universitätsinternen Willensbildungsprozesse neu geordnet hat, hat auch die Politikwissenschaft in Spanien als eigenständige Disziplin etabliert, aber doch die Grenzen fließend gelassen: Bedeutende konzeptionelle wie empirische Beiträge zur Politikwissenschaft werden nach wie vor im Bereich der Soziologie geleistet, z.B. durch J.M. Maravall in Madrid und S. Giner in Barcelona (vgl. Maravall 1982; Linz u. Garcia de Enterria Hrsg. 1984; Giner Hrsg. 1990). Auch der Bereich der Historia de las Ideas Políticas ist unabhängig bei den Juristen oder den Historikern bestehen geblieben (z.B. A. Elorza, J. Alvarez Junco, Ma. Carmen Iglesias u.a.). Die Zeithistoriker an den katalanischen, baskischen, galicischen und valencianischen Universitäten haben sich auch eines großen Teils der politisch relevanten Forschungen über die 'peripheren' regionalen Nationalismen und deren Institutionalisierung angenommen. Lediglich die Teoría del Estado kam dort, wo sie neben dem Derecho Político bestanden hatte, durch individuelle Entscheidung der Professoren durchweg zur Politikwissenschaft (z.B. R. Cotarelo an der U. Complutense und A. de Blas an der UNED). Das abgelebte und teilweise auch diskreditierte 'Derecho Político' wurde abgeschafft. Die Professoren dieser Disziplin konnten selbst entscheiden, ob sie hinfort Verfassungsrecht im strengen Sinne (Derecho Constitucional) oder Politik- und Verwaltungswissenschaft (Ciencia Política y de la Administración) lehren wollten, und eine große Mehrheit von etwa vier Fünfteln optierte für das Verfassungsrecht, aus traditionalen ebenso wie aus taktischen oder persönlichen Gründen, darunter durchaus auch Wissenschaftler, die nach ihrer vita und Ausbildung in den USA oder in Deutschland gestandene Politikwissenschaftler waren. Der Aderlaß für die Politikwissenschaft war besonders groß in der ersten Generation der Schüler der Gründerväter Ollero, Murillo und Tierno (sowie mit Einschränkungen: Fraga und Jiménez de Parga), von denen die meisten ins Verfassungsrecht abwanderten (z.B. P. Lucas Verdú, P. de Vega, M. Martínez Cuadrado, A. López-Pina) oder in die Politik gingen (z.B. J. Santamaría, R. Morodo). Jordi Solé Tura, einer der Väter der neuen Verfassung von 1978,

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tat beides; da auch sein Barceloneser Kollege J.A. González Casanova für das Verfassungsrecht optierte, wurde die politikwissenschaftliche Professionalisierung in Katalonien in den 80er Jahren noch weiter verzögert. Für die 'neue' Politikwissenschaft optierten aus dieser Gruppe u.a. J.M. Vallès (U. Autónoma de Barcelona), J. Cazorla (Granada) und J.R. Montero (Cádiz, später Madrid). Zuwächse gab es dagegen in den folgenden Jahren aus dem Bereich der politischen Soziologie, die das Reformgesetz nicht als eigenständige Disziplin ausgewiesen hatte: Von den ca. 4 0 politischen Soziologen, die im Jahr 1990 als Professoren Dauerstellen an spanischen Universitäten hatten, waren nur vier Mitglieder der Vereinigung für Soziologie, die meisten schlössen sich der Vereinigung für Politikwissenschaft an (vgl. Cazorla u. Jeréz Mir, in: Giner u. Moreno Hrsg. 1990, 298). Gleichzeitig wurden neue Fachbereiche (Departamentos) für Politik- und Verwaltungswissenschaft eingerichtet, oft in Fakultäten für Politikwissenschaft und Soziologie, die allmählich (durchweg fünfjährige) Studiengänge zum Erwerb der licenciatura anboten. Die institutionelle Monopolstellung der Madrider Fakultät an der Universidad Complutense fand nach über 42 Jahren ihr Ende: 1986 kamen die Departments an der Universität Autónoma de Barcelona und an der Fernuniversität (UNED) hinzu, 1988 das traditionsreiche Granada und die Universidad del País Vasco in Bilbao, 1989 fünf weitere Universitäten (U. Autónoma de Madrid, U. Barcelona, Santiago de Compostela, Sevilla, Cádiz), sodaß Ende der 80er Jahre insgesamt zehn Fachbereiche mit 15 Catedráticos (Ordinarien) und 40 Profesores Titulares (Associate Professors) an spanischen Universitäten Politikwissenschaft lehrten, wesentlich mehr schon als im Jahre der "Option" 1985 (8 Catedráticos, 30 Titulares). Seitdem hat sich, auch durch die Gründung neuer Universitäten, wie z.B. der Universität Pompeu Fabra in Barcelona (die Barcelona endgültig zum zweiten großen Zentrum sozialwissenschaftlicher Studien neben Madrid gemacht hat), der Universidad Carlos III in Madrid und einiger anderer in entlegenen Provinzen und die Berufung jüngerer Fachvertreter, die Zahl der politikwissenschaftlichen Lehrstühle noch einmal nahezu verdoppelt: 1994 wurden 28 Catedráticos und 62 Titulares in 14 Universitäten von insgesamt 34 (30 staatlichen und 4 privaten) gezählt, also keineswegs an allen, nicht einmal an der Hälfte aller Universitäten (vgl. Vallès 1991a; Cotarelo Hrsg. 1994; Colegio Nacional 1994). Dabei ist auch das traditionelle Prinzip, daß es für das Fach an einem Ort nur einen Lehrstuhl gab, aufgegeben worden, und wir finden insb. in den größeren Forschungszentren durchweg mehrere 'Cátedras' für Politikwissenschaft. Entsprechend ist die Zahl der Studenten in den letzten Jahren gestie-

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gen, selbst wenn es noch an klaren Berufsbildern für die Absolventen der Politikwissenschaft fehlt. Insbesondere angesichts der traditionellen Hegemonie und der praktischen Vorteile einer juristischen (und in Grenzen inzwischen auch einer ökonomisch-technischen) Ausbildung zur Vorbereitung auf die Zugangsprüfungen ('oposiciones) zu den 'grands corps' der Beamtenschaft und des Staatsdienstes läßt sich der begrenzte Markt nur sehr langsam erweitern. Nicht alle" diese Departments sind gleichenweise forschungsintensiv und produktiv. Dies sind m.E. besonders acht bis zehn, vor allem die Autonomen Universitäten in Madrid (mit J.R. Montero, C. Alba, R. del Aguila u.a.) und Barcelona (m. J.M. Vallès, J. Botella, J. Subirats, G. Colomé, F. Pallarás u.a.), Pompeu Fabra (m. Maria Rosa Virós, F. Requejo, J. Jordana u.a.), Granada (m. J. Cazorla, M. Jeréz Mir, A. Robles u.a.), die Universidad del País Vasco (m. F. Llera, P. Ibarra u.a.) und die UNED (m. A. de Blas, Pilar del Castillo, Lourdes López Nieto u.a.). Santiago de Compostela (m. J. Vilas, R. Máiz u.a.) und Salamanca (m. M. Alcántara u.a.) sind in einem vielversprechenden Aufbau begriffen. Diese Departments bieten inzwischen durchweg neben der üblichen licenciatura auch (lokal gelegentlich unterschiedlich akzentuierte) Magister-Studiengänge und Doktoranden-Programme an, außerdem oft auch noch Fort- und Weiterbildungsprogramme für Absolventen anderer Fächer. Berücksichtigt man auch noch die relevanten Arbeiten in der Soziologie und Zeitgeschichte, kommen noch ein paar andere Universitäten hinzu, z.B. Valencia und Alicante. Der Beitrag der Historiker, die an den Universitäten meistens mit den Geographen zusammen einen Fachbereich bilden, zur Politikwissenschaft ist in Spanien allerdings insgesamt sehr viel geringer als in Deutschland, die Distanz sehr viel größer. Ähnliches gilt auch für die Ökonomen. Besonders wichtig sind inzwischen die außeruniversitären Forschungsinstitute geworden, neben dem lange etablierten CIS vor allem das Institut de Ciències Politiques i Socials (ICPS, seit 1988) in Barcelona unter Leitung von Isidre Molas, das der Universität Autònoma de Barcelona assoziiert ist und auch den 'Equip' der katalanischen Wahlforscher (ESE) integriert hat, das instituto de Estudios Sociales Avanzados (IESA) im staatlichen Forschungsverbund CSIC (seit 1989, ähnlich wie in Frankreich inzwischen das IEP im CNRS) unter der Leitung von Salvador Giner mit Sitzen in Madrid, Barcelona und Córdoba, die Bofill-Stiftung in Barcelona und das Instituto Universitario Ortega y Gasset

in Madrid mit etablierten Master- und

Doktoranden-

Programmen. Das anspruchsvollste sozialwissenschaftliche Graduiertenprogramm (Master und Doktoranden) für Politikwissenschaft, Soziologie und

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Zeitgeschichte, mit harten Zulassungskriterien, einer breiten internationalen Rekrutierung der Dozenten (und entsprechendem paradigmatischen Transfer1), der besten Fachbibliothek und guten Forschungsmitteln, finden wir seit 1987 am Centro de Estudios Avanzados en Ciencias Sociales des Instituto Juan March in Madrid, das von Victor Pérez Díaz konzipiert und aufgebaut wurde und derzeit von José María Maravall und José Ramón Montero geleitet wird. In diesen Zentren wird insbesondere im Bereich von Parteien- und Wahlforschung, Arbeitsbeziehungen und Gewerkschaftsstudien und Problemen entwickelter Sozial- und Wohlfahrtsstaaten, vereinzelt auch über Technologiepolitik und spezielle Politikfelder (policies) gearbeitet. Weitere Schwerpunkte der Forschung sind Demokratisierungsprozesse, Verfassungs- und Parteienentwicklung, Elitenstudien, die innerspanischen Randnationalismen und die institutionelle und politische Ausgestaltung des spanischen 'Staats der Autonomien'. Detailliertere lokale und regionale Studien auf diesen Gebieten werden auch in einer ganzen Reihe von öffentlichen und halböffentlichen regionalen Studienzentren betrieben, vor allem in Katalonien, im Baskenland, in Galicia, Valencia und Andalusien, in parteipolitischen oder den Parteien nahestehenden Forschungsinstituten (vor allem inzwischen der Sozialisten), in Einrichtungen privater Stiftungen und in den teilweise sehr leistungsfähigen Forschungsabteilungen großer Banken und Sparkassen, der Unternehmerverbände, Gewerkschaften und einzelner Ministerien (z.B. des Arbeits- und des Landwirtschaftsministeriums). Dieselben Themenbereiche werden selbstverständlich auch an den größeren Universitätszentren für Politikwissenschaft und Soziologie bearbeitet, in denen in den letzten Jahren zum Teil beachtliche Dissertationen entstanden sind, die dokumentieren, daß die Politikwissenschaft in Spanien im ganzen nicht mehr provinzieller ist als anderswo auch. Erhebliche Energien werden hier allerdings auch noch von der traditionellen politischen Philosophie und Ideengeschichte absorbiert, die nur selten zu origineller Theoriebildung und anwendung vordringt, zumal im ganzen die kritischen Theoriediskussionen früherer Jahre von der empirischen Datenbearbeitung abgelöst worden sind. Kreative gesellschaftstheoretische Ansätze wie die von Victor Pérez Díaz zur 'Zivilgesellschaft' (1987, 1993) und von Salvador Giner und anderen zu Problemen des 'Korporatismus' (u.a. m. Pérez Yruela Hrsg. 1988; 1990) - oder auch Ludolfe Paramio - sind eher Ausnahmen. Verfassungs- und Verwaltungsstudien sind ebenso zahlreich (und oft sehr begrenzt) wie die Datenberge der Wahl- und Umfrageforschung, aber oft fehlt noch die konsistente Analyse, systematische Zuordnung, theoretische Durchdringung (trotz gelegent-

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

lieh scharfsinniger Methodendiskussion) und theoriegeleitete, auf den Punkt gebrachte Fragestellung und Argumentation, die einen breiteren Überblick, vergleichende Interessen und permanente Neugier voraussetzt. Dies ist allerdings, wie man weiß, nicht nur in Spanien ein Problem. Historische Soziologie und von problematisierenden Fragen geleitete politische Sozial- und Organisationsgeschichte, konkrete Verwaltungs- und policyForschungen (u.a. zum breiten Bereich der welfare policies), lokale und regionale Fallstudien, ökonomische, Schichtungs-, Klassen-, geschlechtsspezifische Analysen (vgl. Iglesias de Ussel 1980) und die sektorale Umsetzung sozialer Bewegungen in politische Entscheidungsprozesse, all dies sind Felder, auf denen noch viel zu tun bleibt. Unter anderem wohl auch deswegen, weil oft selbst gerade die anspruchsvolleren und besseren Forschungsvorhaben nur kurzfristig und marktabhängig geplant werden konnten und können, die institutionellen Arrangements für stetige langfristige Forschungspianung bislang noch nicht ausgereicht haben, und weil der konkrete Politik- und Praxisbezug mancher Projekte oft einen auf Spanien beschränkten Gesichtskreis nahelegt. Vergleichende Forschungen sind bis in die erste Hälfte der 90er Jahre selten geblieben. Ausnahmen waren Manuel Alcántaras Arbeiten über Lateinamerika, zunehmend auch Studien von José Ramón Montero im südeuropäischen Vergleich, eine Reihe von Projekten des ICPS in Barcelona und insbesondere die im Instituto Juan March in Madrid entstehenden Dissertationen mit obligatorisch vergleichenden Themen (vgl. die Beiträge, insb. Montero, in: Gunther Hrsg. 1993). Die durch Spaniens Beitritt zur EG intensivierte Anbindung an Europa hat allmählich auch dazu geführt, daß inzwischen auch graduate students an anderen Universitäten vermehrt über andere Länder arbeiten und deren Sprachen lernen (z.B. González Enriquez 1993, das bisher beste Buch über die ungarische transition). Auch die Theorie und Empirie der Forschungen über Internationale Beziehungen sind, mit der Ausnahme der etablierten Studien der Beziehungen zu Lateinamerika und zum arabischen Raum (z.B. A. Marquina), inhaltlich wie institutionell noch ausbaufähig. Die Politikwissenschaft in Spanien hat ihre Stärken und Schwächen, ihre traditionellen Vorbelastungen, regionalen Spezialitäten und spezifischen Probleme wie jede andere, ihre Vertreter sind mehr oder weniger originell und überzeugend wie überall. Sie gehört mit zur Weltspitze in einigen Bereichen der empirischen Soziologie, insb. der Umfrage- und Wahlforschung, ist in weiten Bereichen der politischen Theorie und Demokratietheorie oder des Systemvergleichs aber nicht so weit entwickelt wie z.B. die italienische Politikwissenschaft. Es fehlt ein Zentralorgan mit harten Standards und ein effizienter Berufsverband; die neue politikwissenschaftliche Vereinigung (AECPA)

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hat ihren ersten Kongreß Ende 1994 in Bilbao abgehalten, und es ist noch nicht absehbar, wie sie sich weiter entwickeln wird. Wichtige Zentren für gradúate studies sind insb. im letzten Jahrzehnt, die meisten seit 1990 entstanden, ihre Zahl müßte jedoch noch vermehrt werden. Die letzten zehn Jahre haben einen enormen Schub der Expansion und der Professionalisierung gebracht, der ungleich verteilt war und auch Friktionen produziert hat. Die politikwissenschaftliche Community ist jedoch noch sehr überschaubar, und Entwicklungslücken und Nachholbedarf sind deutlich sichtbar.

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Leonardo Morlino

Politikwissenschaft in Italien - Tradition und Empirismus

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg umriß Bruno Leoni die grundlegenden Merkmale einer Politikwissenschaft, wie sie in Italien neben der Demokratie wiederzubegründen sei (Leoni 1949-50, 1980). Fast 20 Jahre äußerte Giovanni Sartori die Auffassung, daß "die italienische Politikwissenschaft noch in der Geburtsphase ist"(Sartori 1967: 699). Und was ist unser Befund fast ein halbes Jahrhundert später? Bei dem folgenden Versuch, den Zustand der Disziplin zu Beginn der 90er Jahre einzuschätzen, will ich von den folgenden Fragen ausgehen: Welche Gestalt hat das Fach in den 50er und 60er Jahren angenommen? In welchem Zustand war es Ende der 60er Jahre? Wann ist die Politikwissenschaft selbständig geworden, und wie hat sie sich erfolgreich selbst definiert? Welche Schwierigkeiten waren mit der Gründungsphase verbunden, und wie haben diese die nachfolgende Entwicklung beeinflußt? Wie verlief das Wachstum und die Institutionalisierung des Faches? Welche Inhalte haben die Disziplin in diesen Jahrzehnten geprägt und wie haben diese sich entwickelt? In welchem Maße waren die politikwissenschaftlichen Inhalte bedeutsam für die politischen Probleme des Alltags? Und schließlich wird zu fragen sein, zu welcher Gesamteinschätzung man bei der Beurteilung der Entwicklung der italienischen Politikwissenschaft kommen kann?

Die nichterfolgreiche Gründungsphase: 'case' or 'causes'? Um die ersten beiden Fragen nach Gründung und Selbstdefinition der italienischen Politikwissenschaft beantworten zu können, sind einige historische Überlegungen notwendig (vgl. Graziano 1986). Die Entstehung und Entwicklung eines Faches wird unzweifelhaft sowohl von internen Momenten wie den Ideen, Initativen und Projekten einzelner Gelehrter und möglichenweise besonderen Ereignissen beeinflußt als auch durch äußere, objektive Gründe gefördert oder behindert. Die wechselhafte Entwicklung der italienischen Politikwissenschaft in den 1950er Jahren vermittelt zahlreiche Anregungen, über

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die Gleichzeitigkeit von bewußten Aktionen einzelner Gelehrter sowie begrenzenden und manchmal unüberfindbaren Bedingungen und Beschränkungen im Sinne von Otto Kirchheimers "restriktiven Bedingungen" (Kirchheimer 1965) - durch politische, kulturelle und akademische Zustände nachzudenken. In den späten 40er Jahren konnte die italienische Politikwissenschaft, selbst in einem breitesten Sinne verstanden, abgesehen von einigen wenigen Zeitschriftenbeiträgen keinen Output vorweisen. Nichts war übriggeblieben von der großen italienischen Tradition der politischen Studien, die sich über Mosca und Pareto bis auf Machiavelli zurückführen läßt. Andere Autoren haben bereits auf diese Tatsache hingewiesen (Bobbio 1969; siehe aber auch Sola 1989). 1896, das Jahr der Veröffentlichung von Gaetano Moscas Elementi di scienza politica, kann in symbolischer Weise als das ursprüngliche Geburtsjahr der italienischen Politikwissenschaft verstanden werden. Doch zwei Jahrzehnte später, als sich der Faschismus etablierte, war die neue Disziplin bereits völlig vom Siegeszug des aus Deutschland

importierten

Rechtsformalismus und der eigenartigen Entwicklung in der historischen Philosophie Italiens (Croce und Gentile) erstickt worden. Um die Wende zu den 50er Jahren wandelte sich die Lage, nicht zuletzt dank der Initativen von Bruno Leoni und später von Norberto Bibbio und Giovanni Sartori. Während dieser Jahre wurde die Wiederbelebung der Politikwissenschaft auf einer

völlig neuen Grundlage in zahlreichen Konferenzen

auf besonders hohem Diskussionsniveau erörtert und gefordert. Vor allem wurden die Grundlagen einer "neuen" Politikwissenschaft postuliert. Definitionen des Faches wurden vorgeschlagen, sei es als "Wissenschaft der modernen gemeinschaftsorientierten Organisationen, die mit dem Namen des Staates verbunden sind" (Leoni 1949-50, 1980: 8), eine bedeutsame Abweichung von den herkömmlichen Definitionen der traditionellen Staatslehre oder als "empirische Untersuchung der Politik" (Sartori, 1953). Grundlegende Kriterien wurden mit Anklängen an Max Weber entwickelt. Politisches Handeln wurde als eine von rationalen Überlegungen inspirierte Aktivität verstanden. Politikwissenschaft wurde ähnlich wie Wirtschaftswissenschaft konzipiert als ein Feld der empirischen Analyse von Beziehungen zwischen Zwecken und Mitteln, wobei die letzteren sich an die erstgenannten anzupassen hatten. Sie wurde damit als die Untersuchung der Bedeutung und Folgen von Handlungen sowie des Gesamtzusammenhangs von Zwecken verstanden. Weitere Feststellungen betrafen die Untersuchungswerkzeuge, die Bedeutung der Entwicklung einer selbständigen politikwissenschaftlichen Methodologie und das lebenswichtige Bedürfnis nach einer neuen, spezialisierten Terminologie. Und schließlich wurden grundlegende Ziele der Politikwissenschaft definiert:

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Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

die Hervorbringung von nützlichem Wissen für politisches Verhalten und die Fähigkeit zu politischen Vorhersagen. In den frühen 50er Jahren wurde außerdem nicht nur der Unterschied und das Verhältnis zwischen der Philosophie und der Politikwissenschaft aufgezeigt (Sartori 1953; auch Giuliani 1951) und gleichzeitig eine relativ moderate anti-naturwissenschaftliche Grundposition entwickelt (Sartori 1953), sondern wurden auch die historischen Grundlagen für die Differenzierung zwischen Politikwissenschaft, Öffentlichem Recht, politischer Philosophie und Geschichtswissenschaft gelegt. Trotz aller dieser Bemühungen gelang es der Politikwissenschaft in Italien damals nicht, sich zu entfalten. Zwar wuchs die Zahl der einschlägigen Tagungen, doch gleichzeitig verstärkte sich der Widerstand aus akademischen Kreisen und die verdächtigte Indifferenz der praktischen Politik gegenüber dem Fach. So folgten auf die großen Zukunftserwartungen in den 50er Jahren bittere Enttäuschungen. Zwar war mit der Errichtung eines demokratischen Regimes eine wichtige Voraussetzung für den erfolgreichen Stapellauf einer Politikwissenschaft gegeben. Auch die Abwesenheit von kulturellen Provinzialismus war förderlich, konnte doch die relative Isolation Italiens während der faschistischen Herrschaft nach der Errichtung der Demokratie bald überwunden werden. Doch diese begünstigenden Faktoren genügten nicht, um den Einfluß von anderen Bedingungen zu neutralisieren, welche der Wiederbelebung der Politikwissenschaft eher im Wege standen. Als erstes ist dabei die Tatsache zu nennen, daß kein Schlüsselwerk vorgelegt wurde, welches eine ähnliche Rolle wie Moscas Buch zu Anfang des Jahrhunderts spielen konnte. Zwar wurden von Leoni, Bobbio und Sartori eine Anzahl von wichtigen Beiträgen verfaßt. Das waren durchaus bedeutsame, reife und solide Arbeiten, aber eben keine empirischen Untersuchungen, ihre Originalität beruhte hauptsächlich auf der Überbrückung der Kluft zwischen Rechtsphilosophie und politischer Philosophie auf der einen Seite und empirischer politischer Theorie auf der anderen Seite. Es mag eingewandt werden, daß das Fehlen eines Gründungswerkes kein ausschlaggebender Faktor ist, wie man am Schicksal der Disziplin nach der Veröffentlichung von Moscas berühmtem Essay belegen kann. Doch hätte in den 50er Jahren die Publikation eines Werk von solcher Bedeutung wesentlich dazu beigetragen, die Anerkennung und Rechtmäßigkeit des Faches schneller zu begründen. Doch die Geburt der italenischen Politikwissenschaft wäre in jedem Fall ein schwieriger Prozeß gewesen. Bei dem vorhergehenden Versuch war die Disziplin dank Moscas Bemühungen aus dem öffentlichen Recht entwickelt wor-

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den. Dieses Mal fungierte die Philosophie als Mutterdisziplin. Das machte den Prozeß notwendigerweise langwieriger und schwieriger, da das Verhältnis zwischen öffentlichem Recht und politischer Wirklichkeit insgesamt direkter ist als die Beziehung zwischen philosophischer Spekulation und empirischer Politikwissenschaft. Darüber hinaus konnten in der italienischen Philosophie die positivistischen und neo-positivistischen Trends, welche der Wiedergeburt der Sozialwissenschaften förderlicher sind, nur auf wenige Anhänger zählen, selbst außerhalb der Universitäten. Die vorherrschenden Konzeptionen von Wirklichkeit und Geschichte verwiesen Politik auf den letzten Platz und betrachten diese als eine wechselhafte, transitorische Komponente, die von anderen, wichtigeren Faktoren abhängig sei. Diese Einschätzung der Politik als einer nachgeordneten Domäne wurden von den Anhängern sowohl Croces als auch Marx' geteilt. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Croce eine empirische Wissenschaft von der Politik ablehnte, weil Politikwissenschaft nicht in sein Gedankensystem paßte. Und es ist überflüssig, die sekundäre Rolle in Erinnerung zu rufen, welche die Politik in der Gedankenwelt des Marxismus spielt, selbst in dessen von Gramsci beeinflußten Gestalt. In dieser kulturellen Atmosphäre implizierten die meisten radikalen Ansichten eine entschiedene Negierung der Politik. Es muß ferner berücksichtigt werden, daß auch die politische Geschichtsschreibung in Italien in den 50er Jahren allgemein schwach ausgeprägt und auch in der folgenden Periode weitgehend auf marxistische Kreise beschränkt war. In jenen Jahren bestand keine allgemeine Grundüberzeugung, daß Politik als ein selbständiger Gegenstand untersucht oder daß etwas Bedeutsames bei der Untersuchung des Einflusses politischer Strukturen auf Gesellschaft und Wirtschaft entdeckt werden könne. Diese Feststellung wird durch die Tatsache bekräftigt, daß die Ökonomie bereits fest verankert war und die Soziologie wesentlich früher und leichter als die Politikwissenschaft etabliert wurde. Diese Sichtweise eines nachgeordneten Rangs der Politik war auch in den allgemeinen Vorstellungen sowohl der Bevölkerung als auch der Eliten fest verankert, welche durch nicht zu unterschätzende ideologische Komponenten charakterisiert waren. Jedes kulturelle Projekt von antiideologischer und antiutopischer Natur, selbst wenn es reformistische politische Ziele anstrebte, stieß daher in den 50er Jahren auf allgemeine Skepsis. In dieser Konstellation bestand keine Entfaltungsmöglichkeit für eine empirische Wissenschaft von der Politik, zumal wenn diese die politischen Proklamationen der politischen Klasse einer genauen Überprüfung im Hinblick auf das zugrundeliegende Verhältnis von Mitteln und Zwecken sowie auf die Handlungen der einzelnen Politiker anstrebten.

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Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, daß die wiederzubelebende Politikwissenschaft nur ungenügend abgegrenzt war und der Vorläufer entbehrte. Sartori gestand das erstgenannte Problem folgendermaßen ein: "Wir haben nur sehr vage Ideen von der sogenannten Politikwissenschaft" (Sartori 1953: 348). Leoni stellte zwar unter Beweis, daß er über präzisere definitorische Vorstellungen verfügte (Leoni 1949-50, 1980); doch auch er beschränkte sich auf allgemeine Feststellungen, in denen seine Anlehnung an die von Deutschland beeinflußte Staatslehre ihren Ausdruck fanden, auch wenn er diese mit empirischen Venweisen anreicherte. Was eindeutig fehlte und von den anderen anerkannten kulturellen Autoritäten als Defizit wahrgenommen wurde, waren jegliche Bezüge der neuzugründenden Politikwissenschaft auf "Vorfahren". Dieser Mangel, der auf der einen Seite die Eigenständigkeit der politikwissenschaftlichen Leistungen Leonis unterstrich, stand aber auf der anderen Seite der neuen Disziplin bei ihren Bemühungen um allgemeine Anerkennung im Wege. Schließlich bestanden im Nachkriegsitalien starke Vorbehalte gegen den Import einer Disziplin aus den USA als eine mögliche Frucht des Kulturimperialismus. Dieser Verdacht hing auch mit den vorgenannten Eigenarten der politischen Kultur zusammen. Außerdem stand in den Nachkriegsjahren die schlichte Existenz von Fakultäten für Politische Wissenschaften auf dem Spiel. Ein Plan zu ihrer Beseitigung als angebliche Produkte des faschistischen Regimes war schon entwickelt worden, wurde aber 1948 durch eine Ministerialverordnung zurückgenommen (Spreafico 1964: 206). Es bestanden also für die Entwicklung der Politikwissenschaft in Italien nach 1945 drei zentrale einschränkende Bedingungen: die Auffassung von einer nachgeordneten Bedeutung der Politik, ein weitverbreitetes ideologisches und anti-empirisches Grundverständnis und die universitären Vorbehalte, besonders akzentuiert durch die Furcht vor einem neuen von außen importierten Imperialismus. Diese Faktoren verstärkten sich gegenseitig. Zum Beispiel wurden die akademischen Widerstände intensiviert durch die ideologischen Grundüberzeugungen und die Auffassung von einer nachgeordneten Rolle der Politik als einem Gebiet, das sich eigentlich nicht zur wissenschaftlichen Untersuchung eigne. Die bedeutsamste Einschränkung war aber die erstgenannte, das Verständnis der Politik als einem nachgeordneten Bereich. Die akademischen Widerstände, wenn auch unzweifelhaft vorhanden, wurden nie offen ausgedrückt, und es scheint so, als ob die inhaltliche Opposition ausreichte, um die Etablierung der Politikwissenschaft zu verhindern. Das vorherrschende ideologische Grundverständnis hat jedenfalls die Entwicklung von Ökonomie und Soziologie als Universitätsfächern nicht behindert.

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Zusammenfassend kann man für die 50er Jahre eine Grundüberzeugung konstatieren, welche tief in der damaligen Kultur Italiens verankert war und durch die bei Juristen und Historikern seit Beginn des Jahrhunderts gebräuchlichen Argumente abgestützt wurde. Sie hatte zum Inhalt, daß kein auf der Einheit von Zielen und Methoden zur Untersuchung von politischen Zusammenhängen bestehendes unabhängiges Fach der Politikwissenschaft zugelassen werden sollte, weil man den eindeutigen Charakter und den autonomen Gegenstandsbereich der Politik in Zweifel stellte, diese vielmehr als integralen Bestandteil von Wirtschaft und Gesellschaft ansah. Von daher kann es nicht wundern, daß die Politikwissenschaft mit ihren Gründungsbemühungen in Nachkriegsitalien kaum erfolgreich war. Umgekehrt gesehen wäre es unter diesen Umständen eine Überraschung gewesen, wenn sie erfolgreich gewesen wäre.

Der "lange Marsch": Geburt oder Wiedergeburt? Im Folgenden sollen die hauptsächlichen Merkmale der Entwicklung der italienischen Politikwissenschaft zwischen den späten 50er Jahren und dem Beginn der 70er Jahre untersucht werden, jenes "langen Marsches", den das Fach in diesen Jahren unternahm. Als erstes muß, im Hinblick sowohl auf den zeitlichen Ablauf als auch die Bedeutung, die Rolle von Norberto Bobbio beim Umbau und der Stärkung der italienischen Politikwissenschaft herausgestellt werden. Diesen Erfolg erreichte er auf zwei Wegen. Als erstes brachte Bobbio Ende der 50er Jahre die "Vorfahren" in Gestalt der früheren Mitglieder der italienischen Schule der Politikwissenschaft wieder in Erinnerung. Das gelang ihm durch eine originelle und präzise Neueinschätzung der Bedeutung der Werke von Mosca und Pareto. Dabei rezipierte Bobbio nicht nur deren bekannte Elitentheorien, sondern wies auch, was bedeutsamer war, auf die Beiträge von Mosca und Pareto zur Begründung der Politikwissenschaft als einer empirischen Forschungsdisziplin hin. Auf diese Weise gewann die italienische Politikwissenschaft theoretische Substanz durch den Bezug auf eine schon vorhandene empirische Theorie, die ihrerseits mit einer umfassenderen Theorie von Gesellschaft und Politik verknüpft war. Darüber hinaus bewirkten die Unterschiede zwischen Mosca und Pareto eine Vielzahl von unterschiedlichen Stellungnahmen zu Schlüsselfragen der gegenwärtigen Politikwissenschaft. Bobbio gelang auf diese Weise eine Öffnung der italienischen Politikwissenschaft: Deren Selbstgewißheiten namen zwar ab, doch die den Lehren von Leoni inhärente Geschlossenheit wurde über-

276

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

wunden. Gleichzeitig gewann die Disziplin an Autorität und Anerkennung, nicht nur dank der beiden "Vorfahren", sondern auch des großen intellektuellen und moralischen Ansehens von Norberto Bobbio, ihrem Wiederentdecker. Bobbios zweiter elementarer Beitrag bestand in der präzisen und effizienten Definition der Unterschiede zwischen der Politikwissenschaft und den übrigen Disziplinen: der Rechtswissenschaft mit ihren unterschiedlichen Gesichtspunkten, der Geschichtswissenschaft mit ihrer unterschiedlichen Methode und, einige Zeit später, der politischen Philosophie (Bobbio 1963, 1966, 1969, 1971). Gleichzeitig aber stellte er die Komplementarität dieser unterschiedlichen Fächer heraus und nahm damit auf eine sehr ausgewogene und konstruktive Weise zum Verhältnis der Disziplinen Stellung-, Aus den schon angeführten Gründen war die Unterscheidung zwischen Politikwissenschaft und politischer Philosophie einer der empfindlichsten und schwierigsten Aspekte beim Versuch der "negativen" Bestimmung der Identität der Politikwissenschaft. Dennoch benutzte Bobbio (1966 und besonders 1971) gerade diese Fächerabgrenzung, um zu einer "positiven" Definition der Politikwissenschaft zu kommen und zu einem weiteren, immer wieder aktuellen Thema, der Beziehung zwischen Intellektuellen und Werturteilen, Stellung zu nehmen. Bobbio verstand Politikwissenschaft als eine empirische Analyse von politischen Phänomenen, die drei Voraussetzungen zu erfüllen hatte: die Verifikation als ein Kriterium der Gültigkeit; die Erklärung als ein Ziel; und die Wertfreiheit als ethisches Postulat oder Tugend der wissenschaftlichen Untersuchungsweise (Bobbio 1971: 367, 370). Die letztgenannte "negative" Definition der Disziplin, die Abrenzung der Politikwissenschaft von der politischen Soziologie, kam erst Ende der 60er Jahre zum Tragen, als die "Wiedergeburt" des Faches schon abgeschlossen und sein "langer Marsch" fast vorbei war. Von beiden Zeitpunkten her gesehen war der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Disziplinen, daß "die unabhängigen Variablen des Soziologen für den Politikwissenschaftler abhängige Variablen sind - und umgekehrt. Mit anderen Worten, der Zugang ... ist ein entgegengesetzter: Die von Soziologen verwandten Erklärungsgründe sind das genaue Gegenteil der von Politikwissenschaftlern benutzten Erläuterungen" (Sartori 1970:15-16). Dieses Unterscheidungsmerkmal im Verhältnis zu einer Nachbardisziplin hat bei italienischen Politikwissenschaftlern damals und in den folgenden Jahren die geringste Aufmerksamkeit gefunden, und La Palombara konnte daher bei italenischen Politikwissenschaftlern eine "eindeutig soziologische Orientierung" feststellen (La Palombara, in: Graziano, 1986; 69). Obwohl diese Feststellung im Hinblick auf die Forschungsarbeiten nicht immer zutrifft, besteht

Politikwissenschaft

in Italien

277

doch nur ein geringer Zweifel darin, daß in dieser Periode die meisten Politikwissenschaftler den Weg der Soziologie verfolgten und ihnen auch nur dieser offenstand. Nur um einige Beispiele anzuführen: Sartori erhielt eine akademische Stellung im Jahr 1962 in (angewandter) Soziologie; Spreafico lehrte Soziologie im außeruniversitären Bereich; und auch Farneti vertrat dieses Fach über viele Jahre. Ein weiterer wichtiger Aspekt von La Palombaras Feststellung ist darin zu sehen, daß sozialwissenschaftliche Forschung, vorzugsweise quantitative Forschung, zur Soziologie tendiert, weil soziologische Variablen leichter als politische Variablen zu erfassen sind. Sarton warnte bald vor den Gefahren dieses "soziologischen Reduktionismus", der die Forscher dazu verführen würde, alle Erklärungen für politische Phänomene in gesellschaftlichen Variablen zu suchen und dann auch notwendigerweise zu finden. Politikwissenschaftliche Forschung, so forderte er, müsse auch mit qualitativen Methoden durchgeführt werden, wenn sie bedeutsam bleiben und ihre eigene Identität bewahren wolle. Dank der Wiederentdeckung der Vorfahren der gegenwärtigen italienischen Politikwissenschaft, der intellektuellen Autorität von Bobbio und den von diesem und danach von Sartori entwickelten "negativen" Definitionsabgrenzungen gelangte die italienische Politikwissenschaft zu Beginn der 70er Jahre zu einer definitiven und positiven Identität. Diese wurde erstmalig 1959 begründet, als Sartori (1959) bestimmte methodologische Charakterzüge als für die Politikwissenschaft eigentümlich, wenn auch nicht notwendigerweise exklusiv, herausstellte. Drei dieser Merkmale sollen hervorgehoben werden. Erstens besteht ein durchgängiges Bemühen um eine eigene Fachsprache, welche nicht nur den Unterschied zwischen Politikwissenschaft und politischer Philosophie zum Ausdruck bringt, sondern auch ein Schwergewicht auf Definitionsprobleme (Definitionen des Sinns und der Regeln der logischen Syntax, Schaffung von neuen Worten) und auf die Bedeutung einer spezifischen Terminologie in der fachwissenschaftlichen Kommunikation legt. Das zweite Merkmal beinhaltet die Formulierung von empirischen Konzepten und insbesondere das "keusche Wechselverhältnis" zwischen Theorie und Forschung. Die dritte Eigenschaft ist die Verbindung von Theorie und Praxis. Darunter wird insbesondere die Auffassung von Politikwissenschaft als des Produkts eines Lernprozesses mit praktischen Funktionen und die Begründung von intellektuell angeleiteten Handlungen verstanden, die ihrerseits durch das Wechselverhältnis zwischen Mitteln und Zwecken charakterisiert sind. Und schließlich umfaßt dieses Verständnis von Politikwissenschaft als einer praktischen Wissenschaft die Unterscheidung zwischen politisch möglichen und politisch unmöglichen Handlungen.

278

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Aufgrund dieser verstärkten und präzisierten Voraussetzungen konnte die Politikwissenschaft sich in Italien besser durchsetzen und zufriedenstellendere Bestimmungen ihrer eigenen Identität entwickeln. Dabei stand die Kategorie der Macht im Mittelpunkt, nicht nur bei Leoni und Stoppino (1968), sondern auch bei Bobbio (1966) und Fisichella (1965). Das führt zu einem weiteren Gesichtspunkt, der von noch größerer Bedeutung für die Selbstfindung des Faches gewesen ist: der erstaunlichen Ähnlichkeit der Positionen von Bobbio, Leoni und Sartori sowohl im Hinblick auf die Methodologie als auch den Bezug auf einen ähnlichen Literaturbestand. Diese relative, aber dennoch beträchtliche Übereinstimmung scheint kein Produkt des problematischen Beginns in den 1950er Jahren gewesen zu sein, sondern das Resultat des nachgeordneten akademischen Status der Politikwissenschaftler in Italien, verbunden mit einem ähnlichen, liberaldemokratischen Hintergrund der drei Gelehrten. Auch erscheint die Erklärung der Ähnlichkeiten mit der Rezeption von aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien importierten sozialwissenschaftlichen Auffassungen weniger zuzutreffen. Diese Importe fanden, wie noch auszuführen sein wird, statt, aber die dabei übermittelten erkenntnistheoretischen Auffassungen wurden in Italien in sehr eigenständiger Weise rezipiert und uminterpretiert. Die "Wiedergeburt" der italienischen Politikwissenschaft konnte aber nicht abgeschlossen werden, bevor der Übergang zur empirischen Forschung erfolgt war. Auch hier erfolgte die Wende zu Anfang der 1960er Jahre. Zu den zentralen Forschungsarbeiten gehörten Sartoris Untersuchung der parlamentarischen Eliten (Sartori, 1963), Spreafico und LaPalombaras Untersuchung des Wählerverhaltens (1963), Pizzornos zwei Beiträge zur politischen Partizipation (1966) und den Parteien (1969), LaPalombaras Studie über die Interessengruppen (1963), die Arbeiten von Barnes über die örtliche politische Beteiligung (1967) und von Tarrow über die Kommunistische Partei (1967) sowie die vom Istituto Cattaneo di Bologna durchgeführten Forschungen über die Wahlorganisation und das Verhalten der Christlichen Demokraten sowie der Kommunisten (1967-68). Erwähnenswert sind außerdem die in Zeitschriften wie den Tempi Modemi, Nord e Sud und Rassegna Italiana di Sociologia veröffentlichten Arbeiten. So unternahm die italienische Politikwissenschaft endlich einen empirischen "Sprung". An die Stelle von programmatischen Forderungen nach empirischen Forschungen trat deren tatsächlicher Beginn. Was dabei herauskam, war zugegebenermaßen noch nicht viel - die empirischen Forscher können an den Fingern einer Hand aufgezählt werden -, doch immerhin wurde ein erster Anfang gemacht.

Politikwissenschaft in Italien

279

Die Erklärung für diese empirische Wende nach der Wiedergeburt der Politikwissenschaft in Italien kann in vielerlei Richtungen gefunden werden. So leitete die Logik der Disziplin notwendigerweise zum Empirismus über. Außerdem war die Sichtweise von Politik als eines untergeordneten Gegenstands, welche in den 50er Jahren das schwerwiegendste Hindernis dargestellt hatte und die in der allgemeinen Öffentlichkeit und besonders unter Marxisten immer noch dominierte, in anderen politischen und kulturellen Bereichen im Rückgang. Das lag auch daran, daß Croces Einfluß kontinuierlich schwand und positivistische Trends an Prestige gewannen, die schließlich ein integraler Bestandteil der philosphischen Kultur Italiens wurden. Drittens wurde die empirische Politikforschung durch die akademische Etablierung der empirischen Soziologie und das politische Engagement von reformistischen, aber anti-ideologischen Kräften gefördert. Auf diesem W e g e wurden bedeutsame Veränderungen gegenüber der ideologischen und antiempirischen Stimmung der 50er Jahre erreicht. Solche politischen Interessen an der Reform und akademische Präferenzen für eine empirische Forschung zeichneten sowohl Onofri und die ganze Gruppe um die Zeitschrift Tempi Modemi als auch Pizzarno und andere Mailänder Wissenschaftler aus. Die "Amerikanisierung" ist der vierte und selbst von den Historiographen des Faches in anderen Ländern meistgenannte Veränderungsfaktor. In den späten 40er und frühen 50er Jahren wurde eine spezifische Konzeption von Politikwissenschaft als einer Sozialwissenschaft aus der angelsächsischen Welt übernommen und "ins Italienische übersetzt". Heute funktioniert dieser interkulturelle Einfluß auf unterschiedliche und komplexere Weise. Die ersten empirischen Untersuchungen wurden in Italien durch amerikanische Stiftungen gefördert. Amerikanische Gelehrte, die in den späten 50er Jahren nach Italien kamen, produzierten die ersten Beispiele dafür, wie empirische Forschungsprojekte durchzuführen waren. Gleichzeitig erhielt eine Generation von italienischen Wissenschaftlern ihre Ausbildung in den USA: Farnetti, Di Federico, Di Palma, Freddi, Mortara, Sani und, einige Jahre später, Pasquino. Und schließlich trugen vor allem amerikanische Mittel zur Errichtung jener Forschungsausbildungszentren bei, die vom Comitato Italiano per le Scienze Politiche e Sociali (COSPOS) koordiniert wurden und in denen eine neue Generation von Wissenschaftlern in Florenz, Turin und Catania sowie für die Politische Soziologie in Mailand ausgebildet wurde. Die Auswirkungen dieses vielfältigen Einflusses erstreckten sich auch auf das folgende Jahrzehnt der 60er Jahre. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Politikwissenschaft in den USA im allgemeinen wesentlich weiter entwickelt war als in dem Rest der westlichen Welt (Easton 1985; Waldo 1975) und sich

280

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Sildeuropa

während der 50er und 60er Jahre in Westeuropa als äußerst einflußreich erwies. Dieser amerikanische Einfluß, sowohl auf der wissenschaftlichen als auch der finanziellen Ebene, trug nicht nur zu dem "empirischen Sprung" bei, sondern förderte auch die Entstehung einer motivierten Gemeinschaft von Politikwissenschaftlern in Italien, zwei parallele Entwicklungen, die eine Schlüsselrolle beim "langen Marsch" der italienischen Politikwissenschaft spielten. Die Bedeutung der Herausbildung einer akademischen Gemeinschaft ist von zahlreichen Autoren (Fabre 1985: 4-7; Sarton 1967) hervorgehoben worden, aber erst wenn der Lehrkörper an den Universitäten sich selbst zu rekrutieren vermag, ist die innere intellektuelle "Reproduktion" des Faches gewährleistet. Das Forschungstraining an den COSPOS-Zentren, in anderen Zentren mit ausländischer Fianzierung und in den USA selbst konnte nicht mehr als ein erster Schritt sein, dem der Zugang zu universitären Lehrämtern folgen mußte. Daher war der "Kampf um die Reform der politikwissenschaftlichen Fakultäten von entscheidender Bedeutung (Spreafico 1964). 1968 wurde ein Teilsieg errungen, der angesichts der schwachen Kräfte (Sartori und Miglio) umso überraschender war: Den Fakultäten wurde das Recht gewährt, Politikwissenschaft während der ersten beiden Studienjahre obligatorisch zu machen. Doch war das Fach überall in Italien so schwach vertreten, daß diese Möglichkeit nur am "Cesare Alien" in Florenz realisiert wurde und erst in den 70er Jahren die Politikwissenschaft wirklich akademische Wurzeln schlug und sich im Gefolge einer Entwicklung entfalten konnte, die kein Gesetzgeber oder Anhänger der traditionellen Politischen Wissenschaften aufhalten konnte: die massenhafte Erweiterung des italienischen Universitätswesens.

Wachstum und "Umgestaltung" In den frühen 70er Jahren begann eine dritte Phase der italienischen Politikwissenschaft, welche durch eine allgemeine Expansion und eine teilweise Umgestaltung gekennzeichnet war. Das Verständnis der Politikwissenschaft als einer empirischen Wissenschaft blieb dominant, wurde, wenn überhaupt, noch präzisiert. Der Begriff der Politik allerdings wandelte sich, die Schlüsselrolle der vergleichenden Politik wurde noch verstärkt, die Loslösung von den "Vorfahren" setzte sich fort, und Tendenzen der Fragmentierung wurden offensichtlich. Bobbio (1971) und Sartori (1972) waren weiterhin um die Verstärkung des wissenschaftlichen Charakters der Politikwissenschaft und ihre noch deutli-

Politikwissenschaft in Italien

281

chere Absetzung von der Philosophie und anderen Geisteswissenschaften bemüht. Empirische Überprüfung, deskriptive Erklärung und wissenschaftliche Wertfreiheit, zusätzlich die von Sartori, aber nicht Bobbio herausgestellte "Anwendbarkeit" blieben die Angelpunkte einer nur teilweise behavioristischen Politikwissenschaft. Eine neue Entwicklung lief der Tendenz der 1960er Jahre entgegen: Die Gründungsväter der italienischen Politikwissenschaft (Mosca, Michels und Pareto) wurden jetzt auf den Speicher verbannt. Ihre Verdienste wurden zwar gepriesen, doch wurden sie nun im Hinblick auf ihre andersartige Konzeption der Sozialwissenschaften als Exponenten einer vonwissenschaftlichen Phase der Politikwissenschaft angesehen (Sarori 1972: 683-5). Sie wurden mit vollen Ehren in die Geschichte der politischen Ideen aufgenommen, aber ihre Hypothesen wurden unwiderbringlich aus der politikwissenschaftlichen Forschung ausgeklammert. Die grundlegende Vorstellung von Politik wandelte sich. Das geschah vor allem durch die verstärkte Betonung des Empirismus. Mit anderen Worten, die qualitative Suche nach dem Wesen der "Politik" wurde eingestellt. Das politische System wurde als die Quelle des politischen Verhaltens angesehen, und es wurde konstatiert, daß bestimmte Phänomene wie die Demokratisierung und Vermassung den Ort der Politik verlagerte (Sartori 1972). Darüber hinaus wurde festgestellt, daß politische Entscheidungen, auf welche Leoni bereits 1957 seine Aufmerksamkeit konzentriert hatte ( Leoni 1957, 1980 ), "kollektive 'souveräne' Entscheidungen" (seien), die aufgrund ihrer geographischen Ausweitung und ihres Zwangscharakters schwer zu umgehen" seien (Sartori 1972: 679-680). Diese neue Definition führte in die italienische Politikwissenschaft auch das Konzept des politischen Systems ein (Easton 1953; Almond 1966), das überall in Europa, insbesondere in Deutschland, einen erheblichen Einfluß errang, bevor es Ende der 70er Jahre wieder verblaßte. Im Jahr 1967 stellte Sartori fest, daß "der Wesensgehalt der Politik, .. uns zur vergleichenden Politik ... zurückzuführen scheint" (Sartori 1967: 691). Dieselbe Ansicht entwickelte er im Vorwort zur neuen Revista Italiana di Scienza Politica und fügte hinzu: "Es kann uns vielleicht als Vorurteil vorgehalten werden, daß wir den Vergleichen und der vergleichenden Methode zuviel Aufmerksamkeit schenken" (Sartori RISP, 1971: 5). Zu einer ähnlichen Feststellung kamen die beiden ersten Beiträge zu dieser neuen Zeitschrift, von denen der eine von Sartori selbst und der andere von Arend Lijphart stammte. Der Grund für diesen Akzent auf der vergleichenden Politik war die Tatsache, daß Vergleiche als die sinnvollste Methode angesehen wurden, um Politikfor-

282

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

schung in Übereinstimmung mit folgenden etablierten Richtlinien durchführen zu können: (1) einer auf Hypothesen und Verifikationen beruhenden Vorgehensweise, welche impliziert, daß die Theorie eine bedeutsame Rolle spielt, aber die empirische Überprüfung gleich bedeutsam ist, (2) dem Hinweis auf die große Zahl vorliegender Einzelfälle, die eine bessere, wenn nicht einmalige Möglichkeit der Erklärung erlauben, und (3) größere Möglichkeiten, um die Übertragbarkeit der durchgeführten Analysen zu demonstrieren. Diese Betonung der vergleichenden Politik und Methode wurde nicht immer zur vollständigen Zufriedenheit realisiert. Das eigentliche Problem, das die italienische Politikwissenschaft noch mehrere Jahre plagte, war aber ihre mangelnde allgemeine Anerkennung, insbesondere die Zurückhaltung der italienischen Historiker, Juristen und Philosophen, eine eigenständige Methode der Politikwissenschaftler zu akzeptieren. Die Lage wurde noch dadurch verschlechtert, daß das Vorbild der amerikanischen Politikwissenschaft und deren unzweifelbarer Einfluß dazu führten, die Bedeutung der eigenständigen Forschungsergebnisse in Italien gering zu schätzen. Auch bestanden bemerkenswerte Meinungsunterschiede innerhalb der Disziplin im Hinblick auf die Anwendbarkeit der Politikwissenschaft. Diese Differenzen wurden in der langen Debatte während der späten 70er und der 80er Jahre über die institutionelle Reform noch verschärft. Die hauptsächlichen Merkmale des Wachstums der Politikwissenschaft während dieser zwei Jahrzehnte waren die Herausbildung einer akademischen Gemeinschaft innerhalb der Universitäten, die Gründung einer Berufsorganisation, ein deutlicher Anstieg an intellektuellen Leistungen und die Publikation einer Vielzahl von Zeitschriften, Sammelbänden und Übersetzungen ausländischer Werke. So dominierte wie im ganzen klassischen Bereich der Geisteswissenschaften ein Wachstumsprozeß, der dazu führte, daß auch die Politikwissenschaft transformiert und die Spannweite der Forschungsthemen erweitert wurde sowie eine gewisse Fragmentierung einsetzte, die sogar zum Aufkommen entgegengesetzter methodologischer Ansätze führte. Diese Fragmentierung kann nachgewiesen werden anhand der unterschiedlichen Typen von Forschung und Lehre, welche an Zentren wie Turin, Florenz oder der Katholischen Universität in Mailand durchgeführt wurden. Doch insgesamt kam es nicht wie in Deutschland und anderen europäischen Ländern zu tiefen ideologischen Spaltungen oder radikal entgegengesetzten Konzepten in der italienischen Politikwissenschaft. Der Grund dafür liegt in der relativen Einigkeit der Gründergruppe und der Abwesenheit höchst unterschiedlicher oder methodologisch extremer Positionen.

Politikwissenschaft

in Italien

283

Die Transformation der italienischen Universitäten in Masseninstitutionen der Lehre und die dadurch bewirkte Zunahme an Lehrveranstaltungen und Professuren waren die Hauptfaktoren beim Wachstum der Disziplin. Politikwissenschaftliche Lehrgänge wurden seit 1956 in Florenz angeboten, und in den 60er Jahren folgten Pavia, Padua, Turin und die Katholische Universität von Mailand. Seit 1969/70 expandierte an diesen Fakultäten der Umfang der politikwissenschaftlichen Lehre, und in Catania und Bologna traten neue Ausbildungsgänge hinzu, wodurch die Zahl der politikwissenschaftlichen Studiengänge auf etwa ein Dutzend anwuchs. Zu Ende der 80er Jahre bestanden etwa 80 Kurse, verteilt auf 19 Fakultäten, und acht speziell auf die Politikwissenschaft orientierte Studiengänge, sowie weitere sechs Fakultäten und Studiengänge mit anderen Bezeichnungen. Die Anzahl der etatisierten Lehrpositionen wuchs dementsprechend. Im Jahr 1962 hatte nur eine einzige Professur in Florenz existiert, die Sartori innehatte. Die Expansion begann dann nach den 70er Jahren, und 1990 bestanden 37 Stellen für ordentliche Professoren, 36 für außerordentliche Professoren und 32 für Dozenten, insgesamt damit etwas mehr als 100 akademische Stellen im Fach Politikwissenschaft in Italien. Das Wachstum der akademischen Gemeinschaft auf dem Gebiet der Politikwissenschaft wurde durch die Gründung eines Berufsverbandes in Gestalt der Associazione Italiana di Scienze Politiche (AISP) verstärkt, die 1981 in die Societa Italiana di Scienza Politica (SISP) umgewandelt wurde und nach einigen Schwierigkeiten von der International Political Science Association (IPSA) als der einzige italienische Verband anerkannt wurde. Bobbio, Sarton und Spreafico amtierten als Präsidenten der ursprünglichen politikwissenschaftlichen Vereinigung, und im Verlauf des folgenden Jahrzehnts nahmen nacheinander Spreafico, Stoppino und Bonanate den Vorsitz der SISP wahr. Zum Erwerb einer selbständigen Identität durch eine akademische Community trägt auch wesentlich eine eigene Fachzeitschrift bei. Die Revista Italiana di Scienze Politica wurde 1971 von Sartori gegründet; ihr folgten weitere spezialisiertere Publikationen: Teoria Politica, Rivista Trimestraie di Scienza dell'administrazione, Quaderni dell'Osservatorio Elettorale, Stato e Mercato und in jüngeren Zeiten (1987) Polis. Bestimmte Verlage, insbesondere II Mulino, machten auch die amerikanische Fachliteratur durch die Veröffentlichung von Übersetzungen, Sammelbänden und Readern zu bestimmten Themen sowie kritische Überblicke zum Forschungsstand auf bestimmten Gebieten zugänglich.

284

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Die Balance zwischen Kontinuität und Wandel Obwohl wir bereits einige Hinweise auf die Themen gegeben haben, mit denen sich die italienischen Politikwissenschaftler in den vergangenen Jahrzehnten beschäftigt haben, steht doch noch ein umfassendes Bild aus. Um eine Vorstellung zu erhalten sowohl von den Kontinuitäten als auch den Veränderungen, die manchmal allmählich und dann wieder plötzlich erfolgten, müssen wir uns an den Beginn der italienischen Politikwissenschaft in die 50er Jahre zurückversetzen. Doch bevor die tatsächlichen Angaben aufgeführt werden, empfiehlt sich eine Verständigung auf das Kategorienschema, nach dem sie zugeordnet werden sollen. Dabei wird das Feld der internationalen Beziehungen bewußt nicht berücksichtigt, und es stellt sich die Frage, wie die übrige Politikwissenschaft am sinnvollsten kategorisiert werden kann. Traditionelle Unterteilungen, die auf die Teilgebiete wie vergleichende Politik oder Verwaltungswissenschaft abstellen, werfen erhebliche Klassifizierungsprobleme auf und sind so breit angelegt, daß das Verständnis der Zuordnungen schwierig ist. Ich habe mich daher für eine detailliertere Aufteilung entschieden, die auf den zehn Gebieten beruht, die in dem fraglichen Zeitraum untersucht wurden: Politikwissenschaft als eine akademische Disziplin, politische Theorie, politische Kultur, Parteien, Interessengruppen, Wahlstudien, politische Eliten, Regierungsinstitutionen (in der folgenden Tabelle als Entscheidungsprozesse und -strukturen aufgeführt), Bürokratie und Gerichtsbarkeit sowie Policy-Forschung. Da diese Aufteilung den Wandel und die Kontinuität der politikwissenschaftlichen Themen nicht immer angemessen widergibt, habe ich drei weitere Kategorien hinzugefügt: Vergleichende Politik, wodurch der Bedeutung der einschlägigen Arbeiten durch deren Zusammenfassung zu einer einzelnen Gruppe Rechnung getragen werden soll; das italienische politische System (in den folgenden Tabellen als "Italien im Allgemeinen" bezeichnet), um herauszufinden, ob und wie sich das Interesse auf allgemeinere Fragen verlagert hat; und schließlich Forschungsarbeiten über soziale Bewegungen und über den Terrorismus; zwei Phänomene, die in den letzten 20 Jahren in Italien eine besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Die folgenden Angaben erfassen auch die Beiträge von ausländischen Autoren, den sogenannten Italienisten, die oft einen erheblichen Einfluß auf die Forschung ausgeübt haben. Auf diese Weise sind mehr als 2500 Einträge zustandegekommen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, wie sie in den Tabellen 1 bis 3 enthalten sind, dokumentierten die Entwicklung der themati-

Politikwissenschaft in Italien

285

sehen Interessen der italienischen Politikwissenschaftler in den Jahren zwischen 1945 und 1988.

Tabelle 1: Politikwissenschaft in Italien nach Gegenstandsbereichen

(1945-1988)* Ausländer

Italiener N

%

N

%

Disziplingeschichte

61

3.0

2

0.4

Politische Theorie

191

9.5

Vergleichende Politik

121

6.0

57

10.9

Italien im Allgemeinen

51

2.5

11

2.1

Politische Kultur

66

3.3

26

4.9

Parteien und Parteien

406

20.1

232

44.5

Interessengruppen

105

5.2

38

7.3

Bewegungen u. Terrorismus

77

3.8

16

3.1

Wahlen u. polit. Verhalten

261

12.9

64

12.3

Politische Eliten

169

8.4

20

3.8

Regierungsinstitutionen

182

9.0

28

5.4

Bürokratie u. Gerichtsbarkeit

179

8.9

18

3.4

Policy-Forschung

149

7.4

9

1.7

Summe

2018

521

* Diese Angaben in den Tabellen 1-3 umfassen alle veröffentlichten Werke (Bücher, Beiträge und Artikel) auf Italienisch oder über Italien in einer anderen Sprache (vgl. Morlino, 1989)

286

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Tabelle 2: Entwicklung der Interessengebiete von italienischen Autoren ( 1 9 4 5 - 1 9 8 8 ) 194559

197079

196069

198088

N

%

N

%

N

%

N

%

Disziplingeschichte

8

12.1

18

7.7

21

2.9

14

1.4

Politische Theorie

8

12.1

23

9.8

71

9.7

89

9.0

Vergleichende Politik

1

1.5

3

1.3

49

6.7

68

6.9

Italien im Allgemeinen

2

3.0

24

3.3

25

2.5

Politische Kultur

2

3.0

5

2.1

27

3.7

32

3.2

Parteien u. Parteiensystem

g

13.6

53

22.6

182

24.8

162

16.5

Interessengruppen

2

3.0

10

4.3

33

4.5

60

6.1

1

0.4

23

3.1

53

5.4

Bewegungen u. Terrorismus Wahlen u. polit. Verhalten

28

42.4

31

13.2

81

11.0

121

12.3

Politische Eliten

4

6.1

33

14.1

55

7.5

77

7.8

Regierungsinstitutionen

2

3.0

10

4.3

52

7.1

118

12.0

Bürokratie u. Gerichtsbarkeit

44

18.8

80

10.9

54

5.5

Policy-Forschung

3

1.3

36

4.9

110

11.2

234

11.6

734

36.4

983

48.7

Summe

66

3.3

Politikwissenschaft in Italien

Tabelle 3: Entwicklung der Interessengebiete von

287

ausländi-

schen Autoren ( 1 9 4 5 - 1 9 8 8 ) 194559 N

196069 %

N

198088

197079 %

N

%

Disziplingeschichte

%

2

1.3

10

11.8

32

13.7

8

5.3

Italien im Allgemeinen

3

3.5

3

1.3

5

3.3

Politische Kultur

8

9.4

15

6.4

3

2.0

Vergleichende Politik

7

N

14.0

Parteien u. Parteiensystem

18

36.0

27

31.8

115

49.1

72

47.4

Interessengruppen

8

16.0

9

10.6

11

4.7

10

6.6

2

2.3

3

1.3

11

7.2

8

9.4

23

9.8

20

13.1

6

7.0

8

3.4

6

3.9

Bewegungen u. Terrorismus Wahlen u. polit. Verhalten

13

26.0

Politische Eliten Regierungsinstitutionen

3

6.0

3

3.5

11

4.7

11

7.2

Bürokratie u. Gerichtsbarkeit

1

2.0

7

8.2

8

3.4

2

1.3

2

2.3

5

2.1

2

1.3

85

16.3

234

44.9

152

29.2

Policy-Forschung Summe

50

9.6

Eine erste Durchsicht offenbart, d a ß während der mehr als vier Jahrzehnte, die von diesen Angaben erfaßt wurden, ein Themenbereich eindeutig vorherrschte: die politischen Parteien. Dieser Trend ist bei ausländischen Forschern noch ausgeprägter als bei Italienern, behandeln doch die Hälfte aller ausländischen Beiträge politische Parteien, während dieser Anteil bei den Italienern nur ein Fünftel ausmacht. Die Gründe hierfür sind offensichtlich, zumal im Hinblick auf das starke Interesse an der Kommunistischen Partei. Insgesamt kristallisieren sich drei Hauptthemengebiete sowohl bei den italienischen als auch den ausländischen Politikwissenschaftlern heraus. Die erste und umfangreichste Gruppe beinhaltet die Parteien und die Wahlstudien. Eine zweite Gruppe von Themengebieten, die weniger häufig auftaucht, umfaßt politische Theorie, Eliten, Entscheidungsstrukturen und die Bürokratie.

288

Kapitel III: Politikwissenschaff in West- und Südeuropa

In einer dritten Gruppe sind Themen versammelt, die aus einer Vielzahl von Gründen eher selten untersucht werden: die Disziplin selbst, Italien im Allgemeinen, die politische Kultur und die sozialen Bewegungen. Die übrigen Gebiete, zu denen Policy, Vergleichende Politik und Interessengruppen gehören, lassen sich zwischen der zweiten und der dritten Themengruppe einordnen. Um das Gesamtbild zu vervollständigen, wollen wir versuchen, die Unterschiede in der Popularität einzelner Themengebiete zu begründen. Ich habe den Eindruck, daß italienische Politikwissenschaftler, ähnlich ihren Kollegen in anderen Ländern, aber nicht wie die "Italienisten", bei der Auswahl und dem Wechsel ihrer Forschungsgebiete zwei verschiedenen Logiken, einer internen und einer externen, folgen. Die "externe Logik" besteht in der Konzentration auf ein konkretes Problem und seiner anschließenden Analyse. Studien über die Reform von politischen Institutionen oder den Terrorismus sowie bestimmte Untersuchungen über bestimmte policies und die Krise der Demokratie folgen dieser Logik, und auch die überwiegende Zahl der Forschungsarbeiten zu Parteien und deren jüngster Rückgang können auf dieses Erklärungsmuster zurückgeführt werden. Auf eine externe Logik deutet nicht nur die allgemeine Häufigkeit dieser Themen, sondern auch ihre Konzentration in bestimmten Zeitabschnitten hin. Viele dieser Untersuchungen orientieren sich direkt oder indirekt an einem praktischen Ziel. Sie basieren auf der Vorstellung, daß Politikwissenschaftler sich die politisch wichtigen Themen ihrer eigenen Zeit zum Forschungsgegenstand nehmen sollten. Die Italienisten werden bei ihrer Themenwahl fast ausschließlich von dieser externen Logik angeleitet. Die zweite, die interne Logik, überlagert insofern die externe Logik, als zahlreiche Untersuchungen durch externe politische Ereignisse oder Prozesse angestoßen worden sind und dann weitere Studien, Repliken und Debatten stimulieren. Im Hinblick auf die interne Logik muß unterschieden werden zwischen Pionierstudien und abschließenden Untersuchungen. Pionierstudien sind schöpferische Beiträge oder Bücher, die den Keim zu einem neuen Forschungsgebiet pflanzen oder den Beginn einer Periode intensiverer Befassung mit einem speziellen Thema eröffnen. Sie geben oft Anstoß zu weiteren Untersuchungen, die ihnen zumeist im Hinblick auf Hypothesen und Ideen verpflichtet sind. Beispiele solcher grundlegenden Arbeiten sind Sartoris Erforschung des Parlaments (1963) und seine Arbeiten über die politischen Parteien (vgl. 1976 und 1982), aber auch die von Farneti herausgegebene Anthologie über das politische System Italiens (1973). Abschließende Untersuchungen sind Studien, nach deren Erscheinen das Interesse an ihrem Gegenstand zurückgeht. Ein Beispiel dafür ist Stoppinos Arbeit über die Macht

Politikwissenschaft in Italien

289

(1968), einem in und außerhalb Italien lange Zeit sehr beachteten Gegenstand, der aber seit Ende der 60er Jahre praktisch aus dem Blickfeld geraten ist. Bei der Zuordnung zu diesen beiden Typen spielt die Qualität der Arbeiten keine Rolle, ausschlaggebend ist vielmehr der Grad des Interesses für ein spezielles Thema. Aufschließende und abschließende Arbeiten markieren Wendepunkte in der Entwicklung der politikwissenschaftlichen Forschungsdebatte in der einen oder anderen Richtung. Untersuchungen, die durch die innere Logik stimuliert werden, zielen primär auf allgemeine Wissenserweiterung und nicht spezifische Ziele. Einige zusätzliche Beobachtungen sollen das Bild vervollständigen. Um die eigentümlichen Merkmale der italienischen Politikwissenschaft hervorzuheben, wäre an sich ein Vergleich mit der internationalen Politikwissenschaft angebracht. Aber der Begriff der "internationalen Politikwissenschaft" beruht auf einem Abstraktionsgrad, der sich nur mit einigen wenige rohen empirischen Kriterien füllen läßt. Auch in der Politikwissenschaft, wie in allen Geisteswissenschaften, dominieren weitgehend nationale Eigenheiten. Statt eines internationalen Vergleichs soll versucht werden, die hauptsächlichen Unterschiede zwischen der italienischen und der amerikanischen Politikwissenschaft herauszustellen. Dabei liegt auch die Überlegung zugrunde, daß die amerikanische Politikwissenschaft, wie Finifters Buch (1983) aufgezeigt hat, immer noch für viele Politikwissenschaftler in aller Welt der eigentliche Bezugspunkt ist. Abgesehen von der wesentlich größeren Anzahl von politikwissenschaftlichen Forschungen, die in den USA publiziert werden, können weitere Unterschiede festgestellt werden, von denen die folgenden die wichtigsten sind: (1) Die Fragmentierung der amerikanischen Politikwissenschaft spiegelt die Tatsache wider, daß die Einzahl in der Fachbezeichnung stets vorherrschend gewesen ist. Die zeitgenössische italienische Politikwissenschaft hingegen spiegelt den Tatbestand wider, daß sich ihre Einzahl aus einer Vielzahl von "Politischen Wissenschaften" entwickelt hat. Infolgedessen ist sie im Hinblick nicht nur auf die Inhalte, sondern auch die methodologischen und theoretischen Ansätze zur Analyse politischer Phänomene weniger fragmentiert; (2) die italienische Politikwissenschaft ist insgesamt weniger um die Quantifizierung und mehr um die Theoriebildung besorgt. Sartoris Rat wurde also in diesem Fall übererfüllt; (3) in den USA folgte auf den relativen Erfolg des systemtheoretischen Paradigmas in den 60er Jahren ein tiefes Schweigen. Ein ähnlicher Vorgang wiederholte sich wenige Jahre später in Italien, wo das systemtheoretische Paradigma zu Ende der 70er Jahre weitgehend vergessen oder zumindest total absorbiert wurde. (4) Bestimmte amerikanische

290

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Entwicklungen auf dem Gebiet der Politischen Ökonomie, die auch von Pasquino (in A A W 1984) hervorgehoben wurden, haben mit Ausnahme weniger Studien (Pappalardo 1985) in Italien keine Parallele. Auf dem Feld der Vergleichenden Politik ist (5) weder in den USA noch in Italien besonders breit geforscht worden; doch ein Unterschied kann zwischen den beiden Ländern konstatiert werden: Amerikanische Politikwissenschaftler tendieren zu einem Schwergewicht auf Untersuchungen zu innenpolitischen Problemen, während ihre italienischen Kollegen tendenziell eine stärkere Neigung zum länderübergreifenden Vergleich haben.

Die Fragmentierung der Einheit oder der Gegensatz von Relevanz und Belanglosigkeit Der vorhergehende Abschnitt enthält reichliches Beweismaterial für den Fragmentierungsprozeß der italienischen Politikwissenschaft, der aber ausgeglichen wird durch die relative Nähe der wissenschaftlichen Positionen, auch so viele Jahre nach der Wiedergeburt des Faches. Ein beträchtlicher Grad

an

methodologischer

Einheit,

der

auf

die

Zeiten

der

"Wiedergründungsväter" zurückgeht, konnte bewahrt werden. Die Definition der Politikwissenschaft, die zu Anfang der 70er Jahre vorgeschlagen worden ist und welche durch ihre Hervorhebung von theoretischen und anderen Aspekten die Disziplin von den Nachbarfächern abgrenzte, ist über die Jahre weitgehend unverändert geblieben oder kein Diskussionsgegenstand mehr. Obwohl sich die Verschiedenheiten mit dem Anwachsen der Zahl der Politikwissenschaftler notwendigerweise verstärken, sind diese Unterschiede doch nicht besonders ausgeprägt. Zwei zentrale Fragen müssen noch beantwortet werden. Erstens geht es darum, ob der Wirkungskreis der italienischen Politikwissenschaft auf die Universitäten beschränkt geblieben ist oder nicht zumindest einige ihrer Exponenten einen Einfluß auf das politische System oder die gebildete Öffentlichkeit ausgeübt haben. Zweitens sind die wesentlichen Mängel der politikwissenschaftlichen Forschung in Italien zu benennen. Die erste Frage hat zwei Aspekte: die politische Einstellung von Politikwissenschaftlern und die aktuelle Relevanz der veröffentlichten Werke. Im Hinblick auf das letztere haben die Arbeiten über die Reform der politischen Institutionen die meiste akademische Aufmerksamkeit gefunden und besitzen noch heute die größte politische Relevanz. Diese Debatte ist durch Fisicella (1970) eröffnet wurden, der ein am französischen Vorbild eines Zweirunden-

Politikwissenschaft in Italien

291

Wahlsystem orientiertes Wahlrecht vorschlug, und in den 80er Jahren durch zahlreiche Beiträge von Fisicella, Miglio, Pasquino, Passigli, Sartori, Urbani und anderen in einer Vielzahl von Veröffentlichungen, einschließlich der Presse, fortgesetzt wurden. Die praktische Umsetzung dieser akademischen Vorschläge durch die vom Parlament verabschiedete Wahlreform war ziemlich dürftig, vor allem weil die das politische System dominierenden Parteien ihre allgemeinen politischen Interessen und besonders ihre Wahlaussichten nicht gefährden wollten. W a s aber erreicht wurde, war die Einsicht der allgemeinen Öffentlichkeit und der politischen Klasse in die enormen Schwierigkeiten des Regierens und somit eine Verlagerung des Themas aus dem Forum der akademischen Debatte in die Presse und danach in Kommissionen und das Parlament selbst. Dabei waren es die Politikwissenschaftler, noch vor den Juristen, welche das Thema problematisierten. Wie einflußreich sie in ihrem Bemühen waren, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu gewinnen und den Diskussionsrahmen zu bestimmen, läßt sich nur schwer einschätzen. Doch insgesamt muß zugestanden werden, daß die Politikwissenschaftier, mit wenigen Ausnahmen, bei dem Versuch einer detaillierten vergleichenden Analyse der Arbeitsweise und Effektivität der politischen Institutionen und Wahlsysteme in verschiedenen Ländern, in Europa und anderswo, eher versagt haben. Es ist schwierig, ein anderes Gebiet zu benennen, auf dem Politikwissenschaftler einen ähnlichen Einfluß ausüben konnten. Das bringt uns zu der zweiten Frage nach den Mängeln der Disziplin. Einer der Hauptgründe, warum die Politikwissenschaft relativ wenig zum italienischen politischen System ausgesagt hat, ist das Defizit an empirischen Studien auf den verschiedensten Gebieten. Es ist paradox, daß seit den vom Istituto Cattaneo Ende der 60er Jahre unternommenen Forschungsarbeiten keine vergleichbare Sammlung von Untersuchungen veröffentlicht worden ist. Angesichts der vermehrten Ressourcen und der großen Anzahl von Forschern stellt sich die Frage, wie es zu diesem Defizit kommen konnte. Es hat den Anschein, als ob es den Politikwissenschaftlern nicht gelungen ist, die Transformationen des italienischen politischen Systems in den letzten 20 Jahren voll zu verstehen, weil sie an Interpretationsmustern aus dem vorhergehenden Jahrzehnt festhielten. Die Betonung der Theorie hat darüber hinaus empirische Forschung behindert, die als arbeitsaufwendiger und weniger lohnend angesehen wurde, sowohl in intellektueller als auch in akademischer Hinsicht. Darüber hinaus ist das Gebiet der vergleichenden Politikanalyse durch zahlreiche Fallstudien, aber nur wenige echte Vergleichsarbeiten gekennzeichnet gewesen und war daher nicht entfaltet genug, um eine bedeutsame Rolle spielen zu können.

292

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Zusammenfassend wird man feststellen müssen, daß die akademische Disziplin der Politikwissenschaft in Italien mit Ausnahme der Gebiete der Institutionenreform insgesamt nur wenig Einfluß auf die praktische Politik gehabt hat. Die Wahrscheinlichkeit dazu war auch relativ gering, weil auf den meisten Teilgebieten des Faches Themen untersucht wurden, die nur indirekt von praktischer politischer Relevanz sind. Das grundlegende "politische Wissen", welches die Politikwissenschaft den Politikern und der Öffentlichkeit hätte zur Verfügung stellen können, fehlte weitgehend, und dieser Tatbestand führt meines Erachtens vor allem auf die Abwesenheit einer angemessenen Serie von empirischen Studien auf den verschiedenen Untersuchungsgebieten zurück. Wie gezeigt wurde, differiert der Zustand auf den einzelnen Teilgebieten recht stark. Insgesamt jedoch zeichnet sich die italienische Politikwissenschaft durch erhebliche Schwächen aus, welche die Gefahr eröffnen, daß die Disziplin in der Tat irrelevant wird. *Es handelt sich bei diesem Beitrag um eine Übersetzung und leichte Überarbeitung eines Artikels aus dem "European Journal of Political Research, Vol. 20 (1991), S.341-359. Wir danken für die Bereitstellung. Die Übersetzung nahm Wilhelm Bleek vor.

Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei

293

Ersin Kalaycioglu

Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei ein Überblick

Einleitung Politikwissenschaft als ein selbständiges Gebiet der Lehre, Forschung und Beratung stellt eine relativ neue Hinzufügung zum sozialwissenschaftlichen Programm an türkischen Universitäten dar. Die Institutionalisierung eines eigenständigen Faches Politikwissenschaft hat erst in den 1950er Jahren begonnen. Allerdings war die öffentliche Verwaltungslehre, ein Teilgebiet der Politikwissenschaft, schon zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert ein Kerngebiet in der Ausbildung der höheren Ränge der ottomanischen Beamtenschaft. Diese Tradition wurde auch nach der Modernisierung des Staatsapparats im Ottomanischen Reich nach 1839 fortgesetzt. Als 1859 die Schule für öffentliche

Verwaltung

(Mekteb-i

Mülkiye-i

Sahana)

gegründet

wurde

(Cankaya 1952: 5), übernahm sie die hergebrachte ottomanische Tradition der Instruktion des zukünftigen Personals der staatlichen Verwaltung in den politischen Künsten und Wissenschaften. So hat diese Schule für Öffentliche Verwaltung (MM) den institutionellen Rahmen für die Entwicklung der Politikwissenschaft in der Türkei bereitgestellt. Der Lehrplan der MM umfaßte im 19. Jahrhundert das Studium der Geschichte, der Methoden der sogenannten Mildtätigen Reform von 1839, der Einführung in das Recht, des internationalen Rechts, der internationalen Verträge, des Verwaltungsrechts und der Ökonomie (ebda: 31-48). Auf ähnliche Weise begann 1881 die Mektewbi Sultani (Galatasaray), eine französischsprachige Hochschule, und 1883 die Darülfünun, die 1870 errichtete Universität von Istanbul, mit der akademischen Lehre des Verfassungsrechts unter Bezug auf politische Phänomene (Tunaya 1969: 108). In der Tat lautete die wörtliche

Übersetzung

der einschlägigen

Lehrveranstaltung

"Politisches Recht" (Hukuku Siyasiye) (ebda: 109-112). Doch der Lehrplan der Juristischen Abteilung der Darülfunun enthielt auch "ikmeti hukuk", zu Deutsch "Philosophie des Rechts". Das Lehrbuch für diesen Kurs war von Münif Pascha, dem Erziehungsminister, selbst verfaßt worden und enthielt damals so revolutionäre und gefährliche Themengebiete wie die Menschen-

294

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

rechte und -freiheiten. Dasselbe Buch erwähnte auch die politischen Ideen von Kant, Fichte, Grotius, Bentham, Montesquieu, Mirabeau, Robespierre und Guizot. Tunaya hat nachgewiesen, daß Münif Pascha und andere Gründungslehrer des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie, wie Sait Bey, auch so heikle Themen wie Regierung, Unterdrückung, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit behandelt haben (ebda 120-127). Die Ironie dieser Entwicklung war, daß sie am Beginn des despotischen Regimes von Abdulhamid II. einsetzte, dessen Herrschaft eine Wiederbelebung des absolutistischen Despotismus brachte. In der Folge wurden daher diese Rechtslehrer aus ihren Stellungen entlassen, und der Inhalt aller Lehrveranstaltungen stand bis zur Wiederherstellung der konstitutionellen Monarchie im Jahr 1908 unter der strikten Überwachung des Palastes. In der Zeit nach 1908 setzte das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei seine Odyssee dort fort, wo sie während der früheren 1880er Jahre unterbrochen worden war. Nach der Verfassungsreform, die einer liberalen Phase im späten Ottomanischen Reich voranging, wurden die Lehrinhalte an der MM und der Juristischen Abteilung der Universität Istanbul durch die Aufnahme von zeitgenössischen Ideen und Rechtstheorien aus Europa, insbesondere aus Frankreich, modernisiert (Abadan 1965: 400). In den turbulenten Jahren des Zusammenbruchs des Ottomanischen Reiches erhielten die Untersuchungen der politischen Entwicklung der Zeit keinen besonderen Auftrieb. Die einzig bedeutsame Entwicklung war in diesen Jahren die Einführung und Etablierung der Soziologie als eines eigenständigen Faches an der Darülfunun, der Universität von Istanbul, durch Ziya Gökalp (Abadan-Unat und Saribay 1986: 72-73). Gökalp propagierte die Vorstellungen von einer wissenschaftlichen Erforschung der gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Phänomene. Sein Anliegen war dabei keineswegs ausschließlich wissenschaftlicher Natur. Vielmehr wollte er auch die Wissenschaft als Mittel benutzen, um den "ottomanischen Staat zu retten" vor den gesellschaftlich-politischen Entwicklungen, die seine Existenz gefährdeten. Gökalp kann als prototypisch für jene Gelehrten in Übergangszeiten angesehen werden, die das Schwergewicht von juristischen und pragmatischen Zugängen auf die wissenschaftliche Untersuchung von gesellschaftlichen Tatsachen zu verlagern suchten. Er unternahm sowohl die empirische Analyse von gesellschaftlichen Tatbeständen als auch die Empfehlung von Lösungsmöglichkeiten für die Schwächen des ottomanischen politischen Systems. Die Politikwissenschaft trat als eigenständiges Fach an den türkischen Universitäten erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Erscheinung. Die schon früher errichtete Mekteb-i Mülkiye (MM) wurde 1948 zu einer regulären Fakultät der neuerichteten Ankara Universität und nahm den Namen einer Fakultät für

Das Fach der Politikwissenschaft

in der

Türkei

295

Politikwissenschaft an. Bald darauf wurden in den 50er Jahren auch Kurse wie "öffentliche Verwaltung, Staatstätigkeit (policy), Internationale Beziehungen, Vergleichende Politik, Einführung in die Politikwissenschaft u.a." (ebda: 73ff.) in den Lehrplan aufgenommen. Auf ähnliche Weise begann zur selben Zeit die Juristische Fakultät an der Universität Istanbul ihre Lehrveranstaltungen zu Verfassungs- und öffentlichem Recht in einer Weise zu modifizieren, daß Entwicklungsmöglichkeiten für die Politikwissenschaft eröffnet wurden. Schon 1952 argumentierte Tarik Zafer Tunaya von der Rechtsfakultät der Universität Istanbul, daß der Demokratisierungsprozeß im Lande während der 50er Jahre eine sorgfältige und faktenorientierte Beobachtung der politischen Parteien in der Türkei erfordere (ebda: 74). Er forderte auch, beim Studium rechtlicher und politischer Phänomene die Methoden der modernen Politikwissenschaft anzuwenden (ebda: 74-75). Die Wurzeln des Faches Politikwissenschaft lassen sich in der Türkei eindeutig in zwei Traditionen nachweisen. Die eine ist die Rechtswissenschaft, die andere die Ausbildung von Berufsbeamten. Die juristisch-institutionelle Perspektive der politikwissenschaftlichen Forschung und Lehre machte keinen Unterschied zwischen diesen beiden Traditionen. Doch die eigentlichen Veränderungen begannen erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die traditionellen Institutionen der Türkei auf dem Gebiet der politikwissenschaftlichen Lehre und Forschung kamen nun in Kontakt mit der amerikanischen und britischen Version der Political Science. Wie die Türkei engere Beziehungen und Mitgliedschaften in der NATO, dem Europarat, der OECD, usw. anstrebte, so nahmen türkische Doktoranden und jüngere Mitglieder der Rechtsfakultäten und der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Ankara in zunehmendem Maße Möglichkeiten wahr, an Graduiertenprogrammen in den USA, Kanada und Großbritannien teilzunehmen. Die Kontakte zu amerikanischen und europischen Politikwissenschaftlern wurden intensiver. Stipendienprogramme

wie

das

Türkisch-Amerikanische

Kulturaustausch-

Komitee (Fulbright Commission) ermöglichten ehrgeizigen türkischen Politikwissenschaftlern die Teilnahme an Graduiertenstudien und einjährigen Postgraduiertenprogrammen von Universitäten in den USA. Das Gesamtergebnis dieser internationalen Begegnungen war die Einführung einer Vielzahl von neuen Teilfächern in den hergebrachten politikwissenschaftlichen Lehrplan der Rechtsfakultäten und der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Ankara. Mit diesen Veränderungen ging eine andere völlig neuartige Entwicklung einher. Die Errichtung neuer Hochschulen ermöglichte die Etablierung neuer

296

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Fachbereiche für Politikwissenschaft. Die Mittelöstliche Technische Universität (1956) und die Bogazici Universität (1970) sind zwei herausragende Beispiele für diese Gründungen. In der Zwischenzeit hatten in den 1960er Jahren ältere Institutionen der höheren Bildung, wie die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Istanbul, neue Lehrstühle für Politikwissenschaft errichtet. Die Bedeutung dieser Entwicklungen lag in der relativ frühen Anpassung des türkischen Hochschulwesens an den raschen inhaltlichen Wandel der Politikwissenschaft. Der legalistisch-institutionelle Ansatz der Politikwissenschaft, der den Studierenden des Verfassungs- und öffentlichen Rechts vermittelt worden war, machte in den 1960er Jahren einem wesentlich komplizierteren Bild Platz. Der Übergang zur Demokratie bewirkte eine wachsende Betonung von öffentlicher Meinung, Wahlverhalten, politischen Parteien, Interessengruppen und Parlament als Gegenstandsbereiche der politikwissenschaftlichen Forschungsbemühungen in den 60er Jahren. Durch die nationalen und kommunalen Wahlen zwischen 1946 und 1995 wurden Daten für Aggregationsanalysen produziert. Seit den 70er Jahren werden sporadisch nationale Umfragen zur Beobachtung der Parteipräferenzen der Wähler und zur Untersuchung der politischen Unterstützung von Institutionen und Regime, von politischen Interessen und Kenntnissen, politischer Wirksamkeit und anderen einschlägigen Einstellungen, Überzeugungen und Werthaltungen, die im Hinblick auf Stabilität und Krise des Regimes wichtig sind, durchgeführt. Die Demokratisierung motivierte Politikwissenschaftler, den Prozeß der politischen Beteiligung, der politischen Rekrutierung, der politischen Institutionalisierung und insgesamt den Wandel der politischen Struktur des türkischen Systems in den Mittelpunkt ihres Interesses zu stellen. Daher hat die Politikforschung auf unterschiedlichen Analyseebenen in der relativ liberalen, wenn auch turbulenten politischen Atmosphäre der 60er Jahre, floriert. Die Vorreiterstudien der 50er Jahren können als eine eigenständige Gruppe angesehen werden. Die spätere türkische Politikforschung läßt sich in zwei Kategorien von Untersuchungen einteilen; diejenigen zur inneren (und vergleichenden) Politik und solche zur internationalen (und auswärtigen) Politik. Die Studien zur inneren und vergleichenden Politik des türkischen Systems können ihrerseits im Hinblick auf ihre abhängige Variabel in drei Gruppen unterschieden werden: Die erste Gruppe dieser Untersuchungen konzentrierte sich auf politische Eigenschaften und Verhaltensweisen der türkischen Machtelite, den "Staat" als Institution und kulturelles Symbol. Ich neige dazu,

Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei

297

in diese Kategorie auch jene Studien einzubeziehen, welche die Interaktion zwischen "Staat" und türkischer Gesellschaft untersuchen. In eine zweite Kategorie fallen jene Forschungsarbeiten, die kollektives politisches Verhalten zum Gegenstand haben. Studien zu nationalen und kommunalen Wahlen, politischer Beteiligung, politischen Einstellungen, Werten und Überzeugungen, kurz, zur politischen Kultur, stellen den Hauptteil der Veröffentlichungen über kollektives politisches Verhalten in der Türkei dar. Um die genannten abhängigen Variabein zu erklären, gehen sie von unabhängigen Variabein oder Bedingungen wie Religion, Geschlecht, Nationalismus, sozialer Klasse und ähnlichem aus. Eine dritte Gruppe der Politikforschung in der Türkei konzentriert sich auf die Verbindungsmechanismen zwischen Bevölkerung und Machtelite. Diese bestehen in den politischen Parteien, den Interessengruppen und anderen politischen Institutionen wie der Großen Nationalversammlung (GNA), die eine bedeutsame Rolle bei der Mobilisierung der Bevölkerung spielen und/oder die Mechanismen bereitstellen, in deren Rahmen die Konstituenten und ihre Repräsentanten agieren. Gleichzeitig entwickelten sich in der Türkei die Analysen zu den Internationalen Beziehungen und zur Außenpolitik als ein vierter und von den ersten drei Gruppen sehr unterschiedlicher Bereich. Dabei dominierte die Orientierung am analytischen Ansatz der realistischen Schule die Untersuchungen zu den internationalen Beziehungen. Da sie ein besonderes Gegenstandsgebiet darstellen, soll die Entwicklung des Teilgebietes der Internationalen Beziehungen in diesem Beitrag vernachlässigt werden und einem weiteren Aufsatz überlassen bleiben. Im Folgenden sollen die erwähnten ersten drei Gruppen von türkischen Studien zur inneren und vergleichenden Politik im Detail dargestellt werden.

Untersuchungen über den Staat Obwohl politikwissenschaftliche Arbeiten aus der Zeit vor 1950 zu Recht als frühe Beispiele von Untersuchungen zu staatlichen Themen angesehen werden können, waren sie doch keine genuinen Studien zur makropolitischen Struktur des Landes. Die präzise Analyse der Machtelite und des Staates hat ihren Ursprung im wiedererwachten Interesse am Ottomanischen Reich und an der nachottomanischen Konsolidierung des republikanischen Staates. Serif Mardins grundlegende Arbeit über die Jungen Ottomanen und die ottomanisch-türkische politische Kultur kommt für dieses Untersuchungsfeld der

298

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

größte Einfluß zu. Seine Buch über The Genesis of Young Ottoman Thought (1962) ist ein früher Versuch der Entzifferung der kulturellen Codes, die dem politischen Verhalten der politischen Autoritäten ottomanisch-türkischen Stils zugrunde lagen. In den 60er Jahren konzentrierte sich Mardin auf die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft im Ottomanischen System (1967 und 1969) und untersuchte auf diese Weise die historischen Entstehungsgründe des Vorrangs des Staates gegenüber der ottomanisch-türkischen Gesellschaft. Mardins Darstellung des ottomanischen soziopolitischen Systems, die durch durch die Arbeiten von Edward Shils angeregt worden sind, kommt zu dem Ergebnis eines kulturell homogenen sowie stabilen Zentrums auf der einen und einer kulturell heterogenen, flüssigen sowie unbeständigen Peripherie auf der anderen Seite (1975; passim). Sie hat in der Folgezeit eine große Zahl von Forschern inspiriert. Mardins kulturellen Studien über das Ottomanische und Türkische System konzentrierten sich ursprünglich auf das Zentrum, doch sukzessive verlagerte er in den 1980er und 1990er Jahren seinen Hauptaugenmerk auf die kulturelle Untersuchung der peripheren Kräfte der religiösen Organisationen in der ottomanischen und türkischen Gesellschaft (1988: 23-35; 1994: 161-168). Mardin bemühte sich in diesen Arbeiten um eine makroanalytische Erklärung der gesamten Bauart und Struktur von politischer Herrschaft in der Türkei. Sein sozio-kultureller Approach setzte sich nicht nur von der vorhergehenden legalistisch-institutionellen Schule der türkischen Politikanalyse ab, er führte auch den bis dahin fremden Ansatz Max Webers in der türkischen Politikwissenschaft ein. In den 50er Jahren wurde auch eine institutionell-legalistische Analyse der politischen Entwicklung in der Türkei einflußreich, die auf die Darstellung der ideologischen und politischen Konfrontationen im Lande während der Nachkriegszeit abstellte. Das beste Beispiel eines frühen Musters dieser Forschungsrichtung ist Kemal Karpats Turkey's Politics. Diese Unterscheidung zwischen politisch-soziologischen Arbeiten auf dem Gebiet der Elitenpolitik sowie des Staates auf der einen und legalistischinstitutionellen Analysen auf der anderen Seite war aber nicht von Dauer. In den 60er und 70er Jahren geriet die Untersuchung der türkischen Politik unter den Einfluß von zwei hauptsächlichen Modellen des sozio-politischen Wandels. Das eine von ihnen kann als der Modernisierungsansatz bezeichnet werden und stand wesentlich unter dem Einfluß der Weberschen Tradition bei der Untersuchung politischer Entwicklungen. Das andere Modell kann als Ansatz zur Untersuchung von sozio-ökonomischen Konflikten charakterisiert werden und war Produkt einer marxistischen Analyse der türkischen Politik.

Das Fach der Politikwissenschaft

in der Türkei

299

Der bedeutendste Beitrag auf dem Gebiet des Modernisierungsansatzes war Niyazi Berkes' The Development

of Secularismus

schließlich 1973 als Türkeye'de'Cagdaslasma

in Turkey (1964), der

ins Türkische übersetzt wurde,

eine Begrifflichkeit, die auch auf die Modernisierung abstellte. Berkes' Arbeit konzentrierte sich auf die große Transformation des Ottomanischen Reiches in einen republikanischen Nationalstaat im Rahmen einer dramatischen Konfrontation zwischen den Kräften des Fortschritts sowie der Modernität und den Kräften des Konservatismus sowie der Tradition. Der Zusammenbruch des alten Systems und die staatsbildenden Praktiken des frühen 20. Jahrhunderts werden von Berkes unter dem Einfluß der Modelle soziopolitischer Modernisierung aus den 60er Jahren und einer anspruchsvollen Kenntnis der ottomanischen Herrschaft ergründet. Berkes hat eine große Anzahl von Fachgelehrten der türkischen Politik als auch Nichtfachleuten zu anspruchsvollen Theorien über die politische Ökonomie des gesellschaftlichen Wandels in der Türkei inspiriert. Es kann auch mit gutem Recht festgestellt werden, daß seine Arbeiten eine der Hauptursachen für die Wiederbelebung des Interesses an der ottomanischen Politik in den späten 60er Jahren waren. Der marxistische Ansatz zur Analyse der ottomanischen Gesellschaft und der türkischen Politik hat sich um den Beweis bemüht, daß soziale Klassen und innere wie internationale Wirtschaftsinteressen eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung des politischen Wandels in der Türkei gespielt haben. Muzaffer Sencer (1974), Sirin Tekeli (1977), Tuncer Bulutay (1970), Taner Timur (1971) und Yüksel Gülmen (1979) haben einige der überzeugenderen Beispiele für diesen Ansatz vorgelegt. In den 1980er Jahren ist ein wachsender Einfluß der Untersuchungen über den "Staat" in der türkischen Politikwissenschaft zu beobachten. Metin Hepers Buch über die Staatstradition in der Türkei (1985) und seine übrigen Beiträge zum selben Thema (1987a, 1987b, 1992) haben den früheren Arbeiten auf der Makroebene der türkischen Politik eine völlig neue Sichtweise hinzugefügt. Seine grundlegende Analyse der Wurzeln der türkischen Staatstradition hat ihn zu der These veranlaßt, daß im ottomanisch-türkischen Zusammenhang ein starker Staat exisiert. Interessanterweise ging Hepers Arbeit mit der Veröffentlichung von Forschungsuntersuchungen zu den Fähigkeiten des türkischen Staatesapparates einher, die eher Zweifel über dessen Stärke aufkommen ließen (Oktay 1984). Hepers Arbeit hat, nicht so überraschend, Studien angeregt, die intensiver die Bedeutung und Gültigkeit seiner Argumente über die "Stärke" des "Staates" in der Türkei überprüften (Keyder 1987 und Sunar, im Erscheinen).

300

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Die anwachsende Literatur über den Staat macht zweifellos deutlich, daß in der Türkei eine ausgeprägte Tradition der Staatlichkeit exisiert. Unklar ist aber, ob der Staat stark oder schwach ist. Die meisten Indikatoren auf dem Gebiet der Systemfähigkeiten weisen eher auf eine erhebliche Begrenzung der staatlichen Stärke hin. Die Makrostudien zeigen Veränderungen in der Rolle des Staates in der Türkei an. Allerdings sind diese Veränderungen noch nicht abgeschlossen und auch nicht glatt verlaufen. Untersuchungen über die türkische Machtelite vermitteln uns einige Einblicke in Natur und Geschwindigkeit des Wandels der Rolle des Staates in der Türkei. Die frühen Studien über politische Eliten konzentrierten sich auf die sozio-ökonomischen

und demographischen

Eigenarten der

Elite.

Freys

grundlegendes Buch über die politische Elite der Türkei (1965), das auf die Abgeordneten der Großen Nationalversammlung abstellte, war die erste empirische Untersuchung auf diesem Teilgebiet. Frey hatte die Analyse des politischen Wandels im Auge, indem er die sozio-ökonomischen und demographischen Hintergründe der Eliten mit politischen Trends, Entscheidungen und Regierungspolitiken korrelierte. Eine Vielzahl von Untersuchungen, die durch Tachau (1977, 1980, 1988), Turan (1995), Heper (1976) und Frey (1975) durchgeführt wurden, aktualisierten und erweiterten den Bereich von Freys ursprünglicher Arbeit, indem auch militärische und zivile Beamte sowie Kabinettsmitglieder eingeschlossen wurden. Die politische Einstellungen, Werte und Überzeugungen der politischen Elite in der Türkei sind bisher nur ungenügend erforscht worden. Obwohl in den Veröffentlichungen oft auf die politische Kultur der Elite verwiesen worden ist (vgl. Frey 1975), basieren die meisten dieser Hinweise kaum auf systematischer Beobachtung. In einigen seltenen Fällen, in denen Vermutungen über die Anpassungsfähigkeit der politischen Kultur der türkischen Elite an demokratische Werte durch empirische Untersuchungen systematisch überprüft worden sind, konnten diese Annahmen nicht bestätigt werden (Kalaycioglu 1988).

Politisches Verhalten der Bevölkerung Es ist kein Zufall, daß sich in den 1950er Jahren das Interesse türkischer Politikwissenschaftler dem politischen Verhalten der breiten Bevölkerung zuwandte. Die freien und kompetitiven Wahlen ermöglichten neue Daten und eine frische Perspektive. Auch ermutigte Daniel Lemers Passing of the Traditional Society jüngere und motivierte Politikwissenschaftler, Wahldaten als ei-

Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei

301

ne ergiebige Analysequelle in Betracht zu ziehen. Doch die erste genuine Wahlanalyse wurde erst Mitte der 60er Jahre durch Nermin Abadan (1966) durchgeführt. In ihr wurden anhand von aggregierten Daten die nationalen Wahlen des Jahres 1965 analysiert. Baykal (1970), Nuhrat (1971), Tachau (1973), özbudun und Tachau (1975), Sayari (1975) und özudun (1976) untersuchten Wahlergebnisse auf der Ebene von Wahlbezirken, um Wahlverhalten oder sogar konventionelle politische Beteiligung auf nationaler Ebene analysieren zu können. Toprak (1981) und Saribay (1985) benutzten die gleichen aggregierten Wahldaten, um ihre Analyse des Einflusses der Religion auf die Politik durchzuführen. Die erste repräsentative Umfrage auf nationaler Ebene zur Untersuchung des politischen Verhaltens in der Türkei wurde 1974 von llter Turan und Ahmet N. Yücekök unter Leitung der University of Iowa unternommen. Diese Studie konzentrierte sich auf die politische Repräsentation, enthielt aber auch Fragen nach der politischen Beteiligung. Eine ähnliche Umfrage, die durch die Unterstützung der Istanbuler Tageszeitung Hürriyet ermöglicht wurde, konnten 1977 Üstun Ergüder und Selcuk Özcelik durchführen. Alle diese Studien ermöglichten wertvolle Einsichten in das politische Verhalten der Bevölkerung. Ergüders Artikel (1980-1981) über das Wahlverhalten in den 70er Jahren ist das erste Beispiel für eine Forschungsarbeit, die auf indiviudeller Basis mit Umfragedaten aus einem repräsentativen Sample durchgeführt wurde. In vergleichbarer Weise ist Kalaycioglus Buch (1983) das erste Beispiel eines ähnlichen Designs für das Themengebiet der herkömmlichen politischen Beteiligung. Turans Artikel (1984) über politische Kultur, in welchem er Daten aus der Umfrage von 1974 benutzte, ist ein weiterer Beitrag zur Debatte um die politische Kultur der Türkei. Obwohl die Türkei in den 70er Jahren durch die terroristische Welle tief erschüttert wurde, die ihr politisches Regime untergrub, sind relativ wenige Untersuchungen über Terror oder unkonventionelle politische Beteiligung verfaßt worden. Von Ergil (1980), Keles und Ünsal (1982) stammen die einzigen Studien, die sich mit den Ursachen der politischen Gewalt in der Türkei während der 70er Jahre beschäftigten. Kalaycioglus (1994a) Untersuchung der unkonventionellen politischen Beteiligung ist das erste Beispiel einer empirischen Untersuchung des genannten Phänomens, in welchem Umfrageergebnisse aus einem national repräsentativen Sample benutzt worden sind. Turans Beitrag zum Sammelband von Kim und anderen (1983), Yüceköks Buch (1983) über die Türkische Große Nationalversammlung (TGNA) und Kalaycioglus Artikel (1980) über die Akzeptanz der türkischen Gesetzgebung

302

Kapitel III: Politikwissenschall in West- und Südeuropa

stellen frühe Beispiele der Analyse des Phänomens der politischen Repräsentation in der Türkei mithilfe der nationalen Umfrage von 1974 dar. In jüngster Zeit hat bei der Behandlung der Frage der Konsolidierung der Demokratie in der Türkei eine breitere Perspektive die Aufmerksamkeit der türkischen Politikwissenschaftler gefunden. Ahmads The Turkish Experiment in Democracy (1977), Dodds Democracy and Development in Turkey (1979) sowie Sunar und Sayaris Artikel (1986) haben die Frage aufgeworfen und einige der Gründe identifiziert, warum die Bemühungen um die Etablierung einer stabilen Demokratie in der Türkei seit den 1950er Jahren relativ erfolgslos waren. Von öbudun (1988) und Heper (1988 und 1994) herausgegebene Bände widmeten sich hauptsächlich der gleichen Frage und wiesen auf die Bedeutung einer Mehrzahl von rechtlichen, sozio-politischen und kulturellen Bedingungen hin, welche die Konsolidierung der Demokratie in der Türkei behinderten. Schließlich haben in den 1990er Jahren Untersuchungen über die spezifische politische Kultur der Türkei als einen potentiell nachteiligen Faktor, welcher den Demokratisierungsprozeß eher verzögert, an Bedeutung gewonnen. Die neue Wertschätzung und Bedeutung von Nationalismus, Religiösität, Ethnizität und verschiedenen anderen für die türkische Politik ursprünglichen Momente und Beziehungen haben Bemühungen um eine genaue Abschätzung der Bedeutung dieser Faktoren bei der Bestimmung des politischen Verhaltens in der Türkei stimuliert. Die Untersuchung der türkischen Werte, die als Teil eines größeren von einer Forschergruppe unter Leitung von Ronald Inglehart stehenden Projektes zu den Wertstrukturen in aller Welt durchgeführt wird, hat eine abermalige Möglichkeit zur Durchführung einer nationalen Werteumfrage in der Türkei eröffnet (Ergüder et al. 1991). Der von Balim u.a. herausgegebene Sammelband über die Türkei (1995) und Kalaycioglus Ergebnisse (1994b) zeigen auf, daß Religiösität in der Tat eine bedeutsame Determinante für die parteipolitischen Einstellungen darstellt. Die gleichen Daten vermitteln auch Hinweiseauf die sozio-kulturellen Hintergründe der Schwierigkeiten

bei der

Konsolidierung

der

Demokratie

in der

Türkei

(Kalaycioglu in özbudun et al. 1994). Nach dem Ende des Kalten Krieges haben in der Türkei mit Religion und ethnischem Nationalismus zwei ursprüngliche Faktoren wieder an Bedeutung gewonnen. Untersuchungen über diese beiden Phänomene sind zahlreicher als die tatsächlichen Veröffentlichungen. Jüngste Studien über Religion als einen mobilisierenden Faktor in der Massenpolitik als auch über die Rolle der Religion in der Gesellschaft sowie allgemein Analysen des Stellenwerts von Religion in den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft schließen die

Das Fach der Politikwissenschaft

in der

Türkei

303

Arbeiten von Toprak (1988), Cakir (1990), Göle (1991), Mardin (1994) und Toprak (1995) ein. Die wachsende Bedeutung des ethnischen Nationalismus als eine Quelle des politischen Verhaltens der Bevölkerung stellt ein weiteres Forschungsgebiet dar, das von den türkischen Politikwissenschaftlern in den 1990er Jahren entdeckt wurde. Mango (1994), Bora (1995), ögün (1995), Mano (1995), Balli (1992), Kirisci und Winrow (19995) haben Einblicke vermittelt in die jüngsten Erscheinungen des ethnischen Nationalismus, der sich in verschiedendster Gestalt geäußert hat.

Die intermediären Gewalten Die Rolle von Strukturen und Institutionen wie den politischen Parteien, Interessengruppen, Volksvertretungen und ähnlichem in der türkischen Politik war stets ein zentraler Gegenstand in den Untersuchungen zur politischen Elite und dem politischen Verhalten der Bevölkerung. Wahrscheinlich die früheste genuine Forschungsarbeit zu irgendeiner politischen Struktur in der Türkei war Tunayas Buch über die politischen Parteien der Türkei (1952). Obwohl es in den 1950er Jahren veröffentlicht wurde, basierte es doch auf Untersuchungen, die in den 1940er Jahren durchgeführt worden waren. Das Buch fungierte daher nicht nur als Vorbote für Künftiges, sondern auch als Motivationsquelle für eine große Gruppe von Forschern, die ihre Karrieren in den 1950er Jahren starteten. Interessantenweise begann Tunuya mit der Aktualisierung und Erweiterung seines Buches zu einem fünfbändigen Werk über türkische Politik aus der Perspektive der Parteien, doch sein plötzlicher Tod beendete das Projekt nach der Veröffentlichung des dritten Bandes (1984, 1986, 1989). Haniouglus Buch über die Partei der Einheit und des Fortschritts (1985), Tuncays Buch über die Einparteienära zwischen 1923 und 1931 (1981), Eroguls Buch über die Demokratische Partei in der Zeit von 1946-1950 (1970), Topraks (1981) und Saribays (1985) Arbeiten über die Nationale Heilspartei der Jahre 1969-1980 sind weitere Beispiele für die gleiche Gattung. Die Interessengruppenpolitik hat relativ wenig Aufmerksamkeit gefunden. Yüceköks Untersuchung der freiwilligen Vereinigungen (1971), Bianchis Buch (1984) und der von Heper herausgegebene Band (1991) sind die bedeutendsten Beiträge zur Analyse der Interessengruppen in der Türkei. Die Frauenbewegung und die Umweltbewegung haben in den 80er Jahren die Aufmerksamkeit von einigen Forschern gefunden (Arat 1995, Sirman 1989, Finkel und

304

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Sirman 1990). Insgesamt aber ist die Interessengruppenpolitik ein noch unterentwickeltes Gebiet der politikwissenschaftlichen Analyse in der Türkei. Die Rolle des Militärs als eine besondere Interessen- und Einflußgruppe in der Türkei hat mehr politikwissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen als alle anderen Interessengruppen. Der militärische Staatsstreich von 1960 führte zu einem allgemeinen Interesse für militärische Coups in der Türkei. Savci (1961), özbudun (1966), Weiker (1963), Hjarris (1965) waren unter den ersten, deren Untersuchungen sich auf die Rolle der Militärs in der türkischen Politik konzentrierten. Jeder Coup scheint eine weitere Folge von Studien auf diesem Gebiet initiiert zu haben. Jüngere Arbeiten von Tachau und Heper (1983), Haie (1988), Karpat (1988) und Harris (1988) haben umfassendere Analysen der Militärputsche in der Türkei vorgelegt. Doch wie nach dem jeweils letzten Putsch die öffentliche Erinnerung verblaßt, so geht auch das Interesse an der Rolle der Militärs in der türkischen Politik immer wieder zurück. Auch Universitätsstudenten wurde eine Zeit lang eine Rolle als Interessengruppe zugesprochen. Die Studentenrevolte von 1968 veranlaßte in der Türkei eine Reihe von Untersuchungen, die auf Studierende als Konstituenten der politischen Bewegung oder Interessengruppe abstellten (Abadan 1965, Ozankaya 1966 und Kislali 1974). Doch als die Studentenbewegung abflaute und in den 70er Jahren einer drohenden Welle des Terrors Platz machte, verlagerte sich das Forschungsinteresse von den Studenten als einer Interessengruppe weg. Die Militärregierung der 80er Jahre und das politische Regime der anschließenden Zeit entmutigte die Universitätsstudierenden noch weiter von der politischen Beteiligung. Das gesamte Interesse an Studenten ist im Verlauf der 80er und 90er Jahre verblaßt. In der Zwischenzeit begannen Frauen als Interessengruppe oder politische Bewegung die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich zu ziehen. Die frühen Studien über türkische Frauen stellten deren politische Rechte heraus und konzentrierten sich auf ihren rechtlichen Status nach der Kulturrevolution Atatürks in den 30er Jahren, welche ihnen die politische Gleichheit schon 1934 gewährte. Dennoch ist es offensichtlich, daß Frauen ihr Recht, in politische Ämter gewählt zu werden, kaum wahrnehmen konnten. Die erste Gruppe von nichtjuristischen Studien über die Rolle der Frauen in der türkischen Gesellschaft setzte sich mit diesen Themen auseinander (Abadan-Unat und Saribay 1986: 82-83). Abadan-Unat (1979), Tekeli (1982) und Arat (1983, 1995) gehören zu den überzeugendsten Beispielen von Studien über die Rolle der türkischen Frauen in der Politik. TCNA ist eine weitere Institution, die als Scharnier der Staatsbürger zum türkischen "Staat" funktioniert. Karamustafaoglu (1965), özbudun (1968), Kim

Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei

305

u.a. (1983), Turan (1985), Yücekök (1983), Demirel (1995) und Kalaycioglu (1990, 1995) haben zahlreiche Studien zu dieser Institution aus den Perspektiven der Institutionalisierung, der institutionellen Reform und der Organisationsdynamik beigetragen.

Ein Überblick über das Fach Politikwissenschaft in der Türkei Der vorhergehende Bericht enthält eine selektive Darstellung von nach Auffasssung des Verfassers hervorragenden Beispielen einer anspruchsvollen politikwissenschaftlichen Forschung in der Türkei. In dem folgenden Abschnitt soll ein Überblick über die türkische Literatur zur Politikwissenschaft vermittelt werden. Eine Erfassung aller Beiträge in der seit 1931 erscheinenden Zeitschrift der Fakultät für Politikwissenschaft der Universität Ankara, die 1859 als Mekteb-i Mülkiye gegründet worden war, verdeutlicht, daß

politikwissenschaftliche

Themen bis in die 1960er Jahre eine relativ unbedeutende Rolle spielten (siehe Tabelle 1). Die im engeren Sinne politikwissenschaftlichen Beiträge zur Zeitschrift für Politikwissenschaft der Universität Ankara wuchsen nicht nur zahlenmäßig an, sondern hatten auch weniger Übersetzungen aus anderen Quellen zu verzeichnen. Die Tabelle 1 zeigt auf, daß das anfängliche Schwergewicht der Politikforschung auf juristischen und verwaltungswissenschaftlichen Themen in den 1960er Jahren zurückging und gleichzeitig die Produkte genuiner Forschung und Theoriebildung auf dem eigentlichen Feld der Politikwissenschaft in der Türkei zunahmen. Tabelle 1: Beiträge in der Zeitschrift der Fakultät für Politikwissenschaft 1931-52 und 1960-91

Themen gebiete (Beiträge 1931-52) Recht

Wirtschaft

Originalbeiträge

33 172

66 356

öffentl. Verwaltung 9 94

Insgesamt

205

422

103

Übersetzungen

Politikwissenschaft 15

Soziologie 25

82

46

97

71

306

Kapitel III: Politikwissenschaft in West- und Südeuropa

Themengebiete (Beiträge 1960-91) Recht

Wirtschaft

Übersetzungen Originalbeiträge

4 102

17 192

Insgesamt

106

209

Offen«. Verwaltung 6 49 55

Politikwissenschaft 4 114

118

Soziologie 8 39

47

Eine ähnliche und verläßliche Zusammenstellung der Bücher, die im gleichen Zeitraum veröffentlicht wurden, erweist sich als schwierig. Doch die Zählung der einschlägigen Bücher in der Nationalbibliothek von Beyazit, Istanbul, die von jedem im Lande veröffentlichten Buch ein Exemplar erhält, scheint darauf hinzudeuten, daß während der politisch-liberalen Atmosphäre nach den 60er Jahren die Zahl der politikwissenschaftlichen Veröffentlichungen sich im Vergleich zur Zeit von 1930 bis 1950 mehr als vervierfacht hat. Auch die Zahl der eigentlichen Forschungspublikationen zeigte nach den 60er Jahren einen ähnlichen Zuwachs. Dabei war der bemerkenswerteste Anstieg auf dem Gebiet der politikwissenschaftlichen Lehrbücher zu verzeichnen. Diese Tatsache ist offensichtlich auch durch das rapide Wachstum der Universitätsstudien in der Türkei auf dem Gebiet der Politikwissenschaft und der Internationalen Beziehungen zurückzuführen, die vor allem in den 80er und 90er Jahren sprunghaft expandierten. Ein weiterer Trend ist der inhaltliche Wandel der Publikationen von Übersetzungen und Adaptionen aus der politikwissensachaftlichen Literatur der nordamerikanischen und europäischen Länder hin zu authentischen Studien, die in der Türkei durchgeführt worden sind und diese zum Gegenstand haben. Als jüngster Trend ist die Neigung zu verzeichnen, den Veränderungen in der internationalen politikwissenschaftlichen Literatur zu folgen und in der Türkei Untersuchungen aufgrund dieser Anregung durchzuführen. Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei ist ein integraler Bestandteil der internationalen Netzwerke und Organisationen der Politikwissenschaft geworden. Obwohl die Türkische Politikwissenschaftliche Vereinigung mit ihren 175 Mitgliedern sich in einem relativen Schlummerzustand befindet, zeichnen sich ihre Mitglieder durch beträchtliche Aktivitäten auf den Foren der internationalen politikwissenschaftlichen Gemeinschaft aus. Ohne Übertreibung kann behauptet werden, daß die türkischen Politikwissenschaftler voll in die internationale Scientific Commmunity der Politikwissenschaftler integriert sind.

Das Fach der Politikwissenschaft in der Türkei

307

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa.

Mate Szabö

Politikwissenschaft in Ungarn. Die Institutionalisierung einer "Demokratiewissenschaft"

"Alle sind Politologen geworden, die Politikwissenschaft hat die öffentliche Meinung beeinflußt, .. der politische Diskurs der Gesellschaft läuft in der Sprache und den Kategorien der Politikwissenschaft." "Wie früher in den sechziger und siebziger Jahren die Ökonomie und die Soziologie als Kommunikationsformen der Reformbewegungen gedient haben, so ist in den achtziger Jahren der Politikwissenschaft diese Rolle zugefallen." "Die ungarische Politikwissenschaft hat als Demokratiewissenschaft die Werte der westlichen Demokratien in ihre politische Diskurssprache übernommen": so schreibt Attila Agh 4 1 5 , einer der führenden Repräsentanten der ungarischen Politikwissenschaft, über die historische Rolle und die gesellschaftspolitische Funktion der Politikwissenschaft in Ungarn. Ich werde versuchen, diese Einschätzung mittels eines historischen Überblicks über die Institutionalisierung der ungarischen Politikwissenschaft zu belegen. Nach Attila Agh ist es den spezifischen Bedingungen des ungarischen Systemwandels zu verdanken, daß ausgerechnet der Politikwissenschaft eine solch führende Rolle im Diskurs der Demokratisierung zufiel. Doch worin liegen diese spezifischen wissenschaftspolitischen Bedingungen? Wie lief denn der Institutionalisierungsprozeß der Politikwissenschaft? Welche Rolle spielen die Traditionen des ungarischen Wissenschaftssystems? Wo liegen seine Perspektiven?

415

Attila Agh, A demokratizalas utvesztöi. In: Valosag 1990/11, S.41.

Politikwissenschaft in Ungarn

315

1. Tradition - Bruch - Neuanfang. Vom 18. Jahrhundert bis 1979. Die ungarische Politikwissenschaft wurzelt ähnlich wie die deutsche in der Wissenschafts- und Universitätsentwicklung seit dem 18. Jahrhundert. Kameralismus

und

die

"Polizeiwissenschaften"

wurden

nach

österreichisch-

deutschem Vorbild auch in das ungarische ökonomisch-juristische Denken übernommen. 416 Und das politische Denken des ungarischen Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus wie des Konservatismus sind nur vor dem Hintergrund der universitären Lehre und Forschung des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Diese Gedankenwelt beeinflußte dann zur Jahrhundertwende auch die Stammväter der sich neu entwickelnden Politikwissenschaft. Zwar hielten sich Forschung und Lehre in großer Distanz vom gesellschaftlichspolitischen Diskurs, doch brachte der krisenhafte Verlauf der gesamten Epoche auch hier eine kontinuierliche Annäherung, die sich vom 18. Jahrhundert bis 1948, dem Jahr der kommunistischen Machtübernahme, verfolgen läßt. Die für die Entwicklung der Politikwissenschaften bedeutendsten Köpfe, Jozsef Eötvös (1813-1871 ) 4 1 7 , (1911-1979)

419

Oszkar

Jaszi

(1875-1957) 4 i8

und

Istvan

Bibo

, wurden zwar zu Lebzeiten nicht als universitäre Forscher

und Lehrer anerkannt, doch werden sie heute als Teil einer kraftvollen, "lebendigen" Tradition der ungarischen Politikwissenschaft verstanden, während die Erinnerung an die akademischen Traditionen und ihre Forschungsdesiderate eher blaß bleibt. Obwohl die drei genannten "Urväter" der ungarischen Politikwissenschaft verschiedenen politischen Generationen angehören und unterschiedliche Denkweisen repräsentierten, sind die Gemeinsamkeiten ihres Lebenswerks in der heutigen ungarischen Politikwissenschaft zu festen Orientierungsgrößen geworden. Die Elemente dieses Selbstverständnisses sind m.E. die folgenden: Erstens wird das politikwissenschaftliche Denken als Bestandteil des allgemeinen politischen Diskurses begriffen. 416

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417

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418

Oszkar Jaszi, A nemzeti allamok kialakuiasa es a nemzetigesi kordes (1912). Budapest 1986. Ders., A Monarchia jövöje (1918). Budapest. 1988. Ders., A kommunizmus kilatastalansaga es a szocializmus reformacieja (1919). Budapest 1989.

419

Istvan Bibo, Valogatott tanulmanyok l-IV. Budapest 1986-1990.

316

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Zweitens versteht sich die Politikwissenschaft als Kritische Wissenschaft, d.h. ein wichtiges Arbeitsfeld ist die kritische Analyse der etablierten Forschung und Lehre. Drittens tritt sie für die Institutionalisierung der Werte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit im ungarischen Nationalstaat ein; d.h., wie ihre Begründer greift sie auf ein Grundverständnis nationaler und sozialer Liberalität und Demokratie zurück. Viertens schließlich engagiert sie sich in sozialen und politischen Krisensituationen als Kritikerin des bestehenden Institutionengefüges und als Anwältin der Reformen. Im Rückblick läßt sich nun erkennen, daß insbesondere die kommunistische Machtübernahme 1948 einen vorläufigen Endpunkt setzte, sowohl der für die Politikwissenschaft relevanten politisch-ideengeschichtlichen Entwicklung, als auch deren etablierter universitärer Tradition. Verkörpert wird dies durch die Person Istvan Bibos, eines bedeutenden politischen Denkers und Professors für politische Wissenschaft. Nach der kommunistischen Machtübernahme wurde er für den Rest seines Lebens in die politische Opposition und die "innere Emigration" gezwungen. Sein Lehrstuhl, die an der Budapester Universität seit 1770 existierende Professur für Politik, wurde noch im gleichen Jahr aufgelöst. 420 Politikwissenschaft war in der Folgezeit einzig in der Opposition und im Exil möglich - eine gewisse Parallele zur deutschen Situation während der NSZeit. Wohingegen die etablierte Lehre seit dem Jahr 1948, also seit der Machtübernahme

der

Kommunisten,

mit

dem

offiziellen

Monopol

des

"Wissenschaftlichen Sozialismus", der als "politische Theorie des MarxismusLeninismus" dienen sollte, gleichzusetzen war. Diese Lehre wurde nach sowjetischem Vorbild Pflichtfach an allen Hochschulen. Und es wurden Hunderte von Stellen hierfür geschaffen, die (bis 1956) mit Absolventen des "LeninInstituts" der Universität Eötvös Lorand (Budapest) besetzt wurden. Sie wurden z.T. von sowjetischen Professoren, manchmal sogar in russischer Sprache, unterrichtet. Während der Revolution wurde das Institut allerdings aufgelöst und auch später nicht wieder reorganisiert, sodaß dort nur eine einzige Generation - heute bereits älterer - Politiker und "Wissenschaftlicher Sozialisten" ausgebildet wurde. In dem der Revolution folgenden Kädär-System kam der ideologischpolitischen Bildung eine wesentlich zurückhaltendere Rolle zu als im früheren 420

Ilona Arezt, a.a.O. (FN 2); Hedvig Klimo, Bibo Istvan a politikatudomanyrol. In: Szoboszlai György (Hg.): Valsag es reform. Magyar Politikatudomany i Tarsasag Evkönyve. Budapest 1987. S. 252-263.

Politikwissenschaft in Ungarn

317

Rakosi-Regime; auch eine viel marginalere Bedeutung als in den anderen sozialistischen Ländern wie der DDR, der Tschochoslowakei und Rumänien. Dementsprechend wurde anstelle des "Lenin-Instituts" ein Fachbereich für "Wissenschaftlichen Sozialismus" an der Philologischen Fakultät der Universität Eötvös Lorand etabliert, wo das Fach vorwiegend von Historikern und Philologen als Zweitfach gewählt wurde, um damit eine Hochschullaufbahn einzuschlagen. Für die Ausbildung des Personals für den "Wissenschaftlichen Sozialismus" waren aber auch bis in die jüngste Zeit hinein die Ausbildungswege in Moskau, im Fach "Wissenschaftlicher Kommunismus", und (als zweite Bildungswege) an der Hochschule für Politik der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) und im Netzwerk der Marxismus-LeninismusAbendschulen wichtig. Es war typisch, daß besonders auf dem Land alte und unfähige Mitglieder des Parteiapparates diese Lehrstühle als recht bescheidene "Pfründe" besetzt hielten. Eine echte Forschungsstelle für "Wissenschaftlichen Sozialismus" wurde allerdings nicht etabliert, wodurch sich diese "Wissenschaft" auf ein reines Lehrfach reduzierte. Die qualifizierteren Vertreter des Fachs lösten sich deshalb im Zuge des liberaleren KädärRegimes von dieser toten Dogmatik und versuchten, die Studenten in zeitgeschichtliche Studien oder einfach in einen praktisch-politischen Diskurs neu einzubeziehen. Während die Funktion der "politischen Theorie" vom "Wissenschaftlichen Sozialismus" gänzlich okkupiert war, wurden einzelne, für die Politikwissenschaft relevante Fragen im Rahmen anderer sozialwissenschaftlicher Disziplinen erforscht. So waren z.B. im Staats- und Verwaltungsrecht, in der Staatsund Rechtstheorie, in der Soziologie und in der Sozialphilosophie schon seit den siebziger Jahren kritische Wissenschaftler tätig, die mit der bewußten Anwendung von Methoden und Konzepten einer westlichen Politikwissenschaft wichtige Vorarbeiten leisteten. Viele ihrer Arbeiten sind später nach dem Aufweichen der Widerstände gegenüber einer Politikwissenschaft publiziert worden. 4 2 1 Über die Möglichkeit und Notwendigkeit der Etablierung einer echten Politikwissenschaft gab es in Ungarn während dieser Zeit zwar schon eine ausgiebige Diskussion; sie hatte aber damals noch keine praktischen Folgen. 4 2 2 Einen neuen Schub zur Entstehung der Politikwissenschaft in Un421

Kaiman Kulcsar, Tarsadalom, politika, jog. Gondolat. Budapest 1974; Peter Schmidt, Szocializmus es allamisag. Budapest 1984; Ferenc Görgenyi, Tulajdon es politika. Budapest 1982; Miklos Szabo, Politikai kultura Magyarorsagon 1895-1986. Budapest 1989.

422

Zoltan Peteri, Burzso a politikatudomany es marxista-leninista allamelmelet. In: Allam es Jogtudomany 1964/11; Peter Vas-Zoltan, önallo "politikatudomany" vagy komplex tarsadalomtudomanyi kutatasok. In: Magyar Tudomany 1966/ 11. Peter Vas-Zoltan, A "politikai tudomany" tartalmanak kialakitasahoz. In: Magyar Tudomany 1967/ 7-8; Peter Kulcsar, A politikatudomany, a szociologia es az allamközi kapcsolatok. In: Nemzetközi Tajekoztato

318

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

garn gab die Entwicklung innerhalb der Soziologie; sie führte zur Ausbildung einer politischen Soziologie, die allerdings durch die gleichen Tabus aus Politik und Wissenschaft gebremst wurde, die auch die Geburt der Politikwissenschaft verlangsamten.423

Der Pragmatismus und die desideologisierende

Tendenz der Kädärschen Politik zusammen mit der Öffnung nach Westen in den siebziger Jahren schuf aber ein allgemeines Bewußtsein von der Notwendigkeit einer Politikwissenschaft für die Demokratie, - sowohl bei Sozialwissenschaftlern als auch in den politischen Führungszirkeln. Ungarische Sozialwissenschaftler nahmen deshalb seit den siebziger Jahren an verschiedenen Konferenzen, insbesondere der International Political Science Association (IPSA), teil. Der Mangel an Politikwissenschaft in Ungarn wurde während dieses Entwicklungsprozesses als mehr als nur eine ideologisch und politisch bedingte Fehlentwicklung angesehen. Und die beschriebenen Faktoren führten dazu, daß sich gegen Ende der siebziger Jahre viele Sozialwissenschaftler als Politologen definierten, obwohl noch überhaupt keine institutionalisierte Politikwissenschaft existierte; Mitglieder einer solchen Politikwissenschaft als einer "imaginären Institution" waren vielmehr Vertreter unterschiedlichster sozialwissenschaftlicher Fachrichtungen. Das hat dann im späteren Verlauf, nach einer Etablierung der institutionellen Rahmenbedingungen, zu einem relativ schnellen Aufbau der Politikwissenschaft geführt. Zu den Wurzeln der politischen Wissenschaft in Ungarn sind aber auch die von der "ersten", der offiziellen, Öffentlichkeit ausgeschlossenen Ideenströmungen zu rechnen. Die kritischen Wissenschaftler, die sich am Ende der siebziger Jahre zur Politikwissenschaft bekannten, mußten sich dafür aber nicht notwendigerweise auch von der offiziellen Wissenschaft entfernen. Denn trotz aller Widerstände gab es, wie wir später sehen werden, auch in der offiziellen Wissenschaftspolitik ein Bestreben, die Politikwissenschaft zu institutionalisieren. Das bedeutet zwar nicht, daß alle für die Politologie eintretenden Wissenschaftler als "kritisch" einzuschätzen waren; aber andererseits war die späte Kädär-Periode tolerant genug, um in gewissen Grenzen auch innerhalb der etablierten Wissenschaft kritische Ansätze zu dulden. Dies kam vor allem der aufkeimenden Politologie zugute. 424 Und doch war dieses Maß an Tole1972/1; Csaba Gombar, A politikatudomany kerdesehez. In: Valosag 1967/10; Bela Veszi, A politikatudomany idöszerüsege es a szocializmus epitesenek feladatai. In: Külpolitika 1977/1. 423

Kaiman Kulcsar, Politikai es jogszociologia. In: Kalmanu. Kulcsar (Hg.), A szociologia agazatai. Budapest 1975. S. 157-184.

424

Die Namen von Csaba Gombar, Mihaly Bihari, Peter Schmidt, György Szoboszlai spielen hier eine Rolle.

Politikwissenschaft in Ungarn

319

ranz nicht immer vorhanden; und selbst später, bis in die achtziger Jahre, gab es immer wieder Sozialwissenschaftler, die den Rahmen dieser Toleranz überschritten und deshalb aus den offiziellen Institutionen und Diskursen verbannt wurden. Diese Wissenschaftler landeten entweder - besonders früher im Exil, oder sie begaben sich in die "innere Opposition".425 Beide Instanzen, die systemkritische Emigranten-Literatur und die "innere Opposition", wurden schon seit der Etablierung des kommunistischen Machtmonopols ständig "produziert", wenngleich hierbei mehrere politische Generationen und Gruppierungen zu unterscheiden sind. Es ist hier aber nicht der Raum, das volle Spektrum dieser Strömungen und ihre Relevanz für eine "kritische Demokratiewissenschaft" in Ungarn auszubreiten; doch waren selbst Eötvös und Jaszi zu ihrer Zeit zeitweilig in der Emigration, und Bibo seinerseits war einer der Vordenker der ungarischen Opposition.426 Ohne also ein abschließendes Bild der Beiträge und Wirkungen vorzustellen, möchte ich nur einige allgemeine Punkte erwähnen, die mir sowohl bei der Emigration als auch bei der Opposition wichtig und relevant erscheinen für die Entstehung einer Politikwissenschaft: So wurden, erstens, von der offiziellen Sozialwissenschaft errichtete Tabus thematisiert; es wurde die Forderung ihrer Analyse aufrechterhalten und der offizielle Monopolanspruch auf die Kontrolle des politischen Diskurses aufgebrochen. Zweitens entstanden Foren für die Diskussion tabuisierter Themen und verbannter Autoren, die sich gerade auch mit der Anwendung westlicher politikwissenschaftlicher Konzepte und Methoden beschäftigten. Die Verbreitung von inoffizieller Literatur ging dabei weit über den "harten Kern" der politischen Opposition hinaus und beeinflußte die sozialwissenschaftliche Öffentlichkeit trotz der Aufrechthaltung der Zensur nachhaltig.427 Die Grenzen zwischen der "ersten" und der "zweiten" Öffentlichkeit in den achtziger Jahren waren dabei ähnlich wie in Polen eher fließend, während in der DDR, Rumänien und in der Tschechoslowakei bis zum Sturz der soziali425

Zur Entwicklung der Opposition in Ungarn vgl. György Dalos, Archipel Gulasch. Die Entstehung der demokratischen Opposition in Ungarn. Bremen 1986. Für die Politikwissenschaft sind die Arbeiten von Janos Kis, György Bence, Miklos Tamas Gaspar, György Konrad und Ivan Szelenye wichtig.

Zur Entwicklung der ungarischen Nachkriegsemigration vgl. Gyula Borbandi, A magyar enigracio eletrajza. I-Il. Budapest 1989. Von den emigrierten Sozialwissenschaftlern sind die Arbeiten von Rudolf Tökes, Ivan Völgyes, George Schöpflin, Bela Farago, Charles Gati, Ferenc Feher, Agnes Heller, Pierre Kende für die Politikwissenschaft in Ungarn wichtig. 426 Daios, a.a.O. (FN 11). S.78-86. 427

Pierre Kende, Zensur in Ungarn. In: Krisen in den Systemen sowjetischen Typs/ Nr. 9. Köln 1986.

320

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

stischen Regime starre Grenzen zwischen beiden Denkrichtungen bestanden. Diese Unterschiede zwischen den Ländern hatten auch Konsequenzen für die Entwicklung der Sozialwissenschaften. Verglichen mit Polen 4 2 8 , wo es nur eine gewisse Entwicklungsverzögerung der Politikwissenschaft durch die NS-Herrschaft und den Kommunismus gab, war der Bruch mit der Tradition in Ungarn viel einschneidender. Während dort gewisse Eckwerte und Denkmuster aus der Vorkriegszeit erhalten wurden und das Hochschulsystem nach dem Krieg im wesentlichen wieder hergestellt wurde, war in Ungarn ein totaler Bruch mit den tradierten Strukturen festzustellen. Und während die Politikwissenschaft in Polen auch unter den Kommunisten eine etablierte Wissenschaft wurde, die ihre Tradition bewußt pflegte, ließ sich in Ungarn die Politikwissenschaft erst am Ende der siebziger Jahre etablieren, und es fällt ihr bis heute noch schwer, den einmal verlorenen Faden der eigenen Tradition wiederaufzunehmen. Günstiger als in Ungarn erging es unter den ehemaligen sozialistischen Ländern z.B. in Jugoslawien, wo der "Wissenschaftliche Sozialismus" schon wesentlich früher zur Politikwissenschaft fortentwickelt wurde und die Grenzen zwischen "erster" und "zweiter" Öffentlichkeit von Anfang an durchlässiger waren. Schwierig stellte sich die Situation in der DDR, der Tschechoslowakei und Rumänien dar, wo es erst mit der Systemtransformation zu einer Etablierung der Politikwissenschaft und zu einer Abkehr vom "Wissenschaftlichen Sozialismus" kam. Ungarns Politikwissenschaft liegt in etwa zwischen diesen beiden Extremen: sie ist gekennzeichnet durch eine relativ späte, aber noch vor dem Systemwandel vollzogene Institutionalisierung der Politikwissenschaft; und es gab auch bereits frühzeitig weitreichende offiziöse Möglichkeiten zu ihrer Thematisierung und Initialisierung.

2. Neuorganisierung und der Beginn der Institutionalisierung - 1 9 7 9 bis 1988 Die oben genannten Entwicklungen haben dazu geführt, daß Ende der siebziger Jahre, in einer Entscheidung des "Wissenschaftspolitischen Kollegs" vom 3.5.1978, von der "Notwendigkeit einer Anerkennung der Politikwissen-

428

Witold Malachowski, Entwicklung und Stand der politischen Wissenschaften in Volkspolen. In: Roland Scharff (Hg.), Sozialwissenschaften in der Volksrepublik Polen. Erlangen 1989. S.205-245.

Politikwissenschaft in Ungarn

321

schaft" gesprochen wurde. 429 Aufgrund dieser Entscheidung bildete die Ungarische Akademie der Wissenschaften einen Ausschuß für Politikwissenschaft

und

beschloß,

aus

dem

unter

ihrer

Aufsicht

bestehenden

"Staatswissenschaftlichen Verein" einen "Verein für Politikwissenschaft" zu machen. Dabei bestand auch Einigkeit über die Notwendigkeit, die Politikwissenschaft in' die akademische Lehre einzuführen. Doch trotz dieser Initiative führten die Beharrungskraft tradierter Ideologien und der Konservatismus bestehender Strukturen zu einer weiteren Verzögerung dieser Entwicklung. Die Überzeugungskraft der gegen die Politikwissenschaft vorgetragenen ideologischen Einwände zerrann schließlich erst mit dem Weltkongreß der IPSA 1979 in Moskau: denn, wenn in der "Kapitale des Sozialismus" und mit der offiziellen Unterstützung der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften ein Weltkongreß der Politologie stattfindet, dann muß es wohl auch eine "sozialistische" Politikwissenschaft geben können. So nahm eine relativ große Delegation ungarischer Wissenschaftler an dem Moskauer Kongreß teil und verbreitete später dessen "message" auch in Ungarn. Dort wurden nun mehr und mehr Bücher und Zeitschriftenartikel aus dem Gebiet der Politikwissenschaft publiziert.430 Um allerdings die Institutionalisierung der neuen Wissenschaft in Ungarn gänzlich zu verstehen, muß man sich gewisse allgemeine Züge des ungarischen Forschungs- und Hochschulwesens vergegenwärtigen 431 : So gab es erstens eine deutliche Trennung von Forschung und Lehre. Zweitens übte die Ungarische Akademie der Wissenschaften zu jener Zeit als eine Art inoffizielle Instanz die Kontrolle über die Inhalte von Forschung und wissenschaftlicher Qualifikation aus. Und drittens lenkte das Ministerium für Bildung die Strukturen des Unterrichtes an allen Ausbildungsstätten, von der Grundschule bis zur Universität mittels einer vereinheitlichten und zentralisierten Aufsicht. Wie läßt sich nun in diesem zentralisierten und bürokratisierten System eine Innovation venwirklichen? Sie ist zunächst auf die Unterstützung durch die Reformpolitik angewiesen, die damals auf den Reformkommunismus zu reduzieren war. Diese "Allianz" von Reformpolitik und Politikwissenschaft432 429

Mihaly Bihari, A politikatudomany helyzete. In: Szoboszlai György (Hg.), Valsag es Reform. Magyar Politikatudomanyi Tarsasag Evkönyve. Budapest 1987. S.221.

430

Zwei dieser ersten repräsentativen Sammelbänder der ungarischen Politikwissenschaft waren: Tibor Polgar (Hg ), Politikatudomanyi tanulmanyok. Budapest 1982. Mihaly Bihari (Hg.), Politika es Politikatudomany. Budapest 1982.

431

Mäte Szabö, Wissenschaftsreform in Ungarn. In: Deutsche Universitätszeitung 1990/1-2.

432

Diese Allianz zwischen den Politologen und den Reformpolitikern hat Csaba Gombar folgendermaßen in einem Rundfunkgespräch erläutert: "Wer hat ein Interesse an Forschungen auf dem Gebiet der Politikwissenschaft? Wer hat eine Interesse daran, daß kritische Analysen über unsere Politik gemacht werden? Natürlich, der Forscher, der davon lebt.

322

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

hatte aber auch ihren Preis; denn in einem autoritären Staat ist schließlich alles verdächtig, was in Zusammenhang mit der offiziellen Politik steht. Und eine Politikwissenschaft, die "von oben" unterstützt wurde, mußte sich die Ablehnung durch die Universitäten und die Akademie gefallen lassen, die die Politikwissenschaft zum Teil als Kuckucksei der Politik verstanden und sie deshalb ablehnten oder mißverstanden. Zu Beginn war die Politikwissenschaft jedenfalls auf die direkte Unterstützung der Reformpolitik gegenüber dem Konservatismus anderer wissenschaftlicher Institutionen angewiesen. Die bei der Entstehung der Politikwissenschaft aktiven Reformpolitiker, wie Imre Pozsgay 433 , lösten sich aber im Laufe der Krise mehr und mehr vom "Kädärismus" und setzten sich für radikalere Reformen ein. Die Politikwissenschaft ihrerseits unterstützte diese politische Orientierung und trug zur Analyse der Krise des Kädärismus und zur Diskussion neuerer Entwicklungsalternativen Ungarns bei. 434 Nun aber zu verschiedenen Aspekten der Institutionalisierung der Politikwissenschaft in Ungarn: a) Dem Ungarischen Verein für Politikwissenschaft (Magyar Politikatudomanyi Tarsasag). b) Der wissenschaftlichen Qualifikation der einzelnen Fachvertreter. c) Den Initiativen in der Forschung. d) Den Initiativen in der Lehre. e) Der Rolle der Politikwissenschaft in der öffentlichen Meinung und im politischen Leben.

a) Der "Ungarische Verein für Politikwissenschaft" Der Verein wurde 1982 als einer der wissenschaftlichen Vereine der Akademie der Wissenschaften gegründet. Die Zugehörigkeit zur Akademie der Wissenschaften hängt dabei einerseits mit dem damaligen ungarischen Vereinsrecht zusammen, nach dem die Vereine von einer etablierten Institution Aber längerfristig gesehen, ist es auch im Interesse der Politiker und der politischen Institutionen". In: György Szoboszlai (Hg.), Anarchizmus es rendezöelvek. Magyar Politikatudomanyi Tarsasag Evkönyve. Budapest 1986, S.273. 433

Z.B hat Imre Pozsgay auch einen Beitrag im ersten repräsentativen Sammelband Ober Politikwissenschaft publiziert und sich in seiner Laufbahn mehrfach für die Politikwissenschaft eingesetzt. Imre Pzsgay, Gondolatok a part szereperöl politikai rendszerünkben. In: Polgar Tibor, a.a.O. (FN 16), S.188-198.

434

Besonders bei der Ausarbeitung von wichtigen politischen Flug- und Denkschriften: Fordulates Reform. In: Medvetanc 1987/2. Sonderheft.

Politikwissenschaft in Ungarn

323

kontrolliert werden mußten; zugleich aber entspricht es auch der Satzung der Akademie der Wissenschaften, nach der den wissenschaftlichen Vereinen finanzielle und ideelle Hilfe gewährt werden sollte. Die Möglichkeiten eines organisierten Vereinslebens spielten dabei besonders in jener Zeit eine Rolle, in der es fast noch keine Lehr- und Forschungsinstitutionen für Politikwissenschaftler gab; in dieser Situation konnten die Vertreter der "imaginären Politikwissenschaft" in einem solchen Verein schnell und unbürokratisch kommunizieren und kooperieren. Die Mitgliedschaft des Vereins stieg deshalb in dieser Periode sehr rasch auf die für ungarische Verhältnisse überraschend hohe Zahl vom ungefähr 550 Mitgliedern. Die Bedeutung des Vereins bestand daher in erster Linie in seiner Rolle als ein Diskussionsforum, wo Rundgespräche, Diskussionen, Vorträge, Konferenzen u.ä. stattfinden können. Die Sektionen und Arbeitsgruppen des Vereins gliedern sich hierfür in Sektionen für

"Politische

"Politische

Theorie

Soziologie",

und

Ideengeschichte",

"Politische

Institutionen",

"Internationale

Politik",

"Wirtschaftspolitik"

und

"Massenkommunikation". Seit 1983 wurden die Diskussionen dann in Jahrbüchern des Vereins dokumentiert und publiziert, die in Ermangelung einer spezifischen politikwissenschaftlichen Zeitschrift als das einzige Publikationsforum der ungarischen Politikwissenschaft angesehen werden können. 435 Rekrutierung und Funktion dieses Vereins folgen dennoch nicht dem gängigen

Muster

eines

x-beliebigen

anderen

Vereins

im

Konzert

einer

"normalen", etablierten Wissenschaft. Denn ohne die Existenz von Diplomstudiengängen und ohne traditierte Kriterien wissenschaftlicher Qualifikation kann eine hinreichende Selektion der Mitgliedschaft nicht erfolgen, und es strömen mehrere Hunderte von Mitgliedern in den sich wissenschaftlich verstehenden Verein, die eigentlich nur die Möglichkeit relativ freier Diskussionen über politische Fragen suchen. So war denn der Verein anfänglich vor allem deshalb so interessant für ein breiteres Publikum, weil nur sehr wenige andere Foren für offene und politische Diskussionen zur Verfügung standen. Der Nischencharakter, der dem Verein insoweit zukam, verdankte sich dabei vor allem dem Umstand, daß sein erster Präsident der ehemalige Außenminister war und daß auch sein erster Beirat mit anderen der offiziellen Politik nahestehenden Persönlichkeiten besetzt wurde. Diese schufen einen politischen "Schutzschirm" für freie Diskussionen, und unter ihrer "Schirmherrschaft" konnte die Diskussion eigentlich tabuisierter Themen erfolgen. Der skizzierte Charakter des Vereins führte also dazu, daß damals viele Menschen Mitglieder wurden, die keine eigenständigen wissenschaftlichen 435

A Magyar Politikatudomanyi Tarsasag Evkönyve = Jahrbuch vom Ungarischen Verein für Politikwissenschaft, herausgegeben von György Szoboszlai, dem Sekretär des Vereins.

324

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Interessen verfolgten. Unter Hunderten von Mitgliedern waren nur einige Dutzend Persönlichkeiten imstande, politikwissenschaftliche Forschungsarbeiten nachzuweisen. Diese "Creme" der Mitgliedschaft kristallisierte sich aber langsam um den Beirat und die Führungsgremien des Vereins heraus und löste durch schrittweise Neuwahlen die Politiker der Gründerzeit ab. Das Verhältnis von - nach Orwells Unterscheidung - "innerem" und "äußerem" Verein führte dazu, daß der innere Kreis praktisch an den Diskussionen teilnahm, während der äußere Kreis aus leider meist nur stummen Zuhörern bestand. Eine wirkliche "Verwissenschaftlichung" des Vereins wäre denn auch nur durch die Professionalisierung der Politikwissenschaft in Ungarn zu erreichen. Der Verein hat aber die Funktion erfüllt, die in verschiedene Fächer zerstreuten Vertreter der "imaginären Politikwissenschaft" zusammenzubringen, und er hat sich als Kommunikations- und Publikationsforum etabliert. Diese Leistungen sind umso bedeutender, wenn man berücksichtigt, daß es in vielen anderen der damaligen sozialistischen Länder (DDR, Tschechoslowakei, Rumänien) auch noch nach dem Moskauer IPSA-Weltkongreß nur "Tarnvereine" oder "Pseudo-Vereine" gab, die die Teilnahme von Politikern und Sozialwissenschaftlern bei ausländischen Veranstaltungen der IPSA sicherten, die aber kein wirkliches Vereinsleben im Lande selbst organisierten. Die Möglichkeiten des Ungarischen Vereins für Politikwissenschaft waren ohne die Etablierung einer eigenständigen Forschung und Lehre zwar nur begrenzt; aber innerhalb dieser Grenzen schöpfte er seine Möglichkeien weitgehend aus.

b) Die wissenschaftliche Qualifikation der einzelnen Fachvertreter Die Ungarische Akademie der Wissenschaften ermöglichte seit Ende der siebziger Jahre die Erlangung einer wissenschaftlichen Qualifikation auch in den "Politischen Wissenschaften" 4 3 6 . Bis heute gibt es daher zwei akademische Großdoktoren (das entspricht der deutschen Professorenwürde) und mehrere Dutzend habilitierter Privatdozenten ("kandidatus"). Durch Stipendienvergabe der Akademie ist darüber hinaus auch die Promotionsmöglichkeit eröffnet worden. Diese akademischen Qualifikationen bedeuten in Ungarn nicht, daß ihre Inhaber einen Anspruch auf eine entsprechende Stelle an einer Hochschule hätten. Statt dessen erhalten sie aber von der Akademie - mit Ausnahme der Promovierten - ein Monatsgehalt ohne Rücksicht auf ihr sonstiges Einkommen. Das entspricht beim Großdoktor fast der Höhe eines wirk436

Mihaly Bihari, a.a.O. (FN 15).

Politikwissenschaft in Ungarn

325

liehen Gehalts, während es beim Habilitierten aus einer eher symbolischen Summe besteht. Der gegenwärtige Status der politikwissenschaftlichen Qualifikation läßt nun erkennen, daß ihre Institutionalisierung noch relativ jungen Datums und im Reigen der anderen "unterprivilegiert" ist. Verglichen etwa mit der Soziologie gibt es unter den Politikwissenschaftlern noch keine Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, und die Zahl der Professoren und Dozenten ist auch viel niedriger. Dabei ergibt sich die wirkliche Zahl der Qualifizierten ohnehin erst nach Abzug der als "Politologen" anerkannten Kader aus dem Bereich des "Wissenschaftlichen Sozialismus" und aus der Politik. Darüber hinaus fällt natürlich auch ins Gewicht, daß die Mehrheit der Wissenschaftler der "Gründergeneration" ihre Qualifikation noch in anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen als der Politikwissenschaft erhalten hatte. Als einen weiteren von der Qualifizierung unabhängigen Beitrag der Akademie der Wissenschaften zur Entwicklung und Institutionalisierung der Politikwissenschaft könnte man schließlich die Existenz des "Ständigen Ausschusses für Politikwissenschaft" erwähnen, dem führende Vertreter der Politikwissenschaft und der Nachbardisziplinen angehören, und dessen Aufgabe in der beschleunigten Etablierung der Politikwissenschaft in Ungarn liegt.437 Dieses Gremium hat aber bis zu seiner Reorganisierung im Herbst 1990 nur eher locker funktioniert, während Initiativen zur Entwicklung des Faches von anderer Seite kamen.

c) Initiativen in der Forschung Der neuernannte "Ausschuß für Wissenschaftspolitik" beschäftigte sich am 3.6.1982 mit der Politikwissenschaft in Ungarn und stellte im Rückblick auf den Zeitraum seit 1978 enttäuscht fest, daß "die Rolle der Politikwissenschaft im Wissenschaftssystem noch unklar (sei) und die Forschungen ohne Organisation und Koordination".438 Natürlich gab es auch Forschungsstellen, in denen Vertreter der "imaginären Politikwissenschaft" als Mitglieder anderer Disziplinen arbeiteten, aber doch war es nicht gelungen ein eigenständiges Forschungsinstitut für Politikwissenschaft zu etablieren. Unter den für die Politikwissenschaften wichtigen Instituten ist als erstes das "Institut für Sozialwissenschaften des Zentralkomitees der Ungarischen 437

Mihaly Bihari, ebda.

438

Mihaly Bihari, ebda., S.222.

326

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Sozialistischen Arbeiterpartei" (MSZMP KB Tarsadalomtudomanyi Intezete) zu erwähnen. Dieses Institut war Ende der sechziger Jahre, im Sog der ungarischen Wirtschaftsreformen, gegründet worden und beherbergte unter seinem Dach auch mehrere Wissenschaftler, die ihre Forschungen auf dem Gebiet der Politikwissenschaft betrieben. Das Institut sicherte ihnen eine gewisse "Geborgenheit" insofern, als es seinen Mitarbeitern erlaubt war, die aus der Öffentlichkeit verbannten Themen zu erforschen; zum Teil allerdings ohne daß ihnen erlaubt gewesen wäre ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Hier wurden Forschungsprojekte durchgeführt, die sich mit der Funktion und der Erneuerung politischer Institutionen, der politischen Sozialisation von Jugendlichen, der Krise der offiziellen Jugendbewegung und ihrer Politik, den Problemen der Gemeinden und der lokalen Selbstverwaltung, der Geschichte und Relevanz der Sozialdemokratie u.v.a.m. beschäftigten. Durch die Liberalisierungsprozesse der späten Kädär-Ära Ende der achtziger Jahre wurden dann die das Institut von der Öffentlichkeit isolierenden Grenzen durchlässiger, und die Forschungsergebnisse konnten schließlich sogar publiziert werden, z.B. in der Zeitschrift des Institutes "Berichte aus den Sozialwissenschaften" (Tarsadalomtudomanyi Közlemeenyek). Auf dem Gebiet der Internationalen Politik übernahmen das "Institut für Außenpolitik des Ministeriums für Äußeres" (Magyar Külügyi Intezet) und das "Institut für Weltwirtschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften" (MTA Vilaggazdasagi Kutatointezete) eine aktive Rolle in der Forschung und die Zeitschrift des "Instituts für Außenpolitik" ("Külpolitika") diente in diesem Bereich als wichtiges Veröffentlichungsmedium. Darüber hinaus gründete sich aber auch eine "Koordinationsstelle für Friedensforschung" der Akademie der Wissenschaften (MTA Intezetközi Bekekutato Központ). Auf

dem

Gebiet

der

politischen

Soziologie

übernahm

die

"Forschungsgruppe Politische Soziologie" im "Institut für Soziologie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften" eine zentrale Initiative. Sie wurde von Mihaly Bihari geführt, der auch als Vizepräsident der Sektion "Politische Soziologie" des Vereins eine zentrale Rolle bei der Etablierung der Politikwissenschaft innehatte. Außer den genannten Instituten waren natürlich noch mehrere einzelne Lehrstühle an den Budapester Hochschulen für die Entwicklung der Politikwissenschaft von Bedeutung, die sich vorwiegend aus außeruniversitären Ressourcen finanzierten. Für individuelle Forschungsprogramme war die Stipendienvergabe der Akademie der Wissenschaften und die mit Hilfe eines aus Ungarn stammenden Finanziers, George Soras, etablierte MTA-SorosStiftung wichtig.

Politikwissenschaft in Ungarn

327

Zusammenfassend läßt sich dem Resümee des wissenschaftspolitischen Ausschusses von 1982 zustimmen: es gab zu jener Zeit tatsächlich keine Koordinationsstelle für politikwissenschaftliche Forschung in Ungarn. Dieser Tatbestand könnte in einem westlichen Land als normal gelten; nach den damals gültigen Kriterien einer zentralistischen Wissenschaftsorganisierung rächt er sich allerdings dadurch, daß eine Finanzierung ohne die Unterstützung einer oder mehrerer "mächtiger" zentraler Organisationen ausbleibt oder weit hinter Bedürfnissen und Wünschen zurückbleibt; und die mangelnde Finanzierung hat das Ausbleiben des wissenschaftlichen Nachwuches zur unmittelbaren Folge. Schließlich bleibt noch das fast vollständige Fehlen jeglicher Forschungsaktivitäten außerhalb der Hauptstadt Budapest zu erklären. Obwohl mehrere Hochschulen und Institute außerhalb Budapests in Städten wie Szeged, Debrecen, Pees, Szombathely usw. existierten, blieb die Politikwissenschaft auf Budapest konzentriert, da in der Hauptstadt unter dem alten Regime eine lokkerere administrativ-politische Kontrolle herrschte und auch die internationalen Kontakte sich leichter knüpfen ließen. Dieser Unterschied, der durch strukturelle Mobilitätsprobleme verstärkt wird, wirkt bis heute weiter. Die in der Provinz lehrenden Kollegen wurden z.T. von den eigenen Institutsleitungen daran gehindert, sich in die Aktivitäten der neuen Wissenschaft einzuschalten. Ein ideologisch bestimmter Strukturkonservatismus war an den Provinzuniversitäten wesentlich stärker als in Budapest, wo die Existenz der Reformkommunisten und die internationalen Beziehungen eine größere Wirkung hatten.

d) Initiativen in der Lehre In dem behandelten Zeitraum blieb die Vorherrschaft des wissenschaftlichen Sozialismus über den Lehrbetrieb ungebrochen. Zwar wurde innerhalb des Ministeriums für Bildung Anfang der achtziger Jahre ein Ausschuß für die Einführung der Politikwissenschaft in der Lehre gebildet, doch blieb er ohne Einfluß. Die einzige Innovation bestand in der Gründung einer Gruppe für Politikwissenschaft an der Fakultät für Staats- und Rechtswissenschaften an der Universität Eötvös Lorand in Budapest. Zum Hintergrund dieser wichtigen Innovation gehört das bereits erwähnte Verhältnis von Reformpolitik und politischer Wissenschaft. Imre Pozsgay, der bekannte Reformpolitiker, hatte in den siebziger Jahren den Posten des Kultusministers inne; einer seiner führenden Mitarbeiter war Mihaly Bihari, der an

328

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

der ELTE bereits vergeblich um die Einführung einer politikwissenschaftlichen Lehre gekämpft hatte. Pozsgay machte Bihari zum Beauftragten des Ministeriums für die Kontrolle des Hochschulwesens. Und obwohl Pozsgay selbst das Ministerium wieder aufgeben mußte, konnte sich Bihari halten und erhielt sogar Unterstützung für die Errichtung einer ersten Hochschule für Politikwissenschaft. Die Lage dieser neuen Einheit war in ihrer ersten Phase naturgemäß prekär; vor allem von anderen Instituten wurde sie - auch wegen der ministeriellen Unterstützung - beargwöhnt. Auch wollte die Abteilung für MarxismusLeninismus, die im Ministerium die Aufsicht übernommen hatte, keinen Präzedenzfall für die Auflösung des "Wissenschaftlichen Sozialismus" an den Hochschulen schaffen, weshalb die Politikwissenschaft kein integraler Bestandteil der Curricula werden durfte und nur freie Seminare anbieten konnte. Auch hier war die Politikwissenschaft daher eher auf die Forschung konzentriert. Ihr gegenüber stand eine Phalanx von Gegenkräften wie z.B. der Fakultät, die kein neues sozialwissenschaftliches Fach für die Juristen etablieren wollte, der Parteihochschule mit ihrem Monopolanspruch auf die Lehre in der Politikwissenschaft; und sie rang mit dem politischen Verdacht der Parteikonservativen gegenüber dem Leiter der Gruppe, Mihaly Bihari, der später schließlich wegen seines Reformengagements von der USAP ausgeschlossen wurde. So wurde die neue Gruppe vom Ministerium weiterhin nur als ein "Experiment" und nicht als ein "Modell" angesehen, wie die Mitglieder zunächst gehofft hatten. Solche Unwägbarkeiten sind charakteristisch für die ausgehende KádárÄra. 439 Zwar war es klar, daß grundlegende Veränderungen vonnöten waren, doch ihr Umfang und ihr Erfolg waren wegen des Widerstandpotentials der konservativen Kräfte unkalkulierbar. Das System experimentierte mit seiner eigenen Erneuerung, aber die Experimente waren als solche isoliert. So erzielte diese "Reformperiode" bis 1988 keinen Durchbruch; sie führte aber zu einer "Krise des Krisenmanagements". Eine wirkliche und damals sehr mächtige Konkurrenz der politikwissenschaftlichen Experimente kam dabei von der "Hochschule für Politik der USAP" (MSZMP Politikai Föiskola). Sie glich (mit Kádár-typischen Liberalisierungen) den aus anderen Ländern bekannten Kader-Schulen der sozialistischen Parteien. Doch war die traditionelle, nach sowjetischem Vorbild organisierte Kader-Bildung in Ungarn modernisiert und durch Soziologie, Management, Psychologie u.a.m. erweitert worden. Dabei rekrutierte sich der Lehrkörper 439

Hubertus Knabe, Der Kádárismus und seine Auswirkungen auf das politisch-soziale System in Ungarn. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 1989/ 23-24.

Politikwissenschaft

in Ungarn

329

zwar mehrheitlich aus der alten Garde; doch wurde er in den neuen Fächern durch jüngere Technokraten oder Gastprofessoren von den "normalen" Hochschulen ergänzt. Der Gedanke, die Hochschule für Politik als Zentrum der Lehre der Politikwissenschaft in Ungarn zu etablieren, wurde durch die Modernisierer der Hochschule vorgeschlagen. Sie erreichten in der achtziger Jahren, daß ihre Institutszeitschrift den Namen "Politik-Wissenschaft" (Politika-Tudomany) erhielt und versuchten, sie als die zentrale Zeitschrift der ungarischen Politikwissenschaft zu etablieren. Die Mehrheit der Beiträge kam aber von den Mitarbeitern der Hochschule, und nur wenige der ungarischen Politologen konnten und wollten dort publizieren.440 Ein neuer, ambitionöser Rektor der Hochschule, der Soziologe Jenö Andics, erreichte Ende der achtziger Jahre, daß der Abschluß der Hochschule als "Diplom-Politologe" anerkannt wurde. Dementsprechend wurden neue Lehrstühle (z.B. Politische Theorie) etabliert, und es wurden Pläne für die Umgestaltung der gesamten Kader-Ausbildung entworfen, doch versandete das Projekt in dem Moment, als Jenö Andics sein Amt aufgab. Bis 1989, also dem Beginn der Systemtransformation hatten sich diese zwei Zentren als mögliche Ausgangspunkte einer politikwissenschaftlichen Lehre etabliert. Nach den Kriterien von Macht und Geld verhielt es sich bei ihnen wie bei David und Goliath; und auch hier endete der Systemwandel mit dem Triumph des schwächeren Kontrahenten. Im Systemwandel hat sich die ELTE-Gruppe bewährt, da sie sich im Hochschulmilieu durch ihre eigenen wissenschaftlichen Leistungen behaupten konnte, während die Reformer der Parteihochschule der Vergangenheit ihrer Institution zum Opfer gefallen sind. Es soll aber auch nicht der Eindruck erweckt werden, als habe es ich hier nur um einen institutionell initiierten, "von oben" betriebenen Prozeß der ELTE gehandelt. Der Innovationsschub war ebenso auch "von unten", von den Studierenden, spürbar. Die Studentenschaft äußerte in ihren Selbstverwaltungsorganen

(Studentenparlamente,

Kommunistischer

Jugendverband

u.a.)

mehrmals und mit Nachdruck ihren Wunsch nach Ablösung des wissenschaftlichen Sozialismus durch die Politikwissenschaft.441

Es gab Kritik des

"Wissenschaftlichen Sozialismus" und selbstorganisierte Kurse in Politikwissenschaft.

440

Ihr Erscheinen wurde bei der späteren Auflösung der Hochschule eingestellt.

441

Mihaly Bihari, a.a.O. (FN 15).

330

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Die Möglichkeiten einer selbstorganisierten Lehre waren damals eher begrenzt, doch wurden sie weitgehend ausgeschöpft. Die Klubs 442 ,

die

"Wissenschaftlichen Studentenzirkel" (Tudomanyos Diakkör) der Universität, die selbstverwalteten, sogenannten "Fachkollegien" (szakkollegium) waren Orte, wo Alternatiweranstaltungen organisiert wurden. Die "Fachkollegien" gründeten darüber hinaus eine hochqualifizierte sozialwissenschaftliche Zeitschrift ("Jahrhundertwende'-Szazadveg), in der auch kritische Beiträge aus der Politikwissenschaft publiziert wurden. Die Veranstaltungen der oben genannten Instanzen waren von der Studentenschaft gerne besucht, aber sie wurden natürlich nicht als offizielle Seminare anerkannt. Und auch die Foren für politische Bildung der offiziellen Jugendbewegung wurden von der Politikwissenschaft durchdrungen, wobei besonders

die

Bildungsinstitute

des

kommunistischen

Jugendverbands

(Kommunista Ifjusagi Szövetseg) für kritische Ideen anfällig waren. Die Organisationen im Hochschulbereich und in Budapest stellten ihre Räumlichkeiten und Ressourcen für "alternative politische Bildung".443 Es gab sogar vereinzelt Publikationsmöglichkeiten für politikwissenschaftliche Beiträge in der "Zeitschrift für Jugendfragen" (Ifjusagi Szemle), dem Organ der offiziellen Jugendbewegung. In der Krise des Kädär-Regimes entstand so eine Art "halboffizieller" Öffentlichkeit im Umfeld der Universitäten, in der die aus der institutionalisierten Lehre und der offiziellen Öffentlichkeit verdrängten Themen diskutiert wurden. 444 Die Veranstaltungen entwickelten sich nachträglich ähnlich der die französische Revolution vorbereitenden Salon-Kultur und Freimaurerei, nämlich als ideelle "Vorbildung", als politische Bildung für eine spätere politische Aktivität, wie dies das schnelle Wachsen der Studenten- und Jugend-Partei, der "Allianz der Freien Demokraten" (Fiatal Demokratak Szövetsege, FIDESZ) im weiteren Verlauf des Systemwandels zeigte. 445 Die von Attila Agh in der Einleitung betonte kritische und politische Rolle der Politikwissenschaft ist also zum Teil vor dem Hintergrund dieser ihrer Funktion als Gegenmodell zum "Wissenschaftlichen Sozialismus" zu verstehen. Sie erhielt als eine "verbotene" und zumindestens aus den Universitäten 442

443

Bertalan Diczhazi, Vazlat a tarsadalompolitikai körökröl, klubokrol. In: Ifjusagi Szemle 1988/1. Mät6 Szabö, Political Education in Hungary. In: Südosteuropa 1989/7-8.

444

Mät6 Szabö, Neue Faktoren in der politischen Sozialisation der Jugend in Ungarn. In, Bernhard Claußen (Hg.), Politische Sozialisation. Jugendlicher in Ost und West. Bonn. S. 189-198.

445

Mäte Szabö, Neue soziale Bewegungen in Ungarn. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 1990/2.

Politikwissenschaft in Ungarn

331

ausgegrenzte kritische Disziplin für eine ganze politische Generation den Geschmack einer "verbotenen Frucht"; und diese politische Generation stand im Zuge der Systemtransformation gerade im Begriff in die Politik einzutreten. Aus dieser durch die universitäre Öffentlichkeit geprägten Gruppe von Jugendlichen rekrutiert sich daher bis zum heutigen Tag der wissenschaftliche Nachwuchs der Politikwissenschaft.

e) Die Rolle der Politikwissenschaft in der öffentlichen Meinung und im politischen Diskurs Während in neuen, kritischen Foren bereits lebhafte Debatten geführt wurden, herrschten in der offiziell verwalteten Öffentlichkeit noch bis 1988 die alten Tabus, die Redeverbote und die Zensurmaßnahmen vor. In diesen kritischen Diskussionen, die parallel in den Massenmedien, der Presse, auf Versammlungen und in politischen Organisationen geführt wurden, trat die Politikwissenschaft als eine neue und kritische Sozialwissenschaft auf. In die Kritik der alten Strukturen und der Entwicklung alternativer Modelle fand die Politikwissenschaft in Ungarn zu ihrer eigenen Stimme. Von einer eher unverfänglich historisierenden Sichtweise schritt sie zu einer kritischen Gegenwartsanalyse fort. Eine Veränderung, die sich z.B. anhand der Titel zweier Jahrbücher des Politologenvereins aufzeigen läßt: von "Politik und Gesellschaft" (1983) führt die Entwicklung zu "Veränderung und Alternativen" (1988) 4 4 6 . Die relative Flexibilität des Kädär-Systems kam dabei der Ausprägung eines kritischen Potentials der Politikwissenschaft sehr entgegen, weshalb sich die Reformdiskussionen in Ungarn wesentlich von denen in der DDR, der Tschechoslowakei und Rumänien unterscheiden, wo der Systemwandel von außen initiiert, unter größerem Zeitdruck und unter ungünstigeren Rahmenbedingungen verlief. Insofern erwies sich die verzögerte Institutionalisierung der Politikwissenschaft in Ungarn als fruchtbar; denn eine frühere und damit "offiziellere" Politikwissenschaft wäre aller Wahrscheinlichkeit nach vom System korrumpiert und dem Reformlager entfremdet worden. Die ambivalente Lage der Politikwissenschaft in die Kädär-Ära hatte mithin Vor- und Nachteile; denn einerseits wurden ihr von Seiten der Politik institutionelle Entwicklungsschranken gesetzt, andererseits aber konnte sie sich ihren kritischen Geist 446 György Szoboszlai (Hg.), Politika es tarsadalom. Magyar Politikatudomanyi Tarsasag Evkönyve. Budapest 1983; György Szoboszlai (Hg.), Valtozas es alternativak. Magyar Politikatudomanyi Tarsasag Evkönyve, Budapest 1988.

332

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

bewahren und ein eigenständiges, vom System unabhängiges, Profil entwikkeln.447 Zugleich erweiterten sich im Verlauf der Reformdebatten auch die theoretischen Grundlagen der Politikwissenschaft. Von reformsozialistischen Positionen ausgehend öffneten sich viele Politologen liberalen Werten und der Rezeption empirisch-analytischer Modelle westlichen Ursprungs; stetig nahmen immer mehr Politikwissenschaftler von den bislang verbindlichen "heiligen Kühen" Abschied.448 Aber die Bedeutung der praktischen Politik für die Politikwissenschaft machte diese doch nicht, wie man hätte befürchten können, zum Produzenten eines neuen exklusiven Herrschaftswissens; vielmehr stärkte das Engagement der Reformer ihren kritischen Charakter und verhalf der ungarischen Politikwissenschaft zu einer neuen Mündigkeit. Die Tatsache, daß die Öffentlichkeit in der Politikwissenschaft die Vordenker der neuen Epoche zu erkennen glaubte449 und daß Politologie auf diese Weise zu einem "Modeberuf" avancierte, hat natürlich auch dazu geführt, daß manche(r) in sich den "schlummernden Politologen" erkannte oder an dem neuen Boom teilhaben wollte. Dies fiel umso leichter, als ja ein eindeutiges Qualifikationsprofil auch bei den seriösen Vertretern des Faches nicht zu erkennen war. So kam es immer wieder auch zu einem selbsternannten, eher fragwürdigen Expertentum, das den Ruf der Politikwissenschaft in Frage zu stellen drohte. Alles in allem hat das ganze Fach davon profitiert, daß der Systemwandel einen sehr starken Bedarf an politisch "neuartig" gebildeten Intellektuellen gebracht hatte, und daß dieser Bedarf zum Teil auch von der Politikwissenschaft gedeckt werden konnte. So waren z.B. auch die traditionell geschulten Journalisten nicht imstande, das neu entstehende Institutionensystem einzuordnen und befragten deshalb politikwissenschaftlichen Sachverstand. Ebenso förderte der gestiegene Informationsbedarf des Westens die Möglichkeiten einer internationalen Kontaktaufnahme. Viele Einladungen und Stipendien 447

Insbesondere die folgenden Monografien sind zu erwähnen: Istvan Schlett, Az opportunizmus dieserete. Budapest 1990. Elemer Hankiss, Kelet-europai alternativak. Budapest 1989. Attila Agh, A szazadveg gyermekei. Budapest 1990. Laszlo Lengyel, Vegkifejlet. Budapest 1989. Mihaly Bihari, Politikai rendszer es szocialista demokracia, Budapest 1990. Mihaly Bihari, Demokratikus at a szabadsaghoz, Budapest 1990; Csaba Gombar, Boritekolt politika. Budapest 1990.

448

Hier sind die Namen Andras Bozoki, Andras Körösenyi, Laszlo Urban, Bela Pokol, Peter Paczolay, Gabor Haimai zu nennen.

449

War noch in den 80er Jahren der Sammelband zur westlichen Pluralismustheorie von Joszef Bayer und Peter Hardi (Pluralizmus, Budapest 1985) schärfster Zensur ausgesetzt gewesen, so verstand sich Ungarn wenig später selbst als pluralistisches Gemeinwesen. Vgl. Mät6 Szabö, Die Entwicklung Ungarns unter Kädär (1988-1989). In: Gegenwartskunde 1989/4.

Politikwissenschaff in Ungarn

333

aus dem Westen, aber auch zahlreiche fachwissenschaftliche Besucher in Ungarn erweiterten die bislang begrenzten Möglichkeiten für Forschung und wissenschaftlichen Austausch. Aufgrund der genannten Umstände ist die ungarische Politikwissenschaft in den Jahren seit 1987/1988 zu einem immer begehrteren und zu einem sehr anerkannten und publikumswirksamen Fach geworden, - ohne daß es allerdings über eigene wissenschaftliche Institutionen für die Forschung oder in der Lehre verfügte. 450 Ein Gegensatz, der bis zum heutigen Tage nicht aufgelöst werden konnte.

3. Entwicklungsperspektiven durch den Systemwandel 1988ff Bislang haben wir dargestellt, vor welche intellektuellen und politischen Herausforderungen die Politikwissenschaft im Zuge der Systemtransformation gestellt wurde und in welcher Weise sie darauf reagierte. Zwar wurde die wissenschaftliche Institutionalisierung unter den neuen politischen Rahmenbedingungen erheblich erleichtert, doch gab es hier keine automatische Lösung aller Schwierigkeiten. Neuentstehende Institute können so einerseits zu einer Ausbildung des fachwissenschaftlichen Nachwuchses ebenso beitragen, wie andererseits die gesellschaftliche Nachfrage nach politikwissenschaftlicher Forschung und Lehre zu einer hinreichenden Arbeitsperspektive für die ausgebildeten Wissenschaftler führt. Von Arbeitsmarktproblemen anderer Länder sind die ungarischen Politikwissenschaftler weit entfernt. Gleichzeitig führten die gewandelten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu merkwürdigen Entwicklungseffekten.

a) Der ungarische "Verein für Politikwissenschaft" So nahm beispielsweise die Mitgliedschaft des ungarischen "Vereins für Politikwissenschaft" rasch ab. Diejenigen, die von dem Verein wegen der Offenheit seines wissenschaftlich-politischen Diskurses angezogen worden waren, wandten sich im Laufe der Demokratisierung auch einer großen Zahl anderer, neuentstandener Foren zu. Andererseits verloren diejenigen Mitglieder, die während der Ära Kädär privilegierte politische Ämter ausgefüllt hatten, ihre 450

Mät6 Szabö, Ungarns Wissenschafts- und Hochschulwesen im Prozeß der Demokratisierung. In: IGW-Report 1990/3.

334

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Positionen und verspürten in der Folge auch kein Interesse mehr an einem weiteren Vereinsleben. Insgesamt jedenfalls veringerte sich die Zahl der Mitglieder bis zum Dezember 1990 von 550 auf 380. Obgleich die verringerte Mitgliedschaft auch einer gesteigerten Professionalisierung der verbliebenen Mitglieder entgegenkam, und obwohl die Qualität der Debatten durch diese Entwicklung eher stieg als abnahm, blieb doch die Zahl der Besucher in der Veranstaltungen und der "media coverage" weit unter dem gewohnten Maß. Die vielen neuen politischen oder halb-politischen Clubs, Vereine und Organisationen, die in Ungarn (und vor allem in Budapest) entstanden, überforderten ganz einfach das Interesse und den Bedarf des Publikums. Diese Entwicklung führte schließlich neben der Arbeit der Sektionen "Internationale Politik" und "Politische Theorie und Ideengeschichte" zur Einstellung der Sektionen für "Wirtschaftspolitik" und für "Medien" sowie zur Zusammenfassung der Sektionen für "Politische Institutionen" und für "Politische Soziologie". Positiv zu verbuchen bleibt ein geringfügiger Mitgliederzuwachs, der Austritt auch der letzten Politiker alten Stils aus dem Verein sowie eine wesentlich gesteigerte Qualität der der vom Verein herausgegebenen Jahrbücher sowie der angeknüpften internationalen Kontakte.451 Der Verein scheint sich insgesamt also zu einer den westlichen Vereinigungen vergleichbaren Wissenschaftsorganisation zu entwickeln.

b) Wissenschaftliche Qualifikation Während der hektischen Zeiten des Systemwandels wurden relativ wenig neue Qualifikationen erteilt. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, wie viel Energie und Ideen das neugestaltete politische Leben und die Medien von den politischen Wissenschaften abgezogen haben. Andererseits fiel es denjenigen, die in der Wissenschaft geblieben waren, bisweilen schwer, den grundsätzlichen Wandel innerhalb der politischen Rahmenbedingungen zu reflektieren. Längeren und ausgereiften Analysen sind solche Epochen weniger gewogen; ihre Zeit folgt den bewegteren Perioden meistens erst mit einiger Distanz.

451

So gibt es beispielsweise eine bilaterale Zusammenarbeit zwischen der "American Political Science Association" und dem Ungarischen "Verein für Politikwissenschaft" mit festen jährlichen Austauschquoten.

Politikwissenschaft

in Ungarn

335

Es gibt aber noch eine andere Ursache für die Stagnation des wissenschaftlichen Nachwuchses. Schon lange wird nämlich über die Veränderung des Qualifikationssystems in der Akademie der Wissenschaften diskutiert 452 . Der Systemwandel hat die Position der Reformer sehr gestärkt, sodaß es wahrscheinlich erscheint, daß die Habilitationen wieder zu einer Aufgabe der Universitäten und die Bedingungen für akademische Großdoktoren modifiziert werden. Viele werden daher abwarten wollen, bis der neugebildete "Ständige Ausschuß" der Akademie über die Erneuerung des Qualifikationsystems entschieden hat und erst danach ihre Arbeiten einreichen.453

c) Initiativen in der Forschung Die Lage der Forschung ist zum Teil ebenfalls mit der Arbeit des genannten Ausschusses verbunden. Die Forschungsgelder des "Nationalen Wissenschaftlichen Forschungsfonds" (Orszagos Tudomanyos Kutatasi Alap) werden nämlich aufgrund des Vorschlag dieses Gremiums verteilt. Die Größe der für die Politikwissenschaft erreichbaren Summe beträgt allerdings wegen der miserablen finanziellen Lage Ungarns nur ungefähr 15-17 Millionen Forint für fünf Jahre, - eine Summe die wiederum unter ca. einem Dutzend Anträgen verteilt werden soll. Größere Chancen für die politikwissenschaftliche Forschung ergeben sich aus der Übernahme des "Instituts für Sozialwissenschaften des ZK der USAP" durch die Akademie der Wissenschaften. Die USAP mußte ihr Vermögen aufgrund der Chancengleichheit im Mehrparteiensystem vermindern und konnte daher ihr Forschungsinstitut nicht länger beibehalten. Das Institut mußte im Zuge dieser Umstrukturierung zwar einen Teil seines Budgets, seiner Arbeitsplätze und seiner Räumlichkeiten abgeben, doch konnte dieser schmerzliche Prozeß mit Hilfe eines Selbstverwaltungssystem bewältigt werden. Trotz der Reduzierung der Ressourcen ist das Institut aber wegen seines vorange452 Forum az Akademiarol. In: Magyar Tudomany 1989, Sonderheft. 453

Der ständige Ausschuß für Politische Wissenschaft der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ist im Herbst 1990 erneuert worden. Der Vorsitzende ist nun Attila Agh, Professor für Politikwissenschaft an der Budapester Universität für Ökonomie (Budapesti Közgazdasagi Egyetem, früher hieß sie Karl-Marx-Universität); sein Vertreter Mihaly Bihari, Professor für Politische Wissenschaft an der Fakultät für Staats- und Rechtswissenschaften der Budapester ELTE. Mit ihnen sind zwei politisch engagierte, aber zugleich wissenschaftlich qualifizierte Persönlichkeiten an die Spitze dieses wichtigen Gremiums gekommen, das jetzt seine Aufgabe wahrnehmen und den Institutionalisierungsprozeß der Politikwissenschaft vorantreiben will. Der Ausschuß hat die Aufsicht über die entsprechenden akademischen Forschungsinstitute und Forschungsgelder und wird im neuen Qualifikationssystem auch über die bei der Akademie verbleibenden Qualifikationen entscheiden.

336

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

henden Parteienstatus mit einer wesentlich besseren Infrastruktur als die anderen Akademie-Institute versehen. Dies gilt selbst dann, wenn nach der Übernahme der Räumlichkeiten dies noch mit dem Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften geteilt werden mußte und auch andere Institutionen mit sozialwissenschaftlichem Profil in den räumlichen Verbund aufgenommen

wurden

(Erasmus-Foundation,

Friedrich-Ebert-Stiftung,

Gallup-

Institut). Die Zeitschrift des Instituts wurde vorläufig eingestellt, wird nun aber in Kooperation zwischen Akademie und Verein erneut wieder als "Zeitschrift für Politikwissenschaft" ("Politikatudomani") herausgegeben. Der neue Name des Instituts ist "Institut für Politische Wissenschaften der Akademie der Wissenschaften" (MTA Politikai Tudomanyo k Intezete). Es muß seine Tätigkeit parteineutral ausüben. Für die Position des Direktors wird durch die Akademie eine Bewerbung ausgeschrieben. Mit der Übernahme des Instituts durch die Akademie der Wissenschaften wurde das erste eigenständige Forschungsinstitut für Politikwissenschaft in Ungarn etabliert. Den positiven Tendenzen der Erneuerung wirkt aber leider allgemein die miserable Finanzsituation entgegen, die die Regierung trotz besten Willens nicht zu verbessern vermag. 454

Das hat dazu geführt, daß politikwissen-

schaftliche Forschungsteams ihre Projekte nur zusammen mit in- oder ausländischen Sponsoren aus Wirtschaft und Politik ihre Forschungsarbeit in Form von Stiftungen, Vereinen usw. außerhalb der offiziellen, verarmten Institute ausüben. Diese Form ermöglicht auch die Zusammenarbeit von in- und ausländischen Wissenschaftlern (z.B. der Erasmus-Foundation oder dem Osteuropa-Institut). Und es erklärt sich aus dieser Konstellation auch die besondere Rolle, die deutsche Partei-Stiftungen spielen (besonders: FriedrichEbert-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung), die ihre Büros in Budapest schon früh eingerichtet hatten und politikwissenschaftliche Forschungen in Ungarn finanzieren. Längerfristig muß sicher damit gerechnet werden, daß auch in Ungarn verschiedene Verbände, Vereine, Parteien usw. ihre eigenen Forschungs- und Bildungsinstitute etablieren werden, was die Chancen der Politikwissenschaft nicht mindern wird.

454

Vgl. das Interview mit dem für Forschung und Lehre zuständigen Minister Ferenc Madl, A tudomany egzisztenscialis valsaga. In: Magyar Nemzet, 5.11.1990.

Politikwissenschaft in Ungarn

337

d) Initiativen in der Lehre In der Lehre der Politikwissenschaft sind einerseits erfreuliche innovative Schritte, andererseits aber auch Zeichen der Stagnation und der Konservierung herkömmlicher Strukturen festzustellen. So wurde einerseits im Zuge der Schaffung eines egalitären Mehrparteiensystems die "Hochschule für Politik" der USAP aufgelöst. Wenn sie auch insgesamt kein besseres Schicksal verdient hatte, so erscheint es doch bedauerlich, daß damit zugleich auch die gerade neu im Aufbau befindlichen Abteilungen der Hochschule, wie z.B. der Lehrstuhl für "Politische Theorie", wieder beseitigt wurden. Andererseits haben die veränderten politischen Rahmenbedingungen die bis dahin gebremste Entwicklung der Politikwissenschaft an der Fakultät für Staats- und Rechtswissenschaften der ELTE in äußerstem Maße begünstigt. Ihr wurde die Anerkennung als Lehrstuhl für Politikwissenschaft vom Ministerium für

Bildung

erteilt,

während

im

Gegenzug

der

Lehrstuhl für

"Wissenschaftlicher Sozialismus" derselben Fakultät aufgelöst und die dortigen Stellen und Ressourcen dem neuen Lehrstuhl zugeordnet wurden. Dieser hat damit auch die Ausbildung der Juristen der ELTE übernommen, die drei aufeinanderfolgende Semester lang ein zweistündiges Seminar oder eine Vorlesung im Fach Politikwissenschaft belegen müssen. Außerdem bietet der neue Lehrstuhl seit 1992 ein neues Diplom in Politikwissenschaft für Juristen an. Damit würden die Absolventen ein ZweifachDiplom erhalten, in Jura und Politologie. Mit der Einführung dieses Diplomstudienganges ist ein entscheidender Schritt in Richtung der Qualifikation wissenschaftlichen Nachwuchses in der ungarischen Politikwissenschaft getan. Parallel zur Einführung der Politikwissenschaft an der ELTE lief an der Budapester Universität für Ökonomie, der früheren Karl-Marx-Universität, eine Umwidmung des ehemaligen Lehrstuhls für wissenschaftlichen Sozialismus in einen Lehrstuhl für Politikwissenschaft unter der Führung des 1990 ernannten Professors und Lehrstuhlinhabers Attila Agh. Der neue Lehrstuhl faßt nun ebenfalls die Einführung eines Diploms für Studierende der Ökonomie mit dem Zweitfach Politikwissenschaft ins Auge. Dieser Lehrstuhl findet allerdings vergleichsweise günstigere Bedingungen vor als der an der ELTE-Fakultät für Staats- und Rechtswissenschaft; dies liegt daran, daß die Ökonomen die Reform des ganzen Unterrichts und der Universitätsstruktur schon vor geraumer Zeit durchsetzten, wodurch eine größere Aufgeschlossenheit der Fakultät gegenüber den Standards westlicher Diplomstudiengänge geschaffen wurde.

338

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Dies obwohl zugleich bei den Ökonomen eine gegenwärtigere Tradition des "Wissenschaftlichen Sozialismus" in den neuen Studiengang integriert werden muß. Zusammenfassend sind beide Initiativen erfolgversprechend, weil die politikwissenschaftlich orientierten Jura- und Ökonomie-Absolventen voraussichtlich gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhalten werden und sich gut in das neue gesellschaftliche System Ungarns werden einpassen können. Abgesehen von diesen zwei vielversprechenden Initiativen ist die allgemeine Lage eher düster. Denn vor allem in bezug auf die Auflösung der Lehrstühle für "Wissenschaftlichen Sozialismus" und den Umbau der entsprechenden Curricula wurde von Seiten des zuständigen Ministeriums eine Strategie der "rituellen Innovation" verfolgt, in der ein neuer Name für dieselbe Sache ausgegeben wird und man versucht, dies als grundstürzende Veränderung auszugeben. Zwar wurde die Abteilung "Marxismus-Leninismus" im Ministerium aufgelöst; und aus den alten ML-Fächern wurden auf dem Verordnungsweg "Sozialwissenschaften", aus dem "Wissenschaftlichen Sozialismus" z.B. "Politikwissenschaft" und "Politische Theorie". Doch in Wirklichkeit wurden an den Türen von mehreren Dutzend Lehrstühlen lediglich die Schilder ausgewechselt, während man dem Personal zutraute, sich nahtlos auf die Anforderungen der neuen Disziplin einzustellen. Dies obwohl natürlich kaum einer der dort Beschäftigten für die erforderliche neue politische Bildung geeignet, geschweige denn als Sozialwissenschaftler qualifiziert ist. Diese Situation wirft schwere und bisher unlösbare Dilemmata auf. Denn die Tätigkeit an einem Lehrstuhl für "Wissenschaftlichen Sozialismus" hatte aufgrund des niedrigen Prestiges dieser Arbeit nicht notwendig eine "totale Loyalität" zum System vorausgesetzt. Dementsprechend ist es sehr schwer, Kriterien zu nennen, nach denen das dortige Personal selektiert werden könnte. Da es unter dem alten Regime an Qualifikations-, Publikations- und Forschungsmöglichkeiten in der Politikwissenschaft mangelte, können die Betroffenen ihre wissenschaftliche Leistungsfähigkeit mit der Unterdrückung der Politikwissenschaft legitimieren. "Von oben" her, vom Ministerium, ist es nicht möglich, eine solche Selektion vorzunehmen. "Von unten" her, also von den Studierenden, hat der Druck nachgelassen; seit den Protesten im Herbst 1988 ist es an den Hochschulen zu einem politischen Stillstand gekommen. Die Politik läuft in den Wahlen, in den Parteien, und die Studenten haben ihre eigene Partei, FIDESZ, welche der Studentenbewegung entstammt. Die Studenten kümmern sich nicht mehr um die Veränderung der Hochschule, und ohne ihren Druck läßt sich für einen beschleunigten Austausch des Personals kaum eintreten.

Politikwissenschaft in Ungarn

339

Andererseits aber: wer würde zur Zeit die neuen Stellen einnehmen? Es gibt noch keinen größeren wissenschaftlichen Nachwuchs, und die Einkommensverhältnisse an den Universitäten haben sich dermaßen verschlechtert, daß es sehr schwer wäre, die freiwerdenden Stellen mit qualifizierten Wissenschaftlern zu besetzen. Zusammenfassend wird die "Politikwissenschaft" heute an den Hochschulen daher in den meisten Fällen von ehemaligen Lehrkräften des "Wissenschaftlichen Sozialismus" unterrichtet; und da es auch

noch kein

neues

System

der Anleitung

durch

Lehrbücher

der

"Politikwissenschaft" gibt, tun sie das nach Tradition und persönlichem Geschmack. Dieses Dilemma läßt sich unmittelbar mit dem Problem der politischen Bildung in den Grundschulen, Mittelschulen und Gymnasien verbinden.^ Während unter den früheren Regimen eine Art ungarischer Sozialkunde und Zeitgeschichte als Pflichtfächer an den Schulen unterrichtet wurde, wurde dieser Unterricht verständlicherweise während der Phase der Systemtransformation suspendiert. Bis zum heutigen Tag gibt es aber noch keine überzeugende Alternative einer neuen Staatsbürgerkunde, die auch die Berücksichtigung der Politikwissenschaft in einer entsprechenden Lehrerausbildung sicherstellen könnte. Doch ohne die Einführung entsprechender Fächer in den Schulen würden alsbald auch die Stellen für Politikwissenschaftler an den Pädagogischen Hochschulen überflüssig; auch muß für die demokratische Erneuerung Ungarns ein solcher Unterricht ebenso wie seine Durchführung durch qualifiziertes Personal als unverzichtbar angesehen werden. In dem Aufbau der ungarischen Politikwissenschaft findet aber dieses wichtige Bindeglied zwischen politischer Bildung und Politikwissenschaft bisher keine Berücksichtigung; ein Trend zur "Depolitisierung" des Unterrichts, der im Zusammenhang steht mit negativen Erfahrungen einer manipulativen politischen Bildung; diese negativen Erfahrungen scheinen nun auch die problemlose Entfaltung eines demokratischen Staatsbürgerunterrichts zu behindern.

e) Die Rolle der Politikwissenschaft in der öffentlichen Meinung Die öffentliche Meinung entwickelte sich - wie schon in der Phase der Systemtransformation - auch nach dem Systemwechsel in der eingeschlagenen Richtung weiter; die Mauern zwischen "erster" und "zweiter" Öffentlichkeit, auch die Gräben zwischen Opposition- und Emigranten-Literatur wurden ein-

455

Mät6 Szabö, Political Education in Hungary. In: Südosteuropa 1989/ 7-8.

340

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

geebnet; und die bisher tabuisierten Bereiche der Gesellschaft gelangten durch das privatwirtschaftlich orientierte Wirken der neuen zum selbstverständlichen Gemeingut der Bürger.456 Auch der Einfluß der Politikwissenschaft auf die Medien war erheblich gewachsen, wie sich z.B. an dem Detail ablesen läßt, daß Csaba Gombar, ein renommierter Politologe, zum Direktor des staatlich-ungarischen Rundfunks ernannt wurde. Ebenso steht die stärkere Integration der Politikwissenschaft in die vom ungarischen Journalistenverband

organisierte

Journalistenausbildung

zur

Diskussion. Und auch aus anderen Bereichen der Politikberatung und analyse wächst die Nachfrage nach politikwissenschaftlich vorgebildetem Personal: ein deutliches Zeichen für die bereits mehrfach hervorgehobene Tendenz, daß keinerlei Vorurteile mehr gegenüber einer als kritisch erkannten Politikwissenschaft gehegt werden. Es wird anerkannt, daß sie heutzutage keinerlei ideologischen Beschränkungen mehr unterliegt, und aufgrund auch der großen Verdienste der Politikwissenschaft um die Reformbewegung gilt ihre Ausbildung als eine der attraktivsten unter den angebotenen Sozialwissenschaften; sie bietet deshalb gerade auch karrierebewußten jungen Menschen eine echte Alternative. So hat die Politikwissenschaft (auch mit westlicher "Entwicklungshilfe") in der Kädär-Ära einerseits sich selbst gewisse Startmöglichkeiten geschaffen und zugleich dem Systemwandel günstige Erfolgsbedingungen gesichert. Die Aufgabe für die Politologen besteht nun darin, diese für alle Beteiligten günstige Situation institutionell zu verfestigen.

456

Besonders die Information über die Literatur über die Ereignisse von 1956 und der öffentliche Verkauf von Emigranten-Zeitschriften und Bücher sind an dieser Stelle zu erwähnen.

Politikwissenschaft in Slowenien

341

Adolf Bibic

Politikwissenschaft in Slowenien

Gründung und Einfluß der politischen Demokratisierung In Slowenien ist die Politikwissenschaft eine relativ junge Disziplin. Als eigenständiges akademisches Fach ist sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg anerkannt worden. Doch natürlich gehen die Wurzeln des Faches weit zurück. Ihre Vorgeschichte kann in der intellektuellen, gesellschaftlichen und politischen Geschichte Sloweniens ausgemacht werden, insbesondere seit der Aufklärungszeit des 18. Jahrhunderts, als die Idee einer politischen Wissenschaft, wahrscheinlich zum ersten Mal, ausdrücklich in der slowenischen Geschichte als Forschungsfeld erwähnt wurde. 4 5 7 In diesem Beitrag soll allerdings die Entstehung der Politikwissenschaft in einem engeren Sinne als Prozeß ihrer Institutionalisierung verstanden werden. Dabei werden zwei Aspekte im Vordergrund stehen: 1) die Gründung und Entwicklung der Politikwissenschaft in Slowenien als ein Teil des früheren Jugoslawiens, und 2) insbesondere der Einfluß der jüngsten politischen Demokratisierung und des nationalen Unabhängigkeitsprozesses auf die Disziplin.

1. Gründung und Entwicklung der Politikwissenschaft in Slowenien 1961-1989 Die Politikwissenschaft ist in Slowenien erstmalig zu Beginn der 1960er Jahre institutionalisiert worden, als im Jahr 1961 die Hochschule für Politische Wissenschaften (HSPS/HSPW) als erste akademische Institution auf diesem Fachgebiet errichtet wurde. 4 5 8 Die Errichtung der H S P S in Ljubljana erfolgte fast zum gleichen Zeitpunkt wie die Gründungen in Belgrad ( i 9 6 0 ) 4 5 9 , Sarajewo (1961) und Zagreb 457

Ich denke dabei an die Academia operosorum, eine wissenschaftliche Gesellschaft in Ljubljana, die in ihrem Programm von 1781 auch die Erforschung der "Rechts- und Politischen Wissenschaffeinschloß.

458

Gesetz über die Hochschule für Politische Wissenschaften, verabschiedet von der Nationalversammlung der Volksrepublik Slowenien am 31. Januar 1961.

459

Hier wurde das Institut für Sozialwissenschaften mit einer Abteilung für Politische und Juristische Wissenschaften bereits 1958 gegründet.

342

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

(1962), wo man von Anfang an als Fakultät organisiert war. Auf diese Weise war das frühere Jugoslawien, zusammen mit Polen, das einzige sozialistische Land, in dem die Politikwissenschaft offiziell anerkannt und, was wichtiger ist, institutionalisiert war. Diese Tatsache war in der Einsicht begründet, daß weder die überkommenen Formen der ideologischen Erziehung auf fortgeschrittener Stufe (die traditionellen "Parteischulen") noch die traditionelle akademische Arbeitsteilung den aktuellen politischen und wissenschaftlichen Bedürfnissen entsprach. Diese Erkenntnis wurde sowohl vom reformistischen Flügel der politischen Elite als auch von einer Minderheit der akademischen Elite geteilt, die aus Gelehrten des Verfassungsrechts, der Staatstheorie und sogar einigen Soziologen bestand (Jovan Djordjevic, Najdan Pasic. Leon Gerskovic, Gorazd Kusej, Joze Goricar u.a.). Ausschlaggebend für die Etablierung der Politikwissenschaft im früheren Jugoslawien war sowohl der politische Wille der früheren gesellschaftlichen und politischen Organisationen, insbesondere des Bundes der Kommunisten, wie auch die Mitarbeit von prominenten Gesellschaftswissenschaftlern; deren Engagement bei der Formulierung des Programms als auch im Alltag von Lehre und Forschung spielten eine wichtige Rolle.460 Die Gründung der Politikwissenschaft in Slowenien und ihre weitere Entwicklung können nur in diesem umfassenden jugoslawischen Kontext verstanden werden. So war die Hochschule für Politische Wissenschaft in Ljubljana seit Beginn ein konstituierender Bestandteil des höheren Bildungswesens der Republik Slowenien, da Erziehungsfragen in die Zuständigkeit der föderalen Gliedstaaten (Republiken) fielen. Die ursprüngliche Kerngruppe der Gründungsväter der HSPS, erweitert durch einige später hinzutretende innovative Neulinge, verfügte über genügend Visionsvermögen, auch dank ihrer Kontakte zu der internationalen Sozial- und Politikwissenschaft, um die weitere Entwicklung der Hochschule in folgenden Richtungen anregen zu können:461 Die Einschreibung von Studierenden wurde nach den Anfangsjahren, in denen diese entsprechend besonderer Auswahlkriterien aus den Angehörigen des Staatsapparates, der politischen Organisationen, des Bildungssystems,

460

Eine kritische Geschichte der Politikwissenschaft im früheren Jugoslaweien muß noch geschrieben werden.

461

Dieser Abschnitt beruht auf den Analysen und Berichten, die frühere Mitglieder der MSPS aus Anlaß des Jubiläums von Professor Vlado Benko, dem ersten Dekan der Fakultät, und des 30. Jahrestages der HSPS im Oktober 1991 vorgetragen haben, und auf veröffentlichtem Material einschließlich des Berichtes über die erste politikwissenschaftliche Konferenz in Slowenien am 18./19. Januar 1965.

Politikwissenschaft

in Slowenien

343

der Medien usw. ausgesucht wurden, genauso offen vorgenommen wie an der Universität. Die politischen Studien wurden Schritt für Schritt durch andere moderne sozialwissenschaftliche Disziplinen ergänzt: 1964 trat die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft hinzu, zwei Jahre später die Soziologie, 1975 die "Verteidigungsstudien" und das Studium der sogenannten "Theorie und Praxis der Selbst-Verwaltung", das später wieder aufgegeben wurde. Zur gleichen Zeit wurde das Curriculum durch moderne Untergebiete wie die Methodologie der Sozialforschung, Computerstudien und die Informatik angereichert. Diesem inhaltlichen Wandel folgten organisatorische Veränderungen. 1968 wurde die HSPS zur HSPJ (Hochschule für Soziologie, Politische Wissenschaft und Journalistik) umbenannt, und 1970 wurde die Institution als FSPJ (Fakultät für Sozialwissenschaft, Politische Wissenschaft und Journalistik) in die Universität von Ljubljana eingegliedert. Während dieses fünfjährigen Integrationsprozesses in die Universität wurde auch eine verstärkte Aufmerksamkeit auf die Forschungsbemühungen gelegt. Die Forschungszentren, darunter das Zentrum für Politikforschung (1967) und das Zentrum für öffentliche Meinung (1966), das im Fach Soziologie gegründet worden war, aber auch für die Entwicklung der Erforschung von politischen Prozessen sehr wichtig wurde, wurden gegründet und 1976 im Forschungsinstitut der FSPJ zusammengefaßt. Diese organisatorischen Entwicklungen gingen einher mit bedeutsamen Veränderungen in den Studiengängen. Anfangs noch undifferenziert begannen sich in den 70er Jahren die Studien in Innenpolitik und Internationalen Beziehungen voneinander abzusetzen. Die politischen Studien profitierten außerdem von den neu hinzukommenden Fächern, sodaß Studierende der Politikwissenschaft jetzt auch Grundlagen der Soziologie, der Kommunikationswissenschaft und der anderen Fächer zu studieren hatten, und umgekehrt. Die Interdisziplinarität ist, trotz mancher Veränderungen, ein dauerhaftes Kennzeichen des Studiums an der FSPJ und ihrer Nachfolgerin geblieben. Der Forschungsimpetus des Faches und seiner Nachbarfächer zielte auf einen bedeutsamen Neuerungsschub für den Bildungsprozeß.

Die

FSPJ

schärfte schrittweise ihr Selbstbewußtsein, auch dank der Offenheit gegenüber den internationalen Sozial- und Politikwissenschaften. Sie bewährte sich, nicht ohne Narben, in der Mitte der 70er Jahre in der Auseinandersetzung mit dem politischen Machtzentrum. Trotz der Bemühungen in den 80er Jahren um die Reform der Universitätsstudien, die auf die Zurückdrängung der Politischen Wissenschaft (Internationale Beziehungen) abzielten, gelang es den

344

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Protagonisten des Faches und der modernen Sozialwissenschaft sogar, das Zentrum für die Erforschung Internationaler Beziehungen zu errichten und für die Internationalen Studien mehr Selbständigkeit zu erreichen. 462 Die Anerkennung des Faches vor 1989 ist auch auf die Slowenische Politikwissenschaftliche Vereinigung (SPSA) zurückzuführen. Sie wurde 1968 gegründet und erwarb sich erhebliche Verdienste bei der Legitimierung der Disziplin. Die Vereinigung organisierte wissenschaftliche Konferenzen, und sie nahm aktiv am Verband der Politikwissenschaftlichen Vereinigungen Jugoslawiens teil, insbesondere wenn es um die Koordination der Beteiligung an IPSA-Kongressen, die Organisation von wissenschaftlichen Tagungen, die bilaterale Zusammenarbeit z.B. mit polnischen Politikwissenschaftlern und dergleichen mehr ging. Die Vereinigung förderte

politikwissenschaftliche

Veröffentlichungen; so wurde beispielsweise eine besondere

Reihe,

die

"Politologische und Soziologische Bibliothek", initiiert. Auswärtige Politikwissenschaftler wurden zu Vorträgen eingeladen und Abhandlungen prominenter internationaler Politikwissenschaftler veröffentlicht. Der Grad der Aktivitäten der Vereinigung schwankte und lag im allgemeinen unter dem Niveau ähnlicher Vereinigungen des Auslandes. Später wurde wieder eine aktivere Phase der Vereinigung eingeläutet, als die Option für einen politischen Pluralismus und für die demokratische Transformation anstand (siehe Teil Ii). Zusammenfassend können für die Entwicklung der Politikwissenschaft in Slowenien in dem Zeitraum von 1961 bis 1989 einige vorläufige Schlußfolgerungen gezogen werden: Die Politikwissenschaft in Slowenien war in diesen Jahren recht schwach entwickelt im Hinblick auf die Zahl der beteiligten Wissenschaftler, ihre materielle Ausstattung und ihre institutionelle Verankerung. Sie mußte ihre Kräfte vorzugsweise einsetzen, um als akademische Disziplin anerkannt zu werden und ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen. Ihre wesentlichen Schwächen müssen in einem zu normativen Herangehen an die politische Wirklichkeit, einer zu beschränkten empirischen Forschung und der Vernachlässigung wichtiger Untersuchungsgebiete gesehen werden. Diese Eigenschaften der Disziplin spiegelten zugleich die rechtswissenschaftliche Herkunft der Gründungsväter wider. Auf der anderen Seite erreichte die Disziplin in diesem Zeitraum auch einige nicht zu unterschätzende Erfolge:

462 D a s verdienst um die Stärkung der Studien in den Internationalen Beziehungen gebührt dem früheren Gesellschaftlichen Rat für Internationale Beziehungen der (Sozialistsischen) Republik Slowenien. Auch das Verständnis und die Unterstützung durch den Dekan der FSPJ, Professor Peter Klinar, muß erwähnt werden.

Politikwissenschaft in Slowenien

345

- Politikwissenschaft als eine Disziplin der modernen Sozialwissenschaften wurde erfolgreich legitimiert und ihre institutionellen Grundlagen etabliert. Gleichzeitig wurden die grundlegenden Teildisziplinen eingerichtet. - In dieser Zeit entwickelte die Disziplin, wenn auch ungleichmäßig, ihre Grundfunktionen, besonders in der Lehre und weniger in der empirischen Forschung. - Das Fach öffnete sich gegenüber der internationalen Politikwissenschaft. Seine Protagonisten studierten oder spezialisierten sich an Universitäten in den USA sowie Westeuropa und bemühten sich um die Rezeption moderner Konzepte. In der Folge wurden Grundkonzepte der gegenwärtigen Politikwissenschaft, wie "Interessengruppen", "politische Kultur", "politisches System", "Pluralismus" usw. akzeptiert und bei der Interpretation politischer Phänomene angewandt. - In Konsequenz dieser Entwicklung wurde die rohe dichotomische Klasseninterpretation der Politik verworfen oder zumindest erheblich modifiziert, indem Kategorien wie "Interessenpluralismus" und "selbstverwaltender Interessenpluralismus" angewandt und ausgearbeitet wurden. Das letztgenannte Konzept diente als eine der Grundlagen für einen utopischen, "nicht parteigebundenen politischen Pluralismus", erwies sich aber zugleich als einer der Faktoren bei der Entwicklung der jüngsten slowenischen "Samtenen Revolution" zu einem vollen politischen Pluralismus.463 - In diesem Zusammenhang war die Wiederbelebung des thematischen Dualismus von "Bürgerlicher Gesellschaft" und "Staat" nicht nur historisch bedeutsam, sondern auch für die gegenwärtige Politikwissenschaft von methodologischer

Relevanz.

Obwohl

man

sich

anfangs

noch

an

einer

"sozialistischen" oder "selbstverwaltenden" Gesellschaft orientierte, wurde damit doch zur Legitimierung des allgemeinen Gebrauchs von Zivilgesellschaft zu einer Zeit beigetragen, in der dieses Konzept von den konservativen Kräften noch als "konterrevolutionär" angesehen wurde. Auf diese Weise trug die theoretische Debatte zur Öffnung des politischen Raums für neue politische Kräfte bei. - Am Ende dieses Zeitraums gelang es dem Fach, vielversprechende junge Studierende anzuziehen, die in der Politikwissenschaft ihren akademischen 463

Diese widersprüchliche Rolle des selbstverwaltenden Pluralismus kann nur im allgemeinen Zusammenhang der Konfrontation zwishen Selbstverwaltungskonzeption und staatlicher (stalinistischer) Ideologie des Sozialismus und Kommunismus verstanden werden. Diese Konfrontation hat meiner Ansicht nach eine wesentlich größere Bedeutung für die allgemeine Disintegration des monistischen Sozialismus als in Diskussionen zur demokratischen Transformation angenommen wird. Das war auch einer der Hauptgründe, warum die Konzeption der Selbstverwaltung bis weit in die 80er Jahre von vielen, darunter auch dem Verfasser, akzeptiert worden ist.

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Abschluß machten. Diese waren durch ihr Studium auf ein Postgraduiertenstudium und eine akademische Karriere vorbereitet worden. Obwohl die Politikwissenschaft, im Vergleich z.B. zur Soziologie, erhebliche Defizite im Hinblick auf Personal und andere Ressourcen aufwies, eröffneten sich ihr doch für die bevorstehenden kritischen Jahre gute Überlebenschancen. - In diesem Zeitraum wurden einige grundlegende Bücher und Studien veröffentlicht, die von erheblicher Bedeutung für den akademischen Status der Politikwissenschaft und ihr öffentliches Ansehen waren. Sie waren verknüpft mit der Begründung der Politikwissenschaft als einer besonderen sozialwissenschaftlichen Disziplin, der Ausarbeitung einiger Untergebiete wie den Internationalen Beziehungen und der Analyse einiger wichtiger Aspekte der Politik und der Politikwissenschaft wie der politischen Kultur, dem Militär, den multinationalen Firmen, dem Prinzip der Selbstbestimmung und der öffentlichen Meinung. 4 6 4 Mit diesen Aktivposten ging die Politikwissenschaft in Slowenien in den Prozeß turbulenter politischer Transformationen, die in dem Wechsel von einem sozialistisch orientierten Selbstverwaltungssystem zu einer parlamentarischen Demokratie mündeten. Was war die Antwort der akademischen Fächer auf diesen grundlegenden Wandel?

II. Der Einfluß der Demokratisierung auf die Politikwissenschaft in Slowenien 1989-1994 Der Prozeß der politischen und pluralistischen Transformation am Ende der 80er und zu Beginn der 90er Jahre, der in Slowenien den Übergang von einem "Pluralismus der selbstverwaltenden Interessen" zu einem vollen politischen Pluralismus und zur nationalen Selbständigkeit beinhaltete, hatte einen grossen Einfluß auf die slowenische Politikwissenschaft. Die politische Wirklichkeit wandelte sich so schnell, daß die Disziplin davon zunächst überrascht und gezwungen wurde, auf diese Veränderungen zu reagieren. Dabei erleichterte die Tatsache, daß das Fach bereits etabliert war und zu Ende der 80er Jahre selbst nach politischem Pluralismus verlangt hatte, bevor dieser legalisiert wurde, den Prozeß der kritischen Selbstreflektion und der Selbsttransformation. Dank der zwischenzeitlichen Entwicklung war man nicht gezwun464

Eine detaillierte Geschichte der Politikwissenschaft in Slowenien (und im früheren Jugoslawien) würde auch eine erschöpfende Bibliographie erfordern, die den Themenstellungen, den Autoren und der verwickelten Geschichte der Politikwissenschaft mehr Rechnung trüge.

Politikwissenschaft

in Slowenien

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gen, am Nullpunkt und ohne Kontinuität anzufangen, obwohl man in vieler Hinsicht tief betroffen war. Der Prozeß der Demokratisierung und nationalen Emanzipation hatte zusammen mit den allgemeinen Veränderungen in der zeitgenössischen Umwelt einen mehr oder weniger großen Einfluß auf: - die Konzeption der Politik und somit auf den Gegenstand des Faches, - die Forschungstrategie, - die Formulierung des Lehrplans, - den organisatorischen Rahmen der Lehre und Forschung und - die Rolle der Slowenischen Politikwissenschaftlichen Vereinigung und die Intemationalisierung der Disziplin.

Veränderungen in der Politikkonzeption Als erstes wurde das Gegenstandsgebiet der Politikwissenschaft, d.h. die Konzeption der Politik, durch neue Bestandteile erweitert, und gleichzeitig wurden einige ältere Elemente aufgegeben oder relativiert. Insgesamt wurde der Politik nun ein autonomerer Status als in der sozialistischen Vergangenheit zugewiesen. Die realistische Komponente der Politik als ein Wettbewerb um politische Macht wurde anstelle der direkten demokratischen Partizipation in sub-politischen Bereichen betont. Dieser Wandel im Politikverständnis wiederbelebte einige klassische Fragestellungen der liberalen politischen Philosophie und Politikwissenschaft: die Bedeutung von Spielregeln in der Politik, die Herrschaft des Rechts, das Problem des Machtmißbrauchs und seiner effektiven Kontrolle, Fragen der politischen Repräsentation, den politischen Pluralismus mit seiner ständigen Zirkulation der Machteliten, die zentrale Bedeutung von wettbewerbsorientierten Wahlen für die Politik usw. Obwohl die frühere Konzeption des Selbstverwaltungspluralismus die Bedeutung von Konflikten im politischen Leben "nach der Revolution" nicht in Abrede gestellt hatte, rückte die neue Perspektive doch die politischen Konflikte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Faches, indem sie die Legitimität von Konflikten über die politische Machtverteilung anerkannte und einen friedlichen Wettbewerb um die Macht als legitimen Weg zur Konfliktlösung ansah. Auf diese Weise gewann die Webersche und Schumpetersche Tradition des Politikverständnisses eine neue Bedeutung. Gleichzeitig wurde die Idee vom "Absterben des Staates", welche eine bedeutsame Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Stalinistischen Staatsverständnis und für die Entwicklung der Idee einer direkten Demokratie gespielt hatte, wenn nicht ra-

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

dikal uminterpretiert, so doch zurückgewiesen oder stillschweigend aufgegeben.^ Diese Veränderungen im Politikverständnis waren auch mit der Wiederbelebung der Diskussion um bürgerliche Gesellschaft und Staat verbunden. Dieses moderne Paradigma, das in der slowenischen Politikwissenschaft schon in den 60er Jahren einmal diskutiert wurde, gewann in den 80er Jahren erneut Bedeutung. 466 Es war auch einer der ausschlaggebenden Faktoren, der die slowenische Politikwissenschaft schließlich zu ihrer Entscheidung für den politischen Pluralismus motivierte. Politischer Pluralismus war verstanden worden als Konsequenz der dichotomischen Struktur der modernen Gesellschaft, und folglich war die Pluralität der politischen Parteien konzipiert worden als ein notwendiger, wenn auch nicht der einzige Mechanismus des politischen Ausgleichs zwischen "Zivilgesellschaft" und "Staat". Der Begriff der Politik wurde auf diese Weise wieder eingebunden in den "mainstream" der internationalen Politikwissenschaft, obwohl Politik keineswegs auf bloße "Parteipolitik" reduziert wurde. Auch andere politische Organisationen, Interessenverbände, Bewegungen und Bürgerinitiativen wurden hervorgehoben und mit dem Begriff des assoziativen Pluralismus verbunden. Darüber hinaus muß hinzugefügt werden, daß die neue Zentralität des politischen Konfliktes unterstrichen wurde, ungeachtet der Bedeutung von Konsensus und der Kooperation in der Politik. Politik wurde auf diese Weise als ein vieldimensionaler Prozeß verstanden, der einerseits auf den Gewinn, den Erhalt und den Gebrauch von politischer Macht auf der Grundlage eines legitimen Machtwettbewerbs abzielte, andererseits aber auch der partizipatorischen Komponente Aufmerksamkeit zukommen ließ, die einen bedeutsamen Platz in dem früheren Konzept der Selbstverwaltung innegehabt hatte. Diese Konzeption der Politik scheint mit spezifischen slowenischen Traditionen der nichtparteigebundenen Vereinigungen in Einklang zu stehen, die eine entscheidende Rolle in der nationalen, gesellschaftlichen und politischen Geschichte des Landes gespielt hatten. Sie stimmt auch überein mit der allgemeineren Erfahrung von postkommunistischen Gesellschaften, daß die "Überbeteiligung" an der Politik fragwürdige Folgen für den politischen Prozeß haben und daß die Reduzierung von Politik auf den "Kampf um die Macht" sogar zu einer spezifischen "Pathologie des Übergangs" führen kann.

465 Dieser Abschnitt und die folgenden Passagen beruhen auf den Verhandlungen der Jahreskonferenzen der Slowenischen Politikwissenschaftlichen Vereinigung in den Jahr 19891993. 466

Eine führende Rolle bei der Wiederbelebung der Idee der Zivilgesellschaft in Slowenien hatte in den 80er Jahren der junge Soziologe Tomaz Mastnak.

Politikwissenschaft in Slowenien

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Diese hier skizzierten Veränderungen im Verständnis der konzeptionellen Probleme von Politik, die mit sozioökonomischen, ethnischen und ethischen Aspekten der Politik, ihren formalen und informalen Aspekten und ihrer Geschlechtsstruktur, dem Verhältnis von Politik und Verwaltung, der neuen Bedeutung von Risiken in der Politik sowie ihrer Wahrnehmung in der öffentlichen Meinung Sloweniens zusammenhängen, haben notwendigerweise bedeutsame Implikationen für eine Kette neuer Fragen, mit denen sich die Disziplin zu beschäftigen hat. Dies gilt auch für die transnationalen Aspekte der Politik, ihre Regionalisierung, Internationalisierung und Globalisierung.

Die neue Forschungsstrategie Es versteht sich von selbst, daß der jüngste Prozeß der Demokratisierung und nationalen Emanzipation mit den ihn begleitenden neuen Politikdimensionen eine ernste Herausforderung an die Politikforschung darstellte. Die neue Forschungstrategie, die in den Jahren 1991/92 ausgearbeitet wurde 4 6 7 , zielte darauf ab, Fragen der politischen Demokratisierung und der internationalen Beziehungen in den Mittelpunkt zu stellen. Die Bemühungen um die nationale Unabhängigkeit Sloweniens ließen vor dem Hintergrund der neuen Anziehungskraft sowohl des Prinzips der nationalen Selbstbestimmung als auch der internationalen Integration Themenbereiche der Nationalstaatsbildung im Rahmen der neuen Forschungsstrategie entstehen. Sowohl der Übergang zur politischen Demokratie als auch die Errichtung eines neuen Nationalstaates haben die Frage nach dem "Wissen wofür" und, wie allgemein in der internationalen Politikwissenschaft, die Forderung nach einer stärkeren Anwendungsbezogenheit akzentuiert. Gleichzeitig wurde in den Programmdiskussionen und in der Forschungspraxis die Ausrichtung an Policy-Aspekten ausgeprägter. Es wäre sicherlich zu anspruchsvoll zu behaupten, daß die slowenische Politikwissenschaft auf diese neuen Erfordernisse in vollem Umfang reagiert hätte, bedenkt man ihre begrenzten personellen und materiellen Ressourcen. Aber die neue Lage des Faches mobilisierte seine Protagonisten in der allgemeinen Diskussion über die Rolle der Sozialwissenschaften dazu, den Zustand des Faches unter den Bedingungen der post467

Siehe das strategische Dokument des Ministeriums für Wissenschaft und Technologie der Republik Slowenien über die Entwicklung der Wissenschaften von 1992. Der Abschnitt über die Politikwissenschaft beruht auf einem ausführlicheren Gutachten, das durch Professor Marjan Svelicic, dem nationalen Koordinator auf dem Forschungsgebiet der Politikwissenschaft, in Zusammenarbeit mit der politikwissenschaftlichen Community vorbereitet worden ist.

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

kommunistischen Ära grundlegend zu überdenken. Im Folgenden seien nur skizzenhaft die Forschungsthemen im allgemeinen und einige spezielle Arbeitsgebiete vorgestellt, die in der jüngsten Zeit die Aufmerksamkeit der slowenischen Politikwissenschaftler gefunden haben. Der Übergang zur politischen Demokratie ist in Slowenien wie überall in Ost- und Mitteleuropa noch zu frisch, um ihn schon in seiner Komplexität analysieren zu können. Dennoch kann man schon heute feststellen, daß der Übergang zur Demokratie und ihr Konsolidierungsprozeß eines der wichtigsten Themen der Politikwissenschaft in Slowenien ist, und man kann vorhersagen, daß es dabei vorerst auch bleiben wird. Einige einschlägige Forschungsergebnisse sind schon publiziert worden. Aus ihnen ergibt sich, daß der Übergang zur Demokratie in Slowenien ein wechselseitiges und kooperatives, wenn auch nicht konfliktfreies, und relativ friedliches Resultat der Bemühungen sowohl der früheren slowenischen demokratischen Opposition als auch der ehemaligen reformistischen kommunistischen Elite gewesen ist, ermöglicht durch günstige internationale Bedingungen. In dieser "samtenen Revolution" des slowenischen Übergangs zur Demokratie, wobei diese Interpretation nicht von allen wissenschaftlichem Beobachtern geteilt wird, hat die wiederbelebte autononome Zivilgesellschaft eine besondere Rolle gespielt, waren ihre Protagonisten doch unter den Hauptträgern der demokratischen Erneuerung. Dieser Tatbestand mag erklären, warum in der jüngsten Diskussion über den demokratischen Transformationsprozeß die Kategorie der Zivilgesellschaft, wie oben geschildert, eine so entscheidende Rolle spielt. Sie ist ein zentraler Bezugspunkt aller reformistischen Kräfte und ein entscheidender Innovationsfaktor sowohl der praktischen Politik als auch der Politikwissenschaft. Es war daher folgerichtig, daß im Prozeß des Übergangs zu einer politischen Demokratie der Charakter der Demokratie selbst befragt wurde. In diesem Zusammenhang wurde die slowenische Politikwissenschaft mit den zentralen Fragestellungen der Demokratietheorie im Rahmen der internationalen Politikwissenschaft wiederverknüpft (J. Schumpeter, R. Dahl, D. Held u.a.). Die Verlagerung der Argumentationsebene von einer direkten, selbstverwaltenden Demokratie hin zu einer repräsentativen Demokratie ist nicht zu übersehen, während die partizipatorische Komponente nach dem Zusammenbruch der real existierenden Selbstverwaltung eingeschränkt worden ist; dies obwohl sie jüngst in einem eingeschränkteren Verständnis als Referendumsdemokratie, als industrielle Demokratie und sogar als allgemeine Forderung nach einer "dritten Demokratisierung" auf der Grundlage einer voll entwickelten polyarchischen Ordnung wieder geltend gemacht worden ist. Das Modell der kompetitiven freiheitlichen Demokratie mit seinen Grundaxiomen

Politikwissenschaft in Slowenien

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wird weithin akzeptiert, aber nicht in seinen klassischen Ausprägungen verabsolutiert. Eine gewisse Aufmerksamkeit wird den Ideen der consociativen Demokratie oder Konkordanzdemokratie ( A. Lijphart und G. Lehmbruch) gewidmet. Ein ernsthaftes Bemühen ist zu verzeichnen, die Demokratiediskussion im Lichte der jüngsten Neokorporatismusdebatte neuzubewerten, indem die These aufgestellt wurde, daß die zeitgenössische freiheitliche Demokratie sich zu einer "freiheitlichen und korporativen Demokratie" umgewandelt habe. Der neokorporatistische und kooperative Ansatz könnte auch, so wird angenommen, zu einem wichtigen Mechanismus bei der Konfliktlösung in postkommunistischen Gesellschaften werden. Es ist verständlich, daß unter den Bedingungen des im Juni 1991 als unabhängig erklärten slowenischen Staates dem politische System von Slowenien in der Politikforschung zentrale Bedeutung zugewiesen wurde. Die Struktur des politischen Systems beruht auf der neuen Verfassung der Republik Slowenien vom Dezember 1991 und wurde nach den zweiten Wahlen vom Dezember 1992 verwirklicht. Der Politikwissenschaft war bewußt, selbst ohne den Anstoß des jüngsten Trends zum Neoinstitutionalismus, daß die zentralen Institutionen des neuen politischen Systems, insbesondere das neue Parlament, im Brennpunkt der Forschung zu stehen hatten. In der Tat wurden die Transformation der früheren Dreikammer-Versammlung in eine neue Zweikammer-Vertretungskörperschaft

nach den ersten kompetitiven

Wahlen vom April 1990 ebenso zum Gegenstand der Forschung wie verschiedene Aspekte der Entwicklung des Parlamentarismus und der Funktion des neuen slowenischen Parlaments im Prozeß der politischen Modernisierung. Auch der Institution der politischen Opposition und ihrer Rationalität wurde Aufmerksamkeit gewidmet. Bedingt dadurch, daß das neue slowenische Parlament aus zwei Körperschaften besteht, der Nationalversammlung als dem allgemeinen politischen Repräsentationsorgan und dem Nationalrat als Vertretung von Interessen 468 , eröffnet sich der künftigen Forschung die Möglichkeit, sowohl den inneren Entscheidungsprozeß als auch das Verhältnis zwischen den beiden Kammern und ihre Rolle in bezug auf Regierung, Präsident der Republik und politischer Gesellschaft, insbesondere zu politischen Partei468

Einige Staatsrechtler behaupten, nur die erste Kammer stelle ein genuines Parlament dar, während die zweite, welche lediglich über ein suspensives Veto verfügt, nicht als Teil des Parlaments anzusehen sei. Politische Parteien, insbesondere die Entstehung des jüngsten Parteienpluralismus in Slowenien, ihre rechtliche Regulierung, ihre Rolle in Wahlen und Koalitionsbildungen, ihre Finanzierung, das Verhältnis der Parteien zur Polizei und das Problem der parteilichen Neutralität der bewaffneten Kräfte, der Vergleich des Parteiensystems in Slowenien mit demjenigen in anderen Staaten, alle diese Fragen sind als politikwissenschaftliche Gegenstände zumindest einführend behandelt worden.

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

en, vor allem den Interessenverbänden und den Medien, zu untersuchen. Neben ersten Forschungsarbeiten zu diesen Themen galt das Interesse auch den politischen Parteien. Die Interessengruppen wurden im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Parlament und aus dem Blickwinkel der Interessenvermittlung im Rahmen des neuen slowenischen Staatsbildungsprozesses untersucht. Von entscheidender Bedeutung für die künftige Entwicklung der empirischen Politikwissenschaft ist die Erforschung des Wahlprozesses in Slowenien. Während dieser bisher überwiegend im Rahmen der Meinungsforschung (N. Tos und seine Forschungsgruppe) interpretiert wurde, haben die Wahlen inzwischen auch innerhalb anderer Teilgebiete der politikwissenschaftlichen Forschung Aufmerksamkeit gefunden. N. Tos hat sich um den Vergleich der Wahlen von 1907 und 1911 im slowenischen Teil von Österreich-Ungarn, den Wahlen im Jahr 1920 im Königreich Slowenien und im ersten Jugoslawien mit den jüngsten pluralistischen Wahlen in Slowenien (1990, 1992) bemüht. Einer langen Tradition im politischen Denken und in der Politikwissenschaft Sloweniens erfreut sich die Frage der Nation, der nationalen Identität, des Nationalismus und der ethnischen Minderheiten, wobei die jüngste allgemeine Wiederbelebung der ethnischen Politik die besondere Aufmerksamkeit von slowenischen Politikwissenschaftlern gefunden hat. 469 Fragen der politischen Kultur und der politischen Bildung haben in der politischen Übergangsperiode neue Bedeutung gewonnen und stehen im Mittelpunkt neuer empirischer Forschungsinitativen, zusammen mit mehr theoretischen Bemühungen um die Analyse der gesellschaftlichen und politischen Werte in Slowenien und insbesondere unter der slowenischen jüngeren Generation, vorzugsweise den Gymnasiasten. Im Hinblick auf die Geschichte der politischen Ideen hat sich das Fach jüngst, nachdem es sich in der Vergangenheit auf Entstehung und Geschichte des sozialistischen Denkens marxistischer Provinienz und die Kritik des Stalinismus konzenztriert hatte, der Untersuchung der Vielzahl von traditionellen Strömungen im politischen Denken Sloweniens zugewandt, dabei insbesondere den demokratischen Überlieferungen und einigen allgemeinen Richtungen des 20. Jahrhunderts wie dem Liberalismus, dem Pluralismus, dem Nationalismus, dem Neokonservatismus und dem politischen Katholizismus.470 Für die Untersuchung des empirischen 469

Zwei Institute ¡n Slowenien haben sich auf ethnische Studien spezialisiert: Das Institut für Ethnische Studien in Ljubljana und das Europäische Zentrum für Ethnische, Regionale und Soziologische Studien an der Universität Maribor.

470

Auf dem Gebiet der politischen Philosophie sind jüngst wertvolle Ergebnisse vorgelegt worden vom Institut für Philosophie der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste (T. Mastnak, R. Riha, N. Pagon u.a.). Vgl. die letzten Bände von Filozofski vestnik/ Acta philosophica.

Politikwissenschaft in Slowenien

353

politischen Prozesses und der Werteentwicklung in Slowenien bleibt von besonderer Bedeutung das Projekt zur Erforschung der slowenischen öffentlichen Meinung, mit seinem seit über 25 Jahren kontinuierlich durchgeführten Umfragen im ehemaligen Jugoslawien. Die Entstehung eines unabhängigen slowenischen Staates hat, was selbstverständlich ist, zu einer neuen Bedeutung der Forschungen auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen geführt. Selbstbestimmungsrecht, Souveränität und internationale Stellung des neuen slowenischen Staates haben erneute Aufmerksamkeit gefunden. Während eine enge nationalistische Interpretation dieser Kategorien abgelehnt worden ist, wird doch ihre Rechtmäßigkeit beansprucht. Die allgemeine Rolle von kleineren Ländern im Wandel der internationalen Beziehungen ist untersucht worden, wobei sich gezeigt hat, daß ihre größere Flexibilität und schnellere Anpassungsfähigkeit unter den Bedingungen der neuen technologischen Revolution Wettbewerbsvorteile beinhalten können, bei deren Ausnutzung die Internationalisierung eine gewichtigere Rolle als die schlichte Größe spielt. Mehrere Autoren haben dem Prozeß der Emanzipation Sloweniens471

besondere Aufmerksamkeit

gewidmet, wobei sie insbesondere jene Faktoren zu identifizieren suchten, die in den 80er und zu Beginn der 90er Jahre schrittweise unter den Eliten und in der öffentlichen Meinung zu den wachsenden Forderungen nach slowenischer Unabhängigkeit geführt haben. Für diese Selbständigkeitsbestrebungen sind wirtschaftliche, kulturelle und politische Gründe untersucht worden. Dabei konnte gezeigt werden, wie die Bemühungen der slowenischen politischen Kräfte, zunächst um die Vereinbarung eines verfassungsmäßigen Status quo, dann um eine asymmetrische Föderation und schließlich um einen staatenbündischen Zusammenschluß angesichts des Widerstandes der Protagonisten eines zentralistischen Bundesstaates gegen gewaltsamen Veränderungen der Grenzen der früheren Republiken gescheitert sind. Es ist verständlich, daß in den turbulenten Zeiten der Wiederbelebung der nationalen Frage vergleichende und innenpolitische Aspekte des Föderalismus und der Staatenbünde sowie Fragen des Europäischen Föderalismus die Aufmerksamkeit von Politikwissenschaftlern wie Juristen fanden. Da sich in jüngsten Zeiten Fallbeispiele für die Realisierung des Selbstbestimmungsrechtes auffinden lassen, sind einführende vergleichende Studien zu diesem Fragenkreis durchgeführt worden. Zwischen Norwegen und Slowenien wurde ein gemeinsames Projekt begonnen mit der Zielset471

Vgl. dazu auch die Werke anderer Sozialwissenschaften, insbesondere das Heft 57 von Nova Revija (Neue Zeitschrift), das 1987 speziell der slowenischen nationalen Frage gewidmet war.

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

zung, diese beiden Länder in ihren grundlegenden Erfahrungen zu vergleichen. Diese Untersuchungen haben ergeben, daß die Emanzipation der slowenischen Nation und ihre Nationalstaatsbildung trotz mancher nationalistischer emotionaler Ansprüche nicht auf ein geschlossenes System ausgerichtet ist, sondern als offener Prozeß mit Bestrebungen zur Integration in der weiteren Region, Europa und der Welt verstanden werden muß. Von erheblicher theoretischer Bedeutung für die Einschätzung eines politischen Systems, im vorliegenden Fall des neuen slowenischen Staates, sind auch die Aspekte der vergleichenden Regimenlehre. Das Bewußtsein um breitere Integration Sloweniens ist durch Untersuchungen über den Prozeß der Regionalisierung vertieft worden. Einige zentrale Aspekte des europäischen Regionalismus, z.B. die grenzüberschreitende und internationale Zusammenarbeit von Regionen, die Rolle von subnationalen Regionen in innenpolitischen und supranationalen Entscheidungsprozessen, das juristische und politische Verständnis der regionalen Zusammenarbeit sind ebenfalls in Forschungsarbeiten untersucht worden. Auf der anderen Seite wurde in jüngster Zeit der Prozeß der Europäischen Integration im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union zu einem Gegenstand des besonderen Interesses in der slowenischen Politikwissenschaft, vor allem im Hinblick auf die wirtschaftlichen Aspekte der Beziehungen Sloweniens zur Europäischen Gemeinschaft, aber zunehmend auch hinsichtlich ihrer politischen Struktur und ihres politischen Prozesses in Hinblick auf die Rolle slowenischer Interssengruppen auf der Ebene der Europäischen Union. Aufmerksamkeit ist ebenfalls dem Konzept der Neutralität angesichts des Wandels der internationalen Bedingungen gewidmet worden. Vor dem Hintergrund dieser gleichzeitigen Entwicklungen von sowohl nationaler Emanzipation als auch weiterer internationaler Integration ist der neue Ansatz zu einer slowenischen Außenpolitik zu verstehen. Besondere Aufmerksamkeit kommt dabei dem Überdenken und der Ausarbeitung einer neuen Strategie Sloweniens in den europäischen und internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu, der Integration der slowenischen Wirtschaft in die Weltwirtschaft, den ausländischen Investitionen in Slowenien und Mitteleuropa usw. Dieser Fragenkreis ist unter dem breiteren Kontext der gegenwärtigen Prozesse der Desintegration und Internationalisierung, der Dezentralisation und Globalisierung der neuen technologischen Realitäten, einschließlich der Rolle multinationaler Firmen in den internationalen Beziehungen, angegangen worden. Die hauptsächlichen Forschungsbemühungen auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen sind kürzlich, wie unten zu

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schildern sein wird, in einem besonderen Forschungsprojekt zur Stellung Sloweniens in der gegenwärtigen Welt integriert worden. Nachdem Slowenien ein unabhängiger Staat geworden ist, gewannen sicherheitspolitische Studien an Bedeutung. Der Beitrag solcher Studien zur Stärkung der Souveränität und des nationalen Selbstbewußtseins in kritischen Zeiten ist hervorgehoben worden. So wurden die Rolle des Militärs, des militärisch-industriellen Komplexes, des Militarismus und der Entmilitarisierung, die Beziehungen zwischen ziviler und militärischer Gewalt und die nationale sowie internationale Sicherheit thematisiert. Das Militär, wie allgemein anerkannt wird, spielt auch eine entscheidende Rolle beim Übergang vom politischen Monismus zum Pluralismus, natürlich auch im Prozeß der Auflösung eines alten und der Entstehung eines oder mehrerer neuerer Staaten auf seinem Gebiet. Die sicherheitspolitischen Studien in Slowenien kommen nicht umhin, so zentrale Fragen wie die Rolle der früheren jugoslawischen Armee in den jugoslawischen Krisen, deren Einstellung zum politischen Parteienpluralismus und ihre verblassende Legitimität in Slowenien zu untersuchen. Auch der Zehntage-Krieg im Sommer 1991 in Slowenien zwischen der jugoslawischen Armee und den slowenischen Territorialverteidigungskräften hat wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Ebenfalls analysiert wurde die Rolle der Massenmedien im Serbo-Kroatischen Konflikt. Auch Fragen der nationalen Identität und Sicherheit wurden beachtet. Jüngst ist ein umfassendes Forschungsprojekt zur nationalen Sicherheit Sloweniens ausgearbeitet worden. Es zielt auf die Analyse der neuen Ansätze einer Verteidigungspolitik in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges und die Formulierung einer spezifischen Sicherheitspolitik Sloweniens als eines unabhängigen Staates ab. Die Verteidigungsforschung beruht ganz erheblich auf politikwissenschaftlichen Erkenntnissen, da die Verteidigung ein Teil des Staates und seiner internationalen Beziehungen ist; sie wird aber auch durch soziologische Ansätze (empirische Sozialforschung, Berufs- und Organisationssoziologie usw.) und die Kommunikationswissenschaften

mitgetragen,

nicht zu vergessen weitere Disziplinen wie die Technologischen Studien, Medizin, Psychologie usw. Die sicherheitspolitischen Studien werden schließlich mit drei weiteren zentralen Fragenkomplexen konfrontiert: den militärischzivilen Beziehungen insbesondere nach dem Ende des Kalten Kriegs und in den "neuen Demokratien" 472 , der Integration Sloweniens in Formen der kollektiven Sicherheit (z.B. NATO, Europäische Union, Partnerschaft für den Frieden) sowie der Friedensforschung. 472 2u diesen Fragen sind 1994 vom Zentrum für Verteidigungsstudien zwei internationale Konferenzen organisiert worden.

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Der Umbau des Lehrplans Es ist verständlich, daß auch die Lehrplanentwicklung in der Politikwissenschaft von den allgemeinen Entwicklungen und der jüngsten politischen Transformation beeinflußt wurde. Nachdem man nach dem Muster der zeitgenössischen internationalen Politikwissenschaft mit ihrem Kern von klassischen Teildisziplinen (Politische Ideengeschichte, Politische Theorie, Politisches System, Vergleichende Regierungslehre, Internationale Beziehungen) ein solides Fundament aufgebaut hatte, schloß sich Anfang der 90er Jahre die letzte Lehrplanreform im Rahmen der allgemeinen Umstrukturierung der Fakultät für Soziologie, Politikwissenschaft und Journalismus (FSPJ) an, die 1991 in eine Fakultät für Sozialwissenschaften umbenannt wurde und immer noch die einzige Institution in Slowenien ist, in der das Fach Politikwissenschaft studiert werden kann. Die übrigen sozialwissenschaftlichen Fächer (wie Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Statistik,

Computerwissenschaft,

Methodologie der empirischen Forschung usw.) waren bereits Bestandteil des politikwissenschaftlichen Lehrplans und brauchten daher in dieser Phase des Übergangs zur pluralistischen Demokratie nicht verändert werden. In der Politikwissenschaft hatte bereits in den 80er Jahren eine intensive Debatte darüber stattgefunden, ob ihr Lehrplan nicht einer erheblichen Modernisierung durch die stärkere Orientierung an Policy-Fragen bedurfte. Einige Teilgebiete hatten bereits in Reaktion auf die Veränderungen in der Welt und in Slowenien (Jugoslawien) ihre Inhalte und ihre Bezeichnung angepaßt. Auf jeden Fall muß betont werden, daß der neue politikwissenschaftliche Lehrplan, der im akademischen Studienjahr 1991/92 in Kraft trat, nicht lediglich auf einer äußerlichen, rein ornamentalen Anpassung beruhte. Ganz im Gegenteil verstand das Fach die Lehrplanreform in den allgemeinen Sozialwissenschaften und der Politikwissenschaft als Antwort auf die tiefgreifenden politischen Veränderungen im Land und seiner internationalen Umwelt sowie in Antizipation der neuen Bedürfnisse einer postkommunistischen Gesellschaft und Politik sowie unter Aufnahme der neueren, nämlich mehr praxisbezogenen, Trends in der internationalen Politikwissenschaft. Im neuen politikwissenschaftlichen Curriculum wurden jene Teildisziplinen eliminiert, die ideologisch überfrachtet (Moderner Sozialismus; Theorie und Praxis der Selbstverwaltung, usw.) oder durch die Entstehung eines eigenständigen slowenischen Staates obsolet geworden waren (Politisches System Jugoslawiens). Auf der anderen Seite wurde stärkeres Gewicht gelegt auf die konkreten Strukturen der Regierung und deren Verhältnis zur politischen und

Politikwissenschaft in Slowenien

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bürgerlichen Gesellschaft sowie den Staatsbürgern. In den Lehrplan wurde beispielsweise sowohl der Gesetzgebungsprozeß als auch die öffentliche Verwaltung, die öffentlichen Finanzen, die Haushaltspolitik und ähnliche Themen integriert. Dem Bereich der Gesellschaft wurde durch die Themengebiete der politischen Parteien und der Interessengruppen eine hervorgehobene Stellung eingeräumt. Ein besonderer Kurs über die Menschenrechtspolitik wurde eingerichtet, und eine wichtige Veränderung im Lehrplan war auch die Einführung eines neuen Kurses zur Policy-Analyse. Durch all diese Veränderungen wurden die innenpolitischen Studiengebiete erheblich modernisiert und gegenüber der politischen Wirklichkeit aufgeschlossen. Sie ermöglichten es auf diese Weise den Studierenden, die politischen Institutionen und Prozesse zu verstehen und zu analysieren. Diese Feststellung trifft auch, mehr oder weniger, auf die anderen Abteilungen des politikwissenschaftlichen Lehrplans zu. Im Studium der Internationalen Beziehungen wurden Themen wie die Europäische Integration, die internationalen Organisationen, die Diplomatie und die internationalen Verhandlungen eingeführt. Geplant ist auch, die Europäischen Studien entsprechend fortzuentwickeln.

Die Organisation von politikwissenschaftlicher Lehre und Forschung Die zumindest derzeit einzige Institution in Slowenien, an der Politikwissenschaft studiert werden kann, ist die Fakultät für Sozialwissenschaften an der Universität Ljubljana. Diese Fakultät, Nachfolgerin der früheren Fakultät für Soziologie, Politikwissenschaft und Journalismus, erhielt ihren neuen Namen im Oktober 1991 in Folge der Veränderungen in ihrem Lehr- und Forschungsprogramm wie auch als Konsequenz des politischen Wandels. Von besonderer Bedeutung ist die neue Einteilung der Fakultät in vier Fachbereiche, in denen jeweils Lehre und Forschung in den grundlegenden Fächer erfaßt werden sollen. Neben dem Fachbereich für Soziologie, dem Fachbereich für Kommunikation und dem für Kulturwissenschaften sind die einschlägigen Lehr- und Forschungseinheiten auf dem Gebiet der Politikwissenschaft im Fachbereich für Politikwissenschaft (Vorsitzender: a.o. Professor Bogomir Ferfila) zusammengefaßt worden. Dieser Fachbereich ist gegliedert in in vier Lehrstühlen und drei Forschungszentren: Die vier Lehrstühle, die jeweils die Lehre und das Lehrpersonal auf den entsprechenden Gebieten organisieren, sind folgende: Der Lehrstuhl für Theoretisch-Analytische Studien (Adolf Bibic). Die Arbeit dieses Lehrstuhles

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

konzentriert sich auf die grundlegenden theoretischen Themengebiete, verbunden mit einem Schwerpunkt in methodologischen Fragen. Die Studierenden haben hier eine recht freie Auswahl ihrer Studiengegenstände. In jüngster Zeit sind insbesondere Vergleichsfragen hervorgehoben worden. Der Lehrstuhl für Policy-Analyse und öffentliche Verwaltung (Drago Zajc) soll den Studierenden besondere Kenntnisse auf dem Gebiet der Strukturen und Prozesse der Regierungsinstitutionen und ausgewählter Politikfelder vermitteln. Diese Studienmöglichkeit spielt eine wichtige Rolle bei der Qualifizierung insbesondere für den staatlichen und halbstaatlichen Apparat. Der Lehrstuhl für Internationale Beziehungen (Bojko Bucar) koordiniert und organisiert einen der wichtigsten Lehrbereiche an der FSS. Weitgehend interdisziplinär angelegt, ist der Lehrstuhl auf internationale Studien zentriert und bereitet Studierende vor allem auf Berufstätigkeiten im auswärtigen Dienst und in internationalen Institutionen vor. Der Lehrstuhl für Sicherheitspolitik (Ljubica Jelusic) ist mit der Vermittlung von Spezialwissen auf den Gebieten der nationalen Sicherheit, des zivilmilitärischen Verhältnisses sowie von Krieg und Frieden betraut. Die sicherheitspolitischen Studien als ein besonderer Sektor der Politikwissenschaft sind allgemein verwurzelt in den sozialwissenschaftlichen Disziplinen und bereiten auf Tätigkeiten in verschiedenen militärischen und zivilen Berufen Sloweniens vor. Zwischen 1961 und 1993 haben in Politikwissenschaft einschließlich den Internationalen Beziehungen 502 Studierende und in Sicherheitspolitik 265 Studierende (seit 1980) ihren Abschluß erhalten. Im Studienjahr 1993/94 waren von insgesamt 1719 Studierenden an der Universität von Ljubljana 369 in politikwissenschaftlichen Studiengängen, d.h. auf den Studiengebieten von Theorie und Analyse, Policy, öffentlicher Verwaltung, Internationalen Beziehungen und Verteidigung eingeschrieben. Dem Fachbereich für Politikwissenschaft und seinen Lehrstühlen ist auch die Verantwortung für die Gestaltung und Durchführung der Postgraduiertenstudien übertragen, insbesondere des Magistergrades, aber auch der weiteren Spezialisierung. Gegenwärtig stehen folgende Möglichkeiten im Rahmen der zweijährigen postgradualen Magisterstudien offen: - Policyanalyse: Europäische Aspekte; - öffentliche Verwaltung; - Amerikastudien; - Internationale Beziehungen; - Verteidigungsstudien.

Politikwissenschaft in Slowenien

359

Die Postgraduiertenstudien haben in Form von Wochenendveranstaltungen einen recht elitären Charakter, vor allem für diejenigen, die sich auf die Doktorpromotion vorbereiten. Die Forschungszentren im Fachbereich für Politikwissenschaft, die zusammen mit den soziologischen, kommunikations- und kulturwissenschaftlichen Forschungseinheiten konstituierender Bestandteil des Instituts für Sozialwissenschaft der FSS 473 sind, decken die hauptsächlichen theoretischen und empirischen Aspekte des politischen Lebens, sowohl der Innen- wie der Internationalen Politik, ab. Die Forschungsarbeit ist zur Zeit in den drei folgenden Forschungszentren organisiert: Das Zentrum für politologische Forschung (Vorstand: Adolf Bibic) setzt sich mit den fundamentalen Fragen der Entwicklung der Politikwissenschaft und der Grundlagenforschung in politischer Theorie und politischen Ideen auseinander. Es beschäftigt sich außerdem mit politischen Institutionen und Prozessen, politischer Sozialisation, insbesondere in der Slowenischen Republik, und bemüht sich um die Einführung der Policy-Forschung. Zur Zeit setzt sich das wichtigste Forschungsprojekt des Zentrums mit dem Fragenkomplex von Theorie und Praxis des zeitgenössischen Pluralismus und der Demokratie auseinander (Koordinator: Adolf Bibic). Mit diesem Projekt verbunden sind Forschungsvorhaben über das slowenische Parlament, die Rolle der slowenischen Interessengruppen auf der Ebene der Europäischen Union, die Rolle des Neokorporatismus in Slowenien im Vergleich zu seiner Rolle in der Tschechischen Republik und schließlich ein Projekt über Wahlverhalten. Das Zentrum für Internationale Beziehungen ist die Forschungseinheit auf dem Gebiet der internationalen politischen Beziehungen. Sein Ziel sind neben Untersuchungen über die theoretischen Grundlagen der internationalen und vergleichenden Aspekte der Politik Forschungen über die internationalen Institutionen und Prozesse, die Außenpolitik, den Regionalismus und die Europäische Integration. In jüngster Zeit haben die internationalen Wirtschaftsbeziehungen einen hervorgehobenen Platz im Forschungsprogramm erlangt. Das zentrale Forschungsprojekt in diesem Zentrum behandelt die gegenwärtige Stellung Sloweniens in der Welt (Koordinartor: Marjan Svetlicic). In dieses Vorhaben ist die Untersuchung der Rolle von kleineren Staaten in den internationalen Beziehungen eingeschlossen. Neben diesem grundlegenden Projekt umfaßt das Programm des Zentrums gegenwärtig Forschungen zur Friedenssicherung, zur europäischen Integration und zu den europäischen politischen Institutionen sowie über das Konzept der Neutralität nach dem Kalten 473

Das Institut für Sozialwissenschaften ist 1991 durch den Zusammenschluß des Forschungsinstituts der FSPJ und des Instituts für Soziologie entstanden.

360

Kapitel IV: Politikwissenschalt in Osteuropa

Krieg. Das Zentrum hat, nachdem es zwei prominente Mitglieder (Petric, Beblar) an den diplomatischen Dienst verloren hat, vor kurzem wieder expandiert. Das Zentrum für Sicherheitspolitik organisiert die Erforschung der grundlegenden Konzeptionen auf dem Gebiet von Sicherheit und Verteidigung, der Rolle des Militärs in der Gesellschaft und der Beziehungen zwischen zivilem und militärischen Bereich. Probleme des Friedens und der friedlichen Lösung von Konflikten, sowohl bestehenden als auch potentiellen, werden mit dem Ziel untersucht, diese zu überwinden oder zu verhindern. Deshalb ist sowohl der Militarismus als auch das Phänomen des Krieges, der Demilitarisierung und des Friedens ein Untersuchungsgegenstand. Die hauptsächlichen Forschungsbemühungen dieses Zentrums finden im Rahmen des Projektes über Nationale Sicherheit von Slowenien (Koordinator: Anton Grizold) statt. Die Forschungsbemühungen beziehen sich aber auch auf den Einfluß des Wandels der internationalen Lage auf zivile und militärische Einstellungen; den militärischen Beruf sowie auf die nukleare Bewaffnung und ihre Kontrolle.

Die Slowenische Politikwissenschaftliche Vereinigung Die Slowenische Politikwissenschaftliche Vereinigung hat in Reaktion auf die Veränderungen in Gesellschaft und Politik, insbesondere während der vergangenen acht Jahre, eine bedeutsame Entwicklung durchgemacht. Im Zeitraum von 1989 bis 1993 organisierte die Vereinigung in gewohnter Weise ihre jährlichen Konferenzen. Sie formulierte außerdem einen Ethikkodex für das Fach, in welchem die Regeln des ethischen Verhaltens in der Profession definiert wurden. Indem die Jahrestreffen mit der Präsentation von Forschungsergebnissen verbunden wurden, gelang es, den Konferenzen eine stärkere professionelle Untermauerung zu geben. Für diese Veränderungen gab es zahlreiche Gründe, insbesondere den sich in den 80er und zu Beginn der 90er Jahre entfaltenden politischen Pluralismus, die positiven Ergebnisse bei der Öffnung der Vereinigung gegenüber internationalen Kontakten, den Einfluß der jüngeren Generation und das wachsende Selbstbewußtsein der Disziplin. Die jüngsten Aktivitäten der SPSA können am besten illustriert werden anhand der Abfolge ihrer sechs Jahreskonferenzen, die seit 1989 jährlich jeweils am letzten Maiwochenende in Ankaran und 1994 in Dolenjske Toplice abgehalten worden sind. Die Themen der Konferenzen bzw. der entsprechenden Veröffentlichungen lauten wie folgt:

Politikwissenschaft

in Slowenien

361

- Politischer Pluralismus und die Demokratisierung des öffentlichen Lebens (1989), - (Kon-) Föderalismus, Mehrheitsprinzip, Entscheidungsfindung, Konsens, Wahlen '90 (1990), - Parlamentarismus: Probleme und Perspektiven (1991), - Die Entstehung des Slowenischen Staates (1992), - Probleme der Konsolidierung der Demokratie (1993), - Politische Parteien und Parteienanhängerschaft (1994). Von besonderer Bedeutung war die erste Konferenz in Ankaran im Jahr 1989, auf welcher der Durchbruch zu einem politischen Pluralismus insofern zu einem kritischen Zeitpunkt erfolgte, als dieser in Slowenien noch nicht legalisiert war. Obwohl die politische Pluralität in der Wirklichkeit schon in Erscheinung trat, war das Prinzip doch noch umstritten, zumal im jugoslawischen Rahmen. Die Verhandlungen der Konferenz waren daher ein Beitrag zur endgültigen Anerkennung des politischen Pluralismus in Slowenien und seiner anschließenden Legalisierung in den Monaten von September bis Dezember 1989. Die Konferenz wurde von zahlreichen prominenten Politikwissenschaftlern auch aus anderen Teilen des früheren Jugoslawiens und einigen ausländischen Politikwissenschaftlern besucht. Sie fand in den Medien erhebliche Beachtung und war damit nicht nur für das öffentliche Ansehen der Vereinigung als einer selbständigen Organisation, sondern auch für ihren politischen Einfluß von Bedeutung. Die folgenden Jahreskonferenzen behandelten zentrale Fragen des demokratischen Übergangs und der nationalen Selbständigkeit des neuen slowenischen Staates sowie der Konsolidierung der politischen Demokratie. Durch diese Konferenzen hat die slowenische Politikwissenschaft ihr professionelles Profil unter den Bedingungen des politischen Pluralismus konsolidieren können. Die SPSA mit ihren rund 80 Mitgliedern fährt fort, der Organisation durch neue Fachpublikationen ein noch deutlicheres Profil zu geben und ihre Bemühungen um die Internationalisierung des Faches zu vertiefen.

Die Internationalisierung des Faches Die Internationalisierung ist eine Errungenschaft aller Sozialwissenschaften einschließlich der Politikwissenschaft. Sie ist verursacht worden durch allgemeine internationale Tendenzen, die im Fall der slowenischen Politikwissenschaft aber mit zwei weiteren Faktoren verknüpft sind. Der erste hängt zusammen mit den Veränderungen des grundlegenden Paradigmas der Diszi-

362

Kapitel IV: Politikwissenschaff in Osteuropa

plin. Der zweite ist verbunden mit dem neuen autonomen Status der Slowenischen Politikwissenschaftlichen Vereinigung. Alle drei Faktoren zusammen haben die Bedeutung der internationalen Dimension des Faches unterstrichen. Die Politik aller bestehenden politikwissenschaftlichen Institutionen und insbesondere der Slowenischen Politikwissenschaftlichen Vereinigung zielt ab auf die Ausarbeitung eines kohärenten Programms der Öffnung der Disziplin gegenüber verstärkten internationalen Kontakten, insbesondere durch die Entwicklung regionaler und bilateraler Kooperationen, die Zusammenarbeit in übernationalen Forschungsprojekten, die Organisation von bilateralen und multilateralen wissenschaftlichen Konferenzen und den Austausch von Manuskripten bedeutender Politikwissenschaftler sowie der Erarbeitung des klassischen politikwissenschaftlichen Erbes. Die Slowenische Politikwissenschaftliche Vereinigung hat ihr Interesse an internationaler Kooperation auch durch die Beteiligung an der IPSA und jüngst auch am ECPR dokumentiert. Während einzelne slowenische Politikwissenschaftler schon seit den 70er Jahren in dem Weltverband aktiv sind, haben sie ihr Engagement jüngst auch institutionell bestätigt. Die Slowenische Politikwissenschaftliche Vereinigung, die zunächst als Mitglied des Verbandes politikwissenschaftlicher Vereinigung in Jugoslawien etabliert worden war, erklärte sich selbst im November 1991 zu einem vollständig unabhängigen Berufsverband und wurde daraufhin im Jahr 1992 von der IPSA als Mitglied aufgenommen. Die Vereinigung hat in der Folge in Zusammenarbeit mit dem Forschungskomitee der IPSA über Sozio-Politischen Pluralismus im September 1993 in Bled eine internationale Konferenz über "Bürgerliche Gesellschaft, politische Gesellschaft und Demokratie" durchgeführt. Die SPSA hat auch veranlaßt, daß die Fakultät für Sozialwissenschaften, d.h. ihre Abteilung für Politikwissenschaft, als erstes Mitglied aus einem früheren sozialistischen Staat dem ECPR beigetreten ist. Der ECPR ist auf diese Weise zu einem wichtigen Bezugspunkt der Zusammenarbeit von slowenischen Politikwissenschaftlern mit der europäischen Politikwissenschaft geworden. Slowenische Politologen nehmen an zahlreichen weiteren europäischen regionalen und internationalen Berufsorganisationen teil und schreiben Beiträge für deren Zeitschriften. Es ist offensichtlich, daß sich der slowenischen Politikwissenschaft eine weite Perspektive internationaler Zusammenarbeit eröffnet, deren Ausnutzung jedoch von den beschränkten Ressourcen abhängen wird.

Politikwissenschaft in Slowenien

363

Ergebnis Dieser Überblick über den Zustand der Politikwissenschaft in Slowenien soll im Bewußtsein der Bescheidenheit, aber auch der Hoffnung zusammengefaßt werden. Das Fach hat in Slowenien nicht die Ausstattung, um sich mit größeren Ländern mit längerer Tradition in der Politikwissenschaft vergleichen zu können. Verschiedene Faktoren sowohl innerer als auch äußerer Natur haben die Politikwissenschaft in Slowenien in einer relativ schwachen Position gehalten, selbst im Vergleich mit anderen Sozialwissenschaften im Lande. Man kann nicht vorhersagen, wie die Wechselfälle des politischen Lebens in Zukunft die Stellung der Disziplin beieinflussen werden. Der politische Pluralismus hat aber mehr als jedes andere politische System die Politikwissenschaft begünstigt, und sie kann so mit guten Gründen vorsichtig optimistisch ihrer Zukunft entgegengesehen. Das Fach war erfolgreich bei der Modernisierung seines Lehrplanes und der Anpassung an die Erfordernisse eines komplexeren pluralistischen politischen Systems. Die Forschung auf dem Gebiet der Politikwissenschaft hat sich auf neue Themengebiete der inneren und internationalen Politik verlagert, die von entscheidender Bedeutung für die Konsolidierung der parlamentarischen Demokratie und für die Entwicklung einer empirischen Untersuchung der Prozesse und Institutionen des neuen slowenischen Staates und der Prozesse der europäischen Integration sind. Es ist abzusehen, daß die Politikwissenschaft auch in Slowenien mit neuen Fragen und Herausforderungen konfrontiert werden wird. Man sollte sich bewußt sein, daß die Qualität des politischen Lebens, die Güte der Demokratie und die Leistungskraft der politischen Institutionen in der postkommunistischen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung für die Stellung der Politikwissenschaft sein werden. Aber die Verpflichtung der Disziplin zur Stärkung ihrer kognitiven Funktion und ihrer praktischen Anwendbarkeit wird und soll auch ein Beitrag zur Rationalisierung und Demokratisierung des politischen Lebens sein. Die Selbständigkeit des Faches und seine Verantwortlichkeit sind grundlegende Bedingungen für seine zukünftige Fähigkeit zur weiteren Selbsttransformation und professionellen Indentitätsbildung als Antwort auf neue Herausforderungen.

364

Kapitel IV: Politikwissenschaft

in

Osteuropa

Assen Ignatow

Politikwissenschaft in Rußland

Allgemeine Bemerkungen: Der Paradigmenwechsel und seine Schwierigkeiten Die offizielle sowjetische Gesellschaftslehre kannte keine Politikwissenschaft als selbständige Disziplin. Thematisch war jedoch der sogenannte "Wissenschaftliche Kommunismus" grosso modo so etwas wie eine marxistisch-leninistische Politikwissenschaft. Diese Lehre ging von den Grundsätzen des dialektischen und historischen Materialismus und der marxistischen politischen Ökonomie aus, die als unantastbare Wahrheiten galten und nie in Zweifel gezogen werden durften. Diese deduktive Dogmatik, die die Betrachtungsweise des "Wissenschaftlichen Kommunismus" bestimmte, versperrte ihm von Anfang an den Weg zu einer objektiven, unvoreingenommenen Untersuchung der politischen Strukturen und Prozesse der Sowjetgesellschaft wie auch ihres Antipoden - der westlichen pluralistischen Gesellschaften. Die Vertreter des "Wissenschaftlichen Kommunismus" übersahen regelmäßig alles, was mit ihren vorgefaßten Ideen nicht im Einklang stand. Was als Beschreibung und Analyse der politischen Organisation der "sozialistischen" und "kapitalistischen" Gesellschaft angeboten wurde, stellte meistens politische Propagandalosungen und Willensäußerungen dar. "Wachsende Rolle der Partei", "stetige Entwicklung der sozialistischen Demokratie", "moralischpolitische Einheit des Volkes" in der kommunistischen Welt, "Zuspitzung der Krise", "Fäulnis", "Verschärfung der Klassenkonflikte" im Westen: Diese polaren "Gesetzmäßigkeiten"

markierten

den

konzeptionellen

Rahmen

des

"Wissenschaftlichen Kommunismus". Aber die Ereignisse haben ad occulos gezeigt, daß das, was als "Gesetzmäßigkeit" fungierte, nichts von der Unaufhebbarkeit einer realen Gesetzmäßigkeit hatte. Das Ende der Parteiherrschaft ebnete den Weg zur Entstehung einer Politikwissenschaft, die den Normen einer wissenschaftlichen Forschung, wie sie in der modernen Welt verstanden werden, entspricht. Dies geschah in einer doppelten Weise: erstens demonstrierte der Zusammenbruch des Kommunismus die Irrtümlichkeit der marxistisch-leninistischen Dogmen. Zweitens ermöglichte die politische und wissenschaftliche Freiheit die freie Meinungs-

Politikwissenschaft in Rußland

365

äußerung sowie die Kontakte mit der internationalen Forschungsgemeinschaft. Gegenwärtig ist das Wort "Politikwissenschaft", meistens "Politologie" (politologija) genannt, ein modisches Wort in Rußland. Die Anzahl der "Politologen" oder derjenigen, die sich so nennen, wächst stetig. Ständig werden auch neue, z.T. sehr kurzlebige "Institute" und "Zentren" gegründet. Die Politologen erfreuen sich einer starken Präsenz in der Presse und in den anderen Medien. Regierungsinstitutionen, Parlament sowie politische Parteien und Bewegungen sind bemüht, ihren Positionen mehr Gewicht zu verleihen, indem sie sich auf die Meinung der "Politologen" berufen oder über Politologen als Konsultanten und Analytiker verfügen. Man kann sogar sagen, daß eine regelmäßige Politikberatung existiert, was vor dem Hintergrund des traditionellen autoritären politischen Führungsstils in Rußland ein Novum ist. All das darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die neue russische Politikwissenschaft in einem embryonalen Zustand befindet. Es fehlen viele wichtige Voraussetzungen. Von fachlich ausgebildeten Politikwissenschaftlern kann praktisch nicht die Rede sein: Die Pioniere der russischen politikwissenschaftlichen Forschung kommen fast ausnahmslos aus anderen Wissenszweige oder Tätigkeiten; von Haus aus sind sie Philosophen, Historiker, Publizisten, - aber gerechtigkeitshalber darf nicht vergessen werden, daß die Situation im Westen, wo die Politikwissenschaft auch eine junge Disziplin ist, vor kurzem ähnlich war. Unter den Politikwissenschaftlern gibt es erstaunlich belesene Menschen, doch der Wissensvorrat ist im allgemeinen lückenhaft. Eifrig werden Werke maßgebender politischer Denker übersetzt bzw. neu herausgegeben, aber das Assimilieren des Gelesenen braucht natürlich seine Zeit. Eng damit verbunden sind die begrifflichen Verwechslungen und die thematische Unklarheit. Von der reichen Gliederung, die die westliche Politikwissenschaft charakterisiert, ist noch keine Spur zu sehen. Man unterscheidet nicht ganz deutlich zwischen Politikwissenschaft, Soziologie und Zeitgeschichte (freilich sind diese Grenzen auch im Westen nicht immer deutlich). Einige dieser Mängel werden wir im Verlauf unserer Darstellung veranschaulichen. Aus dem Gesagten folgt jedoch nicht, daß die politikwissenschaftlichen Untersuchungen im postkommunistischen Rußland keinen Wert besitzen. Ganz im Gegenteil: Die junge Wissenschaft hat Positives geleistet. Es gibt bereits eine Reihe von Analysen und Untersuchungen, die eine Pionierrolle hauptsächlich in der Erschließung der postkommunistischen politischen Wirklichkeit spielen und als Beiträge zu einer reiferen künftigen Phase der Politikwissenschaft anzusehen sind.

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

366

Probleme des Systemwandels: Dynamik und Faktoren Die Peripetien des politischen und (bisher nur embryonalen) ökonomischen Systemwandels nehmen einen herausragenden Platz in der politikwissenschaftlichen Forschung ein. Ein unmittelbarer Anlaß zur Diskussion waren die August-Ereignisse 1991, als die ultra-konservativen Kräfte der KPdSU das ancien regime zu restaurieren versuchten. Zur Erklärung der damaligen Krise bedienten sich einige Autoren komparativer Mittel. So verglich R. Rywkina den erfolglosen August-Putsch 1991 mit dem erfolgreichen November-Putsch 1917. Und sie drückt Gemeinsamkeiten und Differenzen folgendermaßen aus: "Beide sozialen Experimente wurden allmählich vorbereitet und von oben von einer Handvoll Verschwörern durchgeführt. In Wirklichkeit wurden beide Experimente um der politischen Machtergreifung willen in einer Situation durchgeführt, als die alte Macht im Lande zu schwanken begann. Endlich rührten beide Experimente an neuralgische Punkte des Volkes - mit den Losungen 'Frieden, Brot, Freiheit' (1917), 'Ordnung im Lande' (1991)". 474 Und beide Experimente - so die Autorin - sind "... Kinder einer Mutter: der kommunistischen Partei und ihrer Ideologie."475 Den Unterschied zwischen den beiden Situationen, der die Niederlage des Putsches 1991 erklärt, sieht Rywkina darin, daß 1991 das Volk seine Fehler von 1917 nicht wiederholte. Es habe nämlich einen "kleinen Unterschied" gegeben, der für die Verschwörer verhängnisvoll gewesen sei: der Putsch 1991 sei der zweite kommunistische Putsch gewesen; das "soziale Gedächtnis" habe gearbeitet, und daran seien die Putschisten gescheitert. "Im 'Input' der Putschsituation im Lande herrschte Verwirrung. Im 'Output' des Putsches waren wir alle politisch reifer."476 Die Autorin formuliert die Lehren der Ereignisse so: Die Russen haben begriffen, daß die Alternative nicht "Demokratie oder Ordnung", sondern "Demokratie oder repressives Regiment mit Panzern, Handschellen und Zensur" heißt. Die katalysierende Rolle der AugustEreignisse veranlaßt Rywkina deshalb zum Optimismus. Nach dem 21. August 1991, dem Tag der Niederlage der Verschwörung, entfernten sich die Menschen noch weiter von jenem Zustand, in dem sie sich um 1917 befunden hatten; ein nochmaliges Experiment sei unmöglich.

474

R. Ryvkina, 1917 ¡ 1991: dva kommunisticeskich eksperimenta, in: Izvestija, 23.9.1991

475

Ebd.

476

Ebd.

Politikwissenschaft in Rußland

367

Interessant sind auch die Betrachtungen von W. Danilenko. Nach seiner Ansicht entspricht die August-Wende im allgemeinen dem Begriff "bürgerliche Revolution". Aber diese bürgerliche Revolution weist wichtige Unterschiede zu den paradigmatischen bürgerlichen Revolutionen im Westen auf. "Das Unternehmertum als Klasse hat sich bei uns noch nicht gebildet. Deswegen unterscheiden sich die Logik der Entwicklung der Ereignisse scharf von dem, was zum Beispiel in der Periode der bürgerlichen Revolution im Westen geschah. Dort hat zuerst die Unternehmerklasse Kräfte gesammelt; eben sie stand an der Spitze des Kampfes um die politische Macht, und natürlich hat sie sofort nach der Revolution ihre wichtigsten Früchte geerntet. Bei uns entstand zuerst die Idee des freien Unternehmertums, später wurde in ihrem Namen die Revolution vollzogen, und erst danach wird wie beabsichtigt das freie Unternehmertum grünes Licht bekommen." 4 7 7 Bürgerliche Revolution ohne Bürgertum: ein echtes russisches Paradoxon. Welches sind seine Konsequenzen? Nach Danilenkos Ansicht droht das Verhängnis aller russischen Transformationsversuche - die Ohnmacht, die Unfähigkeit, etwas wirklich zu verändern - auch dieser Revolution. Die alten Verhältnisse hätten sich zu reproduzieren begonnen. Paradoxerweise habe gerade diese demokratische Revolution zu einer überraschenden Stärke der Exekutive und überhaupt der Staatsbürokratie geführt. Nach seinen Schätzungen habe sich der kommunale Verwaltungsapparat in Moskau verdoppelt. "Vor unseren Augen entsteht ein Monster, das sich keineswegs als weniger entsetzlich für die Gesellschaft erweisen kann als das, was wir soeben gestürzt haben." 478 Andere Wissenschaftler sind noch pessimistischer. Und sie stellen zum Teil sehr kühne Thesen auf. Witalij Kissunko z.B. widersetzt sich der verbreiteten Meinung, daß infolge der August-Revolution die KPdSU eine Niederlage erlitten habe. Solche Meinungen - so Kissunko - fallen einem trügerischen Schein zum Opfer. Dem Wesen nach existierte die KPdSU als einheitliche Partei seit langem nur formal. Hinter diesem Schleier existierten faktisch mehrere Parteien. "Der ganze Hokuspokus besteht gerade darin, daß es heute keine gefährlichere Illusion gibt als die, daß die KPdSU in ihrer konkreten bisherigen Ge-

477 4

V. Danilenko, Avgust 91: c'ja eto byla revoljucija?, in: Izvestija, 9.10.1991.

™ Ebd.

368

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

stalt so einfach 'stützte', 'die Positionen räumte!"479 Der Autor spricht sogar von einem "simulierten Sturz." 480 Widerspricht aber diese Hypothese nicht der unbezweifelbaren politischen Evidenz? Kissunko präzisiert, daß es sich nicht um Gruppierungen irgendwelcher illegalen - in juristischem Sinne des Wortes - handle. Die KPdSU bestehe als eine informelle, aber reale politische Kraft fort. Es gebe keine Niederlage, sondern nur eine Metamorphose. Sie habe noch vor der offiziellen Suspendierung der Parteiaktivitäten begonnen, als manche Parteifunktionäre mit der verblüffenden Behauptung auftraten, daß die Hauptsache die "Staatsidee" sei und ihr zugunsten sowohl die Organisationsform der Partei als auch die Parteiideologie aufgeopfert werden sollten. Die vermeintliche Niederlage der Partei habe diese Transformation nur fortgesetzt. "Es geschah ein einmaliger (razovoj) und massiver Verzicht auf die kommunistische Ideologie in jenen Formen, in denen sie seit langem nicht mehr fähig war, die eigentliche Einheit der Partei und dementsprechend die stabilisierende Rolle der Partei in unserem Staatssystem zu sichern."481 "Die kommunistische Hülle" sei etwas rein Äußerliches gewesen, das je nach den Umständen wegzuwerfen und durch eine andere, wirksamere Ideologie zu ersetzen wäre. Derselben Problematik, aber unter einem anderen Aspekt, widmet sich einer der qualifiziertesten russischen Politikwissenschaftler, Dmitrij Furman. Seine subtilen Gedanken gehören zum Wertvollsten, was über den politischen und gesamtgesellschaftlichen Revolutionsprozeß geschrieben wurde. Furman ist es gelungen, tiefer als viele andere die Eigenart des Geschehenen aufzufassen und eine Reihe von merkwürdigen Inversionen und Dependenzen aufzudecken. "Unserer Ansicht nach besteht die hauptsächliche 'Absonderlichkeit' dieser Ereignisse darin, daß sie - obwohl eine echte Revolution im Bereich der Ideologie und der politischen Institutionen - friedlich und unblutig und unter minimalen Veränderungen in der Zusammensetzung der Machtelite abliefen." 482 Die alte Nomenklatura habe auffallend schwachen Widerstand geleistet. Und am Ende sei erstaunlicherweise zu konstatieren, daß die Macht mit wenigen Ausnahmen von denselben Personen ausgeübt werde. 483 479

Vitalij Kisun'ko, "Na sledujuscij den' posle social'noj revoljucii...". Opyt svoevremennych razmyslenl v licach i epizodach. Epizod sed'moj: Gde kakaja partija?, in: Radikal (wöchentliche Beilage zu: Delovoj mir), 30.10.1991.

480

Ebd

« 1 Ebd. Dmitrij Furman, Nasa strannaja revoljucija, in: Svobodnaja mysl', No. 1, 1993, S. 9. 483

Vgl. ebd., S. 10.

Politikwissenschaft

in Rußland

369

Diese "Absonderlichkeiten" leitet Furman aus ihren ideologischen Hintergründen ab. Jeder Revolution geht ein langer Ideenprozeß voraus, hebt er hervor. Die offizielle Ideologie beginnt allmählich ihre Glaubwürdigkeit einzubüßen, wobei dieser Prozeß bei den gebildeten Schichten beginnt, genauer gesagt bei solchen gebildeten Schichten, die "genetisch" mit der alten Elite (als ihre "verlorenen Söhne") verbunden sind, und verbreitet sich allmählich im Volk. Etwas Ähnliches hat bereits in den 60er Jahren begonnen, als der Marxismus-Leninismus sich rasch diskreditierte, und seine Anziehungskraft immer schwächer wurde. Das war die Zeit der geistigen Auflehnung gewisser besonders ehrlicher und weitsichtiger Intellektueller gegen den Zynismus und die Lügen der alten Eliten. In dieser Hinsicht ähnelte das Verhalten der kritischen sowjetischen Intelligenzija dem Verhalten der vorrevolutionären Rebellen. In Solschenizyn und Sacharow erblickt Furman das neue Äquivalent von Herzen und Tschernyschwskij. Aber es gibt auch "kollossale Unterschiede". Die Dissidentenbewegung ist viel schwächer als die revolutionäre Bewegung im zaristischen Rußland. Deswegen vollzog sich die politische Wende auch viel glatter als der kommunistische Machtantritt. Die Ursache dafür liegt, so Furman, nicht in der Macht des kommunistischen repressiven Apparates und schon gar nicht in der seit langem verschwundenen Überzeugungskraft der kommunistischen Ideologie.484 Nach Furman liegen die Ursachen tiefer, und hier sind seine Gedanken interessant und sehr originell. Einerseits bezieht er sich auf den allgemeinen "Zeitgeist": nach der Herrschaft der religiösen Dogmatik im Mittelalter und der säkularisierten globalen Ideologien in unserer Zeit ist die "postideologische", "postmoderne" Epoche angebrochen, deren Klima für große und Monopolansprüche erhebende Ideologien ungünstig ist 485 Die Schwäche des "ideellen Lebens" (slabost' idejnoj zizni) in Rußland in den 70er und 80er Jahren ist unter anderem ein Reflex der allgemeinen Schwäche der Ideologien in der Welt. In diesem Zusammenhang skizziert der russische Politikwissenschaftler manche ungewöhnlichen Besonderheiten der ideologischen Konfiguration in der spätkommunistischen Periode der letzten zwei Jahrzehnte vor dem Zusammenbruch (die in dem offiziellen Diskurs der Gorbatschowschen Parteiführung als "Stagnation" umschrieben wurden). Die Tatsache, daß das kommunistische Unterdrückungssystem durch eine revolutionäre Ideologie ins Leben gerufen wurde, verlieh nach Meinung des Autors dem Verhalten der 484

Vgl. ebd., S. 11.

485

Vgl. ebd.

370

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

Dissidenten, aber auch dem der Machtelite ungewöhnliche Züge. Da die Dissidenten gegen ein System kämpften, das eine revolutionäre Ideologie verkörperte, konnten sie nach Ansicht Furmans selbst nicht wirklich revolutionär sein, zum revolutionären Sturz auffordern usw.: sie wußten ausgezeichnet, wohin solche Appelle führen. Durch eine ganz besondere Eigentümlichkeit sei auch das Verhalten der Machthaber gekennzeichnet. Wie Furman darstellt, war dieses Verhalten das Spiegelbild des Verhaltens der Opposition. So konnte der Bewacher (ochranitel') kein echter Bewacher sein, weil er eine Gesellschaftsordnung bewachte, die von der Revolution geboren wurde, was auch einen Widerspruch zwischen Funktion und Symbolik schuf und das "Biszum-Ende-Durchdenken" verhinderte - wie der analoge Widerspruch beim Dissidenten.486 Die den beiden Lagern eigene "Lähmung" (vjalost') ist nach Furman durch diesen Widerspruch zwischen den realen Bestrebungen der Menschen und der zu ihnen nicht passenden Symbolik zu erklären. 487 Überhaupt meint der russische Analytiker, daß im Lichte dieser eigenartigen Situation vieles verständlich wird. Der Konflikt zwischen Macht und Opposition war kleiner, als er schien, weil die ideologischen Unterschiede kleiner waren als angenommen. Weder waren die Revolutionäre echte Revolutionäre noch die Konservativen echte Konservativen. Die Nomenklatura selbst hat ihren ideologischen Glauben verloren; kein Wunder, daß auch der Kampf der oppositionellen Kräfte nicht besonders heftig sein konnte. Am Ende hatten die Ansichten von Gorbatschow und Solschenizyn, Jakowlew und Sacharow vieles gemeinsam. Furman schließt mit den pointierten und für zahlreiche russische Demokraten skandalösen Worten ab: "Die Jahre 1988 - 1991 hinterlassen den Eindruck eines Kampfes, in dem Pseudorevolutionäre gegen Pseudorevolutionäre kämpfen."488 Die oben dargestellten Analysen sind nur "Stichproben" aus einem besonders wichtigen Bereich: dem Bereich der politischen Prozesse, die sowohl am Systemwandel orientiert sind und zugleich als Phasen desselben betrachtet werden können. Hierin liegt ihre Bedeutung. Man kann ziemlich leicht auf gewisse für den heutigen anfänglichen Stand der russischen Politikwissenschaft charakteristische Unzulänglichkeiten hinweisen. Es ist z.B. schwer, die These des "simulierten Sturzes" der KPdSU 486

Ebd., S. 12. Konstantin Pobedonoszew (1827 - 1907) war von 1880 bis 1905 "Oberprokuror des Heiligen Synods", d.h. Vertreter des Zaren in der Leitung der Russischen Orthodoxen Kirche. Pobedonoszew ist zur Symbolfigur der zaristischen politischreligiösen Reaktion geworden.

487 Vgl. ebd., S. 12-13. 488

Ebd., S. 16.

Politikwissenschaft in Rußland

371

anzunehmen. In dieser These sind die Überreste des vorwissenschaftlichen mythologisierenden Denkens spürbar, das in der Sowjetperiode unter ideologischer Flagge blühte und ständig durch Verschwörungstheorien die realen Probleme zu umgehen suchte - früher waren es die Verschwörungen und Verstellungen des Imperialismus, jetzt die Tücken der KPdSU-Spitze. Analytische Unzulänglichkeiten zeigen sich auch in der ungewöhnlichen Behauptung von Kissunko, die KPdSU habe als "einheitliche" Partei seit langem nicht existiert.

Freilich

enthält

diese

These

ein

Körnchen

Wahrheit.

Die

"monolithische Einheit" war in der Tat ein Propagandawort, eine verbale Fassade: in der herrschenden Partei gab es - trotz offiziellen Fraktionsverbots mehrere informelle, "unterschwellige" Fraktionen. Aber unterschwellige Meinungsdiversität ist noch kein Argument gegen die Aktionseinheit. Es gab keine Gedankeneinheit, wohl aber eine Handlungseinheit. Wie der maßgebende französische Kenner des Sowjetsystems Alain Besancon bemerkt, glaubten viele nicht, aber alle machten mit. 489 Der russische Politikwissenschaftler Kissunko unterscheidet dagegen offenbar nicht (oder nicht explizit genug) zwischen behavior und experience; ein Unterschied, dessen Notwendigkeit in der westlichen Forschung erkannt wird. Dessen ungeachtet weist die neue russische Politikwissenschaft auch durchaus positive Ergebnisse auf; diese finden sich vor allem in der Spezifizierung des russischen Systemwandels, in der Klärung seiner Besonderheiten gegenüber dem "klassischen" westlichen Systemwandel (dem Übergang zur "bürgerlichen Gesellschaft") und gegenüber den revolutionären Prozessen, deren Endresultat die Etablierung des kommunistischen Systems 1917 war. Analysen des postkommunistischen Machtsystems: Demokratie, Totalitarismus, Autoritarismus Neben der Erforschung diachroner gesellschaftspolitischer Prozesse nimmt die Untersuchung synchroner politischer Konstellationen einen wichtigen Rang in der neuen russischen Politikwissenschaft ein. Ist ja schon an sich der Unterschied zwischen Synchronie und Diachronie in der Politik und Gesellschaft fließend, so gilt dies umso mehr für Rußland, wo sich alles noch in der Entwicklung befindet, in einem status nascendi. Immerhin ist dieser Zustand kein reines Werden, sondern die politische Organisation der Gesellschaft verfügt doch auch bereits über manche relativ feste und fixierbare Merkmale. Es stellt sich für die aufstehende Politikwissenschaft die Frage: Was ist das

489

Vgl. Alain Besancon, Present sovietique et passe russe, Paris 1980, S.209.

372

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

für ein sozialpolitisches Gebilde, das sich aus dem bisherigen Verlauf des Wandlungsprozesses herauskristallisiert? In den bisher publizierten Arbeiten, die diese Frage behandeln, dominiert die Feststellung, daß es - trotz der großen Siege Jelzins über seine Gegner keine wesentlichen Veränderungen in den Macht- und Eigentumsverhältnissen angebrochen sind. Der sozialdemokratische Publizist Wladimir Lifschitz meint, daß die alte kommunistische Machtelite - die sogenannte Nomenklatura - alles behalten habe; nicht nur die administrativen Vollmachten, sondern auch die Eigentumsrechte, die Subventionen, die Dotationen, die Zuschläge und Vergünstigungen. "Man tritt nur von jenem ab, das man wegen der Schwäche und der Abnutzung des Machtmechanismus nicht mehr halten kann, und man tritt es nur zugunsten verwandter, z.B. elitär-bürokratischer Kräfte, ab." 490 Ähnlich drückt sich auf Jurij Burtin aus. Freilich habe die Nomenklatura Zugeständnisse gemacht: sie habe ihre kommunistische Ideologie aufgegeben und mußte die Macht mit einer gewissen Anzahl "neuer Menschen", Aufsteigern aus der früheren Opposition, teilen. Aber gegen diese "unwesentlichen", sogar nur "symbolischen" Zugeständnisse habe sie einerseits "demokratische Legitimität", andererseits etwas viel Wichtigeres gewonnen: Eigentum. Zum Problem des Verhältnisses zwischen politischer Macht und Eigentum meint Burtin, daß während das alte Staatseigentum ein "korporatives Eigentum" der Nomenklatura war, dieses sich immer mehr in Privateigentum der Mitglieder der Nomenklatura verwandelt. So erfährt das Machtsystem eine wichtige Veränderung. Wenn das kommunistische Machtsystem eine "Partokratie" war, kann das gegenwärtige Staatssystem als "Plutokratie" bezeichnet werden. Diese "Plutokratie" ist jedoch ganz besonderer Art, weil sie nach wie vor im Besitz ihrer bürokratischen Privilegien ist. Sie ist eine eigenartige "bürokratischkapitalistische Plutokratie", eine neue Hybride.491 Kurz gesagt: Die Machtelite hat sich zwar umgruppiert und umgestaltet, sie legitimiert sich auch ideologisch nicht mehr durch den Marxismus-Leninismus, sondern durch einen leicht modernisierten großrussischen "Patriotismus", aber in personaler Hinsicht bleibt sie grosso modo dieselbe. Damit stellen sich als nächstes die Fragen: Wie stuft die russische Politikwissenschaft die gegenwärtige Organisationsform der russischen Gesellschaft ein? Ist Rußland eine Demokratie?

490 vadim Lifsic, Postkommunizm. Pravjascaja elita zainteresovanna v ego konservacü, in: Nezavisimaja gazeta, 24.2.1993. 491

Jurij Burtin, Cuzaja vlast', in: Nezavisimaja gazeta, 1.12.1922.

Politikwissenschaft in Rußland

373

Alle konstitutiven Merkmale der Demokratie sind im postkommunistischen Rußland vorhanden. Die Grundrechte und Grundfreiheiten sind respektiert. Präsident und Parlament sind demokratisch gewählt. Es gibt mehrere politische Parteien und Bewegungen. Die Kritik am Staatsoberhaupt und an der Regierung - etwas ganz Unvorstellbares im zaristischen und kommunistischen Rußland - ist üblich geworden: Sie füllt die Zeitungsspalten und erschallt von der Duma-Tribüne, und (obgleich mit gewissen Schwierigkeiten) vor dem Mikrophon und der Fernsehkamera. Doch die meisten russischen Analytiker sehen die Lage anders. Der angesehene Historiker, Publizist und Politiker Jurij Afanasjew skizziert das politische Bild des postkommunistischen Rußland folgendermaßen: Die Veränderungen sind geringfügig. Unberührt bleibt der alte sowjetische repressive Apparat einschließlich der politischen Polizei, dem früheren KGB. Nach wie vor vollzieht sich der politische Entscheidungsprozeß in einer Atmosphäre von Geheimniskrämerei und die landläufige Rede von einer "Revanche der Nomenklarura" ist keine rhetorische Übertreibung, sondern die genaue Umschreibung der Sachlage. Nach Afanasjews Ansicht bleibt die negative, undemokratische Kontinuität der russischen Geschichte ununterbrochen. Die provokative These des Autors lautet, daß nicht nur die Reaktionäre, sondern die Demokraten und Reformanhänger, mit denen er selbst zusammenarbeitet, wie Präsident Jelzin und Burbulis, geistige Kinder der berühmten Sobornost'Lehre sind. Im Geist der Sobornost' seien sie dem Wesen nach Anhänger des Vece-Prinzips, d.h. ihr Urmodell sei die slawische Volksversammlung (das Vece), wo alle Fragen gemeinsam gelöst wurden. Ein Resultat dieser Tradition ist nach Afanasjew gerade die gegenwärtige politische Ordnung Rußlands, die er "Volksherrschaft" (narodovlastie) nennt. Auf den ersten Blick könnte einen das in Erstaunen versetzen, da ja "Volksherrschaft" die wörtliche Übersetzung der "Demokratie" ist. Die narodovlastie hat jedoch mit "Demokratie" im westlichen Verständnis nichts zu tun. Afanasjew sieht in ihr sogar den wahren Antipoden der Demokratie. Die "Volksherrschaft" basiert auf der Eintracht (soglasie). Die Eintracht aber bedeutet in Wirklichkeit den Triumph gewisser Gruppen der Bevölkerung und die Niederlage anderer, keineswegs aber einen Kompromiß. "Die Demokratie ist Dialog. Die Volksherrschaft ist ein Monolog." 492 Aus dem Wesen selbst der "Volksherrschaft" als "Eintracht" ergibt sich das anhaltende Fehlen einer Gewaltenteilung. Nach wie vor besteht die Funktion des russischen Staates im Unterschied zu den westlichen demokratischen Staaten nicht darin, als In492

Jurij Afanas'ev, Nomenklatura na "schodke vecevoj". Rossijskoe obscestvo esce nel'zja azvat' grazdanskim, in: Nezavisimaja gazeta, 2.4.1992.

374

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

strument des Interessenausgleichs durch Kompromisse zu dienen. Bis heute gilt in Rußland - so Afanasjew - ein Imperativ, den er sarkastisch so formuliert: "Vernichtung aller, die mit der allgemeinen Eintracht nicht einverstanden sind" (die deutsche Übersetzung kann nicht das Wortspiel wiedergeben: "Programma unictozenija nesoglasnych s obscim soglasiem" 4 9 3 . So knüpft Afanasjew, ohne diesen Terminus zu gebrauchen, an die Konsensproblematik an. Er hebt hervor, daß das "Eintrachtsprinzip" kein liberaldemokratischer Konsens ist. Die "Volksherrschaft" bedeutet eigentlich die reale Unterstützung despotischer und tyrannischer Regime, populistischer und totalitärer Diktaturen durch die Mehrheit der Bevölkerung. Ähnlich ist die jakobinistische Auffassung der Demokratie. Die liberale Demokratie, die die Rechte der Minderheiten und des einzelnen Bürgers respektiert und rechtlich normiert, beinhaltet natürlich einen solchen Konsens nicht. Was den liberal-demokratischen Grundkonsens betrifft, der mit dem Pluralismus der demokratischen Gesellschaft, obwohl in der Praxis nicht ohne Schwierigkeiten, durchaus kompatibel ist, so gibt es in Rußland große und spezifische Schwierigkeiten, die zur Zeit gründlich diskutiert werden; in dieser Hinsicht ist vor allem der großangelegte Versuch von Alexander Achieser zu erwähnen. Nach ihm sind diese Schwierigkeiten im Gesamtverlauf der russischen Geschichte verankert; in ihr findet er eine konstante Situation, die er Spaltung (raskol) nennt (gemeint ist hier nicht das kirchliche Schisma im 17. Jahrhundert, das nur ein Einzelfall der allgemeinen Spaltung gewesen sei). Diese "Spaltung" ist keine einfache Konsensunfähigkeit, sondern ein permanenter und zugespitzter Konflikt zwischen den gesellschaftspolitischen Verhältnissen und der Kultur, d.h. auch der geistigen, der politischen und der Alltagskultur. Die Spaltung kann gelegentlich sogar zum "Selbstmord" der Gesellschaft, aber zumindest zu einer totalen Kommunikationslosigkeit führen: Kommunikationslosigkeit zwischen Machtelite und Massen, Machtelite und Kulturelite, Kulturelite und "Intelligenzija" (der breiten Schicht der sittlich und politisch engagierten Gebildeten), Masse und Intelligenzija. 494 Dies bedeutet u.a., daß die vom Westen übernommenen liberaldemokratischen Ideen und Werte von den verschiedenen, ihrer gegenseitigen Kommunikation beraubten, Gesellschaftsschichten verkehrt, ja grundfalsch verstanden werden. Achieser führt ein lehrreiches und frappantes Beispiel dafür an: Die Bauern haben das Zarenmanifest vom 17. Oktober 1905, das 493 494

E bd.

A. Achiezer, Russkij liberalizm pered licom krizisa, in: Obscestvennye nauki i sovremennost', 5, 1993, S. 140.

Politikwissenschatl in Rußland

375

politische Freiheiten oktroyierte, in dem Sinn verstanden, daß sie die Adelshöfe in Brand setzen dürften! Ähnliches meint Achieser, droht der russischen Gesellschaft auch in der gegenwärtigen politischen Situation. So interpretieren verschiedene Kreise die Demokratie äußerst merkwürdig: z.B. als völlige "Freiheit" von der Zentralmacht zugunsten der Eigenwilligkeit der lokalen Behörden oder auch ganz einfach als Willkür in einem rechtsfreien Raum. Auch andere Autoren meinen, daß Rußland noch weit von einem Grundkonsens der demokratischen Kräfte entfernt ist. W. I. Barinowa z.B. sieht in der Gesellschaft eine "Konfrontationskultur", die der Toleranz entgegenwirkt und sich ständig reproduziert.495 In einer vergleichenden Systemanalyse faßt W.W. Nawrozkij die hier von uns referierten mehr als skeptischen Thesen über die russische Demokratie zusammen. Nach Nawrozkij haben das kommunistische und das postkommunistische System zwei wichtige gemeinsame Charakterzüge: 1. Zusammenfallende Zwei-Ebenen-Stratifikation nach den Kriterien der politischen Macht, der sozialen Privilegien und des Eigentumsrechts; 2.

Machtpostulat, d.h. die Fähigkeit der herrschenden Elite stets herr-

schend zu bleiben. Deswegen besteht im postkommunistischen System eine Art "innerer Kommunismus."496 Im Zusammenhang damit taucht die Frage auf, welchem Modell die künftige Entwicklung der Gesellschaft folgen muß? Aus der Problemstellung selbst ergibt sich, daß es in diesem Punkt bereits schwierig ist, das DeskriptivAnalytische vom Prognostischen, ja vom Normativen zu trennen. Es ist auffallend, daß zahlreiche russische Politikwissenschaftler am ehesten für ein autoritäres Regime als für diejenige Staatsform optieren, die am adäquatesten der Eigenart des gegenwärtigen Rußland entspricht. Dabei betrachten sie das autoritäre System nicht als Gegensatz, sondern als Weg zur Demokratie. Der gemeinsame, fast einstimmige Tenor der Debatte lautet, daß es unmöglich sei, zur Demokratie unmittelbar und direkt überzugehen; daß die russische Gesellschaft noch nicht "reif für die Demokratie sei, folglich ein autoritäres Regime erst die Voraussetzungen für diesen Übergang schaffen müsse. "Auf dem Wege vom Totalitarismus zur Demokratie ist die Etappe des Autoritarismus unumgänglich. Bisher ist es niemandem gelungen, sie zu umgehen. Das wird auch uns nicht gelingen", behauptet zum Beispiel A. Kiwa. 497 495 vgl. V.l. Barinova, Konsensus kak odno iz glavnych uslovij razresenija politiceskich konfliktov, in: Social'no-poNticeskij zurnal, 5, 1995, S. 214. 496

497

Vgl. V.V. Navrockij, Kommunizm i postkommunizm: opyt sravnitel'nogo analiza, in: Social'no-politiceskij zurnal, 5, 1995, S. 210. A. Kiva, Opasat'sja Ii avtoritarnoj vlasti, in: Izvestija, 10.12.1990.

Kapitel IV: Politikwissenschaft

376

in

Osteuropa

Kiwa nimmt deshalb die autoritäre Macht gegenüber den seiner Meinung nach unbegründeten Kritiken in Schutz. "Die autoritäre Macht ist keineswegs ein Synonym für Diktatur oder das Fehlen der Demokratie." Er versteht das autoritäre Regime als ein starkes Präsidialsystem und beruft sich auf de Gaulle, der "autoritär" regierte, aber keineswegs ein Diktator gewesen sei. 498 Eine

originelle

Variante

des

autoritären

Machtsystems

schlägt

ein

"Praktiker", der "Businesman" (ein anderes modisches Wort in Rußland!) Kirill Bogdanowitsch, vor. Nach Bogdanowitschs Zukunftskonzept würde die optimale Lösung der russischen wirtschaftlichen und politischen Probleme durch eine radikale wirtschaftliche Entmachtung des Staates zustande kommen; dem Staat müsse jegliche Einmischung ins ökonomische Leben untersagt werden! Für diese Einschränkung seiner Kompetenz werde aber der Staat reichlich kompensiert, auf dem rein politischen Gebiet. Bogdanowitsch sieht die Auflösung

des

Parlaments

für

die

Dauer

eines

zwanzigjährigen

"Moratoriums" vor; die Kontrolle der Exekutive werde in dieser Zeit allein durch das Verfassungsgericht ausgeübt. Jede politische Tätigkeit werde bestraft. Was erhofft sich der Autor von diesem "Moratorium"? Nach seiner Meinung wird in zwanzig Jahren eine Generation heranwachsen, die absolut unempfindlich für politische Demagogie sein wird. Es wird sich auch der "dritte Stand", d.h. der natürliche Träger der Demokratie, gebildet haben, und es werden somit die Voraussetzungen für die Demokratie geschaffen. Bogdanowitsch charakterisiert hierbei die Demokratie als das Produkt des beständigen Gleichgewichts verschiedener politischer Parteien, die ihrerseits die Interessen verschiedener sozialer Gruppen (hauptsächlich der verschiedenen Eigentümer-Kategorien) vertreten. Und er erinnert daran, daß in England eine lange Zeit hindurch Besitz- und Bildungszensuswahlrecht bestand. Der Kreis der Wahlberechtigten wurde nur allmählich erweitert, weil sich das ökonomische System des Landes nur langsam völlig herausbildete und folglich auch das Volk nur nach und nach imstande war, die Konsequenzen der Abstimmung zu verstehen. Bis zur Schaffung dieser Voraussetzungen müsse sich nun auch Rußland mit einem "autoritären System der begrenzten Macht" begnügen. 499 Einer scharfen Kritik unterzieht die "radikalen Demokraten" seit langem Andranik Migranjan - einer der bekanntesten (auch im Westen) russischen Politologen, der auch publizistisch sehr aktiv ist und als Mitglied des Präsidialrates an der Politikberatung auf höchster Ebene beteiligt ist. In einem persönli498 499

Vgl. ebd. Vgl. Kirill Bogdanovic, Ne raspustit' Ii nam parlament? Let na dvadcat'.... (Interview mit Bogdanowitsch), in: Komsomol'skaja Pravda, 19.11.1991.

Politikwissenschaft

in Rußland

377

chen Gespräch mit dem Autor dieses Aufsatzes im Mai 1992 in Moskau warf Migranjan den russischen Demokraten viele Fehler vor, die aus einem Überspringen der Etappen resultierten. Die Demokraten müßten zuerst nicht für eine Demokratie westlichen Musters, sondern für etwas Bescheideneres, nämlich für die Errichtung eines (noch nicht demokratischen) Rechtsstaates kämpfen, der imstande sei, die Marktwirtschaft und ihre Säule - die Mittelschicht - zu ermöglichen. Erst dann wäre der Weg zur Demokratie frei. Mein Gesprächspartner berief sich dabei auf das Modell des friderizianischen Preußen, das keine Demokratie, aber bereits ein Rechtsstaat gewesen sei. Das transitorische autoritäre Regime in Rußland versteht der russische Politikwissenschaftler als einen Rechtsstaat, der die Demokratie vorbereite. 1993 schloß sich Migranjan (unter dem Einfluß des argentinischen Politikwissenschaftler Guillermo O'Donnel) der These von einer delegierten Demokratie an. Darunter ist die quasi-diktatorische Macht eines charismatischen Politikers zu verstehen, der demokratisch gewählt ist, aber zwischen den Wahlen nach seinem freien Ermessen regiert.500 Dieses für Länder, die keine demokratische Tradition haben; geeignete Modell empfiehlt Migranjan dem gegenwärtigen Rußland, und er meint, daß auch die faktische Entwicklung in dieser Richtung gehe. Das Modell Migranjans sieht deshalb die Einführung eines autoritären Regimes vor. Dieses schränkt vorläufig die Demokratie ein, verbietet sogar gewisse oppositionelle Parteien und Bewegungen. Gleichwohl aber führt es dann ungestört und erfolgreich die ökonomischen Reformen durch und geht schließlich wieder zur vollen Demokratie über. "Solcherweise hat das sich formierende autoritäre Regime bei einem günstigen Verlauf der ökonomischen Reform die Chance, die Stabilität des sozialpolitischen Systems aufrechtzuerhalten und Voraussetzungen für die Bewegung in die Richtung einer konsolidierten Demokratie zu schaffen, indem es allmählich den legalen politischen Prozeß einschaltet und die auf einer gegebenen Etappe abgeschnittenen (otsecennye) oppositionellen Parteien und Bewegungen wieder zuläßt und einen Konsens zwischen den hauptsächlichen sozialpolitischen Kräften in der Gesellschaft herstellt".501 Meine Übersicht zeigt, daß auch im Bereich der Analyse des jetzt vorhandenen Machtsystems eine ernstzunehmende Arbeit im Gang ist. Dies trifft besonders auf den Charakter der gegenwärtigen Machtelite und ihres genetischen Zusammenhangs mit der alten kommunistischen Nomenklatura zu. Be500

Vgl. Andranik Migranjan, Avtoritarnyj rezim v Rossii: Kakovy perspektivy? in: Nezavisimaja gazeta, 4.11.1993.

501 Ebd.

378

Kapitel IV: Politikwissenschaff in Osteuropa

rechtigt sind auch die Beobachtungen von Afanassjew und Achieser über das falsche, vorliberale und populistische Verständnis der Demokratie und über die historisch bedingten, in der "Spaltung" wurzelnden funktionalen Störungen des demokratischen Prozesses. Die zum Autoritarismusproblem entwickelten Meinungen schließlich lassen erhebliche Bedenken konzeptueller und sachlicher Art aufkommen. Auffällig ist die begriffliche Unschärfe beim Gebrauch des Wertes "Autoritarismus." Der korrekte Sinn des Begriffs "Autoritarismus" bedeutet (im Unterschied zum Totalitarismus, der ein imperatives "Verhalten" hat, d.h. das ganze Gesellschaftssystem aktiv lenkt) eine restriktive Diktatur, die die Freiheit im politischen Bereich begrenzt, aber ansonsten die Selbsttätigkeit der Gesellschaft nicht hemmt. Dies berücksichtigt A. Kiwa (und er ist nicht der einzige) nur unzureichend, wenn er autoritäre Macht und präsidiales System in einem Atemzug nennt. Offenbar ist für viele Autoren "autoritär" ein diffuser Begriff, und sie verwechseln den echten Autoritarismus mit einer starken Exekutive, wie sie in Frankreich existiert und eine besonders ausgeprägte Form in der Ära de Gaulle hatte. Dem liegen aber doch ganz unterschiedliche Sachverhalte zugrunde. Was das Wesen des Problems anbelangt, so haben wir es mit einer klassischen Schwierigkeit zu tun, mit einem echten Teufelskreis. Seinen Denk- und Verhaltensweisen nach ist das russische "Volk" in der Tat nicht "reif' genug für die Demokratie. Aber wird es dabei unter einem autoritären Regime reifer werden? Zweifel sind angebracht. Genauso wie man das Schwimmen nicht erlernt, wenn man das Wasser meidet, kann man auch nie "reif' für die Demokratie werden, wenn man sie nicht praktiziert. Es ist nicht auszuschließen, daß der von Migranjan vorgeschlagene Weg unvermeidlich wird. Immerhin ist fraglich, ob die "delegierte Demokratie" oder die "gelenkte Demokratie" nicht mit einer Hand das zurücknimmt, was sie mit der anderen gibt. Es ist auch fraglich, ob sie überhaupt eine Demokratie ist. Nach einem bekannten Diktum braucht die Demokratie keine Adjektive. Die Befürchtung liegt nahe, daß in einem Land wie Rußland das autoritäre Regime die Tradition von unkritischem Gehorsam eher fortsetzt als unterminiert. In seiner Geschichte hat Rußland zuviel "starken Staat" erlebt als daß man ihm wieder einen "starken Staat" als Heilmittel verschreiben sollte. Auch für Rußland bleibt immer noch der beste Weg zur liberalen Demokratie diese liberale Demokratie selbst.

Politikwissenschaft

in Rußland

379

Politische Lehren: Die Liberalismusdebatte Fast gleichzeitig mit dem politischen Wandel begann auch eine sehr intensive Debatte über die bis dahin verpönten, ja verbotenen nichtkommunistischen politischen Lehren bzw. Ideologien. Sie ist durch eine Ungleichmäßigkeit gekennzeichnet. Obwohl es in Rußland eine sozialdemokratische Partei gibt, bleibt eine nennenswerte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem (demokratischen) Sozialismus aus. Dabei würde das Parteiprogramm der russischen Sozialdemokraten einen westlichen Sozialdemokraten in Erstaunen versetzen, weil es in wichtigen Punkten kaum zu unterscheiden ist von liberalen oder konservativen Parteien im westlichen Sinne des Wortes. Da aber selbst das Wort "Sozialismus" noch mit kommunistischen Konnotationen belastet ist, haben die sozialistischen (sozialdemokratischen) Ideen insgesamt zur Zeit wenig Chancen, Einfluß zu gewinnen. Was den Konservatismus betrifft, nimmt er - der russischen staatspolitischen Tradition zufolge - einen bedeutenderen Platz im Ideen- und Forschungsspektrum ein. Immerhin ist die Diskussion über Konservatismus auch durch eine Äquivokation belastet; denn im landläufigen Gebrauch bedeutet "konservativ": "kommunistisch", worin sich die Tatsache spiegelt, daß die einst revolutionäre Partei seit langem um Aufrechterhaltung des Bestehenden bemüht war. Somit konzentriert sich die theoretische Disskussion auf den Liberalismus als auf die Alternative par excellence zum Kommunismus. Im Westen ist es wenig bekannt, daß es in Rußland - in frappierendem Kontrast zu seiner politischen Wirklichkeit - eine reiche Tradition der liberalen Ideen gibt. Unmittelbar hervorgerufen wurde das Interesse an der Liberalismusproblematik durch die nach einer jahrzehntelangen Pause erfolgten Herausgabe mancher Werke der Klassiker des russischen Liberalismus Boris Tschitscherin, Pjotr Struwe, Pawel Miljukow, Bogdan Kistjakowskij und vor allem Pawel Nowgorodzew. Zudem wurden den Ideen der russischen vorrevolutionären Liberalen einige Aufsätze gewidmet,

die deren Inhalt darstellten

und ihre Bedeutung erklärten. Dennoch stellte diese Arbeit kaum mehr als eine allgemeine Einführung in die Ideenwelt des russischen Idealismus dar. 502 Den Kern der Liberalismusdebatte bildet schließlich die Frage nach der Aktualität der liberalen Grundsätze und ihren Chancen im postkommunistischen Rußland. In diesem Zusammenhang befassen sich die russischen Autoren mit den spezifischen Schwierigkeiten, die der praktischen Verwirkli502

Vgl. L. Novikova, I. Sizemskaja, Idejnye istoki russkogo liberalizma, in: Obscestvennye nauki i sovremennost', 3, 1993, S. 124 - 135; vgl. dieselben: Novyj liberalizm v Rossü, in: Obscestvennye nauki i sovremennost', 5,1993, S. 132-140.

380

Kapitel IV: Politikwissenschaff

in Osteuropa

chung der liberalen Prinzipien im Wege stehen. In diesem Punkt divergieren die Meinungen. Es gibt sowohl Pessimisten wie Optimisten - mit manchmal unerwarteten Argumenten. In einer Reihe von Aufsätzen liefert der Professor für politische Philosophie, Boris Kapustin, eine grundlegende Analyse der Eigenart der Rezeption des liberalen Gedankengutes in Rußland. An erster Stelle erinnert Kapustin daran, daß es in Rußland keine Mittelschicht gibt und somit jene soziale Kraft fehlt, die der Träger des Liberalismus ist. Eine der zahlreichen russischen Paradoxa ist, daß die Entwicklung nicht von der Entstehung einer sozialen Schicht hin zu einer Ideologie verläuft, die ihre Interessen ausdrückt, sondern daß umgekehrt die Ideologie der Entstehung dieser Klasse vorangeht. So aber schweben die liberalen Ideen eher in einem luftleeren Raum. Kapustin bemerkt, daß die russische Gesellschaft weder das liberale Bewußtsein produziert, noch daß sie es in einer "objektiven Weise" reproduziert. Die Entscheidung zugunsten des Liberalismus erfolge daher nur im Sinne einer beliebigen intellektuellen Auswahl; die liberale Einstellung werde eher durch geistig-kulturelle als durch wirtschaftliche Faktoren erwirkt. Dies aber wird sie dazu verurteilen, rudimentär zu bleiben und nur als akademisch-intellektuelle Orientierung zu existieren.503 Nicht alle teilen diese Skepsis. Der Journalist Andrej Kolesnikow behauptet sogar, daß der Liberale ein "genuiner russischer Typ" sei. Scherzhaft beruft sich der Autor auf Puschkins Held Eugen Onegin, der, wie im gleichnamigen Roman beschrieben, "Adam Smith gelesen" habe. Sachlich behauptet Kolesnikow, daß in Rußland bereits lange Zeit eine Mittelklasse bestanden habe. Kupcy (Kaufleute) haben immer existiert: und wie in jeder traditionellen Gesellschaft hat es in Rußland stets eine Marktwirtschaft gegeben: Es gehe "nur" darum, sie zu restaurieren. Eine "Dritte Wiederkehr" des Liberalismus (nach dem Frühliberlismus der 50er bis 70er Jahre des 19. Jahrhunderts und dem "Neuen Liberalismus" Ende des 19. Jahrhunderts bis zur OktoberRevolution) sei deswegen nicht ausgeschlossen, meint Kolesnikow.504 Es ist nun aber interessant, daß zwei durchaus entgegengesetzte Einschätzungen des realen Gewichts der Staatsmacht in der postkommunistischen Periode als Gründe für eine optimistische Prognose über die Zukunft des liberalen Gesellschaftsentwurfs dienen: So sieht nämlich Alexander Rubzow eine Chance für den Sieg des Liberalismus gerade in der totalen Ohnmacht der Staatsmaschinerie heute. Nicht ohne Ironie schreibt Rubzow, daß 503

Vgl. Boris Kapustin, Liberal'noe soznanie v Rossii, in: Obscestvennye nauki i sovremennost', 3, 1994, S. 71.

504

Vgl. Andrej Kolesnikov, Russkij liberal na rendez vous, in: Nezavisimaja gazeta, 9.7.1993.

Politikwissenschaft

in Rußland

381

die Chancen des Liberalismus nicht in seiner Stärke, sondern in der Schwäche seines Gegenspielers, des Staates, liegen. 505 Nach Rubzow war die etatistische Tradition Rußlands in der Tat sehr negativ, aber sie hat ihr Potential erschöpft: der Staat leidet an so etwas wie Altersmarasmus. Der Liberalismus hat große Chancen; dies aber vor allem wegen Mangels an seriösen Gegnern. Ganz im Gegensatz zu Rubzow sieht Wiktor Wolkonskij, so seltsam das klingen mag, in der immer noch großen Macht des Staatsapparates eine Hoffnungsquelle für den Erfolg des Liberalismus. Es ist nämlich so, meint Wolkonskij, daß im Unterschied zur landläufigen Ansicht Liberalismus und Anti-Etatismus nicht identisch sind. Nur in Ländern, wo seit eh und je Marktverhältnisse herrschten, sei der Liberalismus per se anti-etatistisch. Aber auch in diesen Ländern ist dies nach ihm nicht immer so gewesen. Dort habe nämlich gerade der absolutistische, streng zentralisierte Staat das Bürgertum vor der Willkür der Feudalherren geschützt und es gefördert. Nun aber gleiche nach Wolkonskij die Situation in Rußland eher dem damaligen als dem heutigen Westeuropa: Die Abschaffung des Gesamtmonopols des kommunistischen Staates führte nicht sofort zur Freisetzung des privaten Potentials, sondern zunächst zur Stärkung der Positionen der mittleren, der regionalen Staatsbürokratie. In ihr erblickt der Autor ein Analogon des Feudaladels. Folglich kann gerade der zentrale Staatsapparat ein Gegengewicht gegen die neuen russischen "Feudalherren" darstellen und für die liberale Entwicklung förderlich sein. 506 Nach Meinung einiger russischer Politikwissenschaftler besteht darüber hinaus die Hauptchance des Liberalismus darin, daß er nicht in der im Westen längst überwundenen Gestalt des "Manchester-Liberalismus" auftritt. Der Liberalismus wird nur dann in Rußland reale Perspektiven erhalten - meint Wolkonskij -, wenn er die "lieberale Dogmatik" abwirft. Nach Ansicht von Kapustin muß der Liberalismus - besonders in einem Land wie Rußland - eine "Gerechtigkeitskomponente" beinhalten. Falsch sei deswegen die Forderung mancher Politiker, die Worte "soziale Gerechtigkeit" aus dem Vokabular der Demokraten auszumerzen. 507 Und die Ko-Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei Rußlands, Marina Sale, hält dagegen den Liberalen vor, sie

505

Vgl. Aleksandr Rubcov, Rossija posle liberalizma: liberal'naja perspektiva, in: Moskovskie novosti, 11.7.1993.

506 vgl. Viktor Volkonskij, Vozmozen Ii v Rossii liberalem? Ctoby otvetit'na etot vopros, citajte Reineke Lis I.V. Gete, in: Nezavisimaja gazeta, 16.2.1993. 507

Vgl. Boris Kapustin, a.a.O.

382

Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

hätten vergessen, daß nicht der Mensch um des Marktes willen, sondern umgekehrt der Markt um des Menschen willen bestehe. 508 Der aussichtsreichste Liberalismus ist nach Kapustins Meinung deshalb der "konservative Liberlismüs." So gebe es zwischen (modernem) Konservatismus und (modernem) Liberalismus viel mehr Berührungspunkte und Gemeinsamkeiten, als allgemein angenommen. Und der Politologe weist zur Begründung seiner These auf ein wenig beachtetes Detail der klassischen liberal-konservativen Kontroversen in Westeuropa hin. So übten die konservativen Denker (Edmund Burke, Joseph de Maistre) seiner Meinung nach eine konstruktive Kritik am Liberalismus, die diesem erst dazu verhalf, die Schwächen seiner aufklärerischen Version zu überwinden. 509 Noch weniger bestehe eine unüberbrückbare Kluft zwischen Liberalismus und Konservatismus heute. Kapustin hebt hervor, daß ohne einen modern-konservativen Geist die liberale Demokratie der Gegenwart nicht lebensfähig sei, und umgekehrt, daß ohne liberale Elemente der Konservatismus rückständig werde. 510 Manchen russischen Liberalen wirft Kapustin deshalb eine "Rückkehr zur Unschuld" jenes Frühliberalismus vor, der von einer Reduktion des Menschen auf das ökonomische Individuum, das keine ethischen Prädikate habe, ausgehe. In diesem Frühliberalismus sei die extrem-liberale Gesinnung einen Schritt zurückgegangen gegenüber solchen Größen des liberalen Denkens wie John Locke, Charles Montesquieu und Immanuel Kant, bei denen die Sittlichkeit nicht durch ökonomischen Interessen verdrängt sei. Daher seien die Bemühungen der konservativen Denker eine Bereicherung und Veredelung des ursprünglich groben Liberalismus.511 Dem zeitgenössischen russischen Liberalismus empfiehlt Boris Kapustin, das veraltete "Dogma" von der "natürlichen Harmonie" der Interessen der Bürger aufzugeben. Und er kritisiert auch die verbreitete Ansicht, daß Markt und liberale Demokratie unzertrennlich verbunden sind und einander voraussetzen: Dies sei nicht einmal im entwickelten, eine alte liberale Tradition besitzenden, Westen der Fall. Umsomehr gilt nach Kapustin diese Einschränkung für Rußland. Welcher Liberalismus ist aber nun "konservativ"? Wie kann man ihn genauer definieren? Die Politikwissenschaftlerin und Philosophin Susanna Matwejewa erblickt die Eigenart und die Chancen des konservativen Liberalismus 508

Vgl. Marina Sal'e, Katastrofa liberal'nych principov. Sobytie, tradicionnoe dlja Rossii, in: Nezavisimaja gazeta, 24.3.1994.

509

Vgl. Boris Kapustin, Ne najdja sebja - ne priznav drugogo. O nasich liberal'nokonservativnych kontroverzach, in: Svobodnaja mysl', 11,1992, S. 5.

510

Vgl. ebd.

511

Vgl. ebd.

Politikwissenschaft in Rußland

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darin, daß er das liberale Paradigma bodenständig, unter Berücksichtigung der nationalen Kultur, Erfahrungen und Werte durchführen will. Wie Matwejewa meint, hat der Liberalismus in Rußland nur auf der Ebene der "Sprache" gesiegt. Er sei vom Massenbewußtsein bei weitem noch nicht akzeptiert, akzeptiert sei nur das liberale Vokabular. Die wesentlichen Veränderungen ständen noch bevor, und der konservative Liberalismus, wie Frau Matwejewa ihn versteht, werde dafür sorgen, daß diese Veränderungen in einer "psychologisch komfortablen Atmosphäre" vor sich gingen. Im Unterschied zum radikalen Liberalismus, der sich einer rationalen Sprache bediene, berücksichtigte der konservative Liberalismus die traditionelle Lebenskultur und Überlieferung, auch wenn sie, an den Kriterien der Moderne gemessen, irrational zu sein scheine. Er schließe nicht per se vorübergehende autoritäre Regime aus, sondern achte nur darauf, daß sie sich nicht verewigten. 512 Er gehe den Weg der Wirtschaftsreformen langsam und nach sorgfältigem Abtasten der Reaktionen der öffentlichen Meinung. 313 Die laufende Debatte über die politischen Theorien, an erster Stelle den Liberalismus ist - wie zu sehen -, sehr anregend. In ihrem Verlauf wurden, zusammenfassend gesagt, spezifische Paradoxa und Schwierigkeiten der Rezeption und der praktischen Verwirklichung der liberalen Grundsätze in Rußland aufgedeckt. Es sind dies auf der objektiven Ebene: die noch fehlende Mittelklasse; und auf der subjektiven Ebene: die oft rein verbale Annahme der liberalen Prinzipien, die im Bewußtsein der russischen Masse noch nicht internalisiert sind. Gewisse inhaltliche Einwände hinsichtlich der Rolle des Staates im Liberalisierungsprozeß wären wohl am Platz. Das von Rubzow skizzierte Szenario (dominierende liberale Tendenz wegen der "Schwäche" des Staates) scheint zu rosig. Auch wenn der Staatsapparat in der Tat so schwach wäre, würde dies kaum automatisch zum Sieg des Liberalismus führen. Was die Hoffnung anbelangt, gerade der Staat würde durch seine unerschöpfte Macht den Liberalismus fördern, so ist auch sie ein amüsantes, aber unseriöses Gedankenspiel: Wolkonskijs Szenario beruht auf einer vagen Analogie. Denn der gegenwärtige russische Staat und der westeuropäische absolutistische Staat des 17. und 18. Jahrhunderts sind durchaus verschieden. Am besten haben E. Boris Kapustin und Susanna Matwejewa den Problemkomplex verstanden: in dieser ersten Phase der postkommunistischen Entwicklung kann nur ein "konservativer Liberalismus" Gehör finden, weil es 512

513

Vgl. Susanna Matveeva, Konservativnyj liberalizm v Rossii, in: Obscestvennye nauki i sovremennost', 2, 1993, S. 17. Vgl. ebd., S. 10.

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Kapitel IV: Politikwissenschaft in Osteuropa

nur ihm gelingen würde, eine Brücke zwischen dem Liberalismus und der traditionellen russischen Gedankenwelt zu schlagen. In diesem Zusammenhang darf man sagen, daß die Frage nach dem Erfolg des russischen Liberalismus auch eine "Übersetzungsfrage" ist: Die liberalen Ideen müssen in eine Sprache "übersetzt" werden, die für die traditionelle russische Mentalität verständlich ist. Leider kommt aber auch in dieser Diskussion konstant eine begriffliche Unschärfe zum Tragen: denn die russischen Autoren unterscheiden nicht deutlich genug liberale Ideen von liberaler politischer Praxis. Bei aller Parallelität handelt es sich doch um verschiedene Dinge. Meine summarische Übersicht berechtigt zu der Feststellung, daß das Fundament einer an westlichen Normen orientierten Politikwissenschaft in Rußland gelegt ist. Dies gilt auch dann, wenn - wie gesagt - diese Anfangsphase naturgemäß noch von einer gewissen konzeptuellen und theoretischen Unbeholfenheit bestimmt ist. Jedoch hat sich die Forschung frei gemacht von der Bevormundung der Parteiideologie; - und dies ermöglicht ihren Entwicklungsprozeß.

Sachverzeichnis American Political Science Association 31; 38; 56; 334 Autoritarismus 371; 375; 378 Bikameralismus 151 COSPOS 279; 280 Demokratie 7; 8; 9; 27; 33; 40; 48; 61; 62; 65; 69; 70; 71; 72; 74; 75; 76; 82; 83; 87; 88; 90; 93; 105; 109; 117; 130; 135; 146; 149; 151; 153; 154; 155; 157; 159; 162; 163; 164; 166; 167; 168; 169; 198; 218; 251; 255; 257; 268; 270; 272; 288; 296; 302; 316; 318; 346; 347; 349; 350; 356; 359; 361; 362; 363; 364; 366; 371; 372; 373; 374; 375; 376; 377; 378; 382 Demokratietheorie 83; 98; 132; 141; 146; 168; 262; 350 Demokratiewissenschaft 4; 40; 55; 83; 89; 256; 314; 319 Derecho Politico 246 Deutsche Hochschule für Politik 84,103 DVPW 5; 39; 55; 56; 60 ELTE 315; 328; 329; 335; 337 FNSP 172; 207; 208; 209; 211; 214; 216 Föderalismus 22; 149; 150; 151; 152; 160; 167; 168; 256; 353; 361 Fondation Nationale des Sciences Politiques Siehe FNSP Frankfurter Schule 254 Friedrich-Ebert-Stiftung 256; 336 Friedrich-Naumann-Stiftung 336 Fulbright Commission 295 Geschwister-Scholl-Institut 19 Gewife 101; 102; 104; 110; 112; 113; 115; 117; 118; 119; 121; 123; 124; 125; 126; 130 Hochschule für Politische Wissenschaften Siehe HSPS Hochschulreform 92; 107; 108; 177; 216 HSPS 341; 342; 343 IEP 171; 172; 175; 183; 187; 209; 211; 212; 213; 214; 216; 217; 248; 249; 251; 255; 260 Interessengruppen 155; 156; 169; 227; 278; 284; 285; 286; 287; 288; 296; 297; 303; 304; 345; 352; 357; 359 International Political Science Association Siehe IPSA Internationale Politik 29; 137; 138; 323; 334 IPSA 38; 50; 83; 141; 220; 228; 229; 232; 283; 318; 321; 324; 344; 362 Kädärismus 322; 328 Kameralismus 13; 315 Konkordanzdemokratie 139; 159; 351 Konrad-Adenauer-Stiftung 336 Konsensdemokratie 150

Konstitutionalismus 243; 244 Korporatismus 139; 261 Korporatismusforschung 153 Kritische Theorie 254 Liberalismus 71; 236; 315; 352; 379; 380; 381; 382; 383 London School of Economics and Political Science Siehe LSE LSE 222; 225; 229; 234 Manchester-Liberalismus 381 Neoinstitutionalismus 351 Neokorporatismusdebatte 351 Neo-Pluralismus 22; 86 Neorealismus 234 Nomenklatura 368; 370; 372; 373; 377 Otto-Suhr-Institut 95; 96 Parlamentarismus 138; 203; 242; 267; 351; 361 Parteienpluralismus 351; 355 Parteitheorie 17 Policy-Forschung 44; 46; 48; 64; 71; 148; 215; 284; 285; 286; 287; 359 Politikberatung 30; 32; 91; 92; 208; 224; 340; 365; 376 Politische Philosophie 182; 224; 236; 241; 380 Politische Systeme 29 Politische Theorie 10; 93; 243; 284; 287; 316 Realismus 159; 234 Rechtsformalismus 271 Rechtsphilosophie 115; 120; 121; 272; 294 Rechtspositivismus 132; 247 Sciences-Pölitiques 171; 190; 200; 202; 203; 206; 208; 210; 212; 213; 214; 215; 216 Sozialphilosophie 19; 241; 317 Sozialwissenschaft 24; 35; 46; 75; 85; 88; 119; 131; 179; 186; 225; 230; 279; 319; 331; 343; 344; 359 Spieltheorie 159; 221; 236 Staatsformenlehre 9 Staatstheorie 10; 15; 124; 146; 246; 249; 252; 254; 342 Totalitarismus 371; 375; 378 Universitätsreform 103; 113; 135; 240; 241; 255 Universitätsreformgesetz 258 Utilitarismus 219; 225 Vergleichende Regierungslehre 59; 356 Volksherrschaft 373; 374 Volkssouveränität 10 VOX-Analysen 146; 147; 155 Wahlforschung 156; 163; 229; 257; 261; 262 Wissenschaftlicher Sozialismus 119; 337

Autorenverzeichnis

Wilhelm Bleek, Dr.phil., Professor für Politikwissenschaft an der RuhrUniversität Bochum . Adolf Bibic, PhD, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Ljubljana, Präsident der Slowenischen Vereinigung für Politikwissenschaft. Hans M. Bock, Dr.phil., Professor an der Gesamthochschule/Universität Kassel. Assen Ignatow, Dr.phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien / Köln. Ersin Kalaycioglu, Dr.phil., Professor für Politikwissenschaft an der BogaziciUniversität in Bebek/Istanbul. André Kaiser, Dr.phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sozialwissenschaften (Lehrstuhl für Politische Wissenschaft III) der Universität Mannheim. Dieter Koop, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Hans J. Lietzmann, Dr.phil., Wissenschaftlicher Assistent an der Fakultät für Sozialwissenschaften (Politikwissenschaft I) der Universität der Bundeswehr in München. Wolf Linder, Dr.phil., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bern. Hans Maier, Dr.phil. Dr.jur.h.c. Dr.phil.h.c., Professor für Christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheörie an der Ludwig Maximilians Universität München. Leonardo Morlino, Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Universität degli Studie di Firenze, Florenz. Thomas Noetzel, Dr.phil., Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Anton Pelinka, Dr.phil., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Hans-Jürgen Puhle, Dr.phil., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Frankfurt/Main. Hans Karl Rupp, Dr.phil., Professor für Politikwissenschaft an der PhilippsUniversität Marburg. Màté Szabó, Dr.habil., Dozent an der Eötvös Loränd Universität in Budapest/ Ungarn; Generalsekretär der Ungarischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Werner Zettelmeier, wissenschaftlicher Mitarbeiteram Centre d' Information et de Recherche sur l'Allemagne Contemporaine (CIRAC), Paris.