Demokratie und Diktatur in Europa: Geschichte und Wechsel der politischen Systeme im 20. Jahrhundert [1 ed.] 9783428504152, 9783428104154

Die Verbindung von Geschichte, Zeit- und Gesellschaftsgeschichte mit den Fragestellungen der historisch orientierten Pol

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Demokratie und Diktatur in Europa: Geschichte und Wechsel der politischen Systeme im 20. Jahrhundert [1 ed.]
 9783428504152, 9783428104154

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HEINER T I M M E R M A N N / W O L F D. GRUNER (Hrsg.)

Demokratie und Diktatur in Europa

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 95

Demokratie und Diktatur in Europa Geschichte und Wechsel der politischen Systeme im 20. Jahrhundert

Herausgegeben von

Heiner Timmermann Wolf D.Gruner

Duncker & Humblot · Berlin

Dieses Projekt wurde mit Hilfe der Union-Stiftung, Saarbrücken, und der ASKO-Europa-Stiftung, Saarbrücken, unterstützt.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Demokratie und Diktatur in Europa : Geschichte und Wechsel der politischen Systeme im 20. Jahrhundert / Hrsg.: Heiner Timmermann ; Wolf D. Gruner. - Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V. ; Bd. 95) ISBN 3-428-10415-3

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-10415-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ

Inhaltsverzeichnis

Heiner Timmermann Einführung

9

I.Theorien und Begriffe

Gerhard Schulz Demokratie und Diktatur

13

Marian Zg órniak Totalitarismus und Militarismus

25

Michael Salewski Diktatur zum Paradies: Die Science Fiction des frühen 20. Jahrhunderts Ein Essay

33

Helmut Reinalter Die Anfänge der Demokratie von der Aufklärung bis zur Revolution 1848/49

45

Wolfgang

Pfeiler

Der Begriff Faschismus als politisches Instrument und als wissenschaftliche Kategorie . . . 97

I I . Intertemporale und internationale Vergleiche

Lainov á Radka Zum Vergleich der Diktaturen in den baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit

. . . . 109

Eva Brocklov á Theorie und Praxis dreier Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg: Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei Ralf Kessler Bedingungen und Voraussetzungen für Reformpolitik in CSSR und DDR vor dem „Prager Frühling" Ernst Nolte „Gulag" und „Ausschwitz": Unvergleichbarkeit - Parallele - kausaler Nexus?

119

141 163

Inhaltsverzeichnis

6

Bernd Rill Produktion von Geschichtsmythen als Voraussetzung für totalitäre Staatsideologie

187

Ivan Bernik Intellectuals in the Transition from Imagined to Real Existing Democracy

201

Ivan Bernik und Nina Fabjanèiè Das alte Regime in Erinnerung: Diktatur oder wohlwollender Autoritarismus?

217

Hannelore Horn Zur Wirkung scheindemokratischer Attribute auf die Reform- und Transformationsfähigkeit kommunistisch-totalitärer Diktaturen

233

I I I . Entwicklungen in Staaten

Bernd Rill Die neapolitanische (parthenopäische) Republik 1799. Der erste demokratische Versuch in Unteritalien

265

Wolfgang Häusler 1848 - Das Geburtsjahr der Demokratie in Österreich

283

Angelica Gernert Faschismus versus Totalitarisme. Der Faschismus in Italien

305

Karl-Egon Lonne Zur Demokratiekritik Gaetano Moscas

317

Heiner Timmermann Der Fall Deutschland von 1919-1945

345

Günther Heydemann und Christopher Beckmann Zwei Diktaturen in Deutschland. Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs

365

Ralf Rytlewski Die Politik als Bauherr im nationalsozialistischen Berlin und im sowjetsozialistischen Ost-Berlin

417

Sybille Gerstengarbe Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina in der Zeit des „Dritten Reiches", in der SBZ und in der frühen DDR-Zeit

425

Antonio Peter Spanien unter Franco

445

Roland Höhne Das Regime von Vichy. Ein europäischer Sonderfall autoritärer Herrschaft?

473

Inhaltsverzeichnis

Detlef Jena Die Sowjetunion 1917-1991 - Die rote Diktatur. Zu den historischen Ursachen der Lenin-Stalin-Diktatur

535

Alexei Filitov Erste Risse im totalitären Weltbild. Die internen Vorlagen und Denkansätze in den sowjetischen Partei- und Staatsgremien am Vorabend der Entstalinisierung, 1953-1956

555

Hans Wassmund Das Ende der Sowjetunion. Voraussetzungen - Verlauf - Konsequenzen

567

Erkki Kouri Die Geburt des demokratischen Finnlands. Von der Autokratie zur Demokratie

579

Stuart Parkes ,Die älteste Demokratie der Welt4: Immer noch vorbildlich? Gedanken zum politischen System Großbritanniens

585

Ian King Das geteilte Königreich? Probleme der Demokratie im schottisch-englischen Verhältnis

601

Marianne Howarth Demokratischer Wiederaufbau im Nachkriegs-Deutschland. Konzeptionen und Probleme aus britischer Sicht

615

Heiner Timmermann Demokratieprinzipien im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

629

Autorenverzeichnis

643

Einführung Von Heiner Timmermann

Die Verbindung von Geschichte, Zeit- und Gesellschaftsgeschichte mit den Fragestellungen der historisch orientierten Politischen Soziologie erweist ihre Tragfähigkeit und Leistungskraft nur am konkreten Beispiel. Angesichts der immer wieder spürbaren Ansätze, die Voraussetzungen, Funktionsweisen, unmittelbaren Folgen und langfristigen Nachwirkungen der Diktaturen unseres Jahrhunderts in Europa zu analysieren, sollen in diesem Band Aspekte der Diktaturforschung einen Schwerpunkt bilden. Begriff und Sache der Demokratie haben die politische Ordnung in Europa in diesem Jahrhundert zweimal umgestülpt: Zur Zeit befinden wir uns noch in der zweiten Transformationsphase. Was Demokratie ist, darüber gibt es keine allseits akzeptierte Lehrmeinung. Den noch immer fruchtbarsten Zugang zu den wesentlichen Vorstellungen, die sich mit dem Demokratiebegriff verbinden, bietet ein begriffsgeschichtlicher Rückblick, von dem aus entwicklungsgeschichtliche Analysen und Perspektiven vorgenommen werden sollten. Gerade vor dem Hintergrund der politischen Systemveränderungen in Europa ab 1989/90ff. scheint eine grundsätzliche und exemplarische Bearbeitung dieses Themas geboten. Dieser Sammelband umfaßt überarbeitete Beiträge, die in wissenschaftlichen Kolloquien des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts der Europäischen Akademie Otzenhausen in der zweiten Hälfte der 90er Jahre gehalten wurden. Einige Aufsätze wurden zusätzlich in den Band aufgenommen.

I. Theorien und Begriffe

Demokratie und Diktatur Von Gerhard Schulz

I. „Demokratie" dürfte in der Geschichte Europas der älteste der immer noch gebräuchlichen politischen Begriffe sein.1 Ein von seinen Fachkollegen längst vergessener Gelehrter des vorigen Jahrhunderts, der ungarische Altertumswissenschaftler Gyula (Julius) Schvarcz verfolgte den Plan einer großen „Geschichte der Demokratie von alter und neuer Zeit". Ihm war es um eine Prüfung ihrer künftigen Möglichkeiten zu tun. 1876 erschien der erste voluminöse Band „Die Demokratie von Athen" in deutscher Sprache, 2 dem eine Reihe weiterer Werke nachfolgte. Das ganze Vorhaben galt dem Entwurf einer neuen politischen Ordnung für „die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten", wie es Schvarcz ausdrückte, 3 nach Prüfung und Verwertung einschlägigen Erfahrungsmaterials, das die Geschichte zur Verfügung hielt. Das anthropologischkulturpädagogische wie politische Programm, das Schvarcz seiner Universalgeschichte entnahm, verfolgte kein geringeres Ziel als das eines Ausgleichs zwischen weißen Völkern und unterlegenen Rassen mit deutlich umrissener Aufgabenstellung für die großen Nationalstaaten: Der Vision eines „demokratischen Culturstaatensystems" müßten eines Tages die „leitenden Machtelemente der weißen Menschenrasse" und „die ererbte Politik des Menschengeschlechts"

1

Das Nachfolgende fußt auf einem älteren Essay, Gerhard Schulz, Demokratien und Diktaturen in der neueren Geschichte, in: Klaus Hartmann (Hg.), Die Demokratie im Spektrum der Wissenschaft, Freiburg/München 1980, S. 169-211. 2 Julius Schvarcz, Die Demokratie von Athen, Leipzig 1876, 2.Aufl 1884, Neuausgabe 1901, mit einer Einführung in das gesamte Werk. Schvarcz (1838-1900), Sohn eines Offiziers, ist als Polyhistor und vielseitiger politischer Schriftsteller bekannt geworden, der für eine Reform des gesamten Unterrichtswesens streitbar die Feder führte. Er wurde 1866 in den ungarischen Landtag gewählt und einige Jahre später Ord. Professor für Geschichte und Altertumskunde an der Universität Budapest. 3

Demokratie von Athen, 1901, S.XXIV.

Gerhard Schulz

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zum Opfer gebracht werden. 4 Stupende Kenntnis und scharfsinnige kritische Prüfung der antiken Literatur sowie der Staatslehren neuerer Perioden bis auf Montesquieu hielten Schvarcz von dem verfehlten Versuch ab, Analogien aus der Antike für die eigene Zeit zu bilden. In gründlichen Darlegungen führte er vor Augen, wie ähnlich vor ihm schon Benjamin Constant5 oder im deutschen Sprachraum August Böckh 6 oder Jacob Burckhardt, daß die Demokratie Athens trotz der Scherbengerichte und der Volksversammlung schon in Anbetracht der Größe der ausgeschlossenen Bevölkerungsteile nicht annähernd als eine Demokratie moderner Auffassung gelten kann. Schvarcz zeigte aber auch, daß die wirkungsvolle Idealisierung der athenischen Demokratie durch die romantischklassische Schule der Altertumsgeschichte von gelehrten radikalen Politikern ausgegangen ist. Das gilt für Frankreich und im besonderen Maße für England, wo die lange als maßgebend geltende zwölfbändige „History of Greece" des deutschstämmigen George Grote seit 1820 die Version eines im alten Athen verwirklichten Idealbildes der Demokratie begründet hat. 7 Freilich wäre der Begriff Demokratie gar nicht vorhanden, wenn es nicht die Überlieferung aus der griechischen Antike gäbe, namentlich die Staatsformenlehre des Aristoteles. Wie man weiß, entstammt der Ausdruck der kleinräumigen Lebenswelt der poleis. Offenbar war er vor 430 vorchristlicher Zeit wohl andernorts in Griechenland, aber nicht in Attika bekannt. Der frühe Herodot sprach davon, daß die „pragmata" in die „Mitte des Volkes" gelegt werden; und man kannte die eudaimonia, das Wohlverhalten der Götter, das der Gemeinschaft Glück und Güte gewährte, wie auch die isonomia, den Anspruch auf gleiches Recht.8 Daraus erwuchs der Begriff. Mit der römischen, byzantinischen, scholastischen und arabischen Überlieferung der aristotelischen Philoso-

4

A.a.O., S.XXIX-LXIX.

5

Benjamin Constant , De la liberté des anciens comparée à celle des modernes, 1819, in: Constant, Cours de politique constitutionelle, vol.IV, Paris 1820. 6

August Böckh, Die Staatshaushaltung der Athener, 2 Bde., 2.Aufl., Bd. I, Berlin 1851, vor allem S.751. 7 George Grote, A History of Greece. From the Earliest Periods to the Close of the Generation contemporary with Alexander the Great, London 1846-1856; mit unübersehbarem Einfluß auch auf die Staatslehre. Vgl. Edward A. Freeman , Comparative Politics. Six Lectures read before the Royal Institution, London 1873; Wilhelm Oncken , Die Staatslehre des Aristoteles, 2 Bde., Leipzig 1870/75; schließlich Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorf, Staat und Gesellschaft der Griechen, Leipzig 1910. 8

Alexander Demandt, Antike Staatsformen. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte der Alten Welt, Berlin 1995, S.195 f.

Demokratie und Diktatur

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phie gelangte das Wort „Demokratie" in die Neuzeit und in die Aufklärung des 18. Jahrhunderts. II. Während der Französischen Revolution erhielt das Schlagwort allmählich einen eindeutigen Sinn. 9 In Jahrzehnten zuvor tauchte es gelegentlich auf; aus dem Jakobinerklub wird es dann mehrere Male beiläufig überliefert, am auffälligsten noch in einem Ausspruch von Camille Desmoulins 1793: Das englische Volk müsse „ausgerottet werden, wenn es sich nicht demokratisiert". Die Revolutionsverfassungen enthielten den Ausdruck nicht. Der amerikanische Historiker Robert Palmer hat erst in Robespierres Konventsrede vom 5. Februar 1794 den locus classicus gefunden, da unter 700 Worten elfmal der Ausdruck „Demokratie" vorkommt. Man darf diese Feststellung noch erweitern. In dieser Rede hat sich Robespierre zum ersten Male dieses Begriffes bedient und sich auf ihn festgelegt. Das Wort Demokratie ist in den überlieferten Texten der voraufgegangenen Reden Robespierres nirgends enthalten. Er sprach von „Republik", „Republikanismus" und „revolutionärer Regierung". 10 Die zentrale Passage der Februarrede verdient daher Aufmerksamkeit. Lassen wir Umstände und Gründe außer Acht, so bleibt festzuhalten, daß Robespierre von einem überhöhten politischen Ziel sprach, „dem universellen Glück", was uns an Jeremy Benthams Wort, 1789, vom „greatest happiness of the greatest number" erinnert. 1 1 „Das größte Glück der größten Zahl" ist wahrscheinlich zur dauerhaftesten und allgemeinsten, populärsten und zugleich hintergründigsten Parole in der Geschichte der letzten beiden Jahrhunderte geworden. Ob Robespierre das Wort schon kannte, erscheint zweifelhaft. Aber auch er forderte 9

Vgl. Robert R. Palmer, Das Zeitalter der demokratischen Revolution. Eine vergleichende Geschichte Europas und Amerikas von 1760 bis zur Französischen Revolution, Frankfurt a.M. 1917, S. 28. Dies ist die deutsche Übers, des ersten Bandes von Palmer, The Age of Democratic Revolution. A Political History of Europe and America 1760-1800. The Challenge, Princeton, N.J. 1959. 10 Lediglich am 25. September 1793 benutze Robespierre ein einziges Mal das Adjektiv „demokratisch" in ironischem Sinne. „Demokratische Barone" nannte er jene Adeligen, die in Wahrheit mit den Emigranten sympathisierten, sich aber dem Anschein nach auf die Seite der Revolution geschlagen hätten. „Les barons démocrates sont les frères des Marquis de Coblentz;... " Robespierre, Textes Choisis (Les Classiques du peuple), hg. v. Jean Poperen, vol. III, Paris 1958, S. 101. 11 Joseph Priestley , The Doctrine of Philosophical Necessity, London 1777; vorgebildet in der Streitschrift von Priestley, An Examination of Dr. Reid's Inquiry into the Human Mind on the Principle of Common Sense..., London 1774, S.XIII. Das Zitat von Bentham, der es bekannt machte: An Introduction to the Principles of Morals and Legislation, London 1789, revid. Ausgabe 1879. Hierzu im einzelnen Gerhard Schulz, Das Zeitalter der Gesellschaft. Aufsätze zur politischen Sozialgeschichte der Neuzeit, München 1969, S.43 f., 383.

Gerhard Schulz

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Glück, das er sich als mit verfügbaren Mitteln erwirktes „Wunder" vorstellte, um dann zu fragen: "Welche Regierungsform kann dieses Wunder vollbringen? Nur die demokratische oder republikanische Regierung! Denn diese beiden Wörter sind synonym... Die Demokratie ist ein Staat, in dem das souveräne Volk, von den Gesetzen geleitet, die sein Werk sind, selbst tut, was es tun kann, und durch seine Abgeordneten alles das, was es nicht selbst tun kann". 1 2 Das sind beachtliche Formulierungen. Die Republik, der Inbegriff des normativen Staates, verschwindet nicht aus Robespierres Überlegungen; ihr Gegensatz bleibt die Tyrannis, der Tyrann, der satanische Widersacher, der Verderber der Republik. Die Antithese dieser manichäischen Gegenüberstellung hält sich an Vorstellungsweisen und Vokabular der Zeit. Aber Republik, hören wir aus der Rede Robespierres, ist in Frankreich zum ersten Male Demokratie geworden, die nun alle Menschen, ohne Unterschied der Herkunft, der Stellung und des Ranges, an Gleichheit und Bürgerrechte mahne und binde. Das erinnert wohl an die ursprünglich gegebene natürliche Freiheit und Unabhängigkeit des Menschen nach der Vorstellung, die wir aus Rousseaus „Contrat social" kennen. Dieser Lehre war auch Robespierre verpflichtet. Doch Rousseau, der sich auch als Autor Bürger von Genf nannte, hatte die wahre Demokratie, wie er sie verstand, nur dort für möglich gehalten, wo alle Bürger unter einer Linde zusammenkommen und über ihre Geschicke gemeinsam beschließen, in einer politischen Idylle also, die es an manchen Orten der Schweiz noch gab, wo über Polis und Politik gleichermaßen von allen oder doch fast allen Bürgern beschlossen wurde. 13 12

Textes Choisis, III, S.113: „La démocratie est un etat où le peuple souverain, guidé par des lois qui sont son ouvrage, fait par lui même tout ce qu'il peut faire, et par des délégués tout ce qu'il ne peut faire lui même." Das grundlegende Prinzip der Demokratie nannte Robespierre, ganz im Sinne der Republikvorstellung der Aufklärung, die Tugend („vertu publique"), die in Griechenland und Rom so viele Wunder („merveilles") vollbracht habe und in Frankreich noch mehr vollbringen solle. In der deutschsprachigen Dokumentation von Walter Grab (Hg.), Die Französische Revolution. Eine Dokumentation, München 1973, fehlt diese überaus wichtige Rede Robespierres. 13 Im „Contrat Social" bemerkt Rousseau sogar innerhalb des kurzen Abschnittes über die Demokratie (Livre III, ch. IV): „A prendre le terme dans la rigueur de l'acception, il n'a jamais extisté de veritable Démocratie, et il n'on existera jamais."Und „S'il y avoit un peuple de Dieux, il se gouverneroit Démocratiquement. Un Gouvernement si parfait ne convient pas à des hommes." In gewisser Hinsicht trifft die Bemerkung des kritischen Editors zu, daß Rousseau dem Wort Demokratie einen unmodernen, noch nicht abgewandelten, der Vorstellung der Antike verwandten Sinn beigelegt hat (Du Contrat Social ou principes du droit politique, hg. v. Charles E. Vaughan, Manchester/London 1918, ND 1947, S. 144.). Vielleicht war sogar das Alte Testament im Spiel. Aber Rousseau hatte in seinem Traktat auch den modernen Staat vor Augen und die Diskrepanz erkannt. Man sollte beachten, daß Rousseau dem letzten Zitat einen erklärenden Absatz vorangestellt hat, der in geläufigen deutschen Übersetzungen nahezu vollständig ausgelassen wurde: „Ajoutons qu'il n'y a pas de Gouvernement si sujet aux guerres civiles et aux agitations intestines que le Démocratique ou populaire, parce-qu'il n'y en a aucun qui tende si fortement et si continuellement à changer de

Demokratie und Diktatur

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Robespierre gab sich überzeugt, daß man hierüber hinausgelangt sei und das Ideal der Demokratie in der gemeinschaftlichen Bestimmung aller Angelegenheiten im großen Flächenstaat Frankreich verwirklicht habe. Allerdings deutete er einen Kompromiß - ein Sowohl-als-auch - an, der erst den Schritt über Rousseau hinaus ermöglichte und dessen Problematik dem nachdenklichen und scharfsinnigen Robespierre - was man auch sonst immer über die Eigenarten dieses Mannes sagen mag - nicht fremd war: Demokratie ist Staat, souveränes Volk, Regierung durch Gesetz und Repräsentation durch Abgeordnete. An eine parlamentarisch regierte Demokratie aber dachte Robespierre noch nicht. Er meinte einen Konvent, dessen Tätigkeit sich stets vor Augen einer möglichst großen Volksmenge abspielte, der seine Beschlüsse ausführen ließ und der sich auf die action directe in der Pariser Bevölkerung stützte. Solche Regierung operierte freilich nur in einer Abfolge von Improvisationen, die letzthin wohl einer Diktatur zusteuerten. III. Für die Franzosen der Revolutionszeit ergab sich schon aus dem Begriff der Republik als zentralistischer Organisation des Großflächenstaates Frankreich die Ausschaltung aller intermediären Organisationen. Diese wurden daher gewaltsam unterdrückt, so daß es nur noch einige, bald immer weniger politische Clubs und Salons gab. Die Loi Le Chapelier verbot kurzerhand am 17. Juni 1791 alle Organisationen, die sich zwischen Zentralgewalt und Bürger schoben. Artikel I verfügte „die Vernichtung aller Arten von Vereinigung der Bürger desselben Standes und desselben Berufes..." Dies wurde Grundlage („base fondamentale") der französischen Verfassung. Das Schreckwort der Stunde hieß „corporation", gegen die jedweder Zwang geboten schien. „Niemandem ist es erlaubt, den Bürgern ein intermediäres Interesse einzuflößen und sie durch Korporationsgeist von den Angelegenheiten der Öffentlichkeit zu entfernen," heißt es in der Loi Le Chapelier. 14 Man könnte hieran wohl man-

forme, ni qui demande plus de vigilance et du courage pour être maintenu dans la sienne. C'est surtout dans cette constitution que le Citoyen doit s'armer de force et de constance, et dire chaque jour de sa vie au fond de son cœur ce que disoit un vertueux Palatin dans la Diète de Pologne: Malo periculosam libertatem quam quietum servitium." Oeuvres compl., éd. de la Pléiade, Paris 1964, III, S.405; Vaughn (Hg.), Political Writings, 1962, II, S.71 f.). 14 Vollständiger Text in deutscher Übers, bei Grab, Revolution, S. 49 f.; Artikel I bei Joseph H. Kaiser, Die Repräsentation organisierter Interessen, Berlin 1956, S.32; dort auch die nachfolgenden Artikel in französischem Text. Es ist für unsere Betrachtung unerheblich, daß auch die Gesetzgebung des späten Absolutismus ähnlich gegen Korporationen vorging. Der staatsorganisatorische Zweck war derselbe, nämlich die Zentralisation des Großflächenstaates. Der Vermittlung diente der

2 Timmermann / Gruner

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cherlei Betrachtung über Abwandlungen und Weiterentwicklungen in totalitären Systemen anstellen. Die moderne Demokratie in Frankreich wie in England verdankt jedoch vielen Arten von Zusammenschlüssen und selbsttätigen Organisationen auf religiöser, philosophischer, politischer, mäzenatischer, karitativer, aber auch auf beruflicher Grundlage - um nur ein Beispiel zu nennen: die Trade Unions in England - Entstehung und Entwicklung, obgleich diese Erscheinungen im einzelnen in aller Regel noch nicht als Demokratie bezeichnet werden. 15 In England entstand ein freies Vereinigungswesen schon frühzeitig als Folge religiös-kirchlicher Separationen. Dissenters verschiedener calvinistischer Kongregationen suchten zunächst auf dem freieren Boden der Niederlande nach einer Zukunft, ehe einige nach Nordamerika emigrierten und bei Kap Cod die Anfänge der Puritanerkolonien Neuenglands schufen. 16 Auseinandersetzungen letztlich über das Dilemma der nach außen freien, aber im Innern konsistenten religiös-politischen Gemeinde - der Gemeinde des Glaubens wie der politischen Organisation in einer allochthonen Umwelt - führten dann zu neuen Separationen, 17 so Rhode Island 1636 nach der Ausschließung des berühmten Roger Williams aus Massachussetts, der seine neue Kolonie „democraticall" nannte, aus religiösen Motiven gegründet, doch als säkulares Unternehmen aufgefaßt und fortgeführt, ein Vorläufer strikter Religionsfreiheit aus religiöser Strenggläubigkeit heraus, wie später bei den Quäkern. Über Roger Williams und seine Anhänger entstanden Verbindungen zwischen Neuengland und treibenden Kräften der englischen Revolution, zu Oliver Cromwell und Männern seines Heeres.

Begriff der Nation nach Sieyès, der sich auf das Volk als eine Ganzheit bezog: „Für die Nation kann es nichts anderes geben als die Nation". 15 Vgl. Adolf M. Birke % Voluntary Associations. Aspekte gesellschaftlicher Selbstorganisation im frühindustriellen England, in: Gesellschaftliche Strukturen als Verfassungsproblem (Der Staat, Beiheft 22), Berlin 1978. 16 Vgl. den Forschungsbericht von Ursula Brumm, Puritanismus und Literatur in Amerika (Erträge der Forschung, 20), Darmstadt 1973. 17 George L. Walker, Thomas Hooker, Preacher, Founder, Democrat, New York 1891; Samuel H. Brockunier, The Irrepressible Democrat. Roger Williams, New York 1940; Edmunds. Morgan, Roger Williams. The Church and the State, New York 1967; Perry Miller, Roger Williams. His Contribution to American Tradition, Indianapolis 1953; ders., Orthodoxy in Massachussetts, 16301650, Cambridge, Mass. 1933; vgl. auch Michael Freund, Die Idee der Toleranz im England der großen Revolution, Halle 1927.

Demokratie und Diktatur

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Das Gleichheitsprinzip hat sich in der Geschichte des Wahlrechts erst in einem verhältnismäßig langen Zeitraum durchgesetzt. Dies war mit dem Abbau oder der Um- und Einformung älterer Eliten verbunden, was auch die Widerstände erklärt. Im Hinblick auf das Frauenwahlrecht traten noch andere Gründe hinzu. In England spiegelte sich dieser Vorgang in der allmählich fortschreitenden Veränderung der Zusammensetzung des House of Commons. Dem Hochadel verblieb das Oberhaus. 18 In Frankreich fiel die bleibende Entscheidung für die Republik erst 1875, nach dem letzten gescheiterten Versuch, erneut die Monarchie wiederherzustellen, mit einer einzigen Stimme Mehrheit und ohne daß damit die Gegner des neuen Staates im Offizierskorps, unter Politikern, Literaten und in der Verwaltung schon völlig ausgeschaltet worden wären. Die eigentliche „classe politique" aus Aristokraten, bürgerlichen Unternehmern, Advokaten, städtischen Honoratioren, Professoren, Journalisten wuchs aus den verschiedenen Richtungen und Lagern zusammen, unter zögernder Ausschaltung der extremistischen Gegner der Republik. Sie war es, die dem Staat und der Politik Bestand und Dauer verlieh. Frankreich hat dennoch häufig und ins Extreme führende Wechsel der Staats- und Regierungsformen, noch viel häufigere Wechsel der Regierungen, mehr noch der bestimmenden Parteienkombinationen, erlebt. Ein ideelles Erbe Robespierres läßt sich mithin, außerhalb großer Reden, in der Geschichte Frankreichs nur an einzelnen Spuren verfolgen. Doch die in Wahrheit verwirklichte Demokratie hätten die Franzosen, zumindest bis auf Napoleon III., der sich allerdings selbst einen demokratischen Herrscher nannte, auch gar nicht in ihrem Lande erblicken wollen. IV. Seit Chateaubriand und der Verbreitung amerikanischer Erlebnisse galten auch in Frankreich die Vereinigten Staaten als das erste Land wahrer Demokratie. Als Tocqueville 1835 im Frankreich des Bürgerkönigs sein Buch „Über die Demokratie in Amerika" erscheinen ließ, schrieb er in der Einleitung: „Ich bekenne, daß ich in Amerika mehr sah als Amerika. Ich suchte das Bild der Demokratie selbst mit ihren Eigenarten, ihrem Charakter, ihren Vorurteilen und Leidenschaften, um zu lernen, was wir zu fürchten oder zu hoffen haben von ihrem Fortschritt," der für ihn außer Frage stand.19

18 Vgl. Sir DavidLinsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain since 1485, 8. Aufl. London 1966.

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Wenn nun das letzte Jahrhundert eine Geschichte der Entfaltung der Demokratie vorgeführt hat, so blieb doch ein „demokratisches Culturstaatensystem", von dem der ungarische Historiker Schvarcz vor mehr als 100 Jahren sprach, in weiter Ferne. Unter den modernen Definitionen der Demokratie ist die des liberalen englischen Politikers und Historikers James Bryce geläufig geworden. In seinem letzten Werk aus dem Jahre 1921, das auch in Deutschland als grundlegende Einführung galt, schrieb Lord Bryce: „Das Wort t Demokratie , wurde seit der Zeit Herodots zur Kennzeichnung jener Regierungsformen gebraucht, bei der die herrschende Macht eines Staates gesetzlich nicht bei einer besonderen Klasse oder Klassen, sondern bei den Gliedern der Gemeinschaft im ganzen ruht. Dies bedeutet bei Gemeinwesen, die durch Abstimmungen handeln, daß die Herrschaft der Majorität gehört, nachdem keine andere Methode gefunden ist, um in friedlicher und gesetzlicher Weise das festzustellen, was als der Wille einer Gemeinschaft bei Fehlen der Einstimmigkeit gelten soll." 2 0 Für die Demokratie im Athen der klassischen Antike galt dies nicht. Bryce hat jedoch einen Versuch unternommen, zu einer allgemeinen Bestimmung des aus der Antike hergeleiteten Begriffs zu gelangen, der an einen Grundgedanken Robespierres anknüpfte und doch wohl am besten für die politische Praxis geeignet erscheint. Hingegen sind sowohl Gefährdungen als auch Grenzen der Demokratie offenkundig geworden. Sie treten in Krisen zutage, Krisen der Demokratie, die Diktaturen ermöglichen und zu Einschränkungen von Rechten fuhren. Entscheidende Frage bleibt die nach Regeneration der Demokratie oder Verharren der Diktatur. Worin liegen die Gefährdungen? Die jüngere Geschichte verfugt über reichliche Erfahrungen, um hierauf zwar nicht abschließend und keineswegs vollständig, jedoch mit einigen belangvollen Bemerkungen antworten zu können. Gefährdungen der Demokratie liegen vor allem in hintergründigen oder offenen monopolartigen Einflüssen, in der sukzessiven, permanenten Zentralisation von Entscheidungen ohne adäquate Balance, Rückbindungen und Einwirkungsmöglichkeiten. Diese sind häufiger als unvermittelte Anbahnungen eines quasidiktatorialen oder offen diktatorischen Regierungssystems über eine Monopoloder Einheitspartei und deren Verbindung mit der Staatsspitze durch Führerkult 19

Alexis de Tocqueville, De le Démocratie en Amérique, Paris 1835, Bd.I, S.XXI; in der deutschen wie in der französischen Gesamtausgabe der Werke Tocquevilles von J.P. Mayer, die auf die 12. Auflage von 1848 zurückgreift, sind der ursprünglichen „Introduction" eine weitere Einleitung und ein Vorwort vorangestellt. 20 James Bryce, Modern Democracies, zit. nach der deutschen Übers, v. Karl Loewenstein u. Alfred Mendelssohn-Bartholdy, Moderne Demokratien, München 1923, Bd. I, S. 20.

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und Kampfideologien und so fort. Gefahren, mit anderen Worten gesagt: Grenzen des Maßes wie der Form werden aber auch in der ungeschützten Offenheit sowie der Fragilität tragender politischer Kräfte oder Koalitionen sichtbar. Diese Dualität des Sicherheitsmangels - gegenüber Autoritarismus einerseits und Destruktionismus anderseits - mögen das berühmte Wort Churchills verständlich machen, die Demokratie sei eine schlechte Staatsform; aber es gebe keine bessere. Einige Interpreten und Theoretiker des demokratischen Verfassungsstaates pflegen zwischen normalen, friedlichen Existenzbedingungen der Demokratie und solchen von Kriegs- und Krisenzeiten zu unterscheiden. Die Erinnerung an die bange rhetorische Frage, die Abraham Lincoln in einer Kongreßbotschaft am Anfang des Sezessionskrieges in Nordamerika stellte, tauchte so oder ähnlich immer wieder auf: „Leiden denn alle Republiken an dieser fatalen Wesensschwäche? Muß ein Staat in der Zwangslage entweder zu stark sein, um die Freiheiten des Volkes zu sichern, oder zu schwach, um ihre Existenz sichern zu können?" 21 Die Überzeugung, daß die Demokratie in Krisen- oder Kriegszeiten Formen einschränken müsse angesichts der „fragility of free Government" in Perioden äußerster Gefährdung, ist in den Vereinigten Staaten seit jeher geläufig. Die Diktatur der römischen Republik diente als Vorbild einer temporär gedachten Absicherung der Demokratie als Diktatur in Krisenzeiten, die im Rahmen der Verfassung möglich,"constitutional dictatorship" sein sollte. Die große Macht, die War Powers des Präsidenten im Kriegsfall, gestärkt durch eine deutliche Kongreßmehrheit, die vorherrschende Meinung in der Bevölkerung, loyale Gouverneure, Staatslegislativen und entschiedene Parteigänger auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens, stellten jedes Mal eine so gewaltige Potenz dar, daß staatliche Eingriffe in viele Lebensbereiche, politische wie wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen und Einschränkungen individueller Freiheitsrechte eine Umstellung und Umrüstung der gesamten politischen Organisation herbeiführen konnten. Diese Zustände präsidentieller, aber auf breiter Grundlage beruhender, letztlich also doch demokratisch fundierter Diktatur blieben kurzfristig, dauerten wenige Jahre und wurden nach den Kriegshandlungen aufgehoben. 2 2 Verstöße und Übergriffe blieben nicht aus. Doch alle Organe der demokratischen Verfassung und eine überwältigende Mehrheit in

21 Clinton L. Rossiter , Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies, Princeton, N.J. 1948, S. 3. 22 A.a.O., S. 5 "Therefore, in time of crisis a democratic, constitutional government must be temporarily altered to whatever degree is necessary to overcome the peril and restore normal conditions."

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der Bevölkerung stimmten überein; auch die Wahlkämpfe während der Kriegszeiten - schon die Tatsache, daß sie stattfanden-, lassen sich als Bestätigung anführen. Als Einwand gegen die in Amerika vertretene Theorie von der „constitutional dictatorship" in Kriegszeiten könnte allerdings vorgebracht werden, daß einige Maßnahmen, Gesetze, die der Kongreß verabschiedete und die rigoros von der Administration ausgeführt wurden, für ganze Minderheiten (Sozialisten, Pazifisten, teilweise Deutsche im Ersten, Japaner im Zweiten Weltkrieg) zum Verlust von Freiheit und Schutz führten. In der Phase des sogenannten Kalten Krieges traf dies hunderte von Intellektuellen während der McCarthy-Ära. Der Kongreß litt sichtlich unter Ausfallerscheinungen. Doch den Supreme Court, den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, veranlaßte die Einweisung vieler Tausender Japaner amerikanischer Staatsbürgerschaft in Konzentrationslager, die Verfassungswidrigkeit der getroffenen Entscheidungen festzustellen. 23 Die Bundesregierung wurde nach dem Kriege zur Wiedergutmachung verpflichtet, um den Schaden zu heilen. Das „crisis government", das es ähnlich in anderen, am Krieg beteiligten Staaten gab, bedeutete allerdings niemals eine Entfremdung oder auch nur Entfernung der Exekutive von der Legislative. Das gilt für Regierung und Parlament in England wie für Präsidenten und Kongreß in den Vereinigten Staaten. Beide befanden sich stets in Übereinstimmung mit einer großen, wachsenden, wenn auch auf längere Sicht unfundierten Mehrheit der Bevölkerung, deren demonstrierter Konsens den eingeengten politischen Minderheiten zu Leibe rückte, bis regelmäßig der Gegenschlag einsetzte, der Pendelschlag wechselte und eine neue Richtung der vorherrschenden Meinung anzeigte. Die Frage nach den Ursachen führt freilich in die Charakterologie der Völker und Volksteile und letztlich in die Anthroplogie. Wahrscheinlich werden sich nicht viele der mehrfach geäußerten Auffassung anschließen wollen, daß „bürgerliche Freiheiten, freies Unternehmertum, Verfassungsgemäßheit und Herrschaft von Diskussion und Kompromiß Luxusprodukte seien", 24 derer man in Notzeiten eben entraten müsse. Aber sie werden

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Im entscheidenden Falle Ex parte Endo (1944) urteilte der Supreme Court, daß Massenevakuationen aus militärischen Gründen im Kriege gerechtfertigt seien, doch amerikanische Staatsbürger japanischer Herkunft, deren Loyalität nicht in Frage stehe, nicht in Konzentrationslagern („relocation centers") festgehalten werden dürfen. Leading Constitutional Decisions, hg. ν. Robert Eugene Cushman, 10. Aufl. New York 1955, S.75. 24

Henry Summer Maine, kritisch zitiert von Rossiter, a.a.O., S.5.

Demokratie und Diktatur

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kaum Einwände gegen die lapidare Feststellung erheben, daß „Demokratie ein Kind des Friedens" ist, das nicht abseits von seiner Mutter leben kann. Krieg in jedweder Form bedeutet Angriff, bedeutet im Grunde auch stets Krieg gegen die Demokratie. Doch man wird ihn nie verhindern können, indem man gegen die bewaffnete Macht demonstriert.

V. Ein Dilemma resultiert daraus, daß infolge der raschen wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung und der hiermit verbundenen Konflikte und Brüche innerhalb der Gesellschaft und angesichts heraufziehender Krisen, denen endogene wie exogene Ursachen zugrunde liegen, bei gleichzeitig ständig gesteigerten Anforderungen an den Staat, etwa den sich mehrenden Aufgabenlasten sozialstaatlicher Einrichtungen, der Demokratie eine große und ständig zunehmende Leistung an Integrationskraft abverlangt wird. Der Kampf um die Erhaltung der Demokratie spielt sich nicht nur in dem Blickwinkel der Machtbehauptung der Mehrheit ab. Jede Regierung und Verwaltung des gesamten Gewaltensystems sieht sich tagtäglich einer Vielzahl von Problemen gegenüber und muß ständig ein hohes Maß politisch-technischer Fähigkeiten an den Tag legen - und nicht nur so tun, als ob. Sie muß sich auf vielen Ebenen bewähren, sich imstand halten, schwierigen Fragen gewachsen zu sein. Bürokratie verwandelt Probleme in Routinefälle. Daß sich hieraus Konflikte ergeben und daß diese kumulieren können, liegt auf der Hand. Das zwingt zu dem Schluß, daß jede Demokratie, von allem anderen abgesehen, jede Staatsform, die sich ohne gewalttätige Unterdrückung behaupten will, jederzeit die besten Kräfte für die Spitzenfunktionen in Staat und Gesellschaft bereithalten muß, die die Fähigkeit entwickeln, die sich mehrenden Probleme nach einigermaßen resistenten Maßstäben zu lösen - und nicht vor sich herzuschieben oder durch halbe Entscheidungen zu komplizieren; und daß hinter dieser Schicht eine weitere heranwächst, bereit nachzurücken und so fort. Grenzen der Demokratie werden überall dort sichtbar und fühlbar, wo sie ihre notwendige Integrationskraft einbüßt, so daß aus ihr ein Zwangssystem erwächst oder die offene Diktatur an ihre Stelle tritt oder sie zur bloßen Herrschaft der Dummheit, zur Bewahrung des formalen Majoritätsprinzips bei subversiver Tendenz der Maßstäbe herabsinkt, was Gesellschaft wie Staat zugrunderichten kann. Und nach mannigfachen Erfahrungen, die die Menschheit im 20. Jahrhundert machten, bleibt das Faktum, daß hinter Diktaturen das drohende Gespenst eines Individuen verachtenden und vernichtenden Totalitarismus um-

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Gerhard Schulz

geht. Hannah Arendt hat ihn zuerst als globale Tendenz beschrieben, die sich in den Massen der klassenlos gewordenen Gesellschaft in Gelegenheitsbündnissen von „Mob und Elite" durchzusetzen vermag. 25 „Wir werden zu entdecken versuchen, ... was die Staaten erhält oder verdirbt...," formulierte Aristoteles die große Aufgabe in der Nikomachischen Ethik, was Karl Popper als Übereinstimmung mit Piaton fand. 26 Ich wüßte nicht, was uns in unserer Zeit dieser Aufgabe enthöbe. In den Politika sagt Aristoteles, Wissenschaft begründend: „Wer immer untersuchen will, welches die beste Form des Staates ist, muß feststellen, welches die beste Form des Lebens ist." 2 7 Das ist in erster Linie eine Aufgabe für politisch befähigte Philosophen, die letztlich in die Anthropologie führt. Sie gilt sowohl für Deutschland als auch für Europa und den Globus.

25 Hannah Arendt, The Origins of Totalitarianism, New York 1951, in deutscher Übers, mit dem blasseren Titel: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Frankfurt a.M. 1955. 26 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd.I: Der Zauber Piatons, Tübingen 1992, S.26 f. 27

Aristotelis Opera (Berliner Akademie-Ausgabe), Bd.II, ND 1960, Pol. E8, S. 1310a.

Totalitarismus und Militarismus Von Marian Zgorniak

Der Begriff „ Militarismus" ging in den politischen Wortschatz vor ungefähr 140 Jahren ein, und er entstand in den Kreisen der republikanischen Opposition gegen das autokratische Regime des Kaisers Napoleon III. Bald verbreitete er sich in Großbritannien, Deutschland und anderen Ländern Europas und der Welt. Der Militarismus wird oft unterschiedlich definiert und manchmal auch unterschiedlich verstanden. Meistens versteht man darunter ein Herrschaftssystem, in dem die Streitkräfte einen entscheidenden Einfluß auf die Staatspolitik ausüben, im eigenen oder fremden Namen, manchmal im Namen einer Ideologie, die Kontrolle über die Machtstrukturen ausführt und die Wirtschaft, Politik und das gesellschaftliche Leben auf die Erfordernisse der eventuellen Kriegsführung, vorwiegend eines Eroberungskrieges, ausrichtet. Einige Autoren verknüpfen den Militarismus mit der Entstehung des Imperialismus, der Massenarmeen und der Korps von Berufsoffizieren, die nach der Erkämpfung des Primates für die Streitkräfte und Verteidigungsfragen über die anderen Bedürfnisse des Staates und der Gesellschaft strebten. Der Militarismus ist eng mit den autoritären Staatssystemen verbunden und wie es scheint, kann man vom Militarismus nicht nur während der letzten vier Jahrzehnte des 19. Jhs. und im 20. Jhs., sondern auch während der absoluten Monarchie (besonders in Preußen) und des I. französischen napoleonischen Empires sprechen. Er entwickelte sich insbesondere während des Ersten Weltkrieges und nach seinem Ende. Nach einer kurzen Zeit der vorherrschenden pazifistischen Stimmungen wurde der Militarismus zum dominanten Model, vor allem in den totalitären Staaten, die nach Revision der den großen Krieg abschließenden Friedensverträge, nach der neuen Teilung der Welt und territorialen Eroberungen strebten. Im immer höheren Grade sollte die Militarisierung der Wirtschaft, des politischen und gesellschaftlichen Lebens den Interessen von bestimmten gesellschaftlichen Klassen und Gruppen oder den in ihren Namen agierenden Machteliten dienen.

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Der Erste Weltkrieg endete mit der Niederlage der drei Großmächte: Deutschland, des königlich-kaiserlichen Österreich-Ungarn und des zaristischen Rußland. Im Mitteleuropa entstanden auf den Trümmern dieser drei Großmächte Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Finnland, Litauen, Lettland, Estland und Rumänien. Als Folge des Versailler Vertrages mußte Deutschland Gebiets Verluste in Europa von 70,5 Tausend km 2 , also über 13 % seines Gesamtterritoriums hinnehmen. Die Revision des Versailler Vertrages wurde zum Ziel von fast allen deutschen politischen Parteien der damaligen Zeit, und seine Gebietsansprüche richtete das Reich vor allem an Polen. Die politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kreise in Deutschland begannen noch in der Weimarer Republik gegen die aus dem Versailler Vertrag resultierenden Einschränkungen im Bereich der Bewaffnung der Größe der Infanterie und Marine und der Arten ihrer Ausrüstung eine Militarisierung der Wirtschaft und geheime Arbeiten an der Vergrößerung der Streitkräfte. Nachdem am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, erklärte er schon vier Tage später, am 3. Februar, den im Hauptquartier des Reichswehrbefelshabers versammelten höheren Offizieren, daß er die Armee für den wichtigsten Faktor im Staate halte, und kündigte die Aufrüstung, die den entsprechenden Lebensraum für das große Reich zu erobern ermöglichen werde, an.1 Die Befehlsgewalt über die schnell aufrüstenden Armee blieb in den Händen der alten Führungsgarde, die noch aus den Zeiten des Kaiserdeutschland stammte. Somit widersetzte sich Hitler den Bestrebungen derjenigen Führungskräfte seiner eigenen Partei mit Röhm an der Spitze, die für eine Übernahme der Sicherheit des Staates und der Vorbereitung des Krieges von der Reichswehr durch die SA eintraten. Im Bestreben, den Oberbefehl in den Händen der sachkundigen Offizierskader und des als große Autorität geltenden Generalstabs zu lassen, schreckte er sogar nicht vor eine physischen Vernichtung von Röhm und anderen SA-Führern, die während der sog. „Nacht der langen Messer" von der SS-Leibgarde ermordet wurde, zurück. Seit Hitlers Machtübernahme nahm die Aufrüstung Deutschlands ein rasendes Tempo an. Der Militäretat wuchs seitdem jährlich progressiv, man setzte die Rüstung „in der Tiefe" fort, und dann später auch „ in der Breite", so daß schon nach einigen wenigen Jahren die Wehrmacht zum Instrument der Eroberung von Nachbarländern wurde. Obwohl die nationalsozialistische Partei die staatliche Verwaltung entweder übernommen oder mindestens kontrolliert hatte, und die innere Sicherheit völlig dem SD und Himmler unterordnet wurde, blieben die Streitkräfte und auch die immer stärker werdende Rüstungsindustrie der 1

F. Carsten , Reichswehr und Politik 1918-1933, Köln-Berlin, 1966, S.443.

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Reichswirtschaft im Prinzip bis zum mißlungenen Attentat auf Hitler im Juli 1944 in den Händen der Generalität. Hitler bemühte sich nur allmählich, seine persönliche Hoheits- und Kontrollrechte gegenüber der Armee immer mehr zu stärken. 1934, nach dem Tode Hindenburgs, hatte er formell Befehlsgewalt über die Streitkräfte übernommen. Im Februar 1938 hatte er nach Auflösung des Kriegsministeriums durch die Schaffung des Oberkommandos der Wehrmacht den tatsächlichen Oberbefehl über die drei Teilstreitkräfte ergriffen, und im Winter 1942/43, nach der Niederlage bei Moskau, übernahm er persönlich den Oberbefehl über das Heer an der Ostfront. Obwohl die NSDAP die Macht im Staat ergriffen hatte, blieb das Offizierskorps der Wehrmacht eine privilegierte Kaste in der Struktur des Dritten Reiches. Erst nach dem Attentat am 20. Juli 1944 und angesichts der kommenden Niederlage wurde seine bis dahin autonome Stellung geschwächt. Wenn auch einige Offiziere der deutschen Streitkräfte eine kritische Einstellung gegenüber den Methoden, die der nationalsozialistische Machtapparat angewandt hatte, einnahmen, akzeptierte eine Mehrheit des Offizierskorps, das schon immer der Fürsprecher und das Bollwerk des Militarismus war, grundsätzlich das Eroberungsprogramm der Nazis, das mindestens teilweise mit ihren eigenen Plänen übereinstimmte. Übrigens hatte Hitler selbst bei der Entwicklung seiner politischen und verfassungsmäßigen Konzepte viele Gedanken der Ideologen des deutschen Militarismus übernommen. Eines seiner Vorbilder, General Erich Ludendorff, Verfasser des berühmten Buches über den totalen Krieg, hat sogar aktiv an dem Münchener Hitler-Putsch im Jahre 1923 teilgenommen und wurde zum beliebten Helden der Nazi-Propaganda. Hitler, der anfänglich nur formell die Funktion des Oberbefehlshabers der Streitkräfte ausgeübt hatte, gewann mit der Zeit immer größere Selbstsicherheit in der Kriegführung. Man muß zugeben, daß in den Jahren 1938-1940 seine Bemerkungen und Kommentare zu den von Generalen dargelegten Plänen der militärischen Operationen und Kampagnen meistens zutreffend waren und sein Verständnis für strategische Fragen bezeugten. Erst der Siegeszug der Wehrmacht und Hitlers wachsender Glaube an den eigenen kriegerischen Genius hatten zur Folge, daß seine Entscheidungen immer weniger etwas gemeinsames mit der Wirklichkeit hatten, immer mehr abenteuerlich und in vielen Fällen zur Quelle der Mißerfolge und Niederlagen wurden, wofür er vorwiegend seine Generälität verantwortlich machte. Der italienische Faschismus war in seiner Genese und am Anfang auch relativ eng mit dem italienischen Militarismus verbunden. Die Kader der „Schwarzhemden" rekrutierten sich im Wesentlichen aus ehemaligen Frontkämpfern, zu denen auch Benito Mussolini selbst zählte. Nach der Machtergreifung lancierte der „Duce" die Idee einer Militarisierung des Landes und

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Vergrößerung der Armee wie auch eine Politik der territorialen Expansion. Weil aber Italien ein rohstoffarmes Land mit bescheidener Industrie war, konnten diese Pläne nicht völlig verwirklicht werden, und der Kolonialkrieg in Äthiopien und italienische Hilfe für das „nationale" Spanien schöpften die Ressourcen des Landes aus und schwächten die militärischen Möglichkeiten des Staates so, daß Italien von Deutschland ökonomisch abhängig wurde. Darüber hinaus war Mussolini nicht imstande, sich die Streitkräfte, deren Kader eng mit dem königlichen Hof verbunden war, gänzlich unterzuordnen. Den regulären Heereseinheiten wurden zwar die Formationen der faschistischen Nationalmiliz zugeteilt, was aber keinen größeren Einfluß auf die gesamte Lage hatte. Darüber hinaus hatte der Duce selbst keine militärischen Begabungen. Dies hatte zur Folge, daß abenteuerliche, den bestehenden Gegebenheiten entgegenstehende politisch-militärische Entscheidungen getroffen wurden. Als Beispiel kann man hier schon den Beitritt Italiens zum Krieg auf Deutschlands Seite trotz des niedrigen Standes der Kriegsvorbereitungen, den Angriff auf Griechenland im Jahre 1940 ohne entsprechende Vorbereitung der militärischen Operationen und die Offensive in Ägypten, die den italienischen Streitkräften eine vernichtende Niederlage beigebracht hatte, nennen. Diese Niederlagen trugen im Wesentlichen zum Zusammenbruch des faschistischen Staates und zum Sturz des Diktators selbst bei. Die Niederlagen im Krieg und die beiden Revolutionen des Jahres 1917 führten zum Niedergang des russischen Imperiums. Die zaristische Armee zerfiel, die deutsche und österreichisch-ungarische Armee okkupierten riesige Gebiete, und nach ihrem Rückzug aus Rußland, der Ukraine und aus Weißrußland entbrannte der drei Jahre andauernde Bürgerkrieg, der mit dem Sieg der von den Bolschewiki gegründeten Roten Armee schließlich endete. Diese Armee sollte eine Formation neuen Typus und der bewaffnete Arm der Partei und, wie man damals glaubte, der proletarischen Weltrevolution sein. Denn Lenin und die anderen kommunistischen Führer hofften, daß die Revolution bald das ganze Europa und vielleicht auch andere Kontinente erfassen würde. Im Jahre 1920 schrieb Tuchatschewski in seinem Befehl für die Armee während der sowjetischen Offensive auf Warschau, daß die Rote Armee über die Leiche Polens Deutschland erreichen und dort die Weltrevolution unterstützen wird. Die Schlacht bei Warschau machte diese Pläne zunichte. Infolge des Krieges konnte die neuentstandene Sowjetunion trotz der Einführung des Kriegskommunismus, voller Mobilisierung und des Ausbaues der Roten Armee die territorialen Gebietsverlusten an Rändern des neugebildeten Staates nicht vermeiden. Zwar gelang es den Bolschewiken, die Ukraine, Weißrußland und die Republiken in Kaukasus zu besetzen, wie auch die Republik des Fernen Ostens aufzulösen,

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jedoch blieben außerhalb der Grenzen der im Jahre 1922 gegründeten UdSSR Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Bessarabien und diejenigen ehemaligen Gebiete des Romanow-Imperiums, die nach dem Friede von Riga 1921 an die 2. Republik Polen kamen. Sowjetrußland und später die UdSSR lancierten anfänglich die Idee der Verbreitung der Bolschewiki-Revolution in ganz Europa. Nachdem die revolutionären Stimmungen gesunken waren, strebte man nach der Rückgewinnung mindestens derjenigen Gebiete, die früher zum russischen Imperium gehörten, wobei die revolutionäre Rhetorik des Klassenkampfes und der Befreiung der Brüdervölker von der Herrschaft der Bourgeoisie für solches Vorhaben einen sehr bequemen Vorwand lieferte. Der Verwirklichung dieses Zieles sollte eine allmähliche Militarisierung des Staates und in den 20er Jahren auch die Zusammenarbeit mit dem besiegten Deutschland dienen. Nach der Unterzeichnung des Rapallo-Vertrages im Jahre 1922 entwickelten sich trotzt der ideologischen und verfassungsmäßigen Unterschiede freundschaftliche Beziehungen zwischen der Leitung der Reichswehr und der Führung der Roten Armee. Während des Jahrzehntes 1922-1932 bestand das Hauptziel der deutsch-sowjetischen militärischen Zusammenarbeit neben der Entwicklung und Überprüfung von neuen militärischen Technologien und der Schulung der Armeen beider Länder darin, das mit Frankreich und Rumänien verbündetes Polen in Schach zu halten. Wir kennen zwar keine sowjetischen Operationspläne der damalige Zeit, doch aus deutschen Quellen ist bekannt, daß während der deutsch-sowjetischen Stabstreffen gemeinsame Handlungen gegen Polen besprochen wurden. 2 In den ausgehenden 20er Jahren unternahm die UdSSR die Rüstung im großen Ausmaß. Die Realisierung der Fünfjahrespläne der Industrialisierung des Landes führte zum Ausbau der Schwer-, Maschinen- und vor allem Kriegsindustrie. Es wurde eine riesige Produktion der Waffen eingeleitet. In den Jahren 1930-1937 hatte man in der UdSSR insgesamt u.a. über 20 tausend Flugzeuge, 21 tausend Panzer, über 30 tausend Geschütze und hunderttausende mechanischer Fahrzeuge hergestellt. 3 Dies ermöglichte den Ausbau und die Modernisierung der Roten Armee, die Entwicklung des Militärschulwesens und einer Kriegsdoktrin, was auch eine immense Vergrößerung der Stärke und Bedeutung des Offizierskorps, das zur Erfüllung immer größerer politischer Rolle im Staate anstrebte, als Folge hatte. Die marxistischen Forscher der Militarismusfragen 2 W. Erfuhrt, Die Geschichte des deutschen Generalstabes 1918-1945, Göttingen-Berlin-Frankfiirt 1957, S. 94; M. Zeidler, Reichswehr und die Rote Armee 1920-1933. Wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit. München, 1983, passim. 3

M. Zgôrniak , Europa w przededniu wojny. Sytuacja militama w latach 1938-1939 ( Europa am Vortag des Krieges. Die militärische Situation in den Jahren 1938-1939), Krakow 1993, S.209.

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verknüpften seine Entwicklung mit einem historischen Prozeß, der Entwicklung des aggressiven bürgerlichen Imperialismus, der Herausbildung der Korps von Berufsoffizieren, die sich den politischen Staatsapparat unterzuordnen versuchten, wobei der Staat als Diktatur der herrschenden Klasse verstanden wurde. In der Zeit des wachsenden Primats der Staatsinteressen vor der Ideologie entstand in der Sowjetunion in Zusammenhang mit dem Rückgang der revolutionären Strömungen in der Welt und der Notwendigkeit, das neue System nur in einem einzigen Lande aufzubauen, wie auch der wachsenden Psychose der drohenden Konterrevolution und der Intervention der kapitalistischen Staaten und ebenso der steigenden Rolle der Armee, die als Garant des Systems betrachtet wurde, eine spezifische Art des Militarismus. Zwar fielen in der zweiten Hälfte der 30er Jahre die einflußreiche Führungskader der Roten Armee Stalins Säuberung zum Opfer, was für eine gewisse Zeit die Effektivität ihrer Handlungen vermindert hatte, doch Stalin setzte die Militarisierung des Staates fort, und die dem Diktator völlig untergeordneten Streitkräfte wurden neben der politischen Polizei zum Hauptträger seiner autokratischen Macht und des totalitären Machtsystems, die auch das Programm der territorialen Außenexpansion realisierten. Im August 1939 nahm die UdSSR die im Jahre 1933 unterbrochene Zusammenarbeit mit dem Reich auf, und für fast zwei Jahre kehrte man zum Konzept der Aufteilung Mitteleuropas in die sowjetische und deutsche Interessensphäre zurück. Infolge des Ribbentrop-Molotow-Paktes und der danach unternommenen Kriegshandlungen wurden die östlichen Wojewodschaften der 2. Republik Polens, Karelien, Estland, Lettland, Litauen und Bessarabien in die Sowjetunion eingegliedert. Im Jahre 1940 mißlang allerdings eine weitere Verschiebung der sowjetischen Einflüsse auf dem Balkan. Dieses wurde erst nach dem Sieg über Nazideutschland und seinen Verbündeten im Zweiten Weltkrieg möglich, als die Rote Armee Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, einen Teil von Jugoslawien, Österreich und Deutschland besetzt und auf diesen Gebieten sich mehr oder weniger untergeordnete Staatsorgane geschaffen hatte. Um eine ständige Abhängigkeit aufrechtzuerhalten und das bestehende totalitäre Herrschaftssystem zu stärken, war es notwendig, auch nach dem Zweiten Weltkrieg die militärische Macht aufrechtzuerhalten. Bald begann ein neuer Rüstungswettlauf, auch im Bereich der Nuklearwaffen und Raketen. Während des Korea-Krieges wuchsen die sowjetischen Streitkräfte bis auf ca. 5,7 Millionen Soldaten, und die Rüstungsausgaben überschritten den Wert von 30 Milliarden Dollar USA, also 20 % des Bruttosozialproduktes (BSP).4 Die sowjetische Regierung zwang ebenfalls alle unterworfenen Staaten Mitteleuropas zu verstärk4 US Congress, Joint Economic Commitee. Soviet Economic Performance 1966-1967, Washington D.C. 1968, S.ll.

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ten militärischen Anstrengungen. In den Jahren 1949-1953 wurden in den Volksdemokratien die Reformen der Streitkräfte auf Kosten erheblicher Deformierungen der Volkswirtschaften durchgeführt, die Rüstungsindustrien ausgebaut und die Armeen nach dem sowjetischen Vorbild neuorganisiert. Die Stärke der Streitkräfte wurde verdoppelt und manchmal sogar verdreifacht. Der Tod Josef Stalins im März 1953 trug nur im gewissen Grade zur Dämpfung des Rüstungswettlaufes bei und im Widerspruch zur Friedensoffensive hatte er eigentlich keine Abschwächung der Militarisierung des sowjetischen Staates verursacht. Umgekehrt, die Rolle des eng mit der kommunistischen Partei verbundenen Offizierskorps wuchs, und der militärisch-industrielle Komplex spielte eine immer größere Rolle in den Wirtschaftsstrukturen der UdSSR und der Volksdemokratien. Die Rüstungsspirale, die einen immer höheren Prozentsatz des Sozialproduktes verschlang, mußte letztendlich zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und zur Destruktion des gesamten mit der UdSSR verbundenen Bündnissystemes in Mittel-Ost-Europa führen. Zum Schluß möchte ich noch zu einigen Fragen der mittelosteuropäischen Staaten in der Zwischenkriegszeit zurückkehren. Wegen der Deutschland durch den Versailler Vertrag aufgezwungenen Einschränkungen, der relativ schwachen Position der UdSSR und der militärischen Stärke Frankreichs sah ihre Situation in den 20er Jahren noch nicht tragisch aus. Seit Anfang der 30er Jahre begann sie sich aber aufgrund der riesigen deutschen und sowjetischen Aufrüstungen schnell zu ändern. Einen Wettlauf bei den anwachsenden kostspieligen Rüstungen zu gewinnen, überschritt die ökonomischen Möglichkeiten von Polen, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Griechenland, ganz zu schweigen von Albanien und dem Baltikum. Nur die Tschechoslowakei, die über eine relativ starke Rüstungsindustrie verfügte, konnte ihre Streitkräfte besser bewaffnen. Die Länder dieser Region wurden auch ernsthaft von der Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929-1935, die fast in allen Ländern die Klassen- und soziale Konflikte verschärft hatte, betroffen. Die wachsende äußere und innere Bedrohung führte auch in einigen Ländern dieser Region zur Bildung von autoritären Regierungssystemen, die sich manchmal auf die Armee stützten. Doch die wirtschaftliche Schwäche dieser meist landwirtschaftlichen Länder verhinderte die Herausbildung eines modernen Militarismus. Ende der 30er Jahre und Anfang des Zweiten Weltkrieges wurden alle diese Staaten entweder erobert oder in die Interessensphären ihrer großen militaristischen Nachbarn eingegliedert. Wie wir sehen können, bestehen starke Verbindungen zwischen dem Totalitarismus und dem Militarismus. Er kann sich aber nur voll in denjenigen Ländern entwickeln, die eine ausreichende territoriale Basis und entsprechende

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Bevölkerungs- und vor allem Wirtschaftsgrundlagen besitzen, die die mächtigen, gut bewaffneten Streitkräfte aufzustellen ermöglicht. Die Streitkräfte müssen imstande sein, das politische Staatssystem zu schützen, es vor den äußeren und inneren Bedrohung zu verteidigen und eventuell eine territoriale Expansion zu unternehmen. Der Militarismus ist mit keinem Regierungssystem verbunden, er kann sich in den unterschiedlichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Formation entwickeln und verschiedenen Ideologien dienen.

Diktatur zum Paradies: Die Science Fiction des frühen 20. Jahrhunderts - Ein Essay Von Michael Salewski

In der Zukunftsliteratur der 20iger und 30iger Jahre des 20. Jahrhunderts werden Demokratie und Diktatur - grob vereinfacht - etwa folgendermaßen charakterisiert: Demokratie und Diktatur sind zwei Begriffe, die dem Gesetz der coincidentia oppositorum gehorchen, versucht man jeweils, sie im äußerten zu fassen. In einer Demokratie tendiert alles zur Gleichheit als Folge äußerster Gerechtigkeit und unter Annahme eines Menschenbildes, das Unterschiede als inhuman diskreditiert. Diese Gleichheit aller führt zur Idee von dem größten Glück der größten Zahl, wobei die Denkfigur, daß Demokratie Herrschaft des Volkes über das Volk sei, anscheinend alle Hierarchien ausschließt. Es gibt also keine Herrschenden mehr und keine Beherrschten. Jeder ist Herrscher und Beherrschter zugleich. Da dies eine absurde Vorstellung ist, bleibt als Schluß die Erkenntnis, daß die Begriffe Herrschaft und Unterdrückung obsolet sind. Solche radikalen Demokratievorstellungen geisterten seit Piaton durch alle Staatsideen und Utopien, sie haben das Feld der Staatstheorie und jenes der Gesellschaftstheorie ständig begleitet, man muß dies nicht im einzelnen ausführen. Und ständig wurden solche radikaldemokratischen Vorstellungen von einem warnenden Chor von Stimmen begleitet, die in der Verwirklichung solcher Ideen das genaue Gegenteil dessen sahen, was sie intendierten, nämlich die Etablierung einer blanken Diktatur. Auch die Idee der Diktatur basiert ja auf der Vorstellung vom Glück der größten Zahl, es gibt quer durch die Weltgeschichte keinen einzigen Diktator, der behauptet hätte, seine Diktatur sei errichtet worden, um die Untertanen zu unterdrücken oder gar unglücklich zu machen. Um dieses Ziel - das Glück der größten Zahl- zu erreichen, bedarf es im Denkkonstrukt der Diktatur nun nicht der volonté générale, sondern der Führung von oben. Der Diktator ist der Agent der Glücks Verheißung, er allein weiß den Weg zum Glück, es liegt im 3 Timmcrmann / Gruner

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Interesse aller, ihm auf diesem Wege zu folgen. Nur wer widerspenstig ist, muß eliminiert oder vaporisiert werden. Die Assoziation zu Orwell ist gewollt. Tatsächlich hat kein anderer Roman wie der über das Jahr „1984" zur Diskussion über das Verhältnis zwischen Diktatur und Demokratie angeregt, und diese Diskussion ist bis heute nicht zu Ende. Orwell steht allgemeinhin im Mittelpunkt, wenn es um die Frage geht, wie die Diktatur der Zukunft in der utopischen Literatur des 19. und 2o. Jahrhunderts sich gespiegelt hat. Aber Orwell war nur in die Fußstapfen eines anderen großen Utopisten aus dem frühen 20. Jahrhundert getreten. Evgenij Zamjatin nämlich hat in seinem Roman „ W i r " im Jahr 1921 zum ersten Mal für unser Jahrhundert die Schreckvision einer totalitären Diktatur entworfen. Orwell selbst gab zu, daß er durch Samjatin angeregt worden ist. Samjatin steht also am Anfang, und sein Roman ist das Resultat einer Auseinandersetzung mit dem frühen Bolschewismus. Tatsächlich haben die Bolschewisten sein Buch denn auch sofort verboten. Orwell hingegen scheint viel stärker durch die Diktaturen des Faschismus angeregt worden zu sein, aber es ist ja nun seit Ernst Nolte sattsam bekannt, daß man die beiden Diktaturformen in der historischen Bewertung nicht voneinander trennen kann. In „ W i r " entwarf Samjatin in teilweise satirisch-überspitzter Form die Fratze einer Diktatur, die von sich selbst behauptete, in der Nachfolge des Robespierrschen Wohlfahrtsausschusses zu stehen. Diese Diktatur war also als Entartung der Demokratie entstanden, will man den revolutionären Prozeß von 1789 und jenen russischen von 1917 als Versuch werten, gegen ein als diktatorisch empfundenes Herrschaftsmodell ein freiheitlich-demokratisches zu setzen. Sowohl Samjatin als auch Orwell wollten mit ihren Dystopien vor derartigen Entwicklungen warnen; daß sie Diktaturen haßten, ergaben ihre Texte, und da jedermann Diktaturen haßt, bieten beide Texte kaum Anlaß, um über das Phänomen der Diktatur, die nicht entartet ist, nachzudenken. Denn dies ist das eigentliche Problem: Alle wohlgemeinten antitotalitären Utopien, an denen es vor allem nach 1945 nicht mangelte, rannten offene Türen ein. Kein Mensch würde auf die Idee verfallen, wirklich eine Diktatur à la Samjatin oder Orwell als wünschenswert zu halten, mehr: Die Überspitzung des Diktatorischen, bei beiden mit Händen zu greifen, konnte durchaus dazu führen, in diesen Texten nicht eine ernste Warnung vor Entwicklungen zu sehen, die in diese Richtung laufen konnten, sondern es konnte der Eindruck entstehen, als sei die Gesellschaft gegen derlei Tendenzen völlig gefeit, denn natürlich könnte auch der übelste Diktator sich nicht so verhalten wie die Diktatoren

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in diesen utopischen Romanen. Das heißt: Die Diktaturen von Samjatan und Orwell glichen verzweifelt einem Popanz, sie waren Pappkameraden, die abzuschießen eine leichte Übung war. Insofern sind die von diesen Romanen ausgehenden katharsischen Wirkungen sehr begrenzt geblieben, manchen hochtrabenden literaturwissenschaftlichen Elogen zum Trotz. Nein, die wirklich gefährlichen Diktaturentwürfe stammten aus den Federn ganz anderer Autoren. Sieht man genauer hin, wird man erschreckt feststellen, daß nahezu die gesamte Science Fiction Literatur des frühen 20. aber auch des späten 19. Jahrhunderts von totalitärem und faschistischem Gedankengut geprägt ist; besonders auffällig ist es, daß selbst in den Hochzeiten der Weimarer Republik Zukunftsromane, die diktatorische Gesellschaftszustände beschrieben, Konjunktur hatten. Diese Werke aber waren nicht dystopisch gemeint sondern utopisch, das heißt: Wenn z.B. der in Deutschland vielgelesene Dominik Staatsund Gesellschaftsentwürfe beschrieb, die nach unserem Dafürhalten blank totalitär und rassistisch waren, so stand dahinter anders als bei Samjatin nicht der moralische Imperativ, nicht die Menetekelfunktion, sondern die naive Überzeugung, daß die geschilderten Verhältnisse eben so wünsch- und erstrebenswert seien. Daß Zukunftsromane nicht notwendigerweise auf faschistischen oder bolschewistischen Grundlagen ruhten, machte ein Werk deutlich, das in gewisser Weise am Anfang steht: Bellamys „Looking backward", in dem eine Zukunft des Jahres 2000 aus der Perspektive des Jahres 1887 beschrieben wird. Bellamy war Sozialist, und er rechnete die Errungenschaften des um diese Zeit in Amerika real existierenden Sozialismus hoch. Er kam zum Ergebnis, daß im Boston des Jahres 2000 eine Gesellschaft lebte, die alle Klassenkämpfe hinter sich gelassen hatte und im flächendeckenden Glück und Wohlstand lebte. Gleich sind nun alle, aber gleichsam auf dem höchsten materiellen und moralischen Niveau. Insofern schloß sich Bellamy der Tradition der utopischen Staatsromane des 17. und 18. Jahrhunderts an, jetzt nur mit modernen Mitteln. Seine Visionen faszinierten nicht nur die amerikanische Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sondern auch die sozialistische deutsche. Es bildeten sich überall Bellamy-Gesellschaften, die dem großen utopischen Vorbild nachzueifern suchten - den kläglichen Erfolg kann man sich unschwer vorstellen. In Deutschland pries Clara Zetkin das Werk in den höchsten Tönen - die gleiche Frau, die als Alterspräsidentin den Deutschen Reichstag nach den Juliwahlen von 1932 mit den Worten eröffnete, sie hoffe noch alt genug zu werden, um den ersten Sowjetkongreß Deutschlands eröffnen zu können. Man sieht: das superdemokratische Modell Bellamys konnte durchaus als Blaupause 3*

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fur eine Sowjetdiktatur herhalten. Aber anders als bei Samjatin, der ja die nämliche Denkfigur bemüht hatte, las man Bellamy nicht als Menetekel, sondern als positive Regieanweisung. Daß sich im konservativ-bürgerlichen Lager vehemente Kritik an Bellamy regte, verstand sich von selbst - aber gerade diese Krtitiker gerieten bei den Sozialisten in den Diktaturverdacht, es war also eine Auseinandersetzung mit verkehrten Fronten. Der Begriff „Diktatur" täuscht freilich darüber hinweg, daß es Diktaturen im Mussolinischen, Hitlerschen und Stalinschen Sinn vor 1918 in Europa nicht gegeben hat. Der Begriff „Diktatur" ist ein moderner, und die Wissenschaft befindet sich zur Zeit mitten in einer lebhaften Diskussion darüber, inwieweit die Massendiktaturen des 20. Jahrhunderts mit dem Phänomen der Modernisierung zu tun haben - darum soll es hier nicht gehen, obwohl es schon auffällig ist, daß die „moderne" Literaturgattung des utopischen und Zukunftsromanes zur gleichen Zeit immer mit dem Anspruch des Modernen daherkommt und dieses allzu gerne in autoritären oder blank totalitären Systemen sich entfalten läßt - genau hierin lag übrigens die Attraktivität der Dominikschen Werke. Auch in der zeitgenössischen Science Fiction, vor allem jener der Vereinigten Staaten in den vierziger bis siebziger Jahren, findet man dieses Denkmuster ständig wieder: Die technisch-wissenschaftlich fortschrittlichsten Errungenschaften verknüpften sich mit den anscheinend rückschrittlich-atavistischsten Gesellschaftsmodellen. Ins Extreme getrieben wird dies in jenen atomaren Holocaust-Visionen der sechziger Jahre, in denen nach dem finalen Schlagabtausch nur noch wenige Menschen übrigbleiben, die sich in Stämmen neu organisieren, von charismatischen Führern im verstrahlten Überlebenskampf geführt - ich erinnere an Aldous Huxleys „ Ape and Essence" oder Walter Millers jr. „Lobgesang auf Leibowitz" oder Carl Amérys „Untergang der Stadt Passau". Alle denkbaren „demokratischen" Modelle werden nicht nur verworfen, sondern der Lächerlichkeit preisgegeben, schlimmer noch: In Goldings „Herr der Fliegen" wird die These vertreten, daß jeder demokratische Versuch geradezu zum Inhumanen führt. Zurück in die zwanziger Jahre. Die „modernen" Diktaturen, vor allem die Lenins und Mussolinis, haben die Schriftsteller dieser Jahre, aber auch Filmemacher wie Fritz Lang - man denke an dessen „Metropolis" - ungemein fasziniert. Vor allem das, was sich in Rußland vollzog, erschien vielen Zukunftsliteraten wie der Versuch, eine Utopie tatsächlich zu verwirklichen - daß es dabei zu allerlei Unzuträglichkeiten kommen konnte, gehörte in das Denkschema, nach dem beim Hobeln Späne unvermeidlich sind. Daß sich Edelkommunisten aller couleur auf die Pilgerschaft ins rote heilige Moskau machten, verwunderte dabei weniger als die Tatsache, daß auch der führende utopische

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Schriftsteller der Zeit, der Engländer H.G. Wells dorthin aufbrach - er kam allerdings schwer ernüchtert zurück. Wells aber hatte seit dem Erscheinen seiner „Zeitmaschine" im Jahr 1895 zu jenen geistigen Wortführern gezählt, die sich eben nicht dumpfen Allmachtphantasien, totalitären Visionen (auch im sozialistischen Gewand) hingegeben hatten, sondern gewollt und bewußt in der Tradition der humanitären Aufklärung dachten und schrieben. Wells hatte den Ersten Weltkrieg in ungeahnter Weise präzise antizipiert, aber schon vor 1914 verfolgte er Ideen von einem kollektiven Sicherheitssystem, einer demokratisch-freiheitlichen Weltgesellschaft; wie so viele andere bemühte er sich, das Verhängnis des Ersten Weltkrieges auch als Purgatorium zu deuten, aus dem eine bessere Welt entstehen würde. Nun ist es auffallend, daß derselbe Wells diese bessere Welt in seinen Schriften vor 1914 überhaupt nicht ideologisch befrachtete, in seinen politischen Vorstellungen eher indifferent blieb, nach 1918 aber ins Lager derjenigen einschwenkte, die an demokratisch-freiheitliche Selbstheilungskräfte nicht mehr glaubten - es sei denn, die Menschen würden Göttern gleich, wie der Titel einer seiner literarisch schwächeren Satiren lautete. Wenn aber ein so liberal gesonnener Schriftsteller wie er in dem Leninschen Experiment, wenn auch nur vorübergehend - etwas positiv in die Zukunft Weisendes sehen konnte, so stellt sich die Frage, woher dieser Sinneswandel rührte und vor allem, zu welchen Konsequenzen er führte. Hier ist nicht die Zeit um näher auszuführen, daß die Attraktivität autoritärer und diktatorischer Modelle unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wesentlich auf die - vermeintliche - historische Erkenntnis zurückging, daß die durch den Liberalismus und die Demokratiebewegung des 19. Jahrhunderts geprägten Staaten, an deren Spitze Großbritannien und Frankreich, in abgeschwächter Form aber auch Deutschland und Österreich, von den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen, offenbar sich als ganz unfähig erwiesen hatten, den „großen Kladderadatsch" von 1914 zu verhindern. Das, so meinte man, habe nicht nur an unfähigen Regierungen gelegen, sondern an der Massengesellschaft und ihren Mitspracherechten - etwa im Deutschen Reichstag - selbst. Tatsächlich steckte ja ein Körnchen Wahrheit in der Behauptung, es sei die Masse Mensch selbst gewesen, die die Staatsmänner in den Krieg getrieben habe; nicht mehr ein absoluter König habe souverän über Krieg und Frieden entscheiden können - es war der Stumpfsinn einer aggressiven Industriegesellschaft, die ihre ewigen Vorurteile in politische Stoßkraft umgesetzt und damit die Friedensbewahrung unmöglich gemacht habe. Denkt man an die Rolle etwa des Alldeutschen Verbandes oder des Flottenvereins, aber auch an die russi-

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sehen Panslawisten oder die französischen Jünger von Barrés, so war solches Urteil nicht ganz abwegig. Die Masse der Menschen - das war schon ein Hauptthema der Zukunftsliteratur vor 1914 gewesen - war überhaupt nicht fähig, politische und gesellschaftliche Verantwortung zu tragen, nur Edel- oder Übermenschen konnten dieser Aufgabe gerecht werden - es kommt nicht von ungefähr, daß in der völkischen Zukunftsliteratur vor 1914, wie Jost Hermand gezeigt hat, die Phantasien von der notwendigen „Höherzüchtung" des Menschen als Voraussetzung zur Etablierung eines wirklichen Utopia - so wie es Bellamy oder Wells beschrieben angesehen wurde. Das demokratische Prinzip vertrug sich in den Augen dieser Schriftsteller nicht mit den anthropologischen Gegebenheiten. „Reif zur Demokratie" mußten die Menschen im buchstäblich biologischen Sinne des Wortes erst werden; der „neue Mensch" Lenins schien deswegen wenn nicht Realität, so doch der erste wirkliche Ansatz zu dieser Entwicklung zu sein. Da nun aber die unreifen Menschen sich nicht gleichsam selbst aus dem Sumpf ihrer unverschuldeten politischen Unmündigkeit ziehen konnten, bedurfte es, ganz in Analogie zu Hegel, der großen Führer, der Vollstrecker des Weltgeistes - nicht nur Wells, bekanntlich auch Brecht glaubte in Lenin eben diese Figur am Webstuhl der Weltgeschichte tätig zu sehen. Man erkennt nun den Zusammenhang zwischen der zur Verherrlichung der aufgeklärten Diktatur neigenden Zukunftsliteratur und der Vorstellung vom endlichen Paradies auf Erden: er ist dialektischer Natur. Solange die Diktatoren nur behaupteten, sie zimmerten an diesem Endzustand, sie würden die weiser und reifer gewordenen Menschen am Ende ins Reich der unendlichen Freiheit entlassen, konnten sie auch von Schriftstellern Gefolgschaft erwarten, deren politisches Weltbild mit dem ihren gar nichts zu tun hatte. Daß die Demokratie immer noch die beste unter allen schlechten Verfassungsformen sei - dieses bekannte Diktum Churchills konnte erst nach den Erfahrungen der dreißiger und vierziger Jahren mit den real existierenden Diktaturen entstehen. Die Vorstellung, daß der Weg der Demokratie schon das Ziel sei, war vor Lenin, Stalin, Mussolini und Hitler nicht akzeptabel. Die Zukunftsliteratur kam deswegen seit dem Ende des Ersten Weltkrieges in einem pädagogischen und moralischen Gewand daher, sie wollte aufklären, den Weg ins zukünftige Paradies weisen - das machte Dominik für Lehrer so attraktiv und ließ ihn in die spezifische Jugendliteratur eindringen - etwa „Das Neue Universum", „Auf großer Fahrt" - und in die nun entstehenden Volksbüchereien. Daß Dominiks Kernthesen vom deutschen Gut- und Edelmenschen als genialem Techniker und Weltverbesserer zutiefst faschistisch waren, ist den

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meisten Lesern sicherlich nicht bewußt geworden, am wenigsten denjenigen, die noch in der Geisteswelt der Romantik lebten und an das Schillersche oder Adam Müllersche Konstrukt von der ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechtes glaubten. Gerade die Simplifizierung des Kantschen, Schillerschen, Schlegelschen und Müllerschen Ästhetik- und Freiheitsbegriffes führte wie von selbst zu faschistischen Denkmustern. Wenn wir heute in alledem die Fratze der Diktatur sehen, so verkennen wir diese literarischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, sie bedürfen dringend einer neuen Aufarbeitung, und zwar nicht allein von literatur- und volkskundlicher, sondern geschichtswissenschaftlicher Warte. Daß die Menschen, weil sie unglücklich sind und in ihrer Borniertheit, wie der Erste Weltkrieg es bewiesen hatte, in einen Weltkrieg mit 8,5 Millionen Toten „hineingeschlittert" waren, fortan der weisen Führung bedürfen, ist ein Gemeinplatz der utopischen, völkischen aber auch auf den ersten Blick „wertfreien" Zukunftsliteratur; was Birgit Affeld-Schmitt für das 19. Jahrhundert erarbeitet hat, gilt für das frühe 20. in noch stärkerem Maße: Zukunft ist Fortschritt, Fortschrittsutopien - so der Titel ihres Buches - bestimmen diesen Literaturzweig, sei es direkt utopisch oder, wie eben bei Zamjatin, dystopisch, das kommt für den verfolgten Zweck auf das Gleiche hinaus. Aber es gab eine Variante von solchem Gewicht, daß die Grundthese, nach dem die Diktatur zum Paradies notwendig und erstrebenswert sei, zumindest in Frage gestellt werden muß - ich denke an das 1932 erschienene Buch von Aldous Huxley: Brave New World. Nach 1945 wurde es in den Kanon der sogenannten main-stream-Literatur zusammen mit Orwell aufgenommen, nur deswegen ist es auch außerhalb jener Kreise bekannt, die sich mit Science Fiction beschäftigten - womit ich ein leidiges Grundproblem anschneide, das hier nicht weiter verfolgt werden kann. Die „Schöne Neue Welt" sollte als Satire gelesen werden - genauso wird sie in der Literaturgeschichte abgehandelt - und als Dystopie. Zamjatin, Huxley, Orwell: das ist das „Dreigestirn" der modernen Utopie, wie sie in den allgemein gültigen Bildungskanon aufgenommen worden ist - welch fatale Folgen diese Selektion und Verabsolutierung hat, bedürfte einer eigenen literatur- und geisteswissenschaftlichen Untersuchung. Während Zamjatin und Orwell in schlichter Schwarz-Weiß-Manier ein Horrorbild von der modernen Diktatur und im Umkehrschluß die Vision eines irdischen Paradieses entwarfen - in den Romanen jeweils in den Liebesgeschichten versteckt -, handelt es sich bei Huxley um ein vertrackt-subtiles Konstrukt,

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das entgegen aller Behauptungen in den Literaturwissenschaften nur schwer zu enträtseln ist - obwohl oder gerade weil Huxley 1958 selbst einen Kommentar in „The Brave New World revisited" geliefert hat. Damit hat er nichts zur Deutung seines Schlüsselromanes beigetragen, sondern mit den bis dahin existierenden Deutungen sich ein Späßchen gemacht, the revisited world hilft also nicht weiter. Die meisten Literaturwissenschaftler versperren sich den Weg zur Brave New World, weil sie das riesige literarische Umfeld der trivialen und der nichttrivialen Science Fiction Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre ebensowenig kennen wie das nach dem Zweiten Weltkrieg - denn Huxley selbst hat seinen Diktaturenentwurf von 1932 später ergänzt, variiert, wobei man „Ape und Essence" als zweites Kapitel der Brave New World lesen kann - ich will dies hier nicht näher ausführen. Denn der Schlüssel zu seiner Utopie, 632 Jahre nach Ford, das sind nicht die Helden - also Watson oder der Wilde - sondern das Rauschgift, Huxley nennt es „Sorna". Später wird Stanislaw Lern die damit verbundenen Denkfiguren und Gesellschaftsentwürfe konsequent weiterentwickeln und parallel dazu Philip K. Dick in den Vereinigten Staaten. Auf den ersten Blick erscheint die Schöne Neue Welt, mit den Augen eines aufgeklärten Demokraten betrachtet, ja als Ausgeburt einer pervertierten Diktatur - ganz im Sinne der eingangs skizzierten coincidentia oppositorum, das Glück der größten Zahl, nunmehr buchstäblich aller - bis auf eben zwei - ist in dieser Vision Realität. Dieses Glück ist nicht nur abstrakt - das eben machte ja die realen Glücks Verheißungen eines Lenin oder auch Hitler so wenig attraktiv -, sondern sinnlich konkret er fahrbar: Die utopische Gegenwelt bei Zamjatin und Orwell wird in der Liebesgeschichte angedeutet - bei Huxley ist das Glück die Liebe, genauer: ein völlig problemloser promiskuitiver Sex in allen nur denkbaren Varianten, dazu kann sogar die altmodische Liebe zählen. Während nun aber in den üblichen Dystopien immer nach dem Muster des „Carpe diem sed respice finem" des Horaz verfahren wird - die Liebesgeschichten enden notwendigerweise in der Katastrophe -, suggeriert Huxley die buchstäbliche Unendlichkeit und Ewigkeit dieses menschlichsten aller Glücksgefühle - und um dies zu garantieren, bedarf es nur einer kleinen chemischen Erfindung: des Soma. Was ist die Konsequenz? Wenn es das Ziel einer demokratisch verfaßten Gesellschaft ist, das größte Glück der größten Zahl anzustreben, ist eine im Somarausch gehaltene Gesellschaft die demokratischste und glücklichste zugleich - Lern hat die Details in seinem „Futurologischen Kongreß" ausgemalt. Wenn aber nicht das Glück der größten Zahl Ziel eines demokratischen Prozes-

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ses ist - was ist es sonst? Man muß dann die Weitekataloge durchblättern und einen Tugendkanon aufstellen, zu dem beispielsweise die Idee der Freiheit, der Gleichheit, der Gerechtigkeit zählen - aber all dies, so behauptet Huxley, gibt es ja auch in der Schönen Neuen Welt, sozusagen als Zugabe. Natürlich assoziiert jedermann sofort „Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit" - und damit den Robespierrschen Wohlfahrtsausschuß. Ich brauche den Zirkelschluß nicht weiter zu erläutern. Huxley s Roman stellt ganz ernsthaft die Frage nach den Alternativen zwischen Demokratie und wohlwollender Diktatur; daß die blutsaufende Terrordiktatur kein Thema ist, versteht sich von selbst, um diese geht es im großen Demokratie-Diktatur-Diskurs der dreißiger und vierziger Jahre ja auch gar nicht. Diese Alternative könnte, grob vereinfacht, so aussehen: Die Menschen sind frei, mündig und unglücklich, oder sie sind nicht frei, unmündig und glücklich. Die biologischen und geistigen Grunddefizite des nicht höhergezüchteten Menschen lassen nämlich die Etablierung einer Demokratie als Gehäuse des menschlichen Glückes gar nicht zu, denn noch immer ist der Mensch dem Menschen ein Wolf - und so wie der Wolf nichts dafür kann, wenn er das Schaf schlägt, kann auch der wölfische Mensch nichts dafür, wenn er sich in der Ellenbogengesellschaft - notabene demokratischen Zuschnitts - zu behaupten versucht. Also wäre - das ist Huxley s versteckte Botschaft - die somatisierende Diktatur vorzuziehen. Er hat das übrigens sehr konsequent getan, er endete im Somarausch, also glücklich. Es ist leicht, sich gegen ein derart menschenverachtendes Diktaturmodell zu empören, das macht jeder Englischlehrer, wenn Huxley dran ist. Betrachtet man freilich den realen Zustand der demokratischen Gesellschaften im Europa der zwanziger und dreißiger Jahre, dann stellt sich schon die Frage, worin eigentlich die humane Räson der Demokratie lag - und wie es kam, daß binnen weniger Jahre nahezu Dreiviertel der europäischen Staaten sich zu autoritären oder diktatorischen Regimes verwandelten - von Mannerheim in Finnland, Pilsudski in Polen, Antonescu in Rumänien, Horthy in Ungarn, Mussolini in Italien, Franco in Spanien, Salazar in Portugal bis eben hin zu Stalin und Hitler. Überall in diesen Staaten war das Prinzip der Demokratie durchaus bekannt, und wenn in dem einen oder anderen Land ein genialer Diktator gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung die Diktatur errichten konnte - genauere Analyse wird zu dem erschreckenden Befund führen, daß in den meisten sich zur Diktatur wandelnden europäischen Staaten dies nicht gegen, sondern mit dem Willen der Mehrheit der Bevölkerung geschah. Und wie knapp Frankreich daran vorbeischrammte, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Auch ein Blick nach Amerika zeigt die ungeheuere Attraktivität des autoritären Gesellschaftsmodells - oder wie will man das Regime Roosevelts deuten?

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Es spiegelt sich also in der Zukunftsliteratur der zwanziger und dreißiger Jahre ein allgemeiner gesellschaftlicher Trend, man kann sie als Quellen zum Zeitgeist lesen. Wenn man auf Huxley besonders eingeht, so aus dem gleichen Grund, der auch Wells und Bellamy ins Rampenlicht des Interesses geraten läßt: Es sind nicht die blind-dumpftumben völkischen Zukunftsvisionen, die Hermand analysiert hat, die das intellektuelle Problem ausmachen, sondern eben diese Erzeugnisse höchster künsterlischer Kultur, wobei man keinem der drei auch nur ansatzweise diktatorische Gelüste unterstellen kann. Sieht man sich beispielsweise die nationalsozialistischen Bemühungen um die Volksaufklärung und Propaganda an, wird leicht erkennbar, daß Goebbels und Konsorten von Bellamy und Huley durchaus gelernt, während sie über den „Großen Diktator" Chaplins vermutlich herzlich gelacht haben. Ob ein Gemeinwesen zur Demokratie wird oder zur Diktatur entartet, hängt eben nicht von der Masse des Volkes ab, sondern immer und zu allen Zeiten von einer hochmotivierten Intellektuellenschicht. Diese aber konsumiert nicht die Pulp-Trivialitäten à la Supermann und Perry Rhodan, sondern eben Huxley, Lern, tapek - und in diesen hochwertigen Kunstprodukten findet sich in den zwanziger bis sechziger Jahren unseres Jahrhunderts eine oft höchst sublime Rechtfertigung aufgeklärter Diktaturmodelle. So gesehen war Huxley viel gefährlicher als Dominik. Und noch gefährlicher als Huxley war natürlich Ernst Jünger. Auch wenn es den Rahmen unseres Themas sprengt, so muß doch in aller Kürze auf eine literarische Parallelentwicklung zum Zukunftsroman hingewiesen werden: Seit Walter Flex und Ernst Jüngers „Stahlgewitter" spielte die Kriegsliteratur in der Entstehung der totalitären Verführung eine prominente Rolle - und beides hängt durchaus miteinander zusammen. Analysiert man nämlich die gängige Zukunftsliteratur der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, so fällt auf, daß die Idee des Krieges, genauer: des kommenden Krieges in ihr eine wichtige Rolle spielt. Das war vor dem Ersten Weltkrieg sogar noch deutlicher gewesen, aber utopische Zukunftskriege blieben auch nach 1918 en vogue - Karel Capeks „Krieg mit den Molchen" war die gültige satirische Antwort auf den Zukunftskrieg der Diktaturen. Der Zusammenhang zwischen Krieg und Diktaturmodell lag auf der Hand: Im Krieg sind demokratische Willenbildungsprozesse automatisch außer Kraft gesetzt, die Gesellschaft des Krieges ist streng hierarchisch gegliedert, das Heer aber als „Volk in Waffen" spiegelt in geradezu idealer Weise das Bild eines autoritären Gemeinwesens mit einem obersten Führer à la Hindenburg oder Ludendorff an der Spitze. Man weiß, wie dieses Modell in der Weimarer Republik nicht allein von der rechten und rechtsradikalen, sondern auch den linkradikalen Parteien, ja selbst von bürgerlichen Parteien und Politikern übernommen wurde - es sei nur an Brünnigs Versicherungen Hindenburg gegenüber

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erinnert, er werde seine Politik im Geiste des Frontsoldatentums führen. Die Adaption des Krieges als Politikform bei Hitler dürfte jedermann kennen. Aber nicht die Kriegs-Zukunftsromane waren es in erster Linie, die die Mentalitäten in der Weimarer Republik prägten, es waren die vermeintlich „realistischen", zu denen der wuchernde Mythos um Verdun zählte - man denke an Beumelburg, Ettighofer, Maaß, Zweig. In allen diesen Werken - mit Ernst Jünger an der Spitze - wurde suggeriert, daß die Welt moralisch und sittlich gerade da und dann in Ordnung war, wenn sie buchstäblich in Stücke ging - wie am Douaumont. Diese sittlichen Werte aber entband nur das System Krieg, die eiserne Hand der Diktatur. Nicht der Krieg als solcher wurde denn auch von der Masse der deutschen Bevölkerung nach 1918 verdammt, sondern die „unfähigen" Politiker, die ihn verschuldet und dann nicht die Durchsetzungskraft gehabt hatten, ihn siegreich zu führen. Wieder lag die Alternative auf der Hand: Diktatur ist besser als Demokratie. Wie groß der literarische Einfluß auf die Entstehung des Totalitatarismus in Deutschland und Europa während dieser Jahrzehnte gewesen ist, wird sich nur schwer quantifizieren lassen, wichtig war er allemal. Abschließend muß noch auf einen anderen, nämlich einen religiös-theologischen Zusammenhang hingewiesen werden. In zahlreichen Zukunftsromanen der Zeit spielt die Religion eine prominente Rolle - am merkwürdigsten bei den Polen Zulawski und Wisniewski-Snerg. Das hängt mit dem Diktaturproblem unmittelbar zusammen, denn eine christlich-katholische Religion kann durchaus mit einem benevolent despotism konvergieren, und dieses Denkmuster eignet sich hervorragend, um auch Menschen für Diktaturexperimente zu gewinnen, die religiös gebunden sind. Man findet das schon bei Karl May, massiv dann nach dem Zweiten Weltkrieg bei Heinlein, Hubbard - dem Scientology-Gründer - und Herbert - man denke an den „Dune"-Zyklus. In Deutschland wäre u.a. an Carl Améry zu denken. Hier wirkt die Konvergenz zwischen Religion und Diktatur deswegen so fatal, weil die Religion im Gewand des apriori - fast im Kantschen Sinne - Guten daherkommt. Religion veredelt Diktaturen nicht nur, sie legitimiert sie - ein Blick ins heutige Mittel- und Südamerika macht das unschwer deutlich. Je edler aber die diktatorischen Motive, desto schwieriger ist es dagegen demokratisch anzugehen - man gerät ständig in Rechtfertigungszwänge. Um es banal zu sagen: in den zwanziger und dreißiger Jahren mußte sich beispielsweise im bayerischen Vilshofen niemand rechtfertigen, wenn er sonntags in die Messe ging - wer es nicht tat, mußte es sehr wohl. Weil es zum Prinzip der Demokratie gehört, keine Prinzipien zu verfolgen, die über jene im Grundrechtekatalog festgelegten hinausgehen, eignet sie sich

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so schwer als literarischen Vorwurf. Alles Diktatorische ist attraktiver. Demokratie ist langweilig, Diktatur ist spannend - vor allem in der Phase ihrer Errichtung. Auch diese Banalität gilt es zu berücksichtigen, wenn man die Frage beantworten will, warum das Denkkonstrukt von der Diktatur zum Paradies in den zwanziger und dreißiger Jahren - und weit über diese hinaus - eine so große, verhängnisvolle Verführungskraft entwickelt hat.

Die Anfänge der Demokratie von der Aufklärung bis zur Revolution 1848/49 Von Helmut Reinalter

I. Im 16. Jahrhundert waren gegenüber dem mittelalterlichen Feudalismus veränderte gesellschaftliche Organisationsformen entwickelt worden, wie der moderne Staat und die bürgerliche Wirtschaft, wobei diese Entwicklungstendenzen im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts konkretere Gestalt annehmen. Gegen die alten Feudalkräfte setzt sich langsam eine Zentralisierung der öffentlichen Gewalt in der Form monarchischer Herrschaft durch, allerdings mit unterschiedlicher absolutistischer Ausprägung der Krongewalt in Frankreich, Deutschland und England. Die Machtentfaltung des modernen Staates beruht besonders auf der Wirtschaftskraft des Landes, die zur Finanzierung seiner Machtmittel - Beamtenapparat und stehendes Heer - herangezogen wird. Deshalb fördert der Absolutismus die Entfaltung der bürgerlichen Wirtschaftstätigkeit, die jedoch in die ständische Gliederung der Gesellschaft eingebunden bleibt. Die gesellschaftliche Privilegierung der alten Feudalstände gerät schließlich in einen immer stärker hervortretenden Widerspruch zur realen Bedeutung des Wirtschaftsbürgertums, das die Ausschaltung willkürlicher Herrschaftseingriffe in seinen gesellschaftlichen Tätigkeitsbereich und die Mitbeteiligung an der staatlichen Herrschaftsausübung verlangt. In Frankreich waren bereits im 16. Jahrhundert mit dem Ende des Bürgerkrieges wichtige Elemente der monarchischen Herrschaftszentralisierung durchgesetzt, so daß die Macht der Krone zumindest keine gleichwertige Konkurrenz fand. Die Generalstände blieben in Folge ihrer Ungeschlossenheit politisch unbedeutend und wurden 1614 unter Ludwig XIII. letztmals einberufen. Die Parlamente büßten ihren politischen Einfluß, die Einwirkung auf königliche Erlässe, weitgehend ein und wurden auf ihre Funktion als Rechtsorgan beschränkt. Der königliche Verwaltungsapparat breitete sich immer weiter auf die Provin-

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zen aus, auch wenn die staatliche Organisation noch erhebliche Lücken in der administrativen Vereinheitlichung des Landes aufwies. Die Einordnung der englischen Entwicklung in das Ancien Régime wird dadurch erschwert, daß sie einen erheblich anderen Verlauf als in Frankreich oder Deutschland nahm. In gewissem Sinne ist sie bereits eine frühe Umgestaltung der von dort bekannten Herrschaft und Gesellschaftsordnung, in deren Zusammenhang sie aber dennoch steht, weil sich auch in England die politische Basis von einer schmalen aristokratischen Oberschicht auf breitere Teile des Bürgertums erst im 19. Jahrhundert verschiebt. Die Besonderheit geht darauf zurück, daß in England am Ende des 16. Jahrhunderts neben der während der langen Herrschaftszeit der Tudor-Dynastie gefestigten Landesherrschaft der Krone zugleich im Parlament eine Gegenkraft existierte, die sich auf stark entwickelte Selbstverwaltung in den Grafschaften (durch die adeligen Großgrundbesitzer) und den Städten (durch die bürgerlichen Korporationen) stützte. Wenn auch die Verteilung der tatsächlichen Macht zwischen der monarchischen Regierung und dem Parlament noch keineswegs ausgewogen war, so stand der Krone doch bereits ein Repräsentativorgan der Gesellschaft, jedenfalls ihrer sozial führenden Oberschicht gegenüber, auf das die Interessenvertretung dieser Gesellschaft angelegt war. Freilich fehlte diesem Parlament trotz seiner Kompetenz zur Steuerbewilligung und seines Petitions- und Widerstandsrechts zunächst noch die entscheidende Anerkennung als eigenständiges Element der Herrschaftsordnung, die eine wirksame politische Kontrolle der monarchischen Macht ermöglicht hätte. Dennoch führte diese Entwicklung nicht - wie auf dem Festland - zum monarchischen Absolutismus, sondern bereits im 17. Jahrhundert zu einer konstitutionellen Beschränkung der Monarchie. Mit der Durchsetzung der konstitutionellen Monarchie war in England bereits eine Interessenkoalition von Aristokratie und Bürgertum verwirklicht, auch wenn allein eine beschränkte gesellschaftliche Oberschicht durch das Parlament an der Herrschaft im Staat beteiligt war. Obwohl das traditionelle Wirtschaftsund Sozialgefüge seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert völlig verändert wurde, vollzog sich in England der Übergang zur bürgerlichen Vorherrschaft ohne tiefgreifende Veränderung der entwickelten politischen Reformen. Der Umsturz des Systems blieb im Unterschied zu Frankreich vermeidbar, weil die konstitutionelle Monarchie einen Organisationsrahmen parlamentarischer Herrschaft zur Verfügung stellte, der sich auch bei einer Verbreiterung der gesellschaftlichen Basis für die Herrschaftsausübung verwenden ließ. Eine solche Entwicklung, die Einbeziehung des Bürgertums in die parlamentarische Repräsentation, bedeutete einen ersten Schritt in einen Prozeß der Demokratisierung der Parlamentsherrschaft.

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Im Jahre 1640 brach in England der Konflikt zwischen den beiden Teilhabern an der Souveränität offen aus, die Bürgerkriege endeten mit dem Sturz und der Hinrichtung des englischen Königs und mit der Niederlage des königlichen Absolutismus. 1649 wurde die Monarchie abgeschafft und eine parlamentarische Republik errichtet, die 1653 von der Militärdiktatur Oliver Cromwells abgelöst wurde. Im revolutionären Denken der Bürgerkriege kamen bereits Ideen auf, die die Souveränität für das Parlament allein beanspruchten. Nach der Repräsentationstheorie ist das Volk, von dem die Gewalt ausgeht, mit dem Parlament so vollkommen identisch, daß es keinen Rekurs vom Parlament an das Volk geben kann: das Parlament ist das Volk, ist der Staat. Bei John Locke geht es nicht um den Schutz des Menschen vor der Staatsgewalt, sondern um die zu diesem Zweck erst zu errichtende Staatsgewalt. Das Gemeinwesen entsteht durch einstimmigen Gesellschaftsvertrag. In der bestehenden „political society" gilt das Mehrheitsprinzip, dessen Anerkennung ausdrücklicher Bestandteil des Gesellschaftsvertrags ist. Bedeutsam war für die Demokratieentwicklung auch Lockes Trennung der Gewalten, die er aus der englischen Verfassung seiner Zeit ableitet, sie aber ausdrücklich mit der Anfälligkeit des Menschen für Machterweiterung rechtfertigt. Neben der Legislative gibt es die Exekutive, die die Gesetze nach innen zu vollstrecken hat und die Föderative, die für die äußere Sicherheit zuständig ist. Herrschaft wird dabei durch Konsens legitimiert. Nach der „Glorreichen Revolution", die die Staatsgewalt in die Hände einer Oligarchie legte und England zu einer gentry-Republik machte, konnten die strittigen Verfassungsprobleme gelöst werden. Eine Reihe von Gesetzen umschrieb dabei das neue Regierungssystem. Die Krone stand künftig unter dem Gesetz und war damit zu einem Staatsamt geworden. Die politische Initiative blieb zwar bei der Krone, die Souveränität sollte aber beim König, bei den Lords und Commons gemeinsam liegen. In England hielt sich das neueingerichtete politische System vergleichsweise stabil. Es hatte sich ab 1689 langsam zum modernen Parlamentarismus weiterentwickelt und auf evolutionärem Wege zwei institutionell nicht vorgesehene demokratische Einrichtungen geschaffen: die parlamentarische Ministerverantwortlichkeit und die legitime Opposition. Bei den Absolutismuskritikern und frühen Aufklärern finden sich gleichfalls interessante demokratische Vorstellungen, die vom Kollegialprinzip und der Rekrutierung der Räte nicht aus dem Kreis des Adels, sondern mittels Prüfungen aus dem Milieu der neuen Bildung bis zum Versuch einer Synthese von absolutem Königtum und Demokratie durch regionale Differenzierung reichen. Adel und Stände sollten ihre Vorrechte verlieren und auf höherer Ebene eine

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leistungsorientierte Karrierebeamtenschaft, auf unterer Ebene kommunale Selbstverwaltung mit dem Recht der Steuererhebung an die Stelle des bisherigen Systems treten. Bürokratie und Demokratie hätten die gemeinsame Aufgabe, im Interesse einer weiteren Steigerung der Staatsmacht die Aristokratie zu überwinden. II. Mit der Aufklärung bekommt die frühe demokratische und liberale Bewegung besonderen Auftrieb, weil sie sich u.a. auch mit Problemen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung auseinandersetzte, wie z.B. mit der Staatsform und Rechtsordnung, mit dem Gerichtswesen und dem Strafvollzug, mit der Polizei und Wirtschaft, mit dem Verhältnis der Stände und der öffentlichen Moral. Während der Aufklärung entstanden auch Ansätze zu einer wissenschaftlichen Begründung von Politik, wie sie z.B. von Montesquieu entwickelt wurden. Im späten 18. Jahrhundert wurde der schon vorher eingeleitete Politisierungsprozeß durch die Polarisierung der Öffentlichkeit und die daraus resultierende Aufspaltung in ideologisch-politische Strömungen - Liberalismus, Demokratismus und Konservativismus - noch verstärkt. Der frühe Liberalismus ging durch seine starken Reformbestrebungen und konstitutionellen Ansätze über den Spätabsolutismus hinaus, und die frühen Demokraten faßten die Beseitigung des Spätabsolutismus ins Auge. Ein wesentlicher Faktor der Aufklärung war das Entstehen einer politischen Öffentlichkeit. Dazu gehörten nicht nur die Zeitschriften, Buchproduktionen und Broschüren, sondern auch die verschiedensten Formen aufgeklärter Sozietäten. Die bürgerliche Welt- und Lebensanschauung manifestierte sich in neuen Geselligkeits- und Vergesellschaftungsformen, zu denen eine Vielzahl unterschiedlicher Aufklärungsgesellschaften zählten. Allen diesen Gesellschaften war das Bekenntnis zur Aufklärung und zur Verwirklichung des Gemeinwohls gemeinsam. Mit Rousseau kam das Problem der sozialen Ungleichheit, der Frage der Verteilung des Eigentums, in die Diskussion. Die Sozialutopisten Morelly und Mably gaben sich über Rousseau hinaus nicht mit der annähernd gleichen Verteilung des Privateigentums als notwendige Vorbedingung einer „wahren Republik" zufrieden, sondern forderten die Aufhebung des Privateigentums und die Einführung einer in Gütergemeinschaft lebenden Gesellschaft. Die Aufklärung setzte sich auch mit Problemen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung auseinander, wobei die konstitutionelle Monarchie als bevorzugte Staatsform im Vordergrund stand. In seinem Werk „Vom Geist der Gesetze" (1748) entwickelte z.B. Montesquieu seine Theorie der Gewalten-

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teilung und Lehre von den Gouvernements": Republik, Monarchie und Despotismus, wobei es sich eigentlich bei ihm eher um eine Kombination der Gewalten und nicht um eine strenge Gewaltenteilung handelte. Montesquieu unterscheidet drei Regierungsarten in einer vom üblichen Schema abweichenden Weise: die republikanische mit den beiden Varianten Demokratie und Aristokratie, die monarchische, in der ein Einzelner nach festen Gesetzen regiert und die despotische, in der Willkür eines Einzelnen regiert. Die Despotie ist für ihn die schlechteste Staatsform, und sein zentrales Anliegen besteht daher in der Verurteilung des Despotismus. Sein Ideal ist die politische Freiheit, das Recht alles zu tun, was die Gesetze erlauben. Politische Freiheit gibt es nur dort, wo der natürlichen menschlichen Neigung zum Machtmißbrauch Schranken gesetzt sind. In seiner Untersuchung der Gewaltenteilung unterscheidet er zunächst gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt und zeigt auf, wie abträglich die Verbindung von zwei oder drei Gewalten in einer Hand der Freiheit sei. Montesquieu entwickelt allerdings auch eine andere Art der Gewaltenteilung, nämlich die des englischen Selbstverständnisses: eine Rechtsprechung, die als eigene Gewalt kaum in Erscheinung tritt, eine Exekutive, die an der Legislative teil hat, und eine Legislative, die die Exekutive kontrolliert und in sich in eine Adels- und Volksvertretung gegliedert ist. Durch sein Drängen auf Gewaltenverschränkung und deren wechselseitige Begrenzung nahm er den Gedanken des modernen liberalen Verfassungsstaates vorweg. Das Werk Montesquieus erweist sich als besonders bedeutsam für vormoderne und moderne Demokratielehren, obwohl er selbst kein Demokratieanhänger war. Seine Auseinandersetzung mit der älteren Staatsformenlehre und seine Kritik am französischen Staatsabsolutismus waren aber wichtige Beiträge zu einer „gemäßigten" Demokratie. Im „Contrat social" von Rousseau ist zunächst nicht von Freiheit, sondern von der Rechtsgrundlage der Ordnung die Rede. Diese kann nicht aus der Natur, sondern ausschließlich aus Vereinbarung stammen. Das sog. Recht des Stärkeren ist eigentlich kein Recht, und ein Unterwerfungsvertrag mit dem Herrscher ist ebenfalls problematisch, weil der Mensch dadurch seine Freiheit aufgibt, die ihn erst zum Menschen macht. Im Gesellschaftsvertrag übereignet sich jeder vollständig der Gemeinschaft, und zwar durch alle in gleicher Weise, so daß keiner dadurch einen Nachteil hat. Aus dem Fundamentalkonstrukt des Gemeinwillens ergibt sich bei Rousseau, daß die Souveränität stets beim Staatsvolk liegen muß und nicht übertragen werden kann. Die einzig legitime Staatsform ist für ihn die Republik. Im Gesellschaftsvertrag faßt er die Verwandlung zusammen, die durch die Konstituierung einer legitimen Republik in den Individuen selbst erfolgen soll. Eine legitime Republik stellt für ihn nur so lange eine 4 Timmermann / Gruner

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Möglichkeit dar, wie wenigstens bei der Mehrheit der Citoyens, die „vertu" über den „amour propre" siegreich bleibt und bei der Befragung über die Annahme oder Ablehnung eines Gesetzesvorschlags nicht das Partikularinteresse, sondern das Gemeinwohl den Ausschlag gibt. Rousseau greift den Gedanken der Direktdemokratie auf und steigert ihn zur radikalen Volkssouveränitätslehre. Diese ist das Gegenstück zu den frühen liberalen und verfassungsstaatlichen Modellen in Montesquieus Theorie. Die Amerikanische Revolution hat zwar keine glänzenden philosophischen Entwürfe hervorgebracht, ihre Bedeutung für die Geschichte der Demokratie liegt aber in der erfolgreichen Synthese in praktischer Absicht, einer Zusammenführung verschiedener Strömungen des europäischen Denkens, wie der Aufklärung und der englischen politischen Tradition unter den Bedingungen des amerikanischen Umfeldes, das dem Individuum eine größere Chance zur Selbstbestimmung und Selbstentfaltung einräumte als in Europa. Die Unabhängigkeitserklärung 1776 legte im zweiten Abschnitt ihre politische Philosophie dar: Gleichheit und der Besitz von Grundrechten sind evidente Grundausstattung des Menschen, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören. Regierungen haben diesen Zielen zu dienen. Widrigenfalls können sie vom Volk, an dessen Konsens sie gebunden sind, ersetzt werden. 1776/77 gaben sich zehn der dreizehn Gründer Staaten eine neue Staatsverfassung. Strukturprinzipien dieser neuen Verfassungen waren überall die möglichst gleichmäßige Repräsentation in der Legislative und die Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle der Gewalten. Zur Ausbalancierung und zur Entschärfung unvermeidlicher Konflikte zwischen Legislative und Exekutive galt das Zweikammersystem mit ein oder zwei Ausnahmen. In der Diskussion um die Ratifizierung der Bundesverfassung zwischen den Federalists und den Antifederalists haben drei der „Verfassungsväter" 1787/88 in New Yorker Zeitungen 85 Artikel publiziert, die 1788 unter dem Titel „The Federalist" als Buch erschienen und als authentische Interpretation die Entwicklung des amerikanischen Verfassungsverständnisses maßgebend beeinflußt haben. Die Federalist Papers setzten sich - in vollem Bewußtsein der durch die liberale europäische Aufklärungsphilosophie geprägten Tradition politischen Denkens, aber auch mit Stolz über das in Amerika praktisch schon erreichte Strukturgefüge - für die auf regelmäßigen Volks wählen passierende repräsentative und gewaltenteilige, zudem föderativ aufgebaute und dadurch auch in großen Territorien anwendbare Republik ein. Sie sprachen sich damit gegen die direkte Demokratie aus, die sich nach ihrer Überzeugung nur für kleinste Gebilde eignet. Diese terminologische Gegenüberstellung von Republik und Demokratie ist jener ähnlich, die Kant in seinen politischen und ethischen Schriften verwendete.

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Jefferson hat an dem von ihm formulierten Menschenrechtsideal der Unabhängigkeitserklärung festgehalten; Leben, Freiheit und Streben nach Glück. Es wäre sicherlich verfehlt, die Grund- und Menschenrechtserklärungen Amerikas als rein praktisch-politisch und ausschließlich an der englischen Rechtstradition orientiert der französischen Erklärung von 1791 gegenüberzustellen. Zweifelsohne hat die Französische Revolution mit ihren unumstößlichen Ergebnissen, die nach 1789 als politische Ideen Teil der modernen politischen Praxis geworden sind, wie der tatsächliche hohe Grad von Rechtsgleichheit, die Beweglichkeit des Grundbesitzes, die Verfügbarkeit allen Besitzes für die Industrie, die Parität der Konfessionen und die Strukturen einer neuen politischen Kultur sowie die schriftliche Legitimation von Herrschaft in Form geschriebener Verfassungen die demokratische Entwicklung vorangetrieben. ΙΠ.

Die Französische Revolution hat im eigenen Land der sozialen Schicht des Besitz- und Bildungsbürgertums zur Macht verholfen und 1791 den ersten demokratisch legitimierten modernen Nationalstaat mit Repräsentativverfassung hervorgebracht. Mit der Zerstörung des alten Römischen Reiches Deutscher Nation erschütterte und veränderte sie das europäische Staatensystem grundlegend. Darüber hinaus hat sie auch im Inneren der europäischen Staaten tiefgreifende Veränderungen und Reformen bewirkt. Vielfach sieht die Revolutionshistoriographie in der Französischen Revolution auch den Beginn der politischen Demokratie. Erst in jüngster Zeit beginnt sie jedoch stärker zu differenzieren und zwischen bürgerlicher Demokratie und Volksdemokratie, zwischen direkter und repräsentativer Regierung und zwischen Jakobinismus und Sansculottentum zu unterscheiden. In der Tat haben die Ereignisse besonders vom 10. August 1789 die Epoche der politischen Demokratie eingeleitet und auf den Ebenen des allgemeinen Wahlrechts, des öffentlichen Unterrichtswesens und der Fürsorge durch den Konvent einige Errungenschaften des 19. Jahrhunderts vorweggenommen. In diesem Zusammenhang müssen auch die Erklärung der Menschenrechte von 1793, die kurz darauf verkündete, aber nie angewandte Verfassung und die Ventöse-Dekrete genannt werden. Davon muß in Abzug gebracht werden, was nur taktisch oder von den Umständen her bedingt war. Die Menschenrechtserklärung proklamierte zwar das Recht auf Arbeit, auf Hilfe in Notsituationen und auf Unterricht, erwähnte aber keine Einschränkungen bezüglich des Rechts auf Eigentum.

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Jean Jaurès hat in diesem Zusammenhang betont, daß die geistigschöpferische Phase der Revolution vor dem Sturz der Gironde lag. So hat Condorcet schon im April 1792 den Plan für ein öffentliches Unterrichtswesen auf breitester demokratischer Grundlage konzipiert. Auch die von ihm vorbereitete Verfassung war im Vergleich zu jener von 1793 bedeutend konkreter und weniger zurückhaltend. Nach dem Sturz der Gironde im Juni 1793 hatte der Konvent sehr rasch einen Verfassungstext vorbereitet und verabschiedet (die sogenannte Verfassung des Jahres I), die im August durch das Volk ratifiziert wurde. Michel Vovelle hat diesen Text als die „fortgeschrittene Umsetzung des demokratischen Ideals der Französischen Revolution" bezeichnet. Die Verfassung wurde aber nie praktiziert, da der Konvent sofort festlegte: „Die Regierung Frankreichs ist revolutionär bis zum Frieden." Diese wenigen Beispiele verdeutlichen bereits, daß die Französische Revolution den besonderen Bedingungen Frankreichs am Ende des 18. Jahrhunderts entspricht. Sie ist in Zielsetzung und Verlauf durchaus nicht eindeutig. Trotzdem kann man die wichtigsten Elemente in einigen wenigen Schwerpunkten zusammenfassen. Ihre Bedeutung liegt zunächst in den von ihr erlassenen neuen Proklamationen, wonach sie eine Revolution der Freiheit und der Gleichheit war und am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung eine neue Gesellschaftsordnung etablierte. Ihr Verlauf und ihr Ergebnis zeigen jedoch, daß sie nicht monolithisch gesehen werden kann, zumal sich in ihr in Abfolge der Diskurs der verfassunggebenden Revolution mit der Verfassung von 1791 und zuvor schon mit der Erklärung der Menschenrechte von 1789 berühren, worauf die jakobinische Verfassung von 1793 anschließt, die bereits mehr als nur eine Variante des ursprünglichen Textes und den Kulminationspunkt der Vorstellung von einer sozialen Demokratie darstellt, und schließlich die Verfassung des Jahres I I I mit ihren neuen bürgerlichen Wertvorstellungen. François Furet und Denis Richet sprechen sogar von drei verschiedenen Revolutionen, die der Abgeordneten in Versailles, die der klein- und unterbürgerlichen Schichten in den Städten und die der Bauern auf dem Land. Die Frage nach dem Charakter der Verfassung von 1791 war lange Zeit ein kontroverser Diskussionspunkt. Neuere Arbeiten versuchen nun nachzuweisen, daß die Verfassung Frankreichs von 1791 doch demokratischer war, als man in der älteren Forschung gewöhnlich behauptet hat. Die Konservativen des Jahres 1791 hielten sie für demokratisch, weil sie das Wahlrecht umfassend auffaßte, die Volksvertretung nach der Zahl der Einwohner berechnete und die Erblichkeit von öffentlichen Ämtern abschaffte. Die radikalen Demokraten, darunter auch Robespierre, wandten sich jedoch gegen die Einschränkungen, die die Verfassung dem Stimm- und Wahlrecht auferlegte. Jean Jaurès fällte ein abge-

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klärtes Urteil über die Leistung der verfassunggebenden Versammlung, indem er betonte, daß die Verfassung von 1791 zwischen einer auf einem allgemeinen Wahlrecht beruhenden Demokratie und dem Wahlrecht nach dem Klassensystem von 1815-1848 anzusiedeln wäre. Unter dem Gesichtspunkt früher demokratischer Strukturen beseitigte die Revolution die ungleichen Hierarchien der Gesellschaft des Ancien Régime und ersetzte sie durch das Prinzip der Gleichheit: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein." Die Voraussetzung dafür war die Beseitigung aller früheren Privilegien und Abhängigkeiten. Unter dieser Gleichheit ist vor allem die zivile Gleichheit in all ihren Formen zu verstehen, einschließlich jener der Protestanten und Juden. Einschränkungen gab es allerdings bei den Sklaven und bei der Gleichheit der Schwarzen. Erst der jakobinische Konvent hat kurzfristig eine Entscheidung im emanzipatorischen Sinne getroffen. Daraus geht hervor, daß die bürgerliche Revolution die Gleichheit auch begrenzt. Politisch kam es zwischen 1793 und dem Jahre II nur zu einer einzigen Erprobung des allgemeinen Wahlrechts für männliche Erwachsene - nämlich 1791. Im Jahre III dominierte das Zensuswahlrecht, das zwischen aktiven und passiven Bürgern aufgrund eines Zensus differenziert. Diese Einschränkungen sind soziale Schranken, die die Grenzen der bürgerlichen Demokratie in dieser Phase der Französischen Revolution klar aufzeigen. Die Revolution hat ferner auch das Prinzip der Freiheit proklamiert: die persönliche Freiheit des Bürgers und die Unverletzlichkeit der Person. „Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet." Die Revolutionsregierung „will jede willkürliche Grausamkeit der Strafe abschaffen und bekennt sich ausdrücklich zur Menschenfreundschaft der Aufklärung. Die Glaubensfreiheit beseitigt das Bildungsmonopol der katholischen Kirche und umfaßt von vornherein die Protestanten und später auch die Juden. A m Ende dieser Entwicklung steht die Trennung von Kirche und Staat durch den Thermidorkonvent im Jahre III. Diese zeitabhängige Entscheidung ist allerdings eine bloße Antizipation, die keineswegs dem wahren Charakter der Revolution entspricht. Laizistisch ist sie nur vom Winter 1793 bis zum Direktorium, während die Zivil Verfassung des Klerus 1791 ebenso wie das Konkordat von 1801 Kompromisse mit der herrschenden Religion waren. Die Meinungsfreiheit bedeutet die logische Fortsetzung der Glaubensfreiheit, auch wenn die Verfassunggeber die Einschränkung hinzufügen, daß diese nicht zum Mißbrauch der Freiheit führen dürfe. Die politischen Freiheiten boten die Basis für zahlreiche exemplarische Erfahrungen: die Erklärung der Menschenrechte proklamiert die Volks-

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Souveränität, den Grundsatz der Wählbarkeit auf allen Ebenen und die Notwendigkeit eines repräsentativen Staatswesens mit Gewaltenteilung. Alle diese demokratischen Elemente sind in der Verfassung von 1791 und 1793 enthalten, wenngleich die letztere stärker die Dezentralisation hervorhebt und durch Volksabstimmungen die direkte Demokratie vorbereitet. Eine ähnliche Kontinuität gilt auch fur die Verfassung des Jahres III, die gleichfalls die Gewaltenteilung besonders akzentuiert. Damit werden die Grundlagen des politischen Liberalismus im 19. Jahrhundert in Frankreich geschaffen. Die Prinzipien Freiheit und Gleichheit, Eckpfeiler demokratischer Vorstellungen, müssen hier noch durch den Begriff der Brüderlichkeit vervollständigt werden. Die wirklich gelebte Brüderlichkeit, die mit der Pflicht zur Fürsorge gegenüber den Mittellosen und dem Recht auf Leben identisch war, galt jedoch als Einschränkung des Rechtes auf Eigentum und war daher nur eine in den Ventöse-Dekreten angekündigte Utopie der jakobinischen Demokratie des Jahres II. Freiheit, Gleichheit, Sicherheit und Eigentum näherten sich eher der im Jahre III wiederhergestellten Kontinuität bürgerlicher Werte. Da die Revolution - wie bereits angedeutet - nicht linear verlief und ihre demokratischen Proklamationen durch den Verlauf des revolutionären Geschehens ernsthaft bedroht wurden, müssen hier auch einige Ursachen dieser Gefährdung und die politischen Vorstellungen ihrer bedeutsamsten Akteure zumindest ansatzweise skizziert werden. Es ist sicher kein Zufall, daß Robespierre die repräsentative Versammlung als Ausdruck des Volkswillens, der sich mit dem Allgemeinen Willen deckt, ablehnte. Parlamente waren für ihn geprägt von Sonderinteressen, obwohl sie formal durch Wahl des Volkes entstanden. Eine repräsentative Versammlung, die auf der Grundlage eines Wahlzensus gewählt wurde, war nicht im Sinne des Volkes. Die absolute Unabhängigkeit einer parlamentarischen Versammlung war für Robespierre „repräsentativer Despotismus". Deshalb war er bestrebt, Sicherungen gegen diese Form des Despotismus einzubauen, wie die ständige Volkskontrolle über die gesetzgebende Körperschaft und direkte demokratische Aktionen durch das Volk. Robespierre polemisierte auch gegen ein Bündnis zwischen Legislative und Exekutive, das für ihn ein Komplott gegen das Volk darstellte. Der Allgemeine Wille war für ihn der Wille der Volksmehrheit und daher nicht gleichbedeutend mit parlamentarischer Mehrheit oder Minderheit. Diese prinzipielle Einstellung, die als direkte demokratische Aktion umschrieben werden kann, lief in Richtung einer Rechtfertigung der unmittelbaren Volksaktion, die Unterdrückung und der Despotismus, die Regierungskomplotte und Intrigen der Abgeordneten zu bekämpfen. Im Mai 1793 betonte Robespierre im Jakobinerklub: „Wenn das Volk

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unterdrückt ist und sich auf niemand als auf sich selbst verlassen kann, würde nur ein Feigling es nicht zum Aufstand aufrufen. Wenn alle Gesetze gebrochen werden, wenn Despotismus seinen Höhepunkt erreicht hat, wenn guter Glaube und Bescheidenheit mit Füßen getreten werden, dann ist es die Pflicht des Volkes, sich zu erheben. Dieser Augenblick ist da: „unsere Feinde unterdrücken offen die Patrioten, sie wollen das Volk im Namen des Gesetzes in Elend und Knechtschaft stürzen ... Ich kenne nur zwei Daseinsweisen für das Volk: sich selbst zu regieren, oder die Aufgabe Bevollmächtigten anzuvertrauen." Unter den repräsentativen Einrichtungen des Pariser Volkes, der Kommune und den Sektionen, kann nur die Kommune als gewählte und klar definierte Körperschaft bezeichnet werden. Die Sektionen setzten sich in Form von Volksversammlungen der Bewohner verschiedener Bezirke zusammen. Hier allerdings wurde direkte Demokratie praktiziert, wobei jedoch revolutionäre Aktivisten, eine kleine Minderheit, dominierten. Im Frühjahr 1793 vertrat Saint-Just noch immer das Prinzip des unbeschränkten Selbstbestimmungsrechtes des Volkes. Im Zusammenhang mit der Diskussion über einen neuen Verfassungsentwurf, den Condorcet - wie bereits erwähnt - im Auftrag der Girondisten konzipiert hatte, verwarf er dessen Vorstellungen im Namen der Unteilbarkeit des Allgemeinen Willens. Der erwähnte Plan sah zwei wichtige Gremien vor: eine gesetzgebende Versammlung, die in indirekter Wahl von den Bezirksräten zu wählen war, und einen in direkter Volkswahl zu wählenden Exekutivrat. Im vom Volk direkt gewählten Exekutivrat sah Saint-Just die größte Gefahr für die Einheit von Republik und Volkssouveränität. Dieser Exekutivrat würde ungeheure Macht und Obergewalt besitzen. Saint-Just selbst wollte eine in direkter Wahl gewählte Assemblée und einen von Wahlmännern gewählten untergeordneten Exekutivrat. Die Assemblée sollte sich zudem nicht in Ausschüsse aufteilen, um so den Weg zur Entwicklung eines Teilwillens zu verhindern, denn der allgemeine Wille sei unteilbar. Diese Einstellung ist von der neueren Revolutionshistoriographie auch als „demokratischer Perfektionismus jakobinischer Prägung" bezeichnet worden, wie er zum Teil in der Verfassung von 1793 zum Ausdruck kam. Dieser demokratische Perfektionismus war dadurch gekennzeichnet, daß darin nicht jede Meinungsschattierung zur Geltung kommen konnte, sondern vielmehr die demokratische Souveränität bis an ihre Grenze getrieben wurde.

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Die politische Wirklichkeit war bestimmt durch „eine direkte Demokratie mit Tausenden von Sektionen ..., die ständig tagten, die die Nationalversammlung mit Beschlüssen, Protesten, Petitionen bombardierten und vor allem Deputationen entsandten, die das Recht hatten, vom Parlament angehört zu werden; Absetzung und Neuwahl von Abgeordneten, ein permanentes nationales Referendum, aufgeteilt in kleine lokale Plebiszite: eine Exekutive, die immer verdächtigt wurde und ohne jede Macht war zu handeln; eine Legislative, die durch häufig bewaffnete - Eingriffe von außen eingeschüchtert und erpreßt wurde; schließlich sporadische Ausbrüche von Gewalttätigkeiten der Massen gegen verfassungsmäßige Behörden ..." Hierin sehen einige Revolutionsforscher, wie J.L.Talmon, wichtige Vorstufen zur totalitären Demokratie. Je mehr sich die Jakobiner der Machtergreifung näherten, um so intensiver formulierten sie ihren Standpunkt über die Freiheit als positiven Wert. Seltener betont wurde dagegen der Hinweis auf die tatsächliche Ausübung der Volkssouveränität als wichtiges Verfahren, um den Allgemeinen Willen zu verwirklichen. Freilich können Faktoren wie die Krise der Revolution von 1793 allein nicht zur Klärung und Einschätzung der Jakobinerdiktatur ausreichen. Dazu kommt noch die sicher bis zu einem gewissen Grad totalitäre Anlagen des Jakobinismus, der davon überzeugt war, die alleinige Wahrheit zu vertreten. Die jakobinische Diktatur entwickelte sich stufenweise ohne genauen Plan. Sie beruhte auf zwei wesentlichen Fundamenten: auf der fanatischen Ergebenheit der „Gläubigen" und der strengen Orthodoxie. In dieser Verbindung lag wahrscheinlich auch ihre Stärke. Zu Beginn war der Jakobinismus eine Bewegung, die für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes eintrat, später wurde er zu einer „Gemeinschaft der Gläubigen". Unterwerfung wurde zur Erlösung, Gehorsam als Freiheit gesehen und die Mitgliedschaft in Jakobinerklubs zu einem Symbol der Zugehörigkeit zu den „Erwählten" und „Reinen". So entstand im revolutionären Frankreich eine inoffizielle Organisation der Demokratie, die den offiziellen Organismus und seine Glieder verdoppelte. Die Jakobiner identifizierten sich mit dem Volk, ja, das offizielle Dogma lautete sogar: die Jakobiner sind das Volk. Die jakobinische Gesellschaft, so Robespierre, sei ihrem Wesen nach unbestechlich, ihre ganze Macht liege in der öffentlichen Meinung, und sie könne daher die Interessen des Volkes nicht verraten. Die Protokolle des Jakobinerklubs in den letzten Monaten vor dem Thermidor zeigen jedoch, daß sich die Forderung der plebiszitären Volkssouveräntität in der Herrschaft einer kleinen Gruppe der Nation erfüllte. Die Idee des Selbstbestimmungsrechts des Volkes geriet auf die Bahn einer immer exklusiveren Orthodoxie. Die Jakobiner waren davon überzeugt, daß ihre Diktatur nur ein Vorspiel zu einem harmonischen Zustand der Gesellschaft sei: „Das System der Gewalt

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war lediglich eine vorläufige Phase, ein unausweichliches Übel, da in einem tieferen Sinn und in einem weiteren Zusammenhang gar keine Diktatur war." Diese Überzeugung ging von der Annahme aus, daß der Mensch in seiner Anlage gut und im Sinne der Aufklärung der Vervollkommnung fähig sei und ein sozialer Fortschritt vor sich gehe, der in ein Endstadium sozialer Integration und Harmonie einmünde. „Es ist an der Zeit, das Revolutionsziel und das Entstadium, zu dem wir zu gelangen wünschen, klar und deutlich festzulegen", betonte Robespierre in einer seiner letzten Reden. Robespierre war davon überzeugt, daß die Menschen in einem künftigen harmonischen sozialen System glücklich werden könnten - über den Weg der Gesetzgebung und der Erziehung. Das Ziel der Französischen Revolution sei, „die Geschicke der Freiheit in die Hände der ewigen Wahrheit zurückzubringen, statt in die Hände vergänglicher Menschen". Talmon hat im Zusammenhang mit der letzten Phase der Jakobinerdiktatur auf deren doktrinäre Mentalität hingewiesen und dabei besonders zwei Faktoren hervorgehoben: innere fanatische Gewißheit und eine Vorstellung, die er „Bleistiftskizze der Wirklichkeit" nennt. „Die Bleistiftlinien stellen die äußeren Facetten des sozialen Daseins dar, die Sehnen des institutionellen Apparates. Das Fleisch der nicht greifbaren, formlosen lebendigen Kräfte ... ist nicht da. " Diese Faktoren wurden von den Revolutionären wie die Einzigartigkeit und Unvorhersehbarkeit der menschlichen Natur und des menschlichen Verhaltens übersehen. Der revolutionäre Doktrinär - und darin liegt eine große Gefahr für die Demokratie - ist davon überzeugt, daß seine Skizze das einzige Wesentliche sei. Die amorphe Masse könne nach der Bleistiftvorlage geformt werden. Wie das Beispiel der Französischen Revolution veranschaulicht, verwandelt sich die Ungeduld des revolutionären Doktrinärs bei Behinderung seiner Ziele in Erbitterung. Der Doktrinär sieht seine Bleistiftskizze nie unter dem Aspekt des Zwanges. Er will auch die Freiheit nicht einengen, sondern sichern. »Es ist unmöglich, die Freiheit auf unerschütterlicher Grundlage zu festigen, solange irgend jemand zu sich selbst sagen kann: „wenn heute die Aristokratie siegt, bin ich verloren."« In diesem Zusammenhang verwendet Robespierre den Begriff der Demokratie, die für ihn einerseits eine Regierungsform darstellt, andererseits aber auch eine soziale und sittliche Ordnung verkörpert. Als Regierungsform stellt sie einen Zustand dar, in dem das souveräne Volk, von Gesetzen geleitet, selbst aktiv werden kann. Robespierre lehnt jedoch in gewisser Weise die direkte Demokratie ab, da das Volk vertrauenswürdige Vertreter habe. Was den zweiten Aspekt betrifft, so war für ihn die Demokratie als soziale und sittliche Ordnung das einzige System, das in der Lage sei, den Wün-

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sehen der Natur gerecht zu werden. Was den hier angesprochenen begriffsgeschichtlichen Aspekt betrifft, so zeigen sich die in den Neubildungen und Bedeutungserweiterungen sichtbar werdenden Veränderungen des Begriffs „Demokratie" auch im Sprachgebrauch der Französischen Revolution. Dabei ist besonders auf einen emphatischen Demokratiebegriff zu verweisen, der von zahlreichen Schriftstellern verwendet wurde und der noch keine feste verfassungspolitischen Umrisse erkennen ließ. Aus diesem Grund hatte der Demokratiebegriff in den ersten Jahren der Revolution noch keine politische Bedeutung erlangt. So spielte er auch in den Debatten um das allgemeine Wahlrecht 1790 noch keine entscheidende Rolle. Erst in der Phase der Jakobinerherrschaft drang er in die politische Öffentlichkeit vor, wie das Beispiel von Robespierre verdeutlicht. Sein Demokratiebegriff war praktisch synonym mit Republik. Demokratie konnte nach ihm sowohl direkt demokratische sowie repräsentative Elemente enthalten, wobei nicht die verfassungsmäßige Ausgestaltung, sondern der Geist der Demokratie entscheidend war. Da das jakobinische Denken von der Idee einer rationalen und natürlichen Ordnung ausging, gaben die Jakobiner nur zögernd zu, daß ein innerer Widerspruch zwischen einem rationalen-politisch-ethischen System und einem freien Wirtschaftswesen bestehe. Die Vorstellung einer unbegrenzten Volkssouveränität brachte eine soziale Dynamik hervor, da die Armen die große Mehrheit der Nation und daher legitimiert waren, der kleinen Minderheit der Privilegierten und Reichen Bedingungen aufzuerlegen. Dazu kam noch, daß das demokratische Volksideal in Anlehnung an die Antike stets vom sozialen Radikalismus der griechisch-römischen Gesetzgeber ihren Ausgangspunkt nahm. Dieses Ideal implizierte die Abschaffung der Schulden an die Grundbesitzer, die Neuverteilung des Bodens und die Herrschaft der Armen über die Reichen. In breiteren Schichten wurde die Revolution immer stärker mit den Armen und Besitzlosen identifiziert. Trotzdem blieb die jakobinische Haltung stets zweideutig und inkonsequent. Dieser Widerspruch wurde erst durch Babeuf und seine Bewegung beseitigt. So war letztlich die jakobinische Einstellung zu Klassenfragen in der Regel mehr von politischen als sozialen Fragen bestimmt: Saint-Just erkannte rechtzeitig die Gefahr, daß die Revolution durch einen verhängnisvollen Widerspruch zwischen revolutionärer Regierungsform und sozialer Wirklichkeit gefährdet sei. Er sah außerdem, daß der Reichtum der Nation sich vorwiegend in den Händen der Nationsfeinde befand. Da das arbeitende Volk, die Anhänger des neuen Regimes, von seinen Feinden materiell abhängig waren, mußte eine Klassenpolitik für die Anhänger der Republik erfolgen. Dies war der Ansatz zur Verwirklichung von Demokratie.

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Ähnlich argumentierte auch Robespierre. Er war davon überzeugt, daß Ethik und Politik allein nicht genügen, um eine nationale Ordnung zu sichern. So forderte er, daß mit der Einführung der republikanischen Tugend auch soziale und wirtschaftliche Reformen eingeleitet werden müssen. Sein Postulat war die wirtschaftliche Sicherheit der Nation, nicht so sehr die Wohlstandsvergrößerung. Robespierre vertrat die Ansicht, daß das Vermögen einer Nation im wesentlichen Gemeineigentum sei, insofern es die dringenden Bedürfnisse des Volkes befriedige. Nur der Überschuß könne als individuelles Eigentum angesehen werden. Auch die Eigentumstheorie der Jakobiner - für sie war ein sittliches Prinzip als Grundlage für die Idee des Eigentums eine Notwendigkeit - muß vor dem Hintergrund der Idee sozialer Harmonie gesehen werden. Robespierres Ansatz war nicht das Klassenbewußtsein, sondern die egalitäre Konzeption der Menschenrechte: „Das Ziel war nicht der Sieg einer Klasse und die Unterwerfung der anderen, sondern ein Volk, in dem Klassenunterschiede keine Bedeutung mehr hatten." Das Prinzip für die Leitung des Wirtschaftslebens der Nation war doch einiges entfernt vom Staatseigentum an den Produktionsmitteln oder von Kollektivismus, obwohl eine Gesamtplanung durch den Staat zumindest angedeutet schien. Die Wirtschaftspolitik war auf soziale Sicherheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit des einzelnen ausgerichtet, durch den Staat garantiert - also eine Kombination von Restriktionismus und Individualismus. Die demokratische Bewegung in der Französischen Revolution ist jedoch nicht nur mit dem Jakobinismus, sondern auch mit den Sansculotten in Verbindung gebracht worden. Dieser Bewegung, die auf eine direkte Form der Demokratie abzielte, hat sich besonders die sozialgeschichtliche Forschung in den letzten Jahrzehnten angenommen, während die älteren Arbeiten sehr stark auf der nationalen Ebene stecken blieben und sich vorwiegend mit den führenden Persönlichkeiten auseinandersetzten. Heute befaßt sich die Forschung vorwiegend mit den ländlichen Gebieten und den Bauern, wobei komplexe Gegensätze aufgezeigt werden. Der Trend dieser neuen Richtung läßt sich am besten mit der Theorie zusammenfassen, daß die Revolution trotz ihres bürgerlichen Charakters ihren Erfolg gegen die privilegierten Stände durch die Verbindung von Bürgertum und Bauern erzielt hatte. Albert Soboul hat die Sansculotten als „volkstümliche Demokraten" bezeichnet, die die großen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Volkssouveränität konkret auf sich selbst und auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezogen. Ihr Ziel war, die Autonomie ihrer Sektionsversammlungen gegen jede Kontrolle durch

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die Kommune, den Konvent oder die nationale Regierung abzuschirmen. Sie waren davon überzeugt, in ihren Sektionsversammlungen souverän zu sein, fanden vor allem in den Pariser Sektionen und lokalen politischen Klubs ihre Organisationsform und bildeten gleichsam die „Hauptarmee" der Revolution. Sie galten als die eigentlichen Demonstranten, die Aufständischen, die Errichter von Barrikaden und bildeten in gewisser Weise einen Zweig jener überregionalen politischen Bewegung, die versuchte, die Interessen des kleinen Mannes zu vertreten, der in Massen zwischen dem Bourgeois auf der einen Seite und dem Proletarier auf der anderen existierte. Ihre gewählten Vertreter betrachteten sie nur als ihre Delegierten, denen sie oft nicht trauten. Sie traten dafür ein, was eine spätere Generation in Amerika als „Wahl und Abberufung von Beamten durch das Volk" kennenlernte. „Zustimmung des Volkes" faßten sie als ihre Zustimmung in ihren eigenen Versammlungen auf. Rechtsprechung durch das Volk legten sie so aus, daß sie ihre eigenen Nachbarn wegen verdächtigen politischen Verhaltens oder abweichender Meinungen denunzieren sollten. Während sie bis zum Sommer 1793 den Mittelpunkt spontaner politischer Aktionen bildeten, verloren sie im Jahr des Wohlfahrtsausschusses allmählich an Autorität und Einfluß. Bedeutsam erscheint in diesem Zusammenhang für die Demokratiefrage der Konflikt zwischen direkter Demokratie in der Sansculottenbewegung und der Jakobinerdiktatur. Direkte Demokratie, wie sie von den Sansculotten aufgefaßt wurde, war eine „natürliche Anwendung" der revolutionären Leitvorstellungen. Diese war jedoch in Form von „Nachbarschaftsversammlungen" tendenziell anarchisch und nicht realisierbar, so daß der von Robespierre geleitete Wohlfahrtsausschuß sich gegen sie wenden mußte. Dies hatte folgenschwere Konsequenzen für beide Seiten, da jede durch einen Aspekt ihres eigenen Wesens zerstört wurde. Die Revolutionsregierung verdankte letztlich ihr Dasein ursprünglich dem von der Sansculottenbewegung ausgeübten Druck, andererseits gab sie ihre Basis auf, indem sie die Spontanität und Unabhängigkeit der Sansculotten beseitigte. Die Sansculotten ihrerseits „hatten eine starke Regierung verlangt, die die Aristokratie vernichten sollte, sie hatte aber nicht bedacht und einbezogen, daß eine solche Regierung, um siegen zu können, sie zum Gehorsam und zur Anpassung an den von ihr vorhergesehenen Lauf der Dinge zwingen mußte". Die Sansculotten rekrutierten sich aus allen möglichen Bevölkerungsgruppen unterhalb der gesellschaftlich gut gestellten Oberklassen und oberen Mittelschichten. Unter ihnen befanden sich Ladenbesitzer, Kaufleute, kleine Händler,

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Handwerker, kleine Manufakturbesitzer, Lohnarbeiter, Dienstmänner, Wasserträger, Hausangestellte, Kellner in Kaffeehäusern und deren Besitzer, Friseure und Perückenmacher. In ihnen entstand ein neuartiges Bedürfnis nach Gleichheit, in dem Soboul ihre wichtigste Eigenschaft sieht. Dieses neue Bedürfnis manifestierte sich besonders darin, daß sie nicht länger eine untergeordnete Stellung in den sozialen Beziehungen akzeptierten. So strömten sie an den Feiertagen zu den Boulevards, um die sie bisher immer einen Bogen gemacht hatten. Alle Menschen, die sich über ihrem Niveau erhoben, sahen sie als Aristokraten an. Sie besaßen keine durchreflektierten ökonomischen Leitgedanken, aber sie bezogen eine negative Position gegenüber den Reichen und hielten, auch wenn sie nicht prinzipiell gegen privates Eigentum waren, doch an einer am Gleichheitsgrundsatz orientierten Verteilung fest. Sie forderten mehr „Gleichheit der Lebenshaltung", faßten aber niemals Produktionssteigerung oder höheren Lebensstandard ins Auge. Obwohl etwa die Hälfte der arbeitenden Bevölkerung von Paris Lohnempfänger war, wurde ihre Einstellung zu Wirtschaftsproblemen von der Meinung selbständiger Handwerkermeister und Landbesitzer geprägt. Sie bejahten Kleineigentum, Kleingewerbe, kleine Arbeitgeber und kleine Werkstätten, sie lehnten aber Geschäftemacher, Großkaufleute, Finanziers, Handelskapital und Kapitalgesellschaften ab. Ihr Ziel war, ein überkommenes Wirtschaftssystem gegen neue Kräfte zu schützen, die für sie eine Bedrohung darstellten. Daher hat Albert Soboul zu Recht festgestellt, daß ihre ökonomischen Überlegungen rückschrittlich waren. Ihre Idealvorstellung war in Übereinstimmung mit Robespierre „eine Gesellschaft kleiner Eigentümer", die ihr Stück Feld, ihre Werkstatt, ihren Laden besitzen. Der Staat sollte dabei für die Aufrechterhaltung einer relativen Gleichheit sorgen. Die Politik der Sansculotten war in erster Linie von der Angst vor dem Hunger geprägt. Sie war letztlich auch der Grund für ihre Forderungen an den Nationalkonvent, Preiskontrollen durchzusetzen und Hortung von Lebensmitteln und übermäßige Profite zu unterdrücken. Diese Angst veranlaßte schließlich die volkstümlichen Demokraten, jene bürgerlichen Führer zu unterstützen, die wenigstens vorübergehend Bereitschaft zeigten, sich ihren Auffassungen anzuschließen. Angst war schließlich auch die Ursache des Hasses auf die Reichen und Aristokraten, weil diese besser lebten und aßen. Nach Auffassung Sobouls war es in erster Linie der Hunger, der die Sansculotten gewalttätig werden ließ. Mehrheitlich waren die Sansculotten aber nicht für Gewalt. Sie waren einfache, von den Bildungsmitteln ausgeschlossene, vom Leben hart gezeichnete Menschen, deren Elend sie manchmal zur Gewalt greifen ließ. Ihre Gewalttätigkeit war nicht zügellos, sondern verfolgte ein rationales Ziel und richtete sich gegen die Gewaltanwendung durch die Konterrevolution.

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Mit dem Aufstand vom 31 .Mai 1793 erreichte die demokratische Volksbewegung den Ausschluß der Girondisten aus dem Konvent. Anschließend folgte eine härtere Auseinandersetzung, in deren Verlauf die Volksdemokraten für Maßnahmen zur Kontrolle der Wirtschaft eintraten, während die bürgerlichen Demokraten, die Bergpartei und die Jakobiner, sie mit Hilfe des Wahlrechts und mit einer neuen Verfassung auszuschalten versuchten. Im September gab jedoch der Konvent nach, indem er Preiskontrollen verordnete und eine neue Bewegung des offiziellen Terrors einleitete. Hatten die Sektions Versammlungen seit Juni 1792 ständig getagt, so traten sie nun nur noch zweimal in der Woche zusammen. Diese Versammlungen waren verfassungsmäßige Körperschaften, die aus der in den Jahren 1789 bis 1791 entstandenen Verfassung hervorgingen. Da sie nun beschränkt wurden, gingen die radikalsten unter ihnen dazu über, Klubs oder „Volksgesellschaften" zu gründen. Im allgemeinen war für jede Sektion ein Klub vorgesehen. Diese Volksgesellschaften entwickelten sich zu einem Netz von Aktivisten, die in den Sektionsversammlungen und ihren Ausschüssen dominierten. Über die Besucherzahl der Versammlungen und Gesellschaften und über die personelle Zusammensetzung der Ausschüsse sind einige aufschlußreiche statistische Angaben erhalten. Im Jahre II betrug zum Beispiel der Anteil der Teilnehmer an den Sektionsversammlungen zwischen 5 % und 20%, wobei der Mittelwert bei ungefähr 10% lag. Eine gut besuchte Versammlung umfaßte etwa 100-300 Personen aus einer Sektion. Dies läßt den Schluß auf eine Zahl von etwas mehr als 10000 aktiven Volksdemokraten in der Stadt zu. Angaben über die Besucherzahl der Volksgesellschaften sind spärlicher und größtenteils auch ungenau, da sie keinen offiziellen Charakter hatten. Aufschlußreich ist die soziale Zusammensetzung der Mitglieder in Sektions ver Sammlungen, die Albert Soboul untersuchte. Demnach setzten sich die sozialen Klassen in den Sektionsversammlungen wie folgt zusammen: in den Bürgerausschüssen 26% Leute, die von ihrem Vermögen lebten, 12% Freiberufler, 2% Besitzer von Unternehmen, 59% Kaufleute, Ladenbesitzer und Handwerker, keine Lohnarbeiter und Beamte. In den Revolutionsausschüssen 4% Leute, die von ihrem Vermögen lebten, 10% freie Berufe, 3% Besitzer von Unternehmen, 64% Kaufleute, Ladenbesitzer und Handwerker, 10% Lohnarbeiter, 5% Beamte und unter den „militants" 2% Leute, die von ihrem Vermögen lebten, 7% freie Berufe, 1 % Besitzer von Unternehmen, 57% Kaufleute, Ladenbesitzer und Handwerker, 20% Lohnarbeiter und 8% Beamte. Diese statistischen Angaben wurden aus den Verzeichnissen der im Jahre I I I als gefährliche Sansculotten verhafteten Männer zusammengestellt. Soboul hat in diesem Zusammenhang zu Recht betont, daß die Sansculottenbewegung „eine Koalition heterogener sozialer Elemente" war.

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Die Revolutionsregierung setzte 1794 ihr Bestreben fort, die Unabhängigkeit der Sektionen einzuschränken. Robespierre verurteilte - wie bereits erwähnt eine direkte Form der Demokratie, weil diese einer repräsentativen Demokratie in ihrer Realisierung entgegenstehen würde. Die Revolutionskomitees, im Frühjahr 1793 von den Sektionsversammlungen gewählt, wurden im Herbst durch den Generalrat der Kommune gesäubert. Schließlich kamen sie unter die Kontrolle des allgemeinen Sicherheitsausschusses, und im Frühjahr 1794 mußten die Wahlen vom Wohlfahrtsausschuß bewilligt werden. Um ihre Unterstützung auch nach der Einschränkung ihrer Unabhängigkeit zu erlangen, brachte Saint-Just die Ventose-Dekrete ein, die vorsahen, daß der Besitz Verdächtiger eingezogen und der Erlös aus seinem Verkauf an Bedürftige verteilt werde. Der Revolutionsforscher Albert Mathiez deutete diese Vorgangs weise in dem Sinne, daß sich nun die Gruppe um Robespierre anschickte, die Führung einer sozialen und demokratischen Bewegung zu übernehmen. Diese Interpretation stieß in der neueren Forschung auf heftige Kritik. Soboul vertrat die Auffassung, daß Robespierre mit den Sansculotten nicht identifiziert werden könne. In diesem Sinne betrachtete er die Dekrete als politischen Schachzug oder als Beschwichtigungsmittel. Die Sansculotten selbst sahen im Ventose-Programm einen bloßen „Moderatismus", da sie die Zusammenhänge klar durchschauten, daß sie nämlich durch vage Entschädigungen aus zweifelhaften Konfiskationen beruhigt werden sollten. Besonders stark litten sie durch den Mangel an Nahrungsmitteln, weshalb sie eine Ausweitung der Wirtschaftskontrollen mit Strafen für Profitjäger ins Auge faßten. Zudem forderten sie Arbeit, niedrige Preise, Schulen und öffentliche Unterstützung für Arbeitsunfähige. So verstärkte sich die Entfremdung zwischen Volksdemokratie und bürgerlicher Demokratie. Auch die Aufsicht über die Sektionen wurde zusehends verschärft. Die Sansculottenbewegung scheiterte schließlich - wie die neuere Forschung überzeugend aufzeigen konnte - an ihren „inneren Widersprüchen", nämlich am Gegensatz zwischen den Sanculotten und der von den Jakobinern geführten Bergpartei und an den Widersprüchen zwischen direkter und bürgerlicher Demokratie. Zuletzt bestand noch ein innerer Gegensatz unter den Sansculotten selbst, der ihr Ende beschleunigte. Die Lohnarbeiter waren davon überzeugt, zu verlieren, andere erhofften einen Gewinn, wenn es zu einer Beschränkung der Löhne und Preise kommen würde. Die drohende Anwendung des Lohnmaximums brachte diesen Widerspruch offen hervor. Albert Soboul bezeichnete die Demokraten aus dem Volk in gewisser Weise, aber nicht im engeren Sinne als eine eigene Klasse. Sie setzten sich - um hier auch noch den Klassenaspekt anzusprechen - aus einer Mischung von Lohn-

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arbeitern, Handwerkern und Händlern, von proletarischen Existenzen und Kleinbürgern zusammen, womit ein ideologisches Anliegen hervortritt: „Aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt, keine Klasse bildend und infolgedessen auch kein Klassenbewußtsein besitzend, fehlte der Pariser Sansculotterie immer ... ein wirksames Instrument für ihre politische Aktion: eine streng disziplinierte Partei nämlich, die zu diesem Zweck eben auf einer soliden Klassenbasis und strengen Auswahl ruhen mußte. Der gleiche Mangel trifft übrigens die Revolutionsregierung: die Jakobiner bilden ebenfalls keine Klasse. Das ganze Regime des Jahres II ruhte auf einer spiritualistischen Konzeption der politischen Demokratie - hier liegt seine entscheidende Schwäche." Die Bedeutung der sozialen Klasse darf in der Französischen Revolution, wie die demokratische Volksbewegung zeigt, nicht unterschätzt werden. Die Sansculotten waren aber keine Klasse, sondern hatten höchstens ein rudimentäres Klassenbewußtsein entwickelt. Daher handelt es sich bei der Französischen Revolution auch nicht um die Anfänge eines Klassenkampfes der Proletarier gegen die Bourgeoisie. Die Vertreter der demokratischen Volksbewegung lebten in ganz verschiedenen Produktionsverhältnissen: „einige bezogen ihr Einkommen aus ihrer Arbeit als Taglöhner, andere aus dem Verkauf von Waren, die sie selbst hergestellt hatten, manche aus dem Ertrag ihrer Läden und wieder andere aus der Verwendung zahlreicher angestellter Arbeitskräfte". Andererseits muß festgestellt werden, daß die Arbeiten von Soboul und Cobb ein differenziertes Bild vom Klassenstatus und Klassenbewußtsein der unterbürgerlichen Schichten entwarfen und zeigten, wie sehr diese sich von den Mittel- und Oberschichten ausgeschlossen fühlten. Am Beispiel der demokratischen Volksbewegung und der Jakobinerherrschaft kann nach meiner Auffassung überzeugend nachgewiesen werden, daß das revolutionäre Ereignis von 1789 für die Demokratieentwicklung alles andere als belanglos war. Die Dimensionen messen sich an den unmittelbaren Veränderungen ebenso wie an den langfristigen Ankündigungen und auch darin, wie die Revolution empfunden wurde: als tiefgreifender und dauerhafter Riß zwischen einem alten Regime und einem neuen. Die Bedeutung der Französischen Revolution zeigt sich aber auch an der Durchsetzung einer neuen Ideologie, die im 19. Jahrhundert dominieren sollte. Es kann heute nicht mehr bezweifelt werden, daß die Revolution Experimentierfeld für einige Neuerungen war, wie die Vielfalt der revolutionären Praxisformen der Volksmassen und das gelebte und formulierte Programm der Pariser Sansculotten. Darüber hinaus „hat die Französische Revolution auch die Praxis der revolutionären Regierung erprobt", wie die „Einschränkung der bürgerlich-demokratischen Freiheiten im Zusammenhang eines heftig geführten revolutionären Klassenkampfs". Schließlich ist

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erst durch die Revolution die moderne französische Nation entstanden. Wir haben gesehen, daß die radikale Bewegung ein integraler Bestandteil der Revolution für das Privateigentum und die Menschenrechte war. Die antikapitalistische Stoßrichtung in der Sansculottenbewegung und in den Protesten der ärmeren Bauern war eine Reaktion auf die Verelendung, die durch die zunehmende Ausbreitung kapitalistischer Tendenzen in der Wirtschaft während der Spätphase des Ancien Régime und der Revolution verursacht wurde. Die Gegner der Gewalttätigkeit sahen das eigentliche Problem der Revolution darin, daß es den Konservativen nicht gelang, die radikale Bewegung zu kanalisieren. Sie argumentieren häufig damit, daß sich die Demokratie in Frankreich wie in England hätte entwickeln können, wenn die Französische Revolution mit einem ähnlichen Kompromiß wie die Englische Revolution 1689 geendet hätte. Dabei wird jedoch übersehen, daß sich die sozioökonomischen Grundstrukturen Frankreichs von jenen Englands wesentlich unterscheiden und schon deshalb die Entwicklung in Frankreich anders verlaufen mußte. Bleibt abschließend die Frage nach dem erkennbaren Beitrag der Französischen Revolution zu demokratischen Formen. Im Falle der französischen Staatsumwälzung ist es äußerst schwierig nachzuweisen, daß die Gewaltanwendung und der Terreur zur Weiterentwicklung der Demokratie beigetragen haben. Sicher ist, daß die Revolution den gesamten, in sich verflochtenen Komplex aristokratischer Vorrechte beseitigt hat. Die Revolutionäre taten dies vorwiegend im Namen des Privateigentums und der Gleichheit vor dem Gesetz. Die Hauptstoßrichtung der Revolution war sicher bürgerlich und kapitalistisch. So entstand schließlich durch die Revolution ein auf dem Privateigentum beruhendes Wirtschaftssystem und eine politische Organisation, die auf der Gleichheit vor dem Gesetz basierte und damit alle wesentlichen Elemente der wesentlichen parlamentarischen Demokratien aufwies. Die gewaltsame Vernichtung des Ancien Régime durch die Revolution war somit sicher ein entscheidender Schritt Frankreichs auf einem langen Entwicklungsweg zur Demokratie. J.L. Talmon sah allerdings in der Französischen Revolution nicht nur eine wichtige Vorstufe zur Entstehung des „liberalen Typs" der Demokratie, sondern gleichzeitig die Wurzeln totalitärer Form der Demokratie, die beide seit der Französischen Revolution ohne Unterbrechung nebeneinander bestanden. Die Lehre der „totalitären Demokratie" baut nach seiner Auffassung auf der Annahme einer ausschließlichen und allgemeinen Wahrheit in der Politik auf, in deren Zentrum die Überzeugung steht, daß die Menschen unwiderstehlich und zwangsläufig zu einer vorausbestimmten „harmonischen und vollkommenen Ordnung der Dinge" gelangen werden. Die Jakobinerdiktatur ist für ihn ein 5 Timmermann / Gruner

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klassisches Beispiel dieses totalitären Typs der Demokratie. „Alle bestehenden Traditionen, alle überkommenen Institutionen und alle gesellschaftlichen Abmachungen sollten über Bord geworfen und neu geschaffen werden mit dem alleinigen Ziel, dem Menschen die Gesamtheit seiner Rechte und Freiheiten zu sichern, ihn von aller Abhängigkeit zu befreien. Sie faßte den Menschen per se ins Auge und entblößt ihn von allen Attributen, die nicht in der allen gemeinsamen Menschlichkeit enthalten sind. Sie sah den Menschen als das einzige Element in der natürlichen Ordnung unter Ausschluß aller Gruppen und aller überkommenen Interessen. Um an den Menschen per se heranzukommen, mußten alle Unterschiede und Ungleichheiten beseitigt werden. Und so nahm die ethische Idee der Menschenrechte sehr bald den Charakter eines egalitären Gesellschaftsideals an." Im Jakobinismus traten Individualismus und Kollektivismus zum letzten Mal in prekärem Gleichgewicht zusammen in Aktion - nämlich in der „Vision einer Gesellschaft gleicher Menschen, die vom Staat nach einem ausschließlichen und universalen Modell neu erzogen werden." So wurde im Jakobinismus aus dem scheinbar demokratischen Ideal der uneingeschränkten Volkssouveränität bald ein System des Zwanges. „ U m die Bedingungen für den Ausdruck des Allgemeinen Willens zu schaffen, mußten die Elemente, die diesen Ausdruck verfälschten, entfernt oder ihnen zumindest wirksamer Einfluß versagt werden." Schließlich wurde die Idee des freien Selbstbestimmungsrechts des Volkes durch die Vorstellung ersetzt, daß der Allgemeine Wille in ein paar Führern zum Ausdruck komme, die den Krieg mit Hilfe gut funktionierender Anhängergruppen organisierten. Trotz dieser Gefahr darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Französische Revolution auch wesentliche Grundlagen für die Entwicklung der „liberalen Demokratie" geschaffen hat, die nach dem Modell Talmons vom Standpunkt ausgeht, daß Politik eine Sache des Experimentierens sei. Sie betrachtet daher politisches System als „pragmatische Einrichtungen menschlicher Schöpfungskraft und Freiwilligkeit". Liberale Demokraten sind davon überzeugt, daß Mensch und Gesellschaft ohne Anwendung von Zwang und Gewalt einen Zustand „idealer Harmonie" erreichen können, während für die totalitäre Demokratie dieser Zustand als Aufforderung zum sofortigen Handeln und als unmittelbar bevorstehendes Ereignis aufgefaßt wird. Die Demokratie wurde seit der Französischen Revolution auch in Europa als mögliche Gestaltungsform großer Staaten, als ein die Gegenwart unmittelbar bestimmender politischer Machtfaktor angesehen. Sie war nicht mehr nur eine Staatsform, die höchstens in unbedeutenden Randzonen abseits der „großen

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Mächte" eingeführt war, sondern eine bedeutsame, zentrale geschichtliche Bewegung. In den von Friedrich Steger herausgegebenen „Ergänzungsblättern" 1849, die sich auf Deutschland bezogen, wurde sehr treffend formuliert, was im Grunde die Demokratie im 19. Jahrhundert im allgemeinen betraf: „Eine Gesellschaftsform, häufig als Muster angepriesen, ist plötzlich unter uns zur Wahrheit geworden. Die theoretische Erörterung sieht sich jetzt einem Wesen von Fleisch und Bein gegenüber, die Demokratie hat den Schritt aus dem Buch in das Leben hinein getan." Dabei muß aber bedacht werden, daß nicht allein die Auswirkungen der Französischen Revolution, nicht nur die Krise des Absolutismus, nicht die altständischen Oppositionsbestrebungen oder die Neuordnung Napoleons eine wichtige Zäsur der politischen Öffentlichkeit und des Ideologisierungsprozesses bilden, sondern auch die Aufspaltung der Aufklärung in politische Strömungen. Die späteren politischen Ereignisse wirkten sich lediglich verstärkend auf diesen Prozeß aus, konnten aber nicht mehr strukturierend eingreifen. Daher ist die Aufklärung die entscheidende ideologische Wurzel für den frühen Liberalismus, Demokratismus, Sozialismus und Konservativismus. An der Entstehung der Jakobinerbewegung in Mitteleuropa hatte die Aufklärung einen entscheidenden Anteil, da sie die ideologischen Grundlagen für den Politisierungs- und Emanzipationsprozeß der literarischen und philosophischen Intelligenz bildete. Der Jakobinismus, der hier als frühe demokratische Strömung nach dem Ausbruch der Französischen Revolution genauer betrachtet werden soll, litt in Deutschland und Österreich besonders stark am Fehlen materieller Voraussetzungen für eine Revolution. Er erhielt seine Impulse in erster Linie aus Frankreich und aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer Verdrängung der gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse. So blieben die verschiedenen Bewegungen Ende des 18. Jahrhunderts, darunter auch spontane Hungerrevolten, letztlich regional begrenzt und konnten keine revolutionäre Umwälzung bewirken. Zwar hatte der Jakobinismus durch die Ausrichtung auf Frankreich, auf naturrechtliche Normen und die eigenen sozialen Erfahrungen ein relativ gefestigtes ideologisches Gerüst, das jedoch durch die fehlenden materiellen Voraussetzungen zu keiner allgemeinen Revolutionierung führen konnte. Dazu kam noch die ökonomische und gesellschaftliche Rückständigkeit und das im Vergleich zu England und Frankreich sich erst mit Verspätung und unter großen Schwierigkeiten konstituierende Bürgertum. Ein revolutionäres Bewußtsein bestand bei den Volksmassen kaum, da in den zersplitterten Territo*

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rien noch schwierige Lebensbedingungen herrschten. So mußten die Jakobiner unter diesen ungünstigen Verhältnissen und Voraussetzungen erst den Versuch unternehmen, die Revolution in Gang zu setzen. Wie schwierig diese Aufgabe war, beschrieb Georg Forster 1792: „Ich bleibe dabei, daß Deutschland zu keiner Revolution reif ist, und daß es schrecklich, gräßlich sein wird, sie durch das halsstarrige Bestehen auf die Fortsetzung des unglückseligsten aller Kriege unfehlbar vor der Zeit herbeizuführen... Unser rohes, armes, ungebildetes Volk kann nur Wüten, aber nicht sich konstituieren." IV. Wurden die Hoffnungen der meisten frühen Liberalen und Demokraten durch die Herrschaft Napoleons endgültig zerstört (nur mehr wenige revolutionäre Demokraten vertraten nach 1800 noch republikanische Vorstellungen), so war die neue Generation von Freiheitskämpfern besonders bitter enttäuscht, da die alten Herrschaftsstrukturen im großen und ganzen erhalten blieben (mit Ausnahme Preußens, wo es auch keinen Jakobinismus gab). Diese Enttäuschten, darunter vorwiegend Intellektuelle und Studenten, schlossen sich ab 1815 in Geheimzirkeln zusammen, um Wege und Möglichkeiten zu finden, ihr Vaterland zu regenerieren. In der nachrevolutionären Phase waren besonders die Universitäten Zentren des demokratischen Radikalismus. Im Ideengehalt dieser Gruppen zeigten sich im Vergleich zur vorhergehenden Generation insofern Unterschiede, als sich diese nun nicht mehr auf das Gedankengut der Aufklärung beriefen, sondern sich auf das Denken der Romantik stützten. Diese Generation der „romantischen Revolutionäre", deren Aktivität im Wartburgfest 1817 ihren ersten Höhepunkt erreichte und die gegen die Restauration rebellierte, mußte letztlich an ihren eigenen Widersprüchen scheitern, da ihre romantische Überhöhung der Feudalzeit eine neue ideologische Stützung der Staatsgewalten und Herrschaftsstrukturen bedeutete. Bei einigen Professoren und Studenten fanden sich neben diesen romantischen Tendenzen auch radikale Vorstellungen, wie z.B. bei Karl Folien, der die Errungenschaften der französischen Jakobiner würdigte und im nationalen Befreiungskampf Frankreichs ein Vorbild für die Befreiung des eigenen Volkes sah. So entwickelte er ein eigentümliches Konglomerat von jakobinischen und romantischen, kosmopolitischen und religiösen Ideen. Er vertrat einen von den Idealen der Französischen Revolution beeinflußten unitarischen und demokratischen Nationalismus. Seine politische Auffassung verband sich mit der Tradition der Französischen Revolution zu einem schillernden Verfassungspro-

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gramm, in dem historische Elemente - die Reichskreise, ein Volkskaisertum, Ritterideale - neben demokratischen Formen standen. Im Jahr 1818 betonte er in seinem „Großen Lied", daß es zur Vorbereitung einer Volkserhebung notwendig sei, die „Fürsten und Fürstenknechte" durch eine revolutionäre Elite von Verschwörern ermorden zu lassen. Dieser Gedanke des Tyrannenmordes, der bei ihm mit mittelalterlichen Auffassungen eines geheimen Femegerichts vermischt wurde, übte großen Einfluß auf Karl Ludwig Sand aus, der den Schriftsteller und Lustspieldichter August von Kotzebue ermordete. Die Tat Sands bot den Regierungen der deutschen Teilstaaten die Gelegenheit, gegen die nach ihrer Ansicht revolutionären Burschenschaften einzuschreiten, die für Metternich einen Teil der weit verzweigten internationalen Verschwörung zum Sturz legitimer Regierungen darstellten. So wurden 1818 die Karlsbader Beschlüsse erlassen und mit einer großangelegten Hetzkampagne gegen alle freiheitlichen, liberalen und demokratischen Strömungen die Studentenunruhen zum Scheitern gebracht. Diese Politik gegen „demagogische Umtriebe", die auch die liberale Verfassungsbewegung, die Universitäten und die Presse betraf, bewirkte eine nicht unbedeutende Änderung der Verfassungsstruktur des Deutschen Bundes. Hatte Metternich zunächst die Form des Staatenbundes nicht abgelehnt, so war er nun bestrebt, diese Souveränität einzuschränken, um die Einheitsbewegung wirkungslos zu machen. Noch stärker als Karl Folien nahm der hessische Gardeleutnant Wilhelm Schulz die alte jakobinische Tradition auf, indem er an das einfache Volk appellierte. In seiner Flugschrift „Fragund Antwortbüchlein an den deutschen Bürgers- und Bauersmann" betonte er besonders unter Berücksichtigung alter jakobinischer Vorstellungen den deutschen Patriotismus. Inhaltlich läßt sich diese anonym erschienene Broschüre zwischen den Schriften der Mainzer Jakobiner 1792/93 und dem „Hessischen Landboten" von Georg Büchner 1834 einordnen. In Anlehnung an die Flugblätter und Zeitungen der Mainzer Jakobiner verwendete auch Schulz die katechetische Form der Frage und Antwort, mit der er besonders die Bauern ansprechen konnte. Eine gewisse Kontinuität der Sozialrevolutionären Bestrebungen der Mainzer Jakobiner, Schulz' und Büchners läßt sich aus der einfachen Sprache der an das Volk gerichteten Flugschriften ableiten. Schulz erlangte nach einem Jahr Untersuchungshaft wieder die Freiheit, verließ seinen Militärdienst und war nachher als freier Journalist in Stuttgart und Darmstadt tätig. Nach vorübergehender Blüte der Restauration änderte sich die politische Situation mit der Julirevolution 1830 in Frankreich grundlegend, da diese - von ihren Folgen her betrachtet - gesamteuropäische Wirkung erzielte. Die einsetzende revolutionäre Bewegung erfaßte dabei fast alle deutschen Teilstaaten. Zunächst machte sich die Unzufriedenheit in den konstitutionslosen Staaten

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Nord- und Mitteldeutschlands (außer Preußen) mit neoabsolutistischer und bürokratischer Willkür in lokalen Unruhen und bürgerlichen Verfassungsbewegungen bemerkbar. Eine zweite Verfassungsbewegung, die den süddeutschen Konstitutionalismus ergänzte, folgte auf diese Unruhen. Geographisch und zeitlich deckte sich damit eine den Rahmen des einzelstaatlichen Konstitutionalismus sprengende politische und soziale Protestbewegung, die 1831 bis 1834 „die westmitteldeutsche Kontaktzone zwischen den zollpolitischen Vertragssystemen" sowie den Frankreich benachbarten Südwesten umfaßte. Dieser Protest wies eine überregionale, teilweise gezielt nationalpolitische Stoßrichtung auf. Die liberale und demokratische Oppositionsbewegung führte aber lediglich zu kleineren Machtverschiebungen, die jedoch zum Teil von den Regierungen wieder rasch unter Kontrolle gebracht werden konnten. Karl-Georg Faber bezeichnete diese Konflikte im Vormärz als „Ausdruck der Spannung zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen den trotz partieller Modernisierung primär auf Systemerhaltung hin konstruierten politischen und administrativen Institutionen und der sich entfaltenden Welt der bürgerlichen Bedürfhisse. Sie wurde aber auch schon von einer Unterströmung innergesellschaftlicher Friktionen getragen". Starke Reaktionen riefen auch die Ereignisse in Belgien und Polen hervor, wobei besonders die belgische Verfassung auf größere Sympathien in Deutschland stieß. Die Polenfreundschaft des liberalen Bürgertums war nur ein Aspekt der im Zuge der Julirevolution entstandenen und sich gegen das System der Reaktion richtenden oppositionellen Protest- und Verfassungsbewegung in nord- und mitteldeutschen Staaten. Revolutionäre Dimensionen nahm sie vor allem in jenen Länder Nord- und Mitteldeutschlands an, wo das Fehlen einer Konstitution und die Willkür der Fürsten und Regierungen besonders deutlich hervortraten. Die verschiedenen Aufstandsbewegungen, die von Kleinbürgern, Handwerkern, Arbeitern und ländlichen Unterschichten getragen wurden, entwickelten sich zu sozialen Protesten. Durch die Vermittlung bürgerlicher Kreise konnten diese schließlich in den Erlaß von Verfassungen und in administrative Reformen umgeleitet werden. Nach diesem groben Schema liefen auch die Ereignisse in Braunschweig, Hannover, im Königreich Sachsen und in Kurhessen ab. In Süddeutschland hatte die Julirevolution zunächst eine Verschärfung der Auseinandersetzungen zwischen den Regierungen und der liberalen Opposition in den Ständekammern zur Folge. Durch die kontroverse Auslegung des Verfassungsrechts wurde schließlich die südwestdeutsche Volksbewegung 1831 bis 1834 vom Nebeneinander parlamentarischer Kämpfe und neuer Formen des politischen Protests geprägt.

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Für die Entwicklung des radikalen Demokratismus war in diesem Zusammenhang bedeutsam, daß in der Radikalisierung der politischen Opposition eine Aufspaltung in einen gemäßigt-liberalen und radikal-demokratischen Flügel erfolgte. Darüber hinaus kam es auch zu Oppositionsbewegungen in Württemberg, Nassau, Hessen-Darmstadt, Bayern und Baden, wo allerdings nach 1830 eine vorübergehende Zusammenarbeit zwischen Regierung und Parlament auf der Basis der Verfassung zustande kam. In Bayern bildete sich unter Führung des pfälzischen Advokaten Friedrich Schüler eine radikale Gruppe heraus, die sich von den Liberalen trennte. Auf der Ruine des Hambacher Schlosses fand schließlich im Mai 1832 das „Nationalfest der Deutschen" statt, das nicht zuletzt aufgrund der sozialen Notlage der pfälzischen Bauern und Kleinbürger und der radikalen Agitation verursacht wurde. Im Rahmen dieses Festes kam es sogar zu einer teilweisen Vereinigung der gemäßigten und radikalen Oppositionellen, doch fehlte ihren Führern die theoretische Fundierung, um ihre Ziele in die Praxis umsetzen zu können. Die Forderungen der Oppositionellen richteten sich nach Einheit und Freiheit Deutschlands und waren von einer starken Fürsten- und Aristokratenfeindschaft geprägt. Ihre demokratischen Vorstellungen bauten weniger auf einer Analyse der konkreten Klassenverhältnisse und auf dem Verständnis der dem Kapitalismus inhärenten Widersprüche auf, sondern beruhten stärker auf einem moralischen Gerechtigkeitsstreben und auf Mitgefühl mit den sozial unterdrückten Schichten. Das Hambacher Fest fand in der deutschen Öffentlichkeit große Resonanz, insbesondere im süddeutschen Raum, in Baden, Frankfurt, Kurhessen und Franken. Die repressiven Reaktionen blieben nicht aus: Kontrolle der landständischen Verhandlungen, Verschärfung der Pressezensur, Verbot politischer Vereine und Volksfeste, Überwachung der Universitäten, Unterdrückung der Burschenschaften und ähnliche weitere Maßnahmen. Durch die Verbindung von örtlichen oder landschaftlichen Sozialkonflikten mit dem politischen Radikalismus entstand nach dem Scheitern des Frankfurter Wachesturms erneut in der oberhessisch-kurhessischen Störungszone zwischen Darmstadt, Frankfurt und Marburg eine revolutionäre Bewegung, die vor allem die „niederen Volksklassen" ansprach. Georg Büchner verfaßte 1834 seine berühmte Flugschrift „Der hessische Landbote", in der er harte Kritik an der Ausbeutung des Volkes durch die Fürsten, Regierungen und Landstände übte. Er rief zum Sturz der Tyrannen, zur Beseitigung der Verfassungen und zur Errichtung eines deutschen Freistaates auf. Parallel zu den erwähnten politischen und sozialen Protestbewegungen in Deutschland nach 1830 und dem zunehmenden Nationalgefühl lief die Entstehung eines pluralistischen Systems politischer Parteien, das seit ca. 1835 den älteren Gegensatz zwischen Konservativismus

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und Frühliberalismus ersetzte. Ernst Rudolf Huber sprach in diesem Zusammenhang von einem Vorgang der Formierung eines „fünfgliedrigen deutschen Parteiwesens", bestehend aus Konservativismus, Liberalismus, demokratischem Radikalismus, politischem Katholizismus und Sozialismus. Diese neuen politischen Gruppierungen, von denen hier nur die radikal-demokratische näher betrachtet werden soll, waren stark an Theorie und Ideologie orientiert. Der radikale Demokratismus und Sozialismus sprengten im Gegensatz zum Konservativismus und Liberalismus den Rahmen des Spannungsverhältnisses von Bewahrung und Fortschritt und waren letztlich eine Antwort auf Veränderungen in den konfessionellen, politischen und ökonomischen Strukturen. Der Abspaltungsprozeß des demokratischen Radikalismus vom Liberalismus vollzog sich im Vormärz im wesentlichen auf zwei Ebenen: auf einer politischen und einer theoretischen. Im Zentrum der demokratischen Theorie stand die Aufhebung der „möglichen Differenz zwischen dem Inhaber der Staatsgewalt und den seiner Macht Unterworfenen", indem sie beide, den Souverän und das Volk, einander gleichsetzte. Das war die Verwirklichung der Volkssouveränität, die notfalls mit Gewalt über eine Revolution durchgesetzt werden müsse. Der Liberalismus hingegen wollte „den Mißbrauch der Macht des Souveräns durch verfassungsmäßige Sicherungen, durch Freiheitsrechte, Gewaltenteilung, rechtsstaatliche Vorkehrungen" verhindern und seine politischen Ziele über den Weg von Reformen erreichen. Allerdings führten erst die Erfahrung der Grenzen des Konstitutionalismus in der Praxis und die Julirevolution 1830 „zur Trennung von Liberalismus und demokratischem Radikalismus als Parteien mit differierender politischer Theorie", wobei jedoch auch weiterhin zwischen linkem Liberalismus und demokratischem Radikalismus in einzelnen Forderungen Gemeinsamkeiten bestanden, wie z.B. in den späteren „Märzforderungen". Der bürgerliche Radikalismus trat nach 1830 hauptsächlich in zwei Formen auf, die besonders in Südwest- und Norddeutschland verbreitet waren und bis 1848 in relativ lockerer Form nebeneinander bestanden. Den ersten Höhepunkt erlebte der südwestdeutsche Radikalismus - wie bereits erwähnt - in der Protestbewegung von 1830-1834 und hatte im Kleinbürgertum und in der Landbevölkerung dieses Gebietes eine leicht in Bewegung zu setzende Massenbasis. Im Zuge der einsetzenden Reaktion kamen die radikalen Anführer entweder ins Gefängnis oder gingen in die Emigration. Von dort aus versuchten sie in Flugund Zeitschriften und über geheime Emissäre, die die mit dem bestehenden System Unzufriedenen zu beeinflussen und die mentalen Voraussetzungen für eine Revolution herbeizuführen versuchten. Ihr Einfluß auf politische Entscheidungen im Rahmen der Verfassungen blieb jedoch mit Ausnahme Badens, wo Radikale Zutritt zu den Kammern bekamen, sehr gering. Beziehungen dieser

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radikalen Demokraten bestanden auch nach Sachsen, wo Robert Blum zum Führer einer oppositionellen Agitation wurde. Blum unterhielt auch zu einzelnen demokratischen Politikern Preußens enge Kontakte, wie zu Johann Jacoby. Bedeutsame theoretische Werke sind allerdings aus dem südwestdeutschen Radikalismus nicht hervorgegangen. Die Arbeiten Julius Fröbels waren wohl stärker dem philosophischen Radikalismus in Norddeutschland zuzuordnen. Aufschlußreich ist auch das politische Aktionsprogramm der badischen Demokraten von 1847. Die demokratische Tendenz manifestierte sich darin besonders in den Forderungen nach gleichem Wahlrecht, volkstümlicher Wehrverfassung, einer progressiven Einkommenssteuer und nach Gleichheit des Zugangs zur Bildung durch kostenlosen Unterricht. Der intellektuelle Radikalismus in Norddeutschland, der seinen Kern in der Gruppe der Linkshegelianer besaß, baute seine politische Position auf dem Prinzip der „Negation" nach der Kritik der Hegeischen Religions- und Rechtsphilosophie auf. Sein Ziel war nicht mehr die Zusammenführung der Gegensätze, „sondern die Vernichtung des Alten durch die revolutionäre Vernunft". Die sozialen Krisen, die Ausdruck des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels waren, und die verschiedenen sozialen Protestbewegungen brachten eine Reihe von Veröffentlichungen über das Problem des Pauperismus hervor und führten zu verschiedenen Bemühungen des Staates, die soziale Frage administrativ, karitativ oder durch erzieherische Maßnahmen in den Griff zu bekommen, zumal es in Deutschland zu dieser Zeit noch keine sozialistische Partei im ideologischen und organisatorischen Sinn gab. Die Gründe dafür lagen zum Teil im Fehlen eines Klassenbewußtseins der Unterschichten und des entstehenden Proletariats, teils im Ausschluß von jeder Form der politischen Partizipation und schließlich in der polizeilichen Repression. Daraus wird verständlich, warum die Anfänge einer deutschen Arbeiterbewegung weitgehend auf außerdeutschem Boden Fuß faßten. Die revolutionäre Theorie des frühen deutschen Sozialismus vor 1848 war in erster Linie das Ergebnis der ideologischen, von religiösen und philosophischen Überlegungen ausgehenden Diskussion über die Lehren der französischen Frühsozialisten und der Auseinandersetzung mit den ökonomischen und sozialen Verhältnissen in der industriellen Klassengesellschaft Englands. Zu seinen bedeutendsten Persönlichkeiten zählten Wilhelm Weitling, Moses Heß, Karl Grün, Karl Marx und Friedrich Engels, auf deren Schriften hier nicht näher eingegangen werden kann. Es sei lediglich zusammenfassend darauf verwiesen, daß bereits vor 1848 in Nordwestdeutschland ein Netz von Stützpunkten der sozialistischen Agitation bestand. Wichtigstes Zentrum war der Kölner Kreis von aktiven Kommunisten und die im Herbst 1847 entstandene Kölner Sektion des „Bundes der Kommunisten". Vor der Révolu-

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tion 1848 kam es jedoch zu keiner überregionalen Organisation einer sozialistischen Partei innerhalb des Deutschen Bundes. Bedeutend komplexer als in Preußen und in den süddeutschen Verfassungsstaaten verliefen die politischen Fronten in der Habsburgermonarchie. Auch hier war der Vormärz durch die Politik Metternichs nicht ohne Spannungen geblieben. So bildete sich in einigen Landtagen und im außerparlamentarischen Bereich eine meist von Adeligen und von städtischen Bürgern organisierte liberale Opposition. In außerdeutschen Ländern entstanden zudem nationale Bewegungen. Ab ca. 1830 entwickelten sich die verschiedenen Ständeversammlungen der Erbländer von an das System angepaßten „Postulatenlandtagen" zu kritischen Partnern der Regierung. Die bürgerliche Intelligenz, darunter Rechtsanwälte, Schriftsteller, Professoren, Beamte und Kaufleute, sammelte sich in verschiedenen Vereinen, wie z.B. 1842 in Wien im „Juridisch-Politischen Leseverein". Die Stände forderten vor allem Reformen im Schulwesen und in der Selbstverwaltung, Öffentlichkeit der Ständversammlung und ein Pressegesetz, die Weiterfuhrung der Bauernbefreiung und eine stärkere Mitwirkung in der Finanzpolitik, alles Postulate, die sich im Rahmen des konstitutionellen Liberalismus bewegten. Die Reformwünsche der Liberalen konnten jedoch im Vormärz in der Habsburgermonarchie nicht öffentlich artikuliert werden, weshalb diese auf Broschüren und Zeitungen auswichen, die im Ausland erschienen sind. Die liberalen Kritiker forderten keine Revolution zur Beseitigung der von ihnen als unerträglich empfundenen gesellschaftlichen Zustände, sondern traten, wie kurz angedeutet, für mehr Rechte ein. Unter dem Einfluß der Julirevolution kam es allerdings nach 1830 zu zahlreichen Protestbewegungen, die bisher von der Forschung viel zuwenig beachtet wurden. Radikaldemokratische Vorstellungen wurden jedoch nur von wenigen Theoretikern, wie von Hermann Jellinek, Ernst Violand, Karl Scherzer und Anton H. Springer vertreten. Es kam lediglich aufgrund einer schweren Agrarkrise als Folge verhängnisvoller Mißernten 1845-1847 zu verschiedenen lokalen Aufständen und Plünderungen von Bäckerläden, besonders in den Wiener Vorstädten, wo ein nicht mehr zu übersehendes Lumpenproletariat entstanden war. Eine ernsthaftere Gefahr für den Bestand des habsburgischen Vielvölkerstaates stellten die Nationalbewegungen in den nichtdeutschen Ländern der Monarchie dar, die im Vormärz stärkere politische Dimensionen annahmen und über die Grenzen ständischer Opposition hinausgingen. Sie führten schließlich zu direkten Aufständen mit zum Teil internationalen Auswirkungen. Besonderes Mißtrauen hegten die Behörden gegenüber den zahlreichen Handwerksgesellen, wobei hier vor allem Paris ein Hauptanziehungspunkt war. 1832

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waren an der Gründung des „Deutschen Volksvereins", eine der ersten Pariser politischen Vereinsbildungen, auch deutsche Gesellen beteiligt. Dieser Verein stellte - was Metternich besonders störte - Freiheitsforderungen auf und vertrat die deutsche Einheitsidee. Auch sozialkritische Tendenzen wurden deutlich bemerkbar. Dem Volksverein folgte 1834 der „Bund der Geächteten", der als Geheimbund ins Leben gerufen wurde. Seine Mitglieder setzten sich „die Befreiung Deutschlands von dem Joche schimpflicher Knechtschaft und Begründung eines Zustands" zum Ziel, „der, soviel als Menschenvorsicht vermag, den Rückfall in Knechtschaft und Elend verhindert." Die wandernden Gesellen kehrten allerdings bald wieder nach Deutschland zurück, wo einige von ihnen versuchten, für die Ziele des Bundes heimlich Propaganda zu machen. So gelang es in Frankfurt am Main, einige „Zelte" zu gründen, von wo aus sich der Geheimbund nach Mainz und in einigen Orten Südwestdeutschlands verbreitete. Metternich befürchtete ein Übergreifen des Bundes auf andere deutsche Gebiete und auf Österreich. Die Mainzer Zentraluntersuchungskommission betrachtete den Bund als hochverräterische Organisation, da seine Absichten „auf Umsturz der in Deutschland bestehenden Staatsverfassung und auf das Ziel einer Vereinigung Deutschland in einem Staate gerichtet war, die Erreichung dieses Zieles aber der Natur der Sache nach ohne Gewaltanwendung nicht denkbar sein konnte." Metternich hielt an seiner Auffassung fest, daß eine bedeutende Ge r heimgesellschaft mit Zentrale in Paris einen umfassenden Revolutionsplan ausarbeite, um die Völker Europas gegen ihre Regierungen aufzuwiegeln. Kritik an der inneren Struktur des Bundes führte schließlich zum Bruch und zur Gründung einer neuen Organisation, des „Bundes der Gerechten", der unter dem Druck der innenpolitischen Situation in Frankreich auch eine Geheimorganisation blieb. Seine Mitglieder faßten unter anderem eine Politisierung und Revolutionierung der Bevölkerung in den Staaten des Deutschen Bundes ins Auge. Metternich sah nach wie vor in Paris den „Sitz der Zentralloge der Emissionen, der Sozialreformgesellschaften, der Handwerkervereine" und den Sitz „der Revolution selbst, die nie als erschöpft anzusehen" wäre, sondern einem Vulkan gleiche, der nur neuen Brennstoff sammle, um dann auszubrechen. Dem Bund gelang es, in Hamburg eine kleine Gemeinde ins Leben zu rufen. 1840 soll es nach Angaben der Polizei auch in Frankfurt am Main sechs „Zelte", später acht gegeben haben. Ein neu gebildeter Verein „Bund der Deutschen" war auf einem Kompromiß zwischen dem autoritären Aufbau der „Geächteten" und der demokratischen Organisation der „Gerechten" aufgebaut. Er existierte jedoch 1840 nicht mehr. Letztlich setzten sich die „Gerechten" durch, die vor allem bemüht waren, Kontakte zu Wilhelm Weitling in der Schweiz zu unterhalten. Weitling, dessen

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Ideen auch in Österreich Anklang gefunden hatten - in Tirol bildete sich z.B. 1846 ein an den Theorien Weitlings orientierter „Communisten-Verein" - , war zunächst stark vom religiösen Sozialismus beeinflußt; während seiner Tätigkeit in der Schweiz trat aber der christliche Akzent in seiner Sozialkritik immer mehr zurück. Er berief sich nun auf das Naturgesetz und faßte eine Revolutionierung der herrschenden Eigentumsverhältnisse ins Auge. Ähnlich wie Fourier konzipierte er eine Gesellschaft, in der das innere Gleichgewicht zwischen Begierden und Fähigkeiten wieder hergestellt werden sollte. Diese gesellschaftliche Veränderung sollte auf revolutionärem Wege erreicht werden. Da diese Gedanken als besonders gefährlich galten, trafen die österreichischen Behörden, zumal ein Übergreifen befürchtet wurde, entsprechende Abwehrmaßnahmen. Das vom Josephinismus geprägte gesamtstaatliche Denken war im Vormärz in Österreich sicher noch dominierend. Für die Verbürgerlichung der Stände waren besonders zwei Tatsachen entscheidend: Zahlreiche Bürger konnten „landtäfeligen" Besitz erwerben und sich damit einen Sitz in der Ständeversammlung sichern, während die meisten Grundbesitzer für Landwirtschaftsreformen eintraten, zumal die Robotleistung sich als unergiebig erwiesen hatte. Kurz vor dem Ausbruch der Revolution diskutierten die Stände neben politischen Fragen auch die ungünstige Situation der Lohnarbeiter und erteilten der Regierung den Rat, eine „Ausgleichung seines (des Arbeiters) Elendes durch den Überfluß begünstigter Klassen, welche durch die Macht der Verhältnisse und noch mehr durch eine immer greller hervortretende Immunität von einer verhältnismäßigen Beitragsleistung geschützt sind", vorzunehmen. Zudem wurde sozialkritisch betont, daß es erwiesen sei, „daß der Lohn des Arbeiters im allgemeinen kaum, im einzelnen aber bestimmt nicht mehr genügt, die gewöhnlichen Lebensbedürfnisse anzuschaffen; für Krankheitsfälle und Arbeitslosigkeit bleibt kein Überschuß. Der Gewinn, der sonst der Lohn der Arbeit war, hat sich von ihr losgerissen und ist auf die Mittel übergegangen, die sie in Bewegung setzten. Ihre Besitzer beuten die Vorteile aus, die jenen gebühren, und von ihnen wird der Anteil bemessen, den sie dem Arbeiter davon abtreten wollen. So mußte es wohl kommen, daß auch der Lohnarbeiter zum Teile auf Mitleid oder Nebenquellen oder Verschuldung angewiesen ist, um seine Ausfälle auszugleichen. Gegen dieses Mißverhältnis gibt es nur eine Hilfe: wohlfeilere Nahrung als erste und Grundbedingung der Zufriedenheit des Volkes." Ernst Violand sah im Grunduntertänigkeitsverhältnis die Ursache allen Übels in Österreich und die Basis der Mißwirtschaft in der feudalen Gesellschaft. Die rechtliche Struktur der Dominien zeigte, daß in der Tat viele Abgaben bestanden, auch wenn die ökonomisch-soziale Lage etwas günstiger erschien als die

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rechtliche, da nicht alle Abgaben auch tatsächlich eingetrieben wurden. Erschwerend wirkte sich vor allem die wirtschaftliche Depression bis ca. 1830 aus, die nur langsam abflaute und besonders jene Industriezweige traf, die vorher unter dem Schutz der Kontinentalsperre mühsam aufgebaut worden waren, wie die Textilindustrie und die Metallwaren- und Zuckerfabriken. Nach 1830 kam es rasch zu einer wirtschaftlichen Konsolidierung, die die Voraussetzungen für die moderne Großindustrie in Österreich schuf, wenngleich die Habsburgermonarchie eher an der Peripherie der industriellen Revolution lag. Für die spätere Krise war mitentscheidend, daß der langsame Industrialisierungsprozeß sich - wie bereits erwähnt - ohne soziales Verständnis vollzog. Die Arbeiterschaft setzte sich im Vormärz in Österreich vorwiegend aus Handwerksgesellen, Fabrikarbeitern und Gelegenheitsarbeitern, Erwerbslosen und Lumpenproletariat zusammen. Diese ökonomischen und sozialen Bedingungen beeinflußten das Entstehen einer politischen Opposition entscheidend. In verschiedenen Vereinigungen, wie „Concordia" und „Soupiritum", in denen vorwiegend Künstler und Schriftsteller verkehrten, machten sich zuerst politisch-oppositionelle Tendenzen bemerkbar. Aus Anlaß des Österreich-Besuches von Friedrich List 1844 veranstaltete z.B. der juridisch-politische Leseverein ein Festbankett, das als erste politische Versammlung in Österreich bezeichnet wurde. Der geplante Beitritt Österreichs zum Deutschen Zollverein konnte allerdings nicht realisiert werden, da die österreichischen Industriellen die Konkurrenz der deutschen Produkte fürchteten. Die Liberalen konnten sich im Vormärz in Österreich in der Öffentlichkeit kaum artikulieren, da das Polizeisystem und die Zensur stark ausgeprägt waren. So sahen sie sich, wie bereits angedeutet, gezwungen, ihre politischen Ideen und kritischen Reflexionen in Broschüren bei ausländischen Verlegern, wie z.B. in Hamburg und Leipzig, niederzuschreiben. Verfasser bedeutender Schriften waren u.a. Victor Andrian-Werburg, dessen Buch über „Österreich und dessen Zukunft" großes Aufsehen erregte, Karl Moering undder Kreis um Ignaz Kurandas in Leipzig erscheinenden „Grenzboten". Diese Kritiker traten für mehr Rechte des Adels und Bürgertums gegenüber der Bürokratie und des absolutistischen Regierungssystems ein. Die Revolution wurde allerdings aus prinzipiellen Gründen abgelehnt. 1845 brachten die Wiener Schriftsteller, die sich durchaus kompromißbereit zeigten, eine überaus loyal formulierte Petition um Milderung der Zensur ein. Die Zensur war mit dem politischen System Metternichs unauflöslich verbunden und konnte daher nicht umfassend genug sein. Metternich hielt präventive

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Verfahren für zweckmäßiger als repressive. Mit den Zensurverfügungen sollte im wesentlichen alles verhindert werden, was Religion, Staat oder „gute Sitten" schädigen oder in Frage stellen konnte. Metternich war der festen Überzeugung, daß mit einem liberalen Pressegesetz keine Ordnung mehr möglich sei. Zur vorrevolutionären Krise kam es erst durch die zunehmenden wirtschaftlichen Probleme. Zunächst setzte in Österreich eine schwere Agrarkrise als Folge verhängnisvoller Mißernten 1845-1847 ein, die besonders die Lebensmittelpreise ansteigen ließ, während die Löhne eher eine fallende Tendenz zeigten. Durch Viehseuchen, Mißernten und Kartoffelfäule erreichte die Lebensmittelknappheit im letzten Jahrzehnt vor der Revolution ein solches Ausmaß, daß viele Menschen an Hungertyphus starben und ganze Ortschaften durch Auswanderung entvölkert wurden. In den Städten kamen noch der Niedergang der Industrie und eine exorbitante Arbeitslosigkeit dazu, die von der Regierung nicht in den Griff zu bekommen war. Von der Verteuerung der Grundnahrungsmittel waren besonders die sozialen Unterschichten betroffen. Zudem verursachte die von Großbritannien ausgehende Handelskrise einen Rückgang oder zumindest einen Stillstand der Geschäfte in der Textilindustrie, die sich zu diesem Zeitpunkt im Zuge der beginnenden Mechanisierung der Seidenindustrie, Baumwolldruckerei und Bucherzeugung in einer schwierigen Übergangsphase befand. Aus den Polizeiberichten geht deutlich der Stimmungsumschwung in der Bevölkerung seit 1845 hervor. War man im September 1845 noch optimistisch, so änderte sich die Haltung des Volkes bereits einen Monat später. „Die drückenden Verhältnisse wurden im Oktober noch durch die Arbeitsstockung und den Erwerbsmangel vermehrt. Nicht nur, daß der Verdienst für den gemeinen Mann bei dem Eintritte der rauhen Jahreszeit gewöhnlich abnimmt, Maurer und Gartenarbeiter, Handlanger bei Bauten und andere Taglöhner in dieser Periode gewöhnlich weniger Beschäftigung finden, so trat auch ein bedeutend verringerter Absatz der Fabrikate ein, infolgedessen viele Arbeiter aus den Fabriken entlassen wurden ..." Besonders schwierig war die Lage der arbeitslosen Stoffdrucker, die keine neue Arbeit finden konnten und für die öffentliche Ruhe als bedenklich angesehen wurden. Zu einer gänzlichen Stagnation der Textilbetriebe kam es im Frühjahr 1847, wobei die Fabrikanten „Gewalttaten gegen ihre Person und ihr Eigentum" befürchteten. Die Stadtverwaltung, die seit 1842 das Armenwesen übernommen hatte, stand vor einer schwierigen Aufgabe, die sie nur bescheiden erfüllen konnte. Im Bereich der Lebensmittelversorgung wurde allerdings erst spät (1846) und gegen den Widerstand der Fleischhauer die Entscheidung getroffen, öffentliche Schlachthäuser zu errichten. Da Arbeiterunruhen zu befürchten waren, führte die Regierung Notstandsarbeiten "ein, wie z.B. Arbeiten

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an Befestigungen, Regulierung des Wienflusses und Arbeiten am Bauplatz des Versorgungshauses. Auf diese Weise fanden 3000 Arbeitslose seit April 1847 Beschäftigung. Großes Kopfzerbrechen bereitete dem Magistrat die anhaltende Bevölkerungsvermehrung, wobei sich unter den 410947 Einwohnern Wiens 1847 166057 Fremde befanden. Nur mäßige Linderung konnten die Wohltätigkeitsvereine bringen, wie der im Jahre 1847 gegründete Kreuzerverein, der die selbständigen Kleingewerbetreibenden unterstützen sollte. Die Not der Bevölkerung nahm weiter zu, so daß langsam ein Lumpenproletariat entstand. Ernst Violand, der später demokratischer Reichsabgeordneter war, beschrieb in anschaulichen Worten die Wirkungen der Massenarbeitslosigkeit: „Die Folgen der furchtbaren Zustände der abhängigen Arbeiterklasse waren, wenigstens in Wien, grenzenlose Immoralität und sittliche Verkommenheit. Ganze Vorstädte wie Thury, Liechtenthal, Alt-Lerchenfeld, Strozzi'scher Grund, Margarethen, Hundsthurm, Neue Wieden, Fünf- und Sechshaus wimmelten von ausgehungerten, zerlumpten Arbeitern, und abends erfüllten die unglücklichen Mädchen der Fabriken in dem jugendlichsten, selbst kindlichen Alter die Glacien und den Stadtgraben, um für einige Groschen jedem dienstbar zu sein." Viele Obdachlose mußten im Winter in den Kanälen hausen, so daß sich die soziale Lage weiter verschärfte. Plünderungen von Bäckerläden in den Vorstädten nahmen zu, Attacken auf fahrende Hofwägen kamen täglich vor. Auch private Wohltätigkeit konnte in dieser schwierigen Situation nicht weiterhelfen. Der juridisch-politische Leseverein war maßgeblich am Zustandekommen eines „allgemeinen Hilfsvereins" beteiligt, der für die Ärmsten die Ausgabe von Suppen organisierte, eine spürbare Linderung der Not konnte aber dadurch nicht erreicht werden. Die Notsituation der städtischen Unterschichten war ein Teil der allgemeinen Wirtschaftskrise des Staates, der bedeutend mehr Ausgaben als Einnahmen zu verzeichnen hatte. Der kleine Mittelstand litt besonders stark unter dem harten Steuerdruck (Steuerreste wurden meist durch Pfändungen eingetrieben), während die großen Bankhäuser den Staatshaushalt von sich immer abhängiger machten. Eine umfassende Staatskatastrophe schien daher bevorzustehen. In Oberitalien signalisierte der Mailänder „Zigarettenrummel" die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten. 1846 kam es in Galizien zu schweren Bauernunruhen, wobei die Regierung keine Initiative ergriff, um die Agrarfrage zu lösen. Auch in Ungarn ging der Landtag seit der Jahreswende 1847/48 stärker auf Oppositionskurs. Die Versuche der amtlichen „Wiener Zeitung", durch gezielte Hinweise auf die das Eigentum gefährdende soziale Revolution, die Situation zu beruhigen, waren gescheitert. Die revolutionäre Stimmung in Wien verbreitete sich sehr rasch, wobei die Nachrichten von der Februar-Revolution

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in Paris wesentlich dazu beitrugen. Am Kärntnertor in Wien wurde z.B. ein Plakat angeschlagen, das den Sturz Metternichs ankündigt: „ I n einem Monat wird Fürst Metternich gestürzt sein! Es lebe das konstitutionelle Österreich!" Weitere, indirekt zum Umsturz auffordernde Aussagen wurden in verschiedenen Plakaten zum Ausdruck gebracht: „Sagt, seid ihr denn noch nicht der Tyrannei müde, in der man euch gefangen hält! Ist es euch noch immer gleichgültig, ob ihr in jeder Beziehung geknechtet und geknebelt werdet? Laßt ihr euch noch immer von eurem Magistrat die Haut über die Ohren ziehen, damit euer gestrenger Herr Bürgermeister in stattlicher Equipage euch über den Haufen führen kann? Nehmt ihr das Brot noch immer in derselben Größe, als es war, wie das Korn das Doppelte kostete, und lauft ihr trotzdem immer noch zur Wache, um euren untertänigsten Knick den vorbeifahrenden Sechsspännern zu machen?" Schon am ersten März 1845 brachten die Wiener Schriftsteller unter Eduard von Bauernfeld eine Petition um ein geregeltes Zensurverfahren an den Kaiser ein, der sich aber mit Metternich unnachgiebig zeigte. In einigen weiteren Adressen und Petitionen wurden liberale Forderungen aufgestellt, wie z.B. die Veröffentlichung des Staatshaushaltes, Mitsprache der Stände, die durch das Bürgertum verstärkt werden sollten, an der Steuerbewilligung und Gesetzgebung, mehr Öffentlichkeit in der Rechtspflege und Verwaltung. Die Studenten verlangten u.a. Preß- und Redefreiheit, Lehr- und Lernfreiheit an den Universitäten, Gleichstellung der Konfessionen und eine allgemeine Volksvertretung. Die Regierung war aber nicht bereit, auf diese Forderungen einzugehen. Im Gegenteil: nicht nur die verschärften Zensurvorschriften, sondern auch deren willkürliche Handhabung durch die Zensoren wirkten sich sehr negativ auf das politische und geistige Leben im Vormärz aus. Bereits 1842 reichten die Schriftsteller unter Bauernfelds Federführung die „Pia desideria eines österreichischen Schriftstellers", die Petition der Zeitungsredakteure 1842 und der Buchhändler 1839 ein. Einige Jahre später folgte die gleichfalls von Bauernfeld verfaßte und bereits erwähnte Schriftstellerpetition. Alle diese Versuche bewirkten aber nur den Arbeitsbeginn eines obersten Zensurkollegs. Auch das Nationalitätenproblem wurde im Vormärz langsam virulent und in zahlreichen Broschüren ausführlich diskutiert. In diesem Zusammenhang gelang keine Einigung auf eine Staatsform, die allen Sonderinteressen gerecht werden konnte. Polizeiminister Sedlnitzky hatte der Gefahr eines Übergreifens früher kommunistischer Ideen auf österreichisches Gebiet und dem politischen Wirken des Geheimbundes der Carbonari vorgebeugt, indem er alle Länderchefs anwies, strengste Wachsamkeit auf Reisende aus der Schweiz und Frankreich zu üben. Ein genaues Verzeichnis aller Handwerker, die kommunistischen Vereinigun-

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gen angehörten, bot ihm Gelegenheit, diesen den Eintritt in die Monarchie zu verweigern. Trotzdem konnte - wie das Beispiel Tirol zeigt - nicht verhindert werden, daß die Ideen Wilhelm Weitlings nach Österreich gelangten und in Innsbruck 1846 sogar ein „Communistenverein" entstand, der sich vorwiegend aus Handwerksgesellen zusammensetzte. Die zahlreichen repressiven Maßnahmen der Polizei konnten letztlich den Ausbruch der Revolution nicht mehr aufhalten. Zunächst brach Unruhe in der Börse aus, als das Bürgertum die Kassenschalter der Banken zu stürmen begann, um das Papiergeld gegen Münzen einzutauschen, in den Vorstädten Wiens geriet die Arbeiterschaft in drohende Bewegung. Außer einem vagen kaiserlichen Handschreiben vom 12. März 1848 über die Einberufung eines ständischen Ausschusses war von Seiten der Regierung keine Antwort auf diese Unruhen erfolgt. Am 13. März traten schließlich die niederösterreichischen Stände zusammen, von denen nun eine Entscheidung der schwierigen anstehenden Fragen erwartet wurde, die dann von den Arbeitern und Studenten Wiens kam. „ A l l dies loyale Gewinsel", schrieb Hans Kudlich 25 Jahre nach 1848, „würde den Gewalthabern ... keinerlei Konzessionen abgeschmeichelt haben. Das wilde Ungestüm, der Wüstenlöwe der Revolution, mußte mit mächtigen, erbarmungslosen Krallen dies Regime bei der Gurgel fassen, blutiger Ernst mußte entwickelt werden, sollte die Bewegung der Geister ein praktisches Resultat erzeugen." So brach schließlich die Revolution aus, wobei parallel zur „bürgerlichen Revolution" in der Innenstadt die „proletarische" in den Vorstädten und Vororten Wiens lief. In der Habsburgermonarchie war der Vormärz trotz oder gerade wegen der restaurativen Politik Metternichs nicht ohne politische Spannungen geblieben. Allerdings konnte sich wegen der Härte des Regimes und der zahlreichen repressiven Maßnahmen der Polizei keine frühe demokratische Bewegung herausbilden. Dafür entstand aber eine meist von Adeligen und städtischen Bürgern organisierte liberale Opposition in einigen Landtagen und im außerparlamentarischen Bereich. Die Forderungen der politischen Opposition bewegten sich aber durchaus im Rahmen des konstitutionellen Liberalismus und stellten daher keine ernsthafte Bedrohung des politischen Systems dar. Radikaldemokratische Vorstellungen wurden nur von wenigen Theoretikern, wie z.B. Hermann Jellinek, Ernst Violand, Karl Scherzer und Anton H. Springer vertreten. Auf dem Gebiete des Rechtswesens und der Gesetzgebung, das vor dem Hintergrund der eben skizzierten politischen und sozioökonomischen Strukturen des Vormärz gesehen werden muß, ging die Intensität der Kodifikationsarbeiten eher zurück, auch wenn es zur Regelung einzelner Rechtsbereiche kam. Durch eine aktive gesetzgeberische Tätigkeit, die alle Gebiete des Rechtslebens umfaßte, entwik6 Timmermann / Gruner

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kelte sich der absolutistische Staat immer mehr zu einem Gesetzesstaat. Die konservative katholische Bewegung erblickte in der juristischen Ausbildung und der damit verbundenen angeblich liberalen Geisteshaltung, in der „Herrschaft des Naturrechts" auf den Universitäten, eine Gefahr für den Staat, der mit wirksamen Mitteln begegnet werden sollte. Für die konkretere Ausbildung und Abgrenzung einer liberalen Ideologie in Österreich scheint nach der Julirevolution 1830 die zunehmende Politisierung bedeutsam, die auch Österreich ergriff. Das Unbehagen am Metternichschen System und die sozialen Probleme der Industrialisierung bezogen den kulturellen Bereich in die kritische Reflexion mit ein. Sie durchbrach gleichsam die Abschirmung, hinter der die Literatur und Philosophie der Romantik und des Idealismus unter den Bedingungen der Restauration einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte. Die Dichtung wurde politisch, zunächst im Roman, seit den 40er Jahren auch in der Lyrik. Dazu kam die Abspaltung eines radikalen Demokratismus vom Liberalismus, die sich auf zwei Ebenen, einer politischen und einer theoretischen, vollzog, ohne allerdings die Schärfe der deutschen Entwicklung zu erreichen. Gemeinsam war dem liberalen und demokratischen Politikverständnis die rationale Begründung des Staates von den Individuen her durch die Annahme eines Gesellschaftsvertrages. Während jedoch der Liberalismus den Mißbrauch der Macht des Souveräns durch verfassungsmäßige Sicherungen, durch Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und rechtsstaatliche Vorkehrungen zu verhindern und seine politischen Ziele auf dem Wege der Reformen und der Vereinbarung mit den bestehenden Gewalten zu erreichen suchte, hob die demokratische Theorie die mögliche Differenz zwischen dem Inhaber der Staatsgewalt und den seiner Macht Unterworfenen dadurch auf, daß sie beide, den Souverän und das Volk, gleichsetzte. Dies war das Konzept der Volkssouveräntität, das notfalls auch revolutionär durchgesetzt werden sollte. Diese Unterscheidung war allerdings nur in Ansätzen vorhanden, während in den Staaten des Deutschen Bundes der Abspaltungsprozeß zu einer Radikalisierung und zu starken ideologischen Spannungen unter den politischen Parteiungen führte. In Österreich wurde dieser Prozeß durch die repressiven politischen Strukturen zwar gehemmt, beschleunigte aber in den vierziger Jahren jene gesamtgesellschaftliche Krise, die dann zum Ausbruch der Revolution 1848 geführt hat. Die doppelte Erfahrung, zum einen der Französischen Revolution und zum anderen der von England ausgehenden Industriellen Revolution, steckt den Horizont des demokratischen Denkens im 19. Jahrhundert ab. Die Begründung und Begrenzung politischer Herrschaft im Rückgriff auf die Erfordernisse einer sich selbst regulierenden bürgerlichen Gesellschaft im nationalstaatlichen Rahmen - oder aber der Versuch, gegen die Entwicklungsdynamik der bürgerlichen

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Gesellschaft und die ökonomische, kulturelle und politische Verselbständigung des Individuums die Einheit des Gemeinwesens im Rückgriff auf überindividuelles Ordnungsdenken zu erneuern - sind die zentralen Anliegen der politischen Theorie. Mit der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Öffentlichkeitsformen ist auch ein Bedeutungswandel der politischen Theorie verknüpft. Das politische Leben im 19. Jahrhundert wird in einem bisher nicht gekannten Ausmaß von politischen und sozialen Bewegungen bestimmt, die aus ihrer Interessenlage heraus gesamtgesesellschaftliche Ordnungsvorstellungen durchzusetzen suchen. Das politische Denken im 19. Jahrhundert ist durch ideologische, also auf Interessenlagen real historischer Bewegungen verweisende Zuordnungen erklärbar, so daß es in verschiedene Bewegungen und Theorien eingeteilt werden kann. Die Hauptströmungen wie Liberalismus und Demokratie, Konservativismus, Sozialismus und Anarchismus (der Nationalismus liegt dazu quer), weisen auch zahlreiche Querverbindungen auf, die sich nicht nur als Bewegung der kritischen Abgrenzung, sondern auch als eine Deutungskonkurrenz vollziehen. In Frankreich ist die Französische Revolution Ausgangspunkt erster sozialegalitärer Programme. Die Erfahrung der Französischen Revolution bleibt für die sozialistische und kommunistische Revolutionstheorie der Folgezeit bestimmend, die den Zusammenhang von politischer und unvollendeter sozialer Revolution hervorhebt. Zwischen 1789 und 1848 bildet sich in Frankreich ein differenziertes Feld frühsozialistischer Positionen heraus. Die dort ausgetragenen Kontroversen über die Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft, praktischen Möglichkeiten der Umgestaltung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, Reform oder Revolution, die Rolle des Staates, die Bedeutung der Wissenschaft und die Kraft der Utopie sowie über die Perspektiven des gesellschaftlichen Fortschritts und die politischen Erfahrungen des Frühsozialismus in England und Frankreich selbst bleiben für das sozialistische Denken insgesamt prägend. Für die Demokratieentwicklung in Frankreich wurde vor allem die Charte vom 1830 bedeutsam, die auf dem Vertrag gründete und nicht mehr auf dem königlichen Willen. Sie legitimiert sich nicht mehr durch das „Droit-divin", sondern durch den souveränen Willen des Volkes. Die Kammer beruft nun den König und legt ihm die Charte zur Annahme vor. Sie gibt sich fortan als Repräsentantin der souveränen Nation aus. Entscheidend ist weiters, daß das liberale Bürgertum zum Durchbruch gelangt und nun 1830 das seinen Interessen entsprechende politische Regime erhält. In Frankreich gibt es keine eigentlichen republikanischen oder demokratischen Parteien zu dieser Zeit, sondern nur lose Gesellschaften, Gruppen Gleichgesinnter und einige Zeitungen. Was sie in 6*

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Frankreich untereinander verbindet und auszeichnet, ist nicht so sehr eine politische Theorie, sondern der Glaube an das Volk. In geradezu mystischer Überhöhung wird das Volk zum Träger der Politik des freiheitlichen Fortschritts und der menschlichen Entwicklung. Im Credo der Republikaner steht das Volk im Gegensatz zur Aristokratie und zum Großbürgertum, und Volk sind alle jene, die nicht zur herrschenden Schichte gehören. Das Volk lehnt sich gegen die Knechtschaft auf, erkämpft sich die Freiheit und bereitet einer von Macht und Geld beherrschten Zeit ein Ende. Herrschaft des Volkes ist gleichbedeutend mit Demokratie. Auf diese Weise ist der Glaube an das Volk von einem eigentlichen Glauben an die Demokratie und die Französische Revolution, die zum Mythos erhoben wird, nicht zu trennen. In den demokratischen Vorstellungen der Republikaner steht nun die Volkssouveränität im Mittelpunkt, und nur die Gesamtheit des Volkes kann der staatlichen Gewalt ihre Legitimation geben. In der Revolution 1848 führen die Spannungen zwischen der „demokratischen Republik" und der „sozialen Republik" zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Regierung ist zwar mehrheitlich bürgerlich und möchte sich daher vorerst mit politischen Reformen begnügen, wird nun aber von der Linksopposition und den proletarischen Kräften stark unter Druck gesetzt. Der Wahlzensus wird abgeschafft und der Durchbruch zur Demokratie langsam vollzogen. Das Bürgertum ist alllerdings über den Aufstandsversuch der jakobinischen Linken erschreckt und irritiert, sieht den sozialen Status bedroht und sucht daher nach Sicherheiten. Louis Napoleon bereitet einen Staatsstreich vor, der 1851 tatsächlich erfolgt. Die Kammer wird aufgelöst und die Opposition mit Verhaftungen und Verbannungen ausgeschaltet, zweifelsohne eine Entwicklung, die einen vorübergehenden Rückschlag in der Herausbildung der Demokratie darstellt. Die Februarrevolution von 1848 und das Scheitern der chartistischen Wahlrechtsbewegung in England markieren gleichsam den Niedergang des Frühsozialismus als politische Bewegung. Für die weitere Entwicklung des sozialistischen Denkens gewinnen das Werk und das Wirken von Karl Marx und Friedrich Engels an Bedeutung. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts werden ihre politischen Auffassungen ausgebaut zur Weltanschauung des Marxismus, zum dominierenden Einflußfaktor der organisierten Arbeiterbewegung. Auf Grund des wachsenden politischen Einflusses der sozialistischen Arbeiterbewegung im Rahmen des sich langsam demokratisierenden politischen Systems und konfrontiert mit den Herausforderungen des Kapitalismus kommt es innerhalb des Marxismus zu Kontroversen über die einzuschlagende Transformationsstrategie. Diese führen zu einer internen Ausdifferenzierung politischer Strömungs-

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richtungen. Es entstehen neben einem orthodox-marxistischem Zentrum der Revisionismus und die radikale Linke. Im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzungen stehen die Bewertung der politischen Demokratie, das Verhältnis von Sozialismus und Liberalismus und das Verhältnis von Reform und Revolution. Die Debatten und Kontroversen deuten die Differenzen an, die dann später anläßlich des Ersten Weltkrieges zu einer Trennung der sozialistischen und kommunistischen Bewegung führen. Der Marxismus setzte sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts nur langsam gegen seine Konkurrenten durch. Er faßte hauptsächlich in Zentraleuropa und Skandinavien Fuß, während er im führenden Industriestaat England nur schwach aufgenommen wurde und in Frankreich hinter dem Einfluß Proudhons zurückstehen mußte. In Italien und Spanien blieb seine Bedeutung für Jahrzehnte hinter der des Anarchismus zurück. Dem Liberalismus geht es seit dem 18. Jahrhundert vorrangig darum, nach liberalen Prinzipien - freie Entfaltung des Individuums, Grundrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung - eine Ordnung der Freiheit zu gestalten. Der Übergang aus der engeren liberalen Abwehrperspektive, die Abwehr unberechenbarer Eingriffe, erfolgt in England kontinuierlich seit der Glorreichen Revolution, in Frankreich mit der Französischen Revolution und in der Folge dann auch in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den preußischen Reformen und durch die Einrichtung konstitutionell begrenzter Herrschaftsformen in den vorwiegend süddeutschen Verfassungen. Die entscheidende liberale Forderung ist, dem Staat eine schriftliche Verfassung zu geben, in der die Organisation der politischen Herrschaft und die Rechte und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger verbindlich festgelegt sind. Im Zusammenhang mit der Ausweitung politischer Beteiligung, besonders sichtbar an den Wahlrechtsreformen, wird es zunehmend fraglicher, ob die besitzende und gebildete Gruppe gegenüber den nachdrängenden Schichten noch dominieren und die für die Gebildeten und Besitzenden günstige Ordnung verteidigen kann. Der Liberalismus wird sich schließlich auch der soziale Frage als strukturelle Folgewirkung einer nach liberalen Grundsätzen gestalteten Gesellschaft mit freier Entfaltung des Kapitals im 19. Jahrhundert bewußter. Während im ursprünglichen Liberalismus die Unterschiede von Armut und Reichtum als natürliche Folge unterschiedlich eingesetzter Fähigkeiten und Arbeitsintensitäten bei vorausgesetzter Chancengleichheit gelten, wird nun im sozialen Liberalismus diese Rechtfertigungsposition aufgegeben. Der Staat wird gefordert, zu Gunsten der sozial Schwachen, die ohne eigenes Verschulden grundsätzlich benachteiligt sind, kompensierend einzugreifen. In England wird dieser Positionswandel des Liberalismus am stärksten bei Mill sichtbar, in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei Naumanns national-sozialem Liberalismus.

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Sozial ist der Liberalismus eng mit der Entwicklung des Bürgertums verbunden. Er ist auch mit der Aufklärung fest verknüpft, historisch antifeudal und wurzelt in der Interessenlage und Lebensführung der ökonomisch sich entfaltenden und an Bildung interessierten Mittelschichten. Liberales Gedankengut findet sich zwar auch - zumindest partiell - bei Angehörigen der Oberschichten, prägend ist aber die Einstellung und Interessenlage des Wirtschafts- und Besitzbürgertums. Der zentrale Kernbestand des Liberalismus - freie Entfaltung des Individuums, verstanden als Ausbildung aller seiner Fähigkeiten - ist zunächst unpolitisch, aber politisch abzusichern, womit er politische Folgen hervorruft. Liberales Denken ist nicht genuin demokratisch, aber die repräsentative Demokratie stellt einen Kompromiß zwischen der liberalen und demokratischen Position dar. Vor der Revolution 1848/49 bilden sich ein linker demokratischer Flügel und eine konstitutionelle Strömung in Form eines Dualismus heraus: die politische Herrschaft ist aufgeteilt auf das im Repräsentationssystem gewählte Parlament und die verfassungsmäßig eingebundene Krone. Ein parlamentarisches System liegt noch nicht in der Intension der konstitutionellen Liberalen in der Zeit des Vormärz. Häufig werden die Vertreter des deutschen Liberalismus vor der Revolution 1848/49 nach einer auf England orientierten, norddeutschen Position und einer stärker von Rousseau und der Französischen Revolution beeinflußten süddeutschen Richtung unterschieden (Rotteck). In der Mitte dieser beiden Positionen stehen die Vertreter des „juste milieu" im mitteldeutschen Raum, ein Liberalismus des „gesunden Mittelmaßes". Julius Fröbels Theorie der Demokratie sieht als Aufgabe der Demokratie die innere Organisation des Reiches der Sittlichkeit vor, um den Gesamtwillen der Gesellschaft zu bewirken. Dies wird durch die Verfassung geregelt. Eine demokratische Verfassung verlangt nach Fröbel eine grundsätzliche Trennung der Staatsgewalten nach ihrer gesetzgebenden, richterlichen und vollziehenden Funktion sowie ein Föderativsystem nach dem Muster der USA, wo die Bürger in den Gemeinden, den Einzelstaaten und der Union jeweils unmittelbar an der Bildung der „reellen Willenseinheit" beteiligt sind. Kernstück einer demokratischen Verfassung ist die Gesetzgebung durch das Volk. Fröbel integriert in seine Theorie allerdings auch liberale Forderungen. Bei Alexis de Tocqueville löst der Pessimismus über die Entfaltung des Individuums in einer selbstverantworteten politischen Ordnung den Optimismus eines Fröbel und Rotteck ab. Die Autonomie, die allen Individuen in der Gesellschaft zukommt, fordert eine Demokratisierung der politischen Ordnung. In dieser Entwicklung wird das Prinzip der Gleichheit in doppelter Weise bestimmend: einerseits läßt sich Freiheit ohne Gleichheit nicht konsequent denken, andererseits stellt die Vollendung des Prinzips der Gleichheit die persönliche Freiheit

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in Frage. So treten Freiheit und Gleichheit in ein unaufhebbares Spannungsverhältnis: je radikaler sich Gleichheit durchzusetzen beginnt, um so bedrohlicher wirkt sie für die Freiheit. In der Demokratie sieht Tocqueville die Herrschaft der Mehrheit und somit die Übermacht der breiten Masse gegenüber herausragenden Individuen. In Amerika hat er eine - im Gegensatz zu Europa bereits auf Dauer etablierte und funktionierende Demokratie gesucht. Über das kritische Studium der Entwicklung zur Gleichheit an der Demokratie in Amerika, die er mit der sozialen und politischen Umgestaltung in Europa seit der Französischen Revolution vergleicht, gelangt er zur Auffassung, daß das Prinzip der Gleichheit sich im 19. Jahrhundert stufenweise und unaufhaltsam durchsetzt und damit eine gefährliche Bedrohung der persönlichen Freiheit verbunden ist. Seine Schlußfolgerung: Freiheit könne nur mehr erhalten werden, wenn sie sich in das Gleichheitsprinzip einfügt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelten sich liberale und demokratische Kräfte in Konkurrenz und in vielen Bereichen in eindeutiger Gegnerschaft. Die Übergänge zwischen den beiden Bewegungen waren aber aus historischer Sicht immer fließend. Der Prozeß der Herausbildung demokratischer Strukturen war dann in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts langwierig und vielschichtig zugleich. In England dauerte er von 1832 bis 1918, in Frankreich vollzog er sich relativ rasch und nachhaltig zwischen dem Sturz des Zweiten Kaisertums 1870 und der Stabilisierung der Dritten Republik 1879, in der Schweiz zwischen 1847 und 1874. In mehreren Staaten wurde das parlamentarische Regierungssystem lange vor dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht für Männer erreicht, wie in Dänemark, in den Niederlanden, in Italien und Belgien. In Schweden wurde in den Jahren 1907 bis 1909 der Parlamentarismus auf der Basis eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts eingeführt. Im Deutschen Reich kam die Parlamentarisierung nur schwer voran, da keine der bürgerlichen Parteien ein wirkliches Interesse an dieser Entwicklung hatte. Sie wurde erst im Jahre 1918 erreicht. In Österreich wurde das allgemeine und gleiche Wahlrecht 1907 angenommen, zum Parlamentarismus kam es allerdings erst mit der Gründung der Republik. Nach 1918 schien sich diese Staatsform durchgesetzt zu haben. Zunächst war es so, daß die Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg als Sieger hervorgegangen ist, da sie unmittelbar nach 1918 zur Regierungsform vieler unabhängiger Staaten wurde. Nur Rußland bildete hier eine gewichtige Ausnahme. Sehr schnell zeigte sich aber in den Folgejahren, daß die Demokratie vielerorts doch noch nicht lebensfähig war.

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Der Begriff Faschismus als politisches Instrument und als wissenschaftliche Kategorie Von Wolfgang Pfeiler

I. Ein Wort als politische Waffe Der Faschismus hat seinen Namen in der Hauptsache aus zwei Quellen bekommen. Da war zum einen die italienische faschistische Bewegung unter der Führung von Benito Mussolini, seine „Fasci di combattimento mit deren Hilfe er 1922 in Rom an die Macht gekommen war. Und da war zum anderen die kommunistische, von Moskau aus geführte Weltbewegung, die Faschismus als politischen Kampfbegriff gegen beliebige Gegner instrumentalisierte. Im ersten Fall war und ist stets eindeutig, was das Wort bezeichnet, nämlich ebendiese italienische Bewegung, wobei sich die Extension durchaus auch auf den Neofaschismus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts bezieht. Für die Mitglieder und Sympathisanten dieser Bewegung hatte und hat das Wort Faschismus denn auch eine positive Konnotation. Und eine Reihe von wissenschaftlichen Autoren begrenzt ihre Darstellungen auf den italienischen Faschismus und in der Regel nur auf diesen. 1 Im zweiten Fall stand von Anfang an nicht die Extension, sondern die Intension des Begriffes im Vordergrund. Faschismus bedeutete den Kommunisten in aller Welt politisches und ideologisches Anathema. Dabei ging es aber nicht nur um die Gegnerschaft als solche, sondern auch um die Möglichkeit, andere 1 Vgl. neuerdings: Helmut Götz, Intellektuelle im faschistischen Italien, www.hbz.nrw.de/cgibin/11/1997; Emilio Gentile, The Sacralization of politics in Fascist Italy,ebenda 20/1996/; Hans Woller, Die Abrechnung mit dem Faschismus in Italien 1943 bis 1948, München 1996; Richard Bessel, Fascist Italy and Nazi Germany. Comparisons and Contrasts, New York 1996; Patrick Bernold, Der schweizerische Episkopat und die Bedrohung der Demokratie, die Stellungnahme der Bischöfe zum modernen Bundesstaat und ihre Auseinandersetzung mit Kommunismus, Sozialismus, Faschismus und Nationalsozialismus, Bem-New York 1995; Paul W. Frey, Faschistische Fernostpolitik. Italien, China und die Entstehung des weltpolitischen Dreiecks Rom-Berlin-Tokio, Frankfurt/M.u.a. 1997.

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politische Kräfte als Verbündete zu gewinnen. Hier boten sich als Zielgruppen alle diejenigen an, die den Faschismus wegen seiner antidemokratischen Grundorientierung ablehnten. So nimmt es nicht wunder, dass der Antifaschismus alsbald zum Korrelat des Faschismus wurde. Ihm wurde eine positive Konnotation zugeordnet, während letzterer noch in den zwanziger Jahren zum Inbegriff des politisch Bösen wurde. Die Konnotation von Faschismus wurde immer negativer. Die Kommunisten taten damit in ihrer semantischen Strategie zunächst einmal im Grunde nichts anderes, als was andere Politiker auch immer wieder tun: Man hält Ausschau nach positiv besetzten Begriffen und klebt diese gewissermaßen der eigenen Politik als Gütezeichen auf, während man zugleich negativ besetzte Begriffe benutzt, um damit die Politik politischer Gegner zu diffamieren. Anders formuliert, man benutzt „Wörter als Waffen". 2 Charakteristisch für die kommunistische Pragmatik war jedoch, die weithin negative Intension des Faschismus-Begriffs auf immer mehr tatsächliche und vermeintliche Gegner zu übertragen.Damit aber wurde die Extension immer beliebiger. Insbesondere im Hinblick auf Deutschland wurde nahezu alles faschistisch genannt, das der Moskauer Politik mißliebig erschien. Das verstärkte sich in dem Maße, in dem Josef Stalin die kommunistische Semantik bestimmte. Sein Satrap Ernst Thälmann übernahm diese dann auch für die Politik der KPD in Deutschland. Die Nationalsozialisten wurden so zu Nationalfaschisten und das katholische Zentrum zum Klerikalfaschismus. Vor allem aber wurden die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten diffamiert. Die Sozialdemokratie sei, so Stalin, objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus. So erschienen in Stalins Diktion Nationalsozialisten (die NSDAP) und Sozialdemokraten (die SPD) als faschistische Zwillingsbrüder. 3 Selbst Rosa Luxemburg galt dann Anfang der dreißiger Jahre als eine Faschistin, deren Lehre es mit Stumpf und Stil auszurotten galt. 4 Dabei sei die Sozialdemokratie das Spaltungsinstniment der Bourgeoisie zur Spaltung der Arbeiterklasse, während der Nationalsozialismus das Terrorinstru2 So der Titel des von Wolfgang itergsdo/f herausgegebenen Sammelbandes : Wörter als Waffen. Sprache als Mittel der Politik, Stuttgart 1979. Eine umfassende Bibliographie zu diesem Thema bietet Wolfgang Bergsdorf, Herrschaft und Sprache , Pfullingen 1983, S.342-360; siehe neuerdings Hajo Diekmannshenke / Josef Klein (Hrsg.) Wörter in der Politik. Analysen zur Lexemverwendung in der politischen Kommunikation, Opladen 1996. 3 4

Josef Stalin, Soôinenija, Bd.6, Moskau 1947, S.282.

Vgl. Wolfgang Rüge, Stalinismus. Eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte, Berlin 1991, S.82.

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ment sei, mit dem die Bourgeoisie die Arbeiterklasse unterdrücken wolle.Von all den sogenannten faschistischen Gruppierungen galt jedoch die SPD bis 1934 als der „Hauptfeind", den es primär zu bekämpfen galt. Der von kommunistischen Politikern und Historikern nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder apostrophierte Kampf gegen den Faschismus war so in dieser Zeit vor allem ein Kampf gegen die SPD. In der gesamten Stalinzeit ist ansonsten keine Theorie des Faschismus entwikkelt worden. Die Definitionen, die die SED nach dem Kriege präsentierte, waren im wesentlichen die, die Dimitroff schon unmittelbar nach der Machtergreifung der Nazis benutzte: Der Faschismus sei die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals, wobei nur das Attribut 'imperialistisch' durch 'militaristisch' ersetzt wurde. Das hat sich auch nach der Stalinzeit nicht entscheidend geändert. Nach wie vor sah man auch viele Jahre später den instrumentellen Charakter bei einer Bourgeoisie, die sich nicht anders zu helfen wusste, als die „Lenkung der Gesellschaft" an den Faschismus abzutreten. 5 Gegen Ende der sechziger Jahre kam dann die Aussage hinzu, dass der Faschismus nicht in allen Ländern ausgerottet worden sei, vor allem auch nicht in Westdeutschland, so dass die Gefahr eines Neofaschismus jetzt zunähme.6 Diese angebliche Gefahr wurde seitens der Kommunisten in ihren Medien seit dem Beginn der 'Großen Koalition' in der Bundesrepublik Deutschland immer stärker herausgeteilt, jedoch eigentlich nur in den Massenmedien, kaum in der für den innenpolitischen Gebrauch der Eliten bestimmten wissenschaftlichen Literatur. 7 Das, was die Kommunisten als instrumentelle Funktion des Faschismus im Dienste der Monopol-Bourgeoisie ansahen, wurde von ihnen selbst über Jahrzehnte hin mit dem Dauergebrauch des Wortes Faschismus praktiziert: Die negative Intension des Begriffes wurde als Mittel des politischen Kampfes instrumentalisiert. Dabei ist ihnen eins gelungen.: Das Wort Faschismus wurde zu einem der Schlüsselwörter auch noch unserer Zeit. Weithin verbreitet ist die Gewohnheit, politischen Gegnern das Etikett 'faschistisch' anzuhängen. Und die Kommunisten selbst sind davon nicht verschont geblieben. So haben nicht wenige Ab5

Vgl. R. Fedorov,

in: Kommunist 11/1966, S.99.

6 Vgl. A. Galkin, in: Kommunist 15/1968, S.lOlf; sowie ausführlicher Igor Kon, in: Neue Zeit (Moskau), 6/1968, S.14f. 7 Dies war ein Nebenergebnis der Inauguraldissertation des Verfassers : Jörg Peter Mentzel / Wolf gang Pfeiler, , Deutschlandbilder4, Düsseldorf 1972.

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trünnige ihre frühere Bewegung i m Nachhinein als faschistisch bezeichnet. A u c h der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD, K u r t Schumacher, sprach v o n den 'rotlackierten Faschisten' und meinte damit die deutschen Nachkriegskommunisten. Diese Umwertung hat auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung nicht unberührt gelassen. Hier gab es zunächst einmal das Bemühen, eine allgemeine Theorie des Faschismus zu entwickeln, m i t deren Hilfe dann konkrete Ausprägungen i n verschiedenen Ländern (Italien, Deutschland, Frankreich, Spanien, Kroatien usw.) analysiert wurden. 8 A u c h in der Gegenwart gibt es nicht wenige Publikationen, i n denen der Nationalsozialismus - explizit oder implizit - als deutscher Faschismus dargestellt w i r d .

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Mitunter erscheint auch

der Faschismus als eine der Wurzeln der NS-Ideologie. 1 0 A u f der anderen Seite gibt es jedoch auch genaue begriffliche Trennung zwischen Faschismus und Nationalsozialismus. 1 besonders ausgeprägt ist die Neigung, das W o r t Faschismus auch weiterhin als wissenschaftliche Kategorie zu benutzen, i m Bereich der politischen L i n k e n . 1 2 Hier erscheint der Faschismus-Begriff auch heutzutage sehr häufig als eine Subkategorie des Begriffes Antifaschismus. 8 An erster Stelle ist hier nach wie vor zu nennen: Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française, der italienische Faschismus, Der Nationalsozialismus, München 1963; S.a. weiterhin umfassend: Wolf gang Wippermann, Faschismustheorien, Darmstadt 4. Aufl. 1980; Manfred Funke, Faschismus, in: Evangelisches Soziallexikon, Stuttgart 7. Aufl. 1980. 9 Vgl. z.B. : Sieglinde Hof er, Faschistisches Theater - Der Vorhang geht auf. Schulalltag im Ahrntal in den 20er und 30er Jahren, aufgeführt in: Verzeichnis Lieferbarer Bücher, www.buchhandel.de/vlb.htm, 1997; Walter Laqueur, Faschismus. Gestern Heute Morgen, ebenda 1997; Karl H. Baumann, Der deutsche Faschismus. Schule konkret, ebenda 1996; Geoff Elev, Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, ebenda 1996; Helmut Peitsch, Vom Faschismus zum Kalten Krieg - auch eine deutsche Literaturgeschichte, ebenda 1996; Konrad Hecker, Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, ebenda 1996; Georg Seesslen, Natural Born Nazis. Faschismus in der populären Kultur, ebenda 1996; Brigitte Berlekamp / Werner Rohr (Hrsg.), Terror, Herrschaft und Alltag im Nationalsozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte des deutschen Faschismus, Münster 1994; Stephan Braese, Das teure Experiment. Satire und NS-Faschismus, Opladen 1996; Wolf-Rüdiger Größl / Harald Herrmann, Stundenblätter. Das Dritte Reich - Beispiel eines faschistischen Staates, Stuttgart 1981. 10

So bei Winfried

Noack, Die NS-Ideologie, Frankfurt/M.,u.a. 1996.

11 Neuerdings: Leonid Luks, Bolschewismus - Faschismus - Nationalsozialismus im Vergleich, in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 1/1997. 12 Vgl.z.B.: Marianne Peter, Links, wo das Herz ist. Erzählte Lebensgeschichten aus der Arbeiterbewegung an Lahn und Dill über die Weimarer Republik, Faschismus, Widerstand, Verfolgung, Krieg und Wiederaufbau, Gießen 1996; Reinhard Opitz, Faschismus und Neofaschismus. Der deutsche Faschismus bis 1945 - Neofaschismus in der Bundesrepublik, Köln 1996; Marx-Engels-Stiftung (Hrsg.),50.Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Wider den Geschichtsrevisionismus, Köln 1996; Rainer Kahl (Hrsg.), Kleine Geschichte des Faschismus und Rechtsradikalismus in der Provinz, Gießen 1997; Kurt Gossweiler, Die Strasser-Legende. Auseinandersetzung mit einem Kapitel des deutschen Faschismus, Berlin 1994; Zu weiteren Titeln s. Anares Nord (Hrsg.), Antifaschistische Literaturliste. Kommentierte Auswahlbibliographie zu Faschismus 1933-1945, Münster 1995.

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Π . Antifaschismus Der Begriffsinhalt dieses Wortes hat sich von der Vorkriegszeit bis heute kaum verändert.Stets ging es darum, die eigene Politik zu legitimieren, indem diese auch für andere politische Richtungen als mit dem Kampf gegen das Böse schlechthin verknüpft wurde. Das war so schon in der Zwischenkriegszeit, 13 während des Krieges und dann in der Nachkriegszeit, als der Sozialismus allein nicht attraktiv genug erschien. Während des Krieges hatte der beeindruckende und erfolgreiche Kampf der Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland weltweit Sympathien für jede Art antifaschistischer Bündnisse gebracht. Der gemeinsame Feind - Faschismus genannt - legitimierte alles, was dann unter sowjetischer Besatzung geschah. Der Terror des NKWD wurde in aller Regel als Kampf gegen den Faschismus bezeichnet.14 In gleicher Weise diente der Euphemismus „antifaschistisch-demokratische" Umwälzung und der sogenannte „Block der antifaschistischen Parteien" in der sowjetischen Besatzungszone zur Legitimierung der SED-Diktatur und ihrer Politik. Die DDR sollte so als „Hort des Antifaschismus" ein positiveres Image vor allem auch gegenüber dem westdeutschen Staat bekommen.15 Diese Rhetorik wurde darüberhinaus auch von der gesamten extremistischen Linken übernommen, die sich bemühte, unter „dem großen moralischen Deckmantel des Antifaschismus ... salonfähig zu werden". 16 In den 60er und 70er Jahren verstanden sich deutsche Kommunisten und eine Vielzahl linker Gruppierungen als Kämpfer gegen die in der „BRD" angeblich existierende Gefahr eines Neofaschismus. Der Antifaschismus blieb so auch weiterhin ein wesentliches Instrument zur Stabilisierung und Legitimierung des „realsozialistischen" Systems - in der UdSSR, in der DDR und anderswo, das zugleich auch geeignet war, vor allem in der „BRD" offensiv und destabilisierend - wenngleich erfolglos - verwendet zu werden. Als sich jedoch die realsozialistische Ordnung aufzulösen begann in den Jahren 1989 und 1990 -, wurde schließlich noch versucht, den Antifa13

Vgl. Otto Wenzel, Verlogener Antifaschismus, in: Die politische Meinung, Juni 1993, S.79f.

14

Vgl. Irmunä Wenzel, Deklarierung als 'Faschist' genügte zu Lagerhaft, in: FAZ v.27.02.1997,

S.10. 15

Vgl. Michael Richter, Antifaschistisch-demokratische Umwälzung, in: Rainer Eppelmann u.a. (Hrsg.), Lexikon des DDR-Sozialismus. Das Staats- und Gesellschaftssystem der Deutschen Demokratischen Republik, Bd.5 der „Studien zur Politik", Paderborn 1997, S.60. 16 Hans-Helmuth Knütter, Rechtsextremismus, in: P. Gutjahr-Löser / K. Hornung, PolitischPädagogisches Handwörterbuch, München 2.Aufl. 1985, S.403.

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schismus zur Rettung des Systems und zur Verhinderung des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik zu mobilisieren. 17 Während nun aber mit dem Untergang des Sozialismus auch dessen Lexik nahezu vollständig verschwand, behielt der Antifaschismus für viele linksradikale und linksextremistische Strömungen als eine Art gemeinsamer Nenner seine legitimierende Funktion. „Während der Kommunismus sang- und klanglos verschwand, hat dieses Requisit aus seiner Klamottenkiste Konjunktur". 18 Hier manifestiert sich eine grundsätzliche Anti-Haltung - vor allem von Intellektuellen. 19 Es ist eine Anti-Haltung, die sich in erster Linie gegen die liberale, westliche Form der Demokratie, gegen den bürgerlichen Rechtsstaat richtet. Auffällig ist dabei, daß diese Form des Antifaschismus offenbar besonders in den neuen Bundesländern auftritt. Immer wieder werden hier antifaschistische „Bündnisse", antifaschistische „Symposien" und ähnliches veranstaltet. Ein „Antifa-Reader" 20 dient als Lesefutter. Alles spricht hier dafür, daß es die PDS und ihre Sympathisantenkreise sind, die sich nach dem Fall der Mauer des Antifaschismus in analoger Weise bedienen, so wie das die SED in der Zeit davor getan hat. 21 Legitimierung und Aufwertung der eigenen Politik und Diffamierung Andersdenkender sind das Ziel, der Faschismus als Popanz , den man gemeinsam bekämpfen müsse, ist ideologisches Mittel zu diesem Ziel. Der Kampfbegriff Faschismus hat so seine eigene Vergangenheit überlebt. Als Vorwurf gegen andere ist es zu einer Art semantischer Inflation gekommen. Es gibt kaum eine politische Strömung, die nicht zu irgendeiner Zeit von irgendwelchen Gegnern als faschistisch oder auch nur als faschistoid gebrandmarkt worden wäre. Dabei ist es in der Regel so, daß die Benutzer dieses Vorwurfes sich über die Beliebigkeit des Begriffsinhaltes gar nicht einmal im klaren sind. Meist steht die Überzegung im Vordergrund, daß die verbal Angegrif-

17 Vgl. Hans-Helmuth Knütter, S.56-58.

Antifaschismus, in: Eppelmann u.a. (Hrsg.), Lexikon, a.a.O.

18 Klaus Rainer Röhl, Aura der Unantastbarkeit. Wie der „Antifaschismus" seine Mittel heiligt, in: FAZ v. 10.05.1994, S.10. 19

Vgl. ausführlich: Antonia Grunenberg, Antifaschismus - ein deutscher Mythos, Reinbek 1993; Hans-Helmuth Knütter, Die Faschismus-Keule. Das letzte Aufgebot der deutschen Linken, Frankfurt, 2.Aufl. 1994. 20 21

„Antifa-Reader 1996", www.hbz.nrw.de./cgi-bin, 109.

Vgl. Viola Neu, Die PDS - Störfaktor oder Herausforderung im Demokratisierungsprozess? Die PDS und ihr Umgang mit der SED-Geschichte, in: Eichholzbrief 4/1996, S. 31.

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fenen bestimmte Merkmale aufweisen, die der Benutzer für typisch faschistisch hält. Dies gilt ausdrücklich auch für die Bewegung, die sich in ihrem Selbstverständnis das Ziel gesetzt hatte, die politische Semantik zu „säubern", nämlich für die Verfechter der „Political Correctness". Sie haben sich - in USA wie in Europa - dazu verführen lassen, „alles Böse, das sie entdecken, mit dem Etikett des Faschismus zu belegen, um durch die Erinnerung an dessen historische Gestalt die Anklagen zugleich zu verschärfen und zu plausibilisieren". 22 Auch bei ihnen geht es nicht darum, was dieses Etikett bezeichnet, sondern vielmehr, was es bedeuten soll. Der Faschismus-Vorwurf ist dann das non plus ultra in der politischen Semantik. So spricht eigentlich alles dafür, daß auch in Zukunft auf der politischen Ebene mit diesem Vorwurf operiert werden wird und zwar einfach schon deshalb, weil sich der Begriffs w/ζα/ί mit seiner extrem negativen Konnotation so gut zur Stigmatisierung eignet, während es zugleich die Beliebigkeit des Begriffsumfangs erlaubt, nahezu jeden Gegner so zu apostrophieren. Ι Π . Die zeitgeschichtliche Kontroverse Doch auch auf der wissenschaftlichen Ebene sieht es so aus, als sei die „zeitgeschichtliche Kontroverse" 23 über den Faschismus noch lange nicht zu Ende. Dabei ist im wesentlichen unbestritten, daß es zwischen italienischen Fasci und deutschen Nationalsozialisten durchaus eine Reihe von Ähnlichkeiten, aber eben auch eine Reihe von kategorialen und spezifischen Unterschieden gegeben hat. 24 Das ist hier jedoch nicht das entscheidende Problem. Vielmehr geht es um die zahlreichen Versuche, den Faschismus als wissenschaftlichen Oberbegriff dadurch zu präzisieren, daß man eine Realdefinition oder gar eine operationale Definition einführt. Damit aber konstituiert man zwangsläufig eine kategoriale Diskrepanz zur Nominaldefinition bzw. zum umgangssprachlichen Verständnis. Dem Phänomen Nationalsozialismus vermag man so nicht beizukommen. Weil die Intension von Faschismus gewissermaßen verschlissen ist, ist zudem die kategoriale Diskrepanz besonders groß. 22

Dietrich Schwanitz, Über Political Correctness, in: Civis und Sonde, Heft3,4./1996, S.19.

23

Diese Formulierung entspricht durchaus dem, was Karl Dietrich Bracher schon vor zwei Jahrzehnten über den Faschismus-Begriff aufgezeigt hat: Vgl. Karl-Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen, München, 4.Aufl. 1980, insb.S.19ff. 24

Ausführlich: Roland Schmidt, Nationalsozialismus - ein deutscher Faschismus?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, Β 13/85, S.46 ff.

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Der Faschismusbegriff kann den historischen Nationalsozialismus deshalb nicht erklären. Mindestens ebenso wichtig ist es darüberhinaus, daß der Faschismusbegriff auch zur Erklärung und zum Verständnis gegenwärtiger rechtsradikaler oder rechtsextremistischer Strömungen kaum etwas beizutragen vermag. Beides - der Nationalsozialismus und der Rechtsextremismus - kann im Hinblick auf seine Wurzeln erklärt werden, ohne auf den Begriff Faschismus zu rekurrieren. Er ist unnütz und zwar auch dann, wenn man die Variante Radikalfaschismus 25 wählt. Die Beliebigkeit dessen, was mit dem Wort Faschismus bezeichnet wird, ändert sich durch das Hinzufügen eines verstärkenden Attributes nicht. Deshalb wird hier dafür plädiert, den Faschismusbegriff als wissenschaftliche Kategorie gänzlich fallen zu lassen, so wie das auch andere Autoren - in Deutschland, in Israel und in USA - im Laufe der Nachkriegszeit immer wieder getan haben. 26 Tatsächlich gibt es eine Vielzahl von Darstellungen des Nationalsozialismus, die auf den Faschismusbegriff vollständig verzichtet haben. So beispielsweise schon Konrad Adenauer unmittelbar am Ende des Zweiten Weltkrieges. 27 Gleiches gilt für die Bonner Dissertationen von Thomas Klepsch und von Christoph Werth. 28 I V . Faschismus als Denkbremse Aber es gibt noch ein anderes Argument, warum Faschismus als wissenschaftliche Kategorie ausgedient haben sollte: Wenn man nämlich den Nationalsozialismus mit Hilfe des Konstruktes Faschismus zu analysieren versucht, so lenkt dies von den eigentlichen Ursachen, von den historischen Wurzeln insbesondere, ab. Es stellt sich dann so dar, als ob der Nationalsozialismus aus Italien nach Deutschland gekommen sei, als habe es hier eine falsche Weichenstellung gegeben, etwa nach der Formel: Ohne Faschismus in Italien kein Na25

So Ernst Nolte in der Diskussion am 23.April 1997 in der Europäischen Akademie Otzenhausen. 26

Vgl. z.B.: S. J. Woolf (Ed.), European Fascism, New York 1969, S.l: Ban fascism from our vocabulary! 27 John O. Koehler, Was Adenauer im Sommer 1945 mit dem US-Geheimdienst über Deutschland verhandelte, in: Welt am Sonntag v.5.Januar 1997, S.10. 28 Thomas Klepsch, Nationalsozialistische Ideologie. Eine Beschreibung ihrer Struktur vor 1933, Münster 1990; Christoph H. Werth, Sozialismus und Nation. Die deutsche Ideologiediskussion zwischen 1918 und 1945, Opladen 1996.

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tionalsozialismus in Deutschland. Allein die Benutzung des Wortes Faschismus lenkt die Gedanken immer wieder in Richtung Italien und vernebelt die autochthon deutschen Quellen der nationalsozialistischen Katastrophe: Faschismus wirkt so als Denkbremse. Die eigentlichen Wurzeln nationalsozialistischer Politik und nationalsozialistischen Denkens sind oft genug analysiert worden, eine Vielzahl von „ismen" wurden genannt: Nationalismus der verspäteten Nation, Chauvinismus, Fanatismus, Imperialismus, Kolonialismus, Darwinismus, Rassismus, Mystizismus, Antisemitismus, Antibolschewismus und dazu die philosophisch-politischen Gedanken von Fichte, von Nietzsche sowie Haushofers Geopolitik und der Schicksalsglaube Wagners. In allererster Linie muss hier jedoch das völkische Denken, die völkische Lehre mit ihrem Sozialdarwinismus, ihrem Rassismus, ihrem Blut- und Bodendenken, ihrer Herrenvolk-Theorie und ihrem charismatischen Führerdenken genannt werden. 29 Dieses Denken in völkischen Kategorien dominierte weithin nicht nur die Vorstellungen der Alldeutschen, sondern die Perzeptionen des überwiegenden Teils der deutschen Eliten in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts. Und so waren auch beispielsweise die Kriegszielprogramme ab 1914 schon lange vorher in der alldeutschen Weltanschauung verwurzelt. 30 Völkische Ideen bestimmten auch die Weltanschauung der beiden Führer Deutschlands im Ersten (Ludendorff) und im Zweiten (Hitler) Weltkrieg und beeinflussten ihre Politik. Und so wenig Ludendorff ein Faschist war, so wenig war Hitler ein Faschist. (Das schließt nicht aus, daß beide etwa zwei Jahrzehnte lang eine gewisse Bewunderung für die Faschisten und ihren Führer Mussolini hegten.) Sie dachten, redeten und schrieben in der Terminologie der Völkischen. Ungeachtet ihrer späteren Divergenzen und ihrer persönlichen Animositäten stimmten sie in der grundsätzlichen Perzeption weitestgehend überein. Studierende der Politikwissenschaft, die die Aufgabe hatten, die Veröffentlichungen und die Reden beider zu vergleichen, zeigten sich jedesmal über das hohe Maß an Übereinstimmung überrascht. Diese Kontinuität zwischen völkischem und nationalsozialistischem Denken wird allzu leicht übersehen, wenn man den Nationalsozialismus mit dem Faschismus in Verbindung bringt. Und deshalb: Wenn es schon nicht möglich 29

Eine graphische Zuordnung der einzelnen „ismen" zur völkischen Lehre und Politik findet sich bei Robert Riemer, Sozialdarwinismus (Hitler, Ludendorff), unveröffentlichtes Manuskript der Semesterhausarbeit, Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, März 1997, S. 16. 30 Ausführlich speziell hierzu: Michael Peters, Der Alldeutsche Verband am Vorabend des Ersten Weltkrieges (1908-1914), 2.Aufl. Frankfurt/M. u.a. 1996.

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und vielleicht nicht einmal wünschenswert - ist, den Faschismus als politischen Kampfbegriff und als Schimpfwort zu eliminieren, so sollte er doch als wissenschaftliche Kategorie ausgedient haben. Statt dessen sollte mehr Aufmerksamkeit darauf verwendet werden, Überreste völkischen und nationalsozialistischen Denkens aufzuspüren und sich damit - und nicht mit dem Faschismus - auseinanderzusetzen. Das ist dann nicht mehr nur eine historische Aufgabe, sondern auch eine Notwendigkeit bei der Bekämpfung des gegenwärtigen Rechtsextremismus.

I I . Intertemporale und internationale Vergleiche

Zum Vergleich der Diktaturen in den baltischen Staaten in der Zwischenkriegszeit Von Lainovâ Radka

Die drei baltischen Republiken hatten sozusagen ein gemeinsames und in manchen Hinsichten sehr ähnliches Schicksal. Das Staatsterritorium der 1918 gegründeten Staaten Estland, Lettland und Litauen gehörte seit zweihundert Jahren zum russischen Zarenreich. Die baltischen Republiken proklamierten ihre Souveränität im Moment der Schwäche der traditonellen Weltmächte zu deren Interessensphäre dieses Gebiet gehörte. Deutschland verlor den Krieg, und Rußland befand sich im Chaos des Bürgerkrieges. Trotzdem war aber die Selbständigkeitserklärung nur ein formeller Akt, und die drei neuen Staaten mußten noch hart kämpfen, um ihre Souveränität zu verteidigen. Der Kampf verlief auf zwei Ebenen. Erstens war das der wirkliche Kampf gegen die Rote Armee, die Weißen und in Lettland auch gegen die Deutschen. Und zweitens bemühten sich die Diplomaten der drei provisorischen Regierungen darum, die De-facto- und die De-iure Anerkennung der neuen Staaten zu erzielen. Die neuen Staaten konstituierten sich als parlamentarische Demokratien. Ihre Verfassungen wurden mit Hilfe der schweizerischen und französischen republikanischen Verfassung geschrieben. Im Laufe der zweiten Hälfte der 20er und der ersten Hälften der 30er Jahre (1926 in Litauen und 1934 in Estland und Lettland) scheiterte die demokratische Entwicklung, und in allen drei Staaten etablierten sich undemokratische Regimes. Die Regimes dauerten bis zum Jahre 1940, als Estland, Lettland und Litauen von der Sowjetunion für die nächsten 50 Jahre annektiert und sowjetisiert wurden. Diese Tatsachen fuhren mich zu dem Versuch einige Ähnlichkeiten und Unterschiede der Diktaturen in Litauen, Estland und Lettlend zu beschreiben. Ich habe vor, mich mit folgenden Problemen auseinanderzusetzen. Erstens beschäftige ich mich mit den Gründen, Ursachen und Umständen, die die Einführung der undemokratischen Regimes zur Folge hatten. Zweitens interessiere ich mich

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für die weitere Entwicklung in den drei Ländern, in Litauen nach 1926 und in Estland und Lettland nach 1934. Dazu gehören vor allem die Versuche der Diktatoren, das neue Regime zu legalisieren, auf der anderen Seite die Aktionen der Opposition gegen Smetonas, Päts' und Ulmanis' Regierung. Drittens verfolge ich die Rolle der Persönlichkeiten, die unmittelbar zum wichtigsten Repräsentanten der Regimes geworden sind, also des litauischen Präsidenten Antanas Smetona (1926-1940), des estnischen Präsidenten Konstantin Päts (1934-1940) und des lettischen Ministerpräsidenten Karlis Ulmanis (19341940), Präsident erst seit 1936. Weiter möchte ich die Problematik der nationalen Minderheiten, die ökonomischen Verhältnisse und die außenpolitische Orientierung erwähnen. Der Umsturz in Litauen: Die parlamentarischen Wahlen im Mai 1926 in Litauen gewann zwar die bis jetzt regierende Christlichdemokratische Partei, aber ihr Sieg war nur knapp. Das Land wurde zum erstenmal seit 1918 mit einer Koalitionsregierung der bisher oppositionellen Sozialdemokratischen und Volkssozialistischen Partei konfrontiert. Die neue linke Regierung begann, eine neue Innen- und Außenpolitik zu realisieren. Der Kriegszustand und die Pressezensur wurden aufgehoben, einige politische Häftlinge amnestiert, die nationalen Minderheiten, vor allem die polnische Minderheit, wurden nicht mehr verfolgt. Die neue Regierung war bereit, mit Polen zu verhandeln. Dazu muß ich bemerken, daß die polnisch-litauischen Beziehungen wegen des Streits um das Wilnagebiet schwer beschädigt wurden. Der polnische Staatschef Jozef Pilsudski wurde in der litauischen Öffentlichkeit für den Hauptfeind des litauischen Staates gehalten. Außenpolitisch orientierte sich die neue Regierung an der Sowjetunion. Am 28. September schloß Litauen sogar als erster baltischer Staat mit der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt ab. Diese Ereignisse wurden von der nationalistischen Regierungsopposition abgelehnt und verurteilt. Man bezeichnete die Koalitionsregierung als Verräter der eigenen nationalen Interessen, die das Land den Polen und den Bolschewiki verkaufen. Der Hauptmachtfaktor war in diesem Moment die Armee, die die Regierung ebenfalls heftig kritisierte. Der Putsch fand in der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1926 statt. Die litauische Armee besetzte die wichtigsten Staatsgebäude und erklärte die Regierung und den Präsidenten für abgesetzt. Die Regierung demissionierte am nächsten Tag. Die Armee beauftragte den ersten litauischen Präsidenten Antanas Smetona mit der Bildung der neuen Regierung. Die litauische Bevölkerung reagierte nicht, der Umsturz traf kaum auf Widerstand. Und in den ausländischen Zeitungen konnte man folgende Sätze lesen: „Nach dem Umsturz herrscht in Litauen volle Ruhe" oder „ Das Publikum in Litauen blieb ruhig".

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A m 19. Dezember wurde Smetona vom Parlament, besser gesagt: von den Abgeordneten der bisherigen Opposition, zum Präsidenten gewählt. Smetona und sein Ministerpräsident Augustinas Voldemaras waren Mitglieder der kleinen nationalistischen Partei Tautininkai. Diese wurde nach 1926 zur einzigen Regierungspartei, weil ihre anfängliche Zusammenarbeit mit der ChristlichDemokratischen Partei nach einigen Monaten scheiterte. Die Tätigkeit von anderen politischen Parteien wurde zwar begrenzt, aber bis 1935 nicht verboten. Im Jahre 1927 löste Präsident Smetona das Parlament verfassungswidrig auf und regierte das Land mit Hilfe von Dekreten. Ein Jahr später legalisierte er sein Regime mit der Einführung einer neuen autoritären Verfassung. Die Innenund Außenpolitik bestimmte neben Smetona auch der Ministerpräsident und gleichzeitige Außenminister Voldemaras. Er wurde für einen Politiker mit starker Neigung zur harten diktatorischen Methoden gehalten, und die Unzufriedenheit wendete sich oft mehr gegen ihn als gegen den Präsidenten Smetona. In Frühling 1929 verübten drei Studenten auf Voldemaras ein Attentat, allerdings ohne Erfolg. Voldemaras, der dank seiner Position und seinem Ehrgeiz zum ernsten Smetona-Konkurrenten wurde, mußte im September seinen Regierungsposten verlassen und lebte danach auf dem Lande unter polizeilicher Aufsicht. Der Putsch in Estland: Estland war in der Zwischenkriegszeit ein Land, das man für ein Beispiel vom fast extremen Parlamentarismus hielt. Die Regierungskoalitionen waren manchmal schwach, und durchschnittlich hatte Estland fast jede acht Monate eine neue Regierung. Anfang der 30er Jahre verschlechterte sich die Lage im Lande infolge der Weltwirtschaftskrise. Die Regierungen mußten zu unpopulären Maßnahmen greifen. Die Herrschaft der politischen Parteien war in den Augen der Öffentlichkeit aus vielen Gründen diskreditiert. Die Lösung sollte eine neue Verfassung bringen, die die Stärkung der Exekutive vorsah. Hinter dieser Aktion standen zwei Politiker - Konstantin Päts aus dem Bund der Landwirte und Jaan Tonisson aus der Volkspartei. Die Wähler lehnten diesen Vorschlag im August 1932 ab. Im Juni 1933 gab es ein zweites Referendum über die Einführung des Präsidentenamtes. Auch diesmal sagten die Wähler nein. Die Mehrheit der Wähler hielt diese beiden Projekte nur für kosmetische Änderungen. Und das war zu wenig. Der Ruf nach einer starken Persönlichkeit, nach Ordnung und Prosperität wurde immer lauter. Im Herbst gingen die Wähler noch einmal zu den Urnen. Diesmal entschieden sie über einen Verfassungsvorschlag, den die antidemokratische Bewegung der Vapsen vorgelegt hatte. Es handelte sich praktisch um eine autoritäre Verfassung. Die entscheidenden Vollmachten im Lande sollte der Präsident übernehmen. Diesmal betru-

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gen die Ja-Stimmen mehr als 50 %. Die neue Verfassung trat im Januar 1934 in Kraft. Die Präsidentenwahlen sollten im Frühling stattfinden. Es war höchst wahrscheinlich, daß der Kandidat der Vapsen-Bewegung die Präsidentenwahlen gewinnen würde. In der Zwischenzeit fiel das in der neuen Verfassung verankerte Präsidentenamt dem Ministerpräsidenten Päts zu. Päts, der Vorsitzende des Bundes der Landwirte, entschloß sich aber in diesem Moment, mit Unterstützung der Armee den Machtkampf für sich zu entscheiden. Er benutzte die Vapsen-Verfassung und erklärte den Ausnahmezustand. Der populäre General Laidoner erhielt außerordentliche Vollmachten. Die Vapsen-Bewegung wurde verboten, ihre Hauptrepräsentanten verhaftet und wegen der Vorbereitung eines Staatsstreiches angeklagt. Der Präsident regierte mit der gültigen autoritären Verfassung. Das Parlament wurde aufgelöst, die politischen Parteien wurden im Jahre 1935 verboten. An ihre Stelle trat der Vaterländische Verband Isamaaliit. Die Vapsen gaben aber nicht auf und bereiteten im Dezember 1935 einen bewaffneten Putsch gegen den Präsidenten Päts vor. Ihre Aktion scheiterte aber, und sie wurden zu einer langen Haft verurteilt. Päts enschloß sich, die für ihn günstige Lage zu nutzen und schrieb schon im Februar 1936 ein Referendum aus. Die Wähler unterstützten seine Politik mit 62% der abgegebenen Stimmen. Der Putsch in Lettland: Die Lage in Lettland in den 20er und 30er Jahren zeigte viele Parallelen mit der Entwicklung in dem benachbarten Estland. Die Koalitionsregierungen waren manchmal instabil und schwach. Anfang der 30er Jahre gab es bei zwei Millionen Einwohnern etwa 100 politische Parteien. Die ökonomischen Verhältnisse im Lande waren ebenfalls problematisch. Die Bewölkerung war beunruhigt und enttäuscht. Manche hatten nur trübe Aussichten. Die Gesellschaft polarisierte sich. An Bedeutung gewannen die Vertreter von einfachen Lösungen und die Befürworter der Herrschaft einer starken Hand. Ähnlich wie in Estland bemühten sich einige Parteien vor allem der Bauernbund mit seinem Vorsitzenden Ulmanis einige Änderungen in der Verfassung zu Gunsten der Exekutive durchzusetzen. Das im Jahre 1932 vorgelegte Projekt wurde aber vom Parlament abgelehnt. Für die stärkste lettische Partei, die Sozialdemokraten, war jede Begrenzung der parlamentarischen Demokratie unannehmbar. Die Radikalen auf der anderen Seite hielten die Demokratie in Lettland für Anarchie und forderten tiefgreifende Maßnahmen. In Lettland operierten auch viele radikale faschistische Gruppen, aber sie waren zersplittert und nie so bedeutend wie die Vapsen-Bewegung in Estland.

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Nach dem Scheitern seines Regierungprojektes enschieden sich Ulmanis und seine Anhänger für eine einseitige Aktion. Ulmanis hatte sich sicher von den Ereignissen in Estland inspirieren lassen. Seine weiteren Schritte waren durchdacht, systematisch und logisch. Sein Ziel war klar, die enscheidende Macht im Staat zu gewinnen. Zuerst rief seine Partei eine Regierungskrise hervor. In der neuen Regierung besetzten er und seine Anhänger die Schlüsselpositionen. Ulmanis selbst wurde zum Ministerpräsidenten und gleichzeitig zum Außenminister ernannt. In der Nacht vom 15. auf den 16. Mai 1934 erklärte Ulmanis den Ausnahmezustand. Ulmanis begründete diese Maßnahme mit dem angeblich drohenden Putsch gegen die legale Regierung. Ulmanis ließ seine Gegner verhaften, und zwar sowohl die Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei als auch die Repräsentanten der Radikalen. Alle wurden vorübergehend in einem Lager im Hafen Libau interniert. Er bezeichnete sein Vorgehen als die einzige mögliche Rettung des Landes vor der Krise des Parlamentarismus, vor den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Radikalisierung der politischen Szene, die zur Spaltung der Gesellschaft führten und die sich in einen Bürgerkrieg umzuwandeln drohten. Der noch demokratisch gewählte Präsident Albert Kviesis entschloß sich, die neuen Verhältnisse zu akzeptieren. In der Wirklichkeit hatte er aber keine Macht. Nach Ablauf seines Mandates im Jahre 1936 übernahm Ulmanis auch diesen Posten. In Ulmanis Händen konzentrierte sich also die gesamte Macht im Lande. Der Umsturz in Litauen war praktisch ein typischer Militärputsch. Die Armee und die Regierungsopposition waren nicht bereit, die außenpolitische Orientierung der linken Regierung auf die Sowjetunion zu akzeptieren. Diese beiden Gruppen fanden dabei eine gemeinsame Sprache und hatten gemeinsame Interesse. Man sieht auf den ersten Blick, daß für die Putschisten in Kaunas die Mai-Ereignisse in Polen im Jahre 1926 besonders inspirativ waren. In Reval und in Riga wurde dagegen der Putsch von den legalen Regierungen verwirklicht. In Estland und Lettland versuchten Päts und Ulmanis die bisherige Machtstellung und den gesellschaftlichen Status quo zu bewahren. In beiden Staaten waren also seit dem Frühling 1934 undemokratische Regimes an der Macht. Ihre Repräsentanten behaupteten unisono, daß die neuen Regimes nicht gegen die Demokratie im Lande gerichtet seien, sondern daß das Hauptziel sei, die Radikalen zu eliminieren und eine sichere und gesunde Entwicklung der Nation zu sichern. Die beiden Regimes entstanden im Grunde als Reaktion auf die innenpolitischen Probleme, in erster Linie auf die Krise des Parlamentaris8 Timmcrmann / Gruner

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mus und den wirtschaftlichen Niedergang. Ohne zu übertreiben, kann man behaupten, daß alle drei Politiker Smetona, Päts und Ulmanis, für die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft die litauische, estnische resp. lettische Staatlichkeit und die Einigkeit der Nation symbolisierten. Zu den Gemeinsamkeiten gehörte auch die Tatsache, daß die nicht demokratische Regimes sozusagen postdemokratisch waren. Obwohl die Periode des Parlamentarismus ziemlich kurz war, allein sollte man sie genug schätzen, aus dem Grunde, daß sie in der Zukunft eine außerordentlich wichtige Rollen spielen wird. Alle drei Regime stabilisierten sich schnell. Smetona mit Voldemaras in Litauen behauptete, daß sie eingegriffen hatten, weil die Koalitionsregierung die litauischen Nation in eine unabsehbare Katastrophe geführt hätte. Päts in Estland und Ulmanis in Lettland erklärten, daß sie ihre Regimes als Präventivmaßnahme eingeführt hatten und daß sie der parlamentarischen Demokratie ein Ende bereitet hätten, nur um die Nation vor der faschistischen oder kommunistischen Diktatur zu schützen, die ihrer Meinung nach eine aktuelle Gefahr dargestellt hatte. Päts erklärte dazu noch, daß sein Regime vorübergehend sei. In Wirklichkeit war aber die Machtübernahme in Estland gegen die VapsenBewegung gerichtet. Die Behauptung, daß die Vapsen im Jahre 1934 einen Putsch vorbereitet hätten, war nicht nur falsch, sondern auch sinnlos, weil die Vapsen gute Chancen hatten, die bevorstehenden Präsidentenwahlen zu gewinnen und legal an die Macht kommen konnten. In Lettland dagegen war die Ulmanis-Aktion im Mai 1934 vor allem gegen die Sozialdemokraten gerichtet. Die Chancen der lettischen Radikalen auf Machtübernahme waren 1934 unwahrscheinlich. Die Kommunistische Partei war 1919 verboten ,und es gab hier mehrere faschistische Bewegungen, die aber waren zersplittert in viele Gruppen und praktisch unvergleichbar mit der Stärke der Vapsen in Estland. In allen drei Staaten wurde das neue Regime an eine Person geknüpft. Für alle drei baltischen Staaten war typisch, daß die demokratische Entwicklung nicht von den neuen Radikalen und Demagogen beendet wurde, sondern daß an der Spitze der erfolgreichen Putschversuche die „alten Kämpfer" standen. Alle drei Präsidenten hatten sich nämlich einen außerordentlich großen Verdienst um die Souveränität der baltischen Republiken erworben. Und es ist zu erwähnen, daß sie dabei sogar ihr eigenes Leben gewagt hatten. Smetona war in den Jahren 1917-1919 Vorsitzender der Taryba und in den Jahre 1919-1920 der erste Präsident, Päts war der erste Ministerpräsident 19181919, und Ulmanis war genauso der erste Ministerpräsident 1918-1921. Das

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bedeutete, daß diese drei Männer einen verhältnismäsig hohen moralische Kredit hatten und daß sie fur die echten und wahren Repräsentanten der Nation gehalten wurden. Alle drei stützten sich auf die Armee, und hohe Offiziere gehörten zu ihren engsten Mitarbeitern. Dabei war sehr stark die Position von General Joan Laidoner in Estland, der als der Held der Freiheitskämfe 1918-1920 und als der Sieger über die estnischen Kommunisten im Dezember 1924 galt. In den Regierungsstrukturen finden wir viele Kollegen aus der eigenen Partei des Präsidenten, aber manchmal waren alle drei Präsidenten fähig, auch Persönlichkeiten aus anderen Teilen des politischen Spektrums für die Zusammenarbeit mit dem Regime zu gewinnen. Der litauische Präsident Smetona und der estnische Präsident Päts fühlten sich genötigt, für die Machtausübung öffentliche Unterstützung zu gewinnen. Sie beide legalisierten ihre Regimes und stützen sich neben der Armee auch auf eine politische Partei. In Litauen war das die nationalistische Tautininkai, in Estland der Vaterländische Verband Isamaaliit. Die Tätigkeit der anderen politischen Parteien war zwar begrenzt, aber nicht unmittelbar nach dem Putsch verboten. Der lettische Ministerpräsident Ulmanis, seit 1936 auch Präsident, bemühte sich dagegen nie um die Legalisierung der neuen Verhältisse und gründete auch keine neue Partei oder politische Bewegung. Dabei kombinierten aber alle drei ihr Monopol mit den Zwangsmitteln öffentlicher Unterstützung. In allen drei Staaten gab es Opposition gegen die neuen Verhältnisse. Jedoch zu weiteren Putschversuchen kam es nur in Litauen im Juni 1934 und in Estland im Dezember 1935. In Litauen versuchte der ehemalige Ministerpräsident Voldemaras, beeinflußt von den März-Ereignissen in Estland und Mai-Ereignissen in Lettland, mit Unterstützung von einigen Offizieren, den Presidenten Smetona zu beseitigen und an die Macht zurückzukehren. In Estland waren das die Vapsen, die einen detaillierten Plan hatten, aber ihre Aktion scheiterte nach dem Eingriff der estnischen Armee. Die stärkste Position hatte Präsident Ulmanis in Lettland, aber die lettische Opposition war auch schwach und uneinig. Keines dieser drei Regimes hatte eine eigene ursprüngliche originäre Ideologie entwickelt. Aber in mancher Hinsicht übernahmen sie das Programm und die Rhethorik der inländischen Radikalen, aber auch die der deutschen, italienischen und österreichischen Muster, in erster Linie den extremen Nationalismus. Diese Charakteristik bezieht sich vor allem auf Lettland, wo Präsident Ulmanis die Parole der Nationalisten „Lettland den Letten" in „lettisches Lettland" umgewandelt und praktisch auf ein Staatssymbol erhoben hatte. In Lettland kann man in dieser Zeit von einer starken Xenophobie gegenüber den na8*

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tionalen Minderheiten vor allem den Deutschen und den Juden sprechen. Dazu muß ich erwähnen, daß der prozentuelle Anteil der nationalen Minderheit in Lettland mit 26 % der höchste in allen drei baltischen Staaten war. In Litauen Minderheiten betrugen 16 % - war die Animosität in erster Linie gegen die polnische Minderheit dem Streit um das Wilnagebiet zu zurechnen. In Estland dagegen war der Anteil der nationalen Minderheiten mit 13 % niedrig, und auch das Päts-Regime akzeptierte die liberale Gesetzgebung der demokratischen Republik. Das bedeutet, daß die deutsche und jüdische Minderheit im Lande auch nach 1934 das Gesetz über die Kulturautonomie nutzen konnte. Der Übergang zum neuen Regime bedeutete aber in keinem der drei Staaten ein Beitrag zur Verbesserung der Beziehungen zwischen der Staatsnation und den Minderheiten. Die Tätigkeit der Minderheitenschulen wurde begrenzt, man estnisierte oder lettisierte die Familiennamen. In Estland und Lettland wurde das Eigentum der großen deutschen Kirchen und der Kirchengemeinden der orthodoxen Kirche enteignet. In Litauen, wo 86 % der Bevölkerung katholisch war, befand sich der Staat praktisch permanent in einem Streit mit dem Vatikan. Auf dem Wirtschaftsgebiet gelang es vor allem in Estland und Lettland dank dem Staatsdirigismus und anderen harten Maßnahmen die Folgen der Weltwirtschaftskrise zu überwinden. Die Anzahl der Abeitslosen sank, und die Anzahl der Beschäftigten in der Industrie stieg. Einige Industriezweige hatten sogar in der zweiten Hälfte der 30er Jahre Mangel an Arbeitskräften. Die Regimes waren fähig, der Mehrheit der Bevölkerung eine stabile ökonomische Lage zu sichern. Problematischer waren die Verhältnisse in Litauen, wo auch nach 1926 die starke Emigration nach Übersee nicht nachließ. In der Außenpolitik gab es auf der einen Seite Tendenzen zur Zusammenarbeit, auf der anderen Seite aber deutliche Unterschiede, was die außenpolitische Orientierung der drei Staaten angeht. Für Litauen war der Hauptfeind der polnische Staat, Estland fühlte sich vor allem seitens der Sowjetunion bedroht, und in Lettland sah man die größte Gefahr im Westen, also im deutschen Staat. Es ist aber sicher, daß sich nach der Etablierung der undemokratischen Regime in diesen Staaten auch ihre Entscheidungsdynamik in den Fragen der Vereinigungsprozesse beschleunigte. Die sogennante Baltische Entente wurde schon im September 1934 unterschrieben. In den nächsten Jahren sprachen sich alle drei Regimes für ihre volle Neutralität aus, die auch wirklich im Jahre 1938 gemeinsam erklärt wurde. Nach 1945 stellten die sowjetischen Historiker die Regimes als faschistische Diktaturen dar. Es handelte sich um eine ideologische Deformation, die sich

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bemühte, die Periode der Souveränität der baltischen Republiken zu diskreditieren. Auf der anderen Seite bezeichnen einige Historiker diese Regimes als milde Diktaturen, autoritäre Demokratien oder auch Präsidialregimes. Sie begründeten diese Behauptungen damit, daß sich alle drei Präsidenten von den Extremisten nicht nur distanzierten, sondern auch diese bekämpften, und daß sie auch dank der Unterstützung der Opposition an der Macht blieben. Bei allen Meinungsverschiedenheiten ist es sicher, daß diese auf jeden Fall undemokratischen Regimes in eine ganz andere typologische Kategorie gehörten, als das totalitäre System der Sowjetunion, mit dem die hiesige Bevölkerung nach dem Jahre 1940 konfrontiert wurde. In den baltischen Staaten schloß sich praktisch der Kreis der Erfahrungen, die auch viele andere europäische Nationen erlebten. Nur hier ist diese Entwicklung vollständig, dass bedeutet von der Demokratie zu den autoritären Regimes - weiter folgte die Okkupation aus zwei Seiten, und dann wurden diese kleinen Nationen mit dem sowjetischen Totalitarismus konfrontiert.

Theorie und Praxis dreier Demokratien nach dem Ersten Weltkrieg: Deutschland, Österreich und die Tschechoslowakei Von Eva Brocklovâ

Das Thema beinhaltet Probleme der indirekten Demokratie und deren Veränderungen, die durch das allgemeine Wahlrecht und die Entstehung von Massengesellschaften gegeben waren. Diese Probleme vermehrten sich mit der Annahme demokratischer Systeme in Staaten, die bisher die Demokratie abgelehnt hatten. Im breiteren Sinne ist das Thema Bestandteil des Prozesses der Modernisation und, in Hinsicht auf das dem Ende zugehenden 20. Jahrhundert, des Zeitraumes der ersten Welle des Übergangs zu demokratischen Systemen. Da das Thema drei Staaten betrifft, wird die wichtigste Arbeitsmethode in dem Vergleich der Staaten und deren Systeme liegen. Ich bin nämlich nicht der Ansicht, daß „Vergleiche hinken", auch nicht, wie Goethe gesagt haben soll, „nur Dummköpfe vergleichen". Es ist lediglich notwendig, Erscheinungen und Objekte auszuwählen, die vergleichbar sind. Die Regime der drei Staaten sind vergleichbar, weil sie demokratisch waren und die gleiche Organisation der Staatsmacht (parlamentarische Demokratie), des Wahlsystems (verhältnismäßige Wahl mit streng gebundenen Kandidatenlisten), ein System politischer Parteien, das weder in der Verfassung noch anderswo verankert war, und die von ähnlichen strukturellen Problemen begleitet wurden, hatten. Die strukturellen Schwierigkeiten der politischen Systeme führten allerdings in den angeführten Staaten zu verschiedenen Ergebnissen. Und gerade dies ist das Objekt unseres Interesses. Die Komparation ist eine zweckmäßige Arbeitsmethode, da sie die Möglichkeit bietet, die Grenzen einzelner Staaten zu überschreiten, sofern wir ihren Problemen breitere und allgemeinere Parameter erteilen. Es ist der Weg aus dem Ethnozentrismus und seiner Überwindung. Der Vergleich der einzelnen Faktoren, die zur Erhaltung oder zum Scheitern der Demokratie fuhren, er-

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möglicht auch theoretische Schlüsse im Bereich der politischen Wissenschaften, die durch historisches empirisches Material belegt werden können. 1. Für die Konzeption und den Bau des Staates ist das Verständnis des Begriffs Nation, der zweifach - ethnisch und demokratisch - zu verstehen ist, von Bedeutung. Das westliche Verständnis des demokratischen Staates, der auf seinem Territorium das ganze Volk als Nation gegen die Monarchie organisierte, hatte sich in der Französischen Revolution durchgesetzt. Die ethnische Auffassung geht vom gemeinsamen Ursprung der Kultur und Sprache aus. Aus dem Faktor der Übereinstimmung des Volkes mit den Vertretern des alten Regimes leitet Thomas Nipperdey (1992 verstorben) den Erfolg oder Mißerfolg der Demokratie ab.1 Der Impuls zur Konfrontation mit dem Feudalismus ging von der Bourgeoisie aus, um deren wirtschaftliche Stellung zu festigen (z. B. Ralf Dahrendorf u. a.). Das ethnische Verständnis des Begriffs führt unter bestimmten Bedingungen zur Forderung: Ein Volk, ein Staat. „Die schöpferische Antirevolution" führte nach Gründung des deutschen Kaiserreiches zur Symbiose der vorindustriellen und der industriellen Machteliten und unter Mithilfe der cäsaristischen Synthese von Autokratie und Demokratie 2 zur Umformung des konstitutionellen Beamtenstaates. Bestandteil dieses Prozesses wurde auch die Annahme des allgemeinen Wahlrechts. Die Auftischung der parlamentarischen Demokratie schien nicht notwendig zu sein. Die Nation war nicht auf der politischen Einheit begründet, sondern auf Beziehungen, die aus der gemeinsamen Sprache, Kultur, Geschichte und den Stämmen abgeleitet waren. In Österreich brachte die Demokratisierung des politischen Systems, die mit der Annahme des allgemeinen Wahlrechts ihren Höhepunkt erlebte, keine Stabilisierung, sondern verstärkte vielmehr die Unfähigkeit der Eliten zum Kompromiß. Die Chance der Bildung einer einheitlichen österreichischen Nation war versäumt, und Österreich befestigte mit seiner Herrschaftsordnung in der tschechischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert Nipperdey s Feudalismus oder den feudalen Herrscher. 2. Mit den Traditionen der Vergangenheit und besonders mit den unmittelbaren Erlebnissen des Krieges hing auch die Annahme oder die überwiegende Ablehnung demokratischer Verfassungen und Regimes zusammen. Während der tschechische und später der tschechoslowakische Widerstand eröffnet und 1

Thomas Nipperdey:

Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1990, S. 52ff.

2 Michael Stürmer: „Militärkonflikt und Bismarckstaat", in: Gerhard A. Ritter (Hg.): Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1973, S. 231.

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geführt wurde, weil die tschechischen Politiker die Hoffnung auf eine Demokratisierung der Habsburger Monarchie verloren hatten, waren die Ziele der Mittelmächte im Krieg vollkommen andere. Zeitgenössische Quellen äußern sich über den Platz an der Sonne zwischen den anderen Großmächten. Der tschechische Widerstand verband seine Ziele gerade mit dem Sieg der demokratischen Mächte und des demokratischen Prinzips in den internationalen Beziehungen. Demgegenüber war die Demokratie in Österreich und Deutschland mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg verbunden. Deutschland war eine Republik ohne Republikaner, Österreich ein „Staat wider Willen", 3 ein ungewolltes Kind. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg war zwar in Österreich eindeutig, daß eine parlamentarische Demokratie angenommen werden wird, in Deutschland dagegen wurde noch recht lange die Alternative eines Rätesystems erwogen. Die parlamentarische Demokratie wurde als System, das die Sozialdemokratie ihrer Verantwortung für die Entwicklung im Lande enthebt und deren Verlagerung auf weitere politische Kräfte zum Ziel hat, akzeptiert. 3. Die Theorie der Demokratie ist durch ihre grundlegenden Prinzipien in der Verfassung verankert: durch das Definieren des Volkes als Souverän der Macht, durch die Teilung der Macht und durch die Organisation der Regierungsmacht. Die Unterschiede in den Verfassungen hängen mit den Traditionen und der politischen Kultur 4 zusammen. Das unterschièdliche Verhältnis zur Demokratie (unterschiedliche politische Kultur) spiegelte sich in allen drei Staaten nicht nur in der Atmosphäre bei den Verhandlungen über die Verfassung und derer Annahme, sondern auch in den Festlegungen der Verfassungen und somit auch in den institutionellen Strukturen der demokratischen Systeme und gleichzeitig in dem Zusammenhalt der politischen Kräfte, die sich über die Verfassung einigten, wider. Die politische Kultur formte sich in einem langen historischen Zeitraum und wurde zu einer der wichtigsten Ursachen der Unterschiede der politischen Systeme, da von der politischen Kultur die Annahme oder Ablehnung des politischen Systems abhängig ist. Vom Standpunkt des angeführten Einflusses der politischen Kultur aus betrachte ich es als ein Defizit, daß dies in strukturellen Studien, die die Struktur der demokratischen Institutionen als Garantie der Erhaltung der Demokratie problematisieren, überhaupt nicht in Betracht gezogen wird. Außerdem kann an den Verschiedenheiten der Struktur der demokratischen Institutionen (die von der politischen Kultur, die sie ins Leben rief, abhängig sind) gezeigt werden, daß auch diese wie3

R. Lorenz'. Staat wider Willen, Berlin 1940, passim.

4 Κ. Rohe: „Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven der politischen Kulturforschung", in: Historische Zeitschrift, 1990, Bd. 250, S. 321ff.

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derum (wieder in Verbindung mit der politischen Kultur) zur Bedingung für das Scheitern der Demokratie werden können. 4. In die Organisation der Staatsmacht bezogen die Weimarer Gesetzgeber eine Reihe von Artikeln ein, die von den antidemokratischen Teilen der Gesellschaft ausgenutzt werden konnten. Dazu gehört vor allem die direkte Wahl des Präsidenten. Die aus der Macht des Volkes abgeleitete Macht des Präsidenten wird als Bemühen interpretiert, den Schwierigkeiten des klassischen Parlamentarismus die Stirn zu bieten (Machtschwerpunkt im Parlament mit vielen Parteien). Die angeführte Interpretation vertritt auch der Staatswissenschaftler Karl Loewenstein.5 Im deutschen Kontext drückte diese Konstruktion aber eher eine Tendenz zur Schwächung der Macht des Parlamentes, das aus Vertretern der politischen Parteien bestand, und die Verankerung bestimmter struktureller Zeichen des alten Hoheitsstaates aus. Das Versagen des Präsidenten, der ohne Rücksicht auf die Meinung des Parlamentes, von dessen Mehrheit aber wiederum die Regierung abhängig war, einen Kanzler ernennen konnte, mußte die Republik liquidieren, was auch tatsächlich geschah, als der Präsident, der ehemalige kaiserliche Marschall Paul von Hindenburg, die Macht an Adolf Hitler übergab. Theoretisch gehört die Stellung des Präsidenten in der Weimarer Verfassung zu den fehlerhaften Machtkonstruktionen. Ein starker Präsident, der vom Volk im Rahmen eines Präsidenten-Systems gewählt worden war, wurde der parlamentarischen Demokratie aufgepfropft. In der tschechoslowakischen Verfassung war der Schwerpunkt der Macht im Parlament plaziert, das den Präsidenten wählte. Über seine Kompetenzen stieß der erste tschechoslowakische Präsident mit Vertretern des Parlamentes zusammen. Die Stärkung seiner Position durch das Recht auf ein suspensives und absolutes Veto bedrohte aber nicht die Funktion des Parlamentes. Um Schwierigkeiten, die mit dem klassischen Parlamentarismus verbunden waren, die Stirn zu bieten, entschieden sich die tschechischen Gesetzgeber, dem Präsidenten bedeutende Befugnis, die Möglichkeit, mit bestimmten Beschränkungen, das Parlament aufzulösen, zu geben. Dank dieser Festlegung des modernen Parlamentarismus erscheint die Tschechoslowakei Karl Loewenstein als beachtenswerte Ausnahme unter den Staaten mit einem Mehrparteiensystem. 6 In der Verfassung war allerdings nicht festgelegt, wie sich das Parlament gegen ein unnützes Auflösen wehren könne. Darum lag auch der t S R daran, durch welche Persönlichkeiten die Institutionen besetzt wurden, und die Rolle 5

Karl Loewenstein: Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 106.

6

Derselbe, S. 94.

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der demokratischen politischen Kultur zeigt sich als durch nichts zu ersetzender Faktor. An die Rolle des Präsidenten in der CSR war ein weiterer bedeutender Umstand gebunden, was manchmal als abwertende „Reinheit" der Demokratie kritisiert wird. Präsident Masaryk verließ sich nicht auf die Allmächtigkeit der Demokratie, wie das z. B. in Italien der Fall war, und wartete nicht auf die Möglichkeit der Verstärkung des Faschismus, sondern ging dagegen mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln vor. Als charismatische, ihre Position an der Spitze des Staates aber niemals mißbrauchende Persönlichkeit, wirkte er positiv dem Bedürfnis der aus ihrem natürlichen Umgebung gerissenen Masse, einen Führer zu haben, entgegen. 5. In der österreichischen Verfassung fanden sich keine Anomalien dieser Art. Die Verfassung war vor allem dem Aufbau eines Bundes gewidmet und proklamierte die Selbständigkeit der die Republik begründenden Länder. Weiter kamen die politischen Parteien nicht. Der Verfassung fehlten einige traditionelle Teile, da sich die zwei bedeutendsten Parteien nicht einigen konnten. Somit enthielt sie kein Kapitel zu den grundlegenden Rechten und Freiheiten, das zu den grundlegenden Erfordernissen moderner Verfassungen gehört. Es gab die Möglichkeit, einen Staat und seine Verfassung danach zu bewerten, wie die Menschenrechte und Freiheiten und damit auch das Völkerrecht und die Rechte der Nationen oder Nationalitäten respektiert werden. Der absolutistische Staat beschränkte um den Preis der Sorge um seine Bürger deren Rechte und Freiheiten. Auch dies ist für uns ein bedeutendes Kriterium bei der Bewertung der politischen Systeme der CSR, Deutschlands und Österreichs. Die Parteiprogramme und die Weltanschauungen der zwei wichtigsten österreichischen Parteien, der christlich-sozialen und der sozialdemokratischen, waren so unterschiedlich, daß es schon bei den Verhandlungen über die Verfassung zu keiner Einheit und zu keinem Abkommen kommen konnte. Über die Menschenrechte wurde während der Debatte nur sehr wenig gesprochen. Auch die Forderung auf Selbstbestimmung für die Länder, die Österreich an andere Staaten abgetreten hatte (Südtirol, Südsteiermark), und auch die von Deutschen überwiegend bewohnten Gebiete, die aber Teil der CSR waren, wurde nicht im Zusammenhang mit den Menschenrechten, sondern nur mit ethnischen Rechten gesehen. Der Staats Wissenschaftler Felix Ermacora erklärt die Absenz der Verhandlungen über die Menschenrechte damit, daß dies nicht so anziehend war wie heute aus politischen Gründen, die weit über den nationalen Rahmen des Staates hinausreichen. 7 7 F. Ermacora: „Die Grundrechte in der Verfassungsfrage 1919/20", in: Die österreichische Verfassung von 1918 bis 1935, Wien 1980, S. 53-61.

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Dieser Argumentation sollte man seine Aufmerksamkeit vor allem im Zusammenhang damit widmen, wie die Menschenrechte und Freiheiten in der tschechoslowakischen Verfassung in Beziehung zu deren Verletzung in einigen Staaten gleich in den nächsten zehn Jahren behandelt wurden. Die sogenannte Liste der Freiheiten in der tschechoslowakischen Verfassung wurde von Zeitgenossen als die lobenswerteste und den höchsten Idealen des politischen Liberalismus entsprechende gewertet. Es wurde natürlich auch gleichzeitig die Möglichkeit der konstitutionellen Theorie genutzt, diese Rechte im Falle eines Krieges oder der Bedrohung der Staatsform und von Ruhe und Ordnung zu beschränken. Bewerten wir rückblickend die Entwicklung zwischen den beiden Weltkriegen, muß uns gerade diese Maßnahme als weitblickend erscheinen. Die Festlegung der Bürgerrechte und Freiheiten ist noch für einen weiteren Bestandteil der Demokratie symptomatisch, nämlich für den Staatsbürger. Das Wort Staatsbürger beinhaltet einen gesellschaftlichen Aspekt der Modernisierung. Die Entstehung des Staatsbürgers ist eine außerordentliche historische Veränderung. 8 Dennoch reicht seine Vorgeschichte bis in das antike Griechenland, wo allgemeine und gleiche Rechte auch zugereisten Fremden erteilt wurden. In der Neuzeit beginnt der Staatsbürger erst im 18. Jahrhundert zaghaft in die Geschichte einzutreten. Die Bürgerrechte sind Gelegenheit zur Teilnahme an der Verwaltung öffentlicher Dinge. So war dies in der offenen tschechoslowakischen Gesellschaft. Darum wurde die Stellung der Sudetendeutschen in der CSR durch deren Gefühl der ethnischen Zugehörigkeit zur deutschen Nation mit dem Unverständnis ihrer Staatsbürgerschaft zu deren wichtigstem Problem. 6. Auch die Auseinandersetzung um die Macht zwischen den Ländern und dem Bund wurde nicht in der Verfassung, sondern später durch das Bundesverfassungsgesetz bestimmt. Die Parteien einigten sich nicht bei der Regelung der Zugehörigkeit zu einem Land oder Bund auch nicht im Bereich des Schulwesens, der Erziehung und der Bildung des Volkes. Deshalb mußte der gegenwärtige Rechtszustand in Kraft bleiben, und die materielle Regelung wurde wieder einem speziellen Bundesgesetz überlassen. Gegenüber der deutschen Verfassung enthielt die österreichische Verfassung als Positivum die entscheidende Anerkennung der demokratischen Republik (ähnlich wie in der tschechoslowakischen Verfassung) neben dem Bundesprinzip in der Einleitungsbestimmung. Deutschland dagegen bestand bei der Bezeichnung seines Staates Deutsches Reich, das sich zur Republik erklärte. Die Tschechoslowakische Republik wurde in der Verfassung als die demokratische Republik bestimmt. 8

Ralph Darendorf·.

Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1968, S. 79.

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7. Der Probierstein der Demokratien ist der Minderheitenschutz. Für Österreich sowie für die Tschechoslowakei galt in dieser Hinsicht der Saint-Germain Friedensvertrag. Seine Festsetzungen waren von der österreichischen Bundesverfassung übernommen. Nur waren manche Minderheiten eliminiert. Die tschechische Minderheit wurde dabei als Zuwanderungsminderheit bezeichnet. Als Minderheit wurden auch nicht die Juden anerkannt. Die Bestimmungen des Vertrags von St.-Germain wurden nicht eingehalten. Was die „verhältnismäßige beträchtliche Zahl" (proportion considérable) anbelangt, so hat die Erste Österreichische Republik hiezu keine Auslegung vorgenommen. Das System der sog. utraquistischen Schulen in Kärnten war auf Germanisierung gerichtet. Die Zusage, eine slowenische Volksschule in Kärnten zu errichten wurde nicht erfüllt. Was die utraquistischen Schulen betraf, so gab die österreichische Bundesregierung in ihrer Verlautbarung an den Völkerbundrat selbst zu, daß diese Schulen der Aneignung guter Kenntnisse der deutschen Sprache durch die Minderheitsangehörigen dienten, also nicht dem Unterricht in der Minderheitssprache. 9 Ergebnis der zwei angeführten Auffassungen der Nation war, daß in den Formulierungen der deutschen Verfassung die Deutschen und nicht die Staatsbürger „Grundrechte und grundlegende Pflichten hatten", während in der tschechoslowakischen Verfassung die Adressaten der „Rechte und Freiheiten, sowie Bürgerpflichten" im Sinne der westlichen Auffassung der politischen Nation „alle Bewohner...in gleichem Maße wie die Staatsbürger" ohne Unterschied von „Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Glauben" sind („Unterschied in der Religion, dem Glauben, der Weltanschauung und der Sprache wird keinem Staatsbürger...zum Mangel..."). Ähnlich wird in der deutschen Verfassung die Bildung „im Geiste der deutschen Nationalität" gefordert, während laut tschechoslowakischer Verfassung öffentliches Lehren nicht den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung widersprechen sollte. Mit wachsendem Nationalismus und Revisionismus zeigten sich schon am Ende der zwanziger Jahre Forderungen, die Bildung in deren Geist zu ergänzen. 10 Die deutsche Verfassung beinhaltete keine Artikel über den Schutz der Minderheiten. Unter den Grundrechten war ein Paragraph über die fremdsprachigen Teile des Volkes. In der tschechoslowakischen Verfassung wurde der Schutz „der nationalen und religiösen Minderheiten und Minderheiten der Rasse" in das spezielle sechste Kapitel eingegliedert. Gewaltsame Entnationalisie9 Th. Veiter: „Volksgruppen und Sprachminderheiten in Österreich", in: Die österreichische Verfassung von 1918 bis 1935, Wien 1980, S. 118f. 10

K. Sontheimer. Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1992, S. 279.

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rung war nicht gestattet. In der t S R war die „proportion considérable" mit 20 % festgelegt (eine bessere Festlegung hatte nur Finnland mit 10 % für die schwedische Einwohnerschaft). Verhandlungen über das Statut der Nationalitäten, das die Position der Deutschen verbessern sollte, zeigten, daß die Senkung der Prozentzahl auf 10 % nur eine kleine Wirkung hatte, da 92 % der Deutschen in Gemeinden mit einem Anteil von mindestens 20 % deutscher Einwohnerschaft lebten. Es darf nicht unbeachtet gelassen werden, daß einige Maßnahmen des Sprachgesetzes manchen tschechoslowakischen Einwohnern mit einer anderen Sprache das Leben komplizieren konnten. Auf der anderen Seite existierte eine sehr benevolente Praxis, und es lag meist an den Menschen, wie weit sie sich in dieser oder jener Richtung durchsetzen wollten. Bestimmte Probleme waren mit dem Verständnis der „tschechoslowakischen Nation" in der Präambel der tschechoslowakischen Verfassung verbunden. Für viele war dies ein Beweis dessen, daß die Tschechoslowakei als ein Völkerstaat deklariert worden ist. In Hinsicht auf die demokratische Theorie der Souveränität des Volkes kann diese Verbindung einzig und allein als Volk oder als Nation der böhmischen Länder und der Slowakei verstanden werden. Das Überdecken der Bedeutung dieser Worte ist z. B. in der Übersetzung von „Die modernen Demokratien" von J. Bryce ins Tschechische belegt, wo in der Definition der Demokratie angeführt ist: ".. .Demokratie.. .bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Regierung der ganzen Nation, die durch die Abstimmung ihren souveränen Willen ausdrückt". 11 Dies entsprach auch den Passagen des Vertrages von Saint-Germain, wo für die Tschechoslowakei das Volk (oder die Nation) von Böhmen, Mähren, Schlesien, der Slowakei und Karpato-Rutheniens zur Vertragsseite wurde. Im Vertrag benutzte man auch für die Kennzeichnung der Angehörigen von Minderheiten die Verbindung: „les ressortissants tchécoslovaques appartenant à minorités ethniques, de religion ou de la langue...". Unsere Erklärung der tschechoslowakischen Nation als des tschechoslowakischen Volkes bestätigt auch die österreichische Verfassung mit der Bestimmung im Namen der freien Völker (oder des Volkes): „Wir freien Völker der selbständigen Länder Österreichs." Eine bestimmte Übermacht der Tschechen und Slowaken in Hinsicht auf die sprachliche Sphäre wurde demokratisch, weil durch die Mehrheit, im einzigen Sprachgesetz und wesentlich verträglicher als in Österreich verankert. Gerade die Betonung auf die Bürgerrechte und den Schutz der Minderheiten sollte in der CSR die Übermacht der tschechischen und slowakischen Mehrheit, die sich meist als demokratische Mehrheit zeigte, korrigieren. Das Verhältniswahlrecht n

James Bryces: Die modernen Demokratien, Berlin 1927, S. 42.

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ermöglichte die Mitarbeit aller loyalen Gruppen anderer Nationalitäten auf allen Ebenen der Exekutivmacht. 8. Außer den Grundrechten und Pflichten waren in die Weimarer Verfassung auch soziale Rechte einbezogen. Dank dessen wurde die Weimarer Verfassung von Zeitgenossen als sehr demokratisch bewertet. Diese Rechte waren allerdings nicht einklagbar und boten auch nicht die Grundlage für die Neuordnung der Gesellschaft, boten also nur einen Vorwand zur Kritik der Verfassung und der Demokratie, da sie nicht eingehalten werden konnten. Außerdem schwächte sie den normativen Inhalt der Verfassung (antipositivistische Staatswissenschaft), wovon selbst der Staat betroffen wurde. In der tschechoslowakischen Verfassung waren keine sozialen Rechte enthalten. Dafür wurden in der CSR aber Gesetze angenommen und Reformen durchgeführt, womit man in bestimmter Hinsicht der radikalen Nachkriegsstimmung der Wählerschaft und dem Prozeß der Modernisierung entgegen kam. In Österreich einigten sich nach den ersten sozialen Maßnahmen die Sozialdemokraten und Christlich-sozialen in der Frage des Ausmaßes der Sozialverfassung nicht. In diesem Punkt kam es zur Spaltung und zur ersten großen politischen Krise im neuem Staat. 9. Die deutsche Verfassung sollte in der Nation ein Friedensvertrag werden. So kam es dazu, daß sie in ihren Zügen den widersprüchlichen Stellungen der heterogenen Gruppen, die an ihrer Entstehung mitwirkten, entsprach und gefährliche Kompromisse enthielt. Nach Werner Conze hatte sie „sozialistischen, bürgerlichen, liberalen und konfessionell konservativen 'Kompromiß-Charakter'", ermöglichte und gleichzeitig unterließ die Sozialisierung der Wirtschaft und verhinderte die Zerstörung der Großwirtschaft. 12 Schon bei den Verhandlungen über die Verfassung beschwerte sich der Autor ihrer ersten Fassung, Prof. Hugo Preuß, „wie wesensfremd den Anschauungen unseres Volkes auch in seinen fortschrittlichsten politischen Richtungen das parlamentarische System erscheint". 13 Die Kompromisse der politischen Kräfte in der tschechoslowakischen Verfassung betrafen auch Festlegungen, die aus der Sicht der Demokratie nicht zu den wichtigsten gehörten (Existenz des Senats und Kennzeichnung der tschechoslowakischen Sprache als offizielle Staatsprache). Die Verfassung eröffnete die Möglichkeit einer eindeutigen Entwicklung auf dem Boden der liberalen Demokratie und entsprach den Vorstellungen der Mehrheit. Sie wurde als gut durch12 Werner Conze: Gesellschaft - Staat - Nation. Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Ulrich Engelhardt, Reinhart Koselleck und Wolfgang Schieder, Stuttgart 1992, S. 312-337. 13 Erich Eyck:, Geschichte der Weimarer Republik, 2 Bde., Zürich-Stuttgart 1992, hier Bd. II, S. 94.

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dacht und als ausgeglichenes System von Bremsen und Gegengewichten bezeichnet. Probleme entstanden erst im Zusammenhang mit den Forderungen nach Erstarkung der Rolle des Staates in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. In dieser Zeit wurde eine Reihe bevollmächtigender Vorschläge angenommen, die jedoch lediglich ökonomischen Charakter trugen. 10. Im Bereich des Gerichtswesens ist eine unabhängige Justiz mit in der Verfassung verankerter Verantwortlichkeit für die Einhaltung der Gesetze, vor allem von Gesetzen, die den Richtern auferlegen, in der ausübenden Justiz immer unparteiisch vorzugehen, eine elementare Voraussetzung. Die Unabhängigkeit der Gerichte wurde zum Schutzwall der Bürger gegen Eingriffe in die Unparteilichkeit der richterlichen Entscheidung. Die Pflicht, Gesetze zu erhalten, war in der Weimarer Verfassung, im Gegensatz zur tschechoslowakischen, nicht festgelegt worden und, so war die Weimarer Zeit von einer Krise der Pflege des Rechts gekennzeichnet. 11. Der Einheitsstaat und der Zentralismus: Eine Rezension der Referatensammlung der Tagung der tschechoslowakisch-deutschen Historikerkommission nannte Friedrich Prinz „Zentralistisches Modell". 1 4 In diesem Sinne legt er alle Beiträge zur Frage der Tschechoslowakei in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen aus. Schauen wir uns die Zeit und das Problem von diesem Gesichtspunkt aus an. Der Erste Weltkrieg und die Bedürfhisse im zivilen Leben, die als das Ergebnis des Krieges entstanden, bewirkten in fast allen europäischen Staaten eine mehr oder weniger starke Beziehung zwischen staatlichen Autoritäten und ihren Trägern auf der einen Seite und der betroffenen Bevölkerung auf der anderen Seite. Es ist wahr, daß das Prinzip der Dezentralisierung der Verwaltung mehr dem demokratischen Prinzip entspricht. Die Dezentralisierung hat allerdings ihre durch die Erhaltung des Staates gegebenen Grenzen, und gerade dies mußten die tschechoslowakischen Gesetzgeber in Betracht ziehen, und dies respektierte auch die Friedenskonferenz, die sich auf den „Standpunkt der Einheitlichkeit des tschechoslowakischen Staates" stellte. Als einzige Ausnahme ließ sie den Fall Karpato-Rutheniens zu. Präsident Masaryk befaßte sich in seiner Ansprache zum 10. Jahrestag der Gründung der Republik mit dem Problem der Selbstverwaltung. Er unterstützte die vorhergegangene Vereinheitlichung der Verwaltung und sah eine wichtige Aufgabe in der Harmonisierung des Parlamentes und der Bürokratie. Er forderte die Selbstverwaltung und die territoriale Autonomie und legte Wert darauf, daß „. . . der Staat, und vor allem der moderne Staat, nicht dem Organisationszentralismus entsagen dürfe, die Harmonie, die Zentralisierung und die Autonomisierung sind die 14

F.A.Z., 19.9.97.

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Aufgabe des modernen demokratischen Staates. Die demokratische Zentralisierung ist kein Absolutismus, die demokratische Autonomisierung keine Atomisierung...". 15 Der Tschechoslowakei wurde wiederholt vorgeworfen, sie habe nicht das Versprechen der sogenannten Verschweizerung im Sinne der Föderalisierung eingehalten. Dazu hatte sich aber die Tschechoslowakei nie verpflichtet. Das Schweizer Muster von der Friedenskonferenz in Paris beruhte in der Absicht der tschechoslowakischen Regierung „...to create the organisation of the State by accepting as a basis of national rights the principles applied in the constitution of the Swiss Republic, that is to make of the Czecho-Slovak Republic a sort of Switzerland, of course, the special conditions in Bohemia. It will be an extremely liberal régime, which will very much resemble of Switzerland." Keinesfalls das Memorandum III., auf das die Kritiker weisen, aus dem aber auch keine Föderalisierung hervorgeht, das nur weniger genau ist, aber die Note on the régime of Nationalities in the Czecho-Slovak Republik, deren Autor der tschechoslowakische Außenminister Edvard Bene§ war, und aus der das Zitat angeführt ist, wurde zur Grundlage der Verhandlungen des Ausschusses für Minderheiten auf der Friedenskonferenz am 20. Mai 1919. Auch aus dem gekürzten Text ist ersichtlich, daß zum Vorbild der Tschechoslowakei nicht die kantonale Struktur der Schweiz, sondern das liberale Schweizer System werden sollte. Die Grenzen der Kantone in der Schweiz sind auch nicht die Sprachgrenzen, die quer durch die Kantone führen. Der unitäre Staat entspricht theoretisch mehr den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie, vor allem dem Prinzip des Verhältniswahlrechts. Dieses Prinzip, das die Wahlen der Mehrheit mit ihrem lokalen Charakter ersetzt hat, kann man als eine der Quellen des Zentralismus bezeichnen. Gleichzeitig gewährt ein bestimmtes Maß an Zentralismus dem Staatsbürger Schutz vor örtlicher Willkür. Zentralistisch wirkten auf den Staat auch Forderungen, die von der Massengesellschaft im Bereich der Wirtschaft und der sozialen Sphäre in der Zeit der Weltwirtschaftskrise gestellt wurden. Das Konzept, das zum Grundstein der österreichischen Verfassung wurde, war demokratisch und zentralistisch. Die Sozialdemokratie, so wie früher die deutsche liberale Linke, verband sich mit der Rationalität der zentralen Bürokratie. Dies wurde von dem Umstand unterstützt, daß in Österreich die zentrale Macht versagte und die Resolution vom 30. Oktober 1918 nur die Erhaltung 15

Die Nationalversammlung der Tschechoslowakischen Republik im 1. Jahrzehnt, Prag 1928, S.

XXI. 9 Timmermann / Gruner

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der eingebürgerten autonomen Landesverwaltung betraf. Gleichzeitig kam es zur politischen Revolution in den Ländern, keinesfalls aber im Bund. Es entstand das Problem, wer die Landesverwaltung übernehme, ob die politischen Parteien oder die Volksräte (Verbände, Genossenschaften, Gewerkschaften, Kammern), die die Organisation sozialer Interessen und Fachlichkeit anboten. Die Angelegenheit wurde im Interesse des politischen Prinzips gelöst. Sofern es um die Frage der Kompetenz des Bundes und der Länder ging, wurde nur ein kleiner Teil der Kompetenz in Fragen der Gesetzgebung und seiner Exekutive den Ländern belassen und dies mit dem Grundsatz, daß das Bundesrecht das Landesrecht mit sich bringt. Tendenzen zur Vereinheitlichung des Staates, die sich nach dem Ersten Weltkrieg durchsetzten, waren für alle drei Staaten gegeben, Unterschiede gab es nur in der Art und Weise ihrer Applikation. Die Politiker der Weimarer Republik waren überzeugt davon, daß der dezentralisierte einheitliche Staat dem Gesetz der Geschichte und den Anforderungen der Zeit entsprach. Im Rahmen des Kompromisses zwischen Föderalismus und Unitarismus in der Verfassung wurde sogar der Anteil des preußischen Staates am Reich künstlich verkleinert. 12. Allen drei Staaten war gemeinsam, daß in den Verfassungen keine politischen Parteien verankert waren. Dabei hatten sie eine direkte Beziehung zu der Entscheidung und bildeten einen Kanal des Zugangs zu den Rollen des Entscheidungsprozesses und der Formierung der Interessen und Identitäten. Der Begriff „Parteienstaat", der an die bedeutende Stellung politischer Parteien im Staat gebunden war, wurde zur Bezeichnung einer Erscheinung, die in allen drei Staaten als etwas Pejoratives betrachtet wurde. An die äußerste Grenze wurde der „Parteienstaat" in der Wahlgesetzgebung der Tschechoslowakei gezogen, und trotzdem schien es nicht, daß dies zum Hindernis der nationalen Politik und der Kontinuität der Bemühungen, durch die auf einem festen Grund neue Staaten organisiert wurden, werden würde. Im Jahre 1925 wurde der Widerwillen den politischen Parteien gegenüber durch die Aufschrift auf einer Münze zur Wahl des Präsidenten Hindenburg ausgedrückt: „Beide Hände für die Heimat, nichts für politische Parteien". In der Tschechoslowakei wurde der Widerwillen gegenüber politischen Parteien durch die Forderung nach der Verminderung der Anzahl der politischen Parteien ausgedrückt. Gerade der Vergleich mit Deutschland und Österreich ermöglicht das Verständnis für die Bedeutung des Staates im demokratischen System. Der Parteienstaat zeigt sich nämlich beim isolierten Studium der ersten Tschechoslowakischen Republik vor allem in der Bewertung zeitgenössischer Publizistik eher als negative Erscheinung, auch wenn ihre positiven Züge, z. B. daß die Wähler-

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schaft der ersten CSR stabil geschichtet war und daß sich die führenden Persönlichkeiten der politischen Parteien einigen konnten, in Betracht gezogen werden müssen. Bei einem Vergleich vor allem mit Deutschland, aber auch mit Österreich, zeigt sich die Existenz eines gut funktionierenden Systems der Parteien und des Parteienstaates in der t S R als dessen Ergebnis eindeutig als Faktor, der die Demokratie zu erhalten half. Die Systeme der politischen Parteien funktionierten als bedeutendster Teil der demokratischen Systeme der Massengesellschaften, ohne daß dies in der Verfassung verankert war. In Staaten mit Verhältniwahl kam es zur Zersplitterung der Parteien und zu schweren Krisen bei der Bildung parlamentarischer Mehrheiten und Koalitionen. Im wuchernden Parteiwesen war der Schlüssel zu den Schwierigkeiten der Demokratie in der Zwischenkriegszeit zu finden. Während das Bemühen, politische Entscheidungen auf die Parteien zu übertragen, in den Wahlgesetzen der Tschechoslowakei seinen Höhepunkt erlebte, kam es zum Umsturz der demokratischen Systeme in Deutschland und Österreich. In der Stellung der politischen Parteien zeigten sich auf bedeutende Art und Weise die Gewohnheiten und Traditionen der Vorkriegszeit. Vom Platz an der Peripherie im kaiserlichen Deutschland (die Verfassungen im Reich und in den Bundesstaaten garantierten der Exekutive einen hohen Grad an Unabhängigkeit von den existierenden Parlamenten) gelangten die politischen Parteien in das Zentrum des Entscheidungsprozesses. Von ihrer Fähigkeit, sich diesen Veränderungen des Systems anzupassen, hing in breitem Maße die Vertrauenswürdigkeit und die Verankerung der parlamentarischen Demokratie in der Bevölkerung ab. Zur notwendigen Änderung fanden die Parteien aber nur einen sehr zurückhaltenden Zutritt, vor allem, als sie in der Stellung des Reichspräsidenten Züge des alten Systems verankerten. Vor allem bürgerliche Parteien verlangten in Zeiten der Krise eine Abkehr von Regierungen bestimmter Parteien und forderten die Erstellung von Kabinetten sogenannter Spezialisten. Damit beschleunigten sie ihr Ausscheiden aus dem politischen Entscheidungsprozeß und arbeiteten der selbstbewußten und entschiedenen Bürokratie zu. Durch die Unterschätzung des Parteiwesens war nicht nur die Machtstellung der Bürokratie legitimiert, sondern auch der Einfluß der Interessengruppen auf das Parteiensystem und die Regierung. In dieser Perspektive war die Kontinuität nicht zu übersehen, die das Kaiserreich und die Republik miteinander verband. Im betrachteten Zeitraum wechselten in Deutschland 20 Regierungen, von denen acht von Parteien, die nicht in der Koalition vertreten waren, abhängig waren. Zwei Präsidialregierungen im Jahre 1932 waren nichtparlamentarisch. Die durchschnittliche Regierungszeit betrug 8,5 Monate. Die 9*

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einzige Partei, die in allen Regierungen vertreten war, war das katholische Zentrum, das nicht einmal die stärkste Partei war. In der Tschechoslowakei waren die politischen Parteien in einer anderen Situation. Ihre Vertreter standen schon im 19. Jahrhundert an der Spitze der politischen Szene. Sie stellten die nationale Repräsentation gegenüber Wien dar, da diese Gesellschaft keine andere Repräsentation, die dem Ständestaat entsprach, hatte. Mit der Annahme der parlamentarischen Demokratie und dem vorsichtigen Vorgehen bei der Festlegung der Rechtsbefugnisse des Präsidenten erlangten die politischen Parteien eine bedeutende Stellung im Staat, den sie als den eigenen auffaßten und für den sie Verantwortung empfanden. Beamtenregierungen waren die Lösung der krisenhaften Situationen in der ersten Phase des Staates, als es zur Umgruppierung der politischen Kräfte kam, und an seinem Ende. Auch diese Beamtenregierungen fanden die Unterstützung des Parlamentes. Keine der Regierungen - im Unterschied zur Weimarer Republik - war auf die Unterstützung von Parteien angewiesen, die nicht im Parlament vertreten waren. Aus der parlamentarischen Mehrheit ging auch der Fünfer-Ausschuß hervor, der aus den fünf stärksten Parteien im Parlament gebildet wurde. Er half den Parteienstaat auszubilden, der als Ergebnis zu strukturellen Veränderungen der modernen Demokratie führte. Er war auf keinen Fall das Gremium, das in Deutschland (auch als Fünfer-Ausschuß) am Ende des Krieges entstand und weder in ihrer Gliederung noch ihrer Funktion der tschechoslowakischen ähnlich war. Die durchschnittliche Regierungzeit der tschechoslowakischen Regierung betrug im gleichen Zeitraum bis zum Jahre 1932 15 Monaten, also fast doppelt so lang wie in Deutschland. Fester Bestandteil aller Koalitionen war die Agrarpartei, mit Ausnahme der Tusar-Regierungen waren auch die Volkspartei und die national-demokratische Partei ständige Mitglieder der Koalition. Auch die sozialistischen Parteien waren Bestandteil der Koalitionen mit Ausnahme der Bürgerkoalition. Teil der Koalitionen von 1926 bis März 1938 waren auch deutsche Parteien. Trotz abweichender Wertvorstellungen, die sie repräsentierten, nahmen sie das Angebot der Zusammenarbeit an. In die Koalition der Bürgerparteien trat auch die Slowakische Volkspartei ein. Die demokratische Staatsbildung der Parteien in der t S R betrachten manche deutsche Historiker als durch die komplizierte Struktur der Nationalitäten im Staate aufgezwungen. Gerade aber die Situation der Bedrohung (in diesem Fall der tschechischen Mehrheit) rief die Diktatur hervor. Dies galt auch für die Demokratie des tschechoslowakischen Systems, die durch die Existenz antidemokratischer Gruppierungen beeinflußt wurde. Weit eher wehrte die angeführte Lage die notwendigen Veränderungen ab.

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Die politischen Parteien in der Weimarer, „Republik ohne Republikaner", bewiesen nicht die Fähigkeit, sich an die Bedingungen der Massengesellschaft und der parlamentarischen Demokratie anzupassen. Dies zeigte sich in negativer Hinsicht bei der Koalitions- und Regierungsbildung und vor allem darin, daß es ihnen nicht gelang, bei den Massen eine Identifikation mit dem Regime hervorzurufen. Abgesehen von der Sozialdemokratie, die wiederum Probleme damit hatte, ob sie sich an der Koalition mit bürgerlichen Parteien beteiligen solle oder nicht, formulierten sie keinerlei gesamtgesellschaftliche Ziele. Die Bedeutung des katholischen Glaubens für den Zusammenhalt des Zentrums problematisierte deren Verbindung mit der Sozialdemokratie. Die dritte Partei der Weimarer Koalition, die liberale Partei der deutschen Demokraten, die nur kurzzeitigen Erfolg verzeichnen konnte, endete in völliger Bedeutungslosigkeit. Es ist bezeichnend, daß die größten Aussichten darauf, eine Volkspartei zu werden, die Deutsche Nationale Partei hatte. Als Repräsentantin des nationalen protestantischen Konservatismus blieb sie den Idealen der Wilhelminischen Großmachtspolitik, den Prinzipien des Obrigkeitsstaates und der Ablehnung des Klassenkampfes treu. Im Jahr 1928 zerbrach an dem Problem, ob diese Partei eine Koalition mit der SPD eingehen solle, die große Koalition, die vergleichbar mit der breiten Koalition in der CSR war. Damit scheiterten auch die Versuche der DNVP, eine Volkspartei zu werden. Diese Situation wurde von Hitlers NSDAP ausgenutzt, Ihr Appell an das „antikapitalistische Sehnen der Massen" verband sich mit der Feindschaft gegenüber der kommunistischen und der sozialdemokratischen Partei, mit vulgärem Antisemitismus, exzessivem Nationalismus und Chauvinismus, mit der Feindschaft gegenüber der Demokratie und dem Kokettieren mit einem autoritären Ständestaat, dessen staatlich sozialistische Züge Erinnerungen an Bismarcks Traditionen wachriefen. Diese Vieldeutigkeit wirkte wie eine Anziehungskraft. Die Partei erklärte offen, daß sie den parlamentarischen Weg nur gehe, um das Parlament auszuschalten. In der Tschechoslowakei hätte eine Partei wie die NSDAP, die offen um die Liquidation des Parlamentes bemüht war, keinen Erfolg gehabt. Die tschechoslowakischen staatstragenden Parteien waren insgesamt fähig, die Gesellschaft in der Mehrheit ihrer Bedürfnisse anzusprechen. Wie erwähnt, die Wählerschaft war stabil innerhalb der Parteien verteilt. Die andere Seite war, daß dieses Volk nicht den Demagogen zuhörte und die extremistischen Parteien sehr schwach waren. Die KPTsch erreichte in den Wahlen das Niveau der Parteien der Mitte, nur bei ihrer ersten Teilnahme an der Wahl gelang es ihr, einen eindruckvolleren Anteil der Wähler (13 %) auf ihre Seite zu bringen und zur zweitgrößten politischen Partei zu werden. (In Deutschland war die KPD in

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drei Wahlen vor dem Machtantritt Hitlers die drittstärkste politische Partei bei einer beachtlichen Schwächung der Parteien der Mitte.) Einen großen Dienst leistete der tschechoslowakischen Demokratie der Agrarpolitiker Antonin Svehla, der nicht zögerte, eine Koalition mit sozialistischen Parteien einzugehen und der gegen den Willen des konservativen Flügels seiner Partei die Bodenreform durchsetzte. Er gründete somit eine Schicht zahlreiche kleinerer und mittlerer Landeigentümer, deren Mobilität mit dem demokratischen System verbunden war. (In Deutschland und sowie in Österreich wurde der Großgrundbesitz nicht zerschlagen.) Die Volkspartei wollte nicht nur als konfessionelle Partei fungieren und wandte sich an breitere Schichten. Die Anwesenheit der sozialistischen Parteien in den Koalitionen trug ebenfalls zum sozialen Frieden bei. Das Ausmaß der Kritik der Parteien in Deutschland, Österreich und in der Tschechoslowakei war unterschiedlich. In der Weimarer Republik gipfelte sie in der globalen Ablehnung des „Systems", wie die parlamentarische Demokratie verächtlich bezeichnet wurde. In der Tschechoslowakei begrenzte sie sich auf die pragmatisch empirische Forderung der Verringerung der Anzahl der Parteien und überschritt bis München nicht den Rahmen der Demokratie. Die negative Wertung der Parteien mit einem oligarchischen Aufbau galt so nur in der Beziehung zu den Wählern. Im Vergleich dazu wirkte der tschechoslowakische Staat nach außen hin als eine verantwortungsbewußte Zuordnung der politischen Parteien ihrer Mission im demokratischen System. Mit der Konzeption und der Stellung der politischen Parteien hing auch das Problem des Parteienstaates und des Staates mit den Parteien zusammen. In der Tschechoslowakei, in der der Parteienstaat in die hintersten Grenzen geführt wurde, waren die Parteipolitiker immer in der Lage, sich ohne Diktator zu einigen, und die Koalitionsbildung überließen sie niemals dem Zufall. Die Bemühungen um einen deutschen Staat jenseits Parteien lösten nicht die Probleme der Demokratie. Auch der Ursprung der politischen Eliten der Tschechoslowakei war unterschiedlich zu dem der Weimarer Republik. Die Mehrheit der Politiker beteiligte sich am Kampf für den Staat und die Demokratie, während in die deutschen bürgerlichen Parteien Politiker der Vorkriegszeit und kompromittierte Politiker zurückkehrten, die im besten Falle Demokratie als Notwendigkeit akzeptierten. Während sich über die tschechoslowakische Verfassung die nationale Koalition geeinigt hatte, trennten sich die zwei stärksten Parteien Österreichs gleich

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bei der Konzipierung der Verfassung. Die Weimarer Koalition, die die Verfassung gebildet hatte, zerfiel im Jahre 1920. Der Inhalt der österreichischen Revolution war am Anfang ambivalent, und es war ebenso unsicher, wer die Träger der Revolution sein sollten. Die Institutionen des alten Staates schienen unfähig und ohne Willen zur Tat zu sein, an erster Stelle stand die Armee. Die Bürokratie entsagte dem selbständigen Handeln und unterwarf sich so wie auch die Großwirtschaft dem Führungsanspruch der Parteien, allerdings nicht ohne den Versuch, dies gemeinsam zu bestimmen. Es war vielleicht verwunderlich, daß sich die Parteien leicht gegen ihre neuen Konkurrenten und - auch im Gegenteil zum zeitgenössischen Deutschland - gegen die Arbeiterräte durchsetzten. Die Gründe liegen offenkundig darin, daß sie durch den Krieg und die Auswirkungen des Krieges an der „inneren Front" weniger berührt waren als dies in Deutschland der Fall war. Dann wurden sie mittels des Manifestes vom 16. Oktober 1918 zur provisorischen Nationalversammlung, der zunächst einzigen neuen zentralen Institution überhaupt, einberufen. Als solche stellten sie sich nicht die Aufgabe, den „letzten Reserven" des alten Systems zu entsagen. Vor allem begriffen sie es als notwendige undankbare Rolle, den Exponenten des alten Regimes die Aufgabe zu überlassen, den Krieg mit dem Versuch eines Waffenstillstandes zu beenden. Damit machten sie sich selbst zum Träger der Revolutionierung und gleichzeitig Begrenzer der Revolution. Den parlamentarischen Parteien kam in der weiteren Entwicklung nicht zugute, daß sie nicht mehr untereinander, sondern eher mit Massenorganisationen konkurrierten. In den Ländern und Gemeinden stellten die Parteien noch ein weitreichendes Versprechen für die Zukunft dar. Das vom Zensus und von der Kurie beschränkte Wahlrecht hinderte die Massenparteien des Reichsrates meist bis zum Jahre 1918, die Institutionen zu beherrschen. So kam es dazu, daß in den Ländern und Gemeinden politisch-soziale Unruhen und Meinungsverschiedenheit vorherrschten. Ungünstig wirkte, daß die Sozialdemokratie ihrer politischen Rolle in der Regierung entsagte. Otto Bauer begründete dies damals „mit dem Gleichgewicht der Klassenkräfte" der Bourgeoisie und des Proletariats, das immer in Österreich geherrscht habe. Renner sah unzweifelhaft schon damals, das sich nicht nur zeitweise taktisch anbietende, in Österreich langfristig erwünschte Konzept, die Regierung aus politischen Vertretern aller Klassen und Parteien zu bilden. Die Sozialdemokratie unternahm keinen Versuch, eine Regierung der Mehrheit zu bilden. Die Probleme, die die österreichische Gesellschaft zu lösen hatte, trugen nicht zur Erhöhung des Vertrauens der Bevölkerung in die Demo-

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kratie bei. Auf dem Treffen der Heimwehr in Korneuburg bei Wien wurden die Demokratie und der Parlamentarismus abgelehnt, und es wurde das Verlangen nach einer autoritativen Selbstverwaltung ausgedrückt. Die Krise des Parlamentarismus gipfelte am 7. März 1933 im Umsturz. Die am gleichen Tag veröffentlichte Bekanntmachung betonte, daß die Parlamentskrise keine Krise des Staates sei. Am 1. Mai 1934 ging durch eine Verfassungsreform sämtliche Macht in die Hände der Bundesregierung über. Nach Ermordung des Kanzlers Dollfuß hatte Kanzler Schuschnigg keinerlei Mittel zur Erneuerung der Demokratie in Österreich mehr in der Hand. 13. Die politische Kultur: Die Analyse hat gezeigt, daß allein durch die Institutionen nicht apriori die Entwicklung des demokratischen Systems gegeben ist. Die Lösung des Problems muß deshalb an anderer Stelle gesucht werden, im Verhalten der Menschen, in ihren Haltungen und Gewohnheiten, die die Fähigkeit der Menschen, sich zu regieren, bestimmen. Dies ist die politische Kultur, von deren Entwicklung die gesunde Demokratie meist abhängig ist. Dem deutschen Politologen Kurt Sontheimer nach beruht die funktionfähige Demokratie auf der Übereinstimmung mit den grundlegenden Prinzipien der Verfassungsordnung des Lebens im Staate.16 In unserem Kontext ist Sontheimers Zustimmung Voraussetzung einer erfolgreichen Demokratie, wenn auch nicht die Garantie ihres Erfolgs. Eine bedeutende Quelle für die Entwicklung der politischen Kultur des deutschen Volkes wurde der Erste Weltkrieg. Es war das erste gemeinsame Erlebnis des deutschen Volkes im vereinigten Reich. Manchmal wird es sogar als die Zeit der Geburt des deutschen Volkes bezeichnet. („Wir mußten den Krieg verlieren, um die Nation zu gewinnen." 17 ) Auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges entstand somit der Nationalismus der Weimarer Republik. Die Frustration der Niederlage, die eine dramatische Reihe erfolgloser radikal sozialistischer Ausbrüche zur Folge hatte, wurde am Ende in die Sehnsucht nach Vergeltung manipuliert. Ihr politischer Inhalt waren Lustlosigkeit und Mißtrauen gegenüber Demokratie, denn die Sieger im Krieg waren die demokratischen Mächte. Und die Niederlage Deutschlands im Krieg trug nicht zur Entstehung positiver Gefühle des deutschen Volkes in bezug auf die Demokratie bei. Das tschechische Erlebnis war ein anderes. In der tschechischen Gesellschaft verstärkte der Krieg die demokratischen Werte. Den Tschechen bot sich als Ergebnis des Krieges der gerechte Sieg der demokratischen Ordnungen. Die 16

Kurt Sontheimer. Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1992, S.

13. 17

Ibid., S. 100.

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Zusammengehörigkeit zum Siegeslager induzierte die Zugehörigkeit zur Demokratie, womit eines der wichtigsten Ereignisse der historischen staatlichen Entwicklung verbunden war - die Entstehung bzw. Erneuerung des souveränen Staates. Die tschechische Nation konnte sich nach vielen Jahrzehnten mit dem Staat, an dessen Entstehung sie mitgewirkt hatte, identifizieren. Die Bildung der Tschechoslowakei gehörte ursprünglich nicht zu den Zielen der Entente. Dies wurde erst von Vertretern des ausländischen Widerstandes mit Unterstützung der Militärkraft der tschechoslowakischen Legionen bei der allgemeinen günstigen Situation erreicht, die die für Europa typische Forderung der Befreiung von der Fremdherrschaft um ein der amerikanischen Tradition der Unabhängigkeitserklärung antwortendes Programm ergänzte. Für die Tschechen stellte das Jahr 1918 den Höhepunkt der Geschichte der Neuzeit und die Satisfaktion der Schlacht am Weißen Berg dar. Der Demokratie in der tschechischen Gesellschaft stellten sich keine Vorurteile und keine im Bewußtsein der Menschen verankerten Zustände entgegen. Die Demokratie ist laut Masaryk „keine nur staatliche und administrative Form, sondern eine Ansicht des Lebens und der Welt". 1 8 Die Weimarer Republik war nur eine Staats- und keine Lebensform. Von Anfang an war sie einem wirksamen Druck der antidemokratischen Kräfte ausgesetzt. Diese traten unter gleichen oder ähnlichen Losungen auf, mit denen 12 Jahre später Hitlers Abteilungen die Republik vernichteten. Schon damals konstruierten die rechtsradikalen Fanatiker die angebliche „semitische Weltverschwörung", die mit „heimtückischen Intrigen" im November 1918 der „unbesiegbaren" deutschen Armee den Dolch in den Rücken stach. (Die Dolchstoßlegende der Nachkriegszeit war in Deutschland nichts Neues. Es handelte sich hierbei um eine 400 Jahre alte Tradition.) Diese Ansicht teilte allerdings auch Friedrich Ebert. Die Kritik der politischen Parteien und ihrer Mehrheit wurde unter der Losung des „politischen Absolutismus" geführt. Die antiliberalen und die antidemokratischen Elemente in der politischen Kultur der Weimarer Republik erhielten eine dominierende Position, unterstützten stark den Aufstieg Hitlers und seiner nationalsozialistischen Massenbewegung. Das Hauptproblem der politischen Kultur der Weimarer Zeit ist in den kritisch-skeptischen Haltungen der Bürger, der politischen und sozialen Organisationen dem politischen System gegenüber zu sehen. Hitler und seine Anhänger nutzten die institutionelle Schwäche der Demokratie. Die Weltwirtschaftskrise kam ihnen ebenfalls zustatten, auch wenn die wirkliche Bedeutung des sozioökonomischen Faktors geringer als bisher ge18

T.G. Masaryk: Weltrevolution, Prag 1925, S. 559.

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meint war. Die ausländischen Kredite waren höher als die Reparationen, die aber trotzdem im Wege standen. Die kurze Lebensdauer der Regierungen, die unzureichende Bindekraft der Koalitionen und die Fluktuation der Anschauungen der Wähler erweckten kein Vertrauen in die Wirksamkeit und die Macht des parlamentarischen Regierungssystems. Politik erschien als absurdes Spiel innerhalb der Kräfte, welches weder dem Staat noch den Bürgern von Nutzen war. Am Anfang begrüßte eine kleine Gruppe begeisterter linker Intellektueller die Republik. Vieles von dem, was diese zum Aufbau eines demokratischen Lebens als notwendig erachteten, wurde allerdings nicht realisiert. Aus den Reihen der Intellektuellen wurden enttäuschte Kritiker des Systems, die zwischen den Rechten und der linken Avantgarde aufgeteilt waren. Sie maßen das System immer noch mit erhebenden demokratischen und zwar utopischen Idealen. Sie waren nicht in der Lage, eine konstruktive Politik zu erdenken, die das Unglück hätte abwenden können. Anders war das in der Tschechoslowakei: die Verbundenheit des überwiegenden Teils der damaligen tschechischen Intellektuellen und der Demokratie ist ausreichend bekannt. Die abwertende Bezeichnung für das Parlament (Quatschbude) stammt nicht aus der Republik, sondern aus Zeiten der Demokratisierung der Monarchie. In der Forschung über Österreich existiert ein weitgehender Konsens darüber, daß der Ausgangspunkt für die Etablierung des autoritären Staates im Jahre 1934 nicht das Ende der Tätigkeit des Nationalrates war, sondern die Wurzeln in tieferen ideologischen, ökonomischen und politischen Prozessen der vorhergehenden Jahre zu suchen sind. Das Verständnis der Einwohner Österreichs für die Demokratie wurde nicht von dem Umstand unterstützt, daß der neue Staat kein Ergebnis des Kampfes, sondern ein historischer Fatalismus, ein Reststaat, war. Es kam nicht zum Versenken der Demokratie in die nationalen Aufgaben und Anforderungen. Damit wurde nicht die Voraussetzung für die Bildung eines für die Demokratie notwendigen Konsens geschaffen. Die demokratische Ordnung war nicht das Ergebnis des Respektes den demokratischen Prinzipien gegenüber, sondern war durch die Furcht vor der Verantwortung durch die politischen Parteien und die Überzeugung, daß die eigenen Ambitionen besser unter dem Schutz der Demokratie gesichert werden können, gegeben. Ein Teil der Gesellschaft konnte sich noch nicht einmal mit dem republikanischen Charakter des neuen Staates versöhnen. Dies alles waren keine Voraussetzungen für ein stabiles und funktionsfähiges demokratisches System.

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Die Krise der Demokratie ist vor allem eine Krise des Glaubens in die Demokratie. In Staaten mit einer überwiegend demokratischen politischen Kultur ist es nicht zur Einführung autoritativer und totalitärer Regime gekommen.

Bedingungen und Voraussetzungen für Reformpolitik in CSSR und DDR vor dem „Prager Frühling 44 Von Ralf Kessler

In den 60er Jahren fanden in einigen Staaten des Ostblocks Versuche statt, auf dem Wege von Reformen die starren stalinistischen Strukturen zu lockern und Wege zu einer attraktiveren und leistungsfähigeren Gesellschaft zu erschließen. Die kommunistische Gesellschaftskonzeption und Ideologie schien sich mit dem Reformgedanken zu verbinden. Erfolg oder Mißerfolg einer solchen Fusion sollten längerfristig entscheidend für das Schicksal des kommunistischen Systems insgesamt werden. Der „Prager Frühling" war zweifellos in dieser Zeit der weitestgehende Versuch einer derartigen Entwicklung. Die Weichenstellung dafür erfolgte lange vor 1968. Erst ein Blick auf die vorhergehenden Jahre macht verständlich, warum das Präger Reformexperiment einzigartig blieb. Dazu bedarf es des Vergleichs der tSSR mit anderen Ostblockländern, wofür sich (neben Ungarn) in den 60er Jahren vor allem die DDR anzubieten scheint. Allerdings: „Der Vergleich der DDR mit den realsozialistischen Nachbarländern steht sozialgeschichtlich leider noch ganz am Anfang." 1 Diese Feststellung Jürgen Kockas gilt unzweifelhaft auch für die Periode vor dem „Prager Frühling", wobei selbst hinsichtlich der Geschichte einzelner Länder - in diesem Falle von DDR und CSSR - noch erhebliche Forschungslücken zu schließen sind. Folglich kann es sich hier auch nur um eine erste Annäherung an dieses Problem handeln, wobei die CSSR im Mittelpunkt stehen und die DDR als Vergleichsfolie dienen soll. Der vorliegende Beitrag stützt sich neben der Standardliteratur 2 vor allem auf einen Aktenbestand im zentralen SED-Archiv, in dem 1

J. Kocka: Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR, in: Ders.: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S.118. 2

Zur Standardliteratur für die Zeit vor 1968 in der CSSR zählt bis heute neben dem einleitenden Kapitel bei H.G. Skilling: Czechoslovakia's Interrupted Revolution, Princeton 1976, S. 45ff. vor allem G. Golan: The Czechoslovak Reform Movement: Communism in Crisis, 1962-1968, Cambridge 1971. Ideengeschichtlich relevant ist außerdem V.V. Kusin: The Intellectual Origins of the

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seit 1962/63 Material über die Lage in der ÔSSR gesammelt wurde. Er enthält Berichte aus dem Delegationsaustausch zwischen beiden Ländern und ihren kommunistischen Parteien, Informationen von Einzelpersonen, die aus beruflichen Gründen die CSSR besuchten, sowie vor allem eine Vielzahl von Berichten der DDR-Botschaft in Prag und dort akkreditierter Journalisten. Quellenspezifisch erschließen sich dabei unterschiedliche Entwicklungen in beiden Staaten vor allem über die gegenseitige Wahrnehmung. Zudem enthält dieser Aktenbestand aber auch eine Fülle von Informationen, die den gegenwärtigen Forschungsstand bereichern können. Sieht man die Literatur zur Geschichte beider Staaten in den 60er Jahren durch, stößt man früher oder später auf das Phänomen, daß die DDR, die als einer der ersten Staaten des Ostblocks in den 60er Jahren wirtschaftliche Reformen eingeleitet hatte, im Jahr 1968 schließlich auf Seiten derer stand, die in ihrem Nachbarland das dort stattfindende Reformprojekt zerschlugen, damit zugleich ihr eigenes Reformmodell vorverurteilte, das dann zwei Jahre später beerdigt wurde. 3 Man kann die Konstellation des Jahres 1968 sicherlich mit der besonderen außen- und deutschlandpolitischen Situation erklären, in der sich die DDR befand. Allerdings beantwortet dies allein kaum die Frage nach den Ursachen für eine solch unterschiedliche Entwicklung. Vielmehr scheint dazu ein Blick auf die Zeit vor 1968 notwendig - also auf jene Periode, die man für die tSSR mit Begriffen wie „Niedergang des Stalinismus",4 „Tauwetter" 5 oder „Vorabend des Träger Frühlings" 6 betitelt und für die DDR vor allem mit dem „Neuen Ökonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" in Verbindung bringt. Die massiven öffentlichen Angriffe der SED auf bestimmte Erscheinungen in der CSSR seit der Kafka-Konferenz des Jahres 1963 deuten an, daß bereits damals die Entwicklungen auseinander zu laufen begannen. Die SED polemisierte dabei nicht nur gegen „mißliebige" Meinungsäußerungen tschechoslowaPrague Spring, Cambridge 1971. Die bisher ausgewertete neuere deutsche, tschechische und slowakische Literatur konzentriert sich vor allem auf die Zeit ab 1967 bis zur „Normalisierung" und widmet der vorhergehenden Zeit in der Regel nur kurze einführende Bemerkungen. 3 Vgl. S. Bollinger. Die DDR kann nicht über Stalins Schatten springen. Reformen im Kalten Krieg - SED zwischen NÖS und Präger Frühling (hefte zur ddr-geschichte, Nr. 5), Berlin 1993, S.7. 4

Shilling, S.45.

3 J.K. Hoensch: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1992, S.441. 6

P. Machonin : Sociâlni struktura Ceskoslovenska ν pfedveèer Prazského jara 1968, Praha 1992.

Reformpolitik in CSSR und DDR

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kischer Intellektueller, die man der ideologischen Dissidenz bezichtigte, sondern letztlich auch gegen die dortige Parteipolitik. Horst Sindermann hatte auf dem 5. Plenum des ZK der SED im Februar 1964 sogar die Prinzipientreue der Partei des Antonin Novotny angezweifelt, als er zum Abschluß seiner an die Adresse Prags gerichteten Philippika bemerkte: Eine Partei, die fest auf dem Boden des Marxismus-Leninismus stehe, lasse sich „keine faulen Eier ins Nest legen". 7 Die Permanenz solcher ideologischer Attacken weist auf divergierende gesellschaftspolitische Auffassungen hin und läßt zugleich nach unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen für Reformen und damit nach Grenzen und Handlungsspielräumen in beiden Diktaturen fragen. Wenn man beide Länder vergleicht, fällt zunächst eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Sie waren über Jahrhunderte (jedes auf sehr spezifische Art) in die westliche Geschichte und Tradition eingebunden. Ihr politisches System war (nach sehr ungleichen Startbedingungen im Jahre 1945) in wesentlichen Zügen gleichartig und wurde von kommunistischen Parteien geführt, die - als einzige im Ostblock - schon in der Zwischenkriegszeit lange unter legalen Bedingungen agieren konnten. Diese hatten die Sowjetisierung ihrer Länder realisiert, die stalinistischen Repressionen der frühen 50er Jahre (mit unterschiedlich scharfen Konsequenzen) mitgetragen und später ein Minimum an formaler Entstalinisierungspolitik betrieben. Als ökonomisch am weitesten entwickelte Länder des Ostblocks auf ähnlichem Niveau waren sie am Beginn der 60er Jahre mit tiefgreifenden wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, denen zunächst die DDR, später auch die CSSR, mit ökonomischen Reformen zu begegnen suchten, die ähnliche Züge aufwiesen. In beiden Staaten herrschten Massenparteien, in denen sich die Spannungen und Konflikte der Gesellschaft reflektierten; es dominierte, wie das für die DDR bezeichnet worden ist, der penetrative Herrschaftsmodus.8 Auch die Sozialstruktur beider Gesellschaften wies erhebliche Gemeinsamkeiten auf. Vieles, was man dazu in soziologischen Studien über die damalige Tschechoslowakei liest, ließe sich auch für die DDR feststellen: Es bestand eine hochgradige strukturelle Entdifferenzierung, wobei die Nivellierung in der 7

Neues Deutschland v. 13.2.1964.

8 Für die DDR vgl.: R. Bessel/R. Jessen: Einleitung: Die Grenzen der Diktatur, in: Dies.: Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996, S.15; für die CSSR vgl. vor allem Machonin, u.a. S.114. Vojtéch Mencl spricht von einer „nach dem Egalisierungsprinzip aufgebaute(n) Gesellschaft einer 'maximal dimensionierten Mittelschicht', die die erste Etappe der Konsumrevolution durchmachte, im Vergleich zum damaligen westeuropäischen Stand allerdings mit wesentlicher Verspätung. Es war also eine Gesellschaft ohne soziale Konflikte, die nicht zu revolutionärem Handeln in dramatischer Form neigte, dabei aber nach Möglichkeit suchte, Raum für die sich verstärkende Pluralität der Interessen zu schaffen." - V. Mencl: Die Unterdrückung des „Präger Frühlings" im Lichte der neuesten Archivforschungen, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 1995, Berlin 1995, S.14.

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CSSR infolge der weitergehenden Verstaatlichungspolitik noch erheblich stärker war als in der DDR. 9 Unter der Oberfläche bestand hier wie dort eine Vielzahl unterschiedlichster Bedürfnisse und Interessen, Differenzierungen und latenter Protestpotentiale und natürlich auch sozialer „Nischen". Die Behauptung Pavel Machonins, daß die Bevölkerung der ÔSSR vor 1968 teilweise auch subjektiv für den „Prager Frühling" vorbereitet gewesen sei, wird man für die DDR-Gesellschaft wohl schwerlich belegen können, nicht zuletzt, weil es eben keinen „Ostberliner Frühling" gab. 10 Selbst wenn man an dieser Stelle wichtige Unterschiede zunächst ausgeklammert, provoziert diese Auflistung von Gemeinsamkeiten die Behauptung, daß die Entwicklung und der innere Zustand der Gesellschaften eine wesentliche Voraussetzung, nicht aber unbedingt eine ausreichende Bedingung für Reformen bzw. für ihr jeweils unterschiedliches Ausmaß in beiden kommunistischen Diktaturen war. I . Divergierende Entwicklungen am Anfang der 60er Jahre Die meisten Darstellungen über die Vorgeschichte des „Prager Frühlings" setzen am Beginn der 60er Jahre an. Jörg Hoensch hat einmal im Zusammenhang mit den beginnenden Rehabilitierungen stalinistischer Opfer in der CSSR von einer an Dynamik gewinnenden „Revisionslawine" gesprochen. 11 Das Bild der „Lawine" scheint generell wichtig für das Verständnis der dort ablaufenden Prozesse. Zunächst muß aber gefragt werden, was der Stein des Anstoßes war, der diese Lawine ins Rollen brachte, weil hier die Unterschiede zur Entwicklung in der DDR beginnen relevant zu werden. Während die SED am Anfang der 60er Jahre begann, einen Legitimationsersatz für den „antifaschistisch-demokratischen Wiederaufbau" zu suchen und ihn in der wissenschaftlich-technischen Revolution fand, verstand sie es dennoch machtpolitische Kontinuität zu wahren. Dazu trug neben dem Mauerbau auch die offenbar durch die UdSSR tolerierte Absage an jede Debatte über die Zeit des „Personenkults" bei. Fehlerdiskussionen, so betonte Ulbricht machtpolitisch vorsichtig immer wieder, würden „nur vom weiteren Vormarsch ab-

9 Nach wirtschaftshistorischen Untersuchungen „hatte die tschechoslowakische Gesellschaft 1967 die weitreichendste Nivellierung aller mittel- und osteuropäischen Planökonomien, inklusive der UdSSR, erreicht". - A. Teichova: Wirtschaftsgeschichte der Tschechoslowakei 1918-1980, Wien/ Köln/ Graz 1988, S.94. 10

Vgl. Machonin, S.115. oensh,

.

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halten". 12 Der SED ging es in erster Linie um eine stabile wirtschaftliche Entwicklung im Zeichen des „Neuen Ökonomischen Systems". Zwar wurde im Umfeld des VI. SED-Parteitages vom Januar 1963 eine Reihe von Veränderungen eingeleitet, die demokratische Hoffnungen in bestimmtem Umfang beförderten. 13 Wer aber - etwa nach dem Jugendkommuniqué vom September 1963 eine gesellschaftspolitische Liberalisierung erwartete, brauchte eigentlich nur SED-Stellungnahmen zur kulturpolitischen Entwicklung in der tSSR zu lesen, um eines Besseren belehrt zu werden. Das 11. SED-Plenum vom Dezember 1965 setzte allen Hoffnungen auf kulturelle Vielfalt jenseits des „sozialistischen Realismus" und kulturpolitische Liberalisierung ein jähes Ende. 14 In Moskau bemerkte Ulbricht wenig später: „Wenn in Westdeutschland einige Künstler dem Skeptizismus huldigen, bitte, sollen sie den Kapitalismus zersetzen, wie sie können. Aber in der DDR können wir das nicht vertragen. Der Skeptizismus, die Propaganda der Entfremdung senken die Arbeitsproduktivität." 15 Dieses Credo des technokratischen Wirtschaftsreformers implizierte die abstrichlose Aufrechterhaltung der „ideologischen Führungsrolle" der Partei. Damals gängige Begriffe wie „sozialistische Demokratie", „sozialistischer Rechtsstaat" usw. blieben im Vergleich dazu (ungeachtet einiger gesetzlicher Neuregelungen) bloße Worthülsen. In der CSSR war das etwas anders. Den Stein des Anstoßes dafür lieferten paradoxerweise Parteibeschlüsse. Die K P t , die am Anfang der 60er Jahre mit enormen wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert war, geriet in den Strudel der problembehafteten Orientierungen, die aus Chruschtschows Sowjetunion herüberkamen. Darauf wird zurückzukommen sein. Wichtig ist hier zunächst, daß im Umfeld des 12. Parteitages der KPC vom Dezember 1962 die längst überfälligen Rehabilitierungen stalinistisch Verfolgter eingeleitet wurden und eine zögerliche Aufarbeitung der 50er Jahre begann. Damit ging die KPC, wohl nicht ohne sowjetischen Druck, einen wesentlichen Schritt weiter als die SED. Die Ergebnisse versuchte man zwar nur innerparteilich bekanntzuma12

So Ulbricht auf dem 9. Plenum des ZK der SED im April 1965 - Neues Deutschland v. 28.4.1965. 13 Vgl. D. Eckert: Die abgebrochene Demokratisierung. Das 11. ZK-Plenum vom Dezember 1965 - ein Kulturplenum?, in: Brüche, Krisen, Wendepunkte. Neubefragung von DDR-Geschichte, Leipzig/Jena/Berlin 1990, S.209ff. 14

Vgl. auch G. Agde (Hrsg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente, Berlin 1991. 15

Niederschrift über die Aussprache der Delegation des ZK der SED mit der Delegation des ZK der Kommunistischen Partei Italiens in Moskau am 6.4.1966, S.9, in: SAPMO-BA DY 30/J IV 2/201/732. 10 Timmermann / Gruner

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chen, und die Rehabilitierungen selbst blieben zunächst ausgesprochen halbherzig. Gerade damit aber öffnete man die „Büchse der Pandora". Der parteiintern verlesene erste Bericht des ZK über die Auswirkungen des „Personenkults" stieß angesichts seiner Inkonsequenz in der KPC auf wachsendes Mißtrauen. Er blieb auch kein Geheimnis, wohl gerade deshalb, weil auch die großen Prozesse der 50er Jahre mit ihren Todesurteilen in aller Öffentlichkeit ausgetragen worden waren und die in die Hunderttausende gehende Zahl der anderen Repressierten allzu offensichtlich die Gesellschaft belasteten.16 Zu einer öffentlichen Debatte aber kam es, weil die Prager Parteiführung eine Grenze ihrer Macht in der Vergangenheit nicht genügend beachtet hatte und das war die slowakische Frage. In der Slowakei bestand, nicht zuletzt infolge fehlender politischer Partizipationsmöglichkeiten, stets ein latentes und nie völlig beherrschbares Spannungspotential, das durch die Beseitigung föderalistischer Restbestände in der Verfassung von 1960 neuerlich verschärft worden war. Zudem hatte der letzte große Schauprozeß gegen den „slowakischen bürgerlichen Nationalismus" stattgefunden - und zwar nach Stalins Tod und als Novotny schon Erster Sekretär der KPC war. Das gab der Diskussion über Vergangenheit sofort einen brisanten Gegenwartsbezug und beförderte gerade in der Slowakei, wo seit 1963 Dubcek als Erster Sekretär amtierte, die Notwendigkeit zu einer offeneren Auseinandersetzung. In der slowakischen KP - so berichtete die DDR-Botschaft - habe man den Beschluß nicht als geheime Verschlußsache behandelt, sondern darauf orientiert, „alle Werktätigen mit positiver Einstellung zum sozialistischen Aufbau" damit vertraut zu machen.17 Außerdem wurden entsprechende Artikel in Kulturzeitschriften, aber auch in der Parteizeitung „Pravda" zugelassen und die Debatte um den „Personenkult" so an die Öffentlichkeit gebracht. 18 Die nun einsetzende und von der Prager Parteizentrale nicht beabsichtigte, aber auch nicht konsequent unterbundene Stalinismus-Debatte griff sofort auf den tschechischen Landesteil über. Damit kam die „Lawine" ins Rollen. Sie 16 Die Gesamtzahl der Opfer politischer Prozesse, der Internierten und Zwangsarbeiter sowie der aus religiösen Gründen diskriminierten Personen in der Tschechoslowakei wird auf mehr als zwei Millionen geschätzt. - Vgl. J. Pauer. Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes. Hintergründe - Planung - Durchführung, Bremen 1995, S.18. 17

Botschaft Prag: Einige Ergänzungen zu den Fragen des Personenkults, die auf dem Plenum des ZK am 3. und 4.4.63 behandelt wurden entsprechend einer Information des Genossen Bringmann, Generalkonsul in Bratislava, 21.4.1963, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/392. 18 Die Annahme, daß die fast gleichzeitig in der Presse des tschechischen und slowakischen Landesteils beginnende Beschäftigung mit dem „Personenkult" nicht ohne Unterstützung aus höchsten Parteikreisen erfolgt sein kann, scheint plausibel, läßt sich aber aus den SED-Quellen nicht eindeutig belegen. - Vgl. Golan , S.22.

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verursachte einen Riß in der Universalität der Herrschaft der KPt-Führung. Jenes Jahr 1963 war vielleicht der entscheidende Unterschied im Vergleich zur DDR, und in gewisser Hinsicht der Beginn der Entwicklung zum Jahre 1968 hin. 1 9 Π . Intellektuellendiskurse und die Entstehung zivilgesellschaftlich orientierter Öffentlichkeiten Aus diesem Riß heraus entstanden Teilöffentlichkeiten, 20 die wesentliche Kreise der geistigen und künstlerischen Intelligenz in beiden Hauptstädten einschlossen und über deren Verbände sowie Teile der Presse gesamtgesellschaftliche Ausstrahlungskraft bekamen. Die Diskussionen nahmen sofort eine thematische Breite an, die weit über das Problem des Stalinismus hinausreichte: es ging um Kultur und künstlerische, also letztlich bürgerliche Freiheiten, um wirtschaftliche Reformen und um die Perspektiven der tschechoslowakischen Gesellschaft. 21 Nicht unwesentlich für das Entstehen dieser Diskurse und ihre Weiterführung war eine Tendenz zur bürgerlichen Emanzipation vom angemaßten Meinungsmonopol der Parteiführung. Da die meisten Akteure Parteimitglieder waren äußerte sie sich in permanenten Verstößen gegen die leninistischen Prinzipien der Parteidisziplin. Die KPC habe klare Perspektiven ausgegeben, meinte im April 1963 der DDR-Botschafter zurückhaltend und durchaus verallgemeinerungswürdig „ W i r haben jedoch den Eindruck, daß diese in der Praxis noch nicht zur Anwendung gekommen sind." 2 2 Einige Monate später hieß es dann deutlicher: „Die zahlreichen Aussprachen, die zwischen führenden Genossen der Partei und bekannten Künstlern und Wissenschaftlern stattgefunden haben, ... haben sich in den Kreisen der Intelligenz und der Künstler kaum ausgewirkt. Die Vertrauensbasis ist in der Intelligenz nach wie vor schwach. Die Vergangenheit spielt dabei eine große Rolle. Es wird nachgerechnet, was jeder Funktionär zur 19 Vgl. V. Kural : Historickè zâzemi èeskoslovenské reformy 1968, in: Ceskoslovensko roku 1968. 1. dfl: obrodny procès, Prag 1993, S.ll. 20 Zur Problematik des Begriffes „Öffentlichkeit" für Ostblockstaaten vgl. M. Sukost: From Propaganda to „Öffentlichkeit" in Eastern Europe. Four Models of Public Space under State Socialism, in: Praxis International, 10, 1990, S.39-63. 21 Diese Entwicklung ist in der Literatur stark verkürzt als „Aufstand der Intellektuellen" bezeichnet worden, scheint bisher aber diskursanalytisch kaum untersucht. - Golan , S.22. 22 Botschaft Prag: Einschätzung der Rede des 1. Sekretärs des ZK der KPÔ, Gen. Novotny, am 21.3.1963 in Ostrava, 3.4.1963, S.l, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/392.

10*

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Zeit des Personenkults gemacht, gesagt und geschrieben hat." 2 3 Diese Insubordination fand in unterschiedlichsten Formen statt: Auf den Kongressen der Künstlerverbände wurden die Reden führender Parteifunktionäre ignoriert. Vom stürmisch verlaufenden Kongreß des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes im April 1963 etwa vermeldete die DDR-Botschaft: die Rede des für Kultur verantwortlichen ZK-Sekretärs sei „mit viel Beifall aufgenommen (worden), hat aber der Diskussion insgesamt keinen anderen Verlauf gegeben" . 2 4 Im gleichen Jahr wurde von einem Fall massierter öffentlicher Verweigerung berichtet: Auf einem öffentlichen Kolloquium zu Kulturfragen in Prag, das etwa 3.000 Studenten und Intellektuelle besuchten, wurde der Hauptreferent, der mit primitivstem klassenkämpferischen Vokabular gegen moderne Kunstströmungen polemisierte, immer wieder durch demonstratives Klatschen unterbrochen. Er sei dadurch endgültig am Weiterreden gehindert worden, als er „nachweisen" wollte, „daß die gleiche Ideologie, die die abstrakte Kunst hervorbringe, auch verantwortlich sei für die Erschießung der Kommunisten jetzt im Irak". 2 5 Zugleich zeichnete sich eine Tendenz der institutionellen Verselbständigung gesellschaftlicher Subsysteme vom Herrschaftsanspruch der Partei ab. Aus den Autonomiebestrebungen der Redaktionen diverser Kulturzeitschriften resultierte eine Vielzahl von kritischen Artikeln zur Parteipolitik. Das Pendant dazu bildeten die oft erfolgreichen Bemühungen der Künstlerverbände um eine unabhängige Wahl ihrer Vorstände. Über den Kongreß der bildenden Künstler im Dezember 1964 erfuhr die DDR-Botschaft, daß die Parteiführung, unzufrieden mit der geringen ideologischen Aktivität der bisherigen Verbandsleitung, versucht habe, einen neuen Kandidaten für den Posten des Verbandsvorsitzenden durchzusetzen. „Schon am ersten Tage des Kongresses zeigte sich aber, daß die ideologischen Vorbereitungen ungenügend waren und ... es nicht gelingen würde, die Absichten der Partei zu realisieren." Das Ergebnis bezeichnete man im ZK der KPC als „Kompromiß". Der schließlich gewählte Vorsitzende sei „zwar ein Modernist", aber er „genieße internationales Ansehen und sei als guter Kom-

23 Botschaft Prag: Zu einigen Problemen der gegenwärtigen Situation in der CSSR, (undatiert, Juni 1964), S.4f., in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/398. 24 Botschaft Prag: Bericht über den Verlauf des IV. Kongresses des tschechoslowakischen Journalistenverbandes am 22. und 23. April 1963 in Prag unter besonderer Berücksichtigung des Auftretens der Vertreter der Kulturzeitschriften, Prag, 3.5.1963, S.3, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/397. 25

Botschaft Prag: Aktenvermerk über eine Unterredung im Ministerium für Schulwesen und Kultur am 26.3.1963, 26.3.1963, S.2, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/397.

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munist zu betrachten." Allerdings werde er „die Partei im Kampf gegen die Abstrakten und Modernisten kaum unterstützen". 26 Zumindest in der Tendenz war wohl richtig, was der Prager ADN-Korrespondent Anfang des Jahres 1965 über seine Erfahrungen in Intellektuellenund Künstlermilieus resümierte: In vielen Parteigruppen werde die Parteilinie „nur mangelhaft und ungenügend durchgeführt" ; zwischen den Beschlüssen der Partei und ihrer Realisierung bestehe „ein himmelweiter Unterschied". 27 Legt man Lenins Prinzipien des Parteiaufbaus als Kriterium zugrunde, begann 1963 gegen den Willen der KPC-Führung ein Prozeß der Abkehr vom Konzept der „Partei neuen Typus". Der Begriff des „demokratischen Zentralismus" erhielt in der Realität eine andere Bedeutung. Neben die zentralistische Parteistruktur traten Elemente einer demokratischen Meinungsbildung. Zugleich fand noch 1963 eine theoretische Grundsatzdiskussion über Parteidisziplin statt. Diese begann mit scheinbar ganz einfachen Fragen. So notierten DDR-Besucher, die an einer Parteiversammlung teilgenommen hatten, in der im Frühjahr 1963 der erste Brief des ZK über die Repressalien der 50er Jahre verlesen und der stellvertretende Ministerpräsident Viliam Siroky als einer der Hauptverantwortlichen benannt wurde, die Frage: „Es wird von schweren Fehlern des Gen. gesprochen, worin haben sie eigentlich bestanden?"28 Auf eine solche Frage gab es im Grunde nur zwei mögliche Antworten: Entweder man suchte die Fehler im System, oder man kam zu dem Schluß, daß die strikte Einhaltung der Parteidisziplin ein Fehler sein könne. Beide Wege wurden in der folgenden Zeit beschritten, wie hier nur an zwei Beispielen gezeigt werden soll: Für erhebliches Aufsehen sorgte damals die Rede des bekannten Journalisten Miroslav Hysko auf dem slowakischen Journalistenkongreß im Mai 1963. Hysko fragte dort nach der Verantwortung seines Berufsstandes für die Erscheinungen der 50er Jahre. Für die Journalisten leitete er daraus die Lehre ab, „daß der Journalist, genauso wie der Soldat, der nur solchen Befehlen folgen kann, die dem Gesetz nicht widersprechen, ... nur solche Richtlinien respektieren muß, die in keinem Widerspruch zu den grund-

26 Botschaft Prag: Die Entwicklung der ideologischen Situation auf dem Gebiet der Kunst und Literatur im Jahre 1964, 15.2.1965, S.10, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/399. 27

Abschrift. Informationsbericht des ADN-Korrespondenten in Prag, (undatiert, Anfang 1965), S.4, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/393. 28

Vgl.: Irma Werner, Redaktion „Neuer Weg": Information über eine Reise in die CSSR im Rahmen eines Redakteuraustausches zwischen dem Funktionärorgan des ZK der CSSR „2ivot Strany" und dem Organ des ZK der SED „Neuer Weg", S.9, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/387.

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sätzlichen Prinzipien der sozialistischen Moral stehen". 29 Und im Juni veröffentlichte die slowakische Parteizeitung „Pravda" den Artikel eines Kandidaten der historischen Wissenschaften namens V. Precan 30 unter dem Titel „Geschichte und Kult". Er forderte darin, die Beseitigung einer „Atmosphäre der Straflosigkeit beim Übernehmen 'offiziöser' Ansichten" und gebrauchte zur Analyse der Erscheinungen der 50er Jahre den Begriff des „Kultsystems" einen Begriff also, der viel tiefergehende Einsichten in systemimmanente Defekte ermöglichen konnte als der des „Personenkults". 31 Damit waren Fragen nach den Grenzen der Loyalität des Parteimitglieds zu seiner Parteiführung, des Bürgers zu seinem Staat zum Gegenstand öffentlicher Diskussion geworden. Zugleich enthielt die Debatte über Parteidisziplin Elemente eines Diskurses über Professionalität: Precan verlangte für die Historiographie „die Rückgabe ihres Platzes als wirklicher Lehrerin der heutigen und künftigen Generation" und die konsequente Anwendung der wissenschaftlichen Kritik bei der Wahrheitssuche.32 Hysko polemisierte gegen die Auffassung, wonach „die Aufgabe des Journalisten nur die Erweiterung und Begründung alles dessen ist, was ihm 'von oben' kommt". 3 3 Und schließlich deuten auch Bemerkungen, die die DDR-Vertreter von tschechoslowakischen Künstlern immer wieder in verschiedensten Variationen zu hören bekamen, auf eine tendenzielle Lossagung ihrer Profession von der Kontrolle durch die politisch herrschenden Laien: „Wer etwas von Kultur versteht..., braucht nicht die Partei als Vormund." 3 4 Wie die Debatte über Parteidisziplin bereits andeutet, begann ab 1963 ein zivilgesellschaftlich orientierter Ablösungsprozeß von zentralen Positionen der offiziellen Ideologie. Jan Pauer spricht mit Recht von zunehmenden „Desintegrationstendenzen des Marxismus in der t S S R " . 3 5 Ein Blick auf diesen ideologischen Aspekt scheint für das Verständnis der gesamten Entwicklung notwendig. 29

Pravda, Bratislava v. 3.6.1963, zit. nach der deutschen Übersetzung, S.15, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/392. 30

Vilém Preéan ist heute Direktor des Präger Instituts für Zeitgeschichte.

31 Pravda, Bratislava v. 6.6.1963 - zit. nach der deutschen Übersetzung, S.4,8, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/392. 32

Ibid., S.8.

33

Pravda v. 3.6.1963, ibid., S.2.

34 Informationsbericht unseres ADN-Korrespondenten in Prag, 21.2.1964, S.l, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/393. 35

Pauer, S.20.

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Diese „Desintegrationstendenzen" hatten mehrere Quellen, die zugleich auf unterschiedliche Handlungsspielräume in DDR und CSSR hinweisen. Pauer bezieht sich dabei auf die direkte Möglichkeit zur Rezeption moderner marxistischer und nichtmarxistischer Denkströmungen. Einige ihrer Protagonisten wie Garaudy und Sartre - hielten mit Duldung der Parteiführung Vorträge in Prag. Sie wurden als „Experten eines 'vom Dogma befreiten Denkens'" gefeiert. 36 Freud's Psychoanalyse wurde für den Marxismus entdeckt usw. Dies alles trug zur Aufweichung bestimmter Stereotype bei. Schnell kursierte die Idee einer „Renaissance des Marxismus", während zugleich die Debatte gegen das von Lenin entwickelte Konzept der Parteidisziplin unter Zuhilfenahme eines mystisch-glorifizierten Leninismus stattfand. Intellektuelle betonten unverblümt die Notwendigkeit einer friedlichen Koexistenz auf ideologischem Gebiet, ohne Rücksicht auf gegenteilige Positionen ihrer Parteiführung. 37 Eine solch unbefangene Rezeption westlicher Ideen war für die kommunistischen Intellektuellen der DDR schlechterdings unmöglich. Der „geteilte Himmel", den Christa Wolf beschrieb, setzte für derartige gedankliche Spielräume kaum überwindbare Grenzen - er war das Problem ihres Staates. Ulbricht erläuterte dieses Grunddilemma der DDR einmal in Moskau: „Wir sind in einem besonderen Land, wir haben sozusagen zwei Köpfe. Wir müssen gleichzeitig denken für die sozialistische Entwicklung der DDR und müssen uns mit der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Westdeutschland auseinandersetzen." 38 Die CSSR hatte hier größere Handlungsspielräume, aber auch für die K P t war die Westgrenze ein Problem. Denn die ideologischen „Desintegrationstendenzen" waren nicht nur Resultat einer bewußten Rezeption westlicher Denkmodelle, sondern in gewisser Weise auch Resultat der seit 1963/64 wesentlich erleichterten Reisemöglichkeiten aus der Tschechoslowakei ins westliche Ausland und umgekehrt. Die Informationen, die von der SED darüber mit besonderer Intensität gesammelt wurden, weisen darauf hin, daß dabei Denkprozesse im Gange kamen, die in ihrer Entwicklungsperspektive völlig offen waren und auch den Funktionärsapparat nicht unberührt ließen. So berichtete im Dezember 1966 eine Ostberliner Delegation über Gespräche mit Vertretern der Prager Stadtleitung des Tschechoslowakischen Jugendverbandes CSM. Die Prager Funktionäre begründeten dem Bericht zufolge am Beispiel der Bundesrepublik, 36 Botschaft Prag: Zu einigen Problemen der gegenwärtigen Situation in der CSSR, (undatiert, Juni 1964), S.6. 37 Vgl. u.a. Botschaft Prag: Bericht über den Filmcocktail mit ésl. Journalisten und Vertretern anderer Presseinstitutionen am 5.5.1963 in der Botschaft der DDR, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/397. 38

SAPMO-BA D Y 30/J IV 2/201/725, B1.10.

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daß die Marx*sehe Kapitalismusanalyse infolge der fortschreitenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung und der Herrschaft der Manager in wesentlichen Punkten überholt sei. Es gebe keine Ausbeutung mehr. Somit werde „in Westdeutschland der Sozialismus vorbereitet". Also gehe von dort auch keine Friedensgefährdung mehr aus. „Begründet wird das mit vielen Gesprächen, die mit westdeutschen Touristen geführt werden und aus Erfahrungen aus Reisen nach Westdeutschland."39 Einer der tschechischen Gesprächspartner war bezeichnenderweise der CSM-Sekretär für Agitation und Propaganda der Stadt Prag. Das Beispiel mag in dieser Konsequenz nicht repräsentativ sein, zeigt aber eine gewisse Tendenz: Es ging nicht nur um innere Zersetzungserscheinungen der kommunistischen Ideologie, sondern auch um Aufweichung bzw. Auflösung der dazugehörigen Feindbilder. Die Westgrenze war also auch hier zugleich eine Grenze der Diktatur, wobei in der CSSR (anders als in der DDR vor 1961) das Problem bestand, daß die in den Westen Reisenden in der Regel wiederkamen und ihre gewonnenen Eindrücke die Glaubwürdigkeit kommunistischer Dogmen reduzierten. 40 Gleichzeitig entstand in Gestalt der von der SED veranstalteten Polemik gegen die Diskussionen in der CSSR, die ziemlich einhellig als Einmischung in die inneren Angelegenheiten verurteilt wurde, quasi ein Ersatzfeindbild - das der dogmatischen DDR, die man gelegentlich mit dem offiziellen Feindbild China auf eine Stufe stellte. 41 Zu diesen ideologischen „Desintegrationstendenzen" trug schließlich auch die einsetzende Rückbesinnung auf die eigene Geschichte bei. Milan Kundera hat die Entwicklungen der 60er Jahre als Erhebung einer, nämlich seiner, Generation der 35/45-Jährigen, „gegen ihre eigene Jugend" bezeichnet. „Sie haben versucht, ihre eigene Tat einzufangen und zu zähmen, und es wäre ihnen beinahe gelungen. In den sechziger Jahren gewannen sie immer mehr Einfluß, und

39

SED-Bezirksleitung Berlin, Konrad Naumann, an ZK, Abteilung internationale Verbindungen, z.Hd. Paul Markowski, 21.12.1966, S.lf., in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/391. 40

Nach einer Analyse der DDR-Botschaft verzeichnete die ÔSSR 1964 fast 747.000 Besucher aus dem wesdichen Ausland, vor allem aus Österreich und der Bundesrepublik. Im gleichen Jahr, in dem die erleichterten Reisemöglichkeiten erstmals voll wirksam wurden, besuchten 124.000 CSSRBürger das westliche Ausland. Davon kehrten 1.600 nicht zurück; 3.000 weitere siedelten in die Bundesrepublik über. - Vgl. Botschaft Prag: Analyse über die Entwicklung des Reise- und Touristenverkehrs zwischen der DDR und der CSSR sowie der CSSR zu anderen, besonders zu den kapitalistischen Staaten, 15.5.1965, S.8, 17f., in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/399. 41

Aus der Fülle entsprechender Berichte vgl. z.B. Telegramm Genosse Everhartz: Tschechoslowakisches Echo auf Politbürobericht, 17.2.1964, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/388; Botschaft Prag: Bericht über den Filmcocktail mit ésl. Journalisten ..., 7.5.1963.

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Anfang 1968 besaßen sie fast das Sagen." 42 Vielleicht liegt ein Schlüssel für das Verständnis der Entwicklungen der 60er Jahre, die in der CSSR anders verliefen als in der DDR, gerade in den Biographien jener jüngeren tschechoslowakischen Kommunisten, die in den frühen 60er Jahren zu den Eliten gehörten. Sie kamen nicht wie ihre deutschen Altersgenossen aus der HJ-Generation, sondern waren in die erste Republik hineingeboren, hatten die NS-Zeit nicht als nationalsozialistischen Siegesrausch erlebt, sondern als Okkupation, das Jahr 1945 nicht als Zusammenbruch, sondern als Befreiung. Ihr Schlüsselerlebnis waren wohl die Jahre 1945-1948, jene limitierte Nachkriegsdemokratie, in der viele idealistisch gesinnte Intellektuelle Anhänger der Kommunisten wurden. Im Jahre 1945 - so Pavel Kohout 1967 - hätten die Deutschen und die Tschechen ihrer Generation sich „verpaßt". „Ihr Erbteil" - schrieb er damals an Günter Grass „war die Niederlage, unseres die Freiheit." Man sei 1945 „auf den Flügeln schönster Hoffnungen" nach oben gestiegen.43 Dagegen nahmen ihre ostdeutschen Altersgenossen quasi nahtlos das anerzogene „militärisch-exekutive Vorgehen" in ihre Nachkriegskarrieren mit, ohne je die Chance zur eigenen politischen Willensbildung zu empfinden. 44 Christa Wolf ließ damals eine etwa gleichaltrige literarische Heldin sagen: „Einmal nur ... möchte ich erfahren und sagen dürfen, wie es wirklich gewesen ist, unbeispielhaft und ohne Anspruch auf Verwendbarkeit." 45 Ein tschechischer Kommunist ihrer Generation hätte das so wohl nicht geschrieben, denn dieses „Einmal nur" hatte es für ihn anscheinend gegeben, zumindest in der Zeit bis 1948, für die Älteren wohl auch vor 1938. Und so findet man denn in den 60er Jahren häufig Reminiszenzen an diese Zeit des relativ demokratischen Sozialismus-Ansatzes nach dem Kriege. Der immer wieder auftauchende Begriff der Renaissance, obwohl auf den Marxismus bezogen, hatte dabei anscheinend eine ganz eigene Ambivalenz. In vielem deutet sich ein Denken in diesen historischen Parallelen an, nicht zuletzt in einem mystisch verklärten Bild von Leninismus und Sozialismus, das wiederum die Begeisterung für die junge Sowjetunion in Künstler- und Intellektuellen-

42

M. Kundera : Das Buch vom Lachen und Vergessen (suhrkamp taschenbuch 2288), 1994, S.

23f. 43 G. Grass/ P. Kohout: Briefe über die Grenze. Versuch eines Ost-West-Dialogs, Hamburg 1968, S.12. 44

L. Niethammer: Erfahrungen und Strukturen. Prolegomena zu einer Geschichte der Gesellschaft der DDR, in: Sozialgeschichte der DDR, hrsg. v. H. Kaelble/J. Kocka/ H. Zwahr, Stuttgart 1994, S.108. 45 C. Wolf: Nachdenken über Christa T., Berlin/Weimar 1975, S.51. Die erste Auflage des Buches wurde 1968 gedruckt.

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kreisen der ersten Republik und deren so vages wie vielschichtiges Sozialismusbild zu reflektieren scheint. Ganz deutlich wird eine solche Rückbesinnung in den SED-Akten da, wo auf die These vom Sonderweg und die traditionelle Brückenfunktion der Tschechoslowakei zwischen Ost und West Bezug genommen wird. So erklärte man etwa dem Prager ADN-Korrespondenten: „(Die) Diktatur des Proletariats ist vielleicht für die SU gut, aber nicht bei uns. Wir brauchen eine allseitige Demokratie. Die Tschechoslowakei neigte schon immer mehr zum Westen als zum Osten. Unsere Kultur und Traditionen waren immer mehr mit dem Westen verbunden." 46 Und als Mitarbeiter der DDR-Botschaft 1965 untersuchten, warum die kulturpolitischen Diskussionen in den westeuropäischen kommunistischen Parteien viel aufmerksamer verfolgt würden als die in der UdSSR, bekamen sie zu hören, „daß die Entwicklung der CSSR immer von Westeuropa beeinflußt wurde und daß gegenwärtig die geographische Lage der CSSR sie zur Brücke des sozialistischen Lagers mache. Die Zeit des Personenkults hätte diese natürlichen Verbindungen unterbrochen" , 4 7 Sozialismus also auch gedacht als Rückkehr zu einer idealisierten Normalität der Nachkriegszeit mit ihrer eingeschränkten Demokratie und Zivilgesellschaft - dies bezeichnete vielleicht eine (vorläufig?) bestehende Denkgrenze. Verschiedenste Einflüsse führten so zu einer tendenziellen Absage an das tradierte monolithische Weltbild und ließen ein polymorphes und vielfältig interpretierbares, fast pluralistisches Sozialismus-Bild entstehen, das auf unterschiedlichsten Wegen in die Partei hinein strahlte. Die Klage des Parteisekretärs für den Bezirk Südmähren aus dem Jahr 1964, daß jeder Partei-Lektor „den Marxismus-Leninismus auf seine eigene Art und Weise interpretiere", scheint durchaus symptomatisch.48 Ι Π . Führungs- und Legitimationskrise und Reformen „von oben" Allerdings erklärt allein der Blick auf die Intellektuellen-Diskurse noch nicht die Auseinanderentwicklung von DDR und CSSR in den 60er Jahren. Es hing nicht unwesentlich mit dem Innenzustand von Parteiführung und -apparat zusammen, daß solch ein für kommunistische Diktaturen immerhin ungewöhnli46

Abschrift. Informationsbericht des ADN-Korrespondenten in Prag, (undatiert, Anfang 1965), S.3. In vielen dieser Berichte werden, wie auch hier, nicht näher spezifizierte Personen zitiert. 47

Botschaft Prag: Die Entwicklung der ideologischen Situation auf dem Gebiet der Kunst und Literatur im Jahre 1964, S.10. 48 Botschaft Prag: Bericht über eine Dienstreise der Genossen Everhartz, Maiwald und Thost in den südmährischen Bezirk vom 7.-9.3.1964, 13.3.1964, S.5, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/398.

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ches Geschehen nicht sofort drastische Gegenmaßnahmen zur Folge hatte. Das DDR-Generalkonsulat in Bratislava hatte wohl recht, wenn es 1963 mit Blick auf die KPC-Führung feststellte: „Eine gewisse Unsicherheit, wie es weitergehen soll, hemmt die Partei bei der Mobilisierung der Bevölkerung. ... Anstatt offensiv zu werden, steht sie in der Verteidigung." 49 Den Hintergrund dafür lieferten die Chruschtschow*sehe Entstalinisierungspolitik, der sich die Novotny-Führung viel zu spät und nur sehr zögernd anschloß, und die Wirtschaftskrise im eigenen Land. Beides ließ das Vertrauen der Bevölkerung in die KPC-Fiihrung gegen Null gehen und griff auch auf den Partei- und Staatsapparat über. Die Lage, in der sich die Parteiführung befand, kann man wohl als Führungs- und Legitimationskrise bezeichnen. Eine Ursache für die Führungskrise war sicherlich die Politik der slowakischen KP-Führung, die zeitweise der Durchsetzung einer einheitlichen politischen Linie einen Riegel vorschob. Ein anderer Aspekt stellt sich in den Akten der SED als Folge eines permanenten Austauschs von Führungskräften dar: Zum einen rückten nach der Ablösung einiger durch die Politik der 50er Jahre besonders belasteter Spitzenfunktionäre jüngere Leute aus der zweiten oder dritten Reihe in die Führungsriege. Darunter befanden sich auch einige, die sich als außerordentlich reformfreudig erwiesen oder sich den aufbrechenden öffentlichen Diskussionen gegenüber zumindest moderat verhielten. Hier dürften auch die anscheinend einflußreichen Anhänger des jugoslawischen Modells zu suchen sein, die in den SEDAkten gelegentlich erwähnt werden. Dies erschwerte die Durchsetzung eines einheitlichen Kurses. Hieraus resultierte als zweites Moment das Bestreben, die Betreffenden wieder aus zentralen Leitungspositionen zu verdrängen. Der in den Akten immer wieder in diesem Zusammenhang genannte Cestmir Cisar steht dafür als Beispiel: 1963 im Alter von 43 Jahren vom Chefredakteur zum ZK-Sekretär berufen, noch im gleichen Jahr zum Minister für Bildung und Kultur degradiert, 50 wurde er 1965 als Botschafter nach Rumänien verbannt. Andere Umbesetzungen, besonders in den Ressorts Kultur und Ideologie in dieser Zeit weisen in die gleiche Richtung. Hinzu kam der laufende Austausch von Führungspersonal auf allen Ebenen, um fachlich versierte Kräfte zur Lösung der ökonomischen Probleme in verantwortliche Positionen zu bekommen. 49 Bericht des Generalkonsul Bringmann (Bratislava) über ein Gespräch zwischen Kurt Hager und Vasil Bilak, 29.5.1963, S.6, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/387. 30 In der kommunistischen Hierarchie war die Abberufung aus der Funktion eines ZK-Sekretärs, der der obersten Führungsspitze zuzurechnen war, auf eine staatliche Leitungsposition, die in jedem Falle dem Herrschaftsanspruch der Parteispitze untergeordnet war, unzweifelhaft ein Abstieg und wurde nach Informationen der DDR-Botschaft auch so begründet.

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Zugleich stand die Prager Parteiführung vor einem eindeutigen Legitimationsproblem, denn eigentlich operierte sie in der ersten Hälfte der 60er Jahre mit drei Legitimationsstrategien gleichzeitig: zum einen - und das hatte Parallelitäten zur DDR - mit der einer technokratischen Modernisierung der Wirtschaft im Zeichen der wissenschaftlich-technischen Revolution. 51 Eine zweite, unter dem Druck Moskaus importierte, versprach den Kampf gegen den „Personenkult" und wurde von Novotny machtpolitisch zu Umbesetzungen in der Parteiführung genutzt. 52 Die dabei zentralen Ideologismen Kampf gegen „Dogmatismus" und Kampf gegen „administrative Leitungsmethoden" entfalteten eine ungewollte Eigendynamik. Sie gingen eine Symbiose, mit einer dritten Legitimationsstrategie ein - der des bevorstehenden Übergangs zum Kommunismus. In der DDR sprach man da vorsichtiger nur vom Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse, was wohl nicht nur nach Ulbrichts Auffassung nicht dasselbe war. 53 Denn Übergang zum Kommunismus bedeutete nach der Marx'sehen Theorie das Ende des Klassenkampfes wie auch der Diktatur des Proletariats, kündigte also eine Gesellschaft der Freiheit an und hatte durchaus Berührungspunkte zu den offiziellen Schlagwörtern „Kampf gegen Dogmatismus und administrative Leitungsmethoden". Auch die Kommunismus-These war aus der Sowjetunion importiert. Zudem seit 1960 in den Rang eines Verfassungsziels erhoben und zum theoretischen Ausgangspunkt vieler Leitartikel in der Parteipresse geworden, konnte die KPC sie nicht so ohne weiteres zurücknehmen, zumal einiges dafür spricht, daß man in der Parteiführung ernsthaft an ihre Realitätsnähe glaubte. Neben den Gedanken der technokratischen Wirtschaftsreform trat dadurch die Idee der Gesellschaftsreform, die auch erhalten blieb, als man später die Kommunismus-Vision wieder zurücknahm. Diese Führungs- und Legitimationskrise bewirkte zunächst zeitweilige Lähmungserscheinungen in wesentlichen Teilen von Partei- und Staatsapparat. Die Beobachter der tschechoslowakischen Entwicklung aus der DDR, die ständig nach den Gründen für die, ihrer Meinung nach, inkonsequente Politik der KPC-Führung suchten, kamen nach Gesprächen mit verantwortlichen Parteifunktionären immer wieder zu ähnlichen Ergebnissen: „Die Überbetonung der 51 Vgl. S. Meuschel: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR, F rankfiirt a.M. 1992. Für die CSSR dazu abweichend von der hier vertretenen These vgl. Pauer, S.19, der im wesentlichen den Paradigmenwechsel auf den Übergang zur Ideologie der wissenschaftlich-technischen Revolution beschränkt sieht. 52 53

Vgl. Z. Mlynâf. Nachtfrost. Das Ende des Präger Frühlings, Frankfurt a.M. 1988, S.87.

Vgl. Stenografische Niederschrift der 5. Tagung des ZK der SED. Schlußwort von Walter Ulbricht (Auszug), 21. März 1968, in: S. Bollinger: Dritter Weg zwischen den Blöcken? Präger Frühling 1968: Hoffnung ohne Chance, Berlin 1995, S.96f.

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'Angst vor Administrieren' (be)hindert die intensive ideologische Auseinandersetzung." 54 - so ein Bericht unter vielen aus dem Jahr 1964. Und auch 1965 noch glaubte die Botschaft feststellen zu müssen: Ausschlaggebend für die Haltung des ZK sei die Meinung, daß durch die verschleppte Liquidierung der Methoden des Personenkults „in der Intelligenz eine außerordentliche Empfindlichkeit gegen administrative Methoden herrsche. In der Parteiführung und auch auf der mittleren und unteren Ebene befürchten viele Genossen durch konsequentes Auftreten als Dogmatiker oder Stalinisten eingeschätzt zu werden." 5 5 Ebenfalls noch 1965 erfuhren Beobachter aus der DDR, „daß es in der Parteiführung keine einheitliche Meinung über die Anwendung von bestimmten Methoden in der Massenarbeit ... gibt" 5 6 - und darum ging es ja letztlich. Immer wieder wurde über „starke Tendenzen des Liberalismus und des Selbstlaufes" berichtet. Das zeige sich besonders daran, „daß die Erscheinungen der bürgerlich-reaktionären Ideologie und Kunstauffassungen als Modewelle angesehen werden, die vorübergehen wird". 5 7 Angesichts der fehlenden inneren Konsistenz der Führungsriege wog das Legitimationsproblem doppelt schwer. Der Parteiapparat verfing sich im Glauben an die eigene allseitige Deutungsgewalt und folgerte - wie die DDR-Botschaft nach Gesprächen im ZK der KPC immer wieder und wohl nicht zu Unrecht konstatierte - aus der These des bevorstehenden Übergangs zum Kommunismus, daß eine weitgehende Interessenidentität zwischen Führung und Mitgliedschaft bestehe.58 Man sehe deshalb die Auseinandersetzung mit den Intellektuellen nicht als ideologischen Klassenkampf an, sondern als Auseinandersetzung um die besten Wege und Methoden zur Erreichung eines gemeinsamen Zieles. 59 Das mag den Ostdeutschen, die gelernt hatten, hinter jeder Abweichung den „Klassenfeind in Westdeutschland" zu entdecken, zumindest als naiv 34 Abteilung Kultur, Information: Bericht der Arbeitsgruppe der Kulturabteilung über die Konsultation mit den Genossen der KPC, 22.12.1964, S.7, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/388. 53 Botschaft Prag: Die Entwicklung der ideologischen Situation auf dem Gebiet der Kunst und Literatur im Jahre 1964, S.2f. 36

Abschrift. Informationsbericht des ADN-Korrespondenten in Prag, (undatiert, Anfang 1965),

S.4. 37

Abteilung Kultur, Information: Bericht der Arbeitsgruppe der Kulturabteilung ...,22.12.1964,

S.7. 38 Vgl. Botschaft Prag: Die ideologische Situation in der CSSR und die kulturellen Beziehungen zwischen unseren Ländern Ende 1963, 9.12.1963, S.5, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/397. 39 Vgl. Botschaft Prag: Die Entwicklung der ideologischen Situation auf dem Gebiet der Kunst und Literatur im Jahre 1964, S.5.

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erschienen sein. Dennoch berührte die Behauptung, es gehe um einen Streit der Methoden und Wege zu einem gemeinsamen Ziel einen zentralen Aspekt. Alle Beteiligten verstanden sich als gute Kommunisten, die letztlich auch über die Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung in der Tschechoslowakei diskutierten. Die Parteiführung hatte die Realisierung der konzeptionell äußerst unscharfen Marx'schen Vision einer kommunistischen Gesellschaft der Freiheit jenseits der Diktatur in den Rang eines politischen Ziels mittlerer Reichweite erhoben. Damit beseitigte sie unter den gegebenen Bedingungen die Grenze zu den Forderungen nach künstlerischer und Meinungsfreiheit und zu dem ebenso unscharfen Sozialismus Verständnis in Intellektuellenkreisen. Ein somit thematisch entgrenzter Diskurs wahrte die Kohärenz nur noch in Gestalt von Worthülsen. Der DDR-Generalkonsul in Bratislava beschrieb das Dilemma der Parteiführung wohl annähernd richtig: „Viele Begriffe werden von den Künstlern anders verstanden, als diese von der Partei gemeint sind." 6 0 Was die Parteiführung anders meinte als die Intellektuellen, machte sie in dem Maße klar, wie sich das politische Klima in Moskau änderte und es gelang, führungsinterne Differenzen zu unterdrücken. Die Schlagworte lauteten „führende Rolle der Partei" (sprich der Parteiführung) und „Parteidisziplin". Ziel war die Wiederherstellung des Meinungsmonopols der Parteispitze. Nach dem Ideologie-Plenum vom Dezember 1963 setzten ab 1964 mit allmählich stärker werdender Intensität repressive Maßnahmen gegen Intellektuelle und gegen die Kulturzeitschriften ein, die ihren Höhepunkt schließlich in dem Pressegesetz fanden, das Anfang 1967 in Kraft trat. Für den bevorstehenden „Prager Frühling" aber war an den vorhergehenden Jahren wichtig, daß sich Teile des Parteiapparats an einen neuen Politikstil gewöhnten, der eine gewisse Akzeptanz unterschiedlicher Auffassungen in der Partei beinhaltete, wobei das stets präsente Arsenal willkürlicher Eingriffe durch Formen des Dialogs ergänzt wurde. Das nannte man wie in der DDR „geduldige Überzeugungsarbeit", aber selbst das war unter den Bedingungen der Tschechoslowakei nicht mehr dasselbe. Der hier verwandte Begriff der „Krise" bezeichnet aus der Retrospektive des Jahres 1968 sicherlich einen Niedergangsprozeß. 61 Betrachtet man allerdings die aus der Situation der Jahre 1963/64 erwachsenden Entwicklungen als eine nach vorn offene historische Entwicklung, so implizierte diese „Krise" durch60 61

Bericht des Generalkonsul Bringmann ..., 29.5.1963, S.6.

„Yet during the years 1963 and 1964 the signs of a deepening crisis were already revealed, and in retrospect these years marked the beginning of a process of decline which culminated in the fall of Novotny in 1968." - Skilling, S.45.

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aus schöpferische Momente einer praktischen Reformpolitik. Die Suche der Parteiführung nach Auswegen aus der wirtschaftlichen Misere, aus den aufbrechenden Stalinismus-Debatten wie auch die nach einer präziseren gesellschaftlichen Entwicklungsperspektive schuf eine Vielzahl von, teils erwünschten und teils unerwünschten, Resultaten und Nebeneffekten, ohne die der „Prager Frühling" so wohl nicht möglich gewesen wäre. Ein Ergebnis dieser Suche nach neuen Wegen war eine gewisse Verwissenschaftlichung der Parteipolitik. Dazu gehörte, daß verschiedene wissenschaftliche Teams eingesetzt wurden, die sich mit den gesellschaftlichen Konsequenzen der wissenschaftlich-technischen Revolution, mit der Ausgestaltung des politischen und rechtlichen Systems und mit der Problematik der Wirtschaftsreformen befaßten. Auch die Soziologie fand politische Akzeptanz und gewann Einfluß auf die gesellschaftliche Standortbestimmung und die Strategieformulierung. 62 Die thematische Breite dieser Teams scheint auf Ambitionen in Richtung einer Gesellschaftsreform hinzudeuten. Dabei entstand zugleich ein für den „Prager Frühling" nutzbarer theoretischer Vorlauf. Der Aufstieg akademisch gebildeter Kader in verantwortliche Positionen trug dann im Jahr 1968 zu einem sachlichen Theorie-Diskurs bei, wie er mit den Führungseliten der 50er Jahre kaum denkbar gewesen wäre. Zugleich weisen die SED-Akten wie auch die einschlägige Standardliteratur auf eine Vielzahl von praktischen Veränderungen hin, die allerdings erst ins Auge stechen, wenn man nicht den „Prager Frühling" als Maßstab annimmt, sondern die DDR. Nur erwähnt sei die etwas liberalere Gestaltung des Arbeitsrechts, wobei auch die Rechte der Gewerkschaften vergrößert wurden. Neue Bildungsgesetze führten u.a. zu einer gewissen Entpolitisierung des Hochschulstudiums. Im Bereich der Justiz wurden die Rechte der Angeklagten und ihrer Verteidiger erweitert. Selbst das heftig kritisierte Pressegesetz von 1966 war noch deutlich liberaler, als das in der DDR denkbar gewesen wäre, sah es doch immerhin Möglichkeiten der Intervention gegen Zensurmaßnahmen auf dem Rechtswege vor. Schließlich experimentierte man sogar an der virtuellen Welt der „sozialistischen Demokratie": Die Rechte der Nationalversammlung wurden erweitert, mit gewissen Tendenzen zu einer Rückkehr zum System, das vor 1948 bestanden hatte. Es entfaltete sich ein parlamentarisches Leben, das zu Veränderun62 Vgl. R. Richta u. Kollektiv (Hrsg.): Richta-Report. Politische Ökonomie des 20. Jahrhunderts. Die Auswirkungen der wissenschaftlichen Revolution auf die Produktionsverhältnisse, Frankfurt a.M. 1971; Z. Mlynâf. Ceskoslovensky pokus ο reformu 1968. Analyza jeho teorie a praxe, Köln 1975, S.91ff.; O.Sik: Präger Frühlingserwachen. Erinnerungen, Herford 1988, S.139ff.

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gen an vielen Gesetzesvorlagen führte. 63 Und ein modifiziertes Wahlrecht ermöglichte in gewissen Grenzen die Wahl zwischen mehreren Kandidaten. Hinzu kamen einige Maßnahmen mit unbeabsichtigten Auswirkungen. So bewirkte die von der KPC-Führung betonte Notwendigkeit einer Konzentration der Parteiarbeit auf die Lösung ökonomischer Probleme, daß sich viele Parteiorganisationen hauptsächlich mit Wirtschaftsfragen beschäftigten und ihre Rolle bei der ideologischen Indoktrination vernachlässigten. Die auf ZK-Tagungen immer wieder kritisierte Tendenz des „Ökonomismus" hatte durchaus reale Hintergründe. Zugleich wurde aber auch das gesamte System der Schulung der Parteikader immer stärker auf Fragen der Qualifikation für die Lösung ökonomischer Probleme umgestellt, was diese Tendenz eigentlich noch verstärkte. In die gleiche Richtung wirkten die politisch-ideologischen Orientierungsschwierigkeiten der Parteiführung, die u.a. zur Folge hatten, daß man ab 1962/63 auf eine Neugestaltung des Systems der Parteischulung orientierte und dazu in verschiedenste Richtungen experimentierte. In der Praxis führte das zum Zusammenbruch des gesamten Systems der Mitgliederschulung. Theoretische Kurse, wie sie die SED durchführte, fanden an der Parteibasis kaum noch statt. Wenn es z.B. in der Slowakei bis dahin ca. 19.000 solche parteilichen Schulungszirkel gegeben hatte, so existierten davon 1966 noch ganze 1.200, und diese befaßten sich eher mit aktuellen Problemen und Betriebsangelegenheiten. KPC-Funktionäre sprachen diesbezüglich von einem „Chaos". 64 Ähnliche Folgen entstanden aus einer eigentümlichen Mischung von Auswertung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse und wirtschaftlichen Problemen: Auf soziologische Untersuchungen, die eine zunehmende „Privatisierung des gesellschaftlichen Lebens" 65 ergaben, reagierte die KPC 1965 mit einem Beschluß, wonach fast alle Massenorganisationen (außer Gewerkschaft, Jugendverband und Partei) aus den Betrieben herausgelöst wurden, um dafür in den Wohngebieten wirksam zu werden. Man stellte die Mitgliedschaft in ihnen frei und machte sie quasi zu Freizeitorganisationen. Der damit verbundenen Absicht, auf diesem Wege neue ideologische Einwirkungsmöglichkeiten zu erhalten, wirkte aber entgegen, daß gleichzeitig unter dem Zwang zur finanziellen 63

Vgl. Golan , S. 182.

64 Bericht der Konsultationsgruppe des ZK der SED über das Studium der Erfahrungen der KPC bei der Entwicklung der marxistisch-leninistischen Schulung der Parteimitglieder, S.4, (undatiert, Juli 1966), in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/390. 65 Kurt Hager. Information an die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros beim ZK der SED über eine Beratung mit Vertretern der KPC, 21.1.1966, S.5, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/390.

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Sparsamkeit deren Apparate auf ein Minimum reduziert wurden. Dadurch verlor die KPC letztlich eine weitere Möglichkeit zur ideologischen Beeinflussung. 66 Jede einzelne dieser Maßnahmen mit ihren Auswirkungen war wohl von geringer Bedeutung. Insgesamt führten sie aber zu einer gewissen Lockerung diktatorischer Herrschaft. Mary Fulbrook hat die SED-Diktatur mit einem Kraken verglichen, „dessen Tentakel sich noch in den letzten Winkel sozialer Existenz erstreckten und verhinderten, daß sich irgendeine Art von 'Zivilgesellschaft' jenseits der Reichweite und Kontrolle des Staates entwickelte und gedieh". 6 7 Überträgt man das Bild auf die CSSR, könnte man - etwas locker sagen: Der Krake litt zeitweilig an chronischen Orientierungsproblemen und Muskelschwund. Auf der Suche nach Wegen zur Rekonvaleszenz riß er sich (zum Teil absichtlich) einige Fangarme ab. Schließlich drohte er an der Krankheit und an der selbstverordneten Medizin einzugehen. Die Reformpolitik in der späten Novotny-Ära könnte man wohl als Versuch einer paternalistischen Gesellschaftsreform zur partiellen Entstalinisierung und Stabilisierung des Systems interpretieren. Sie schuf einen Teil der Voraussetzungen für das Jahr 1968. Der entscheidende Unterschied zur DDR aber war der 1963 entstandene Riß in der scheinbar unbegrenzten Macht der Parteidiktatur, aus dem heraus sich unter dem Mantel innerparteilicher Diskussionen zivilgesellschaftlich orientierte Teilöffentlichkeiten entfalten konnten. Die aufbrechenden Diskurse zwischen Künstlern und Intellektuellen wie auch zwischen diesen und der Parteiführung entfalteten eine immer schwerer aufzuhaltende Eigendynamik. Da die zaghaften Schritte der Reformpolitik „von oben" in eine ähnliche Richtung zu tendieren schienen wie die Forderungen vieler Partei-Intellektueller, entstand allmählich quasi ein gesamtgesellschaftliches Reformklima. Der wichtigste Unterschied zwischen Parteiführung und Intellektuellen bestand wohl darin, daß die eine Seite Reformen als kontrollierten Prozeß realisierten wollte, unter Wahrung des Macht- und Meinungsmonopols der Parteiführung, was andere Seite gerade als entscheidendes Hindernis für Reformpolitik ansah und de facto bereits zu ignorieren begann.68 Die machtpolitischen 66 Vgl. auch: SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt: Information über ein Gespräch mit Genossen der Bezirksleitung Üsti nad Labem, 28.2.1966, S.3, in: SAPMO-BA DY 30/IV A 2/20/391. 67 M. Fulbrook: Methodologische Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR, in: Bessel/Jessen, S.291. 68 In eine ähnliche Richtung argumentiert Z. Hejzlan Reformkommunismus. Zur Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Köln/ Frankfurt a.M. 1976, S.109: „Von diesem Augenblick (dem 12. KPÎ-Parteitag - R.K.) an trat allmählich ... die Scheidung der Geister in der Partei zutage: auf der einen Seite die Anhänger der konservativen Formel von der 'Vervollkomm-

11 Timmermann / Gruner

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Lähmungserscheinungen in der Parteispitze führten zu einem Scheinkompromiß, der beide, auf Dauer unvereinbare, Positionen zeitweilig nebeneinanderbestehen ließ. Als die Parteiführung dann versuchte, diesen Kompromiß zugunsten ideologischer Machterhaltung aufzukündigen, war es bereits zu spät. Inzwischen waren auch Teile des Funktionärsapparats nicht mehr zu einer Wiederherstellung des status quo ante bereit. Die Existenz von Öffentlichkeiten hatte hier eine partielle Lernfähigkeit bewirkt. Das Ergebnis waren die bekannten Ereignisse um die Jahreswende 1967/68. Für eine solche Entwicklung aber fehlten in der DDR der 60er Jahre nahezu sämtliche Voraussetzungen. Die SED Ulbrichts befand sich bei der Realisierung ihrer Reformen „von oben" nicht in der zwiefachen Zwangslage, simultan auf eine von Moskau ausgehende Entstalinisierungspolitik und eine sich entfaltende alternativ-sozialistische Bewegung innerhalb der eigenen Partei reagieren zu müssen. Die Intelligenz der DDR verhielt sich in ihrer Mehrheit eher zurückhaltend, hatte aber auch keine vergleichbaren Freiräume zur Entwicklung alternativer Positionen. Die Funktionseliten waren zudem disziplinierter und deshalb machtpolitisch effektiver. 69 Insofern waren die Handlungsspielräume der SED vor 1968 bei der Durchführung systemimmanenter Reformpolitik und repressiv-systemerhaltender Begleitmaßnahmen (wie auch beim Abbruch des Reformexperiments) sogar größer als die der Parteiführung Novotnys. Als sich die - nach den Erfahrungen des Jahres 1968 gegen weitreichende Reformambitionen immun gewordene - SED-Führung im Jahre 1989 schließlich in eine Konstellation gestellt sah, die der tschechoslowakischen vor 1968 in einigen Punkten nicht unähnlich war, brach ihre Herrschaft und zugleich ihr Staat zusammen.

niing' des bestehenden ökonomischen und politischen Modells, auf der anderen Seite die Vertreter der progressiven Auffassung von der Notwendigkeit, ein 'neues Modell' zu schaffen." 69 Vgl. M. Fulbrook: Herrschaft, Gehorsam und Verweigerung - Die DDR als Diktatur, in: J. Kocka/ M.Sabrow: Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven, Berlin 1994, S.77f.

„Gulag" und „Auschwitz": Unvergleichbarkeit - Parallele - kausaler Nexus? Von Ernst Nolte

Aus Gründen, die ich nicht eigens darzulegen brauche, würde ein öffentlicher Vortrag von mir über die Frage der Vergleichbarkeit von „Gulag" und „Auschwitz" und über die Möglichkeit eines „kausalen Nexus" zwischen beiden nirgendwo in Deutschland stattfinden können, da es sich nach der Auffassung eines großen und vorwiegend jüngeren Teils des Publikums um eine unzulässige, ja unmoralische Fragestellung handelt. Um so mehr freue ich mich, daß im Kreise von Kennern und Fachkollegen eine Erörterung möglich sein dürfte, die von vorschnellen Emotionen frei ist. Ich brauche auch nicht zu betonen, daß „Gulag" und „Auschwitz" in Anführungszeichen gesetzt sind, weil sie Symbole für einen Tatbestand bilden, der mit dem abstrakten Ausdruck „Vernichtungsmaßnahmen" gekennzeichnet werden kann. Der „Gulag" beginnt also nicht mit der Institutionalisierung der Hauptverwaltung der Korrektionsarbeitslager, Gefängnisse, Arbeitssiedlungen und Spezialsiedlungen des NKWD im Jahre 1930 und „Auschwitz" nicht mit dem Bau der großen Krematorien in Birkenau im Sommer 1942. Daß „Auschwitz" durch schlechthinnige Unvergleichbarkeit gekennzeichnet sei, muß sich jedem aufdrängen, der die Augenzeugenberichte von Miklos Nyiszli, Paul Bendel, Henryk Tauber, Filip Müller, Elie Wiesel, Kurt Gerstein und nicht zuletzt das Geständnis eines der Haupttäter, nämlich des AuschwitzKommandanten Rudolf Höß, liest oder der mit den Gemälden und Zeichnungen von David Olère bekannt wird. Hohe Flammen schießen aus den Schornsteinen der Krematorien hervor, in deren Kellerräumen täglich bis zu 25 000 Menschen durch Gas getötet und anschließend kremiert werden, wobei jedoch die meisten Verbrennungen in riesigen Gruben erfolgen, so daß dichte Rauchschwaden sich über die Erde wälzen und der Feuerschein bis auf eine Entfernung von 30 Kilometern sichtbar ist. Lastwagen fahren bis an den Rand der Feuergruben, und zahlreiche Kinder werden von SS-Männern lebendig in die Flammen geworfen, in denen nach dem Bericht Elie Wiesels auch lange Kolonnen von Opfern ihr 11*

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Ende finden. Wolfgang Sofsky sagt in seiner Darstellung der „Ordnung des Terrors", welche auch die gewöhnlichen Konzentrationslager von den Vernichtungslagern wie Auschwitz und Treblinka her interpretiert, „nicht einmal das Schreckensbild der Hölle" vermöge diese Realität begreiflich zu machen. 1 Dan Diner kommt zu dem Ergebnis, Auschwitz sei „ ein Niemandsland des Verstehens, ein schwarzer Kasten des Erklärens, ein historiographische Deutungsversuche aufsaugendes, ja AUSSERHISTORISCHE BEDEUTUNG annehmendes Vakuum" und deshalb sei es „nicht historisierbar". 2 Mithin wäre Auschwitz ein „Absolutum", ein Einbruch des Außerhistorischen, des Bösen schlechthin, in die Geschichte, also im engsten Wortsinn „unvergleichbar" und keineswegs bloß „singulär" in jenem eminenten Sinne, den man manchen historischen Phänomenen über die banale Individualität hinaus zuschreiben mag. Die Frage nach etwaigen Parallelen oder gar nach einem kausalen Nexus mit anderen Vorgängen ist also von vornherein unmöglich oder doch verdammenswert. Damit sieht sich der Historiker aber vor eine außerordentliche Herausforderung gestellt, denn diese These mutet ihm den Verzicht auf sich selbst und den Übergang von einer forschenden oder nachdenkenden Einstellung zu der quasi-religiösen Haltung des reinen Schauens und Schauderns zu. Selbst die triviale Feststellung, „Unvergleichbarkeit" setze den Vergleich voraus und schließe lediglich das Verbot der Gleichsetzung in sich, wirkt substanz- und hilflos angesichts dieses „Schwarzen Lochs", das den Betrachter stumm macht, ganz wie eins der kosmischen „Schwarzen Löcher" den vorstellbaren Weltraumfahrer, der zwischen Fixsternen, Planeten und Kometen bis dahin seinen Weg gefunden hat, in sich hineinsaugt und zum Verschwinden bringt. Der Historiker kämpft um den Kern seiner Existenz, wenn er sich einem solchen „Absolutismus" widersetzt, so gewiß er es nicht ausschließen kann, daß er sich am Ende beugen muß. Seit kurzem ist das wohl früheste und jedenfalls umfangreichste Dokument zu „Auschwitz" zugänglich geworden, nämlich jenes „Schwarzbuch", das bereits während des Krieges von Wassilij Grossman und Ilja Ehrenburg aus zahlreichen Zeugenberichten zusammengestellt und für die Publikation vorbereitet wurde, 3 welche dann aber in der Sowjetunion nicht erfolgte, weil die Zensur eingriff: nur die von Grossman stammende Schilderung Treblinkas erblickte 1

Wolfgang

Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt/M. 1993, S.

318. 2

Dan Diner: Zwischen Aporie und Apologie. Über Grenzen der Historisierbarkeit des Nationalsozialismus. In Dan Diner (Hrsg.): Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt/M. 1987, S. 62-73, S. 73. 3

Arno Lustiger (Hrsg. der deutschen Ausgabe): Wassilij Grossman / Ilja Ehrenburg Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Reinbek 1994.

Das

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1944 bzw. 1945 das Licht. Alle Berichte - meist offensichtlich von ganz einfachen Menschen stammend - wissen davon zu erzählen, daß überall dort, wo die eindringenden deutschen Truppen nach dem 22. Juni 1941 hinkamen, sehr bald umfassende Tötungsaktionen erfolgten, die sich meist vornehmlich gegen die Juden richteten und die oft darin bestanden, daß die Opfer selbst die Massengräber ausheben mußten, in denen sie erschossen wurden und wo jeweils neue Schichten sich auf die noch zuckenden und blutenden Körper der zuvor Getöteten legen mußten. An der essentiellen Richtigkeit dieser Schilderungen kann es keinen Zweifel geben, denn sie stimmen mit den Meldungen der Einsatzgruppen und auch mit den Aussagen der Angehörigen von Polizeibataillonen überein, wie sie Christopher Browning und Daniel Goldhagen zum Thema ihrer Bücher gemacht haben. Es finden sich auch Berichte über besonders grauenhafte Exzesse: deutsche Soldaten schnitten russischen oder jüdischen Frauen die Brüste ab, SS-Leute nagelten ihre Opfer lebendigen Leibes an ein Kreuz, und Kindei; wurden von ihnen „wie junge Hunde" in Abtritte geworfen. 4 A m eindruckvollsten sind jedoch Berichte über Massenvernichtungen von hoher technischer Perfektion. In Belzec wurden die Opfer in einen großen Saal geführt, in dem elektrische Leitungen installiert waren, so daß viele Hunderte von Menschen gleichzeitig wie auf einem „gigantischen elektrischen Stuhl" starben; nicht weit davon entfernt befand sich eine große Anlage zur Herstellung von Seife aus den Leichen der ermordeten Juden.5 In Treblinka waren neben der Verwendung von Gas das Herauspumpen der Luft aus den Kammern und die Ermordung durch Dampf weitere Tötungsmethoden,6 in Sobibor öffnete sich nach dem Erstickungstod der Opfer automatisch der Fußboden, und die Leichen stürzten in den Keller, von wo sie durch Loren abtransportiert wurden. 7 Nach den Feststellungen der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Schandtaten der faschistischen deutschen Eindringlinge und ihrer Helfershelfer über die ungeheuren Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz" wurden in diesem Lager „über vier Millionen Menschen" durch Gas getötet. 8 Fast alle Berichte wurden von den Herausgebern redigiert, und in deren Geleitwort heißt es ausdrücklich, dieses Buch solle „Haß und Abscheu gegenüber 4

Ebda, S. 370.

5

Ebda, S. 182.

6

Ebda, S. 842.

7

Ebda, S. 867. Ea,

S.

5.

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der Ideologie des Faschismus" hervorrufen. 9 Eine Zielsetzung, und zwar eine unzulässige, wurde dem Buch aber auch in dem späteren Kommissionsbericht zugeschrieben, der dem Todesurteil gegen 15 Mitglieder des Jüdischen Antifaschistischen Komitees vom Juli 1952 vorherging: das Buch erhebe die Juden zu einer speziellen, anderen Völkern entgegenstehenden Kategorie und die Aufmerksamkeit werde ausschließlich auf die von den Juden während des Zweiten Weltkriegs erbrachten Opfer gelenkt. 1 0 Ein weiterer schwerer Vorwurf war der, daß in den von Ehrenburg vorbereiteten Materialien verhältnismäßig ausführlich über die schändlichen Aktivitäten der Volksverräter unter den Ukrainern, Litauern u.a. berichtet werde und daß dadurch die Kraft der Hauptanklage gemindert werde, die sich gegen die Deutschen richten müsse. 1 1 Kaum minder bemerkenswert ist der Umstand, daß bei bestimmten Vorgängen, für die auch heute noch in der Regel keine Präzedentien angegeben werden, wie etwa hinsichtlich der Erschießungen in Babij Jar und der noch umfassenderen Massentötung in Odessa durch die Rumänen, eben diese Präzedentien ausdrücklich angeführt werden, nämlich die Inbrandsetzung der Hauptstraße in Kiew durch sowjetische Vernichtungsbataillone und die Sprengung des rumänischen Hauptquartiers, so daß die Termini „Antwort" und „Vergeltung" Verwendung finden, so offensichtlich es sich um eine ganz unverhältnismäßige Antwort und eine exzessive Vergeltung handelte. Nichts ist weniger verwunderlich, als daß Greueltaten im Kriege von der feindlichen Propaganda auf das stärkste herausgestellt werden und daß sich um unerklärliche Tatsachen wie das Verschwinden zahlloser Menschen Gerüchte und Vermutungen ranken. Heute ist in keiner wissenschaftlichen Darstellung mehr von Massentötungen durch Elektrizität und heißen Dampf die Rede, und schon Hans Rothfels brachte im Hinblick auf einige Details Zweifel zum Ausdruck, als er die Aufzeichnungen von Kurt Gerstein 1953 im ersten Heft der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" veröffentlichte. Jean-Claude Pressac kommt in seinem Monumentalwerk von 1989, das den nicht recht zutreffenden Titel „Technique and Operation of the Gas Chambers" trägt, zu dem Ergebnis, daß die Aussagen der wenigen Augenzeugen in wesentlichen Punkten irreführend sind und daß insbesondere die Zahlenangaben durch den Faktor 4 dividiert

9

Ebda, S. 18.

10 Ebda, S. 1084 (Aus dem Beitrag von Ilja Altman im Anhang über „Das Schicksal des Schwarzbuchs").

a, S. 1 0 9 .

,Gulag" und „Auschwitz"

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werden müssen. 1 2 Die Gesamtopferzahl von Auschwitz ist bekanntlich inzwischen von 4 Millionen ganz offiziell auf etwas über eine Million reduziert worden. Radikale Revisionisten stellen mit manchmal odiosen, aber im Prinzip nicht unberechtigten Untersuchungen über Koksverbrauch und Kremierungsdauer die Zahl von 25 000 täglichen Opfern nachdrücklich in Abrede, 13 und einige behaupten sogar, Zyklon Β habe als bekanntes Desinfizierungsmittel der Rettung des Lebens von Insassen und nicht deren Vernichtung gedient. 14 Aber auch wo der naheliegende Hinweis auf fragwürdige Intentionen der Autoren nicht sticht, wird, wie in dem von Alan S. Rosenbaum herausgegebenen Sammelband, die Frage gestellt, ob der Holocaust tatsächlich als einzigartig bezeichnet werden dürfe, und einige Verfasser machen in diesem Buch, das mir leider unzugänglich war und nur durch eine Rezension bekannt ist, den Verfechtern der Einzigartigkeit der „Endlösung" heftige Vorwürfe, die denjenigen der sowjetischen Kommission analog sind. 1 5 Es ist aber nicht etwa ein Roma oder Sinti und auch kein ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener, der seit 1986 die internationale Zeitschrift „Holocaust and Genocide Studies" herausgibt, sondern ein israelischer Gelehrter, nämlich Yehuda Bauer. 1 6 Schon durch den Titel wird die Vergleichbarkeit akzeptiert, und auch deshalb ist als vorläufiges Resultat zu konstatieren: „Auschwitz", - d.h. die Gesamtheit der Berichte und Akten über den Vorgang der „Endlösung der Judenfrage" - schließt nicht wenige ungeklärte Fragen in sich; es darf nicht von vornherein als „unvergleichbar" in dem oben gekennzeichneten Sinne verstanden werden, sondern es ist ein legitimer Gegenstand von geschichtswissenschaftlichen Forschungen und 12 Jean-Claude Pressac: Auschwitz. Technique and Operation of the Gas Chambers, New York 1989, S. 469ff., bes. 475. 13 Zu diesem Punkt sind insbesondere die ungemein detaillierten Arbeiten von Carlo Mattogno zu nennen. 14 Es handelt sich um die inzwischen dem Titel nach weithin bekannten „Gutachten" von F.A. Leuchter und Germar Rudolf. Beklagenswert ist, daß die wohl vollständigste Darlegung der „revisionistischen" Sichtweisen und Argumente durch ein Gerichtsverfahren der wissenschaftlichen Auseinandersetzung entzogen worden ist. {Ernst Gauss [Hrsg. Pseud. für Germar Rudolf\: Grundlagen zur Zeitgeschichte. Ein Handbuch über strittige Fragen des 20. Jahrhunderts. Tübingen 1994. 15 Der Tagesspiel (Berlin) vom 27.1.1997. Alan S. Rosenbaum (Ed.): Is the Holocaust Unique? Perspectives on Comparative Genocide, Boulder (Colorado) 1996. Die Besprechnung von Malte Lehming beginnt bemerkenswerterweise mit dem Satz: „Einen der ersten Befehle zu einem Völkermord gab Gott. Gleich nach dem Exodus aus Ägypten forderte er Israel auf, die Amalekiter auszurotten....". 16 Vgl. auch Yves Ternon: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert. Hamburg 1996. Ferner neben dem schon etwas älteren Buch von Alfred Grosser, Ermordung der Menschheit (München - Wien 1990) Manfred Henninger. Die Regime des Terrors („Merkur" 51. Jg. 1997, Heft 2, S. 105-116) mit den Hinweisen auf die Bücher von Rudolph Rummel.

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Auseinandersetzungen; wie in jeder Wissenschaft muß es daher auch ein breites Spektrum möglicher Antworten geben. 1 7 Daraus ist indessen nicht zu folgern, daß „Auschwitz" die „Einzigartigkeit" abzusprechen ist, welche sich gerade durch den Vergleich erschließt. Abkürzend stelle ich die These auf, daß „Auschwitz" auch dann einzigartig bliebe, wenn man dasjenige, was ich die „sinnlich erfahrbare oder erzählbare Einzigartigkeit" jener Dantesken Höllengemälde nenne, einer vorsichtigen „Epoché" unterzieht oder als „Exzesstaten" an den Rand stellte. Schon die Massenerschießungen der Einsatzgruppen und einiger Polizeibataillone, wie sie vor allem Helmut Krausnick und Hans Heinrich Wilhelm dargestellt haben, hatten einen solchen Umfang und einen so systematischen Charakter, daß die Beseitigung aller Juden und nicht etwa aller Kommunisten oder aller Slawen als Ziel erscheint, und die Vergasungen fügen sich leicht in das Bild ein, wenn man die Aufmerksamkeit nicht auf den Hund Barry oder „Iwan den Schrecklichen" richtet, sondern auf die wiederholten Aussagen von Nationalsozialisten und von Himmler selbst: die Massenerschießungen seien eine untragbare Last und es müsse eine „humanere" Methode der Ausführung gefunden werden. Eben diesen Terminus verwendet Hitler noch in seinem „Politischen Testament", und die „Entfernung" der Juden hatte er bereits 1919 verlangt, eine Beseitigung, die für ihn als ausgeprägten Biologisten letzten Endes nichts anderes als physische Vernichtung bedeuten konnte. Der Vorwurf, der das ungeheuerliche Unterfangen begründete, war aber zu allen seinen Zeiten derselbe, nämlich daß „die Juden" die Urheber des Bolschewismus und gleichzeitig des Kapitalismus und damit einer krankhaften Modernität seien, an deren Stelle er eine „gesunde" Modernität der kriegerisch gesinnten Völker und der hierarchisch gegliederten Rassen setzen wollte. Dieser Begriff der Einzigartigkeit beruht nicht auf einer „sinnlichen Anschauung", die sich auf möglicherweise falsche, übertriebene oder propagandistische Zeugenaussagen stützt, sondern auf dem Nachdenken beim Studium von Originaltexten der Täter und der Opfer. „Genozide" hat es in der Weltgeschichte wieder und wieder gegeben, aber es war noch niemals vorgekommen, daß ein ganzes Volk beseitigt werden sollte, weil es angeblich die Ursache dessen war, was allgemein „die Modernität" oder „der Fortschritt" genannt wurde. 17 Wie es einen „Revisionismus" gegenüber „Auschwitz" gibt, so gibt es, zumal in den USA, auch einen Revisionismus gegenüber dem Gulag, für den ein Artikel von Stephen Wheatcroft anzuführen ist, der in der FAZ vom 12.3.1997 rezensiert wurde. Vgl. ferner den Artikel „Terror ist nicht blind. Die Massenvernichtung in der Sowjetunion und in Deutschland.", der über eine internationale Tagung an der Evangelischen Akademie Mülheim/Ruhr berichtet. Hier vertrat Gabor Rittersporn (Paris) revisionistische Ansichten hinsichtlich des Gulag, ein Vertreter des „Auschwitz-Revisionismus" war offenbar nicht eingeladen.

„Gulag" und „Auschwitz"

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Diese Einzigartigkeit bedeutet jedoch nicht nur nicht „Unvergleichbarkeit", sondern sie ist nicht einmal die einzige Einzigartigkeit. An Grauenhaftigkeit können die Schilderungen der antibolschewistischen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre mit den Schilderungen der antifaschistischen oder besser antinationalsozialistischen Literatur bzw. der Zeugenaussagen es sehr wohl aufnehmen, von dem „eisernen Handschuh" als Folterinstrument der Kiewer Tscheka bis zur Forderung nach Erschießung von tausend Feinden für ein Todesopfer der eigenen Seite und von den „Pfählungen" zahlreicher Priester bis zur Hinrichtung in „Totenkästen" - die Forderung der kritischen Überprüfung ist hier ebenso notwendig wie dort. Aber es gibt einige Vorgänge, die so eigenartig sind, daß es sich ebensowenig um bloße Erfindungen handeln kann wie bei den Zeugenberichten über die Gaskammern. Zu keiner Zeit war es in Deutschland auch nur vorstellbar, daß ein zwölfjähriger Sohn darum bittet, seinen Vater zu erschießen, 18 oder daß die Geheimpolizei, die einen „Fritz Schulze" oder einen „Sergej Stepanow" in Verdacht hat, in einer Stadt alle Männer namens „Fritz Schulze" oder Sergej Stepanow verhaftet und vorsichtshalber erschießt. 1 9 Und es waren nicht fanatische Antikommunisten, sondern zwei jüdische Sowjethistoriker, die nach ihrer Emigration das „stalinistische System" als „das antihumanste System" bezeichneten, „das in der Geschichte der Menschheit je existiert hat." 2 0 Es ist also eine durchaus mögliche These, daß sowohl „Auschwitz" wie der „Gulag" in jeweils spezifischer Weise einzigartig waren und eben deshalb Parallelerscheinungen darstellten. Rußland und Deutschland waren die beiden besiegten Großmächte des Weltkriegs. Wenn es ein aus dem Staatscharakter selbst resultierendes, schon durch Dutzende von historischen Präzedenzfällen begründetes Streben gab, so war es das Streben nach der Wiedererlangung der Großmacht- bzw. Weltmachtstellung. Die liberale Demokratie ist wegen ihrer Machtstreuung, wegen der großen Rolle, die sie der öffentlichen Diskussion und dem Konflikt von Parteien zuweist und nicht zuletzt wegen des Individualismus, den sie begünstigt, nicht die geeignetste Form, um eine solche Restauration vergangener Größe zu ermöglichen. Überdies waren beide Staaten schon vor dem Weltkrieg erheblich weiter vom vorstellbaren Ideal der liberalen und parlamentarischen Demokratie entfernt als die Siegermächte Frankreich, England und die USA; beide hatten 18

Michail Heller / Alexander Nekrich: Geschichte der Sowjetunion. 2 Bde. Königstein 1981/82, Bd., I., S. 197f. 19 2

R. Nilostonski: ererch

Der Blutrausch des Bolschewismus, Berlin 1924, S. 17. , S.

1 .

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mit positiver Akzentuierung „Sonderwege" für sich in Anspruch genommen, wenngleich gewiß in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Es war mithin sehr wahrscheinlich, daß sich nach der Niederlage „autoritäre" Regime durchsetzen würden, welche die Differenz gegenüber der „westlichen" Verfassungsentwicklung noch stärker und mit noch positiverer Betonung hervorhoben, um möglichst rasch die Folgen der Niederlage zu überwinden und erneut zu vollwertigen Teilnehmern am Machtspiel der großen Staaten zu werden. Einen geringeren Grad an Wahrscheinlichkeit wies die Möglichkeit auf, daß sich in einem der beiden Staaten oder sogar in beiden eine Partei vollständig durchsetzte, die eine radikale Umwandlung aller Verhältnisse und in eins damit die Vernichtung ganzer Klassen oder Gruppen der eigenen Bevölkerung zum Ziel hätte, die also ein Regime errichten würde, welches keine bloß relative, „autoritäre", Stärkung der Staatsmacht herbeiführte, sondern eine uneingeschränkte Konzentration, d.h. einen Zustand „totalitärer" Macht einer Ideologie und möglicherweise eines Mannes. Eben dies geschah bekanntlich in Rußland infolge des nur zufälligerweise geglückten Putsches des radikalen Flügels der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der Bolschewiki, unter der Führung Lenins. Gar nicht zufällig war jedoch die Ideologie vom „Klassenkampf" des Proletariats gegen die Bourgeoisie, der nach seiner siegreichen Beendigung eine klassenlose, eine egalitäre Gesellschaft zur Folge haben würde; sie besaß vielmehr tiefe Wurzeln in der Weltgeschichte und hatte durch die Industrielle Revolution und das Werk von Marx und Engels eine außerordentliche Stärkung erfahren. Sie band ihren eigenen Sieg indessen an bestimmte geschichtliche Voraussetzungen, nämlich an einen Zustand der Hochindustrialisierung, in dem es kaum noch Bauern geben würde, und sie war ebenso universalistisch, d.h. weltrevolutionär, wie prinzipiell machtfeindlich, d.h. auf einen Zustand an-archischer und friedlicher Welteinheit ausgerichtet. Offensichtlich war jene Voraussetzung in dem Bauernland des eben erst gestürzten Zarismus nicht erfüllt, und offensichtlich erwies sich das bolschewistische Regime schon im Verlauf seiner ersten Jahre als ein Machtfaktor von großem Gewicht, denn es gelang ihm, das russische Imperium im wesentlichen vor dem Auseinanderfallen zu bewahren - nicht anders, als es ein autoritäres Regime unter dem General Kornilow oder dem Admiral Koltschak getan oder mindestens angestrebt haben würde. Aber dieses Regime konnte wegen seiner universalistischen Doktrin sogar in dem Schwächezustand der Bürgerkriegsjahre die Eroberung Europas und der Welt postulieren, und 1920 erzitterten die Siegermächte Europas in ihren Fugen, als die Rote Armee auf Warschau marschierte und als Lenin der Überzeugung war, bald werde „Deutschland unser" sein - „unser" nicht im Sinne von „russisch", sondern von „kommunistisch". Heller und Nekrich haben recht, wenn sie schreiben, hier sei ein in der „Geschichte der Menschheit einmaliges Staatswesen" ent-

Gulag" und „Auschwitz"

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standen,21 ein Staatswesen mit transzendentalem Anspruch, potentiell überwältigender Kraft und fundamentalen Widersprüchen. Dieses Regime der absoluten Macht einer ideologischen Partei und ihrer zentralen Instanz, des Politbüros und des Parteiführers, ordnete die Elemente der gesellschaftlichen Struktur der liberaldemokratischen, der „pluralistischen" Staaten nicht nur anders an, sondern es vernichtete sie, sozial und großenteils auch physisch, nämlich den Adel, das Wirtschaftsbürgertum, die „bürgerliche Intelligenz" und die selbständig wirtschaftenden Bauern, und es brachte durch eine gewalttätige Industrialisierung dasjenige erst in großem Maßstabe hervor, was seine eigene Voraussetzung hätte sein sollen, nämlich eine industrielle Arbeiterschaft. Schon am Ende des ersten Fünfjahresplanes, 1932, war die Sowjetunion, das einstige russische Reich, eine industrielle und militärische Großmacht geworden, die gleichwohl eine weltrevolutionäre Kraft geblieben war, weil fast überall in der Welt und namentlich in Europa größere oder kleinere Parteien existierten, die sich mit ihr identifizierten. In Deutschland hatte die „autoritäre Lösung" als Möglichkeit viel länger Bestand als in Rußland: während des „Kapp-Putsches", tendenziell bei der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, während der Kanzlerschaft Brünings und zumal Papens und Schleichers, und zwar vor allem infolge der tiefverwurzelten Abneigung breitester Volksschichten gegen „das Parteiensystem" und auch „den Kapitalismus", welche von den Deutschnationalen bis tief in die Reihen der Sozialdemokraten reichte, wenngleich mit unterschiedlicher, sowohl nationalistischer wie sozialistischer Begründung. Auch in Deutschland führte ein Zufall den Triumph einer Partei herbei, die sich mit dem „autoritären" Wiederaufstieg nicht begnügen wollte, sondern die Konzentration aller politischen Macht in den Händen des Parteiführers zum Ziel hatte. Auch die NSDAP war eine ideologische Partei, wenngleich mit viel kürzeren und schwächeren Wurzeln als die KPdSU, auch die NSDAP vernichtete alle anderen Parteien, obwohl sie die sozialen Positionen von deren Angehörigen im allgemeinen unangetastet ließ. Anders als im sowjetischen Falle ist es möglich, sich die NSDAP unter Hitler im Gedankenexperiment als eine reine Wiederaufstiegs- und AntiVersailles-Partei vorzustellen, die ausschließlich von der Idee des Nationalismus geleitet war. Als eine solche Partei - ihrem Selbstverständnis nach als Partei der unter dem charismatischen Führer geeinten Nation - errang sie die erstaunlichsten Erfolge: die Wiederherstellung der „Wehrfreiheit", die Beseitigung des Sonderstatus des Rheinlandes, den Anschluß Österreichs, der schon das Ziel der Revolutionäre von 1848 gewesen war, und die „Heimkehr" des Sudetenlandes, die durch militärische Drohungen erzwungen war und doch 2

a

.

, S.

5.

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einen großen Sieg des Prinzips des Selbstbestimmungsrechts der Völker darstellte. In der politikwissenschaftlichen Analyse konnte jedoch der Begriff des „Totalitarismus" ebenso Anwendung finden wie im Falle der Sowjetunion, und der Begriff wurde in der Tat während der dreißiger Jahre nicht selten gebraucht, wobei tendenziell schon alle jene Kategorien herausgearbeitet wurden, die später in den Werken von Hannah Arendt und Carl J. Friedrich/Zbigniew Brzezinski ihre bekannteste Darlegung finden sollten: die uneingeschränkte Herrschaft einer Einheitspartei und ihres Führers, die Alleinlegitimität einer Ideologie, die zentrale Rolle der Geheimpolizei, die Unterwerfung oder doch straffe Lenkung der Wirtschaft usw. Es war unter diesem Gesichtspunkt vorstellbar, daß die beiden totalitären Mächte sich parallel zueinander entwickelten und eines Tages zu einer engen Zusammenarbeit, ja zum Bündnis gegen die Siegermächte von Versailles gelangten. Tatsächlich wurde diese Möglichkeit durch den Hitler-Stalin-Pakt verwirklicht; Hannah Arendt und Carl Friedrich hätten ihre Werke nicht wesentlich anders konzipieren müssen, wenn sie sie 1940 geschrieben hätten, und an Sigmund Neumanns Buch „Permanent Revolution" läßt sich dieser Ansatz leicht erkennen, obgleich es erst im Jahre 1942 veröffentlicht wurde. Auch an der Tatsache, daß die Sowjetunion alle „rechten" Tendenzen und das nationalsozialistische Deutschland alle „linken" Richtungen, zumal die Kommunistische Partei, mit besonderer Härte unterdrückte, brauchte die strukturanalytische Version der Totalitärismustheorie, welche die beiden Regime als Parallelerscheinungen auffaßte, nicht zu scheitern. Es sind Äußerungen von beiden Seiten überliefert, die viel Verständnis dafür an den Tag legen, daß politische Gegner in einem ganzheitlichen oder totalitären System nicht geduldet werden können. Einzig und allein die Judenverfolgung in Deutschland ließ sich nur unter Schwierigkeiten als Parallele verstehen, da sie sich so leicht aus dem deutschen oder europäischen oder christlichen „Antisemitismus" ableiten ließ, zu dem es in der Sowjetunion keine Entsprechung gab, denn dort war der Antisemitismus bei Todesstrafe verboten. Das entsetzliche Faktum der millionenfachen Massentötung ließ sich nach dem Zweiten Weltkrieg aber schlechterdings nicht übersehen, doch weder Hannah Arendt noch Carl Friedrich und Zbigniew Brzezinski wandten ihm ihre Aufmerksamkeit ausschließlich zu. Sie nahmen vielmehr in ihren Büchern eine Gleichsetzung zwischen den Millionenopfern des Bolschewismus, vornehmlich den „Kulaken", und den Millionenopfern des Nationalsozialismus, vornehmlich den Juden, vor, eine Gleichsetzung, die indessen Unterscheidungen nicht verhinderte. So schreibt Hannah Arendt in den „Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft" folgendes: „Es ist offenbar, daß die bolschewistische Propaganda, die aus der Doktrin der »absterbenden Klassen4 die Drohung entwickelt hat, daß, wer den Zug der Geschichte verpaßt, eine Art lebendiger Leichnam sei, den

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Mord ebenso vorbereitet wie die Nazi-Propaganda, die allen einen irreparablen mysteriösen Verderb des Blutes androht, die ihr Leben nicht nach den ,ewigen Gesetzen der Natur 4 , also nach arischen Rassegesetzen, einzurichten willens waren. Die Bolschewisten lassen angeblich nur die Millionen in Arbeitslagern verrecken, die bereits vorher »abgestorben4 waren, während die Nazis nur diejenigen in die Gaskammern schickten, die es nach den ewigen Gesetzen der Natur gar nicht hätte geben dürfen." 2 2 Bei Friedrich und Brzezinski war 1956 zu lesen: „Much more typical and indeed unique in its scope is the liquidation of vast masses of people, categorized in an arbitrary fashion as „enemies of the people" and therefore unsuitable for further existence in the totalitarian system. Such was the fate of the Jews killed by the Nazis in the death camps, or of the Polish officers murdered by the Russians in Katyn, or of the Chechen-Ingush deported IN TOTO to Siberia for allegedly having fought against the Soviet Union." 2 3 Hannah Arendt sieht also den Unterschied zwischen den sowjetischen und den nationalsozialistischen Massenvernichtungen im Unterschied zweier ideologischer Grundannahmen begründet, deren eine die „Gesetze der Geschichte" zu kennen behauptet, während die andere sich auf die angebliche Einsicht in „Gesetze der Natur" stützt. Der Ideologie ist also eine fundamentale Bedeutung zuzuschreiben und kaum minder der Differenz der Ideologien; aber der inhaltliche Unterschied der ideokratischen Regime hebt die strukturelle Gleichartigkeit der „Vernichtungsmaßnahmen" nicht auf, und diese bilden ihrerseits die Hauptdifferenz gegenüber den freiheitlichen Verfassungsstaaten, wo zwar in Zeiten von Kriegen und Notständen konzentrierende Maßnahmen möglich sind wie etwa die temporäre „Diktatur" Clemenceaus, in denen aber Massenvernichtungen von eigenen Staatsbürgern immer ausgeschlossen bleiben. Massenvernichtung - oder, wie Arendt meist sagt, „Terror" - wäre also das wichtigste Merkmal aller totalitären Regime schlechthin, aber diese Regime blieben gleichwohl Parallelerscheinungen. Friedrich und Brzezinski nehmen eine Ausweitung auf „Katyn" und auf die Tschetschen-Ingusch vor; nach ihrer Auffassung richtet sich der totalitäre Terror also nicht zur Gänze gegen Gruppen der eigenen Bevölkerung, sondern er hat ebenfalls den Charakter des „Völkermords". Auch hier darf indessen von einer „Parallele" die Rede sein, denn was hatte Hitler gegenüber den Polen im Sinn wenn nicht Völkermord, sei es auch „nur" durch die Vernichtung der Intelligenz, die er ausdrücklich postulierte? Diesen Völker22 23

Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Frankfurt/M. 1955, S. 550.

Carl J. Friedrich (Mass.) 1956, S. 141.

and Zbigniew Brzezinski: Totalitarian Dictatorship and Autocracy, Cambridge

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mord setzte er jedoch 1939/40 in aller Freundschaft mit Stalin in Gang. Weder ein Vorrang der Ideologie als solcher noch eine tiefe Verschiedenheit der Ideologien muß der strukturellen Analyse totalitärer Regime Eintrag tun; sie können ohne Zweifel unter dem Gesichtspunkt von Machtkonzentration und Staatlichkeit als Parallelerscheinungen interpretiert werden. Aber das vergleichende Interesse kann weit über den Parteiaufbau, die Methoden der politischen Polizei und die Direktiven der Propaganda hinausgehen: wer die Erzwingung des Ermächtigungsgesetzes im März 1933 nicht vor dem Hintergrund der gewaltsamen Auflösung der Konstituierenden Versammlung im Januar 1918 oder wer die erste Entrechtung der Juden in den Jahren von 1933 bis 1935 nicht vor der Folie der Verfolgung der Bourgeoisie und der „alten Intelligenz" im Jahre 1917/18 sieht, beraubt sich wesentlicher Erkenntnismöglichkeiten. Nicht einmal eine inhaltliche Identifizierung der beiden Parallelerscheinungen ist ausgeschlossen: sowohl Wilhelm Reich wie Wassilij Grossman, beide einstmals „jüdische Kommunisten", haben am Ende ihres Lebens den Sowjetkommunismus dem Begriff des „Faschismus" subsumiert. 2 4 Gleichwohl nehmen die Dinge ein anderes Aussehen an, wenn man die Frage stellt, ob es einen „kausalen Nexus" zwischen dem Bolschewismus - nicht etwa erst dem „Stalinismus" - und dem Nationalsozialismus gibt. Um zu einer Antwort zu gelangen, ist ein Blick auf den italienischen Faschismus sehr aufschlußreich. Wenn man nämlich von der Bewegung Mussolinis der Jahre von der Gründung bis zum „Marsch auf Rom" die Definition „militanter Antibolschewismus" fortnimmt, bleibt so gut wie nichts übrig, während man im Hinblick auf den Nationalsozialismus, der als Radikalfaschismus zu kennzeichnen ist, den „Kampf gegen Versailles" und den Antisemitismus aufzählen kann, die jeweils für längere Zeit eine hervorstechende Rolle spielten. Aber bei genauer Betrachtung zeigt sich rasch, daß Hitlers Antisemitismus und auch sein Kampf gegen Versailles mit seinem Antibolschewismus eng verbunden waren und daß

24 Vgl. das Nachwort mit dem Titel „Zwanzig Jahre danach" zu Grossmans Buch „Leben und Schicksal" von Efim Etkind: „Was ist das für eine Hoffnung, wenn wir zwei Lager vor uns haben, die sich wie Spiegelbilder ähneln? Wassilij Grossman zeigt folgerichtig auf, wie der frühere Internationalismus der Kommunisten zu einer Nationalstaatlichkeit entartet, die sich in nichts von der nazistischen unterscheidet.... (S. 910f.) Das revolutionäre Rußland hat das faschistische Italien und das nazistische Deutschland gezeugt. Für Wassilij Grossman verbindet diese Erklärung die historische Perspektive mit der sozialen Notwendigkeit, und sie ist glaubwürdiger als die abstrakte Lehre vom Ewigen Bösen und von der Schwäche des Guten." (S. 914). (Wassilij Grossman : Leben und Schicksal. Hrsg. von Efim Etkind und Simon Markish. München und Hamburg 1984; Erstausgabe Lausanne 1980 - das Manuskript wurde 1962 vom KGB beschlagnahmt, und erblickte erst 1980 erstmals in Lausanne das Licht.) Wie kaum ein anderes Buch ist dieses Buch trotz seiner scharfen Kritik am „Stalinismus" geeignet, den Begriff der „bolschewistischen Horden" zurechtzurücken.

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das gleiche sogar für die Konzeption der „Eroberung von Lebensraum" gilt, die am ehesten einen unabhängigen Charakter hat. 2 5 Es ist ja von vornherein überaus unwahrscheinlich, daß sich in den nah benachbarten und historisch eng miteinander verbundenen größten Staaten Europas zwei von der „westlichen" VerfassungsWirklichkeit schroff abweichende Bewegungen und Regime hätten entwickeln können, ohne in starkem Maße einen einseitigen oder wechselseitigen Einfluß aufeinander auszuüben. Die beiden Bewegungen und Regime aber, die faktisch entstanden und ihre Macht befestigten, mußten einander in schärfster Feindschaft gegenüberstehen, sofern und solange sie an ihren Grundvorstellungen und Hauptzielen festhielten. Der sowjetische Marxismus-Leninismus konnte als universalistische Ideologie nichts anderes wollen als die Eroberung der ganzen Welt, so wenig dieser Wille die Vorstellung von staatlicher Ausdehnung und Gewaltanwendung notwendigerweise in sich schloß; Hitlers Nationalsozialismus war zu einem wesentlichen Teil auf die Erwerbung von Lebensraum im Osten ausgerichtet; er mußte also danach trachten, die Sowjetunion niederzuwerfen, ja geradezu zu erobern. Lenin und Stalin konnten eine „Pause" eintreten lassen und sogar einen „Sozialismus in einem Lande" zu einem temporären Programmpunkt erheben, und Hitler konnte die Sowjetunion seiner friedlichen Absichten versichern oder sogar ein Abkommen mit Stalin treffen, aber er vermochte nicht definitiv auf dasjenige zu verzichten, was er nicht nur in „Mein Kampf" postuliert hatte, sondern noch 1931 und 1932, als „die Juden" in seinen Reden und Artikeln kaum mehr vorkamen, in Interviews mit englischen Zeitungen ganz offen vor aller Welt gefordert hatte, nämlich die „freie Hand im Osten" oder die „Ausdehnung in die leeren Räume an unserer Ostgrenze". 2 6 Von den Kommunisten aus gesehen, handelte es sich um den ausgeprägtesten und schärfsten aller Gegensätze, nämlich denjenigen von Revolution und Konterrevolution. Gegenrevolution kann es aber nicht geben, wenn nicht die Revolution vorhergegangen ist, und sie ist nichts anderes als die feindliche Bezugnahme auf die Revolution. Aus den Begriffen selbst ergibt sich mit Notwendigkeit, daß zwischen Revolution und Gegenrevolution ein „kausaler Nexus" besteht und daß die Revolution das logische und faktische Prius der Gegenrevolution ist. Es ist eine grundlose Behauptung, hier handle es sich bloß um ein „post hoc", das nicht in ein „propter hoc" verwandelt werden dürfe. Wenn 25

Nur ein ausreichender „Lebensraum" macht nach Hitler einem Volke ein gesundes, d.h. weitgehend bäuerliches Leben möglich; jede Zusammendrängung und Verstädterung großen Ausmaßes bringt notwendigerweise Spaltung und Konflikte sowie letzten Endes den Kommunismus hervor. 26 Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen. Bd. IV, 1 (Oktober 1930 - Juni 1931, München usw. (Saur), S. 347, 406f.

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August Thalheimer, auch 1930 immer noch einer der bekanntesten Kommunisten in Deutschland, die NSDAP das „konterrevolutionäre Gegenstück zur Kommunistischen Partei Sowjetrußlands" nannte, 27 so formulierte er die allgemeine Überzeugung von beinahe sämtlichen Marxisten, nämlich daß „der Faschismus" ein militantes und letztes Aufbäumen des zum Untergang verurteilten Kapitalismus gegen die siegreich vordringende sozialistische Weltrevolution sei. Strittig war allerdings, ob die bolschewistische Revolution tatsächlich mit der von Marx vorhergesagten Weltrevolution identisch war oder ob sie möglicherweise, wie nicht nur Karl Kautsky behauptete, einen verhängnisvollen Irrweg darstellte, der die wirkliche und eigentliche Revolution sogar zu gefährden vermochte. Für Adolf Hitler war es jedoch von Anfang an ausgemacht, daß es zwischen der bolschewistischen Revolution und dem marxistischen Revolutionsbegriff keinen Unterschied gebe, daß vielmehr dieses Ganze verhängnisvoll sei und mit der größten Energie bekämpft werden müsse. Es ist keine allzugroße Vereinfachung, wenn man sagt, alle Äußerungen Hitlers zwischen 1919 und 1932 ließen sich in der Forderung zusammenfassen, der ungeheuren Macht „des Marxismus", dem als solchem „Größe" und Anziehungskraft gerade für die tüchtigsten und energischsten Naturen nicht abzusprechen sei, 28 eine Weltanschauung von ebenso großer Entschlossenheit und Tatkraft entgegenzusetzen. In einer Rede des Jahres 1926 sagte Hitler: „Eine Weltanschauung, die von Moskau bis Nordamerika geschlossen unter einem Banner marschiert, brechen solche Organisationen [wie die „bürgerlichen" Parteien in Deutschland es sind,] niemals. Es muß dieser Sowjetmacht eine ebensolche Macht gegenüberstehen, die ebenso an einen Katechismus glaubt, sonst ist der Kampf von vornherein verloren." 2 9 Erst durch dieses Postulat entsteht eine Hitlersche Ideologie, denn die Forderung nach Lebensraum ist nicht eigentlich Ideologie zu nennen, und die innere Abhängigkeit von dem Feinde kommt aufs deutlichste zum Vorschein, wenn Hitler verlangt, München müsse „das Moskau unserer Bewe-

27 „Gegen den Strom, 3. Jg. 1930, Nr. 4, S. 66. S. auch Ernst Nolte (Hrsg.): Theorien über den Faschismus. Köln/Berlin 1967, S. 37. 28

Wenn Hitler der USPD zugesteht, „das beste Menschenmaterial in ihren Reihen" gehabt zu haben, und wenn er dem Kommunismus trotz dessen verbrecherischen Charakters ausdrücklich „Größe" zuschreibt, dann gibt es in dieser frühen Zeit auf der gegnerischen Seite noch Entsprechungen, so wenn Clara Zetkin in einer Rede von 1923 sagt, im Faschismus seien „die tüchtigsten, stärksten, entschlossensten, kühnsten Elemente aller Klassen" zu finden. (Hitler .... a.a.O., Bd. I, S. 300, 255; Ernst Nolte a.a.O., S. 23). 29

Hitler, a.a.O., Bd. I., S. 109.

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gung werden". 3 0 Die konkrete Begründung für diesen seinen Widerstandswillen besteht aber nicht im Hinweis auf die Wahlerfolge der KPD oder auf die Erfahrung der Münchener Räterepublik, sondern auf die „Vernichtung der nationalen Intelligenz" in Rußland und auf die „bolschewistische Blutdiktatur". Es ist ein sehr merkwürdiger Tatbestand, daß ausgerechnet der verdienstvolle Herausgeber der frühen Reden und Schriften Hitlers in einer bestimmten Situation behauptete, hier kämen „die Morde der Bolschewisten oder eine besondere Angst vor ihnen" nicht v o r . 3 1 Die Antwort kann nur lauten: „Nimm und lies! ". Und auch wer den „Völkischen Beobachter" der Jahrgänge 1930, 1931 und 1932 durchblättert, kann nicht den geringsten Zweifel haben, daß der Kampf gegen „die Kommune" und die „roten Horden" das häufigste, wichtigste und bewegendste Thema ist. Die Bestimmung, daß der Nationalsozialismus ein „Antimarxismus" sei, „der den Gegner durch die Ausbildung einer radikal entgegengesetzten und doch benachbarten Ideologie und die Anwendung von nahezu identischen und doch charakteristisch umgeprägten Methoden zu vernichten" trachte 32 drängt sich geradezu auf. Sie stellt freilich keineswegs in Abrede, daß von einem frühen Zeitpunkt an das Kampfverhältnis ein wechselseitiges gewesen ist, aber noch in dem 1928 gewählten Reichstag war die NSDAP neben der KPD eine quantité négligeable. Und nach dem 30. Januar 1933 führte die NSDAP ihren bürgerkriegsartigen, wenn auch relativ unblutigen Vernichtungskampf in allererster Linie gegen die KPD, die dann in kürzester Frist auf eine kaum noch aktive Kerntruppe reduziert wurde, während die Anhänger in großer Zahl zu den Siegern übergingen. Es besteht also ohne Zweifel ein kausaler Nexus zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus und damit zwischen den Vernichtungsintentionen der beiden feindlichen Bewegungen, und es kann kein Streitpunkt sein, wem die Priorität zuzuschreiben ist. Aber die Vorgänge werden nur dann verständlich, wenn man sich klar macht, daß eine Perspektive, die bloß Deutschland ins Auge faßt, ganz unzureichend ist. Aus dem Januaraufstand von 1919, aus der Märzaktion von 1921 und sogar aus den Aktionen der „Roten Ruhrarmee" im Jahre 1920 ließen sich die Angst, der Haß und die Erbitterung nicht ableiten, von denen Hitler, Himmler, Rosenberg, Goebbels und viele andere Nationalsozialisten erfüllt waren, sofern man diese Grundemotionen nicht mit sehr gewagten Interpretationsmethoden wegdisputiert. Aus der gewiß sehr einseitigen und 30

Ebda, S. 99.

31

Eberhard Jäckei in „Historikerstreit". Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987, S. 121. 32

Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. München 1963, S. 51.

12 Timmermann / Gruner

Ernst Nolte

178

wesentliche Punkte ausblendenden Kenntnis der sowjetischen Realitäten werden sie verständlich. Die antibolschewistische Literatur der zwanziger Jahre, zu der nicht nur die Bücher von M e l g u n o w , Essad Bey, Nilostonski und Rachmanowa, sondern auch diejenigen von Karl Kautsky, I. Steinberg, Pawel A x e l r o d und Panait Istrati 3 3 zu zählen sind, kann längst nicht mehr als bloße „ H e t z e " abgetan werden, und die Behauptung, die „Entkulakisierung" m i t ihren M i l l i o n e n v o n Todesopfern sei i n Deutschland und der übrigen Welt lange Zeit unbekannt geblieben, ist nicht zutreffend. Sagte nicht Stalin selbst i n seinem Interview m i t E m i l L u d w i g v o n 1931, der Bolschewismus treibe gegenüber den feindlichen Klassen, die aber nur 10% der Bevölkerung umfaßten, nicht etwa bloß eine Politik der Einschüchterung, sondern der Liquidierung, und brachte er damit nicht genau dasselbe z u m Ausdruck, was Sinowjew schon 1918 gesagt hatte, 10% der russischen Bevölkerung, d. h. 15 M i l l i o n e n Menschen müßten ausgerottet werden?

34

Geht aus Goebbels 4 Tagebüchern nicht unwidersprechlich

hervor, welche Aufmerksamkeit er nicht nur i n seinen „Propagandareden" auf den Reichsparteitagen von 1936 und 1937, sondern auch in seinen persönlich-

33 Am materialreichsten und als Werk eines Volkssozialisten nicht ohne weiteres der „weißen" Literatur zuzuzählen ist S.P. Melgunow, Der rote Terror in Rußland 1918-1923, Berlin 1924. Zur Glaubwürdigkeit trägt bei, daß er die Zahlenangabe von 1700000 und die genaue Aufschlüsselung der Opfer des bolschewistischen Terrors, die ein Professor Sarolea in der Zeitung „The Scotsman" genannt hatte (und die später von Churchill übernommen wurden), als „phantastisch" bezeichnet (S. 168). Einen besonders hohen Grad an Glaubwürdigkeit darf das Buch von /. Steinberg: Gewalt und Terror in der Revolution (Oktoberrevolution und Bolschewismus), Berlin 1931 beanspruchen, denn Steinberg war als Mitglied der linken Sozialrevolutionäre Volkskommissar für Justiz in der ersten Regierung Lenin. Er hebt vor allem die unbändige Volkswut gegen die „schuldigen Klassen" als Ursache des Terrors hervor, der zumal von Lenin, den er den „Urheber des Terrors" nennt, rasch anerkannt und systematisiert worden sei, z.B. schon in einem Aufruf vom 22. Februar 1918, in dem es heißt, alle arbeitsfähigen Mitglieder der bürgerlichen Klasse, Männer und Frauen, müßten unter Aufsicht von Rotgardisten in die zum Anlegen von Schützengräben bestimmten Bataillone eingereiht werden und die Widerstand Leistenden seien zu erschießen". (S. 329, 41). In dieser Literatur, die zu großen Teilen in den zwanziger Jahren und jedenfalls vor Kriegsausbruch erschienen ist, sind an einer Reihe von Stellen Termini wie die folgenden zu finden: „Vernichtungsort", „große Menschenvernichtung", „Totenzug", „der blutigste Terror der Weltgeschichte", „wie das Vieh zur Schlachtbank" (Kulaken), „keine Menschen" (Kulaken) „eher sechs als drei Millionen" (Opfer). Wo auch immer während des Krieges von Deutschen Greueltaten konstatiert und angeprangert wurden, wurden stets die Greueltaten des Feindes als allgemein bekannt vorausgesetzt, denen man nicht gleichkommen oder die man noch viel weniger übertreffen dürfe. Vgl., den Wortlauf einer Meldung des Abwehroffiziers Helmuth Groscurth über die von ihm entdeckte Tötung verlassener Kinder in Belaja Zerkow: „Im vorliegenden Fall sind aber Maßnahmen gegen Frauen und Kinder ergriffen, die sich in nichts unterscheiden von Greueln des Gegners, die fortlaufend der Truppe bekanntgegeben werden." (//. Groscurth: Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938-1940, Stuttgart 1970, S. 537.) In diesen Zusammenhang gehört auch die bekannte Stellungnahme des Reichskommissars Lohse in Minsk „Was ist dagegen Katyn!" („Aus den Akten des Gauleiters Kube" in Vjh. f. Ztg. 4. Jg. 1956, S. 67-92, S. 72. 34 Stalin, Werke, Bd. 13, Berlin 1955, S. 99. Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 19171945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, Frankfurt/Main und Berlin 1987, S. 67, 558f.

„Gulag" und „Auschwitz"

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sten Empfindungen dem russischen und dem außerrussischen Bolschewismus schenkte? War es wirklich „Propaganda" oder „Hetze" oder Vorwand, wenn er am 11. August 1936 schrieb: „Die Roten begehen [in Spanien] fürchterliche Greueltaten. Wehe, wenn die einmal in Europa das Heft in die Hand bekämen. Dann wären wir alle mit unseren Familien geliefert. Da machte man am besten selbst rechtzeitig Schluß"? 35 Und am 14. Oktober 1937 notiert er: „Ich lese mit Entsetzen Solonewitsch 2. Teil ,Die Verlorenen'. Das ist in Rußland die Hölle auf Erden. Ausradieren! Muß weg!" 3 6 Nichts sollte einleuchtender sein, als daß auch in diesem Falle, wie so häufig in der Weltgeschichte und ebenso in der Russischen Revolution - was Goebbels allerdings nicht wahrnimmt -, der Vernichtungswille aus der Vernichtungsfurcht resultierte. Und in dem Buch von Iwan Solonewitsch, das in der Tat eine der frühesten, umfangreichsten und bewegendsten Schilderungen des Gulag ist, waren auch die folgenden Sätze zu lesen: „Ich glaube, daß im Falle des Sturzes der Sowjetmacht dieser Aktiv [d. h. die Anhänger der KPdSU] ungefähr vollzählig abgeschlachtet wird - in Ausmaßen von siebenstelligen Zahlen. Ich bin kein blutrünstiger Mensch, glaube aber doch, daß sie es verdient haben." 3 7 Goebbels, der mehrfach auf dieses Buch zu sprechen kommt, notiert auch seine Absicht, dieses Buch „dem Führer" zur Lektüre zu geben. 3 8 Aber wenn Hitler es gelesen hat, kann es in ihm nur eine längst vorhandene Überzeugung bestärkt haben: daß er in einem Abwehrkampf um Leben und Tod gegen eine überaus mächtige und massenmörderische Bewegung stand, der gegenüber er nur eine Siegeschance habe, wenn er an Energie und damit auch an Vernichtungs willen nicht hinter ihr zurückbleibe. Um diese Zeit gab es in den vier großen Konzentrationslagern Deutschlands noch nicht einmal 10000 Insassen, während der Gulag mehrere Millionen Gefangene zählte. Erst der Krieg, und sogar erst der Angriffskrieg gegen die Sowjetunion, welcher ein Raub- und Vernichtungskrieg und dennoch ein nahezu unvermeidbarer Entscheidungskampf war, brachte „Auschwitz" zur Existenz und damit die volle Vergleichbarkeit zwischen „Gulag" und „Auschwitz". Und auch hier gab es allem Anschein nach einen „kausalen Nexus". In einer wenig 35 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente. Hrsg. von Elke Fröhlich. Teil I. Aufzeichnungen 1924-1941, Band 2, München usw. 1987, S. 659. 36

Ebda, Bd., 3, S. 301.

37

Iwan Solonewitsch: Die Verlorenen. Eine Chronik namenlosen Leidens 2 Bde, Essen 1934, 1937, Bd. 1, S. 190. Höchst bemerkenswert ist, daß von Juden in diesem Buch so gut wie nie die Rede ist, und daß es auch insofern für Goebbels ein Grund des Nachdenkens und der Selbstkritik hätte sein sollen, als darin festgestellt wird, die mit Konfiszierungen verbundene „Durchleuchtung" der Bevölkerung durch die GPU habe „mit ihrer ganzen Schwere .... die jüdische Bevölkerung der Städte" getroffen. (Bd. II., S. 254). 38

12*

Goebbels, a.a.O., Bd. 3, S. 192.

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beachteten Stelle seiner vielzitierten Erinnerungen schrieb Rudolf Höß kurz vor seiner Hinrichtung folgendes: „Die Konzentrationslager wurden so bewußt, z.Zt. auch unbewußt, zu Vernichtungsstätten größten Ausmaßes gewandelt. Vom RSHA wurde dem Kommandanten eine umfangreiche Berichtzusammenstellung über die russischen Konzentrationslager überreicht. Von Entkommenen wurde darin über die Zustände und Einrichtungen bis ins einzelne berichtet. Besonders hervorgehoben wurde darin, daß die Russen durch die großen Zwangsarbeitsmaßnahmen ganze Völkerschaften vernichteten." 3 9 Und in jüngster Zeit war in einer Rezension über ein der Organisationsgeschichte des Gulag gewidmetes Buch von seiten eines gut und durchaus „orthodox" ausgewiesenen Autors (dem die Aussage von Höß unbekannt zu sein scheint) die Frage gestellt: „Eine direkte Verbindung zwischen dem Gulag und deutschem KZSystem? Der Hinweis bedürfte dringend der historiographischen Überprüfung. 40 Die Thesen über den „kausalen Nexus" zwischen „Gulag" und „Auschwitz", über die Priorität des Bolschewismus und den Charakter des NS als einer „verzerrten Kopie" sollten in der Tat einer sorgfältigen und leidenschaftslosen Überprüfung unterzogen und vom alleinigen Zugriff derjenigen Historiker befreit werden, welche offenbar nie die Zeit gefunden haben, sich einmal für einige Monate von den auf Deutschland bezogenen Quellen und Texten zu lösen und die antikommunistische Literatur zur Kenntnis zu nehmen, die sie so gern und rasch als „bloße Propaganda" abtun. Dann wird freilich ein Nachdenken darüber unvermeidlich werden, weshalb die schlichte Frage nach der Wahrheit so lange den Postulaten des nationalpädagogischen Moralismus nachgestellt werden konnte. Dann wird man das moralische Urteil vermutlich nicht mehr mit großer Lautstärke proklamieren, sondern schlicht voraussetzen: daß es moralisch verwerflich ist, wehrlose Menschen und zumal Frauen und Kinder zu töten, ob es sich nun um Kommunisten oder Nationalsozialisten, um Russen 39

Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß, Hrsg. von Martin Broszat. München 1963, S. 139. 40

Rezension von Rolf Stettner, Organisationsgeschichte des Archipel Gulag von W. Sofsky in „Die Zeit" vom 21.3.1997. Schon 15 Jahre früher hatte Andrzej J. Kaminski, selbst ehemaliger Konzentrationslagerhäftling, die entsprechenden Fragen in seinem Buch „Konzentrationslager 1896 bis heute. Eine Analyse" (Stuttgart usw. 1982) mit größerer Entschiedenheit zur Sprache gebracht. Er stellt fest, daß sowjetische Einrichtungen den Nazis als Vorbild gedient hätten und fährt fort: „Daß die deutsche Wissenschaft dieser Frage bisher aus dem Wege gegangen ist, dürfte vielleicht verständlich sein. Jeder Hinweis eines deutschen Forschers darauf, daß die NS-KZs den sowjetischen nachgebildet waren, hätte von sowjetischer und prosowjetischer Seite einen der bekannten Stürme der Entrüstung hervorrufen müssen, auch wenn der betreffende Forscher jeden Anschein einer .Aufrechnung* vermieden hätte und sich dagegen verwahrt hätte, daß die sowjetischen Verbrechen als eine Entschuldigung für die nationalsozialistischen angesehen würden." (S. 88f.) Vier Jahre später trat genau dies ein, und man konnte nicht einmal behaupten, die Entrüstungsstürme seien ausschließlich von „prosowjetischer Seite" ausgegangen.

Gulag" und „Auschwitz"

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oder Deutsche, um Polen oder Juden, um Serben oder Kroaten, um Tutsi oder Hutu handelt. Es ist richtig, daß noch vor wenigen Jahren von kommunistischer Seite folgendermaßen argumentiert werden konnte: Die Kommunisten waren und sind im Besitz der allein wahren und allein moralisch wertvollen Vorstellung von der Zukunft der Menschheit; deshalb waren die Nationalsozialisten als ihre radikalsten Gegner nichts anderes als „Feinde der Menschheit", und wenn man zugeben kann, daß das nationalsozialistische Verhalten gegenüber den Vorkämpfern des Fortschritts und des Friedens verstehbar war, so wird es dadurch nur um so verwerflicher, und auch als persönlich unschuldige Opfer dürfen die Vorkämpfer der Menschheit nicht mit deren Feinden auf eine Stufe gestellt werden. Aber dieses Urteil ist seit langem nicht mehr glaubwürdig, mindestens nicht im Hinblick auf den historisch faßbaren Kommunismus der Jahre von 1917 bis 1991. Gleichwohl ist dieser Auffassung ein „rationaler Kern" zuzuschreiben, der jedoch nicht in einem einlinig-optimistischen, sondern in einem „dialektischen" Zusammenhang zu sehen ist, nämlich der Vorrang der sozialistischen Emotionen und Ideen als der neuartigsten Reaktion auf die Industrielle Revolution. Aber die Empörung, welche die These vom kausalen Nexus zwischen „Gulag" und „Auschwitz" hervorgerufen hat, beruht ganz überwiegend darauf, daß in Auschwitz eben nicht wie im Gulag wirkliche oder vorgestellte Feinde der herrschenden Partei zu Millionen zugrundegingen, sondern in erster Linie Juden und daß hier ein völlig irrationales Verhältnis vorzuliegen scheint, das man nur auf „Wahnideen" zurückführen kann, während die „Entkulakisierung" und auch die Ausrottung der Bourgeoisie sogar als Stadien eines umfassenden und positiven Modernisierungsprozesses verstanden werden können. Hitlers Judenfeindschaft war insofern zweifellos in der Tat irrational, als er eine Gruppe von Menschen zur Einheit zusammenfaßte, die seit geraumer Zeit schon ebenso differenziert war wie alle modernen Nationen. Es bedarf nur geringer Kenntnisse, um zu wissen, daß die „Jewsekzia" der KPdSU das orthodoxe Judentum gnadenlos bekämpfte, daß deutsche Juden, wie etwa Viktor Klemperer, die Zionisten mit den Nationalsozialisten auf eine Stufe stellten, 4 1 daß 41

Victor Klemperer. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, Berlin 1995. Eintragung vom 13. Juni 1934: „(Denn) in Zion ist der Arier gerade das, was hier der Jude ist. Par nobile fratrum! Mir sind die Zionisten, die an den jüdischen Staat von anno 70 p. C. (Zerstörung Jerusalems durch Titus) anknüpfen, genau so ekelhaft wie die Nazis. In ihrer Blutschnüffelei, in ihrem „alten Kulturkreis", ihrem teils geheuchelten, teils bornierten Zurückschrauben der Welt gleichen sie durchaus den Nationalsozialisten .... Das ist das Phantastische an den Nationalsozialisten, daß sie gleichzeitig mit Sowjetrußland und mit Zion in Ideengemeinschaft leben." (S. lllf.). Sechzig Jahre später war die Situation natürlich tief verändert. Und dennoch dürfte selbst an

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für viele Zionisten andere Zionisten „Faschisten" waren und daß es unter den Juden zahlreiche französische, italienische und deutsche Nationalisten gab. Gewiß waren viele Juden, d. h. Menschen jüdischer Abkunft, an der russischen Revolution und einige an den deutschen Revolutionsversuchen von 1918/19 beteiligt. Aber der Schritt von „einigen" oder auch „vielen" zu „allen", die „kollektivistische Schuldzuschreibung", stellte gleichwohl eine ungerechtfertigte „metabasis eis alio génos", einen Überschritt zu einer anderen Kategorie dar. Hitler vollzog diesen Überschritt auf paradigmatische Weise, indem er zugleich klar machte, wo er seinen eigentlichen Feind sah, als er 1933 zu Max Planck, der für seine jüdischen Kollegen zu intervenieren suchte, sagte, an sich habe er gar nichts gegen die Juden, aber sie seien alle Kommunisten und die seien seine Feinde. 42 Dieser verfehlte Überschritt, diese „kollektivistische Schuldzuschreibung" ist indessen heute noch ungemein populär und vor allem in der antinationalsozialistischen Kampfliteratur verbreitet, ja sie scheint einer allgemeinmenschlichen Tendenz zu entsprechen. Einen „kausalen Nexus" zwischen „Gulag" und „Auschwitz" gab es also nur deshalb, weil er in Hitlers Kopf und in den Köpfen nicht weniger seiner Anhänger hergestellt wurde. Aber er besaß ein doppeltes „fundamentum in re". Das eine mag gleichfalls als „bloß subjektiv" betrachtet werden. Wenn Hitler ebenso konsequent und entschlossen sein wollte wie der Marxismus, dann mußte er einen Feind namhaft machen, der ebenso konkret, anschaubar und in großen Volksschichten verhaßt war, wie es „die Kapitalisten" oder „die Bourgeoisie" in der Ideologie der Kommunisten waren. Ohne das interpretative Schema „des Juden" als des Urhebers des Bolschewismus und auch des Kapitalismus hätte sich Hitler gegenüber einer Bewegung, deren außerordentliche Stärke ihm sehr bewußt war, hilflos gefühlt. Insofern spielten die Juden tatsächlich die Rolle des „Sündenbocks" und des Ersatzgegners, und die Verurteilung von „Auschwitz" darf nicht bloß in der Aussage bestehen, daß hier Wehrlose umgebracht wurden. Aber das andere „fundamentum in re" war nicht bloß subjektiv, sondern eine überprüfbare, wenn auch gewiß nicht „materielle", Tatsache, und es bestand darin, daß jener Ausgangspunkt des unzulässigen Überschreitens eben doch eine Realität war, nämlich die weit überproportionale und im übrider Schwelle des 21. Jahrhunderts die weitverbreitete These nicht ganz richtig sein, alle Juden seien zu Zionisten geworden und ständen „wie ein Mann" hinter dem Staat Israel. So schreibt Eric Hobsbawm, Israel sei wegen seiner häufigen Eroberungs- und Vertreibungskriege am ehesten mit dem Preußenkönig Friedrich II. zu vergleichen, und er zählt es zu den „ganz offenen Apartheidsgesellschaften". („Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. München/Wien 1995, S. 450, 700). 42

Zitiert nach Raul Hilberg: Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933-1945. Frankfurt/M. 1992, S. 26.

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gen leicht verständliche Beteiligung von Juden - allerdings nach zionistischer Ausdrucksweise „entjudeter Juden" - an der bolschewistischen Revolution 4 3 und von Söhnen des jüdischen Großbürgertums an der marxistischen Bewegung in Deutschland. So banal die These ist, das eine Überschießen habe das andere Überschießen nach sich gezogen, so richtig kann sie gleichwohl sein. Aber auch innerhalb eines Überschießens kann und muß differenziert werden. Auschwitz wäre moralisch zu verurteilen, selbst wenn nur überzeugte Kommunisten dort gestorben wären, aber jeder Historiker verstößt gegen wissenschaftliche u n d moralische Pflichten, wenn er den Zusammenhang zwischen Gulag und Auschwitz ausblendet. Nur im Bewußtsein und nach der Darlegung dieses Zusammenhangs darf er den Unterschied kennzeichnen, der sich durch die Begriffe „soziale Vernichtung" und „biologische Vernichtung" fassen läßt und der noch dadurch zusätzlich einen besonderen Charakter erhält, daß die Juden sich als solche zwar nicht wie die Kommunisten ein „absolutes historisches Recht" zuschrieben, aber mit guten Gründen an einem säkularisierten Verständnis ihrer selbst als des „auserwählten Volkes" festhalten durften. 4 4 Ich unterstreiche diesen Unterschied, indem ich zum Schluß einem Mann das Wort gebe, der weder ein Deutscher noch ein Jude, wohl aber von seinen Präzedentien her ein entschiedener Feind des Kommunismus und für einige Monate sogar ein Freund und Förderer der nationalsozialistischen Politik in der besetzten Ukraine war. Es handelt sich um den Metropoliten der katholisch-unierten Kirche in der Ukraine, den Erzbischof Graf Andrej Septy kyj, über den Hansjakob Stehle 1986 eine kenntnisreiche Studie in den „Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte" publiziert hat. 4 5 Am 29. August 1942 schrieb dieser Priester einen Brief an den Papst, in dem es heißt, nach den ersten Monaten einer ge43

Es gibt nur einen einzigen in Deutschland lebenden Autor jüdischer Abkunft, der die damit verknüpfte Frage ernst genommen, ja überhaupt zu Wort gebracht hat und dafür viel kritisiert, sogar beschimpft worden ist. Es handelt sich um eine Autorin, Sonja Margolina, und um ihr Buch „Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert", Berlin 1992. Eine ungemein interessante Information, die sowohl das in Deutschland bloß verdrängte rein-negative Urteil als auch das positiv intentionierte Schweigen korrigieren könnte, findet sich an ziemlich abseitiger Stelle in der frühen antibolschewistischen Literatur: Leonid Kanegiesser, der im Sommer 1918 das tödliche und folgenreiche Attentat gegen den Petrograder Tscheka-Chef Uritzki verübte, habe dadurch zeigen wollen, daß nicht alle Juden in Rußland Bolschewisten seien. (Essad Bey: Die Verschwörung gegen die Welt: GPU. Berlin-Schöneberg 1932, S. 32ff.) Aber auch Fannija Kaplan, die wenig später Lenin verwundete und dadurch zur Urheberin äußerst harter und zum Teil spontaner Vergeltungsmaßnahmen wurde, war eine Jüdin. 44 Victor Klemperer, Jude, ganz und gar Kulturdeutscher, Feind der Zionisten wie der Nationalsozialisten und Protestant, wenngleich „Ungläubiger", spricht trotzdem sehr nachdrücklich von der „ewigen Mission, der ewigen Vorkämpferschaft des Jüdischen Geistes" (a.a.O., S. 322). 45

Hansjakob Stehle: Der Lemberger Metropolit Septyckyj und die nationalsozialistische Politik in der Ukraine. In Vjh. f. Ztgesch. 34 (1986), S. 407-425.

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wissen Erleichterung sei von den Deutschen ein „von Tag zu Tag unerträglicheres Terror-Regime" eingerichtet worden. „Heute ist sich das ganze Land darüber einig, daß das deutsche Regime in einem vielleicht noch höheren Grade als das bolschewistische böse, ja fast teuflisch ist. Seit einem Jahr vergeht kein Tag, an dem nicht die abscheulichsten Verbrechen verübt werden ... Die Zahl der getöteten Juden in unserem kleinen Land hat gewiß 200000 überschritten ...". 4 6 Daß „deutsch" und „Deutschland" nur eine Art Abkürzung für „nationalsozialistisch" und „Nationalsozialismus" sind, geht aus einer ebenfalls von Stehle zitierten Äußerung hervor, die Bischof Septy kyj wenig später in einem Gespräch des Jahres 1943 machte, einer Äußerung, die auch zu erkennen gibt, wie der Metropolit die historische Differenz zwischen Bolschewismus und Nationalsozialisus einschätzte: „Deutschland ist schlimmer als der Bolschewismus. Der Nationalsozialismus hat mehr Anziehung auf die Massen, mehr Macht über die Jugend als der Bolschewismus. Dieser ist ein großes Phänomen, dessen Dauer nur vorübergehend sein kann, oder er wird sich wandeln." 4 7 „,Gulag' und ,Auschwitz': Unvergleichbarkeit - Parallele - kausaler Nexus?": Ich glaube nicht, daß ein „entweder - oder" zwischen diese Begriffe und Interpretationsmöglichkeiten zu setzen ist. Man darf „Auschwitz" auch dann „Singularität" zuschreiben, wenn man in bezug auf jene „sinnlich überwältigende", unzweifelhaft eng mit Kriegspropaganda, Legenden und Übersteigerungen verknüpfte Singularität das Urteil zurückhält und sich stattdessen auf die im Denken erfaßbare Singularität stützt, die nicht von den Zufälligkeiten der Entdeckung oder Nicht-Entdeckung von Dokumenten oder Fotografien abhängig ist. Aber auch diese Singularität von „Auschwitz" wird zur Lüge, wenn nicht zugleich die spezifische Singularität des Gulag anerkannt wird. Die strukturelle Analyse, die über die Parallelisierung nicht hinausgeht, behält ihr Recht und darf noch viel Arbeit vor sich sehen. Die Herausarbeitung des „kausalen Nexus" ist aber das entscheidende und neue, obwohl sie so viel Verdacht auf sich zieht, weil sie tatsächlich eine größere Nähe zu der nationalsozialistischen Auffassung aufweist als die Strukturanalyse. Diese Nähe bedeutet jedoch gleichzeitig eine ebenso unübersehbare, ja eine noch ausgeprägtere Nähe zu der marxistischen und kommunistischen Interpretation. Aber da sie den marxistischen Glauben an das unmittelbare Bevorstehen eines rein positiven, durch die „Partei des Proletariats" herbeizuführenden Endzustandes nicht teilt, ist die Distanz unübersehbar, eine Distanz, die indessen weit davon entfernt bleibt, der 46 47

Ebda, S. 418.

Das Demonstrativpronomen „Dieser" kann sich nur auf den Bolschewismus beziehen, da der Erzbischof im September 1943 die Niederlage des Nationalsozialismus bereits für unvermeidbar und dicht bevorstehend hielt.

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„Reaktion" auf den Bolschewismus mehr als ein eng begrenztes historisches Recht zuzuschreiben, wie ja schon durch die Verwendung des Begriffs „verzerrte Kopie" deutlich wird. 4 8 Die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts erscheint hier nicht als ein Kampf von Lichtmächten gegen Mächte der Dunkelheit oder gar „des absoluten Guten" gegen das „absolute Böse", vielmehr faßt ein Verstehenwollen, das nicht vor dem Versuch zurückschreckt, auch die Motive der schlimmsten Täter noch erhellen zu wollen, die Geschichte des 20. Jahrhunderts eher als Tragödie denn als Schurkenstück auf. Deshalb verzichtet es aber keineswegs auf Unterscheidungen unter den Grautönen, aus denen sich sein Gemälde zusammensetzt. Dieses „Gemälde" ist jedoch gerade nicht statisch, sondern es ist ein Prozeß, den die historisch-genetische Version der Totalitarismustheorie nachzuzeichnen und zu begreifen sucht. Anders als die strukturelle Version beruht sie nicht auf einer vorbehaltlosen Affirmation des „westlichen Verfassungsstaates", sondern auf einer bestimmten Konzeption der Gesellschaft des Liberalen Systems oder des Okzidents, welche keine Glorifizierung, aber noch weniger eine Verdammung in sich schließt und eine universalhistorische Ausarbeitung zum Desiderat macht.

48 Der Begriff der „Kopie" ist im Hinblick auf den Nationalsozialismus von einem Manne besonders stark herausgestellt worden, der sich im Bereich der Propaganda besser auskannte als jeder andere, nämlich von Willi Münzenberg in seinem Buch „Propaganda als Waffe", Paris 1937. („Der »Angriff' wurde nach dem Vorbild eines proletarischen Berliner Abendblattes geschaffen Die Hitlerpropaganda beschränkte sich nicht darauf, die Einrichtungen der Gegner zu übernehmen und für ihre Zwecke zu verwenden, sondern studierte ständig die gegnerische Bewegung, beobachtete jede neue Phase ihrer Entwicklung aufs sorgfältigste. Es gibt kaum eine Bewegung, die so viele Methoden und Mittel vom Gegner übernahm wie die Hitlerpartei .... Der ,Roten Hilfe 4 wurde die nationalsozialistische Gefangenenhilfe nachgebildet, die .Winterhilfe' ist eine Kopie der .Internationalen Arbeiterhilfe' Die vielgepriesene Organisation ,Kraft durch Freude' nahm sich die Arbeiterfeierstunden zum Vorbild, die von den Arbeiterorganisationen geschaffen waren Jede Nachahmung aber wird vor allem von Goebbels als eine ureigenste Erfindung gepriesen." (S. 172f.).

Produktion von Geschichtsmythen als Voraussetzung für totalitäre Staatsideologie Von Bernd Rill

Typisch für ein totalitäres System ist „eine offizielle Ideologie von umfassendem und exklusivem Anspruch, die auf der Ablehnung traditioneller Werte und auf der Beschwörung chiliastischer Erwartungen an die Zukunft beruht". 1 Eine Ideologie ist eine Kombination von Gedanken, die „auf ein Ganzes menschlichen Handelns oder Erlebens ... gerichtet sind. Sie sollen dabei das Handeln und Verhalten von Gruppen, Klassen oder Völkern rechtfertigen" 2. Eine Ideologie ist also keine Theorie, da sie um des Handelns oder des Verhaltens willen besteht. „Ideologie ist ... ein für totalitäre Herrschaft charakteristisches Dogmensystem, das als ausschließlich verbindlich von Staat und Partei durchgesetzt wird, eine „Ersatzreligion" ... Die „Falschheit" solcher totalitärer Ideologien besteht nicht im Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit, sondern in ihrem verengenden Dogmatismus..." 3 Aus diesen Definitionen wird bereits deutlich, daß totalitäre Ideologie nicht ohne Geschichts-Mythen auskommt, also nicht ohne selektive Auswahl historischen Materials, wobei die Auswahl von dem legitimatorischen und dem handlungsleitenden Interesse bestimmt wird, das die Ideologie in sich trägt. Nur scheinbar ist es dabei ein Widerspruch, daß die totalitäre Ideologie die Ablehnung traditioneller Werte betont und mit chiliastischen, also den Verlauf bisheriger Geschichte in qualitativem, wertendem Sinne abbrechenden Erwartungen operiert. Denn der Chiliasmus ergibt sich aus der negativen Bewertung bisheri-

1

Karl-Dietrich Bracher, in: Peter Gutjahr-Löser und Klaus Hornung (Hrsg.): Politisch-pädagog sches Handwörterbuch, Percha, 2. Aufl 1985, S. 460. 2

Eberhard Klumpp, in: Peter Gutjahr-Löser und Klaus Hornung (Hrsg.): Politisch-pädagogisches Handwörterbuch, Percha, 2. Aufl 1985, S. 215. 3

Eberhard Klumpp, in: Peter Gutjahr-Löser und Klaus Hornung (Hrsg.): Politisch-pädagogisches Handwörterbuch, Percha, 2. Aufl 1985, S. 218.

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ger Geschichte bzw. aus der Herausstellung von Elementen in dieser, die die chiliastische Erwartung rechtfertigen. Wir brauchen also ferner noch eine Definition, was unter Geschichts-Mythos zu verstehen ist. Auch dabei tritt zunächst ein scheinbarer Widerspruch auf, nämlich der zwischen Geschichte einerseits und Mythos andererseits. Denn Geschichte kann als beständiger Fluß von Ereignissen aufgefaßt werden, während dem Mythos eigentümlich ist, zwar auch Ereignisse darzustellen, aber gerade nicht in beständigem Fluß, sondern exemplarisch, mehr oder weniger punktuell, und durch diese ein Erklärungsmuster auszudrücken. Naheliegendes Beispiel: die Geburt Christi als eines im Ablauf der Geschichte konkret faßbaren Menschen, ferner Christi Tod und Auferstehung, ebenfalls als historische Ereignisse referiert. Das christliche Beispiel ist für unsere Zwecke besonders geeignet, da Christus sowohl als Mensch, also als historische Persönlichkeit, als auch als Gott, also als Stifter einer verbindlichen Wahrheit, aufgefaßt wird. Auch das Leben Christi ist also ein Geschichts-Mythos. Geschichte und Mythos verschränken sich demnach. Da Mythos ein Deutungsmuster in sich trägt, wird am Beispiel Christi weiter klar, daß Geschichte nicht einfach als Ablauf von Ereignissen verstanden werden kann, sonder daß die Deutung sie ebenso beständig begleitet und durchdringt, wie der Ablauf der Ereignisse beständig ist. Dagegen lautet der bekannte Ausspruch des Tacitus, er wolle Geschichte „sine ira et studio" schreiben, und der ebenso bekannte des Leopold von Ranke, er wolle eigentlich nur beschreiben, „wie es wirklich gewesen". Aber Geschichte als Gegenstand ist nicht denkbar ohne gleichzeitige Deutung, eine Erkenntnis, die in dem sarkastischen Aphorismus gipfelt, daß die Geschichtsschreiber die Geschichte überhaupt erst erfinden. Die Verschränkung von Geschichte und Mythos ist auch nicht etwa aus dem Grunde bedenklich, daß Geschichte der endlichen, sterblichen Welt der Menschen und Mythos dem unendlichen, unsterblichen Bereich des Göttlichen angehört. Denn für unsere Zwecke genügt in diesem Zusammenhang die Feststellung, daß die dem Totalitärismus dienenden Geschichtsmythen im menschlichen Bereich angesiedelt sind und ihre religiöse Legitimation aus sich selbst zu nehmen versuchen, ohne dafür eine göttliche Offenbarung zu beanspruchen. Und man kann an eine menschliche Geschichts-Deutung mit derselben Ausschließlichkeit glauben wie an eine göttliche Offenbarung. Dieser Glauben ist die Voraussetzung dafür, daß die dem Totalitarismus dienenden Geschichtsmythen im 20. Jahrhundert eine so große Geschichts-Mächtigkeit entfalten konnten.

Produktion von Geschichtsmythen

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Ein solcher Glauben muß aber erst Zustandekommen, weshalb er aus der Entwicklung der europäischen Geistesgeschichte heraus erklärt werden muß. Der Hauptteil meines Referates wir diese Entwicklung in einigen wesentlichen Punkten zu skizzieren versuchen. Voraussetzung war, daß der das europäische Geistesleben beherrschende Geschichtsmythos des Christentums seine verbindliche Kraft verlor. Dies war das Ergebnis der Religionskritik der Aufklärungszeit. Das Bedürfnis nach deutendem Geschichts-Mythos ist aber durch die Aufklärung keinesfalls entfallen, schon aus dem Grunde nicht, weil behauptet werden kann, die Aufklärung habe an die Stelle des christlichen Mythos nur ihren eigenen gesetzt: nämlich den Mythos der durch Rationalität und Vernunft zu unabsehbarem Fortschritt geführten Menschheit. Denn der „Fortschritt" ist keine durch Rationalität und Vernunft erfaßbare Größe. Um aber einen Glauben an Geschichts-Mythen zu begründen, sind Rationalität und Vernunft allenfalls Hilfsmittel, aber nicht ausreichend. Glauben bedarf der Vergewisserung aus sich selbst, aus der Setzung eines Anfangs, die ihrerseits aus Rationalität und Vernunft nicht abzuleiten ist. Es muß also die Rationalität als oberste geistige Verbindlichkeit fallen. Den ersten Schritt dazu tat der größte aller aufklärerischen Denker noch selbst: Immanuel Kant. Denn er stellte in seiner „Kritik der reinen Vernunft" fest, daß unsere Erkenntnis keine absolute Wahrheit erreichen kann, da der menschliche Geist „a priori" an die Größen von Raum, Zeit und Kausalität gebunden ist. Das „Ding an sich" aber sei nicht erkennbar. Damit war es unmöglich geworden, die menschliche Erkenntnisfähigkeit an die Stelle des Glaubens zu setzten. Und es war möglich geworden, Irrationalität als leitendes geistiges Prinzip zu re-aktivieren. Damit konnte ferner der Boden bereitet werden für die Schaffung von neuen Mythen, also für die Behauptung von neuen Wahrheiten. Das war unlogisch, denn wenn nach Kant der menschliche Erkenntnisapparat auf sich selbst zurückgeworfen ist, dann kann er gerade keine über-menschliche Wahrheit mehr entdecken. An diesem Fehler kranken alle totalitären Geschichts-Mythen zutiefst: ihr Mangel an Allgemein-Verbindlichkeit ist nicht zu verdecken. Ihre Geltung steht und fällt daher mit der Gewalt, sie als verbindliche zu befehlen. Sie brauchen also die politische Macht, sie müssen sich mit der Politik verbinden. Sie liefern also die in der anfänglichen Definition gegebenen Handlungsanleitungen, die verkünden, um befehlen zu können. Sie müssen sich in der Praxis bewähren und an der Falsifizierung durch die politische Praxis scheitern sie schließlich auch. Der religiöse Mythos muß sich dieser Probe nicht stellen, da er nicht notwendigerweise mit der Poli-

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tik verbunden sein muß, indem er seine Legitimierung aus göttlicher Offenbarung nimmt. Wenn der Mythos auf die Erde herabgeholt wird, dann muß er mit ihr auch ihre wechselnden Schicksale teilen. Damit ist gesagt, daß das geistige Leben nach der Aufklärung einer schleichenden Politisierung unterworfen war, mit dem Höhepunkt seiner vollständigen Vereinnahmung durch die Politik in Gestalt der totalitären Ideologien. Aber wir müssen diesen Prozeß nach Kant noch präziser darstellen. Die nächsten Stationen sind Schopenhauer und die Romantik. Nach Schopenhauer ist die Welt bekanntlich „Wille und Vorstellung". Der Wille ist das „Ding an sich", er ist blinder, irrationaler Trieb, und er schafft sich die Welt als „Vorstellung". Letzteres bestätigt Kant, ersteres läßt an Vernunft und Rationalität nichts übrig. Kennzeichnend für Schopenhauer ist auch ein ausgeprägter Ästhetizismus: denn dieser liefert das angenehmste Bild der Welt als (bloßer) menschlicher Vorstellung. Die Romantik förderte diesen Ästhetizismus wesentlich. Denn da sie versucht hatte, etwas Absolutes zu entdecken, es aber überzeugend nicht fand (daher die beständige „romantische Ironie"), verfiel sie auf den Absolutheits-Ersatz der Kunst: der Künstler schafft aus sich eine Welt, die nicht real, sondern nur Schein ist, aber in dieser Scheinwelt wenigstens ist er absoluter Herr. Daraus folgte ein Kult des künstlerischen Genies und der Ästhetik. Hatte es bei den alten Griechen geheißen, die Dichter erfänden die GötterMythen, so bedeutete die durch die Romantik beförderte Hochschätzung der Dichter (hier stellvertretend für „Künstler"), daß die Dichter sogar eigens aufgerufen waren, Mythen zu erfinden und damit die einzigen Stifter von verbindlichen Wahrheiten zu werden, die man noch anerkennen wollte. Romantik bedeutet auch liebevolle Hinwendung zur Vergangenheit, das heißt zur Geschichte. Die Hochschätzung der Geschichte öffnete im Verbund mit der Hochschätzung der dichterischen Phantasie die Tür zur Hochschätzung der Geschichts-Mythen. Der Nationalismus war dieser Entwicklung zusätzlich günstig und auch die aufblühende kritische Geschichtswissenschaft war es, trotz ihrer antimythischen Ausrichtung , denn sie verschaffte geschichtlichem Interesse einen höheren Stellenwert als bisher, was auch der Akzeptanz von Geschichts-Mythen zugute kam. Im Gegenzug zu Schopenhauer hat Hegel eine Weltanschauung zu begründen versucht, in der der Weltgeist als Weltvernunft auftritt und sich im Laufe der Geschichte zielgerichtet entfaltet, durch den bekannten Schritt von These und Antithese zur Synthese. Hier herrscht kein irrationaler Wille als „Ding an

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sich", vielmehr gilt alles als vernünftig, was wirklich ist, und umgekehrt, denn alles entspricht dem vom Weltgeist aufgestellten Weltgesetz. Die Wirkung Hegels änderte aber nichts an der philosophischen Destruktion von Vernunft und Rationalität, denn Hegels System fiel Karl Marx in die Hände, der es in den Dienst seines spezifischen Geschichts-Mythos stellte: der Selbsterlösung der auserwählten, messianisch und chiliastisch verstandenen Arbeiterklasse. Die Wiederherstellung des Paradieses in der „klassenlosen Gesellschaft" kann nicht anders denn als Mythos bezeichnet werden, ebenso ist der soziologisch-deskriptive Begriff der „Klasse" in Gestalt der messianischen Arbeiterklasse zum Mythos geworden. Denn die Forderung des Sozialismus nach Emanzipation der Arbeiterklasse, eine plausible Forderung der gerade aktuellen Gesellschaftspolitik, wurde bei Marx zum chiliastischen Endpunkt der Geschichte hinaufgesteigert. Chiliasmus ist überhaupt ein klassisches Mittel zur Abwertung von Rationalität, Maß, Toleranz und Vernunft, also von Denkweisen, die sich der totalitären Erfassung des menschlichen Lebens in dogmatischer Verengung entziehen. Denn Chiliasmus bedeutet das Ende aller bisherigen Werte, da er eine fundamental neue Qualität von Mensch und Welt verkündet. Also muß er den Mythos von der Weltrevolution hervorbringen, denn ohne allgemeine Gewalt gegen alles der chiliastischen Verwirklichung Entgegenstehende kann die fundamentale neue Qualität nicht erreicht werden. Und auch der Mythos der Weltrevolution, indem er die Politik radikalisierte, trug zu Politisierung des Geisteslebens seinen Teil bei. Daher konnte der kommunistische Mythos sich allenfalls als konkurrierenden Mythos zu anderen begreifen, aber trotz seiner ehrgeizigen philosophischen Grundlage nichts zur Wahrung der Rationalität im allgemeinen europäischen Diskurs beitragen. Als „Vater" der anderen Geschichts-Mythen kann die Erfindung des „Übermenschen" in Nietzsches „Zarathustra" gelten. Denn die nationalen Mythen der sich politisch unfertig fühlenden Völker hatten für sich alleine nicht das Potential, zu einem totalitären Mythos zu werden. Sie dienten dazu, die nationale Begeisterung zu entfachen und zu kanalisieren sowie dem - im deutschen und italienischen Falle - errungenen Nationalstaat ideologische Konsistenz zu geben. Damit haben sie die machtpolitische Landkarte Europas zu verändern geholfen, und sie haben sich mit ihrer Mythisierung etwa der Hohenstaufen-Zeit oder der Figur Giuseppe Garibaldis auch in den Köpfen festgesetzt. Aber das alles war erst das Fundament, auf dem das Standbild des „Übermenschen" à la Nietzsche noch errichtet werden mußte, um dem Totalitarismus weiteren Vorschub zu leisten. Denn erst der „Übermensch" ist der kompetente Umwerter aller Werte, er vollbringt Dinge, zu denen die bisherigen historischen Heroen zu schwach wa-

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ren, und da Zarathustra mit religiösem Pathos als Prophet stilisiert wird, ist auch er erst der berufene Führer in die chiliastische Zeit hinein. Der „Übermensch" ist zwar den Propheten des „Alten Testamentes" nachempfunden, aber er weist über sie hinaus, sofern er selbst ein Handelnder ist. Vom „Übermenschen" leitet sich auch der Kult rücksichtsloser persönlicher Härte ab (präludiert in Nietzsches trunkenen Formulierungen von den „lachenden Löwen" etc.), der zur Kreierung des „Eroe Latino" durch d'Annunzio, zur Bedingung notfalls totaler Unmenschlichkeit für SS-Leute und zu Lenins Anforderungen für Berufsrevolutionäre führt. Aber auch eine ganze Gruppe von geschichtsmythischen Menschen ist diesem Vorbild verpflichtet: die „arische HerrenRasse" etwa, deren Überlegenheit über alle anderen postuliert wird, weshalb sie dann auch die Zukunft nach ihrem Willen gestalten darf. Hier tritt zum Ästhetizismus, der die breite Wirksamkeit von Bildern und Erzählungen anstelle abstrakter Beschreibungo oder gar wissenschaftlicher Analyse forderte, der Materialismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Der Mythos, da er sich in die Politik begab, brutalisierte sich, indem er sich biologisierte und naturwissenschaftliche Gesetzlichkeiten auf die menschliche Gesellschaft übertrug. Jacob Burckhardt hatte von den „terribles simplificateurs" gesprochen, die die Zukunft bringen würde. Mit Biologismus und Rassismus kamen sie tatsächlich. Die erwähnte Methode der Übertragung von Gesetzlichkeiten ist nicht schlechthin zu verwerfen und durchaus diskussionswürdig. Aber in unserem Zusammenhang kommt es allein darauf an, daß diese Übertragung auch bedeutete, die Determiniertheit naturwissenschaftlicher Abläufe in die menschliche Geschichte hineinzulesen und damit geschichtliche Abläufe zu einem erbarmungslosen, keine Alternativen zulassenden Schicksal zu erklären. Wenn die Selektion in der Entwicklung der Arten, wie von Charles Darwin dargestellt, dem Ziel dient, die besten Überlebenskünstler ausfindig zu machen, damit sich die Art erhalte, dann müßte auch in der Geschichte entschieden werden, wer der beste Überlebenskünstler war. Da die Menschen mittlerweile aber nicht mehr durch die Unbilden der Natur zum Überlebenskampf angehalten waren, waren sie es durch den Konkurrenzkampf untereinander; folglich war der Konkurrenzkampf zu intensivieren, um herauszufinden, wer der Überlebende sein würde, bzw. um das geschichtsmythisch aufgestellte Postulat der arischen Herrenrasse zu bestätigen. Wie schon gesagt: die Geltung der Geschichts-Mythen steht und fällt mit der Gewalt, sie als verbindliche zu befehlen. Unverkennbar ist auch, daß die Materialisierung der Welt durch die machtvolle Industrialisierung einen starken Anstoß erhielt, ohne den der Totalitaris-

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mus ebenfalls nicht möglich war. Auch sind Industrialisierung, Imperialismus und Kolonialismus aufs engste miteinander verbunden. Man muß allerdings nicht mit Lenin behaupten, daß der Imperialismus das letzte Stadium des Kapitalismus sei, um diesen Zusammenhang zu akzeptieren. Denn Imperialismus und Kolonialismus wurden nicht nur durch materielle, sondern auch geistige, gewissermaßen geschichts-mythische Faktoren gefördert: der Wert der eigenen Nation bzw. Rasse zeigte sich durch Expansion. „White man's burden" und „am deutschen Wesen soll die Welt genesen" sollen zur Illustrierung dieser Denkweise als Schlagworte genügen. Zudem war Imperialismus das geeignete Schlachtfeld zur Verifizierung, ob man in der Arena des Sozial-Darwinismus des Überlebens würdig war. So nahm auch der Nationalismus eine neue Dynamik an, die stärkere Leitbilder brauchte als die alten Hohenstaufenkaiser oder als Giuseppe Garibaldi. Diese Leitbilder hatten noch nichts mit Zarathustra's „Übermensch" zu tun gehabt, die erst verspäteten Nationen waren aber nunmehr ihrer selbst sicherer geworden und strengten sich für ihre Expansion an. Das bedingte eine gesteigerte Anfälligkeit für militärische anstatt zivile Leitbilder. Dementsprechend nahm man das Nibelungen-Epos aus seinen historischen Bezügen heraus und erklärte die Unauflöslichkeit des Bündnisses zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn mit „Nibelungentreue". Wir wissen, daß das politisch falsch war und führen diesen Fall an, um zu zeigen, daß die Geschichts-Mystik schon so stark das Bewußtsein beherrschte, daß man sich zum Gefangenen des geistigen Gehalts machte, den man in sie hineingelegt hatte. Ein weiteres Beispiel stammt aus Italien. Wenn Garibaldi ausgerufen hatte: „O Roma - ο morte!", dann hatte er damit einfach gemeint, er wolle lieber sterben, als darauf zu verzichten, das noch päpstlich beherrschte Rom zur Hauptstadt des vereinten Italien zu machen. Doch schon vor dem Ersten Weltkrieg empfanden sich die Nationalisten in Italien als bewußte Nachfahren der alten Römer, weshalb sie sich auch verpflichtet fühlten, am Mittelmeer nach Art der alten Römer expansive Politik zu betreiben, „...o morte" hieß dann zugespitzt, daß Italien im sozialdarwinistischen Überlebenskampf dies entweder erreichen oder untergehen werde. Das Gefühl und auch das ideologisch untermauerte Bedürfnis, sich in einem gnadenlosen Überlebenskampf der europäischen Nationen untereinander zu befinden, schuf eine weitere Voraussetzung für totalitäre Geschichts-Mythen: das institutionalisierte Feindbild. Heute würde man formulieren, Außenpolitik war damals als nicht anderes denn als „Nullsummen-Spiel" zu verstehen. Deutschland und Frankreich fühlten sich in „Erbfeindschaft" gegeneinander. Daran stimmte, daß beide Staaten erhebliche außenpolitische Interessengegen13 Timmermann / Gruner

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sätze hatten, aber die Übersteigerung ins Allgemeingültige bestand darin, daß dies auch unmöglich zu irgendeiner Art von Ausgleich führen durfte und konnte. Vielleicht sind wir hier auf der Spur des mächtigsten aller Mythen der Geschichte, der um 1900 noch durch den Sozial-Darwinismus unterstrichen wurde: des Mythos des unausweichlichen Schicksals, des Schicksals als einer an sich paradoxen Gottheit: denn sie ist zu erkennen, obwohl sie übermenschlich ist, aber es ist ihr nicht zu entkommen, eben weil sie übermenschlich ist! Durch Behauptung eines „Schicksals" konnten die Totalitären besonders gut Verbindlichkeit ihrer Ideologie herstellen, denn das „Schicksal" hängt nicht von den Totalitären ab, es tritt überpersönlich auf, es ist das Göttliche in zeitgemäßer Gewandung. Das Pathos eines solchen Schicksalsverständnisses überdeckt dabei den Gedanken, daß man das Schicksal auch einmal in die eigenen Hände nehmen kann. Die slawische, hauptsächlich russische Welt hatte auch ihre Geschichts-Mythen, die insgesamt den Boden für den bolschewistischen Totalitarismus vorbereiteten. Denn der offizielle Mythos, die unbedingte Autokratie des von Gott eingesetzten Zaren, des Garanten der Gottwohlgefälligkeit des Reiches seiner Untertanen, konnte sich immer weniger gegen die geistigen Einflüsse des Westens behaupten. Der Ausweg bestand in der Monstrosität, den russischen Nationalismus mit der religiösen Grundlage der Autokratie zu verbinden. Demnach mußte das russische Volk ein auserwähltes werden, das daher alle slawischen Völker an sich zog, und das seine Auserwähltheit zum Kampf mit dem gottlosen, dekadenten Westen einsetzte: ein chiliastischer Kampf zwischen Licht und Dunkel war erforderlich, mit dem Zaren als Gottvater, dem russischen Volk als den Engeln des Jüngsten Gerichts und dem Westen in der Rolle der Verdammten. Da Rußland von der Aufklärung nur recht oberflächlich berührt worden war, trug sein Geschichts-Mythos, der panslawistische, besonders deutliche Zeichen des christlichen Mythos an sich. Die Bolschewisten haben diese Art von Jüngstem Gericht durch die Weltrevolution ersetzt, die zaristische Autokratie faktisch durch die Tyrannis des Generalsekretärs der KPdSU, und ebenso das westliche Feindbild in Gestalt des Kapitalismus aufrecht erhalten. Doch wir eilen voraus: noch sind wir vor 1914, und alle beschriebenen geistigen Tendenzen sind erst vorbereitender Art. Die traditionellen Kräfte, auch die der politischen Vernunft, waren noch zu stark, um einen totalitären Diktator Platz machen zu müssen. Die konservativen Eliten standen dem Durchbruch des Chiliasmus entgegen. Doch die konservativen Eliten schalteten sich durch

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ihr Versagen selbst aus, indem sie in einen Weltkrieg hineintaumelten, dessen Verlauf sie nicht in der Hand hatten und der sie daher auffraß. Allerdings waren sie bereits von Geschichts-Mythen infiziert: neben der schon erwähnten „Nibelungen-Treue" Deutschlands stand der Sozialdarwinismus des österreichischen Generalstabschefs Conrad von Hötzendorf, der Serbien demütigen wollte, da er den Fortbestand der altersschwachen DoppelMonarchie nur noch durch einen gewonnenen Krieg sichern zu können glaubte. Insgesamt war man einem weiteren Haupt-Mythos zum Opfer gefallen, der neben den „Übermenschen" und das „Schicksal" in gleich umfassendem Charakter zu stellen ist: dem Mythos vom Krieg als dem Vater aller Dinge, wobei in zeitüblicher „terrible simplification" unter „Krieg" ausschließlich der militärische verstanden wurde. Die Irrationalität und Doppeldeutigkeit dieses Mythos ist besonders augenfällig. Denn man nahm das den Kriegen eigentümliche Risiko des negativen Ausgangs auf sich, und das zeigt letztlich, daß die konservativen Eliten 1914 der Stabilität ihrer Herrschaft nicht mehr sicher waren. Der oben erwähnte, mythenfördernde Ästhetizismus trug seinen Teil dazu bei. Denn der einem Kunstwerk eigene Ästhetizismus ist etwas anderes als die Verantwortung vor der politischen Wirklichkeit, er ist insofern verantwortungslos. Besonders deutlich wird das an der damals weit verbreiteten Verherrlichung des Krieges: da war mehr und Grundsätzlicheres im Spiel als die fröhliche Zuversicht zumal der Preußen, nach den drei siegreichen Einigungskriegen mit Bismarck und Moltke auch den von 1914 noch bestehen zu können. Es war der Mangel an Phantasie, wie einschneidend grausam ein mit modernen Waffen geführter Krieg ausfallen mußte, grausamer als alle vorhergehenden der Geschichte. Der Ästhetizismus mit seiner poetischen Phantasie hatte diese Art von praktischer Phantasie nicht zur Entfaltung kommen lassen - nicht nur er, aber in seiner politischen Verantwortungslosigkeit hatte er wesentlich dazu beigetragen. Der Krieg war „schön", nicht nur, weil man die vergangenen Kriege durch die Schönfärberische Brille der Geschichtsmythen betrachtete, sondern weil mittlerweile Grausamkeit überhaupt als „schön" betrachtet wurde - Nietzsche in seinen letzten Werken hatte dieser Auffassung den Boden bereitet, darum hatte er von „lachenden Löwen" gesprochen. Gewalt als Wert an sich das war die Idee, die diejenige von positivem Krieg als dem Vater aller Dinge trug. Gewalt hatte etwas Reinigendes an sich - aber die „Reinigung" konnte nur bedeuten, die konservativen Eliten hinwegzufegen und damit einer neuen Ordnung den Weg zu eröffnen. Die neue Ordnung Europas konnte nur in dem Ersatz der Aristokraten und Monarchen durch die Demokratie bestehen oder 13*

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durch die Herrschaft totalitärer Ideologie, deren Elemente bereitlagen. Lenin hat das in seinem Züricher Exil deutlich gesehen: ohne kriegsbedingten Zusammenbruch des Zarismus keine bolschewistische Machtergreifung. Wir ergänzen: ohne Zusammenbruch Deutschlands 1918 keine nationalsozialistische Machtergreifung, und ohne die tiefe Erschütterung Italiens durch die Anspannung des Krieges kein „Marsch auf Rom". Ohne diese Umwälzungen kein Bedürfnis nach neuer Verbindlichkeit und weltanschaulicher Sicherheit, kein wirkungsvoller Ansatzpunkt also für totalitäre Ideologie. Um es zugespitzt auszudrücken: es brauchte den Weltuntergang des Ersten Weltkrieges, um europäische Völker empfänglich zu machen für den eschatologischen Horror, der die Atmosphäre des totalitären Chiliasmus bildet. Die beschriebene Brutalisierung der politischen und philosophischen Denkweise hatte durch den Weltkrieg geradezu ihre Bestätigung erfahren. Der Rest war geschickte politische Taktik der Totalitären sowie Ausnützung der Fehler und des schlechten Gewissens der Siegermächte. Den Rassismus hatte man schon; aus ihm konnte die Dämonisierung und Notwendigkeit der Ausrottung der Juden gefolgert werden, die im übrigen das stets erforderliche Feinbild lieferten. Schließlich ist noch einmal zu fragen, warum die Geschichtsmythen des Totalitarismus nicht imstande waren, die Herrschaft des Totalitarismus zu erhalten. Darauf sind mehrere Antworten möglich: 1. Der Chiliasmus trieb die deutschen Totalitären in den Krieg, den sie als positives Leitbild weiter kultivierten und der sie 1945 auffraß wie 1918 die konservativen Eliten. Deutschland zog dabei Italien mit sich. Die mit dem Chiliasmus notwendigerweise verbundenen Feindbilder erwiesen sich letztenendes als selbstzerstörerisch. Gegen die Realität der militärischen Niederlage versagt jeglicher Geschichtsmythos, er sei so allgemein akzeptiert wie immer, denn er ist unter die kriegerische Falsifizierung bzw. Verifizierung von Anfang an gestellt gewesen. Vielleicht wirkt er anschließend doch noch weiter, etwa modifiziert. Aber das ist nicht mehr mein Thema. Jedenfalls aber hat er den Totalitarismus nicht am Leben erhalten können. 2. Im sowjetischen Fall liegen die Dinge anscheinend anders, da die Sowjetunion nicht durch Krieg, sondern durch die praktische Untauglichkeit ihrer Ideologie zugrunde gegangen ist. Doch die NS- und die faschistische Ideologie haben ihre praktische Untauglichkeit ebenfalls bewiesen, nur dadurch, daß sie Deutschland in einen Krieg mit fast der ganzen Welt verwickelt haben. Das war ähnlich dem Gottesurteil im mittelalterlichen Wege des Zweikampfes: dort hat Gott, also die Weisheit und Gerechtigkeit, durch den Ausgang des Zweikampfes gezeigt, auf welcher Seite Weisheit und Gerechtigkeit in Wirklichkeit lagen.

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Hier liegt die Niederlage, jenseits der strategischen Kalküle und Zufälle des Krieges, in der Einseitigkeit der Ideologie selbst. 3. Sie hat also auch geistig versagt. Es ist nicht möglich, die „Ablehnung traditioneller Werte" (siehe oben) im Europa des 20. Jahrhunderts umfassend zu machen. Man kann nicht binnen weniger Jahrzehnte das Christentum und auch nicht die Aufklärung abschaffen. Das ist allenfalls in langem geistesgeschichtlichem Prozeß möglich, dessen Beschleunigung durch keinen Tyrannen anbefohlen werden kann. Das Verblassen des Christentums hat die Europäer nicht zu dem andauernden Bedürfnis geführt, eine „Ersatz-Religion" zu bekommen, da die Werte der Aufklärung weitaus weniger verblaßt sind als die des Christentums. Der politische Chiliasmus geht davon aus, daß die Weltgeschichte beschleunigt werden kann, denn in Endzeiten wäre das historische Leben unter dem Druck des bevorstehenden „Qualitätssprunges" auf die Gemüter hektischer. Aber die Weltgeschichte kann nicht beschleunigt werden, da kraft der Nachwirkung der Aufklärung die chiliastische Notsituation viel zu wenig akzeptiert wird. Ferner zeichnet sich das europäische Geistesleben durch einen Pluralismus und Dynamismus aus, der zwar auch totalitäre Ideologien hervorgebracht hat, aber eben nur als eine unter mehreren seiner Ausprägungen. In diesem Zusammenhang können auch Geschichtsmythen keinen unbedingten und andauernden Glauben beanspruchen. Die Deutung der Vergangenheit ist ebenso beständig im Fluß wie die Zeitalter, denen die Deuter der Vergangenheit angehören. Die Totalitären konnten dem eine Art theokratischer Versteinerung mit Aussicht auf Erfolg nicht dauerhaft entgegenstellen. Je mehr Taktik sie brauchten, um an die Macht zu kommen, desto klarer war, daß sie kein historisches Gesetz für sich hatten, sondern nur die augenblickliche Konjunktur, die ihnen zur Macht verhalf. 4. Die Geschichtsmythen waren zu künstlich, um ernsthaft überzeugend zu wirken. Die Deutschen und die Italiener griffen auf die germanische und römische Antike zurück, aber was in der Renaissance eine interessante und fruchtbare Bereicherung des Geisteslebens gewesen war, das hatte keinen realen Bezug zur politischen Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts. Das Symbol der Liktorenbündel machte die Italiener nicht wieder zu welterobernden Römern. Hier hat der Ästhetizismus dem Faschismus einen Streich gespielt. Und das germanische Altertum war zu weit weg, um die Deutschen des 20. Jahrhundert zu Recken der Völkerwanderung werden zu lassen. Die Verherrlichung des Krieges wird in jedem Volk immer eine Anzahl von Anhängern finden; aber niemals wird auch nur eine bedeutende Minderheit eines Volkes diese Denkweise als Leitstern nehmen. Die Deutschen haben Hitlers Krieg geführt und wurden von den Gegnern als die qualitativ besten Soldaten des Weltkrieges

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anerkannt; aber sie taten das nicht, weil sie vom Heldenideal der nordischen Rasse überzeugt waren, sondern aus sonstigen Gründen, die hier nichts zur Sache tun. Es war auch wohl nicht einmal eine bedeutende Minderheit, die von ihrer Zugehörigkeit zu einer Herrenrasse überzeugt war. Die ausgefeilten Masseninszenierungen der Diktatoren waren glänzend, aber ihre Beeinflussung der Denkweise von Deutschen und Italienern darf nicht überschätzt werden. Auch hier hat der Ästhetizismus zwar eine Kulisse, aber keine Substanz geschaffen, weil das gar nicht möglich war. Möglicherweise wurden die Totalitären mit ihren Multi-Media-Schauen die ersten, die den Einfluß von Inszenierungen über den Augenblick hinaus überschätzt haben. Im sowjetischen Falle scheiterte der Versuch, die Menschen zu planwirtschaftlicher Arbeitsdisziplin zu erziehen, weil er einfach das Ergebnis des Dogmas von der Verderblichkeit des Privat-Eigentums und damit ideologisch allzu konstruiert war. 5. Die Sowjets wollten einen „neuen Menschen" schaffen, und Nazis und Faschisten hatten dasselbe Ziel. Der „neue Mensch" sollte den qualitativen Sprung in der Geschichte schaffen. Aber der Versuch scheiterte daran, daß die Lehrmeister selbst Produkte einer Konfiguration der bisherigen Geschichte waren. Man kann nicht aus der Geschichte aussteigen, weil die mythische Figur des „Übermenschen" ein Produkt der Phantasie und nicht der Wirklichkeit ist. Auch hier hat sich der Ästhetizismus gerächt, indem er die Unwirklichkeit für Wirklichkeit ausgab. Das monotheistische Muster von der Gegenüberstellung von Transzendenz und Immanenz mag geglaubt werden oder nicht: aber die Totalitären haben es auf ihre Weise aufgegriffen, indem sie den Chiliasmus, diesen Einbruch der Transzendenz in die Immanenz, predigten, und sie brauchten das, um ihre Diktatur zu rechtfertigen. Denn um eine moderne Gesellschaft auf totalitäre Weise zu beherrschen, muß man auf die stärkst-mögliche Legitimation zurückgreifen, sonst bleibt man eine Partei unter anderen. Damit aber muß man den Boden der Realität verlassen, denn die Transzendenz ist im politischen Leben keine Realität. Sie genügt auch dann auf Dauer nicht, wenn man eine tatsächlich auf eine Transzendenz, also auf eine religiöse Offenbarung gestützte Herrschaft errichten will. Das zeigen die Weltherrschaftsabsichten des Papsttums im Mittelalter, und das zeigen auch die gegenwärtig im Iran herrschenden islamischen Fundamentalisten, auf deren lange Herrschaftsdauer man nicht unbedingt wetten möchte. Das Fazit ist also, daß die Totalitären im geistigen Anspruch übertrieben haben und daran gescheitert sind, auch wenn die geistige Übertreibung zu einer

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bisher nicht dagewesenen Steigerung staatlicher Machtmittel gezwungen hat, und auch wenn dieser Steigerung die Mittel der modernen Technik und Kommunikation zu Hilfe kamen. Genau diese Kommunikation war gleichzeitig ein weiterer Grund des totalitären Scheiterns. Denn sie hält die Verbindung zu Gebieten außerhalb des eigenen Herrschaftsbereichs hinreichend offen, um den geistigen Ausschließlichkeitsanspruch in diesem Bereich zu unterlaufen. Der Sowjet-Kommunismus ist auch an dieser Unmöglichkeit, Kommunikation zu begrenzen, ideologisch gescheitert. A m Ende sei ein kurzer Ausblick gestattet. Daß das Scheitern der bisherigen Totalitärismen solche politischen Formen in Zukunft ausschließen würde, kann gegenwärtig nicht als ausgemacht gelten. Die historische Konjunktur, die Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus ermöglicht hat, ist vorbei; eine andere Konjunktur mag andere Inhalte, andere Geschichts-Mythen von Totalitarismus hervorbringen. Ein Bedürfnis nach Heilslehren, nach einem Messias in weltlichem Gewände, ist schon so oft in der Geschichte aufgetreten, daß seine Wiederholung in der Zukunft nicht ausgeschlossen werden kann. Die Verwendung von verabsolutierenden Denkmustern kann sich stets des Formenschatzes der monotheistischen Religionen bedienen und damit suggerieren, eine neue Religion zu sein. Und die Geschichte ist geradezu deswegen, weil sie, wie gesagt, ohne Deutung nicht auskommt bzw. durch diese erst zusammengestellt wird, sicherlich noch mancher anderer Deutungen fähig, die dann eben zu Geschichtsmythen werden.

Intellectuals in the Transition from Imagined to Real Existing Democracy By Ivan Bernik

I . Intellectual Skills and the Skills of Intellectuals The main concerns of current discussions on the changed role of intellectuals in Central European new democracies is aptly summed up in T.G. Ash's claim that „the independent intellectuals have fallen from abnormal importance, which they had before 1989, into abnormal unimportance". 1 This statement seems representative in two respects; on the one hand it clearly expresses a widely held idea that intellectuals are one of the major losers of the transformation processes, on the other hand it indicates, by using a rather vague notion of „abnormality" - that this dramatic change of intellectual's role has not been systematically accounted for. Moreover, his statement also indicates a broad span of questions which should be examined to explain the changing role of intellectuals: Their present „abnormal" position cannot be understood if their initial favorable position is not analyzed and compared to the present one. This paper will focus on some questions indicated by the above statement. In the first part, some aspects of the question why and whether the role of intellectuals in Central European socialist societies can be designated as „abnormally important" will be dealt with. This analysis will not concentrate only on the political role of intellectuals, but it will also try to examine how the intellectual's ideology and actions were related to their position in stratification orders of socialist societies. In the second part of the paper, some aspects of transformation of intellectuals political role will be illustrated on the basis of data from Slovenia. In the final part of the paper, some hypothetical conclusions regarding the present role of Intellectuals in Central European will be presented. Because a lengthy discussion of the possible meanings of the concept of intellectuals is out of scope of this study, it seems necessary to indicate which de1

GartonAsh, T.: „Intellektuelle und Politiker", in: Transit, 10 (Herbst) 1995, S. 153.

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finition of this concept will be employed in the next sections. From the point of view of this paper, it seems important that in the core of most definitions lies the idea that the possession of intellectual skills is a necessary but not a satisfactory constituting characteristic of intellectuals. Only when these skills are „upgraded" by a critical attitude towards social and especially political order it should be possible to speak of intellectuals. According to this view, intellectuals ' social role is actually composed of two different, and sometimes even incompatible, roles, i.e. „the role of specialist in one or other field of intellectual work (writer, scientist, professor, philologist) and the role of one who for some reason feels the call to active participation, or even leadership, in some supra-professional community" } This understanding of the role of intellectuals is largely consistent with the definitions which stress creativity as a basic characteristic of intellectuals' social role. 3 In this context, creativity is seen as a means which enables „intellectual workers" to transcend their professional specializations to the intellectual community. The above definition are actually built on a difference between intellectuals and educated stratum. In their perspective „only those educated people are intellectuals ... who criticize the world of the possible, which is the principal concern of the practical people, including those doing intellectual work". 4 But there exist also important similarities between the educated stratum and intellectuals. It can be assumed that they share - due to their possession of similar intellectual skills - similar economic, social and political status in society. Considering these similarities, the central question in studying intellectuals is, for which reasons „the call for active participation in some supra-professional community" is followed by some members of the educated stratum. To avoid an unpromising discussion at which point intellectual skills and activities turn into skills and activities of intellectuals, in this paper rather unsophisticated definitions of educates stratum and intellectuals will be used. Educated stratum will be seen as composed of all persons with an university level of formal education and whose social position is primarily determined by their intellectual skills (i.e. not, for instance, by their possession of political power or wealth), whereas intellectuals will be treated as a sub-group of educated stra-

2 Szacki, J. : „Intellectuals between Politics and Culture", in: Maclean , I. : The Political Responsibility of Intellectuals, Cambridge 1990, S. 232. 3

Etzioni-Halevy,

E. \ The Knowledge Elite and the Failure of Prophecy, London 1985, S. 9.

4 Bendix, R.: Embattled Reason. Essays on Social Knowledge. Volume I, New Brunswick 1985, S. 342.

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tum which is characterized by high level of internal cohesion and a critical stance towards social reality. I I . Educated Stratum and Intellectuals in Socialist Societies The above definition of educated stratum raises a question whether, in socialist societies, it was possible to speak of holders of diplomas as a social stratum, i.e. as a recognizable social entity. In these countries, like in other industrial societies, they were active in different organizational and functional settings, such as economy, civil services and social services. Considering these differences, it seems highly unlikely that members of the educated stratum shared similar position in stratification order of socialist societies, let alone similar interests. The normal tendency toward disintegration of educated stratum into separate professional groups was in socialist societies blocked by the attempts of political elite to shape the stratification order according to the elite's political and ideological priorities. Although effective regulation of stratification was limited mostly to the distribution of income and to the access to political power, it had important homogenizing effects on educated stratum. The precondition for this regulation was almost a complete elimination of possibilities of state-independent employment for the members of educated stratum. This implied a strong limitation of professional autonomy of the members of the stratum. An important additional effect of political regulation of stratification was, due to the fact that egalitarianism was an important ingredient of the dominant ideology, the maintenance of a low level of income inequalities between educated stratum and other strata. Thus the earnings of „intellectual workers" did not much differ or not at all 5 from the earnings of blue-collar workers. But even the effects of income distribution regulations were limited. Studies conducted in the seventies in former Yugoslavia showed that the members of educated stratum were able to compensate their relatively low earnings by appropriating a substantial share of state provided cultural, educational and recreational goods.6 Similar surveys in other socialist countries showed that members of educated stratum managed to secure privileged access to housing facili-

5 Cirtautas, A. M. und Mokrzycki, E. \ „The Atriculation and Institutionalisation of Democracy in Poland", in: Social Research, 6, 4., 1993, S. 814. 6

Klinar, P. : „0 vljenjskem stilu dru benih slojev na Slovenskem", in: Teorija in praksa, 16, 2, 1979.

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ties.7 Conclusion that, in the whole socialist period, „the highly qualified salaried employees, for instance doctors, engineers (technicians) and teachers, were better off then the other social strata, except the leading elite or power elite" 8 drawn on the basis of Hungarian surveys, seems valid also for other socialist societies. The limits of political control over distribution of social rewards were even more obvious in the sphere of professional prestige. Through two decades, the opinion surveys in Slovenia showed that the highest average prestige was ascribed to members of educated stratum and not to politicians or members of some other stratum. These findings speak in favor of a more general thesis, formulated on the basis of Polish surveys by W. Wesolowski already in the late sixties, that social stratification in socialist societies was characterized by „the decomposition of the of the attributes of social position". 9 Different studies confirmed that high level of status inconsistency was a stable characteristic of stratification systems in Central European societies.10 The educated stratum was affected by the status inconsistency in a specific way. Their high educational status and high occupational prestige were not matched by a commensurate access to economic rewards and political power. This gave rise to feelings that they were deprived of their legitimate share of social rewards. Thus the status inconsistency was a source of growing frustration and discontent of the members of educated stratum. These findings suggest that members of educated stratum were united not only by some common privileges but also by their common status frustrations. Additional arguments in favor of the thesis that they constituted a relatively homogeneous social entity were provided by mobility studies. Polish mobility studies showed that „ i n the formative years, that is, until 1956, recruitment (i.e. mobility chances, I.B.) at each stage was controlled by the political machinery of the Party". 11 In these circumstances, members of educated stratum were not able to transfer their statuses to their children. After that period direct poli7 Walder, A. G. : „Career Mobility and the Communist Political Order", in: American Sociological Review, 60, 3, 1995, S. 322. 8 Andorka, R.: „Ungarn - der nächste Anlauf zur Modernisierung", in: Berliner Journal für Soziologie, 4, 3, 1994, S. 503. 9

Weslowski,

W. : Classes, Strata and Power, London 1979, S. 115.

10 Kolosi, T. und Wnuk-Lipinski, ry Compared, London 1983, S. 191. 11

Kurcewski,

E. : Equality and Inequality under Socialism. Poland and Hunga-

J.: „Poland's Seven Middle Classes", in: Social Research, 61, 2, 1994, S. 400.

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tical control over social mobility decreased and the political elite managed to retain only the possibility to control the access to their own ranks. These findings are similar to the findings of mobility studies conducted in the eighties in Croatia and by recent studies conducted in the former East Germany. They showed that the direct political control over allocation of individuals to different social positions almost disappeared in the course of „maturation" of the socialist order and that educated stratum established the highest level of selfreproduction of all social strata. 12 Even if political loyalty remained a condition for social promotion it was only of secondary importance compared to educational achievement.13 Although in the „mature" socialist societies in Central Europe the educated stratum managed to strengthen its social position relative to other social strata, its status frustrations were not pacified. It was getting even more obvious that the frustration of its members were both „material" and „moral". The former were related to the fact that their share in economic rewards was limited by political regulation. Therefore, most of the members of educated stratum saw that allocation of economic goods based on market competition would be beneficial for them. 14 The source of their „moral" frustrations was political supervision of their professional activities. Although, in the „mature" socialist societies, this supervision took mostly subtle and defensive forms, it was incongruent with the growing self-assurance of the educated stratum. Therefore, the members of educated stratum were interested in radical limitation of the prerogatives of political elite not only in economic but in other spheres. These homogenizing tendencies did not exclude the existence, within the educated stratum, of various sub-groups, which experienced different level of „material" and „moral" frustrations. There was one sub-group which strongly felt the latter frustration. It consisted of those individuals who were able to articulate and voice new culturally and politically relevant ideas. This subgroup was mostly recruited from the professions such as philosophers, social scientists, journalists, writers and artists. Because of their specific intellectual skills, their professional activities were closely politically surveilled to ensure 12

Sekuliœ, Ζλ: „Regrutacija na elitne plo aje", in: Sociologija, 29, 4, 1987.

13

Solga, H. : „Systemloyalität als Bedingung sozialer Mobilität im Staatssozialismus am Beispiel der DDR", in: Berliner Journal für Soziologie, 4, 3, 1994, S. 539. 14

Analyzing social changes in China, A.G. Walder also acknowledged that „professionals do not receive the returns to education that they would in a market economy" ( Anm. 7., S. 324). His conjectures are not surprising: „Therefore Chinese professionals might reasonably expect that a transition away from central planning and Party dictatorship would bring them authority and material compensation more consistent with their education and occupational prestige." (ebenda).

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their loyalty. Of all sub-groups within the educated stratum, members of this sub-group were exposed to most obvious „expropriation of their professional prerogatives". 15 Members of this sub group can be called intellectuals. The extent of control to which the intellectuals were exposed made the emergence of overt political dissent a long and contradictory process. Although there were some short periods of permissiveness, cultural and especially political dissent was severely punished in all Central European societies till the end of seventies. In the eighties two strategies of dealing with the political nonconformist on the part of the ruling elite crystallized. Where in some societies political elite stuck to the strategy of repression in other societies a more flexible strategy of selective domestication was gradually employed. In societies, where the first strategy was used - as in Czechoslovakia and East Germany - the political elite continued to keep political nonconformism marginalised by repression. The strategy of domestication, which was followed in Hungary, Slovenia and, with some oscillations, in Poland, tried to contain political nonconformism by establishing a dialog with some nonconformist intellectuals and marginalising the others. Contrary to the expectations of political elite, this strategy led to a gradual de-marginalization of nonconformist intellectuals. At the same time it also facilitated internal differentiation both in the ranks of political elite and nonconformist intelectuals.16 Thus the preconditions for a gradual and relatively regulated „exit from socialism" were created, whereas the strategy of repression led to sudden outbursts of accumulated tensions and a more revolution-like overthrow of the old regimes. Although the course of events which lead to the overthrow of the socialist regime was different from society to society, in all cases the role of intellectuals was of exceptional importance. 17 At the same time, all other sub-groups of educated stratum did not openly express their dissatisfaction with the regime in the early phases of democratization attempts. Nevertheless, it would be wrong to underestimate the role of „silent majority" in the process of democratisa-

15 Baumann, Ζ.: „The Polish Predicament: A Model in Search of Class Interests", in: Telos, 92 (Sommer), 1992, S. 121. 16 According to A. Bozoki (s. Anm. 31), S. 94f, in Hungary four groups of intellectuals with different - but always critical - stances to the regime could be discerned: intellectuals as reformers, populist critical intelligentsia, the urban intellectual opposition and the mediacrocy. The urban intellectual opposition represented the hard-core of political nonconformism. 17 Garton Ash, T. : We the People: The Revolution of 89. Witnessed in Warsow, Budapest and Prague, Cambridge 1991.

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tion. 18 The covert withdrawal of political support to the regime on the part of educated stratum provided an important background for the active opposition to the regime on the part of intellectuals. To understand better the role of „silent majority" of the educated stratum, one must bear in mind that it comprised also those sub-groups which directly „served" the political elite, e.g. those employed in the military, police and other branches of state apparatus. The fact that also they had little interests in upholding the old regime, had contributed to the surprisingly peaceful nature of the Central European democratization. When the ruling elite realized that it could not rely on the political loyalty of those parts of educated stratum on which services it was most dependent, the only remaining solution was a peaceful withdrawal. 19 I I I . Ideology of Intellectuals: Defending the Interests of Society So far nothing has been said about the ideology in terms of which the nonconformist intellectuals articulated their „material" and especially „moral" frustrations and legitimated their political dissent. The question of intellectuals4 ideology in socialism seems especially relevant due to the widely accepted assumption that in different social contexts intellectuals are able - due to their undefined position in stratification system - to take the role of „a watchman in what otherwise would be a pitch-black night". 2 0 Their ability to elaborate an unbiased perception of society's perspective should explain why in periods of political and cultural crises their ideology can find a broad public resonance. Contrary to these ideas, it will be argued in this section that ideology of nonconformist intellectuals was not unrelated to their position in stratification order and their group interest. But it will be also argued that this relation was intransparent due to the fact that the ideology of nonconformist intellectuals was couched in abstract and universalistic terms.

18 It would be equally wrong to underestimate the role of mass dissatisfaction and mass protests in the transformation process. An analysis of their role is out of scope of this paper. 19 This rapid and peaceful withdrawal was surprising even for the protagonists of democratic movements. P. Pithart, the first post-socialist prime minister of Czechoslovakia, reports that the Civic Movement was offered, by the representatives of the old regime, to nominate new ministers before they were ready to do that (see Pithart , Anm. 32). 20 Mannheim, K. \ Ideology and Utopia. An Introduction to the Sociology of Knowledge, London 1949, S. 141.

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The key characteristics of intellectuals' ideology were well epitomized by the idea of civil society which „had been the democratic (and revolutionary) password of the opposition since the mid-1970s". 21 The particular attractiveness of this idea for the critics of socialist regimes was in its focus on dichotomy between state and society. In this dichotomy, state stood for control and rigidity and society for self-organization and spontaneity. Applied to socialist societies, the idea of civil society proved both its analytical and motivational potentials. From its perspective, the crisis of socialist societies was explained as a consequence of the mortification of society's evolutive and self-regulative potentials by the omnipotent socialist state. In this perspective, transformation of socialist societies could be effected only by revival of its internal potentials and by limiting the state to its „natural borders". In the framework of the idea of civil society, the nonconformist intellectuals also defined their „mission". They did not see themselves neither as „organic intellectuals" of a specific class, stratum or professional group nor as advocates of their own interest, but as defenders of the society's „rights" versus the authoritarian state. Their political nonconformism was not conceived as a means to achieve particular political aims, but universal ones. That is why they did not perceive their ideas and activities as political ones, but rather as „anti-politics". Paradoxically, this sophisticated anti-political and seemingly disinterested stance had far-reaching political effects. Two aspects of the civil society ideology seem especially important. First, although the nonconformist intellectuals saw themselves as a „vanguard" of the resistance against authoritarian regime, their role was not conceived in terms of exclusion of other political actors. Their proclaimed aim was to create a free space in which different social interests could express themselves or, more pathetically, to help society to come out spontaneously in form of different social movements, forums and initiatives. Secondly, the unfolding of civil society and the demise of the socialist state was seen a evolutionary process and not as a sudden, revolutionary overthrow of the old order. Thus the civil society ideology legitimized high openness of nonconformist intellectuals towards different forms and contents of political dissent in the early phases of the democratization. It enabled intellectuals to respond sensitively to the dissatisfactions of the „people" and even act as organizers and legitimizers of mass protest. By stressing the importance of spontaneity and evolution, this ideology also contributed

21

Ost, D. \ „The Politics of Interests in Post-Communist East Europe", in: Theory and Society, 22, 4, 1993, S. 455.

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significantly to the peaceful demise of the socialist old regimes in all Central European societies. Although principled and „unbiased", the criticism of the old regime implied in the civil society ideology was nevertheless strongly related to the vital interests of intellectuals. As already indicated, their main interest was to assure their professional autonomy and to improve their economic status. The attempts of the „civil society" revival and the corresponding radical limitation of the prerogatives of the state were clearly instrumental for materialization of these interests. From this point of view, it can be argued that civil society ideology was the most „appropriate" ideology not only of intellectuals but of the whole educated stratum. I V . Slovenia: The Vicissitudes of „Intellectual Movement" in the Great Transformation Although the Yugoslavia (Slovenia was one of the federal units of Yugoslavia until 1991) nonconformist ideas and activities were exposed to less strict surveillance than other Central European societies, the pattern of control over intellectuals' activities was not much dissimilar form the pattern which prevailed in other societies. In the periods of reforms initiated by the political elite the intellectuals were given some autonomy, whereas in the periods of consolidation of the socialist regime all forms of intellectual nonconformism were marginalized. The rather benevolent reform period in the late sixties was followed by a strict control not only over political noncoformism, but also over other nonconformist intellectual activities in the seventies.22 In the beginning of the eighties the death of the undisputed political leader, J. B. Tito, deeply changed the political atmosphere in Yugoslavia. Due to his pivotal role in the political system, Tito's death destabilized the whole political system. At the same time, the country experienced a worsening economic crisis. The situation of political and economic instability was additionally complicated by high level of economic and cultural heterogeneity of Yugoslavia. But for intellectuals, the crisis-ridden situation opened new opportunities, especially due to the fact that the ability of increasingly internally divided political elite to keep intellectual noncoformism under control was declining. In Slovenia, this situation led not only to growth of intellectuals' activity but to the gradual turn in its content and orientation. In contrast to earlier nonconformism 22

Rüpel, D. \ „Alternativna gibanja ν Kulturi", in: Neformalne dejavnosti v slovenski dur bi. SSD, Ljubljana 1987, S. 243. 14 Timmermann / Gruner

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which was motivated either by the aim to make socialist society more efficient or to bring it closer to the communist ideals, the new nonconformism was marked by deep disenchantment both with the existing socialism and socialist project. The growth of political nonconformism in Slovenia was marked especially by the emergence of independent journals which enabled dissemination of ideas which had been previously limited to narrow intellectual circles. The decisive steps in this direction was the establishment of an independent journal „Nova revija" (New Review) in 1982 and the gradual „takeover" by nonconformists of „Mladina" (The Youth), a weekly of the Youth organization (i.e. the organization which was till the beginning of the eighties one of the pillars of the regime). The group around „Mladina" consisted mostly of younger intellectuals, whereas most members of the „Nova revija" group were middle-aged. But it was not the only difference between the groups. The ideology and activities of the younger group was strictly anti-political, i.e. the main aim of their political dissent was to facilitate the emergence of civil society and thus to create space for „autonomous social actions". 23 In the core of „Nova revija" group dissent was the idea that political democratization in Slovenia is inseparably linked to a solution of Slovenian „national question", i.e. to a redefinition of the position of Slovenia in Yugoslav federal state and in changing Europe. 24 This idea stimulated lively activities which culminated in publication of an issue of Nova revija on Slovenian national program in 1987 and an issue on Slovenian independence in 1990. Additionally, publication of an alternative draft of a Slovenian constitution was initiated by the Nova revija group in 1988. The initial attempts of the Slovenian political elite to suppress the dissenting ideas and actions, especially activities of the group around „Nova revija", proved rather unsuccessful. As a result, the elite resorted to the strategy of selective domestication of political dissent. But the unintended consequences of this strategy were much more important than the intended ones. Instead of containing the nonconformist activities, it strengthened the self-confidence of noncoformist groups. But at the same time, this strategy also enhanced the ability of the political elite to adapt to the changed situation. In this process, which included no formal negotiations between the old and the emerging political elite, the nonconformist groups were gradually transformed into organized political opposition, whereas the Communist Party was transformed into a political party. At the same time, the other indispensable institutional prerequisites for the 23

Mastnak, T. : Vzhodno od raja, Ljubljana 1992, S. 143ff.

24

Buèar, F.: „Socialism in nacialno vpraSnje pri nas", in: Nova revija, 2, 15/16, 1993.

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first democratic elections, which were held in 1990, were established. This process was characterized also by growing consensus between the old and the new elite on the modalities of solution of the Slovenian „national question". This consensus was most obviously reflected in the referendum on independence of Slovenia which was organized in 1990 and in the proclamation of its independence in 1991. The emergence of consensus on the modalities of transition to democracy and state-building in Slovenia was facilitated by political and economic developments in Yugoslavia. The attempts to reorganize the federal state after Tito's death lead to disintegration of the ruling elite along the lines of federal units and, in some cases, even inside these units. The disintegration of the Yugoslav political elite was reflected also in different strategies of coping with political dissent in different federal units. The external pressures on Slovenian authorities, especially on the part of Serbian leadership and the military, to clamp down on political dissent in Slovenia had just the opposite effects. To retain some public support, the Slovenian elite had to support, although reluctantly at the beginning, the demands of nonconformists for greater autonomy of Slovenia inside the federal state and, finally, the withdrawal of Slovenia from it. In the late eighties, the external pressures led even to tacitly coordinated actions of the old and the emerging political elite aimed to counted these pressures. The time of triumph of the „intellectual movement" 25 over the old regime was also the time of first disappointments for the protagonists of democratization. Results of the first democratic elections showed that the anti-political part of intellectual movement was unsuccessful in adapting to the democratic political competition. Not only that their candidates were not among members of the new parliament, also their critical voices lost almost all resonance in the new political institutional framework. Because they saw themselves as custodians of civil society, their disappointment was primarily related to its „behavior". They interpreted the decline of their own political influence as a consequence of the rise, in the process of democratization, of those parts of civil society which were „politically and democratically undeveloped". 26 The success of both political late-comers and of the transformed Communist Party at the first election was a sign that also the merits of other veterans of the democratization were not recognized by the voters. This was most clearly demonstrated by the case of the Slovenian Democratic Alliance, a party which

14*

25

Hribar,

26

Mastnak (s. Anm. 23), S. 158.

S.: „Ustavite desnico", in: Delo, 18.4.1992.

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was founded mostly by the members of „Nova revija" group. Although the party was the third strongest member of the new ruling coalition after the first election, it had few reasons to be satisfied with its political influence. In the coalition, it was „surrounded" mostly by rightist parties funded by politicians who joined the democratization process at a rather late stage. After a brief, heroic period in which political activities were concentrated on state-building and building of democratic institutions the tensions between the Democratic Alliance and its political partners started to grow. The disappointment of the Democratic Alliance with its partners was not based only on disagreements about individual policies, but on the feelings that in the coalition a political course prevailed which could endanger the new democracy. These feelings were expressed in a dramatic tone in a newspaper article „Stop the Right", written by one of the leading personalities of political nonconformism in Slovenia, at that time a member of the Democratic Alliance and a member of parliament. In the article, she argued that political and ideological activities of increasingly aggressive rightist parties were endangering the achievements of democratization initiated „by intellectual movement" 27 and had mortifying effects on the dynamics of civil society. 28 Although the ambition of the article was to re-initiate an „intellectual movement" for defense democracy on a non-party basis, there was almost no response from those to whom it was addressed. There were only rabid reactions from those who felt attacked by the appeal. In effect, the article was an event in the process which led to the dissolution of the ruling coalition. In the new ruling coalition, which was formed in 1992, the Democratic Alliance fund itself in a more friendly environment without the rightist parties. Nevertheless, the troubles of the Democratic Alliance were not over. Weakened by internal divisions (due to which the party was renamed into Democratic Party), the was one of the losers of the second parliamentary elections at the end of 1992. The election results intensified tensions in the party. As most of the leading members left the party and joined the strongest party in the ruling coalition after 1992 election, the Liberal Party, the Party/Alliance was reduced to a small and rather insignificant party. The attempts of the party leadership, consisting of a journalist, an university professor and a writer, to avoid the marginalisation of the party on the political scene does not seem to be success-

27 28

Hribar (s. Anm. 25).

The author of the article, Spomenka Hribar, retired from political assignments before the parliamentary elections in 1992.

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fill. At the parliamentary election in 1996 the party lost its last seats in the parlaiment. 29 The bleak history of the Democratic Alliance has not to demonstrate that intellectuals have been squeezed out of politics and marginallised again in the advanced stages of democratization. It rather demonstrates that their role in transition from imagined to real existing democracy has been shaped by double process of differentiation. The first aspect of differentiation has been related to the political and ideological differentiation in the ranks of intellectuals. In the early stages of democratization the intellectuals were united both by a common enemy and by common not only by common enemy but also by common political and ideological aims. As these uniting forces gradually disappeared in the advanced stages of democratization, differences in political and ideological preferences of the members of „intellectual movement" have become manifest. In this circumstances, the call „to stop the right" was just one of the attempts to stop the dissolution of the „supra-professional community" of the veterans of democratization. As indicated, the attempts to revive this community failed and the former political nonconformists have been active as politicians in different, even opposing parties. The disintegration of „supra-professional community" has implied also a differentiation and specialization of professional roles. Whereas the political roles of nonconformist intellectuals were characterized by a high level of diffusion (i.e. they were for instance both social scientists and politicians or, even better, neither social scientists nor politicians proper) and the democratic political competition both specialization and professionalization of political roles. In the new circumstances, the former specialist in general criticism have had to concentrate their energies on politics as profession or on their primary professional specialization. Many intellectuals have had difficulties to adapt to the pressure to specialize and to limit its primary loyalty either to their political community or their professional group. These difficulties can be interpreted as a sign „that intellectuals and especially artists have troubles to cope with modern life and democracy". 30 Considering this, it is not surprising that the attempts to uphold „metapolitical" stance towards politics have not disappeared not only in Slovenia but also in other post-socialist countries. 31 But 29

The decline of the Democratic Alliance is, in some respects, similar to the fate of the Green Party. After a considerable success at the first parliamentary elections and much less success at the second, it factually disappeared from the political scene after the 1996 elections. It history was mostly characterized by internal tensions and divisions. 30

Rupel, D.: „Pismo prijateljem razumnikom", in: Nova revija, 15, 165/166, 1996.

31 Bozoki, Α.: Intellectuals in a New Democracy: The Democratic Charter in Hungary. Paper Presented for the Fifth Conference of ISSEI, Utrecht 1996, S. 33f.

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even these attempts cannot escape the pressures towards specialization in a sense that they often serve, willingly or unwillingly, as „decoration" of specific party politics. V. Intellectuals: Losers Among the Winners? The conclusion which is suggested by previous section seems congruent with the claim that intellectuals „clearly belong to the losers of transformation" 32 and, of course, with Ash's statement about „abnormal unimportance" of intellectuals in the post-socialist Central Europe. At the same time the conclusion contradicts the claim, presented in the second and third section of this paper, that processes of democratization and marketisation of former socialist societies should have had mostly beneficial effects on the social position of intellectuals and the whole educated stratum. This is why it seems necessary to examine the question whether the intellectuals are „overall" losers of the transformation or have they, at least in some respects, benefited from their strong involvement in the process of radical social and political change. The Slovenian case and most of the studies quoted in the previous paragraph indicate that intellectuals can be designated as losers of democratization process because „the intellectual leaders of the anticommunist revolutions (were) ... squeezed out of the freely elected parliaments by rabidly nationalist-populist forces and post-communist guardians of nostalgia". 33 The designation is therefore related to the decline in their political position. But it would be wrong to claim that all intellectual leaders of revolutions have had to leave the political scene. In the new conditions, their access to the positions of political power has been determined by the outcomes of political competition. Although many of nonconformist intellectuals had difficulties in adapting to the democratic political competition, there are no reasons to claim that on average the intellectuals have been less „equipped" for political competition than the members of other groups of educated stratum, let alone the members of other strata. Considering this, it is difficult to claim that the role of (former) intellectuals in politics has been reduced to „abnormal" low level. 32

Zapf, W. : „Die Transformation in der ehemaligen DDR und die soziologische Theorie der Modernisierung", in: Berliner Journal für Soziologie, 4, 3, 1994, S. 299ff.; Bozoki, A. und Lomax, B.\ „Die Rache der Geschichte: Transitionen in Portugal, Spanien und Ungarn. Ein Vergleich", in: Berliner Debatte Initial, 5, 1994, S. 52ff.; Pithart, P. : „Intellectuals in Politics: Double Dissent in the Past, Double Disappointment Today", in: Social Research, 60, 4, Winter 1993, S. 756ff.; Baumann, Z. (Anm. 15), S. 125. 33

Baumann (s. Anm. 15), S. 125.

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The designation of abnormality may be better applied to the fate of intellectuals as a group or as a „supra-professional community". As already indicated, in the advanced stages of democratization the political and ideological unity of intellectual community has disappeared. But this unity was largely produced by limitations imposed on intellectuals by the old regime. From this point of view, the disintegration of intellectuals as a rather homogenous group is a sign that the causes of intellectuals' frustrations, especially of „moral" frustrations have been removed in the process of democratization. These benefits have been shared not only by intellectuals, but by the whole educated stratum. The institutionalization of democracy has enabled its members to use fully its cultural and social capital in the political field. It does not mean that all members of educated stratum have direct access to the positions of political power and that they have identical political interest. It only means that different groups of educated stratum have much better chances to articulate and effectively express their political interests than members of most other social strata. In the same vein it can be argued that both intellectuals and the whole educated stratum have had benefited from marketization of economy. Research, conducted in Poland, has shown „that cultural capital is proving helpful in mobilizing economic capital, which was not the case before". These findings indicate that in the post-socialist societies the structural causes of „material" frustration of educated stratum have been removed. Of course, it can be assumed that different parts of educated stratum, i.e. different professional groups have equally benefited from market competition. It is to expect that different chances of individual professional groups to secure a beneficial market position will lead to disintegration of educated stratum to the point where it will just an aggregate of different professional groups. There are signs that members of those professional groups from which (former) intellectuals were recruited (e.g., philosophers, social scientists, writers, artists, journalists) have most troubles in adapting to market competition. The nature of their cultural capital gives them rather limited chances of access to favorable market positions. Moreover, the pervading marketization of society can also endanger their professional authomomy. 34 It seems that of all professional groups they will be most susceptible to the frustrations created by the new economic and political order. But their difficulties in coping with the new order do not justify to designate them as losers of transformation or even see their role reduced to „abnormal unimportance". 34

The new challenge faced by the former nonconformist intellectuals is bluntly described by Z. Bauman: „Authors who once learned how to dupe the censors must yet learn how to deal with market-wise managers." (Bauman, Anm. 15), S. 128.

Das alte Regime in Erinnerung: Diktatur oder wohlwollender Autoritarismus? Von Ivan Bernik und Nina Fabjanèiè

I.

Es scheint, als ob der Zerfall der sozialistischen Regimes die Leninsche Behauptung, die Praxis sei das Kriterium der Wahrheit, bestätigt habe. Durch den Zusammenbruch dieser Regimes sind viele lang diskutierten Fragen der Entwicklungsdynamik der Eigenschaften des europäischen sozialistischen Systems beantwortet worden. Eine der wichtigsten unter diesen Fragen war die Frage nach der Legitimität und dadurch auch der Stabilität dieser Regimes. Durch ihren schnellen Zusammenbruch ist es offensichtlich geworden, daß sie seitens der Mehrheit der Bevölkerung keine Unterstützung fanden. Sowohl Politiker als auch viele Sozialwissenschaftler haben dies als einen Beweis dafür genommen, daß die sozialistischen Regimes nie legitim gewesen seien und daß sie nur mit massiver Unterdrückung der Bevölkerung eine begrenzte Zeit am Leben erhalten worden konnten. Die historische Praxis liefert auch in diesem Fall keine unmittelbare Erklärung der Ursachen der gesellschaftlichen Transformationen, sie ermöglicht aber, daß Forschungsfragen deutlicher formuliert werden können. Es gibt keinen Zweifel daran, daß im Rückblick der Zerfall der sozialistischen Regimes als ein Indiz ihrer Illegimität verstanden werden kann. Dies erklärt aber nicht warum diese Regimes ihre Legitimität und damit auch Stabilität verloren oder warum sie sogar nie eine zureichende Legitimität hatten. Überraschenderweise wird nach der Wende die Frage über die Ursachen der zunehmenden Instabilität und schließlich des Zusammenbruchs der sozialistischen Regimes nur selten systematisch in Angriff genommen. Dies ist besonders überraschend, weil die überwiegende Mehrheit der Sozialwissenschaftler noch kurz vor der Systemwende die Indizien der großen Veränderungen der sozialistischen Gesellschaften, d.h. die Indizien ihrer tiefen Legitimitätskrise,

Ivan Bernik und Nina Fabjanèiè

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nicht wahrgenommen haben.1 Dadurch basieren viele Studien der postsozialistischen Gesellschaften auf einem vereinfachten Bild der sozialistischen Gesellschaften, das „is dominated by a picture of systems rejected by society 'en masse'". 2 Nach dieser Vorstellung waren die sozialistische Gesellschaften von Anfang an durch einen latenten und gelegentlich auch manifesten Konflikt zwischen den Machthabern und der Mehrheit der Bevölkerung gekennzeichnet. Aus dieser Perspektive war der Zerfall das Systems nur eine „natürliche" Auflösung dieses andauernden Konfliktes. Eine differenziertere Konzeption der Beziehung zwischen der politischen Elite und der Bevölkerung kam in den siebziger und besonders in den achtziger Jahren in den Diskussionen über die (Un-)Stabilität der „entwickelten" sozialistischen Regimes im Vorschein. 3 Obwohl diese Diskussion zeigte, daß die erheblichen Bemühungen der politischen Elite, ihre Macht zu legitimieren, d.h. einen bedingungslosen „Glaube" seitens der Bevölkerung an ihre Machtkompetenzen herzustellen, nicht erfolgreich waren, wies sie auch die Idee zurück, die Beziehung zwischen den sozialistischen politischen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung sei permanent konfliktbeladen. Die Dynamik des polnischen Sozialismus analysierend, behauptet A. Richard, daß sie „as a dramatic time, during which both sides i.e. the system and the society - tried to adapt to each other" 4 beschrieben werden kann. Nach seinen Analysen ist diese Anpassungsbereitschaft der beiden Seiten und damit auch eine gewisse Akzeptanz des Regimes seitens der Bevölkerung weit in den achtziger Jahren erhalten geblieben. Analysen der anderen mitteleuropäischen sozialistischen Gesellschaften zeigen, daß in dieser Hinsicht die polnische Gesellschaft kein Ausnahmefall war. Die Tatsache, daß die sozialistischen Regimes in diesen Gesellschaften von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert waren, ist in verschiedenen Analysen mit unterschiedlichen Begriffen ausgedruckt. In seiner Studie „Mentalitätgeschichtliche Dimension" des ostdeutschen Transformationsprozess stellt B. Okun fest: „Die Mehrheit der Ostdeutschen hatte das System doch angenommen, sich ein-

1 Hollander, P.: „Sociology and the Collapse of Communism", in: Society, Nov./Dez. 1992, S. 26; Merkel, W.: „Systemwechsel: Probleme der demokratischen Konsolidierung in Ostmitteleuropa", in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1994, 18-19, S. 3ff. 2

Richard, Α.: „Reforms, Adaptation and Breaktrough, in: IfiS, Warschau 1992, S. 77.

3 Rigby, T.H. und Feher, H.: Political Legitimation in Communist States, London 1982; Triska, J. F. und Gati, C.: Blue-Collar Workers in Eastern Europe, London 1981. 4

Richard (Anm. 2), S. 80.

Das alte Regime in Erinnerung

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gerichtet und verhielt sich zumindest loyal dazu". 5 Die anderen Analysen zeigen, daß diese Massenloyalität besonders von der wirtschaftlichen Leistung des Regimes abhängig war. Nach R. Andorka beruhte die Akzeptanz des ungarischen Regimes seit 1956 nicht auf dem Glauben „in the values and goals of the system", sondern auf seinem „economic performance and the threat posed by the Soviet Union". 6 Ähnliches galt auch für die Tschechoslowakei, wo die Stabilität des Regimes in den achtziger Jahren durch seine Fähigkeit „to supply certain pleasures to the citizenry" 7 garantiert war. Trotz unterschiedliche Akzente sind sich diese Erklärungen einig, daß die Vorstellung, sozialistische Gesellschaft sei „frozen society, in which atomised, alienated and socially isolated masses were the objects of manipulation of an all-powerful state and party apparatus" 8 irreführend ist. Für die mitteleuropäischen sozialistischen Gesellschaften war vielmehr eine dynamische Wechselbeziehung zwischen den Machthabern und der Bevölkerung kennzeichnend. Durch diese Beziehung wurde sowohl die Massenakzeptanz des Regimes als auch seine Ablehnung „hergestellt". Wie bereits angedeutet, die Akzeptanz des Regimes war vor allem von seiner Fähigkeit, die Erwartungen der Bevölkerung in bezug auf Lebensstandard und soziale Sicherheit zu erfüllen, abhängig. Deswegen war die politische Stabilität der sozialistischen Regimes eng mit ihren wirtschaftlichen Leistungen verbunden. Der von A. Rychard benutzte Begriff der Anpassung deutet an, daß die Wechselbeziehung nicht auf dem Austausch von materiellen „pleasures" und Regimeloyalität reduziert werden kann. Die Breite und Dynamik dieser Beziehung kann auf einer Seite mit der Bemühung des Regimes, die Erwartungen der Bevölkerung unter Kontrolle zu halten und auf der anderen Seite, mit den Versuchen, der Bevölkerung innerhalb oder außerhalb des Systems neue Räume für die Verwirklichung eigener Interessen und Aspirationen zu finden, verdeutlicht werden. In den achtziger Jahren ist es zu deutlichen Verschiebungen in der Beziehung zwischen dem Regime und der Bevölkerung gekommen. Da durch wirtschaftliche Krisen die Möglichkeiten des Regimes, die wichtigsten Erwartungen der 5 Okun, B. : „Zur mentalitätsgeschichtlichen Dimension des ostdeutschen Transformationsprozesses", in: Comparativ, 3, 1992, S. 31. 6 Andorka, R.: „The Socialist System and its Collapse in Hungary: An Interpretation in Terms of Modernisation Theory", in: International Sociology, 8, 1993, S. 332. 7

Kabele, J.: The Dynamics of Social Problems and Transformation of Czechoslovak Society", in: Social Research, 6, 1993, S. 765. 8

Misztal, B.: „Understanding Political Change in Eastern Europe: A Sociological Perspective", in: Sociology, 27, 3, 1993, S. 452.

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Bevölkerungen zu erfüllen, sich drastisch vermindert hatten, mußte das Regime immer mehr die Versuche der Bevölkerung tolerieren, die Interessen außerhalb des offiziellen Systems oder sogar im „Antisystem" zu verwirklichen. 9 Für die Stabilität des Regimes hatte dies zwei wichtige Folgen - einerseits hatte es die Unterstützung seitens der Mehrheit der Bevölkerung verloren, andererseits hatte es in einigen Fällen durch das Dulden der nicht-systemischen Aktivitäten graduell auch seine Identität verloren. Aus dieser Perspektive kann der Zerfall des sozialistischen Systems Ende der achtziger Jahren als „eine unerwartete Folge von Forderungen, die dieses System selbst hervorgebracht und geformt hat", 1 0 interpretiert werden. II. Diese - hier nur skizzenhaft dargestellte - Erklärung der Dynamik der sozialistischen Gesellschaften bietet einen breiten Rahmen für Analysen sowohl der relativen Stabilität dieser Gesellschaften als auch ihrer radikalen Transformation. Aus dieser Perspektive kann auch die Entstehung der post-sozialistischen Gesellschaften analysiert werden. 11 In unserer Analyse werden diese Möglichkeiten nur auf einem spezifischem, sogar ziemlich marginalen, Fall benutzt. Die Idee, daß die entwickelten sozialistischen Regimes keine totalitären, sondern sich auf einem komplizierten Austausch zwischen System und Gesellschaft basierenden Regimes waren, wird als Hintergrund der Analyse der Erinnerungen der Bevölkerung auf das alte Regime bezogen. Bei unserer Untersuchung dieser Erinnerungen wird vermutet, daß diese Eigenschaften des alten Regimes sich in den Einstellungen der Bevölkerung gegenüber diesem Regime reflektieren. Genauer, es wird vermutet, daß im Rückblick das alte Regime differenziert und nicht in allen Hinsichten negativ bewertet wird. Die empirische Relevanz dieser theoretischen Vermutung werden wir nur in einem relativ spezifischen Fall überprüfen - auf den Fall Sloweniens. D.h., es werden einige Daten der Erinnerung der slowenischen Bevölkerung über das sozialistische Regime in Ex-Jugoslawien in diesem Rahmen dargestellt und analysiert. Die Vermutung, daß die Eigenschaften des alten Regimes seine heutige Bewertung prägen, beinhaltet nicht, daß man durch die Analyse der Erinnerungen an das sozialistische Regime seine wesentlichen Eigenschaften rekonstruieren 9

Rychard (Anm. 2), S. 103f.

10 Baumann, Ζ.: „Auf der Suche nach der postkommunistischen Gesellschaft - das Beispiel Polen", in: Soziale Welt, 44, 2, 1993, S. 163. 11

Rychard (Anm. 2), S. 115ff.

Das alte Regime in Erinnerung

221

kann. Wie jede Erinnerung ist auch diese nicht eine Wiedergabe der Realität sondern eine Transponierung der Realität, die durch viele Faktoren geformt wird. Unter diesen Faktoren sind nicht nur die differenzierten Erfahrungen der verschiedenen Schichten der Bevölkerung mit dem alten Regime wichtig, sondern auch ihre Erfahrungen mit dem neuen System. Es ist zu erwarten, daß die Verlierer und Gewinner im neuen System unterschiedlich das alte Regime bewerten. Neben dieser Erfahrungen sind auch die unterschiedlichen Motive für die Ablehnung des alten Regimes und die unterschiedlichen Erwartungen gegenüber dem neuen System ein Faktor, der die Erinnerungen an das sozialistische Regime stark beeinflußen kann. In unserer Studie wird von allen diesen Faktoren nur der Einfluß des beruflichen Status, der auch einige Informationen über die Verlierer und Gewinner liefert, in Betracht gezogen. Neben dieser Einschränkung unserer Analyse müssen einige weitere Einschränkungen genannt werden, die mit den Besonderheiten des slowenischen bzw. jugoslawischen Falls verbunden sind. Es gibt kein Zweifel daran, daß die Dynamik des jugoslawischen Sozialismus durch die Wechselbeziehungen zwischen der Gesellschaft und System oder zwischen der Bevölkerung und der politischen Elite gut erklärt werden kann. Während in anderen mitteleuropäischen sozialistischen Staaten ihre Einbeziehung in das internationale Bündnis, in welchem die Sowjetunion die dominierende Rolle spielte, eine wichtige Säule ihrer Existenz war, war im jugoslawischen Fall dieser externe Stabilitätsfaktor weitgehend abwesend. Deswegen war das jugoslawische Regime noch stärker als die anderen sozialistischen Regimes auf die Akzeptanz der Bevölkerung angewiesen. Dadurch läßt sich erklären sowohl die vergleichbar hohe interne Flexibilität des jugoslawischen Regimes wie auch seine Toleranz gegenüber den Versuchen von einigen Teilen der Bevölkerung, die Interessen im nicht-systemischen Bereich zu verwirklichen. Die Unabhängigkeit des Regimes von der Sowjetunion hat auch dazu beigetragen, daß Tito, der von 1945 bis zu seinem Tode 1980 der unumstrittene politische Führer Jugoslawiens war, gelungen ist, ein erhebliches politisches Charisma auszubauen. All das hat die relativ reibungslosen Wechselbeziehungen zwischen dem Regime und der Bevölkerung begünstigt. 12 Deswegen galt bis zum Tode Titos, daß jugoslawische Gesellschaft im Vergleich mit den anderen sozialistischen Gesellschaften am dynamischsten und gleichzeitig politisch am stabilsten war. Wenn das jugoslawische System ein Ausnahmefall in der Zeit seiner Stabilität war, war auch sein Zusammenbruch in vielen Hinsichten spezifisch. Die Probleme, mit denen in den achtziger Jahren auch die andern sozialistischen Syste12

Bernik, I.: Dominacija in Kkonsenz v Socialistièni dru bi. FDV. Ljubljana 1992.

Ivan Bernik und Nina Fabjanèiè

222

me konfrontiert wurden, waren in Jugoslawien durch die ethnische Heterogenität der Gesellschaft und durch den Verlust des charismatischen Führers potenziert. Der Zerfall der politischen Elite nach ethnischen Linien hat zur Fragmentierung des politischen und wirtschaftlichen Systems geführt. Die politischen Eliten in den Teilrepubliken versuchten auf verschiedene Weise, die Akzeptanz der Bevölkerung zu gewinnen. In ethnisch relativ homogenen Teilrepubliken (d.h. besonders in Slowenien) versuchte die Elite vor allem als Vertreter der nationalem Interessen auf der föderalen Ebene, die Akzeptanz der Bevölkerung zu gewinnen. Mit dieser Verlagerung der Legitimitätsforderungen verlor die sozialistische Wechselbeziehung zwischen der Bevölkerung und Elite an Bedeutung. Dadurch hat in Slowenien das sozialistische Regime graduell seine Identität verloren und wurde schließlich abgeschafft. Gleichzeitig war die alte politische Elite durch die neue Elite als Vertreter der nationalen Interesse verdrängt. 13 III. Wie bereits angedeutet, wird unsere Analyse durch die Annahme geleitet, daß die Eigenschaften des alten Regimes in den heutigen Einstellungen der Bevölkerung gegenüber diesem Regime reflektiert werden. Dabei haben wir vermutet, daß diese Erinnerungen in vielen Hinsichten differenziert sind. In unserer Studie wird vor allem die These überprüft, daß der berufliche Status das Wahrnehmen des alten Regimes stark beeinflussen kann. Die Argumente für diese These werden sowohl von Studien des alten Regimes wie auch von Studien der post-sozialistischen Gesellschaften geliefert. Die ersten zeigen, daß die Wechselbeziehungen der sozialistischen politischen Eliten mit verschiedenen Schichten der Bevölkerung nicht gleich intensiv waren. Die Bemühungen des Regimes, die Akzeptanz zu gewinnen, richteten sich besonders gegenüber der Arbeiterschaft: „It (d.h. das Regime) 'courted' the workers and ignored the socially weak, who were not a threat." 14 Es waren aber nicht nur die Schwachen, die das Regime nicht begünstigend behandelte, sondern auch die Mehrheit der Intelligenz. Da die potentielle Macht der ausgebildeten Schicht die engen Rahmen des Systems sprengen konnte, wurde sie seitens der politischen Elite sorgfältig kontrolliert. Das führte zu wachsender Unzufriedenheit, besonders bei jenen Teilen der ausgebildeten Schicht, die am stärksten dieser Kon13

Dieser Prozeß wurde eng mit den Forderungen nach mehr Selbständigkeit Sloweniens innerhalb des jugoslawischen förderativen Staats verbunden. Diese Forderungen sind Ende der achtziger Jahre in die Unabhängigkeitsbestrebungen kulminiert, die zur Gründung des slowenischen Staates 1991 geführt haben. 14

Kabele (Anm. 7), S. 765.

Das alte Regime in Erinnerung

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trolle ausgesetzt wurden. Um die empirische Relevanz dieser Vermutung zu überprüfen, werden wir uns in unserer Analyse auf die Erinnerung dieser strategischen Schichten, d.h. der Arbeiter und der Intelligenz konzentrieren. Die erste unsere Hypothese bezieht sich auf die allgemeine Beurteilung des alten Regimes. Wie bereits angedeutet, wird vermutet, daß die Befragten das sozialistische System nicht als ein totalitäres Regime in Erinnerung haben. Da die Stabilität durch eine besonders aktive Beziehung zwischen der politischen Elite und die Arbeiterschaft produziert wurde, ist zu erwarten, daß die Arbeiter das Regime positiver bewerten als die der Intelligenz. Die Daten ermöglichen uns auch den Unterschied zwischen den Mitgliedern und Nichtmitgliedern der kommunistischen Partei im alten Regime zu berücksichtigen. Da frühere Untersuchungen gezeigt haben, daß die Arbeiter-Mitglieder keine Privilegien genossen, ist zu erwarten, daß die Arbeiter-Mitglieder und -Nicht-Mitglieder das Regime ähnlich bewerten. Gleichzeitig scheint die Vermutung begründet, daß sich die Intelligenz in dieser Hinsicht deutlich von den Arbeitern unterscheidet. Die Mitglieder der Kommunistischen Partei aus dieser Schicht konnten sich gut dem Regime anpassen und davon profitieren. Das gilt nicht für die Nichtmitglieder. Deswegen ist zu vermuten, daß von der Kategorie, die unsere Studie einschließt, das sozialistische Regime am kritischsten von den Nichtmitgliedern der Partei aus der Reihen der Intelligenz bewertet sein sollte. Die zweite Hypothese stellt eine Konkretisierung der ersten dar. Sie stützt sich auf diejenigen Analysen, die zeigen, daß die Akzeptanz des sozialistischen Regimes seitens der Arbeiter von allem durch seine Leistungen im Bereich des sozialen Wohlstandes und der sozialen Sicherheit motiviert war. Dagegen waren für die Mehrheit der Intelligenz die berufliche Autonomie und politische Freiheit wichtiger als die materiellen Leistungen des Regimes. Da das Regime im Bereich von politischer Freiheit besonders restriktiv war, ist es zu erwarten, daß die Intelligenz im Durchschnitt weniger mit dem Regime zufrieden war als die Arbeiter. Wir vermuten, daß diese Tatsache sich auch in den differenzierten Erinnerungen an das sozialistische Regime spiegelt. Nach dieser Vermutung sollten auch im Rückblick die Arbeiter die Leistungen des Regimes im materiellen Bereich positiver als die Intelligenz bewerten. Gleichzeitig soll die undemokratische Natur des Regimes weniger kritisch von den Arbeitern angenommen werden als von der Intelligenz. Die dritte Hypothese bezieht sich auf die Beurteilung der Rolle Titos. Da er vor dem Ausbruch der wirtschaftlichen Krise gestorben ist und da nach seinem Tod die politischen Spannungen immer deutlicher werden, ist es zu erwarten, daß er auch im Rückblick als Personifizierung der positiven Eigenschaften des

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Ivan Bernik und Nina Fabjanèiè

jugoslawischen sozialistischen Regimes angesehen wird. Deswegen vermuten wir, daß seine Rolle von allen Befragten positiv bewertet wird. Das soll für die allgemeine Bewertung seiner Rolle gelten wie auch für die einzelnen Aspekten seiner Rolle. Da er besonders einen relativ materiellen Wohlstand und ein hohes Niveau der sozialen Sicherheit symbolisierte, ist es zu erwarten, daß seine Rolle positiver von den Arbeitern als der Intelligenz bewertet wird. Die Überprüfung dieser Hypothesen stützt sich auf Daten, die aus der Untersuchung der Einstellungen der slowenischen Bevölkerung zur Vergangenheit ermittelt wurden. Die Datenerhebung wurde auf einem repräsentativen Sample (N=1001) der slowenischen Staatsbürger im Dezember 1995 vom Center für Meinungs- und Medienforschung an der Fakultät für Sozialwissenschaften in Ljubljana unter der Leitung von Niko Tos durchgeführt. 15 Wie bereits angedeutet, werden wir uns nur auf dem Subsample von Arbeitern und Intelligenz konzentrieren, das etwa die Hälfte der Befragten einschließt. Zu Arbeitern gehören in unserer Untersuchung alle, die ihren aktuellen beruflichen Status als diejenigen von Hilfsarbeitern(-innen) oder Facharbeitern definierten. Die Schicht der Intelligenz schließt Hochschulabsolventen mit Ausnahme derjenigen ein, die im Wirtschaftsbereich führende Position haben. Auch die Rentner und die Arbeitslosen werden in den beiden Kategorien erfaßt, je nach ihrem letzten beruflichen Status. IV. Die Daten, die sich auf die allgemeine Bewertung des sozialistischen Regimes beziehen, zeigen, daß das Regime von den beiden von uns beobachteten Kategorien, d.h. von den Arbeitern und der Intelligenz relativ positiv bewertet werden. Etwa zwei Drittel der Befragten in den beiden Kategorien wählen eine Kompromißbewertung (teilweise gut, teilweise schlecht) des Regimes (siehe Tabelle 1 im Anhang). Dabei ist der Anteil derjenigen, die das sozialistische Regime als die Zeit des Fortschrittes und Wohlstandes (24,7% bei den Arbeitern und 28,4% bei der Intelligenz) deutlich höher als derjenigen, die es als die Zeit der Unterdrückung in Erinnerung haben (5% bei den Arbeitern und 4,3% bei der Intelligenz). Dies spricht für die empirische Relevanz unserer Vermutung, daß das alte Regime von den für uns „strategischen" Schichten überwiegend positiv bewertet wird.

15

Tos, N.: Razumevanje preteklosti. Podatkovna Knjiga 1. in 2. FDV. Ljubljana 1996.

Das alte Regime in Erinnerung

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Aber die Vermutung, daß das alte Regime von den Arbeitern deutlich positiver bewertet wird als von der Intelligenz bestätigen die Daten nicht. Vielmehr zeigen die Daten, daß es in dieser Hinsicht zwischen den beiden Kategorien keine bedeutsamen Unterschiede gibt. Die erwarteten Unterschiede bei der allgemeinen Bewertung des Regimes gibt es nur zwischen den Mitglieder und Nichtmitglieder der kommunistischen Partei in den beiden Kategorien. Unter den Mitglieder ist der Anteil der Befragten, die das Regime positiv bewerten, deutlich höher als bei den Nichtmitgliedern (53,6% gegen 22,9% bei den Arbeitern und 43,8% gegen 22,6% bei der Intelligenz). 16 Aus der Sicht unserer Vermutungen ist es überraschend, daß auch die Arbeiter-Mitglieder das alte Regime deutlich positiver bewerten als die Arbeiter-Nichtmitglieder. Für unsere Hypothese, daß die Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei für die Arbeiter weniger vorteilhaft war als für die Intelligenz, spricht die Tatsache, daß der Anteil der Parteimitglieder unter den befragten Arbeitern gering war (6%), während unter der Befragten aus der Reihen der Intelligenz mehr als ein Viertel Mitglieder der Partei waren. Ein ähnliches allgemeines Muster gilt für die Bewertung der Behauptung, daß das Leben im alten Regime durch relative Freiheit charakterisiert war (siehe Tabelle 2). Fast 80 Prozent der Befragten in den beiden Kategorien stimmen dieser Behauptung zu. Auch in diesem Fall sind die Unterschiede zwischen den Arbeitern und der Intelligenz kaum bemerkbar. Damit wird unsere, in der ersten und zweiten Hypothese enthaltene Vermutung, daß sich die Intelligenz bei der Bewertung der politischen Eigenschaften besonders deutlich von den Arbeitern unterscheidet, nicht bestätigt. Nur die Differenz zwischen den Parteimitgliedern und Nichtmitgliedern stimmt teilweise, d.h. auf ähnliche Weise wie bei der allgemeinen Bewertung des alten Regimes, mit unseren theoretischen Erwartungen überein. Daß die beiden Kategorien der Befragten (d.h. Arbeiter und Intelligenz) das alte Regime in ihrer Erinnerung nicht für besonders oppressiv hielten, zeigt auch ihre Bewertung bei der Behauptung, das alte Regime sei eine Diktatur gewesen (siehe Tabelle 3). Weniger als die Hälfte der Befragten (48,8% der Arbeitern und 48,3% der Intelligenz) stimmen dieser Behauptung völlig oder teilweise zu. Während bei den Arbeitern der Unterschied zwischen Mitglieder und Nichtmitglieder bei der Bewertung dieser Behauptung deutlich ist, hat sich dieser Unterschied bei der Intelligenz nicht als statistisch signifikant erwiesen. Damit widersprechen die Daten sowohl unserer Vermutung, daß die Intelligenz 16

Es muß darauf hingewisen werden, daß Subsamples von Parteimitgliedern und Nichtmitgliedern - mit Ausnahme der Arbeiter-Nichtmitglieder - sehr klein sind (siehe Tabelle 1, 2, 3 und 6). Deswegen sind diese Daten eher illustrativ als beweisend. 15 Timmermann / Gruner

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viel kritischer die politischen Leistungen des alten Regimes beurteilt als die Arbeiter (der Anteil der Befragten aus der Reihen der Intelligenz, die der Behauptung nicht zustimmten, ist höher als der entsprechende Anteil der Arbeiter, wobei 12,3% der Arbeiter keine Antwort gaben), als auch der Vermutung, daß die Nichtmitglieder der Partei aus der Reihen der Intelligenz das alte Regime in dieser Hinsicht besonders kritisch bewerten. Die in Tabelle 4 enthaltenen Daten bieten eine zeitlich und inhaltlich differenziertere Bewertung des sozialistischen Regimes. Die Bewertung der Leistungen des sozialistischen Regimes in zurückliegenden Zeiträumen, d.h. in den fünfziger und achtziger Jahren, 17 kann als Indikator der Bewertung der allgemeinen Entwicklungsdynamik des Regimes verstanden werden. Gleichzeitig bieten uns diese Daten, insbesondere diejenigen, die sich auf die Bewertung des Regimeleistungen in den achtziger Jahren beziehen, die Möglichkeit, die Vermutung zu überprüfen, daß die Akzeptanz des sozialistischen Regimes seitens der Arbeiter vor allem durch seine Leistungen im Bereich des Wohlstandes und sozialer Sicherheit motiviert war. Die Daten lassen keinen Zweifel daran, daß die Befragten die Entwicklungsdynamik des sozialistischen Regimes positiv bewerten. Das gilt sowohl für allen Befragten als auch für die Kategorien der Arbeiter und Intellektuellen, die sich auch in dieser Hinsicht weniger unterscheiden als wir vermutet haben. Die Daten deuten an, daß trotz der krisenhaften Entwicklungen in Jugoslawien in den achtziger Jahren das alte Regime in der Erinnerung der Befragten nicht eine historische Sackgasse geblieben ist. 18 Die Bewertung der einzelnen Aspekte des sozialistischen Systems in den achtziger Jahren seitens der Arbeiter und Intelligenz unterscheidet sich auch stark von unseren theoretischen Vermutungen. Nur die Tatsachen, daß die Regimeleistungen relativ positiv bewertet werden (die beiden Kategorien bewerten die Leistungen des Regimes im Durchschnitt als „gut", wobei das Regime von den Arbeitern mit 3,78 Punkten und von der Intelligenz mit 4,07 Punkten 17

Bei der Auswertung dieser Daten muß beachtet werden, daß die Mehrheit der Befragten keine unmittelbare Erfahrung mit dem sozialistischen Regime in den fünfziger Jahren hatte. Gleichzeitig waren die achtziger Jahren „untypisch" für die Entwicklungsdynamik des jugoslawischen Sozialismus. Das ganze Jahrzehnt wurde durch steigende politische und wirtschaftliche Krise charakterisiert. Im Vergleich mit den achtziger Jahren waren die siebziger politisch stabil und ökonomisch relativ opulent. 18 Dies schließt die Unterstützung des neuen Systems nicht aus. Die jüngeren slowenischen Meinungsumfragen zeigen, daß die Bevölkerung das neue politische und Wirtschaftssystem dem alten System bevorzugt. Es scheint, daß erhebliche Inkonsistenzen zum „Alltag" der Bewertung der sozialen Realität gehören.

Das alte Regime in Erinnerung

227

benotet wird) und daß die Regimeleistungen im Bereich des materiellen und sozialen Wohlstandes höher bewertet werden als seine „Leistungen" im politischen Bereich, stimmen mit unseren Vermutungen überein. Diese Daten bestätigen noch einmal die Fähigkeit des Regimes, die Erwartungen der Bevölkerung in erheblichem Maße zu erfüllen. Wie bereits angedeutet, sind im Gegensatz zu unserer Vermutung alle Regimeleistungen, einschließlich seiner Leistungen in bezug auf politische Freiheiten, positiver von den Intellektuellen bewertet als von den Arbeitern. Die Unterschiede sind besonders deutlich bei der Bewertung der Ausbildungsmöglichkeiten, sozialer Sicherheit und Beschäftigungsmöglichkeiten. Zusammen mit den bereits präsentierten Daten indizieren diese Daten deutlich, daß die Intellektuellen positivere Erinnerungen an das alte Regime haben als die Arbeiter. Die Erwartung, die in der dritten Hypothese formuliert wurde, die Befragten sollten die Rolle des Titos in positiver Erinnerung haben, ist von den Daten eindeutig bestätigt (siehe Tabelle 5 und 6). Bei der allgemeinen Bewertung der Rolle Titos haben sich keine nennenswerte Unterschiede zwischen den Arbeitern und der Intelligenz wie auch zwischen den Parteimitgliedern und Nichtmitgliedern innerhalb der beiden Kategorien gezeigt. Auch bei der Bewertung der einzelnen Aspekten seiner Rolle sind sich alle Befragten weitgehend einig, und die von uns beobachteten Kategorien unterscheiden sich nicht signifikant voneinander und von den anderen Befragten (siehe Tabelle 7, die sich auf die Meinungen aller Befragten bezieht). Wie bei den anderen Befragten sind auch bei den Arbeitern und der Intelligenz die Einstellungen zur Behauptung, Tito sei ein Diktator wie die anderen kommunistischen Führer gewesen, geteilt. Es scheint, daß für die Befragten kein Widerspruch zwischen der positiven Bewertung des Rolle Titos und dem Behauptung, er sei ein Diktator gewesen, besteht. Die Daten bestätigen unsere Vermutung, daß Tito von der Mehrheit der Befragten im Rückblick als Personifizierung der besten Zeiten des jugoslawischen sozialistischen Regimes gesehen wird. Deswegen ist die Bewertung seiner Rolle noch positiver als die Bewertung des sozialistischen Regimes. Aber die Daten wiederum bestätigen unsere Annahme nicht, daß die Arbeiter den populistischen Führer in besserer Erinnerung haben als die Intelligenz.

15*

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V.

Von allen unseren im dritten Abschnitt formulierten theoretischen Vermutungen wird von den Daten die Vermutung eindeutig bestätigt, daß das alte Regime von den beiden strategischen Schichten, d.h. von Arbeitern und von Intelligenz positiv bewertet wird. Dies gilt sowohl für die allgemeine Bewertung des Regimes als auch für die Bewertung seiner einzelnen Leistungen. Wie erwartet, werden die politischen Leistungen des Regimes, d.h. das Niveau der politischen Freiheiten, weniger positiv bewertet als seine Leistungen im ökonomischen Bereich. Die allgemeine positive Bewertung der Rolle Titos ist im Einklang mit unserer Hypothese. Es wird unsere Annahme bestätigt, daß die Mitglieder der kommunistischen Partei im alten Regime es waren, die das Regime überwiegend positiver bewerteten als die Parteilosen. Dabei wird die Vermutung, daß die Mitgliedschaft in der Partei für die Arbeiter weniger vorteilhaft als für die Intelligenz war, nur indirekt dadurch bestätigt, daß der Anteil der Parteimitglieder unter den Arbeitern im Vergleich zu den Intellektuellen sehr gering war. Unsere, aus den theoretischen Analysen der Dynamik der sozialistischen Gesellschaften abgeleitete Haupthypothese wurde aber nicht bestätigt. Nach dieser Hypothese sollten die Einstellungen der Arbeiter gegenüber dem alten Regime positiver sein als die Einstellungen der Intelligenz. Dieser Unterschied soll vor allem damit verbunden sein, daß das sozialistische Regime im Kern arbeiterfreundlich und intelligenzfeindlich sein sollte, d.h. daß es vor allem auf die Interessen der breitesten sozialen Schicht der industriellen Arbeiter achtete und damit die Interessen der anderen Schichten, vor allem der Intelligenz, vernachlässigte. Die Ergebnisse der Untersuchung der Einstellungen gegenüber dem alten Regime in Slowenien deuten keineswegs daraufhin, daß das sozialistische Regime intelligenzfeindlich war. Aus den Daten läßt sich ablesen, daß die Intelligenz sich im alten Regime weder im ökonomischen noch politischen Sinne im Vergleich mit den Arbeitern benachteiligt fühlte. Damit sprechen diese Daten für die These, daß es in den „entwickelten" sozialistischen Gesellschaften der Intelligenz gelungen ist, ihre soziale und sogar politische Position zu stärken. 19 Nach dieser These hatten zwar die Interessen der Arbeiter in der ideologischen Rhethorik des Regimes noch immer die zentrale Stellung, aber in der Tat ist das Regime im Laufe seiner Ausreifung immer weniger arbeiterfreundlich geworden.

19

Mayer, K. U.: „Vereinigung soziologisch: Die soziale Ordnung der DDR und ihre Folgen", in: Berliner Journal für Soziologie, 4, 1994.

Das alte Regime in Erinnerung

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Aus der Sicht dieser These muß auch die Frage nach der Rolle der beiden strategischen Schichten, d.h. der Arbeiter und Intelligenz, bei dem Untergang des Sozialismus in Mitteleuropa anders beantwortet werden als von uns anfangs angedeutet wurde. Unsere Hypothese beinhaltet, der Zerfall der sozialistischen Regimes sei vor allem dadurch verursacht, daß die Mehrheit der Intelligenz wegen ihr vom Regime gestellten Einschränkungen bereits längere Zeit mit dem Regime unzufrieden war und daß am Ende auch die Arbeiter wegen des Versagens des Regime bei der Erfüllung ihrer Erwartungen ihm die Unterstützung entzogen. Die Ergebnisse unserer Untersuchung deuten an, daß besonders die Rolle der Intelligenz umgedeutet werden muß. Dazu zwingt vor allem die Tatsache, daß die Befragten aus den Reihen der Intelligenz das alte Regime im Rückblick nicht als „intelligenzfeindlich" empfinden. Die Ergebnisse unserer Untersuchung suggerieren, daß die kritische Einstellungen und Handlungen der Intelligenz gegenüber dem Regime vor allem durch ihre wachsenden Aspirationen motiviert worden sind. Ermutigt durch ihre verbesserte ökonomische, soziale und politische Lage strebt die Intelligenz weitere Verbesserungen an. Damit sind der Intelligenz die vom Regime gegebene Möglichkeiten unzureichend geworden. Deswegen war die Intelligenz stark an der grundsätzlichen Regimeänderung interessiert. Gleichzeitig sind in den achtzigen Jahren die Chancen der Arbeiter, erwarteten Wohlstand und Sicherheit zu genießen, gesunken. Darauf deuten auch die Ergebnisse unserer Untersuchung hin. Da die Arbeiter begrenzte Möglichkeiten hatten, durch eigenes Handeln ihre Lage zu verbessern, waren sie noch immer auf den Paternalismus der politischen Elite angewiesen. Deswegen haben sie eine zwiespältige Einstellung gegenüber dem Regime entwickelt - sie waren mit den einzelnen Regimeleistungen nicht zufrieden, d.h. sie waren über „system's malfunction" 20 enttäuscht, aber nicht über das Regime und seine Versprechen an sich. Aus dieser Sicht ist der Untergang des sozialistischen Regimes die Folge von zwei qualitativ verschiedenen Unzufriedenheiten und damit verbundenen Handlungen gewesen - der Unzufriedenheit mit dem Regime seitens der Intellektuellen und der Unzufriedenheit mit dem einzelnen Regimeleistungen seitens der Arbeiter. Erst durch die Verbindung dieser Unzufriedenheiten wurde das Regime mit den Herausforderungen konfrontiert, die es nicht bewältigen konnte.

20 Baumann, Z.: „The Polish Predicament: A Model in Search of Class Interests", in: Telos 92 (summer) 1992, S. 118.

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Anhang

Tabelle 1 Allgemeine Bewertung des sozialistischen Regims in Slowenien von seiner Gründung (im 1945) bis zu den Wahlen im 1990 Arbeiter Arbeiter Alle HSA HSA HSA MitAlle Arbeiter Nichtmit- Mitglieder Nichtmit- glieder glieder glieder 5,3 0 4,3 50 6,0 0 Die Zeit der Unterdrückung Teilweise gut, 675 68,8 46,4 66,4 71,4 53,1 teilw. Schlecht 28,4 247 53,6 22,9 22,6 43,8 Zeit des Fortschrittes und Wohlstandes 3,0 0 2,8 0,9 0 Ohne Antwort 3,1

Ζ II u> u>

100% 100% 100% N=28 N=461 HSA = Hochschulabsolventen (die Intelligenz) Angaben in Prozent

100 N= 116

100% Ν = 84

100% N= 32

Tabelle 2 Die Einstellung zur Behauptung: „In den Jahrzehnten bevor Slowenien die Unabhängigkeit erreicht hat, haben wir trotz Kommunismus in relativer Freiheit gelebt" Arbeiter Arbeiter Ale HSA Alle HSA HSA MitArbeiter Nichtmit- Mitglieder Nichtmit- glieder glieder glieder 79,7 Einverstanden 78,9 92,8 77,6 73,8 87,5 133 14,0 3,6 12,9 9,4 Teilw. Einverstanden 14,3 52 3,6 5,3 7,8 9,5 Nicht einverstanden 3,1 2,4 1,8 0 0 Ohne Antwort 1,8 1,7 100% 100% 100% 100% 100% 100% N = 116 N= 84 Ν=463 Ν=435 N=28 N= 32 Angaben in Prozent

Das alte Regime in Erinnerung

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Tabelle 3 Die Einstellung der Arbeiter und Intelligenz (Parteimitglieder/Nichtmitglieder) zur Behauptung: ,Seit 1945 bis zur Etablierung der Unabhängigkeit (1991) herrschte in Slowenien eine Diktatur" Alle Ar- Arbeiter Arbeiter Alle HSA HSA HSA beiter Nichtmit- MitglieNichtmit- Mitglieglieder der glieder der Einverstanden

30,1

14,3

27,6

26,2

31,3

Teilweise einverstanden

197

20,0

14,3

20,7

22,6

15,6

Nicht einverstanden

389

36,8

71,4

48,3

46,4

53,1

13,1

0

3,4

4,8

0

100% N=435

100% N=28

100% N= 116

100% N= 84

100% N= 32

Ohne Antwort

29,1

12,3 100% Ν=463

Angaben in Prozent

Tabelle 4 Die durchschnittliche Bewertung der Leistungen des sozialistischen Regims in einzelnen Bereichen auf der Skala vom 1 (sehr schlecht) bis 5 (sehr gut) von allen Befragten und von Arbeitern und Hochschulabsolventen Bereich Alle Befr. Arbeiter HSA Alle Befr. Arbeiter HSA 272 2,81 Soziale Sicherheit 2,73 3,98 3,93 4,30 Ausbildungsmöglich- 2,81 2,80 3,22 4,04 4,09 4,49 keiten 3,32 Beschäftigungsmög3,35 3,50 4,01 3,98 4,32 lichkeiten 2,54 Materieller Standard 2,5 2,50 3,86 3,91 4,00 2,07 Politische Freiheiten 2,19 2,03 3,03 3,06 3,26 Ν = 1001 Ν = 327 N= 107 N= 1001 Ν=327 Ν =107

Tabelle 5 Die Bewertung der historischen Rolle Josip Broz Titos von allen Befragten und von Arbeitern und Hochschulabsolventen Alle Befragten Die Arbeiter HSA Sehr positiv oder positiv Negativ oder sehr negativ Ohne Antwort

83,6 9,6 6,8 100%

£

II £

Angaben in Prozent

83,5 10,0 6,5 100% Ν=460

88,8 5,2 6,0 100% N = 116

232

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Tabelle 6 Bewertung der historischen Rolle Josip Broz Titos von der Arbeiter und der Intelligenz (Parteimitglieder/Nichtmitglieder) Arbeiter Arbeiter Mit- HSA Nichtmit- HSA Mitglieglieder glieder der Nichtmitglieder Sehr po-sitiv oder positiv 83,1 89,3 89,3 87,5 Negativ oder sehr negativ 10,2 6,0 7,1 3,1 Ohne Antwort 6,7 3,6 4,8 9,4 100% 100% 100% 100% N=433 N=28 N= 84 N= 32 Angaben in Prozent

Tabelle 7 Bewertung verschiedener Aspekte der Rolle Josip Broz Titos von allen Befragten War ein fähiger Hatte interna- War ein Dikta- War ein Garant Politiker tionales Ansehen tor, wie die an- der Existenz Juderen sozialistigoslawiens schen Führer Einverstanden 85,8 40,8 83,6 91,1 Teilw. einver8,5 20,1 8,0 5,1 standen 4 Nicht einverstan2,8 33,1 6,1 den Ohne Antwort 1,0 1,7 6,0 2,3 100% 100% 100% 100% N= 1001 N= 1001 N= 1001 N= 1001

Zur Wirkung scheindemokratischer Attribute auf die Reform- und Transformationsfähigkeit kommunistisch-totalitärer Diktaturen Von Hannelore Horn

I. Kommunistische Diktaturen, die im 20. Jahrhundert eine bunte Skala der weltweit historisch erfahrenen Diktaturformen erweiterten, erwarben ihre Kennzeichnung als totalitär durch eine umfassende gesellschaftliche Transformationsprogrammatik und -praxis, welche vorangegangene Diktaturen in diesem Ausmaß nicht kannten.1 Ideologisch abgeleitet von einem vermeintlich vorgegebenen historischen Auftrag zielte ihre Politik auf die Errichtung einer völlig neuen, zur bestehenden gesellschaftlichen Verfaßtheit im wesentlichen konträr stehenden kommunistischen Gesellschaftsordnung. Dieses breite und tiefgreifende gesellschaftliche Transformationsversprechen bildete damit nicht nur die Grundlage aller Herrschaftslegitimation kommunistisch-totalitärer Diktaturen, sondern theoretisch auch die entscheidende Meßlatte für die Bewertung ihres Erfolges in der praktischen Politik. 2 Ihr entscheidendes Transformationsinstrument sowohl bei der Vernichtung des Alten als auch beim Aufbau des Neuen bildete die Diktatur. Dieses politische System wurde in Rußland für dieses Land, die spätere Sowjetunion, entwickelt und dessen Bedürfnissen angepaßt. Im Hinblick auf die Fragestellung des Themas hat die Aufmerksamkeit insbesondere vier Systemcharakter istika zu gelten:

1 Die Begriffe totalitär oder Totalitarismus werden bewußt an dieser Stelle nicht weitergehend diskutiert. Im wesentlichen kann sich die Autorin mit den einschlägigen Überlegungen von Manfred Funke identifizieren. S. Funke, Manfred, Braune und rote Diktaturen - Zwei Seiten einer Medaille?: Historikerstreit und Totalitarismustheorie, in: Eckhard Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz internationaler Forschung, Bonn 1996, S. 152 - 159. 2 Diese Tatsache muß keineswegs bedeuten, daß die Ideologie in jedem Falle als Anleitung für politisches Handeln diente.

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Erstens sind diese politischen Systeme durch ihre doppelte Herrschaftslegitimation gekennzeichnet. Diese Herrschaft legitimierte sich einerseits als Diktatur mit einem vermeintlichen historisch-ideologisch Auftrag. In Gestalt der allerdings nur als Übergangsform ausgewiesenen Konzeption von der „Diktatur des Proletariats" sollte die Verwirklichung der kommunistische Ziele mittels diktatorischer Instrumentarien erfolgen. Dennoch verzichtete dieses Konzept nicht auf das am Anfang des 20. Jahrhundert äußerst attraktive und politisch bestimmend wirkende Demokratiepostulat. So wurde andererseits die historisch legitimierte diktatorische Einparteiherrschaft um verfassungsmäßig verankerte institutionelle Wesensmerkmale einer Demokratie ergänzt und damit dem politischen System auch eine demokratische Legitimation unterschoben. Das System wurden mit scheindemokratischen Attributen ausgestattet. Theoretisch sollte sich diese ursprüngliche Parallelität weg von der Diktatur hin zu einer „sozialistischen Demokratie" wandeln. Realiter dominierte die durch scheindemokratische Elemente angereicherte Diktatur bis in die Gorbatschow-Zeit hinein. Die innere Widersprüchlichkeit dieser doppelten Herrschaftslegitimation erwies sich für die Politik kommunistischer Systeme als Bürde und Gewinn zugleich. In ihrer praktisch-politischen Handhabung waren die scheindemokratischen Kapazitäten kommunistisch-totalitärer Diktaturen durch Einrichtungen und Institutionen charakterisiert, die denen traditioneller Demokratien weitgehend glichen. Sie riefen ihre Bevölkerung regelmäßig zu als Wahlen deklarierte Stimmabgaben auf. Hier war aber solchen Kandidaten die Stimme zu geben, welche unter der Regie der jeweiligen nationalen kommunistischen Partei im Zusammenwirken mit anderen monopolisierten gesellschaftspolitischen Organisationen ausgewählt worden waren. 3 Faktisch handelte es sich nicht um eine Auswahlmöglichkeit zwischen Kandidaten mit vielleicht sogar unterschiedlichen politischen Optionen sondern um eine Zustimmung zu den präsentierten Kandidaten. Ähnlich verhielt es sich mit dem Scheinparlamentarismus. Die „Gewählten" in den Parlamenten oder sonstigen regionalen Vertretungsorganen agierten unter der Regie der jeweiligen kommunistischen Partei, so daß sie prinzipiell politische Harmonie demonstrierten und die von den Kommunisten de facto inspirierte politische Linie unterstützten und bestätigten. Infolgedessen handelte es sich weitgehend um ein demokratisch strukturiertes Repräsentativmodell, dessen demokratische Substanz durch die de facto allein bestimmende Rolle der jeweiligen kommunistischen Partei eliminiert war.

3 Ζ. B. in der Sowjetunion der „Block der Kommunisten und Parteilosen", in der DDR die „Nationale Front".

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Der Gedanke, die angestrebte Transformation der Gesellschaften in kommunistische unter Zurhilfenahme scheindemokratisch verschleierter Diktaturen zu realisieren, gehörte in dieser Form nicht zum ursprünglichen Bestand der marxistischen und auch nicht der frühen leninistischen Ideologie. Selbst in „Staat und Revolution" (1919) hatte Lenin noch eine völlig neue Vertretungsform eines Parlamentes als „arbeitende Körperschaft" ins Auge gefaßt. Erst nach der Machteroberung durch die Bolschewisten wurden die scheindemokratischen Strukturen entwickelt. Max Weber hatte bereits 1906 in seiner Kritik an der zaristische Verfassungsentwicklung erkannt, daß sich der „Scheinkonstitutionalismus" mit seinen scheindemokratischen Potenzen als weit geeigneteres Werkzeug zur Behauptung der eigenen Machtstellung eignet als eine plumpe Selbstherrschaft. 4 Ähnlich klassifizierte er 1917 das System der russischen „Provisorischen Regierung" unter Lwow als „Scheindemokratie". 5 Obwohl in anderer Ausformung steht die unter Lenin geschaffene Diktatur mit ihren scheindemokratischen Kapazitäten in dieser russischen Tradition. In ihrem Kern ging es auch hier darum, die in einer Verfassung formulierte demokratische Gesamtgestaltung durch entgegenstehende politische oder rechtliche Bedingungen faktisch zu eliminieren bezw. auszuhebein. Die Diktatur umgab sich mit einem scheindemokratischen Mäntelchen.6 Inhaltlich abgewandelt aber in Kontinuität zu solch vorangegangenen russischen Täuschungen in Gestalt scheindemokratischer Diktaturvarianten versahen auch die Kommunisten ihre totalitäre Diktatur mit demokratischen Strukturen und folglich auch mit einem demokratischen Mythos. Die einst von Wolfgang Leonhard überlieferten Worte Walter Ulbrichts: „Es ist doch ganz klar: es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben", 7 enthüllen besonders anschaulich den Kern dieses folgenschweren politischen Mißbrauchs des historischen Demokratiegedankens in der kommunistisch-totalitären Diktaturvariante. Zweitens ist diese Herrschaft durch eine weitgehende Eliminierung des politischen und gesellschaftlichen Pluralismus gekennzeichnet. Es ist evident, daß jede Gesellschaft plurale Strukturen aufweist. Das gilt auch für die vielfachen Wandlungen unterworfenen Gesellschaften in kommunistisch regierten Staaten. 4 Weber, Max, Rußlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus (Auszüge), in: Max Weber, Gesammelte Politische Schriften, Hrsg. von Johannes Winckelmann, 2. Aufl., Tübingen 1958, S. 64. 5

Ders., Rußlands Übergang zur Scheindemokratie, ebd., S. 192 ff.

6 Nun unterliegt es in gewissem Maße sicher der persönlichen Einschätzung des jeweiligen Betrachters, wann eine Demokratie als Scheindemokratie zu klassifizieren ist, wo und wann die Grenzüberschreitung stattfindet. 7

Leonhard, Wolfgang, Die Revolution entläßt ihre Kinder, S. 317.

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Die politische Wirksamkeit dieser Pluralität hängt aber entscheidend von dem ihr gewährten Ausmaß an freier Entfaltung ab. Eine prinzipiell weitgehend ungehindert agierende Pluralität bildet die Grundvoraussetzung für jede demokratische Entwicklung, zumal sie persönliche Freiheit, Meinungsfreiheit, Kooperationsfreiheit usw. einschließt. Sie wurde von regierenden Kommunisten insbesondere durch die parteipolitische Monopolisierung der Herrschaft weitgehend erstickt. So entstand ein politisch-gesellschaftlicher Scheinpluralismus mit seiner machtpolitischen und begrifflichen Irreführung, die selbst vermeintliche Mehrparteiensysteme umfaßte. Die kommunistischen Systeme sind daher prinzipiell durch einen politisch gefesselten Pluralismus gekennzeichnet. Drittens charakterisiert die kommunistischen Diktaturen eine Harmonieideologie und durch praktische Politik untermauerte Harmonierhetorik, die einst in ihrem Kern auf den Gewinn von Massenloyalität und Konflikthemmung zielten. Abgesehen von der monopolistischen Organisationsvariante entsprachen die scheindemokratischen und scheinpluralistischen Elemente in ihrer formalen Struktur weitestgehend westlichen Vorbildern. Während aber das traditionelle demokratisch-pluralistische Grundverständnis von der Existenz politisch divergierender gesellschaftlicher Kräfte und Interessen ausgeht, die ihre Konflikte möglichst friedlich innerhalb demokratischer Foren austragen, behauptete das sowjetische Demokratiekonzept für die sozialistische Gesellschaft überwältigende Harmonie. Die Spezifik kommunistischer scheindemokratischer Einrichtungen hatte es nach dem theoretischen Ende der Klassengesellschaft nahezu zwingend erforderlich gemacht, das kommunistische Selbstverständnis mit seinem Konzept von der „sozialistischen Demokratie" um die Komponente der Harmoniegesellschaft zu ergänzen. Das Modell der aus historischem Auftrag sowie durch Scheindemokratie doppelt legitimierten kommunistischen Herrschaft ermöglichte folglich den totalitär-kommunistischen Diktaturen eine auf politische und weitestgehend auch auf überwältigende politisch-gesellschaftliche Harmonie rekurrierende Politik sowie propagandistische Sprachregelung. Die Einheit von Führungs- und Volkswillen, die Harmonie innerhalb der Gesellschaft, insbesondere zwischen gesellschaftlichen Gruppen, beherrschte das Bild der offiziellen politischen Kultur des jeweiligen Landes, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Viertens ist das in Rußland/Sowjetunion entwickelte scheindemokratische kommunistische System auch durch einen Scheinföderalismus mit seinem ständigen Begleiter, dem Zentralismus, charakterisiert. In diesem Jahrhundert hat dieses Land drei Anläufe erlebt, dem Volk einen demokratisch verfaßten Staat mit einer demokratisch legitimierten Regierung zu geben: 1906, 1917 und nach dem Ende der Perestrojka-Politik Gorbatschows. Folgen wir der politikwissen-

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schaftlichen Analyse Max Webers und historischer Forschung, 8 so scheiterte der erste Versuch 1905/06, dem Land eine politische Ordnung mit echten demokratischen Zügen zu verleihen, letztlich am großrussischen Chauvinismus. Seine Vertreter in Regierung und Gesellschaft setzten eine Nationalitätenpolitik durch, die mit Erfolg mittels einer nationalistischen Innen- und Außenpolitik zugunsten des großrussischen Imperialismus innenpolitische Integration betrieb. Auch demokratische Kräfte hätten sich dem nicht konsequent entzogen. Durch das Wachrufen des großrussischen Chauvinismus, so argumentiert Weber, sei die Revolution von 1905/06 zum Scheitern gebracht worden. Das Ziel aller imperialistischen Kräfte der Duma habe darin bestanden, die „Beherrschung der Fremdvölker durch eine Bürokratie und ein Offizierskorps" zu sichern, welches aus ihrer Mitte hervorgegangen ist. In dieser Hinsicht diagnostizierte er Kontinuitäten zur bürgerlichen Regierung des Jahres 1917. Diese erhalte die gleichen Ziele aufrecht und dächte nicht daran, den Nationalitäten Autonomie zu geben, vergleichbar den Rechten, „wie sie Tschechen, Kroaten, Slowenen in Österreich genießen". Tatsächlich waren die neuen maßgebenden Politiker der Regierung Lwow trotz ihres mehr oder weniger liberalen Reformimpetus 9 in der Nationalitätenfrage ambivalent, wie ihre ersten Proklamationen ausweisen. 10 Sie sicherten zwar rechtliche Gleichstellung unabhängig von Religionsund Volkszugehörigkeit sowie allgemeine gleiche geheime und direkte Wahlen zu. Da aber die gleichzeitige Dezentralisierungspolitik der „Provisorischen Regierung" mit ihrer Stärkung der Kompetenzen regionaler Selbstverwaltungen auf Mißtrauen stieß und sich nationale Emanzipationsbestrebungen bis hin zur politischen Selbständigkeit (z.B. Finnland, die Ukraine, Polen usw.) bemerkbar machten, war die Frage des staatlichen Zusammenhaltes aufgeworfen, eine für alle russisch orientierten Kräfte aller politischen Schattierungen inakzeptable Perspektive. Die Sorge um den Erhalt der Einheit Rußlands gab vor allem rechten politischen Kräften Auftrieb bis hin zu General Kornilow. Die Zukunft der Nationalitäten in einem demokratischen Rußland verlor damit ihre Priorität auf der politischen Tagesordnung der „Provisorischen Regierungen". 8 Weber, Max, Scheindemokratie...., S.194ff u. 2o7f.; Läwe, Heinz-Dietrich, Von der Industrialisierung zur Ersten Revolution, in: Handbuch der Geschichte Rußlands, Band 3, hrsg. von Gottfried Schramm, S. 245, 266ff; Gross, HdmuÜ Haumann, Heiko /Läwe, Heinz-Dieter/Schramm, Gottfried/Steffens, Thomas, Über die Revolution zur Modernisierung im Zeichen der eingeschränkten Autokratie (1904 - 1914), ebd., S. 338 - 481. 9

Erler, Gemot/ Schramm, Gottfried, Acht Übergangsmonate: Februar bis Oktober 1917, in: Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 3, S. 543, 555 ff. 10

„Erklärung der Provisorischen Regierung" vom 3.(16.) März 1917 und „Manifest der Provisorischen Regierung an das Volk", in: Manfred Hellmann (Hrsg.), Die Russische Revolution 1917, dtv Dokumente, München 1964, S. 152 ff.

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Auch die Politik der Bolschewisten richtete sich keineswegs auf die Herstellung grundsätzlicher Freiheit für alle nichtrussischen Völker des Imperiums oder auf die Sicherung ihres Rechts, demokratisch über ihre Zukunft zu entscheiden. Die kurz nach ihrer Machteroberung ergangene „Deklaration an die Völker Rußlands" stand von vornherein unter dem Vorbehalt der alleinigen Entscheidung durch jeweils zu etablierende kommunistische Regierungen. Eine zwar nicht voll ausformulierte Gebietsautonomie, keineswegs aber ein Föderalismus war ursprünglich von den Bolschewisten ins Auge gefaßt. Die historischen Bedingungen wachsender nationaler Zentrifugalkräfte ließen jedoch eine föderale Staatsstruktur als wirksamstes Mittel gegen den drohenden Zerfall des einstigen zaristischen Imperiums erscheinen. So wurde ein struktureller Föderalismus installiert, der vielen nationalen Einheiten vermeintliche Selbstständigkeit gewährte, gesichert durch scheindemokratische Einrichtungen und Verfahren. Der bekannten homogenisierenden Funktion der kommunistischen Partei diente dabei die scheindemokratische Hülle, um realiter den strukturellen Föderalismus in einen Scheinföderalismus zu verwandeln sowie den sich immer stärker ausprägenden Zentralismus zu kaschieren. Beide, die föderalen und demokratischen Strukturen wie auch die Scheindemokratie und der Scheinföderalismus sind damit eine Symbiose eingegangen. Änderungen an einem dieser Elemente mußte nahezu automatisch verändernd auf andere wirken. Abstriche am Scheinföderalismus und damit am Zentralismus verursachten unweigerlich Abstriche an der Scheindemokratie und umgekehrt. Das aus historisch-gesellschaftlichen Bedürfnissen der Machteroberung und Machtsicherung in Rußland hervorgegangene kommunistische politische System operierte folglich mit einer doppelten Herrschaftslegitimation: durch Diktatur und Demokratie. Realiter war es charakterisiert durch totalitäre Diktatur, Scheindemokratie, Scheinpluralismus mit Scheinharmonie sowie durch Scheinföderalismus. Die symbiotische Interdependenz dieser Attribute avancierte weltweit zum Vorbild für kommunistisch-totalitäre Diktaturen. Den unter sowjetischen machtpolitischen Einfluß geratenen Ländern Mittel-Osteuropas wurde hingegen das ihnen fremde und für sie ungeeignete System oktroyiert. II. Alle kommunistisch-totalitären Diktaturen verbindet daher prinzipiell nicht nur ein ideologisch vorgegebener umfassender gesellschaftlicher Transformationsanspruch mit all seinen bekannten macht- und gesellschaftspolitischen Attributen, sondern auch ihr Charakter als diktatorisch regulierte Scheindemokratien oder umgekehrt als demokratisch verschleierte totalitäre Diktaturen. Die

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Scheindemokratie erleichterte auf der einen Seite diktatorische Herrschaftsausübung, weil sie ihren Diktaturcharakter kaschierte. Auf der anderen Seite war sie aber auch geeignet, Spielräume fur demokratische Konzessionen zu öffnen, den Diktaturcharakter zu modifizieren bezw. mehr oder weniger stark zu schmälern. Auf den ersten Blick erscheint diese neue Diktaturform mit ihrer doppelten Herrschaftslegitimation die politischen Systeme aller Staaten, deren Führungen nach diesen Prinzipien herrschten, zu einen. Das trifft auch im wesentlichen für die theoretische und propagandistische Sprachregelung zu. Gehen wir aber - wie es Manfred Funke am Beispiel „rechter" Diktaturen formuliert von der Formalität zur Qualität über 11 und vergleichen die Handhabung realer politischer Regelungsmechanismen, die Ausgestaltung ihrer praktischen Politik, das faktische Erscheinungsbild ihrer politischen Systeme und selbst den Umgang mit ihrer Ideologie, so treten erhebliche Abweichungen in nicht geringem Umfange zutage. Beispielsweise ließen die kommunistisch-totalitären Diktaturen deutliche Abweichungen im Grad ihrer diktatorischen Repression, ihrer Toleranz gegenüber pluralistisch-demokratischen Tendenzen oder gar in ihrer Ernsthaftigkeit bei der Verfolgung des gemeinsamen politischen Zieles erkennen. 12 In den letzten beiden Jahrzehnten ihrer Existenz bis hin zu Gorbatschows Perestrojka-Politik erschienen beispielsweise aus unterschiedlichsten Gründen die politischen Systeme der Sowjetunion, Bulgariens, der Tschechoslowakei, Rumäniens und der DDR als besonders ausgeprägte totalitäre Diktaturvarianten. 13 Polen und Ungarn 14 verkörperten hingegen eine Art Vorreiterposition 11

A.a.O., S. 153.

12 S. z. B.: Torna, Peter A. (Ed.), The Changing Face of Communism in Eastern Europe, Arizona, 1970; Hoensch, Jörg K., Sowjetische Osteuropa-Politik 1945-1975, Kronberg/Ts. 1977; Fejtö, Françoise, Die Geschichte der Volksdemokratien, Band I (Die Ära Stalin 1945-1953) und Bd. II (Nach Stalin 1953-1972), Graz Wien Köln 1972; Brunner, Georg /Meissner, Boris (Hrsg.), Verfassungen der kommunistischen Staaten, Paderborn u.a. 1979; Hacker, Jens, Der Ostblock. Entstehung, Entwicklung und Struktur 1939-1980, Baden-Baden 1985; Horn, H./Knobelsdorf, WJReiman, M. (Hrsg.), Der Unvollkommene Block, Frankfurt/M. 1988; Welsh, William Α., Understanding East European Political Systems, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (künftig zitiert: BIOST), 2/1980, Köln. 13

Hatschikjan, Magarditsch Α., Bulgarien: Aufbruch in eine neue Ära?, Interne Studie Nr. 16/1989, Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung; ders.: Der unsanfte Übergang. Bulgariens Weg der politischen Erneuerung. Interne Studie Nr. 23/1991, Forschungsinstitut der KonradAdenauer- Stiftung; Brahm, Heinz, Bulgarien an einem Kreuzweg, BIOST 49/1994; Kaplan, Karel, Anatomie einer regierenden kommunistischen Partei, Teil I bis V, BIOST, 19/1989; Bischof, Henrik, Wirtschafts- und Systemkrise in Rumänien, Studie der Abteilung Außenpolitik und DDR-Forschung im Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 1987. 14

Vgl. dazu insbesondere Wladimir Knobelsdorf, Schein und Wirklichkeit. Die Aufspaltung der politischen Realität im sozialistischen Polen, in: Horn/Knobelsdorf/Reiman (Hrsg.), a.a.O., S. 171202; Bingen, Dieter, Staat und Gesellschaft im Realsozialismus. Der polnische Fall, BIOST 17/1985; Pradetto, August, Bürokratische Anarchie. Der Niedergang des polnischen „Realsozialis-

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hinsichtlich begrenzter faktischer politischer Toleranz im Umgang mit politischgesellschaftlichen Pluralisierungstendenzen. Die Osteuropa-Forschung hat bereits in der Vergangenheit auf die Ursachen solch vielfältiger Unterschiede hingewiesen und damit den wissenschaftlichen Aussagewert globaler Untersuchungen mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit für all diese Diktaturen begrenzt. 15 Auf abweichende historische Erfahrungen dieser Staaten wurden ebenso aufmerksam gemacht wie auf unterschiedliche soziale Entwicklungen und Strukturen, auf das Niveau geistiger und kultureller Befindlichkeiten und wirtschaftlicher Entwicklung oder auf demographische , territoriale oder regionale Bedingungen. Relativ geringe wissenschaftliche Beachtung erfuhren dabei allerdings komparatistische Untersuchungen zur Interdependenz zwischen ethnischen Strukturen und dem Charakter sowie der Wandlungsfähigkeit ihrer Herrschaftssysteme. In diesem Rahmen sollen nicht alle divergierenden Aspekte danach befragt werden, inwieweit sie auf die Reformfähigkeit totalitärer Diktaturen einwirkten oder welche Relevanz ihnen für die Bewältigung aktueller Transformationserfordernisse zukommt. Nur ein, in das Ganze eingebundenes Segment steht hier zur Diskussion. Es geht um die Frage, ob den spezifischen scheindemokratischen Attributen kommunistisch-totalitärer Systeme politische Bedeutung zuzumessen ist und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens bei der Einleitung von Reformen in diesen Systemen in der Vergangenheit sowie zweitens bei den uns heute beschäftigenden Transformationsvorgängen. Erwiesen sie sich bei diesen Vorgängen als Hemmnisse oder Vehikel oder blieben sie ohne Wirkung? ΙΠ.

Die Frage nach reformfördernden oder -behindernden Tendenzen, die von scheindemokratischen Attributen innerhalb kommunistischer Diktaturen ausgingen, führt angesichts der angesprochenen gesellschaftlichen Differenzierungen innnerhalb der Länder auf ambivalente Antworten. Zunächst liegt es nahe, davon auszugehen, daß ein politisches System, welches in seiner offiziellen mus", Wien Köln Graz 1992; Bango, Jenö, Anzeichen des Nonkonformismus in Ungarn, BIOST 1/1984 ; Huber, Maria, Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei. Binnenstruktur und Funktionsprobleme (Teil I und II), BIOST 23 u. 24/1984. 13

Bedauerlicherweise setzte sich diese Erkenntnis insbesondere nach den osteuropäischen Revolutionen immer weniger durch, zumal sich immer mehr Wissenschaftler ohne intensives Vorstudium heute dieser, nun in gewissen Graden wissenschaftlich modisch gewordenen Region annehmen. Zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten z. B. Brunnerl Meissner (Hrsg.), a.a.O., S. 7-18 sowie die in Anm. 14 genannte Literatur.

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politischen Kultur als höchste Form der Demokratie figuriert, daraus extrem reformfeindliche Impulse erfahrt und alternatives Denken lähmt. Was vollkommen ist, bedarf nicht der Veränderung. Es verwundert daher auch nicht, daß der Reformbegriff bis in das Ende der Breschnew-Ära hinein nicht zum offiziellen Sprachgebrauch gehörte. Er deutet immanent auf zu korrigierende Fehlentwicklungen hin, für die es aber in einer offiziell als perfekt glorifizierten, von der Geschichte vorgezeichneten Ordnung einer „sozialistische Demokratie" keinen Platz gab. Der offizielle Sprachgebrauch begnügte sich daher mit Begriffen wie „vervollkommnen" oder „weiterentwickeln". Infolgedessen ist davon auszugehen, daß prinzipiell die scheindemokratischen Attribute des Systems kommunistische Reformen eher erschwerten bezw. behinderten als förderten. Das betrifft insbesondere alle Fehlentwicklungen, die unverkennbar aus ideologischen Vorgaben resultierten und deren Korrektur der ideologischen Meßlatte nicht standhielten, wenn sie grundlegende Herrschaftsprinzipien und damit verknüpfte erfolgreiche Instrumente der Herrschaftssicherung tangierten. Prinzipiell gilt auch hier die Erkenntnis von Max Weber, daß die Erbtorheit jeder radikalen wie auch ideologischen Politik in der Fähigkeit besteht, Gelegenheiten zu versäumen. 16 Dennoch lassen sich in dieser Hinsicht deutliche Unterschiede in den kommunistisch regierten Staaten beobachten. Das gilt insbesondere für diejenige Politik, die als Reformkommunismus in die Geschichte Eingang gefunden hat. 1. Weit ausgeprägter als in der Sowjetunion wurde von einigen ost-mitteleuropäischen Reformkommunisten der Spielraum in Anspruch genommen, den die scheindemokratischen Attribute für eine mehr oder weniger starke Überleitung in demokratische Bedingungen offen hielten. Allerdings bestanden in diesen Ländern dafür auch günstigere Voraussetzungen als in der Sowjetunion. Zur Scheindemokratie sowjetischer Prägung gehörte auch die Tatsache, daß die alleinige, politisch monopolisierende kommunistische Organisation als Partei figurierte, obwohl es seit Anfang der zwanziger Jahre keine weiteren Parteien mehr in der Sowjetunion gab. In den von ihr eroberten Staaten Ost-Mitteleuropas, in denen die sowjetische Besatzungsmacht in Zusammenarbeit mit nationalen Kommunisten begann, sowjetische Herrschaftsprinzipien, und damit auch ihre scheindemokratische Variante den Völkern aufzupfropfen, lagen die Dinge anders. Nicht zuletzt im Hinblick auf die außenpolitische Gesamtsituation sowie auf die gesellschaftspolitischen Bedingungen theoretischer Etappenbildungen in diesen Staaten17 wurde ein z. T. vorgefundenes oder durch Neugründungen ge16

Weber, Zur Lage der bürgerlichen Demokratie in Rußland, a.a.O., S. 56.

17 S. dazu: Horn, Hannelore, Etappenbildung als Ausgangspunkt und Dilemma eines Vergleichs kommunistisch regierter Staaten Europas, in: Horn/KnobelsdorfYReiman (Hrsg.), a.a.O., S. 13-44.

16 Timmermann / Gruner

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schaffenes pluralistisches Mehrparteiensystem formaliter belassen, dann aber politisch gleichgeschaltet. So existierten überall mehrere politische Organisationen, die den Namen „Partei" trugen, tatsächlich aber waren sie Blendwerk eines Parteienpluralismus. Im Rahmen von Blocksystemen sorgten im allgemeinen überall unterschiedlich benannte Institutionen für Einstimmigkeit aller Parteien bei politischen Entscheidungen, so daß kommunistische diktatorische Politik als harmonischer demokratischer Prozeß ausgegeben werden konnte. Dennoch liegt es nahe, daß allein die Existenz mehrerer, als Parteien deklarierter Organisationen, die unterschiedlich interessierte Bevölkerungsgruppen repräsentieren sollten, geeignet ist, immanent ein allerdings kaum meßbares parteipolitisches Differenzierungsdenken in der Bevölkerung wachzuhalten. In diesen Ländern gelangte die Inanspruchnahme der sich aus den scheindemokratischen Strukturen ergebenden Spielräume für Reformen mit Demokratisierungsgehalt in zweierlei Hinsicht zum Ausdruck: Eine Variante bestand in massivem Aufbegehren innerhalb kommunistischer Führungen bezw. Parteien gegen die stalinistischen Prägungen der Systeme mit dem Ziel, diese zugunsten demokratischer und menschlicher Varianten zu lockern. Die offensichtlichen Widersprüche zwischen scheindemokratischen Institutionen und politischer Wirklichkeit erwiesen sich als eine permanente Herausforderung an das politische System. So wurde die Kritik auch und gerade von Kommunisten, den sogenannten Reformkommunisten, in die eigenen Reihen getragen. Sie wollten die Systeme durch vorsichtige Demokratisierung effizienter und menschlicher gestalten, allerdings weitgehend unter Aufrechterhaltung der Führungsrolle der Partei. An diesem Punkt hatten in Ungarn die Reformkommunisten unter Imre Nagy angesetzt, als sie 1953 eine politische Demokratie durch Ausbau des Mehrparteiensystems in ihr Programm aufnahmen und 1956 u.a. die Schaffung von Demokratie mit politischer Freiheit forderten sowie eine neue Partei, die „Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei" gründeten. 18 Nach dem Posener Aufstand am 28. Juni 1956 versprach selbst der Stalinist Cyrankiewicz „unser Leben zu demokratisieren". 19 Die Reformkommunisten unter und um Gomulka in Polen diskutierten, forderten und versprachen ebenfalls „Demokratisierung", für Gomulka allerdings immer nur unter der Leitung der Partei der Kommunisten. 20 Die Überwindung vieler scheindemokratischer Attribute des Systems aber hatte sich der Reformkommunismus 1967/68 in der Tschechoslowakei

18

Hanäk, Peter (Hrsg.), Die Geschichte Ungarns, Corvina Kiado 1991, S. 240.

19

Fejtö, a.a.O., Bd. II, S. 119.

20

Ebd., S. 122, 129 u. 131.

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zum Ziel gesetzt.21 Ein Sozialismus mit Meinungsfreiheit, weitgehender Organisationsfreiheit (Pluralismus), gesetzlich verankerter Opposition usw. sollte auch bei einer zwar neu definierten Aufrechterhaltung der Führungsrolle der Partei realisiert werden. Durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen konnte dieses Modell seine dauernde Lebensfähigkeit nicht demonstrieren. Die Dynamik, welche der entfesselte Pluralismus u.a. zugunsten demokratischer und gegen die Führungsrolle einer einzigen Partei gerichteter Entwicklungen auslöste, gelangte unter diesen Umständen nicht voll zur Wirkung. So konnte sich der Irrtum aufrecht erhalten, es könne sich ein Reformkommunismus dieser Art als Alternative zum leninistisch/stalinistischen System dauerhaft behaupten. Die zweite Variante kommunistischer Inanspruchnahme scheindemokratischer Kapazitäten wirkte nicht weniger nachhaltig. Sie bestand in einer Politik der jeweiligen kommunistischen Regierungen, diese für eine Stabilisierungspolitik in wechselnden gesellschaftspolitischen Konfliktsituation zu nutzten und zwar mittels mehr oder weniger marginaler Reformen bezw. begrenzter Toleranz gegenüber politischem Nonkonformismus. Die polnischen Führungen erwiesen sich bis zum Umbruch geradezu als Meister dieser Politik. Bereits Gomulka öffnete leicht die Fesseln des Pluralismus, als er schon 1956 Vertreter der katholischen Kirche ins Parlament ließ. Modifizierte Wahlprozeduren wurden ermöglicht. Indem mehr Kandidaten als wählbare präsentiert oder sich in beschränktem Umfange Unabhängige zur Wahl stellen konnten, wurde dem Wähler eine so beschränkte Auswahlmöglichkeit gegeben. Auch unterschiedliches Abstimmungsverhalten im Parlament traf bisweilen auf Duldung. Bereits vor und nicht minder nach der Einführung des Kriegsrechtes im Dezember 1981 sah sich die polnische Regierung gezwungen, den sich mehr und mehr aus seinen Fesseln lösenden Pluralismus - wenn auch ungewollt - begrenzt zu tolerieren sowie die Entstehung und Entwicklung einer Reihe außerhalb der Kontrolle der Partei agierender Organisationen (Solidarnosc, Kirche) und Diskussionszirkel 22 nicht offen zu bekämpfen. Nichtkommunistische Zirkel- und Gruppenbildungen 23 wurden geduldet und zwar zunehmend erzwungenermaßen im Interesse von Konfliktvermeidung. Nicht nur damit gab sie die Scheinharmonie auf. Auch seit den Wahlen 1984 und 1985 be21 Ebd. S. 254-90; Kessler, Rolf, Bedingungen und Voraussetzungen für Reformpolitik in der CSSR und DDR vor dem „Prager Frühling", in diesem Band. 22 S. Pradetto, August, Polen: Zwischen Resignation und Widerstand, in: Osteuropa, 32.Jhrg., 10/1982; ders.. Bürokratische Anarchie. Der Niedergang des polnischen Realsozialismus, Wien Köln Graz 1992, S. 9. 23

16*

Knobelsdorf,

Wladimir N., S. 171 - 202.

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gnügten sich verantwortliche polnische Politiker mit nicht mehr nahezu hundertprozentiger, sondern mit 70-80-prozentiger Wahlbeteiligung (offizielle Angaben).24 Bei der Vorbereitung des neuen Wahlgesetzes hatte sich die polnische Regierung mit dem Wunsch aus den eigenen Reihen auseinanderzusetzen, es weitergehend zu demokratisieren. 25 Auch in Ungarn wurden scheindemokratische Spielräume in unterschiedlichen Perioden für die kommunisitsche Systemstabilisierung genutzt. Beispielsweise ermöglichte die ungarische Regierung 1966 im Rahmen des „Neuen Kurses" von Janos Kadar auch Mehrfachkandidaturen im Zusammenhang mit der Errichtung von Einmannwahlkreisen. Insgesamt kam es auch hier zu einer Modifizierung des gefesselten Pluralismus. In Polen und Ungarn wurde auch die Monotonie der Einstimmigkeit bei Parlamentsabstimmungen durchbrochen. 26 Selbst die DDR folgte auf diesem Wege, wenn auch äußerst begrenzt. 1965 erhöhte ihre Führung die Zahl der Kandidaten für die Volkkammerwahlen um etwa ein Drittel gegenüber der Zahl der zu Wählenden (500 Mitgl., 703 Kandidaten). 1972 erlaubte sie zwei Mitgliedern der CDU-Fraktion, in der Volkskammer gegen das vorgelegte Gesetz zur Schwangerschaftsverhütung und -Unterbrechung zu stimmen. Auch der seit den 70iger Jahren zu beobachtende modifizierte Umgang mit der Kirche oder dem eingeführten Wehrkundeunterricht (kein negativer Zeugnisvermerk bei Verweigerern auf Intervention der Kirche) machen sichtbar, wie im Interesse politischer Stabilisierung die manipulierte politische Partizipation des Scheinpluralismus eine begrenzte Lockerung erfuhr. 27 Das gilt begrenzter auch für Bulgarien, wo das alte Regime in seinen letzten Tagen den Systemerhalt durch die Etablierung von Scheinopposition zu retten suchte28 sowie für Rumänien bis zu der Zeit nach dem Sturze Ceausescus.29 24 Bingen, Dieter, Nach der Stabilisierung der Machtstrukturen in Polen: Dialog mit wem?, BIOST, 53/1986, S. 13f. 25 ders., Die neue polnische Sammlungsbewegung PRON und die Reform des Wahlsystems, BIOST, 38/1984, S. 50ff. 26 Dazu Brunner, Georg, Ansätze zu einem „sozialistischen Parlamentarismus" im sowjetischen Hegemonialbereich, in: Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 20/1989, S. 151-176. 27 S. dazu auch Henkys, Reinhard, Thesen zum Wandel der gesellschaftlichen und politischen Rolle der Kirchen in der DDR in den siebziger und achtziger Jahren, in: Gert-Joachim Glaeßner (Hrsg.), Die DDR in der Ära Honecker, Opladen 1988, S. 332-353. 28 Hoppe, Hans-Joachim, Bulgariens dorniger Weg zur Demokratie, in: Osteuropa, 41. Jhrg., 9/1991, S. 892ff; Venkova-Wolff\ Magdalena, Der Kampf um die Massenmedien in Bulgarien, in: Osteuropa, 46. Jhrg., S. 697. 29

S. Gabanyi, Anneli U.: Rumänien zwischen Diktatur und Demokratie, in: Osteuropa, 40. Jhrg., 9/1990, S. 797ff.

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So wurden die scheindemokratischen Kapazitäten der kommunistischen Diktaturen von der offiziellen Politik mannigfaltig mit dem Ziel der Systemstabilisierung instrumentalisiert. 30 Durch Modifikationen bezw. Veränderungen am System wollten sie Reformfähigkeit und Reformbereitschaft signalisieren. Ohne die Führungsrolle der kommunistischen Partei in ihrem Kern anzutasten,31 ermöglichten und kaschierten sie die vielfache machtpolitische Belanglosigkeit solcher Veränderungen. Zugleich aber verdeckten und förderten sie damit ungewollt auch die ohnehin autonom ablaufenden innergesellschaftlichen realen Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse. 2. In Rußland hat Reformkommunismus in diesem Sinne bis hin zu Gorbatschow keine Wurzeln geschlagen. Die unter Chruschtschow eingeleiteten und vollzogenen Veränderungen lassen sich zwar als Reformen kennzeichnen, nicht aber als eigentlich reformkommunistische. Eine Änderung am politischen System stand nicht auf seiner Tagesordnung. Sie alle (z.B. Landwirtschaft, Schulwesen, erweiterte ZKs, Rotationsprinzip) zielten auf Effizienzerhöhung im Rahmen des Systems, ohne Modifikation zugunsten pluralistisch-demokratischer Entwicklung. Als eine Ausnahme erwiesen sich allerdings seine Korrekturen an dem insbesondere in der Volkswirtschaft höchst ineffizienten Hyperzentralismus. Sie erschienen als durchaus geeignet, die dem Pluralismus auferlegten Fesseln zu lockern. Chruschtschow betrieb wirtschaftliche Dezentralisierung. Durch die weitgehende Beseitigung zentraler Wirtschaftsministerien sowie durch die Errichtung von 105 neu geschaffenen Volkswirtschaftsräten (Sownarchose) erweiterte er die Rechte der Unionsrepubliken und örtlicher Organe auf wirtschaftlichem Gebiet. Unter ökonomischen Gesichtspunkten handelte es sich dabei um eine durchaus sinnvolle Dezentralisierungspolitik. Sie kollidierte allerdings u.a. mit der verbreiteten Furcht, die Maßnahmen könnten Autonomiebestrebungen nichtrussischer Nationalitäten fördern und zum Verlust des den Zusammenhalt garantierenden Zentralismus fuhren. Beispielsweise warnte 1957 Molotow vor solchen Gefahren. 32 Mit dem gleichen Argument wurde die Zahl 30 Roy en, Christoph, Osteuropa: Reformen und Wandel, Erfahrungen und Aussichten vor dem Hintergrund der sowjetischen Perestrojka, Baden-Baden 1988. 31 Das gilt auch für Ungarn. S. Joua, Gyula, Von der Implosion des politbürokratischen Systems in Ungarn zum Rechtsstaat und zum Parteienpluralismus, BIOST, 23/1992, S.ll. 32 Äußerungen Molotows anläßlich der Auseinandersetzung mit Chruschtschow im Parteipräsidium am 19. Juni 1957. Molotow charakterisierte die zentralisierte Wirtschaftslenkung als wichtigstes Instrument der Kommunisten, um Barrieren zu zerschlagen, die die Nationen voneinander trennen. Die Politik der Dezentralisierung, die Chruschtschow vertritt, führe zur Entstehung von Teilfürstentümern, die dem Nationalismus und dem Chauvinismus Vorschub leisteten. Als Folge von

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der Volkswirtschaftsräte bereits wenige Jahre später reduziert und nach Chruschtschows Sturz wieder völlig abgeschafft. 33 Dezentralisierung beinhaltet immer einen Schritt zu Pluralisierung und Differenzierung. Die daraus resultierenden Gefahren für das monistische System und den Zusammenhalt des Staatsverbandes dürften auch ein Grund dafür sein, daß Rumänien und in gewissen Umfange auch Bulgarien, welche mit Hilfe des Sowjetsystems die Integration und Assimilation ihrer Minderheiten betrieben, so gut wie keinen Reformkommunismus entwickelten. Als weiteres Beispiel für Zusammenhänge zwischen Reformbereitschaft und Multinationalität bildet die massive, bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend ungebrochen praktizierte, auf allen gesellschaftlichen Gebieten zu beobachtende Einschmelzungspolitik gegenüber nichtrussischen Bevölkerungsgruppen. Sie verhinderte anhaltend auf Demokratisierung gerichtete Systemreformen. Jede, auch sehr begrenzte Freigabe gesellschaftlicher Pluralisierung einschließlich freierer Wahlen erschien als Bedrohung für diese Einschmelzungspolitik, solange nicht die Sicherheit und Überzeugung von einer dauerhaft gelungenen, erfolgreichen Assimilation bestand. Ideologisch kam es zwar zu einer Erfolgseinschätzung, als 1961 unter Chruschtschow die Formel vom „Staatsvolk" und unter Breschnew vom „Sowjetvolk" geboren und damit dem Harmoniefetischismus offiziell umfassend gehuldigt wurde. Das national Trennende, so wurde vorgegeben, sei nun durch das sozialistisch Gemeinsame überlagert worden. Aber das reale Vertrauen in die Zuverlässigkeit vieler nichtrussischer Völker erwies sich in der damaligen alten Garde politischer Führung als wenig ausgeprägt, wie beispielsweise auch der Umgang mit der Nationalitätenfrage bei der Erstellung der neuen Verfassung 1977/78 ausweist. Erst Gorbatschow instrumentalisierte erfolgreich scheindemokratische Kapazitäten, als es ihm am Ende der Sowjetunion gelang, die eigentliche Machtzentrale und damit die entscheidende politische Verantwortung von der KPdSU und seinem Generalsekretär weg in den Staatsapparat, zum Präsidentenamt, zu verlagern und damit dem politischen System ein völlig neues Gesicht zu ge-

Chruschtschows Dezentralisierungspolitik, sein Spiel mit demokratischen Freiheiten sowie seine Zugeständnisse an Tito hätten die Ungarn zum Aufstand angestachelt. Vergl.: Grinevskij, Oleg, Tauwetter. Entspannung, Krisen und neue Eiszeit (Übers. a.d.Russ.), Berlin 1956, S. 65f. Dazu auch Schuldbekenntnis Bulganins vor dem ZK am 18. 12. 1958. S. Meissner, Boris, Rußland unter Chruschtschow, München 1960, S. 551f. 33

Zunächst kam es zur Kritik am „Lokalpatriotismus, dann an Tendenzen zur Wirtschaftsautarkie. Vgl. Tatu, Michel, Macht und Ohnmacht im Kreml, Frankfurt/M. Berlin 1967, S. 113ff, 331f.

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ben. 34 Seine weiteren reformkommunistischen Interventionen nutzten den Spielraum, den das scheindemokratische politische System für eine begrenzte pluralistisch-demokratische Öffnung bot. Als er mit „Glasnost" die Freigabe gesellschaftlichen Pluralismus eröffnete, mehr Demokratie propagierte und dafür auch noch als Auftakt seine Besuche im Baltikum Anfang 1987 wählte, glaubte er an die Möglichkeit einer begrenzten Systemreform. Er mißachtete dabei aber nicht nur die mißtrauende Einschätzung seiner Vorgänger gegenüber den Nationalitäten, womit er sich als Opfer der anhaltenden propagistischen Selbsttäuschung über die Harmoniegesellschaft auswies. Sondern er war sich offenbar auch der Interdependenzen zwischen pluralistisch-demokratischen Lockerungen und den Potenzen für nationales Selbständigkeitsstreben nicht bewußt. Als er mit seiner Perestrojka-Politik einige scheindemokratische und scheinpluralistischer Elemente im politischen System der Sowjetunion aufgeben wollte und aufgab sowie pluralistische Spontaneität ermöglichte, ignorierte er nicht nur ihre zerstörerischen Interdependenzen zum Monismus des politischen Systems sondern auch zum Scheinföderalismus. So setzte er eine selbstzerstörerische innere Dynamik in Bewegung. Die nun erlaubte freiere Meinungsäußerung machte nicht bei der öffentlichen Artikulation gravierenden Fehlentwicklungen im kommunistischen System Halt. Auch eine Fülle immer neuer Beispiele über Auswüchse zentralistischen Regelungsanspruchs der Moskauer Zentrale gegenüber anderen Republiken, zur Dominanz der Russen, zur Unterdrükkung und Benachteiligung nichtrussischer Bevölkerungen zugunsten der russischen usw. beschäftigten die nicht russische Öffentlichkeit und untergruben das politische System mit seinem russischen Dominanzanspruch. Da jetzt öffentlich ausgesprochen wurde, was viele Nichtrussen aus eigener Erfahrung wußten und dachten, förderte diese neue Öffentlichkeit die Formierung von Abwehr, die sich zunächst in Massendemonstrationen niederschlug. Foren dieser nationalen Bewegungen bildeten die Unionsrepubliken. Anfangs als Übergangsinstitutionen gedacht, aus pragmatischen Gründen aber auch im Zusammenhang mit der neuen Verfassung nicht beseitigt, höhlte die demokratische Komponente der freien Meinungsäußerung den Scheinföderalismus und die Scheindemokratie aus. Es ging nicht nur darum, daß, je schwächer sich das Moskauer Zentrum erwies, es um so massiver die der russischen Oberhoheit und Bevormundung überdrüssigen Politiker und Völker nichtrussischer Unionsrepubliken wagten, ihr Selbstbestimmungsrecht zu beanspruchen. Gorbatschows Versprechen, sozialistische Demokratie zu praktizieren, erfüllte er auch in seiner praktischen Politik weitestgehend gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, wie der Versuch 34 Dazu s. Kljamkin, Igor, Der Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie in der UdSSR, in: Osteuropa, 40. Jhrg., 6/1990, S. 479-494.

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und die Praxis friedlicher Konfliktschlichtung im Falle ihres Aufbegehrens bis hin zu Streiks zeigte. Hier ging er den Weg friedlicher Konfliktschlichtung. Allein gegen das Aufbegehren von Nationalitäten bediente er sich lange offener und versteckter Gewaltanwendung,35 die immer neue antirussische Emotionen auslöste und ihn unglaubwürdig machten. Gorbatschow hatte nicht erkannt, daß die Inanspruchnahme demokratischer Rechte in einem Staat mit der ethnisch-nationalen Vielfalt einer Sowjetunion nicht teilbar ist, sondern nur auf der Basis gleicher Rechte alle gelingen kann. Die Interdependenz zwischen der tendenziellen Umwandlung scheindemokratischer Elemente in demokratische und einem sich konsequenterweise auflösenden Scheinföderalismus wurde hier offenkundig. Gorbatschow erkannte auch zu spät, daß nur auf der Basis von Gleichheit ein dauerhafter, friedlicher Zusammenhalt im Staatsverband gelingt. Sein zu langes Festhalten am russischen Dominanzanspruch machte ihn unglaubwürdig und förderte geradezu Selbständigkeitsbestrebungen in den Unionsrepubliken. Seine Konzessionen kamen zu spät und reichten immer weniger aus. 36 Sie gingen zudem den Putschisten zu weit. Das Ende der Sowjetunion war herangereift. Eine Entwicklung, die einst in der Tschechoslowakei durch den Einmarsch der sowjetischen Truppen abgebrochen wurde, hätte auch in der Sowjetunion nur durch Gewaltanwendung nach innen gestoppt werden können. Im Gegensatz zu Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei wurde bis hin zu Gorbatschow in der Sowjetunion kein Versuch unternommen, die scheindemokratischen Institutionen und Strukturen des politische Systems vorsichtig zugunsten pluralistisch-demokratischer zu modifizieren. Die Perestrojka verhalf ungewollt den immanenten Interdependenzen zwischen entfesseltem Pluralismus und demokratisierenden Prozessen zum Durchbruch und führte zum Ende des politischen Systems und der Sowjetunion selbst, zum doppelten Exitus. Gesellschaften, in deren Staatsverband Dominanzansprüche einer nationalen Mehrheit gegenüber Minderheiten existierten und in die politische Praxis einflössen, unterlagen ähnlichen Reformhindernissen wie die UdSSR. Je nachdem, in welchem Umfange diese kommunistischen Regierungen das sowjetische System zur Assimilation ihrer Minderheiten genutzt hatten, formierte sich von dieser Seite besondere Opposition, die wiederum zu Repressionen herausforderte. Das gilt

35 Vgl. Horn, Hannelore, Perestrojka und Politische Kultur, in: Osteuropa, 40. Jhrg., 8 /1990, S. 705 - 717. 36 Dazu: Meissner, Boris, Die GUS zwischen Hegemonial- und Unabhängigkeitsstreben (I u. II), in: Osteuropa, 43. Jhrg., 2/1993, S. 119-131 und 3/1993, S. 244-258.

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weitgehend für Rumänien, 37 Bulgarien (Türken und Roma) 38 und in geringerem Umfange auch für die Tschechowslowakei. Selbst die einzige bleibende Errungenschaft des „Prager Frühlings", die Föderalisierung, wurde schon nach wenigen Jahren zugunsten integrierender Funktionen des Zentralstaates durch Verfassungsänderung abgeschwächt. Die Relevanz scheindemokratischer Kapazitäten kommunistisch-totalitärer Diktaturen für eine politische Demokratisierung der politischen Systeme im Rahmen dessen, was als Reformkommunismus verschiedenster Schattierungen in die Geschichte Eingang gefunden hat, erweist sich folglich als mannigfaltig: Sie erschwerten prinzipiell Systemreformen, weil diese Systeme a priori als vermeintlich optimale Demokratievariante über ideologische Verankerung verfügten. Allein durch ihre Existenz stellten sie aber per se eine Herausforderung dar, weil ihre leicht durchschaubare Unwahrhaftigkeit die Gesamtheit des politischen Systems permanent diskreditierte, auch bei Kommunisten. In unterschiedlichen Graden und in unterschiedlichen Staaten zeigten sich innerhalb der kommunistischen Parteien mehr oder weniger starke Tendenzen, Demokratisierung mit dem Abbau scheindemokratischer Elemente zu verbinden. Die kommunistischen Führungen der ost-mitteleuropäischen Staaten befanden sich dabei in einer für demokratische Reformen günstigeren Ausgangsposition als die der Sowjetunion. Durch ihr Mehrparteiensystem, durch ihre Bestandsgarantie seitens der UdSSR sowie durch die permanent einfließende nationale Komponente verfügten sie über größere Spielräume für Reformen bezw. Reformexperimente. Offensichtlich näherten sich die kommunistischen Reformmaßnahmen und Reformintentionen mehr und mehr durchaus denen „bürgerlicher Systeme" ausgenommen die als Demokratisierung begriffenen Arbeiterräte, die zentralistische Wirtschaftsgestaltung u.a. Obwohl im allgemeinen Kommunisten und ihre Führungen die „bürgerliche Demokratie „ bekämpften, förderten sie damit unausgesprochen und ungewollt eine positive Bewertung dieser Systeme. Schließlich bildete die Existenz scheindemokratischer Institutionen und Strukturen immanent eine Herausforderung bezw. eine Gefahr für die kommunistischen monopolisierten Systeme. Sie hielten trotz aller berechtigter, entlarven37 Bischof, Henrik, Wirtschafts- und Systemkrise in Rumänien, Bonn 1987, S.32ff; Gabanyi, Anneli U./Gäbor Hungar, Vom Regimewechsel zur Transformation: Rumänien, in: August Pradetto (Hrsg.)» Die Rekonstruktion Ostmitteleuropas, Opladen 1994, S. 77-109; De Neve, Dorothé, Die Entwicklung des Parteiensystems in Rumänien nach 1989, in: Osteuropa, 46. Jhrg., 1/1996; Kolar, Othmar, Rumänien und seine nationalen Minderheiten 1918 bis heute, Wien Köln Weimar 1997. 38 Brey, Thomas, Das Ende der „Ära Shiwkow" in Bulgarien, in: Osteuropa, 40. Jhrg., 3/1990, S. 250; Petkov, Ivan, Rhetorisch-sentimentale Fragen und Machtwille: Bulgariens Institutionen im Übergang zur demokratischen Gesellschaft, in: Pradetto (Hrsg.), a.a.O., S. 113-120; Hoppe, a.a.O., S. 889 f. u. 897.

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der Kritik an ihnen ein verbreitetes Wissen um demokratische Bedingungen und Institutionen wach, wie auch der Scheinföderalismus geeignet war, nationalen Selbstbehauptungswillen zu konservieren. Die scheindemokratischen Elemente wirkten sicher nur sehr begrenzt als auslösende Faktoren für Reformkommunismus. Sie begünstigten aber einen schleichenden Systemwandel. Sie boten den Rahmen, gewissermaßen einen Schutzschild oder gar ein Alibi für leichten bis ausgeprägteren Gesamtwandel des totalitären Charakters der politischen Systeme, ohne sogleich die dogmatisierte Führungsrolle der Kommunistischen Partei offen aufzugeben. IV. Die Relevanz scheindemokratischer Systemelemente für die Transformation der kommunistischen Diktaturen und Gesellschaften in demokratisch-pluralistische ist nicht minder evident. Sie erleichterten den Wandel in mehr oder weniger demokratische Systeme. Ausgangspunkt dieses Wandels bildete überall eine differierende, aber doch weitgehende Befreiung des gesellschaftlichen Pluralismus von seinen Fesseln, die die kommunistischen Regierungen - mehr oder weniger erzwungen - zugestanden bezw. duldeten. Diese Vorgänge rückten die fundamentale Bedeutung des Pluralismus für demokratische Entwicklungschancen wie auch für kanalisierte politische Wandlungsprozesse ins Rampenlicht. Die Frage nach dem Einfluß scheindemokratischer Systemattribute auf eine demokratische Transformation trifft auf positive wie auch negative, hemmende wie befördernde Impulse, so daß gewichtende Antworten ambivalent ausfallen müssen. Es sind insbesondere sechs Aspekte, die förderliche Potenzen und Tendenzen markieren: Erstens ermöglichten die bekannten scheindemokratischen Verfahren und Institutionen fast überall eine „geordnete" politische Transformation. Ohne auf konkrete strukturell-institutionelle Zielvorstellungen des Wandels angewiesen zu sein, erwiesen sie sich als erstaunlich gut funktionierende politische Auffangbecken in den wirren Zeiten des Zusammenbruchs der alten Systeme. Es waren nicht die kommunistischen Parteien, die einen Rahmen für den Wandel bereitstellten, sondern in erster Linie die alten scheindemokratischen „staatlichen" Institutionen, die die aus dem sich befreienden Pluralismus hervorgegangenen neuen politischen Gruppierungen als Legitimationsvehikel in Anspruch nahmen einschließlich der alten Parlamente. Nach dem Wegfall der Führungsrolle der Partei und damit auch der doppelten Herrschaftslegitimation wuchsen sie in die Rolle allein und demokratisch legitimierter Institutionen hinein.

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In der UdSSR deklarierten die kommunistischen, noch durch Scheinwahlen zustandegekommenen „Parlamente" der Unionsrepubliken die jeweiligen Unabhängigkeitserklärungen für ihre Staaten und bestätigten ihren Austritt aus der Union. Z.B. beschloß noch in der einstigen Sowjetunion der „Kongreß der Volksdeputierten" der RSfSR eine Verfassungsänderung zugunsten einer künftigen Präsidentenwahl und übertrug dem Präsidenten außerordentliche Vollmachten zur Verwirklichung von Antikrisenmaßnahmen (5. 4. 1991). 39 Auch in Rußland bestätigte das jeweilige Parlament bezw. Vertretungsorgan die Kompetenzverlagerungen an der Staatsspitze, die Auflösung der Union sowie die vom Präsidenten veranlaßten Kompetenzübertragungen von Unionsbehörden auf Rußland. Selbst im Rahmen einer Reihe der mit dem Putsch verbundenen Änderungen am politischen System (z.B. Auflösung der KPdSU) wurde der Oberste Sowjet der UdSSR sanktionierend tätig. So waren im Unionsbereich wie auch in den aus der Union hervorgegangenen Republiken die „Parlamente" in die fundamentalen Transformationsakte bis hin zur Auflösung der UdSSR als Sanktions- und Legitimationsinstanzen involviert. Allein die Vorstellung, das politische System Rußlands hätte sich von einer anderen Form der Diktatur, nicht von einer scheindemokratischen, wandeln müssen, verdeutlicht die Schwierigkeiten, die sich heute für eine demokratische Transformation in Rußland auftürmen würden. Das gilt weitestgehend auch für die aus der Union hervorgegangenen neuen Republiken, deren noch zu kommunistischer Zeit „gewählten" Parlamente dem Schritt ihrer Länder in die politische Selbständigkeit eine legitimatorische Grundlage gaben. Ihre politischen Systeme mit mehr oder weniger aus freien Wahlen hervorgegangenen Parlamenten tragen teils heute noch scheindemokratische Züge, stehen aber als Auffangbecken für weitere Demokratisierungen bereit. Ein gewisser Grad an formaler Legalität des Wandels ist somit für die UdSSR/Rußland unübersehbar. Ähnlich verliefen - mit Ausnahme Rumäniens - die Entwicklungen in den Ländern Ost-Mitteleuropas. 40 Insbesondere in Polen und auch Ungarn vollzog sich die Umwandlung des Scheinparlamentarismus in einen weitgehend demo-

39 Zu den Gesamtabläufen in Rußland/Sowjetunion s. Meissner, Boris, Jelsin und der revolutionäre Umbruch (I-III), in: Osteuropa, 41. Jhrg., 12/1991, S. 1187-1205, 42.Jhrg., 1/1992, S. 21-40 und 3/1992, S. 205-226. 40 Hatschijan, Magarditsch Α., Der unsanfte Übergang. Bulgariens Weg der politischen Erneuerung, Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studien 1991, Nr. 23 Sankt Augustin; Takes, Rudolf L., Vom Postkommunismus zur Demokratie. Politik, Parteien und die Wahlen 1990 in Ungarn, Forschungsinstitut der Konrad-Adenauer-Stiftung, Interne Studien Nr. 18/1990, Sankt Augustin; OtähaU Milan, Der rauhe Weg zur „samtenen Revolution". Vorgeschichte, Verlauf und Akteure der antitotalitären Wende in der Tschechoslowakei, BIOST 1992, Nr. 25.

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kratischen so geschmeidig, daß für sie von einem „präventiven legalen Wandel" gesprochen wird. 4 1 Zweitens kommt scheindemokratischen Kapazitäten für die grundsätzliche Akzeptanz demokratischer Strukturen und Verfahren bewußtseinsbildende Bedeutung zu. Ungeachtet der gegenwärtig teils wachsenden Kritik weisen Erfahrungen mit den Transformationsprozessen in ehemals kommunistisch-totalitären Diktaturen daraufhin, daß demokratische Strukturen als Fundamente demokratischer Willensbildung und Entscheidung durchaus verbreiteter Akzeptanz unterliegen. Die scheindemokratischen Elemente der Vergangenheit dürften daran insoweit beteiligt sein, als sie auch mentale Potentiale zugunsten einer demokratischen Zukunftsgestaltung enthielten, die erst im Transformationsprozeß ihre eigentliche politische Wirkung entfalteten. Es war nicht nur nirgends erforderlich, Vertretungsorgane, Parlamente zu schaffen oder das Institut der Wahlen den Gesellschaften schmackhaft zu machen. Einrichtungen wie Wahlen, Parlamente usw. waren bekannt. Sie erwiesen sich als akzeptierte Institutionen, als einzige greifbare Legitimationsorgane für eine friedliche Umgestaltung der politischen Systeme in Richtung pluralistisch-demokratischer Systemgestaltung und zwar bei den neuen und alten politischen Eliten wie auch in den Bevölkerungen. Unzweifelhaft hat die Existenz wie auch selbst die nicht durchschaute Existenz scheindemokratischer politischer Gegebenheiten und Praxis eine Bewußtseinsbildung gefördert, welche die Mitwirkung und Beteiligung des Volkes in gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten durch Repräsentativorgane oder durch Befragung in Wahlen prinzipiell als selbstverständlich in den Köpfen der Völker bewahrte, verankerte oder förderte, auch innerhalb des Großteils ihrer politischen Klassen. Freie Wahlen gelten heute bei allen politischen Kräften als unangefochtenes Prinzip zur Ermittlung von Herrschaftslegitimation. Allenthalben sahen sich selbst die Kommunisten im allgemeinen nicht veranlaßt, die Einparteidiktatur öffentlich zu verteidigen. Sie verschwiegen die scheindemokratische Variante des alten Systems, schämten sich ihrer vielleicht sogar und gaben sich unter Berufung auf die sozialistische Demokratie als Demokraten. Orthodoxe kommunistische Splittergruppen 42 oder der weißrussische Präsident Lukaschenko gehören insofern zu den wenigen Ausnahmen. Das alte 41

Gabanyi, a.a.O., S. 3. Samuel N. Eisenstadt sieht in dem Umstand, daß sich die Transformation in fast all diesen Staaten innerhalb des Rahmens der bestehenden politischen Institutionen und Verfassungen vollzog, einen wichtigen Unterschied zu klassischen Revolutionen. S. : The Breakdown of Communist Regimes and the Vicissitudes of Modernity, in: Deadalus, 1992, S. 24. 42 Zur Entwicklung und Programmatik der russischen Kommunisten s. : Timmermann, Heinz, Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation. Aktuelle Analysen des BIOST, 70/1995; Luchterhand, Galina, Von der radikalen Opposition zur Beteiligung an der Macht, Die Kommunistische Partei der Rußländischen Föderation, in: Osteuropa, 46. Jhrg., 10/1996, S.968-986.

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System hatte durch seine scheindemokratischen Einrichtungen formaliter politische Partizipation des Volkes akzeptiert 43 und als Legitimationsgrundlage genutzt. Gerade seine treuesten Anhänger blieben an dieser politischen Vorgabe gebunden. Sie war vielleicht sogar geeignet, ihren Widerstand gegen den aufkommenden Wandel zu lähmen, weil sich die Dinge im Rahmen der alten Institutionen vollzogen. Aber auch die engagiertesten Antiwestler Rußlands wagen es nicht, öffentlich gegen dieses, im verhaßten Westen erfundene Verfahren zu opponieren, wenn es um einen besonderen russischen Weg geht. Drittens erleichterte die Existenz scheindemokratischer Einrichtungen die praktische Systemtransformation in mehr oder weniger demokratische. Im Rahmen seiner scheindemokratischen Formen kannte z. B. das Wahlsystem in der Vergangenheit zwar nur Zustimmung. Die neuen, durch politische Pluralisierung markierten Bedingungen ließen sich aber ohne Schwierigkeit in den alten Rahmen integrieren, so daß mehr und mehr auch die Chance zur Ablehnung bezw. echter Auswahl Eingang in ihm fand, die die Wähler nutzten. Trotz aller versuchter und weiterhin stattfindender Manipulationen in Wahlverfahren erleichterte somit die lang geübte Vertrautheit der Bürger mit einem Wahlvorgang und nicht zuletzt seine Kenntnisse über den Umgang mit Wahlverfahren bis hin zum Vorhandensein der technischen Ausstattung eine Transformation zu echten demokratischen Verfahren. Viertens tragen scheindemokratische Kapazitäten immanent zur politischen Befriedung im Transformationsprozeß bei. Ihre einst als scheindemokratisch mehr oder weniger akzeptierten, sich dann zunehmend in demokratische wandelnden und gewandelten Institutionen wirken prinzipiell und immanent zugunsten politischer Befriedung insbesondere der alten politischen Eliten, soweit sie nicht durch Gesetze von der Teilhabe am politischen Prozeß ausgeschlossen sind. In den Vertretungsorganen erwiesen sich personelle Kontinuitäten zwar mehr oder weniger stark als Transformationshindernisse. Ihre Existenz erlaubte aber im Zuge der sich frei entfaltenden Pluralisierung der Gesellschaften einschließlich weitgehend freier Wahlen ihre kontinuierliche Besetzung auch mit Kommunisten, konvertierten Kommunisten sowie mehr oder weniger ausgeprägten Demokraten nebeneinander. Fünftens erwies sich der parteipolitische Scheinpluralismus außerhalb der Sowjetunion als förderlich bei der Auflösung der alten Systeme sowie für den Aufbau demokratischer Parteien. Die nicht kommunistischen Parteien wurden 43

Inwieweit es sich dabei um eine ernst gemeinte Zukunftsperspektive für realen Legitimationsgewinn handelte, wie die Ausführungen von S. Eisenstadt, a.a.O., S. 32, interpretiert werden könnten, muß dahingestellt bleiben.

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teils zu Mitträgern des gegen die Kommunisten gerichteten Wandels. Zudem verfügten die nicht als kommunistisch ausgewiesenen Parteien über Organisationsstrukturen, auf die eine Reihe der sich aus den Fesseln der Kommunisten befreiender Politiker für eine demokratische Transformation zurückgreifen konnten und können. Zudem vermittelte die Existenz solcher Strukturen den sich demokratisierenden Parteien einen Vorsprung vor denjenigen, die sich vor die Aufgabe gestellt sahen, zunächst eine neue Parteiorganisation aufbauen zu müssen. Ungeachtet des damit verknüpften Problems der sogenannten „Blockflöten" , ermöglichte zudem die Fortexistenz dieser Parteien eine „sanfte" Überführung ihrer Mitglieder in demokratische Verhältnisse. Schließlich gehört sechstens zu den positiven, historisch wichtigen Faktoren, die im Zusammenhang mit scheindemokratischen Elementen der kommunistischen Systemtransformation zu beobachten sind, die Tatsache, daß ihre Inanspruchnahme als vertraute Einrichtungen eine weitgehend friedliche Abkehr von alten Systemfesseln förderten. Zu ausgeprägten Gewaltsamkeiten ist es kaum gekommen, weil Legitimationsinstanzen existierten und sich damit im Bewußtsein der Menschen nicht verankerte, oktroyierte Neuschöpfungen weitgehend erübrigten. Befriedend dürften insofern auch die scheindemokratisch strukturierten Verfassungen (Scheinkonstitutionalismus) gewirkt haben. Die in der Vergangenheit oftmals diskutierte Version, daß aus den kommunistischtotalitären Diktaturen ganz passable Demokratien entstehen könnten, wenn allen politischen und gesellschaftlichen Strukturen nur die monopolisierende Macht der kommunistischen Partei entzogen werden würde, hat sich im Transformationsgeschehen weitgehend bewahrheitet. So kamen beispielsweise nahezu alle Transformationsländer ohne große Konflikte für einen gewissen Zeitraum mit entsprechenden Korrekturen an ihren Verfassungen aus.44 Polen hat sich erst eine neue Verfassung gegeben. Die für viele Politologen überraschende Erkenntnis, daß bei den osteuropäischen Revolutionen im Gegensatz zu historischen Erfahrungen kein Ruf nach neuen Verfassungen zu vernehmen war, dürfte hier eine Ursache haben.

44

S. z.B. für Ungarn: Kwasny, Kurt, Über Ungarn ist der Rote Stern erloschen, in: Osteuropa, 40. Jhrg., 3/1990, S. 240f; Szabô, Maté, Vom kommunistischen „Reformwunder" zur relativen Stabilität im Postkommunismus: Ungarn, in: August Pradetto (Hrsg.), Die Rekonstruktion Ostmitteleuropas, Opladen 1994, S. 25-76; für Rumänien: Gabanyi, Anneli Ό./Gàbor , Hunya, Vom Regimewechsel zur Systemtransformation: Rumänien, ebd., S. 77-111.

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V. Die unübersehbaren förderlichen Faktoren, die der Transformation scheindemokratischer kommunistischer Diktaturen in neue, mehr oder weniger demokratische dienten, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie auch über eine ganze Reihe hemmender Potenzen verfügen. Unter ihnen scheinen drei einer Konsolidierung zugunsten demokratischer Systeme besonders ausgeprägt entgegenzuwirken: Erstens haben die scheindemokratischen Institutionen mit all ihren verfälschenden Attributen natürlich auch zu einer Diskreditierung des Demokratiegedankens und aller damit zusammenhängenden Faktoren überhaupt beigetragen und zwar insbesondere bei denjenigen, die diesem System unterworfen waren und ihre Verlogenheit durchschauten. Das gilt natürlich auch für den Scheinkonstitutionalismus, den mißbräuchlichen Umgang mit Verfassungen, so daß sich Vertrauen in die Freiheit sichernde und rechtsstaatlich prägende Kraft von Verfassungen kaum entwickeln konnte - eine schwere Bürde für das Gelingen demokratischer Ordnungen. Es liegt nahe, daß diese diskreditierenden Wirkungen möglicherweise in Rußland geringer anzusetzen sind als in den anderen ostmitteleuropäischen Staaten. In der ehemaligen Sowjetunion dürfte sich die Herrschaftspraxis in der Hülle formaler demokratischer Verfahren und Strukturen, also trotz ihres scheindemokratischen Charakters, zumindest zunächst als stabilisierendes Element ausgewirkt haben. Dies nicht nur, weil in diesem Land noch große Teile der Bevölkerung zur ersten Bildungsgeneration gehörten und alle unter dem Sowjetsystem sozialisiert wurden, sondern auch weil das Volk allein das sowjetische Modell als höchste Form der Demokratie vermittelt bekam. Dazu trat der Verlust kritikfähiger Bevölkerungsgruppen fast der gesamten, ohnehin schmalen Mittel- und Oberschichten durch Terror oder Emigration in den 20iger Jahren sowie die zunehmende und wirksame Abschottung der Bevölkerung gegenüber Einflüssen von außerhalb des Landes. Es gehörte zudem zur politischen Praxis, Maßnahmen zur Mobilisierung der Bevölkerung für unterschiedlichste Zwecke als Erweiterung demokratischer Mitwirkung der Bevölkerung zu propagieren. Die Präsentation von Zahlen über im allgemeinen freiwillige, millionenfache gesellschaftlich-politische Mitwirkung der Bevölkerung innerhalb der „demokratischen" Strukturen bildeten einen Teil des politischen Alltags. Diese Umstände waren sicher geeignet, die Fähigkeit zu alternativem Denken zu reduzieren und damit die Chance, scheindemokratische Gegebenheiten als wahre Demokratie in der Bevölkerung zu verankern, zu erhöhen, Akzeptanz und Verinnerlichung herbeizuführen. Das gilt in besonderem Maße für die rus-

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sische Bevölkerung in der damaligen Russischen Unionsrepublik, die durch die sie umgebenden nichtrussischen Republiken besonders intensiv und lange von äußeren Einflüssen abgeschottet war. Anders gestaltete sich hingegen die Situation in den nichtrussischen Unionsrepubliken. Bessere Informationen und kritischere Haltungen waren insbesondere in den letzten Jahrzehnten vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in ihren Randgebieten anzutreffen als Folge der einwirkenden Informationsvermittlung aus dem Ausland mittels technisch immer besserer ausgerüsteter Medien (Funk und Fernsehen). In diesen nichtrussischen Randgebieten wurden allerdings demokratische Ansätze durch nationalistische überlagert, so daß sich beispielsweise demokratische Reformkapazitäten der dortigen „Parlamente" als höchst unterschiedlich und zudem schwer bestimmbar erweisen. In den mittel-osteuropäischen Staaten, denen das sowjetische System oktroyiert wurde, vollzog sich die Etablierung und Praktizierung scheindemokratischer Systeme und damit die Gleichschaltung politisch divergierender Kräfte im allgemeinen unter Bedingungen, welche die Entlarvung scheindemokratischer Strukturen ebenso erleichterten, wie sie die Einleitung von Reformen oder eine demokratische Transformation begünstigten und förderten. Die seinerzeitige Entscheidung Stalins, die Scheindemokratie in diesen, von sowjetischen Truppen besetzten Staaten mit verschiedenen politischen Parteien zu garnieren, zeitigte eine nahezu immanent zernierende Wirkung. Die Zulassung mehrerer Parteien erwies sich damals außenpolitisch durchaus als Vorteil, weil sie der Sowjetunion in den Augen der Vielzahl flüchtiger Betrachter das Image verlieh, demokratische Intentionen zu verfolgen. Im Rahmen des internationalen Kommunismus diente die Existenz mehrerer Parteien zudem der ideologischen Untermauerung des sowjetischen Führungsanspruchs. 45 In einer wachsenden Schwächephase der Führungspartei verkörperte aber ein „Mehrparteiensystem" ein institutionalisiertes Forum, welches potentiell Möglichkeiten oder Chancen eröffnete, auch gegen die kommunistische Parteilinie stehende Forderungen und Interessen zu entwickeln und zugunsten von Reformen zu wirken. Zudem traf die Gleichschaltungspolitik in den meisten dieser Länder auf ein insgesamt höheres Bildungsniveau, welches größere Kritikfähigkeit ermöglicht. Die parteipolitische Gleichschaltung war überdies nach 1945 im all45 Trotz ihres im Vergleich mit anderen kommunistisch regierten Staaten Ost-Mitteleuropas weitgehend mittleren bis schwächeren Niveaus auf sozialem und ökonomischem Gebiet oder im Bildungsbereich beanspruchte die Sowjetunion eine Spitzenposition als die sich am nächsten zum Kommunismus befindliche Gesellschaft. Als Indiz galt u.a. das Einparteisystem, während das Mehrparteisystem Elemente einer weniger reifen Etappe auf dem Wege zum Kommunismus ausdrückte. Vgl. Horn, a.a.O., S. 13-45.

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gemeinen gegen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte, schließlich immer stärker geschwächte Opposition durchzusetzen, ein Vorgang, der sich unter breitem nationalen und internationalem Echo vollzog. Infolgedessen blieben die manipulative Handhabung des Blocksystems, der Wahlen und Abstimmungen usw. als immer stärker sichtbar werdende und andauernde scheindemokratische Attribute des Systems nicht verborgen. Sie besetzten zudem in all den Jahren nahezu ungebrochen die politische Tagesordnung der Ost-West-Auseinandersetzung. Mit den wachsenden technischen Möglichkeiten drangen sie über Funk und Fernsehen viel länger und stärker in diese Gesellschaften hinein als es je für die Sowjetunion der Fall sein konnte. So eignete sich in der ost-mitteleuropäischen Region tendenziell die Scheindemokratie eher dazu, die politischen Systeme zu diskreditieren und zu destabilisieren, weil sie von den Bürgern deutlicher und umfassender durchschaut werden konnten. Sie förderten aber auch eine Diskreditierung demokratischer Ordnungen überhaupt, so daß sich in diesen Staaten bis heute demokratische politische Systeme auch großer Skepsis ausgesetzt sehen. Sie geht so weit, daß die polnische Philologin Janina Fräs kürzlich feststellte, daß im heutigen Polen Begriffe wie Freiheit und Demokratie derart diskreditiert seien, daß für die neue Ordnung eher der Begriff „liberal" anstelle von „demokratisch" von Demokraten benutzt werde. 46 Dabei stellt sich allerdings das wissenschaftlich schwer zu lösende Problem, die Ursachen solch negativer Einschätzungen in den scheindemokratischen Erfahrungen der Vergangenheit oder in Enttäuschungen über Transformationsergebnisse zu verorten. Zweitens förderten scheindemokratische Attribute mit ihren scheinföderalistischen, scheinpluralistischen und scheinharmonistischen Attributen die Verfestigung von Nationalismen mit ihren weitreichenden Konsequenzen für die Reform- und Transformationsfähigkeit der betroffenen Systeme. In der Sowjetunion erwuchsen aus der nationalen Inhomogenität mit ihren Problemen nicht nur massive Reformhindernisse. Auch die Transformation kennt solche erheblichen Belastungen, die sowohl innerhalb fast aller neuen Republiken als auch in ihrem Verhältnis zueinander zum Ausdruck gelangen. In Rußland gehären u.a. die durch Verfassungsrecht abgesichterten Sonderregelungen für nationale Gebietseinheiten dazu, die das Gleichheitsprinzip für die Regionen beeinträchtigen. Eine nicht geringere Belastung für demokratische Systemtransformation bilden weitergehende Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen, die bis zum Krieg (z. B. Tschetschenien, Georgier-Abchasen, Azerbaidschaner-Arme46 Choitoru, Joseph, Maulkorb für Große, Leinenzwang für Kleine, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. 3. 1997, S. 40.

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nier) reichen. Nach der staatlichen Trennung von Tschechen und Slowaken behindern Konflikte um den Umgang mit seinen Nationalitäten die Demokratisierung in der Slowakei. In Rumänien47 und in geringerem Ausmaß in Bulgarien belasteten nationale Animositäten und Konflikte lange demokratische Transformationsentwicklungen. Die den scheindemokratischen Strukturen immanente Verschleierung existenter, aus nationalen Animositäten bis Feindschaften geborener Konfliktpotentiale befriedeten keineswegs. Im Gegenteil, sie waren eher geeignet, die Probleme besonders stark zu konservieren und zu verschärfen. Scheindemokratische Elemente stellten einst die eigentlichen Instrumente dar, mit deren Hilfe sich verschleierte Unterdrückung vollzog sowie eine mehr oder weniger starke massive Integrations- und Assimilationspolitik gegenüber Minderheiten. Die ihr innewohnende Unwahrhaftigkeit drang in den sich unterdrückt oder benachteiligt fühlenden Nationalitäten aufgrund ihrer täglichen Erfahrungen besonders stark ins Bewußtsein. Der massive Drang auch kommunistischer nationaler Kader nach einem echten Föderalismus in der Sowjetunion ist nur vor diesem Hintergrund verständlich. Vielfach überlagert er bis heute den nach echter Demokratie. In Rußland selbst erschwert bis zur Gegenwart ein nach innen sowie auf die ehemaligen Unionsrepubliken gerichteter Imperialismus und Chauvinismus eine demokratische Konsolidierung. Er beherrscht nicht nur die Nationalisten und Kommunisten. Gerade die demokratischen Parteien sind durch Flügelbildungen in der „nationalen Frage" zerstritten, so daß ihre dauerhafte Konsolidierung vorerst Zerreißproben ausgesetzt bleibt. 48 Die scheindemokratischen Bedingungen haben erheblich dazu beigetragen, daß sich die Illusion von der gelösten nationalen Frage insbesondere unter Russen als Realität verinnerlichen konnte. Ihre mentale Überwindung, insbesondere das Eingeständnis von russischer Schuld und Verantwortung, wird Generationen beanspruchen. Der Durchsetzung demokratischer Denkweisen wie auch demokratischer Verhältnisse in Rußland stehen insbesondere in den gebildeten politisch-gesellschaftlichen Schichten des Landes traditionelle Vorstellungen von russischer Überlegenheit mit russischem Führungsanspruch entgegen. Sie bewirken eine Dominanz anhaltend rückwärtsgewandten politischen Denkens und Verhaltens. Im Kern geht es daher dabei nicht um den alle Strömungen verbindenden Wunsch nach Wiederherstellung der Einheit. Im Mittelpunkt unterschiedlicher Orientierungen steht die Frage nach dem Preis, den diese jeweils für die Wiederherstellung einer Union in den alten Grenzen zu entrichten bereit sind. Schließt dieser Preis 47

DeNeve, a.a.O., S. 43ff.

48 Gnauck, Gerhard, Parteien und Nationalismus in Rußland, Demokratische versus nationalistische Integration nach dem Ende des kommunistischen Systems, Frankfurt/M. 1997.

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eine manipulative bis gewaltsame Vereinigungspolitik ein und genießt zudem politische Priorität, verhindert er notwendig die Entfaltung demokratischen Denkens sowie demokratischer Praxis und Transparenz. Es ist daher dem Befund von Evans und Whitefield zuzustimmen, daß u.a. ein hoher Grad an ethnischer Homogenität der Staaten die Transformation erleichtert, 49 Multinationalität sie infolgedessen erschwert. Ein drittes, aus der scheindemokratischen Verfaßtheit kommunistischer Diktaturen resultierendes Transformationshindernis besteht in dem allenthalben zu beobachtenden, weit verbreiteten Glauben an umfassende politische Harmonie. Einst von der offiziellen Politik vehement genährt, kamen den Harmonievorstellungen außen- und innenpolitische Funktionen zu. Außenpolitisch fungierte der Harmonieanspruch für die „sozialistischen Demokratie" als wichtiger propagandistischer Kontrapunkt gegenüber der durch Konflikte geprägten Demokratie des „Kapitalismus". Innenpolitisch bestand er nicht nur in seiner Legitimationswirkung für die kommunistische Herrschaft, und zwar mittels Demonstration überwältigender Zustimmung des Volkes zur Politik der politischen Führung, sondern vor allem auch in seiner Rückwirkung auf die Bevölkerung selbst. Die allgegenwärtige verbale Demonstration politischer Harmonie erschwerte einerseits jeden individuellen kritischen Ausbruch aus der Harmoniefront und führte sicher dazu, daß der Harmonievorstellung auch Realitätswert beigemessen wurde, zumal einige Generationen in diesem propagandistischen Milieu ihre Sozialisierung erfuhren. Selbst höchste Parteiführer, die ebenfalls unter dieser propagandistischen Vorgabe ihr Weltbild formten, ihre Bildung und Ausbildung erhielten, waren dem unterworfen. Andererseits kam das Harmoniebild einem verbreiteten, in den Völkern allerdings unterschiedlich ausgeprägten Harmoniebedürfnis entgegen, welches seine Verinnerlichung neben der üblichen öffentlichen positiven Einschätzung förderte. 50 Die Ablehnung demokratischer Konfliktaustragung mit all ihren unseriösen Erscheinungen in den Transformationsländern erweist sich als ungewöhnlich weit ausgeprägt und reicht nahezu bis zur Konfliktallergie. In ihrer politischen Kultur, die nach dem Zusammenbruch der faktischen Einparteisysteme in diesen Gesellschaften ins 49 Evans , Geoffrey/Whitefield, Stephan, Identifying the Bases of Party Competition in Eastern Europe, in: British Journal of Political Science, Jhrg. 23, 4/1993, S. 521-548; Breuilly , John, Nationalism and the State, Revised Ed., Chicago 1994. 50 Die politische Kultur alter Demokratien wesdicher Prägung ist keineswegs allein durch breite Zustimmung und Akzeptanz von Konflikten geprägt. Persänliche Konfliktunfähigkeit und mangelnder Wille zur Konfliktaustragung sind selbstverständlich auch in ihr verbreitet. Sie fuhren zur Ablehnung von bis zu Abscheu vor insbesondere parteipolitischen Konflikten und politischem Streit. Eine in langen Zeiträumen gewonnene Gewöhnung an und Toleranz gegenüber solchen Attributen der Demokratie müssen daher keineswegs mit Billigung einhergehen.

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Rampenlicht der Öffentlichkeit trat, erwies sich - mehr oder weniger stark in den Staaten ausgeprägt - als angefüllt mit politischem Harmoniebedürfnis. Es scheint so, daß sich durch die langjährige Demonstration von Scheinharmonie in den alten Systemen eine gewisse Gewöhnung an vermeintlicher Harmonie bis hin zur Verinnerlichung des Harmoniegedankens als ein höherwertiges politisches Instrument vollzogen hat. Die von Ivan Bernik für Slovenien diagnostizierte Beharrung auf Harmonievorstellungen gelten in nicht minder ausgeprägter Form auch für andere Transformationsgesellschaften. 51 Die vielfach bekundete Abscheu gegenüber politischen Konflikten, die Scheu vor Konfliktaustragung, die Überzeugung von der Überlegenheit und Möglichkeit harmonischen politischen Miteinanders bei der Lösung politischer Probleme erweisen sich als weit verbreitet. In dem Ruf nach den „Runden Tischen" selbst unter Einschluß der Kommunisten gelangte dieses Harmoniebedürfnis am deutlichsten zum Ausdruck. Dieser Drang nach dem „Runden Tisch" sowie nachfolgende strukturelle Vereinheitlichungstendenzen zur Kanalisierung des Pluralismus 52 zeugen von der in allen Bevölkerungsschichten verbreiteten Illusion, politische Harmonie als erfolgreichere Alternative zur Konflikt-Demokratie praktizieren zu können. Die mit viel propagandistischem Aufwand unter scheindemokratischen Bedingungen vorgegebene harmonische politisch-gesellschaftliche Realität gehört daher zu einem der wenigen, auf fruchtbaren Boden gefallenen oder gar verinnerlichten Werte der kommunistischen Scheindemokratie. Die daraus resultierenden Transformationshemmnisse für demokratische politische Systeme werden bis heute von Kommunisten in allen Transformationsstaaten instrumentalisiert. Überall verkörpern Kommunisten diejenige gesellschaftspolitische Gruppe, die an dem Mißlingen demokratischer Ordnungen ein fundamentales, existentielles Eigeninteresse besitzt. Sie werden daher nicht müde, die neuen Systeme auch mit Hinweisen auf Konflikte zu diskreditieren, ihre Untauglichkeit für die Lösung der Probleme zu propagieren. Die jeder Revolution immanenten ökonomischen und mentalen Destabilisierungen werden auf diese Weise nicht unerheblich verschärft.

51

Bernik , Ivan, Double Disenchantment of Politics: a Systems Theory Approach to Post-Socialist Transformation, in: Innovation, Vol.7, No.4, 1994, S. 345-356. 52

S. Reutter , Werner, Gewerkschaften und Politik in mittel- und osteuropäischen Ländern, in: Osteuropa, 45. Jhrg., 11/1995, S. 1048-1063.

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VI. Die scheindemokratischen Kapazitäten der totalitär-kommunistischen Diktaturen haben in deren Geschichte stabilisierend und destabilisierend gewirkt. Sie erwiesen sich sowohl als Reformhemmnisse wie auch Reformvehikel. Ethnisch vielfältig strukturierte Gesellschaften erfuhren durch die scheindemokratischen Bedingungen Reformhindernisse und erschweren die Transformation zugunsten der Etablierung von Demokratien. So hat die Institution der Scheindemokratie in Rußland lange Reformen eher verhindert, in Ost-Mittel-Europa hingegen befördert und Modifikationen zugunsten realdemokratischer Bedingungen modifiziert. Ein gewisser Stabilisierungseffekt zugunsten der Kommunisten bleibt aber unübersehbar. Eine friedliche Transformation der totalitären Diktatur zu demokratisch legitimierter Herrschaft haben die scheindemokratischen Kapazitäten hingegen überall befördert trotz belastender Folgen für die Entwicklung einer weit akzeptierten demokratischen Kultur. Eine Bilanz der Positiva und Negativa, die aus der Erfahrung mit scheindemokratischen Kapazitäten für die Systemtransformation resultieren, erscheint prinzipiell müßig. Dennoch fällt den Nagativa, mit denen wir es heute zu tun haben, ein geringeres Gewicht zu, wenn die Meßlatte an ihrer Bedeutung für die Umbruchsbedingungen gelegt wird. Sie zeigt an, daß die zwar nicht reibungslose, aber doch weitgehend friedlich (Ausnahme Rumänien) verlaufene Auflösung der alten Systeme und ihr Übergang zu neuen Systemen, nicht zuletzt dem Vorhandensein dieser Strukturen zu danken ist. Es sind gerade die einst zu Recht immer kritisierten, auch verspotteten und mannigfaltig entlarvten scheindemokratischen Kapazitäten der kommunistisch-totalitären Systeme gewesen, die eine friedliche Systemauflösung und dem Wandel in ein neues politisches System erleichterten. Ob es sich bei den neuen Systemen letztendlich um parlamentarische Demokratien handeln wird oder sich gar partiell die Lebensdauer scheindemokratischer Elemente als erheblich erweist, bleibt abzuwarten. Rudimente z. B. in Gestalt von Monopolisierungen in der Medien oder in der Wahlpraxis sind allenthalben zu beklagen.53 Dennoch erwarben die scheindemokratischen Kapazitäten der alten Systeme wegen ihres fördernden Anteils am friedlichen Verlauf der Umbrüche letztendlich noch einen positiven, historisch bedeutsamen Stellenwert.

53

Beichelt, Timm, Nochmals zu den Wahlen in Rußland, in: Osteuropa, 47.Jhrg., 2/1997. S.

116-128.

I I I . Entwicklungen in Staaten

Die neapolitanische (parthenopäische) Republik 1799 Der erste demokratische Versuch in Unteritalien

Von Bernd Rill

Italien ist erst seit dem 1. Januar 1948 eine Demokratie im formellen Sinne. Denn mit diesem Tag trat die heute noch gültige Verfassung in Kraft, deren Art. 1 bestimmt: „Italien ist eine demokratische Republik...Die Souveränität liegt beim Volke, das sie in den Formen und in den Grenzen der Verfassung ausübt. " Die vorher, seit der Einigung Italiens 1860/61 bestehende Staatsform war die Monarchie gewesen mit dem Hause Savoyen als Dynastie. A m 2. Juni 1946 hatte ein Verfassungsreferendum stattgefunden, das 54,9% für die Republik und damit für die Souveränität des Volkes gebracht hatte. Auffallend an den Einzelergebnissen war, daß die Mitte und der Süden des Landes in den Abstimmungsbezirken teilweise erhebliche monarchistische Mehrheiten auswiesen. Dies könnte als erster Anhaltspunkt genommen werden für die These, daß der Mezzogiorno einen Hemmschuh gebildet habe für die demokratische Kultur Italiens. Weiter könnte man fragen, ob sich in den fünf Jahrzehnten seit der Abschaffung der Monarchie daran etwas geändert hat. Eine solche Fragestellung wäre natürlich Teil des umfassenden Themas, daß der Süden Italiens notorisch unterentwickelt, der Moderne gegenüber viel zu wenig aufgeschlossen und noch dazu mafios und camorra-behaftet ist. Das wäre Wasser auf die Mühlen der norditalienischen Separatisten vom Schlage eines Umberto Bossi, der behauptet, der Süden halte nur deshalb an der Einheit Italiens fest, um sich weiter wie bisher von der Zentrale alimentieren zu lassen. Doch das Thema dieses Artikels ist nicht so umfassend. Zudem möchte ich eine Stellungnahme in der aktuellen italienischen Parteipolitik vermeiden und mich auf historisches Terrain zurückziehen. Und historisch gesehen, ist die Demokratie auch in der Mitte und im Norden des Landes nicht früher Verfassung geworden als im Süden. Außerdem sind die revolutionären Bewegungen, die den Anfang des demokratischen Gedankens in Italien markieren, im Norden

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und im Süden gleicherweise der Phase der Kriege gegen das revolutionäre Frankreich zuzuschreiben. Ohne französische Waffen keine Propagierung der Demokratie, weder in der Lombardei noch im Königreich Neapel. Und wenn wir davon ausgehen, daß das revolutionäre Frankreich trotz seiner Exzesse und seines ungezügelten Imperialismus die Grundlagen für die Entfaltung der Demokratie in Europa gelegt hat, dann sind die italienischen Demokraten, die unter Frankreichs Deckung zu agieren begannen, damals an der Spitze des politischen Fortschrittes marschiert, weitaus mehr als ihre Zeitgenossen in den deutschen Fürstenstaaten. Ich greife aus den damaligen Bewegungen die Revolution im Neapel des Jahres 1799 heraus. Denn ihr Beispiel ist weniger geläufig als das der gleichzeitigen „cisalpinischen Republik" in Oberitalien, da es nur indirekt verbunden ist mit dem Aufstieg und Ruhm Napoleon Bonapartes, und da es einen Schauplatz der europäischen Geschichte in den Mittelpunkt stellt, der aus deutscher Sicht trotz seiner inneren Vitalität und beispielhaften Problematik immer etwas am Rande liegt. Den Deutschen ist und war Unteritalien politisch eher fremd, die Beziehungen waren und sind zumeist eher kulturell und humanistisch mit einer entsprechenden Bevorzugung des antiken und des griechischen Elementes. Das Königreich Neapel aber lag im Herzen des Mittelmeeres, und Spanier, Engländer, Franzosen, Osmanen und Russen wußten das stets auch politisch und militärisch zu würdigen. Beginnen wir also mir einer knappen Schilderung der Ereignisse, die zur neapolitanischen Revolution von 1799 führten und die ihr auf ganz spezifische Weise schließlich den Garaus machten. Das Königreich Neapel hatte auf österreichischer Seite am sog. ersten Koalitionskrieg gegen Frankreich teilgenommen und war von General Bonaparte gezwungen worden, einen Friedensvertrag zu schließen, der ihm Neutralität und Schließung seiner Häfen für die englische Flotte auferlegte (Oktober 1796). Im Februar 1798 besetzten die Franzosen Rom, riefen dort eine Republik aus und deportierten den Papst nach Frankreich. König Ferdinand IV. von Neapel und seine Gemahlin Maria Carolina, eine Tochter Maria Theresias, waren auf den Haß der Revolution festgelegt und ließen ihre Truppen im November 1798 in Rom einrücken, um die dortige Republik zu beseitigen. Doch der Feldzug war so schlecht geführt, daß Rom schon im nächsten Monat vor dem Gegenstoß des Generals Championnet geräumt würde. Dann ereignet sich etwas Ungeheuerliches, das zwar nicht im Prinzip, aber in der Dimension unter allen reaktionären Aktivitäten gegen die Revolution und natürlich auch gegen die verhaßten französischen Fremdlinge - nur noch

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mit dem späteren spanischen Volksaufstand gegen die napoleonische Herrschaft verglichen werden kann, sowie mit dem hierzulande populäreren Aufstand der Südtiroler unter Andreas Hofer gegen die Napoleon folgenden Bayern im Jahre 1809: König Ferdinand richtet von Neapel aus einen Appell an sein Volk, sich gegen den Einmarsch der Franzosen in sein Königreich zu wehren. Er hat geradezu entsetzlichen Erfolg damit. Die einfachen Leute, Bauern, Tagelöhner, Nichtstuer, auch die niedrigen Kleriker entfachen einen Guerrillakrieg überall in Kampanien und in den Abruzzen, wo französische Truppen hinkommen. Auch das Krebsübel des Landes, die Briganten, machen begeistert mit, und morden, foltern und plündern nunmehr mit königlicher Approbation. Der berühmteste von ihnen wird Michele Pezza aus Itri in den Aurunker-Bergen, den man „Fra Diavolo" nennt. Das Volk liebt den ignoranten und sogar ordinären König, es folgt dem klassischen Denkmuster, daß die Obrigkeit zwar ungerecht ist und viel zu viele Steuern erpreßt, aber daß die Majestät mit all dem nichts zu tun hat. Vor allem fühlt das Volk das wertvollste seiner Güter bedroht, durch das allein und ausschließlich die meisten Zugang zu höherer Gesittung haben: die katholische Religion, den heiligen Glauben, denn die französischen Revolutionäre sind allesamt als Atheisten verschrien. Dazu kommt eine gründliche Xenophobie, verständlich bei dem notorisch sehr engen Gesichtskreis der Landbewohner. Am 21. Dezember 1798 flieht der feige König aber trotzdem auf einem englischen Schiff nach Palermo, denn sein Aufruf zur Guerrilla ist zwar sehr erfolgreich, kann aber die Franzosen nicht auf Dauer aufhalten. Daß Ferdinand in Sizilien sicher ist, verdankt er ausschließlich der englischen Flotte. Denn England ist sich der strategischen Bedeutung Unteritaliens im Kampf gegen Frankreich bewußt: Schon Wilhelm von Oranien am Ende des 17. Jahrhunderts hatte erkannt, daß man Frankreich auch vom Mittelmeer her angreifen muß, um es in die Zange zu nehmen, und daß zu diesem Zweck die unteritalienischen, sizilianischen, sardischen, balearischen Häfen eine optimale Ausgangsbasis bieten. Die vom König in Neapel eingesetzte Ersatzregierung erweist sich als weitaus weniger energisch denn das in ihrem Sinne guerrilla-treibende Landvolk - auch das ein typisches Kennzeichen der neapolitanischen Revolutionsereignisse. Anfangs Januar 1799 überschreiten die Franzosen am Garigliano die Grenze. Noch bevor sie in Neapel einziehen und nachdem die Ersatzregierung ebenfalls nach Sizilien geflohen ist, geht der Pöbel der Stadt, der hier vereinfachend unter dem Sammelbegriff der „lazzaroni" zusammengefaßt werden soll, gegen wirkliche und vermeintliche „Jakobiner" vor und bestimmt zwei junge Adelige

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wegen ihrer Bewährung im Kampf gegen die Franzosen zu „Generälen" des Volkes. Tatsächlich, die königliche Repression, die in Verfolgung der wichtigsten Ereignisse der Revolution in Frankreich immer härter geworden war, hatte nicht verhindern können, daß auch in Neapel Sympathisanten der Revolution existierten, wenn auch nur recht wenige. Diese sahen beim Herannahen des Generals Championnet ihre Stunde gekommen und überrumpelten das Castel Sant'Elmo, um es der französischen Armee als beherrschende Artillerieposition zu sichern. Championnet mußte sich seinen Einmarsch erst in fünftägigem Straßenkampf gegen die lazzaroni erkämpfen. Schließlich siegte er nicht nur, sondern gewann sogar die Sympathien der lazzaroni durch gute italienische Sprachkenntnisse, weise Mäßigung und Verehrung für den Stadtpatron San Gennaro. Am 25. Januar 1799 erklärte Championnet durch Edikt die Grundzüge, die die neue Staatsverfassung haben sollte: unabhängige Republik, provisorische Regierung aus 25 hervorragenden, von ihm ausgewählten Bürgern, Ausarbeitung einer Verfassung nach französischem Vorbild, die von der französischen Armee, umbenannt in „esercito napoletano", garantiert wird. Auch der Erzbischof war einverstanden, und das berühmte Wunder der Verflüssigung des in der Ampulle eingetrockneten Blutes von San Gennaro stellte sich als unverzichtbares, glückverheißendes Vorzeichen pünktlich auch wieder ein. Das war mehr als Folklore, das hatte mit Politik zu tun: Solange San Gennaro und der Erzbischof einverstanden waren, hatte Championnet eine gute Chance, daß auch die lazzaroni, deren Kampfkraft er eben erst schätzen gelernt hatte, einverstanden waren. Die Substanz der nunmehr ergriffenen Aktivitäten im Sinne einer Einführung von Demokratie soll wenig später besprochen werden. Nun weiter mit dem äußeren Ablauf der Ereignisse: Championnet versuchte redlich, eine Vertrauensbasis zwischen den Neapolitanern und der Besatzungsmacht zu schaffen. Doch die Pariser Regierung schickte einen Kommissar namens Faypoult, der so ungeniert räuberisch auftrat, daß der General ihn des Landes verwies. Daraufhin intrigierte Faypoult gegen ihn in Paris, weshalb Championnet abberufen und durch den weitaus weniger verständnisvollen Macdonald ersetzt wurde. Dann kam der Zusammenbruch der Republik sehr schnell. Schon im Februar 1799 landete an der Küste Kalabriens der Kardinal Ruffo, ehemaliger Schatzmeister des Papstes Pius VI., ehrgeizig, energisch, mit den Qualitäten eines

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Staatsmannes und guten Soldaten. Er sammelte einen Haufen von Bauern, Gesindel und Banditen um sich - die Regierung der Republik hatte nie eine Chance gehabt, des Banditenwesens Herr zu werden - und formte aus ihnen das Heer der „Santa Fede", auch „die Sanfedisten" genannt. Feldzeichen waren ein weißes Kreuz zum Zeichen des Kampfes für die überkommene Religion sowie die rote Kokarde des Ancien Régime, der Bourbonen. Über die zahlreichen Verbrechen, derer sich seine Leute unterwegs schuldig machten, mußte er nolens volens hinwegsehen. Seine Leistung bestand darin, daß er aus seinem wilden Haufen trotz aller chaotischen Exzesse eine schlagkräftige Truppe schuf. Im Nu hatten er Kalabrien gewonnen und war über Cosenza und die Basilicata nach Apulien vorgedrungen. Gegenstöße der Franzosen nach Kalabrien scheiterten schnell und gründlich, weil die Bevölkerung sich auch dort den Soldaten rabiat entgegenstellte. Sie identifizierte die Republikaner mit den bisherigen Feudalherren, wohl aus dem Grunde, daß die Republikaner den König bekämpften, wie es die Feudalherren oft getan hatten, und weil die Prinzipien der Revolution, die man in Neapel mittlerweile vertrat, in der Provinz zu so gut wie überhaupt keinem Umdenken geführt hatten. Der Erzbischof von Neapel exkommunizierte den Kardinal Ruffo, aber das ging ins Leere. Ruffo eroberte auch Apulien, nahm dort und auf seinem nunmehr fälligen Vormarsch nach Neapel russische Truppen auf, denn mittlerweile hatten Österreich und Rußland einen zweiten Koalitionskrieg gegen Frankreich entfesselt. Ferdinand befahl Ruffo von Palermo aus unnachsichtige Bestrafung aller Anführer, doch der Kardinal war einsichtiger als sein Auftraggeber und tat ebendies nicht, um die Grundlage für eine Aussöhnung und Stabilisierung im Reiche, die nach dem sicher erwarteten Sieg kommen mußte, nicht zu gefährden. Der Sieg der Reaktion wurde wesentlich begünstigt durch den Abzug der Franzosen aus Neapel. Macdonald ließ seine Gesinnungsgenossen sehr schnell im Stich, nachdem der österreichische und russische Vormarsch in Oberitalien nach einer Reihe von schnellen Niederlagen zum Rückzug der Franzosen nach Piémont und in die Berge Liguriens geführt hatte. Die englische Flotte unter Nelson besetzte die Neapel vorgelagerten Inseln Ischia und Procida; Anfang Juni 1799 stand Ruffo vor der Hauptstadt. Die Republikaner boten in einer verzweifelten Anstrengung eilig ein Heer aus schlecht bewaffneten und vollständig ungeübten Enthusiasten auf. Am Abend des 13. Juni war Neapel in der Hand der Sanfedisten. Die französische Besatzung des Castel Sant'Elmo kapituliert am 23. Juni, während in den Straßen schon die Sanfedisten wüten und ein entsetzliches Blutbad anrichten, das

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sich bis zum Kannibalismus steigert. Ruffo gewährt, in Abstimmung mit dem britischen Admirai Foote, einem Untergebenen Nelsons, eine Amnestie für alle „Patrioten". Doch dann kommt Nelson selbst angesegelt, der ganz im Sinne des Königs Ferdinand den Handel Ruffos für null und nichtig erklärt. Es folgt eine Racheorgie, die dem Wüten der Sanfedisten an Ausmaß in nichts nachsteht, denn der engstirnige König traut seinem Volk nicht mehr, obwohl dessen überwältigende Mehrheit auf der Seite der Sanfedisten steht. Berühmtester Fall dieser Abrechnung: Nelson läßt den Marchese Caracciolo, einen Fachmann der Seefahrt, der sich den Republikanern angeschlossen hatte, nach summarischem Kriegsgerichtsprozeß vor englischen Offizieren an den Rahen eines Kriegsschiffes aufhängen. Das sprach den elementarsten Grundsätzen des Völkerrechts Hohn. Treibende Kraft der Racheorgie waren die hysterische Königin Maria Carolina sowie deren Freundin Emma Hamilton, die Gemahlin des langjährigen englischen Gesandten in Neapel und Geliebte Nelsons - mit Einverständnis des Ehemannes. Die Indolenz des Königs in diesen Wochen war von Zynismus nicht zu unterscheiden. Die nächsten Jahre brachten ein drückendes Polizeiregime, wie es Neapel noch nicht erlebt hatte. Zur Abrundung kurz der weitere Verlauf der Ereignisse: General Bonaparte kehrte im Oktober 1799 von seiner ägyptischen Expedition nach Frankreich zurück, errang durch seinen Staatsstreich vom 9. November 1799 die Alleinherrschaft als „Erster Konsul" und revidierte durch seinen (sehr knappen)Sieg am 14. Juni 1800 bei Marengo (vor den Toren der piemontesischen Festung Alessandria) alle österreichischen und russischen Erfolge des Vorjahres. Als König Ferdinand sich 1805 am „dritten Koalitionskrieg" beteiligte, der mit dem Sieg des inzwischen zum Kaiser Napoleon gewordenen Generals Bonaparte bei Austerlitz endete, blieb dem König wieder nichts anderes übrig als die Flucht in das von der englischen Flotte wirkungsvoll beschützte Sizilien. A m 15. Februar 1806 zog Napoleons älterer Bruder Joseph in Neapel ein und wurde dessen neuer König. Weder lazzaroni noch Briganten stellten sich Joseph in den Weg. Das war die Frucht der blinden Politik des Königs Ferdinand. Nun zur Vertiefung der revolutionären Ereignisse von 1799, verbunden mit ihrer Problematisierung im Lichte der späteren italienischen Geschichte und der Demokratisierung des Landes. Die neue Republik wurde die „Parthenopäische" genannt, was dem römischklassischen Geschmack der Revolutionäre entsprach, denn die Römer der Republik galten als die Urbilder patriotischer und tyrannenhassender Staatsbürger. „Parthenope" war seit Vergil der poetische Name für Neapel. Denn Parthenope

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war die Tochter des Eumelos, des Stadtheros von Neapel aus der griechischantiken Gründungszeit her. Nachdem sie sich ins Meer gestürzt hatte, wurde ihr Leichnam an der Stelle an Land gespült, wo die Stadt Neapel sich erhob, und ihr Grabmahl wurde zu einem Ort religiöser Verehrung. Nun ist das Gedenken an die Antike rund ums Mittelmeer eine lebendigere Angelegenheit als in den nördlichen Ländern, wo die Antike eher im Kopf beheimatet ist. Und die Neapolitaner jener Jahrhunderte waren berühmt für ihre altphilologische Bildung. Aber speziell die lazzaroni und Bauern waren es natürlich nicht, und daher ist der Name der neuen Republik das deutliche Anzeichen eines ihrer Grundübel: sie hatte viel zu wenig Wurzeln im Volk. Vincenzo Cuoco, der vernünftigste Kritiker der parthenopäischen Republik, drückte diesen Befund mit den Worten aus: Das Volk sei nicht verpflichtet, „die römische Geschichte zu wissen, um sein Glück zu kennen". Zwei Grundforderungen der französischen Revolution sind bekanntlich die nach Freiheit und Gleichheit. Beide Forderungen verfingen im damaligen Königreich Neapel nicht. Pietro Colletta in seiner zum Klassiker gewordenen „Geschichte des Königreichs Neapel", die den Zeitraum von 1734 bis 1825 umfaßt, bemerkt dazu: „Die politische Freiheit war das Wissen weniger Gebildeter, die es aus modernen Büchern und aus den Sprüchen der aktuellen französischen Freiheit nahmen...Hier (in Neapel) gab es nie ein nationales Parlament oder Versammlungen von Bürgern..., um Staatsangelegenheiten zu behandeln; hier gab es stets nur Eigentumsrechte, die vom Willen des Fiskus mit Füßen getreten wurden, von feudalen Belastungen, von den Besteuerungen der Kirche, von den Willkürlichkeiten der Präpotenz; hier waren die einzelnen der Herrschaft ihrer Unterdrücker und der Barone unterworfen, den Mißbräuchen des Inquisitionsprozesses, der Macht der Verleumder und Spione, den willkürlichen Aushebungen zum Kriegsdienst und den Bedrückungen des Feudalismus; hier waren weder Künste noch Berufsausübung, noch wirtschaftliche Betätigung frei, jeglicher Wille in dieser Richtung wurde gehemmt...." Die ganze Misere des Mezzogiorno wird hier entrollt, und in der Tat ist Demokratie ohne Freiheit und Gleichheit der Staatsbürger nicht möglich, und für beide gab es 1799 im Königreich Neapel keine Voraussetzungen. „Wenn man die Geschichte des neapolitanischen Volkes durchmustert", fährt Colletta daher fort, „wird man in den bürgerlichen Einrichtungen keine Praxis oder auch nur ein Zeichen von Gleichheit finden; dafür Monarchie, Priesterherrschaft, Feudalität, Immunität, Privilegien, Leibeigenschaft, Vasallität und unzählige andere gesellschaftliche Verformungen. Deshalb wurde in diesem Jahr 1799 die politische Gleichheit vom Bewußtsein des Volkes nicht gefühlt,

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und nicht einmal vom Verstände her erfaßt; nur der niederste Pöbel tat so, als ob er darunter die gleiche Verteilung der Reichtümer und des Besitzes verstünde". An Freiheit und Gleichheit hingen all die praktischen Probleme, die die von Championnet eingesetzte Regierung zu lösen hatte. Schon die bloße Aufzählung genügt, um Collettas düsteres Gemälde durch Konkretisierung zu bewahrheiten und um die Aussichtslosigkeit zu zeigen, zu der die Republik verdammt war: Die Verwaltung mußte gestrafft werden. Dies hing aufs engste zusammen mit der Abschaffung der feudalen Privilegien, dem radikalen Durchforsten des historisch gewachsenen, aber desto ungerechteren Abgabendschungels. Der maßlos große Grundbesitz der Kirche mußte enteignet und so vernünftig neuverteilt werden, daß die landwirtschaftliche Produktion einen Aufschwung nehmen konnte. Die teilweise riesigen Ländereien des Adels waren zu zerteilen, was, jedenfalls nach Auffassung der radikaleren unter den Republikanern, eine vollständige Enteignung voraussetzte. Der öffentliche Kredit, vom König zur Bezahlung seiner antirevolutionären Kriege schändlich mißbraucht, mußte auf eine gesunde Basis gestellt werden. Ergebnis mußte eine Ankurbelung von Handel und Gewerbe sein. Denn die Revolution war Sache des Bürgertums, das nach freier ökonomischer Entfaltung strebte - auch dieser materialistische Ansatz steckt ja in den Ideen von 1789. Ferner mußten all die teilweise kriminellen Waffenträger im Volk entwaffnet werden, da der endemische Brigantismus dem zu erzielenden wirtschaftlichen Aufschwung im Wege stand, ganz zu schweigen von dem hohen Gut der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Da die Klöster nach revolutionärem Selbstverständnis aufzulösen waren, mußten die so entstehenden Arbeitslosen irgendwie beschäftigt werden, und das, obwohl Handel und Wandel darniederlagen und ringsum der Krieg lauerte. Man kann leider nicht behaupten, daß die Revolutionäre die Souveränität des Volkes ebenso förderten, wie sie es in ihren pathetischen Reden gerne hinstellten. Daran war zunächst der Umstand schuld, daß alles im weiten Lande von Neapel aus geregelt werden sollte. Dies entsprach dem französischen Vorbild, da ja Paris bekanntlich Frankreich ist, wie die Redewendung lautet. Man durfte kritisieren, daß die Entscheidungen eines Jakobinerklubs in der Hauptstadt, die für das ganze Land verbindlich zu sein hatten, nicht die bestmögliche Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit waren. Blieb dabei in Frankreich der Eigenwert der diversen Regionen auf der Strecke, so stellte sich im Königreich Neapel derselbe Effekt ein. Kalabresen, Apulier und Abruzzenbewohner empfanden sich nicht als Neapolitaner, auch wenn sie derselbe Staatsname umschloß. Neapel war nicht weniger einseitig zwischen L'Aquila und Reggio ge-

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wachsen als Paris zwischen Lille und Marseille. Der Zentralismus war undemokratisch, und die Revolution hatte ihn sogar noch verstärkt. Die „Parthenopäer" versuchten nach französischem Vorbild, das Festland des Königreichs in 11 Departements zu zerschneiden und achteten dabei sorgsam darauf, daß die überkommenen Namen der Regionen in den Neubenennungen nicht mehr vorkamen. Kein Wunder, daß diese Maßnahme erst auf dem Papier blieb und dann sogar kassiert werden mußte, noch von den „Parthenopäern" selbst. Da zum Zentralismus - und nicht nur zu diesem - die Arroganz der Hauptstadt gegenüber den Provinzen gehört, sandten die Republikaner auch Leute in die Provinz, um dort das neue Gedankengut zu propagieren und um dem einheimischen Magistrat über die Schulter zu schauen. Dabei vergingen sie sich gegen ein weiteres Element von Demokratie, nämlich die kommunale Selbstverwaltung. Im alten Königreich hatten die Kommunen doch immerhin das Recht gehabt, ihren Magistrat selbst zu wählen. Dies wurde nun abgeschafft. Auch darin folgte man dem französischen Vorbild. Diese Vorgehensweise ist eine Illustrierung für Collettas erwähnte Kritik, daß die „Parthenopäer" das französische Vorbild allzu eilfertig nachahmten. Der maßgebliche Autor der neuen Verfassung, der Jurist Mario Pagano, hatte die mittlerweile vorliegenden drei französischen Revolutionsverfassungen von 1791, 1793 und 1795 sowie die amerikanische Verfassung herangezogen und sie mit einigen Umredigierungen nach Neapel zu verpflanzen gesucht. Daß dies kritisiert wurde, weist auf ein grundsätzliches Argument gegen die damalige revolutionäre Politik hin, das nicht auf den Schauplatz Neapel beschränkt ist: das der lediglich aus abstrakten Prinzipien abgeleiteten Herrschaftsordnung, ohne Rücksicht auf irgendwelche Traditionen und durch Jahrhunderte gewachsene Strukturen. Das uns vertraut gewordene Prinzip der Souveränität des Volkes war damals ebenso ein abstractum, da ihm die Personalisierung in Gestalt des Monarchen fehlte. Denn es war seinerseits mit einem abstractum verbunden, der Denkfigur des Gesellschaftsvertrages: Das Volk schließt einen Vertrag mit dem Personal, das es beherrschen darf, und hat analog allgemeinem Vertragsrecht daher die Möglichkeit, dieses Personal bei Schlecht- oder Nichterfüllung des Herrschaftsvertrages abzulösen. Dabei ist keine Spur mehr von Emotionalität oder gar Religiosität zu finden, von gottgewollter, daher ewiger und menschlicher Disposition entzogener Ordnung, von Gottesgnadentum. An die Stelle von Vorstellungen, die aus der christlichen Religion abgeleitet werden, tritt die menschliche Autonomie und mit ihr die Machbarkeit jeglicher staatlichen Ordnung. 18 Timmermann / Gruner

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Die Kleriker, die mit der Republik gingen, bemühten sich zwar um den Nachweis, daß Gott ausweislich der Evangelien ein Republikaner sei. Aber diesen neuen Gedanken standen im Jahre 1799 fast eineinhalb Jahrtausende europäischer Entwicklung entgegen. Und mit dem Volk von Neapel waren solche geistigen Experimente nicht durchzuführen, denn, um wieder auf Colletta zurückzuverweisen, solche Experimente waren ihm von der Obrigkeit stets wirkungsvoll untersagt worden. Es gab allerdings einen Häuptling der lazzaroni, Michele il Pazzo (M. „der Verrückte"), der sich bemühte, die Gedanken der Revolution ins Volkstümliche zu übersetzen. Man fragte ihn, was ein „Bürger" sei. Er antwortete, natürlich in neapolitanischem Dialekt: „Das weiß ich nicht, aber es muß eine gute Bezeichnung sein, denn die capezzoni (d.h. die Häupter des Staates) haben sie für sich selber verwendet. Wenn man jeden Bürger nennt, dann heißen die Herren nicht mehr eccellenza, und wir sind nicht weiter lazzaroni: diese Bezeichnung macht uns also gleich". Es folgte die Frage: „Was bedeutet Gleichheit?" Michele il Pazzo erwiderte: „daß ich gleichzeitig lazzarone und colonello sein kann. Die Herren waren colonelli schon im Mutterleib. Ich bin es eben durch die Gleichheit. Früher wurde man zur hohen Stellung geboren, heute gelangt man im Laufe seines Lebens dazu." Nach Erwähnung dieser Fehlleistungen, deren Ergänzung den Rahmen des Referates allerdings sprengen würde, bedarf es nun einer Würdigung der akzeptablen Seiten der Republik. Michele il Pazzo hat die große Entschuldigung für ihre Unvollkommenheit formuliert: „Das heutige Regime ist noch keine Republik, die Republik ist noch im Entstehen. Aber wenn sie erst fertig ist, dann werden wir Dummköpfe das an den Freuden oder auch an den Leiden erkennen, die sie mit sich bringt... Vom Tyrannen haben wir Krieg, Hunger, Pest und Erdbeben erlitten; wenn sie jetzt sagen, daß wir unter der Republik nur Freude haben, dann sollten wir ihnen Zeit geben, das auch zu beweisen. Wer schnell macht, der sät das Feld für Radieschen, aber bekommt nur Wurzeln zu fressen, doch wer Brot essen will, der sät Getreide und wartet dann ein Jahr. So ist es auch mit der Republik: für die Dinge, die dauern sollen, braucht es Zeit und Mühe. Warten wir also ab". Und eben dieses Abwarten war der Parthenopäischen Republik nicht vergönnt. Zudem hatte sich Michele il Pazzo mit diesen Worten, deren Schlichtheit mitunter fast einen biblischen Ton erreicht, sogar der Argumentation der Revolutionsgegner angenähert. Sagte er doch, daß die neue Ordnung nicht über Nacht kommen konnte, sondern daß sie sich erst im Bewußtsein festsetzen mußte, also Ergebnis eines als organisch zu beschreibenden Prozesses war.

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Damit sagte er schon fast, daß auch die alte Ordnung einst von Menschen eingeführt war, aber daß man infolge langen Zeitablaufes dies nicht mehr erkannte, sondern mit einer ewigen, also göttlichen Ordnung gleichsetzte. War die aktuelle Revolution ein Frevel, dann war es einst die Einführung der nunmehr alten Ordnung nicht minder gewesen. Ferner kann man den neapolitanischen Revolutionären nicht ernsthaft vorwerfen, daß sie mit ihrem bedingungslosen Anschluß an Frankreich unpatriotisch gewesen wären. Denn nach Sachlage blieb ihnen nichts anderes übrig, und die österreichisch-russischen Siege in Oberitalien, die Macdonald zum Abmarsch zwangen, fielen nicht in ihre Verantwortung. Und außerdem waren auch die Erfolge der Sanfedisten ohne auswärtige Hilfe nicht denkbar. Denn die Franzosen hatten den Sanfedisten das Feld nur deshalb kampflos überlassen, weil sie vor dem englischen, österreichischen und russischen Druck zurückweichen mußten. Mit manchen Reformen begannen die Parthenopäer schon. Sie führten die freie Wahl der Richter ein, und zwar in allen Gerichtszweigen und in allen Instanzen. Sie schafften das Rechtsinstitut des Fideikommisses ab, d.h. des Gebotes an die Adeligen, ihren Besitz unaufgeteilt zu vererben. Das hatte die Landansammlungen in einer Hand perpetuiert und war ein großer Hemmschuh für die Entwicklung von Landwirtschaft und Produktion gewesen. In dieselbe Richtung war die Enteignung der großen Kirchengüter gegangen. Für die politische Indoktrinierung des Volkes hatten sie in Neapel brauchbare Institutionen zu schaffen begonnen, etwa die „sala per l'istruzione pubblica". Die Personensteuer, den „testatico", hatten sie abgeschafft ebenso die Steuern auf Getreide und Fischfang, durch letzteres sogar die Sympathie der für die Ernährung der Hauptstadt lebenswichtigen Fischer gewonnen. Das Verbot des Waffentragens außer für eine aus zuverlässigen Elementen bestehende Bürgergarde war die richtige Maßnahme, um Rechtlosigkeit und Brigantenwesen endlich zu bekämpfen; seit dem späten Mittelalter hatte das Königreich unter dieser Plage gelitten. Mit dieser Maßnahme und mit dem Vorgehen gegen klerikale und adelige Privilegien hatten die Revolutionäre eigentlich nur die Bemühungen fortgesetzt und zu intensivieren versucht, die auch die königliche Regierung vor 1789 verfolgt hatte. Die Republik war neu, aber ihre innenpolitischen Probleme konnten es gar nicht sein. Ein Zurück hinter 1789 gab es auch für den siegreichen König, nachher für Joseph Bonaparte und dessen neapolitanischen Nachfolger Joachim Murat sowie für den 1815 erneut siegreichen König nicht mehr. Dabei zeigten Joseph und Murat die besonderen Tendenzen des napoleonischen Despotismus: die Freiheit und Gleichheit durften sich nicht mehr in Volksherr18*

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schaft übersetzen lassen, aber ihre Ergebnisse anderer Art, wie z.B. die Gleichheit vor dem Gesetz, blieben gewahrt, und die Adelsprivilegien blieben abgeschafft. Aber war das demokratische Experiment der „Parthenopäer" gescheitert, so war das Volk in breiten Schichten dennoch in Bewegung geraten wie in der ganzen bisherigen Geschichte des Königreichs noch nicht. Nur war dies auf chaotische Art geschehen: Bisher hatten die Briganten, deren Aufkommen und massenhafte Verbreitung ohne tiefgreifende Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft nicht möglich gewesen wäre, ein gewisses Ventil für die Unzufriedenheit des einfachen Volkes geschaffen. Sie waren Kriminelle gewesen, aber oft eben nicht nur das. Nun weitete sich das Brigantenwesen in Gestalt der sanfedistischen Bewegung quantitativ ungeheuer aus, ja es war innenpolitisch sogar zur Rettung für den König geworden. Die Sanfedisten kämpften nicht nur nach der Taktik der Briganten, sie waren häufig selbst welche oder wurden im Laufe des Krieges dazu. Der König lernte, das einfache Volk, das für ihn die Waffen ergriffen hatte, als die wesentliche Stütze seines Thrones anzusehen. Das war die höchst originelle neapolitanische Spielart von Cäsarismus, und es war sogar, jedenfalls für die Dauer des Feldzuges des Kardinals Ruffo, geradezu eine demokratische Bewegung, aber eine von der Art, die den „Parthenopäern" sicherlich die Schamröte ins Gesicht trieb. Es war die einzige Art von Demokratie, zu der man im Königreich Neapel damals wirklich fähig war. Aber während die parthenopäische Demokratie, wie noch zu zeigen sein wird, die Keime der Zukunft in sich trug, war die Demokratie der Sanfedisten ein ephemeres Ereignis, ja geradezu eine Totgeburt, denn sie stand und fiel mit der Verteidigung von Thron und Altar, also mit der Reaktion. Und König Ferdinand war viel zu borniert, um die Sanfedisten zur Sicherung seines Thrones über den Einmarsch in Neapel hinaus zu instrumentalisieren. Erst hatte er den Kardinal Ruffo durch Kassierung von dessen erwähnter Amnestie von sich gestoßen, dann enttäuschte er auch seine Anhänger aus dem einfachen Volke. Denn diese hatten, wie ausgeführt, die „Parthenopäer" mit den ausbeuterischen und überprivilegierten Adligen gleichgesetzt und damit zu erkennen gegeben, daß sie für ihren Einsatz für den König und den heiligen Glauben mit irgendeiner Art von Beteiligung an der Regierung belohnt zu werden wünschten. König und Volk in einträchtiger Herrschaft, das war das Idyll, das sie sich mangels politischer Erfahrung am besten vorstellen konnten. Ferdinand hatte weder den Verstand noch das Herz, auf das Volk in diesem Sinne zuzugehen. Sein ebenso rachsüchtiger wie steriler Absolutismus nach der Einnahme von Neapel bewirkte, daß der zweite Einmarsch der Franzosen zu Beginn des Jahres 1806

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auf keinerlei Widerstand im Volke stieß. Das historische Wunder des Sanfedismus wiederholte sich nicht, wie alle Wunder. Doch seit 1799 gehörte es zum politischen Credo der neapolitanischen Bourbonen, vom Gegenbeispiel von 1806 unbeeinträchtigt, daß das einfache Volk in seiner unbedingten Hingabe an Thron und Altar die beste Stütze ihrer Herrschaft sei. Damit hatte sich die Dynastie jedoch von der weiteren politischen Entwicklung abgeschottet, und es ging über ihren Horizont, das zur Kenntnis zu nehmen. Ihr Potential war größer als das der subalpinen Piemontesen mit deren unergiebigem Anhängsel, der isolierten, archaischen Insel Sardinien. Doch während die dynamischen Piemontesen allmählich erkannten, daß sie angesichts der Bestrebungen zur italienischen Einheit die Flucht nach vorne antreten, d.h. sich an die Spitze des Risorgimento setzen mußten, um nicht ihren Thron zu verlieren, mauerten sich die Könige von Neapel in ihrem Herrschaftsbereich ein, denn die lazzaroni würden sie schon verteidigen, und verloren damit 1860 prompt ihren Thron. Die Jahre nach 1860 sahen in Unteritalien dennoch wieder einen großflächigen Brigantenkrieg, eine Neuauflage der sanfedistischen Bewegung von 1799. Doch nun war das Entsetzen der Piemontesen über diesen Ausbruch von Halsstarrigkeit im Mezzogiorno eins mit dem Entsetzen des ganzen zivilisierten Europa, und alle Greuel und Langwierigkeiten des nun zu bestehenden Brigantenkrieges änderten nichts daran, daß die Piemontesen die Herren ganz Italiens blieben und daß die Bourbonen von Neapel für immer abgewirtschaftet hatten. Diese Entwicklung im Königreich Neapel hatte 1799 begonnen. Das Jahr der parthenopäischen Republik war die Wasserscheide gewesen, die die bis dahin von aufgeklärtem Absolutismus gekennzeichnete Bourbonenherrschaft zum Schreckgespenst aller Fortschrittlichen machte. Man war bei Hofe der unerhörten historischen Beschleunigung, die die Französische Revolution darstellte, einfach nicht gewachsen Sogar der Erz-Reaktionär Metternich hat sich sehr abfällig über die politischen Fähigkeiten des Königs Ferdinand geäußert, und die italienische Geschichtsbetrachtung, die das Risorgimento als positiven Angelpunkt hat, kennt die neapolitanischen Bourbonen des 19. Jahrhunderts fast nur noch mehr als bigott, zynisch, ordinär usw. Die Opfer der Reaktion von 1799 jedoch wurden zu Märtyrern. Märtyrer geben nur einen Sinn, wenn ihre Sache später doch noch gesiegt hat, oder auch: kein Märtyrer ohne verbindliche Wahrheit, für die er gestorben ist. Wobei vorausgesetzt ist, daß die Wahrheit irgendwann siegt. Und wenn die Märtyrer der Legende liebstes Kind sind, dann darf man auch die Legende kultivieren, daß die Wahrheit tatsächlich irgendwann siegt. Hier geht es indes nur um

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Märtyrer, die dadurch posthum legitimiert werden, daß sie die historische Entwicklung später Generationen vorweggenommen haben, also nur um Märtyrer im weltlichen Sinne, da die historische Entwicklung kein Kriterium der Wahrheit, sondern nur die Realisierung politischer Möglichkeiten ist. Die historische Entwicklung, deren Märtyrer die von der Reaktion umgebrachten „Parthenopäer" waren, betraf die Durchsetzung der Demokratie in Italien. Im Königreich Neapel hatte sich jedoch während des französischen Einmarsches von 1806 und anschließend bis 1815 keine Stimme für die Demokratie erhoben. Auch die überlebenden Revolutionäre von 1799 ordneten sich willig dem Königtum von Napoleons Gnaden unter. Doch damit war das demokratische Thema keinesfalls erledigt, da in langfristiger Perspektive die napoleonische Herrschaft mit ihren einschneidenden Reformen die Geister für den Gedanken der Volkssouveränität bereiter gemacht hatte. Als im Juli 1820 unzufriedene Militärs in Neapel putschten, zwangen sie dem König eine Verfassung ab, deren demokratisches Potential insgesamt größer war als das der Bewegung von 1799: die spanische Verfassung von Cadiz aus dem Jahre 1812. Der König kannte sie überhaupt nicht und viele der führenden Putschisten auch nicht. Aber sie mußten, da sie unlängst in Spanien durch einen Militärputsch gegen den reaktionären König wieder in Kraft gesetzt worden war, und da der spanische Ferdinand VII. ebenfalls ein Bourbone und sogar der Schwiegersohn des neapolitanischen Ferdinand war, nun auch in Neapel her, und zwar ohne jegliche Änderung. Die Verfassung von 1812 behielt zwar das Königtum bei, aber sie sah vor, daß die Cortes (d.h. das Parlament) bei Erlöschen der regierenden Dynastie eine neue wählen durften, und daß unfähige oder unwürdige Prinzen durch die Cortes von der Thronfolge ausgeschlossen werden konnten. Der zugrundeliegende Gedanke mußte der der Volkssouveränität sein, denn die Cortes rekrutierten sich nach einem für damalige Verhältnisse quantitativ recht weitgehenden Wahlrecht: alle unabhängigen, männlichen Spanier ab Vollendung des 21. Lebensjahres waren aktiv wahlberechtigt. Der König durfte die Cortes nicht auflösen und war in einer sehr umfangreichen Weise für sein Handeln an ihre Zustimmung gebunden, abgesehen davon, daß sie als allgemeine Gesetzgeber fungierten. Art. 3 bestimmte daher grundsätzlich: „Die Souveränität liegt wesentlich bei der Nation, und deshalb steht ihr ausschließlich das Recht zu, ihre Grundgesetze zu bestimmen".

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Die Alternative, die auch in Neapel Anhänger hatte, sich aber nicht durchsetzte, bestand in der Verfassung des 1814 in Frankreich restaurierten Königtums. Die „Charte" von 1814 beinhaltete eine viel stärkere Stellung des Monarchen sowie ein restruktiveres Wahlrecht als die Verfassung von Cadiz 1812. Zudem sah die „Charte" ein Zweikammersystem vor, d.h. eine Pairskammer oder ein „Oberhaus" zur Versorgung und zur Einflußsicherung für den monarchistischen Adel. Daß dieses Element in der spanischen Verfassung fehlte, machte diese für die Kräfte der Reaktion besonders unannehmbar. Auch in Neapel wählte man nun „Cortes", das erste tatsächlich repräsentative Parlament, das Italien sah. Denn in napoleonischer Zeit war es noch nicht zustandegekommen. Als Joseph Bonaparte 1808 sein Königreich an Joachim Murat übergeben hatte, da hatte er von Bayonne aus ein Verfassungsversprechen abgegeben. Doch Murat hatte dieses Versprechen niemals eingelöst. Von den nunmehrigen 89 Abgeordneten entstammten weniger als 10 dem Adel, die anderen gehörten dem gehobenen Bürgertum an. Der Altersdurchschnitt war recht hoch, weshalb das Urteil von Benedetto Croce zutreffend sein dürfte, daß in diesem Parlament die Überlebenden von 1799 und die Staatsdiener von Joseph Bonaparte und Joachim Murat saßen. Diese Kreise waren eher gemäßigt und arbeiteten darauf hin, der neuen Regierung durch Zurückhaltung Ansehen in Europa zu verschaffen. Sofern die Abgeordneten jedoch mit der erst nach 1799 entstandenen Geheimorganisation der „Carbonari" in Verbindung standen, gaben sie sich radikal. Radikal bedeutete: Festhalten an der spanischen Verfassung in ihrer Gesamtheit. Gemäßigt bedeutete: Modifizierungen an der spanischen Verfassung. Denn das neapolitanische Volk hatte mittlerweile auch in seinen erleuchteten Häuptern eine Scheu davor, die Souveränität für sich selbst zu beanspruchen. Das Parlament selbst brachte recht wenig zuwege. Der britische Botschafter amüsierte sich darüber, daß man endlos die Frage erörterte, ob nicht Gott als oberster Gesetzgeber anzusehen sei, und daß man erwog, das Parlament auch offiziell mit dem spanischen Wort „Cortes" zu benennen. Solche rhetorischen Übungen erinnerten an 1799, als ein Gesetz beschlossen worden war, daß König Ferdinand nur noch als „der Tyrann" bezeichnet werden durfte. Da nur sehr wenige Menschen die spanische Verfassung kannten, selbst nachdem sie ins Italienische übersetzt worden war, kam keine lohnende öffentliche Diskussion auf, die das staatsbürgerliche Bewußtsein für die Zukunft hätte beeinflussen können.

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Hatten die Männer von 1799 französische Verfassungen hochgehalten, so bezogen die von 1820 ihren Kodex aus Spanien. Die neapolitanische Revolution von 1848 wiederum zog die französische Verfassung heran, die nach der Pariser Julirevolution von 1830 verkündet worden war. Mit dem Eingehen auf neapolitanische Besonderheiten war es also nach wie vor schlecht bestellt. Doch was für den auswärtigen und späteren Betrachter befremdlich wirkt, war es für die Revolutionäre von 1799, 1820 und 1848 weit weniger. Denn zum einen ist Originalität der Grundgedanken nicht unbedingt ein Wirkerfordernis für gute Politik. Und zum anderen waren die Revolutionäre an einer Umgestaltung der Verhältnisse interessiert und sahen daher in lokalen Besonderheiten, die den Anspruch auf Beachtung erhoben, eher eine Verführung zum faulen Kompromiß als einen Appell zu staatsmännischer Mäßigung und Weisheit. Revolutionäre müssen so sein. Die undemokratische Hochschätzung des Zentralismus gemahnte ebenso an 1799. Auch in Palermo war nämlich eine Revolution ausgebrochen. Dort ging es ebenfalls um die Annahme der spanischen Verfassung von 1812, die jedoch unter den Revolutionären scharfe Konkurrenz bekam durch die von England durchgesetzte sizilianische Verfassung vom selben Jahr. Da die Bewegung von Palermo dem uralten Wunsch der Insel Sizilien nach Unabhängigkeit Nahrung gab, griff die neapolitanische Regierung mit harter militärischer Hand durch. Die Einheit des Reiches war wichtiger als das verständnisvolle Eingehen auf Regionalismen. Ein tyrannischer König wäre auch nicht anders vorgegangen. Der Einmarsch der Neapolitaner in Palermo fand am 6. Oktober 1820 statt. Am 23. März 1821 marschierten österreichische Truppen in Neapel ein und machten dem Verfassungsexperiment ein Ende. Im europäischen Revolutionsjahr 1848 war es, wie schon angedeutet, auch in Neapel wieder um die Verfassung gegangen. Dabei spielte nach dem Verschwinden der Generation von 1799 das revolutionäre Personal von 1820 ebenfalls eine Rolle. Allerdings hatte man schon 1820 auf die Abschaffung des Königtums verzichtet, und 1848 stand die Monarchie wiederum nicht zur Disposition. Die Niederlage der Revolution überall in Italien teilten die Neapolitaner mit ihren Landsleuten. Der Putsch in Neapel von 1820 hatte das unzufriedene Militär im Königreich Piémont - Sardinien ermutigt, ebenfalls eine Verfassung zu fordern. Auch die piemontesische Bewegung fiel bald den österreichischen Bajonetten zum Opfer. Das Entscheidende an den in etwa parallelen Ereignissen in Turin und Neapel bestand darin, daß sie klar erwiesen, wie die Verfassungsbewegung ganz Italien umfaßte. Denn auch die revolutionäre Welle von 1796-99 hatte im Gefolge der

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französischen Armeen die ganze Halbinsel ergriffen. Und der italien-, ja europaweite Zusammenhang der revolutionären Ereignisse von 1848 bedarf keiner näheren Darlegung. Es war demnach klar, daß der demokratische Gedanke nur dann in Italien triumphieren würde, wenn er das ganze Land umfaßte. Die Demokratie hätte sich mit dem Nationalismus verbinden müssen, wie Giuseppe Mazzini es forderte, und das revolutionäre Volk des Königreichs Neapel hätte sich mit den Bewegungen in Oberitalien und in der Toscana zusammenschließen müssen, zumal es von deren Erfolg auch seinerseits abhing. Demokratie ist nicht denknotwendig mit Nationalismus verbunden, denn die Einheit der Nation kann auch durch andere als durch demokratische Mittel bewirkt werden. Das hat Bismarck in Deutschland gezeigt und damit seinen erfolgreichen Vorgänger Cavour in Italien imitiert. Und umgekehrt kann es auch ein demokratisch verfaßtes mailändisches, florentinisches und neapolitanisches Volk geben. Die jahrhundertelange Aufteilung des Landes in einzelne Herrschaftsbereiche war auch durch den Gedanken nationaler Einheit nicht ohne weiteres zu beseitigen. Noch heute sagt man der politischen Landschaft und auch der Mentalität von Italien einen ausgeprägten „campanilismo" nach, einen Kirchturmhorizont, der sicherlich nicht nur durch die teilweise zerklüftete Landesnatur bedingt ist. Doch da der Nationalismus vom Bewußtsein der Einheit lebt, und da die Erweckung dieses Bewußtseins auf die breiten Massen abzielt, werden diese politisch sensibilisiert, womit auch der Ausbreitung des demokratischen Gedankens Vorschub geleistet wird. Insofern stehen Demokratie und Nationalismus nahe beieinander. Der Sieg des piemontesischen Königs Viktor Emanuel II. über den letzten Bourbonenkönig von Neapel war so überraschend schnell gekommen, und Garibaldi war mit seinen „Mille" so schnell von Marsala an die Grenze von Latium durchmarschiert, daß der Triumph des monarchischen Gedankens mitreißend sein mußte. In Deutschland war nach dem überwältigenden Sieg Preußens 1866 ebenfalls keine Konjunktur für den demokratischen Gedanken möglich. Und wenn die Neapolitaner ihr Selbstwertgefühl, das sie aus dem Gedenken an die Geschichte ihres untergegangenen Königreichs bezogen, den Norditalienern entgegensetzten, so hatte das nichts mit Demokratie zu tun, sondern eher mit dem nostalgischen Gefühl, einst einen eigenen König genährt zu haben. Da diente der Monarchismus dem Lokalpatriotismus, dem „campanilismo". Bestätigung dessen war der legitimistisch motivierte Bandenkrieg nach 1861 im Süden, der die reguläre piemontesisch-italienische Armee jahrelang zu kriegs-

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mäßiger Kraftanstrengung zwang, und der von beiden Seiten ganz und gar nicht im Namen demokratischer Werte geführt wurde. Allerdings war die neapolitanische revolutionäre Tradition mit den anderen italienischen Traditionen gleicher Art zwar im großen Schmelztiegel des Risorgimento zusammengeströmt. Aber da der Untergang der Bourbonen nicht durch die Neapolitaner selbst, sondern von außen erzwungen wurde, hatten sie einen Grund mehr, ihr Selbstgefühl auch im neuen Einheitsstaat weiter zu pflegen. Vielleicht ist „Schmelztiegel des Risorgimento" eine zu vereinfachende Formulierung, trotz des Ergebnisses der nationalen politischen Einheit. Jedenfalls war die weitere Demokratisierung Italiens der innenpolitischen Entwicklung überlassen, die im Zeichen von Industrialisierung und Pluralisierung der Gesellschaft stand, wie überall im zivilisierten Europa. Nur Giuseppe Mazzini und seine spärlichen Anhänger bedauerten im Jahre 1860, daß das italienische Volk die Einheit des Landes nicht von unten, also auf demokratischem Wege bewerkstelligt hatte. Die Neapolitaner hatten sich in dieser Hinsicht nicht mehr vorzuwerfen als alle anderen Italiener auch. Damit wird noch einmal auf einen der einleitenden Gedanken dieses Referates verwiesen. 1799, 1820 und 1848 hatten auch die Neapolitaner es an Progressivität nicht fehlen lassen, hatten vielmehr ihren wesentlichen Beitrag dazu geleistet, daß ihr reaktionäres Bourbonen-Regime so mürbe geschlagen wurde, daß es 1860 unter den Schlägen Garibaldis und der italienischen Armee rasch zusammenbrach.

1848 - Das Geburtsjahr der Demokratie in Österreich Von Wolfgang Häusler

I. „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten" Sucht man in Büchmanns Zitatenschatz nach einem „geflügelten Wort" der deutschen Sprache über die Demokratie, so findet sich nur ein einziger, wenngleich bezeichnender Satz aus dem Jahr 1848: „Gegen Demokraten helfen nur Soldaten." Diesem bösen Wort preußischer Reaktionäre läßt sich noch Schlimmeres aus Wien an die Seite stellen. Als die Gegenrevolution im düsteren Herbst 1848 ihren Sieg mit den „Begnadigungen zu Pulver und Blei", mit Spießrutenlaufen und Festungshaft, mit der Vertreibung und Ächtung der demokratischen Intelligenz feierte, zog der Dichterling Joseph Weyl die Summe des Revolutionsjahres, wie er sie verstand: „ Vom Schmutz: Republikaner, Vom Unflat: Demokrat, Fegt rein der Sereäaner, Befreite der Kroat!" Mit Hilfe der vom kroatischen Banus Jellacic geführten Militärgrenzer, unter denen die Elitetruppe der Serezaner mit ihren roten Mänteln und exotischen Waffen Furcht und Schrecken verbreitete, war Wien bezwungen worden. Man belustigte sich über das „tolle Jahr"; ein deutscher Arzt konstatierte allen Ernstes ein Syndrom geistiger Erkrankung, das er als „morbus democraticus" beschrieb. Jetzt war die Rede von „Realpolitik". Der „gesunde Volksegoismus", den Wilhelm Jordan in der Polendebatte des Frankfurter Paulskirchenparlaments beschworen hatte, kam zum Zug - der „Völkerfrühling" war verblüht, ohne Früchte getragen zu haben. Ein 1848 am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums agierender preußischer Junker, Otto von Bismarck, sprach 1862 als Staatsmann, am Vorabend der Reichseinigung von oben, das folgenschwere Wort, das die Verbindung von „Einheit und Freiheit"

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zerriß und dem Parlamentarismus absagte: „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der Fehler von 1848 und 1849 gewesen -, sondern durch Eisen und Blut." I I . Bürgerliche Revolution und Demokratie War die geschlagene Revolution wirklich vergeblich gewesen? Bleibt sie auch im historischen Rückblick das „tolle Jahr" - ein vorübergehender Anfall von Unbotmäßigkeit sonst braver und treuer Untertanen? Die europäische Revolutionswelle von 1848/49, deren Teil das österreichische Sturmjahr war, gehört in die große Reihe jener Umwälzungen, die das Ende der Feudalordnung herbeiführten. Nicht nur die politische Emanzipation des wirtschaftlich, technisch und wissenschaftlich aufsteigenden Bürgertums war die Aufgabe dieser verspäteten, von unentwirrbaren nationalen Problemen überschatteten Revolution. In ihrem Verlauf wurden die außerhalb der ständischen Gesellschaft stehenden Unterschichten vom Objekt polizeilicher Kontrolle zum geschichtsmächtigen Subjekt. Der Abbau herrschaftlicher Bindungen des Feudalismus schlug im 19. Jahrhundert in die gleichzeitige Aufrichtung von neuer Abhängigkeit, Ausbeutung und Entfremdung um - Gegensätze, welche die bürgerliche Gesellschaft und den modernen Staat, deren Werte seit 1789 in den widerspruchsvollen Kategorien von „Freiheit und Gleichheit" definiert waren, nicht zur Ruhe kommen ließen. Dieses Bewußtwerden des Antagonismus der neuen Gesellschaftsordnung, die auf Technik und Industrie aufbaute, wurde selbst zum revolutionierenden Moment im Prozeß der Entstehung unserer Welt. Der revolutionäre Übergang vom Ancien régime zur modernen Klassengesellschaft ließ unterschiedliche Antworten auf die Frage zu, was Demokratie sei. Während für das Großbürgertum und seine liberalen Wortführer die konstitutionelle Teilnahme an der politischen Macht an „Besitz und Bildung" geknüpft blieb, kritisierten die Demokraten eine nur formale Gleichberechtigung, interpretierten den aus der Französischen Revolution überkommenen Katalog der Menschenrechte im Sinne ihrer jakobinischen Vorläufer und proklamierten das Prinzip der Volkssouveränität gegen die Mächte der Tradition und die Privilegiengesellschaft. In der Begriffsbildung von Marx und Engels läßt sich diese Entwicklung der „Demokratie" - vom linken Flügel radikaler Intellektueller hin zur entstehenden Arbeiterbewegung - gut ablesen. Schon 1845 sagte Friedrich Engels im Zusammenhang mit dem schlesischen Weberaufstand und den viel weniger bekannten, aber weit umfangreicheren - Unruhen unter den böh-

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mischen Baumwoll- und Eisenbahnarbeitern: „Hierzulande sind Demokratie und Kommunismus, soweit es sich um die Arbeiterklasse handelt, völlig identisch." Und am Vorabend von 1848 brachte das „Manifest der Kommunistischen Partei" diesen Gedanken mit der Formulierung zum Ausdruck, „daß der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist". Mit dem Blick auf die Wiener Revolution stellt sich also die Frage, welche Rolle das frühe großstädtische Proletariat in der „bürgerlich-demokratischen" Revolution spielte, und wie es kam, daß die dialektisch miteinander verknüpften Emanzipationsbewegungen des Bürgertums, der Bauern und der Arbeiterschaft - vorangetrieben, aber auch behindert durch die gleichzeitige Entfaltung nationaler Strömungen - so tragisch der feudalmilitärischen Konterrevolution erlagen. Während in der klassischen bürgerlichen Revolution, die Frankreich seit 1789 durchlief, die Sansculotten den Schauplatz mit selbständigen Forderungen erst betraten, nachdem der Dritte Stand seine Revolution gegen Adel, Kirche und Königtum siegreich durchgeführt hatte, standen die unterbürgerlichen Gesellschaftsschichten in den Revolutionen des Jahres 1848 schon zu Anfang an der Spitze des Kampfes gegen die alten Mächte, aber auch in einer spontanen Protestbewegung gegen den die traditionellen Lebens- und Arbeitsverhältnisse zerstörenden Kapitalismus. Das Bürgertum konnte 1848 das bereits wesentlich stärker entwickelte Proletariat nicht mehr als seine Gefolgstruppe integrieren. Schutz suchend bei Militär, Bürokratie und Dynastie gaben die Bürger ihre Revolution preis. I I I . Schauplätze der Wiener Revolution Für unsere italienischen und ungarischen Nachbarn ist 1848 ein unverzichtbarer Teil ihres nationalen Geschichtsbildes - äußerlich festgehalten in zahllosen Monumenten des Risorgimento, mit dem Denkmal des ungarischen Revolutionsdichters Sândor Petöfi immer wieder im Brennpunkt der politischen Bewegung Budapests. In Wien dagegen lassen sich dieser starken Tradition nur wenige bewußt gesetzte und noch heute bekannte Denkmäler an die Seite stellen. Dennoch haben sich hier mehr Schauplätze des revolutionären Geschehens erhalten als etwa in Paris, wo die Stadterweiterung die Spuren von 1789, 1830 und 1848 weitgehend verwischt hat, oder im bombenzerstörten Berlin. Ein Rundgang durch die Stadt soll die wichtigsten Ereignisse an ihrem Schauplatz in Erinnerung rufen.

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Nahezu unverändert erhalten blieb das im Sturmjahr unter Verwendung historischer Bauteile eben erst fertiggestellte Niederösterreichische Landhaus in der Herrengasse, der Ort der Ständeversammlung und der folgenschweren Studentendemonstration des 13. März. Der Brunnen, von dessen Verschalung aus Lajos Kossuths revolutionäre Preßburger Landtagsrede verlesen wurde, die zusammen mit Dr. Adolf Fischhofs Ansprache den zündenden Funken in die dichtgedrängte Menge schleuderte, steht noch im Landhaushof. Hier ist auch die 1928 zum Gedenken an den „Bauernbefreier" Hans Kudlich angebrachte Tafel zu sehen - der schlesische Student Kudlich war am 13. März unter den Demonstranten und trug beim Angriff des Militärs eine Verletzung davon. An eine zum Teil in den Bereich historischer Legendenbildung gehörende Begebenheit erinnert die Gedenktafel gegenüber dem Looshaus am Michaelerplatz; der Artillerist Pollet hatte sich hier geweigert, seine Kanonen gegen die Menge abzufeuern. Am 14. März wurde das Standbild Kaiser Josephs II. mit einer die Aufschrift „Preßfreiheit" tragenden Fahne geschmückt. Mit der Person dieses großen Reformers auf dem Kaiserthron verbanden Liberale und Demokraten ihre Vorstellungen von Konstitutionalismus und „schwarz-rot-goldenem" Nationalbewußtsein - die Statue wurde im Sommer mit der die Einigungsbestrebungen des Frankfurter Parlaments symbolisierenden Trikolore geschmückt. Noch trug der eherne Reiter diese zerfetzte Fahne, als am 31. Oktober das Dach der Hofburg infolge des Bombardements durch die kaiserlichen Truppen in Flammen stand. Die Märzgefallenen wurden in einer von Geistlichen des katholischen, protestantischen und jüdischen Bekenntnisses gemeinsam abgehaltenen Trauerfeier - der erste interkonfessionelle Gottesdienst der österreichischen Geschichte - auf dem Schmelzer Friedhof bestattet. Nach der Auflassung dieses Friedhofes wurden ihre Überreste auf den Zentralfriedhof überführt; im Märzpark vor der Wiener Stadthalle erinnert noch ein kleiner Gedenkstein an den ursprünglichen Beisetzungsort. Der von der liberalen Stadtverwaltung gesetzte Obelisk über den Gebeinen der Märzgefallenen, von denen die meisten Arbeiter und Handwerksgesellen waren, wurde die bedeutendste historische Gedenkstätte der österreichischen Sozialdemokratie. Es ist kein Zufall, daß die Ehrengräber ihres Gründers Victor Adler und ihrer Führer Friedrich Adler, Engelbert Pernerstorfer, Karl Seitz und Otto Bauer vor dem Märzobelisken liegen. Der Marsch zum Grab der Märzgefallenen hatte in der Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung bis zum Ersten Weltkrieg eine den Maifeiern durchaus vergleichbare Integrationskraft und spielte im Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht eine wesentliche Rolle. Die demokratische Phase der Wiener Revolution, die in der Sturmpetition der Nationalgarde und der akademischen Legion vom 15. Mai das Zugeständnis

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eines verfassunggebenden Reichstages auf Grund allgemeiner Wahlen erkämpfte und einen ersten Versuch der Reaktion zur Aufspaltung der revolutionären Kräfte in den Barrikadentagen vom 26. bis 28. Mai zunichte machte, wird in den engen Gassen um die alte Universität - die heutige Akademie der Wissenschaften - lebendig. Gemeinhin identifiziert man das Bild des Wiener Achtundvierzigerrevolutionärs mit dem kalabresertragenden und säbelschwingenden Studenten; über den gewiß vorhandenen pathetischen und mitunter komisch wirkenden Zügen des Geschehens der „Freiheit in Krähwinkel" (J. Nestroy) darf aber nicht übersehen werden, daß damals erstmals in der Geschichte Österreichs die Grundlagen für eine demokratische Rechts- und Verfassungsentwicklung gelegt worden sind. Wir lächeln, wenn wir auf einer der vielen die 160 Barrikaden in der Wiener Innenstadt darstellenden Lithographien die „ KaiserBarricade" mit der Aufschrift „k.k.Barricade" erblicken, über die Inkonsequenz der loyalen Revolutionäre von 1848. Man muß allerdings aus solchen Erscheinungen auch folgern, daß es den Wiener Revolutionären nicht, wie ihre Gegner zu unterstellen pflegten, um blindwütige Zerstörung und sinnlosen Radikalismus ging, sondern um einen Neubau unter Berücksichtigung der historisch gewordenen Strukturen der Donaumonarchie. Daß diesen Bestrebungen seitens der konservativen Kräfte ein starres Nein entgegengesetzt wurde, war wahrlich nicht Schuld der Demokraten. Nicht viele Besucher der Vorführungen der weltberühmten Spanischen Hofreitschule wissen, daß der Saal der „weißen Pferde" im Revolutionsjahr den konstituierenden Reichstag, das erste österreichische Parlament, beherbergte, dem es nach seiner Verlegung in das mährische Städtchen Kremsier zwar nicht vergönnt war, sein großes Werk zu Ende zu führen, dessen Wirken aber doch in Umrissen ahnen ließ, welche Möglichkeiten eine demokratische Erneuerung des alten Kaiserstaates eröffnet hätte. Die tragischen Ereignisse des 6. Oktober können wir uns heute nicht mehr an ihrem Schauplatz vor Augen führen: Wie das Kriegsministerium Am Hof ist auch das einst im Pflaster eingelegte schwarze Kreuz verschwunden, wo die Laterne stand, an die der Leichnam des Kriegsministers Latour gehängt wurde, ebenso das Kaiserliche Zeughaus in der Renngasse, das vom Volk in der Nacht zum 7. Oktober erstürmt wurde. Ein wegen seiner Unscheinbarkeit wohl nur wenigen Wienern bekanntes „Denkmal" dieses dramatischen Tages gibt es aber noch zu sehen: eine Delle in der Mauer des Stephansdomes (beim Leopoldsaltar) und dabei eingemeißelt das Datum „6. Oktober 1848". Es handelt sich um die Spur eines Schusses, der bei dem Tote und Verwundete fordernden Feuergefecht zwischen konservativen „schwarzgelben" Nationalgardisten der Innenstadt und radikalen Garden von der Wieden im Dom fiel. Das blutige Ringen um Wien Ende Oktober hat nur wenige Spuren hinterlassen. Noch steht

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ein Rest der Ziegelbasteien des alten Linienwalles beim Schnellbahneinschnitt hinter dem Schweizergarten; gerade dieser Abschnitt - die St. Marxer Linie wurde zusammen mit den Barrikaden am Praterstern am 28. Oktober von den Verteidigern Wien am hartnäckigsten gegen den übermächtigen Ansturm der Truppen von Windischgrätz und Jellacic gehalten. Die letzten Kämpfe fanden am 31. Oktober beim Äußeren Burgtor statt. Dem Kundigen verraten die Ausbesserungen an den von Schüssen beschädigten Steinquadern die Narben des letzten Kampfes der Wiener Revolution. In dem in einen Park verwandelten Währinger Friedhof steht über der Stelle des Schachtgrabens, wo die Opfer der Militärjustiz beigesetzt wurden, ein Felsblock mit den Namen Robert Blum, Wenzel C. Messenhauser, Dr. Alfred Julius Becher und Dr. Hermann Jellinek, die im November wie viele andere Unbekannte unter den Kugeln der Hinrichtungspelotons fielen. Im Gegensatz zu den verborgenen Erinnerungen an die Revolution sind die Denkmäler der Gegenrevolution im Stadtbild nicht zu übersehen. Die nach der Niederwerfung der Stadt errichteten Kasernen (von denen die Roßauer Kaserne erhalten blieb) und das Arsenal dokumentieren den eisernen Willen der damaligen Sieger, jeden Funken der Empörung gegen ihre Gewaltherrschaft auszulöschen. Noch die Anlage der Ringstraße hatte nach dem Willen der Militärs Rücksicht auf ihr Interesse zu nehmen, städtische Unruhen bereits im Keim ersticken zu können. I V . Wirtschaftliche Voraussetzungen von Revolution und Sozialprotest Ohne die Kenntnis der Entstehungsgeschichte der bürgerlich-kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist ein Verstehen der politischen Bedingungen für die von revolutionärem Kleinbürgertum, Studenten und Arbeiterschaft getragene „Demokratie" des Sturmjahres nicht möglich. Merkantilistisch-kameralistische Traditionen blieben für die Entwicklung des österreichischen Unternehmertums prägend. Die enge Anlehnung an den Staat setzte sich noch im 19. Jahrhundert in sehr bezeichnender Weise fort - der „k.k.privilegierte" Fabrikant oder Großhändler bildete hier den charakteristischen, vom westeuropäischen „Bourgeois" deutlich abgehobenen Unternehmertypus. Die Reformtätigkeit Josephs II. im agrarischen Bereich und in der Wirtschaftspolitik hatte weitreichende Folgen für die sozialökonomische Entwicklung Österreichs, wenngleich viele der in seinem Regierungsjahrzehnt eingeleiteten Maßnahmen von seinen Nachfolgern unter dem Eindruck der Französischen Revolution sistiert wurden.

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Die Zeit der ersten Industrialisierungswelle in der Habsburgermonarchie ist von Widersprüchen geprägt: Einerseits hatten viele Angehörige der Führungsschichten hohes Interesse an der Weiterentwicklung der Technik, deren Einbeziehung in den Wirtschaftsprozeß schon im Interesse der Behauptung Österreichs als Großmacht unabdingbar war, und an der Freisetzung neuer ökonomischer Potenzen; andererseits ließ die als Reaktion auf die politischen Ideen der Französischen Revolution entstandene patriarchalisch-romantische Haltung zu den sozialen Fragen Befürchtungen vor den Konsequenzen der Industrialisierung akut werden. Kaiser Franz, der mit der Gründung des Polytechnikums (1815) selbst ein bedeutsames Signal der technisch-industriellen Revolution gegeben hatte, dekretierte mehrmals ein Niederlassungsverbot von Fabriken in der Hauptstadt und ihrer Umgebung, weil er und seine konservativen Berater ein Anwachsen der Arbeiterbevölkerung befürchteten, die als Adressat der Befreiungsaufrufe demokratischer Intellektueller, der rigoros verfolgen „Jakobiner" , zu Trägern revolutionärer Aktionen werden könnte. Dennoch waren diese auch von traditionsgebundenen Wirtschaftskreisen wie dem zünftisch organisierten Gewerbe getragenen Gegenströmungen auf Dauer nicht in der Lage, das Eindringen großgewerblicher Produktionsformen zu verhindern. Wie in England gingen die wichtigsten Innovationen von der Textilerzeugung aus. Von der Pottendorfer Maschinenspinnerei (1801) verbreitete sich die industrielle Massenproduktion mit allen ihren Begleiterscheinungen wie Frauen- und Kinderarbeit, Lohndruck, übermäßiger Arbeitszeit und periodischer Arbeitslosigkeit rasant mit den zahlreichen Betriebsgründungen des Wiener Beckens. Auch in Vorarlberg und im böhmischen Raum entstanden frühe Zentren maschineller Textilproduktion. Eine wichtige Integrationsfunktion für die zunächst noch vereinzelten Ansätze einer kapitalistischen Umgestaltung der Wirtschaft übte der Eisenbahnbau aus, der nach dem Experiment der Linz-Budweiser Pferdeeisenbahn seit den späten dreißiger Jahren als Dampfbetrieb in Angriff genommen wurde. Die Bahnlinien schufen eine Achse, die Wien einerseits mit den mährisch-schlesischen Zentren des Kohlebergbaus und der Schwerindustrie verband, andererseits mit der Südbahnstrecke die Perspektive einer leistungsfähigen Verkehrslinie zur Adria öffnete. Unter der Führung großer Bank- und Handelshäuser (Rothschild, Sina), dann in zunehmendem Maße in staatlicher Regie wurden hier nicht nur erstmals in wirklich großem Maßstab konzentrierte Kapitalien mobilisiert, sondern auch Arbeitermassen, welche die Krisensituation der Landwirtschaft und des Gewerbes ständig freisetzte. Nicht allzu viele der biedermeierlich-elegant gekleideten Damen und Herren, die wir etwa auf den Bildern der ersten österreichischen Dampfeisenbahnfahrt von Floridsdorf nach Deutsch19 Timmermann / Gruner

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Wagram im November 1837 dargestellt sehen, mögen geahnt haben, daß damit auch für den Kaiserstaat unwiderruflich eine neue Epoche begonnen hatte. Der aus Ungarn stammende Dichter Karl Beck hat der Stimmung Ausdruck gegeben, die die junge oppositionelle Intelligenz angesichts des rasanten technischen Fortschritts durch die Dynamik der Dampfkraft erfaßt hatte: „ Rasend rauschen rings die Räder, Rollend, grollend, stürmisch sausend, Tief im innersten Geäder Kämpft der Zeitgeist freiheitsbrausend. Stemmen Steine sich entgegen, Reibt er sie zu Sand zusammen, Seinen Fluch und seinen Segen Speit er aus in Rauch und Flammen. " Den Widerspruch, in den das verknöcherte Regierungssystem der letzten Vormärzjahre mit den neuen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen geraten mußte, bezeichnete Friedrich Engels am 27. Jänner 1848 in der „DeutschBrüsseler Zeitung", indem er zunächst sarkastisch ein angebliches Wort des Kaisers Franz zitierte: „Mich und den Metternich hält's aus. (...) Die französische Revolution und die Julistürme hat's ausgehalten, aber den Dampf hält's nicht aus. (...) Der Dampf hat die österreichische Barbarei in Fetzen gerissen und damit dem Haus Habsburg den Boden unter den Füßen weggezogen." Blicken wir auf Wien, so sehen wir hier Tendenzen am Werk, welche die Stadt des Hofes und des Kleinbürgertums zu einer modernen Großstadt werden ließen. Das schon durch die einsetzende Landflucht der bäuerlichen Bevölkerung mitbestimmte Bevölkerungswachstum war noch in den eisernen Ring des Befestigungsgürtels gesperrt. In den zwei Jahrzehnten zwischen 1827 und 1847 hatte sich die Bevölkerung Wiens um 42,5 Prozent vermehrt und die Zahl von 400 000 Einwohnern überschritten; die Häuserzahl hatte sich im gleichen Zeitraum aber nur um 11,4 Prozent vergrößert. Immer noch prägte die vielseitige und hochqualifizierte Luxusgütererzeugung für Hof, Adel und bald auch für ein zahlungskräftiges Großbürgertum das ökonomische Erscheinungsbild der Stadt. Die vielen Seidenwebereien der dichtbevölkerten westlichen Vorstädte hatten die Blütezeit des alten „Brillantengrundes" 1848 allerdings schon lange hinter sich und wurden zum Herd sozialen Protests. Die Verzehrungssteuer, die am Linienwall (im Verlauf der heutigen Gürtelstraße) eingehoben wurde, verhinderte die Entwicklung großgewerblicher Produktionsformen in der Stadt und den Vorstädten, da sie die Lebenshaltungskosten der Bevölkerung und damit die Mindestlöhne erhöhte. Auf die neue

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Massenproduktion eingestellt waren die Kattundruckereien vor allem in den Vororten Fünf- und Sechshaus, wo die Baumwollstoffe aus den Fabriken des Wiener Beckens weiterverarbeitet wurden. Die Einführung der Perrotine machte hier über Nacht Tausende brotlos. Auch Nord- und Südbahnhof mit ihren bedeutenden Maschinenwerkstätten und je an die 1000 Beschäftigten stellten Einbrüche der Welt der Industrie in das „biedermeierliche" Wirtschaftsmilieu dar. Zur revolutionären Krise der Vormärzgesellschaft trugen aber außer der unübersehbaren Verelendung der Industrieabeiterschaft und der städtischen Gewerbetreibenden, die ja trotz ihrer raschen Vermehrung nur einen verhältnismäßig geringen Anteil der Gesamtbevölkerung stellten, noch andere Faktoren wesentlich bei. Die Krise der Landwirtschaft, die in der Geschichte der Neuzeit den Hunger breiter Bevölkerungsschichten zu einer periodischen Erscheinung machte, kulminierte im „Pauperismus" der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war vergebliche Mühe, innerhalb der feudalen Wirtschaftsordnung dieses bestürzende Problem der massenhaften Verelendung lösen zu wollen. Die rückständigen Landwirtschaftsmethoden waren nicht imstande, die anwachsende Bevölkerung ausreichend zu versorgen. Die Hungerkrisen, welche die vorindustrielle Gesellschaft Europas immer wieder heimgesucht hatten, behielten ihre katastrophale Wirkung auch in der Frühzeit der Industrialisierung. Die „hungry forties" mit ihren Mißernten und der verhängnisvollen Kartoffelfäule ließen nicht nur in Irland, sondern auch in den Notstandsgebieten Nordböhmens und Schlesiens viele Menschen buchstäblich Hungers sterben. Das bedrohliche Ansteigen der Preise für Grundnahrungsmittel, die 1847 extrem hochschnellten, prädestinierte die Mitte des Jahrhunderts zu einer Zeit schwerer sozialer Erschütterungen und Kämpfe. Die Massen litten unter dem doppelten Druck der absterbenden feudalen Herrschaftsverhältnisse und der Ausbeutung durch den frühen Industriekapitalismus. In diesem schmerzvollen Prozeß, der sich von der gefälligen Oberfläche der bürgerlich-behäbigen Biedermeierkultur grell abhebt, wurde aus dem Pöbel der altständischen Gesellschaft das Proletariat der modernen Klassengesellschaft, das in unüberhörbarem Protest seinen Ruf nach dem Menschenrecht auf Arbeit und Lebensunterhalt erhob. Die soziale Frage wurde zum Zentralproblem der bürgerlich-demokratischen Revolution, nicht nur was die Lage der proletarischen und von der Proletarisierung bedrohten großstädtischen Bevölkerung betrifft, sondern vor allem auch in Hinblick auf die überfällige Lösung der Bauernfrage.

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V. Soziale Bewegung und Demokratie in der Wiener Revolution Der Erhebung Wiens waren Flammenzeichen im weiten Vielvölkerreich vorangegangen; die Nachrichten von der Pariser Februarrevolution wirkten als Katalysator auf die vielfältigen Bewegungen. Die seit Jahresanfang schwelende Unruhe der italienischen Provinzen schwoll zu offenem Aufruhr, den auch Radetzkys Armee nicht zu dämpfen vermochte. Ungarn meldete durch den Mund seines großen nationalen Tribunen Kossuth Ansprüche auf Verfassung und Selbständigkeit an. Die Tschechen formulierten ihr staatsrechtliches auf Autonomie innerhalb der Monarchie zielendes „Wenzelsbad-Programm". Galizien war seit den blutigen Aufständen von 1846 nicht mehr zur Ruhe gekommen, die Aufhebung der Feudallasten war in allen Provinzen ein brennendes Problem. In Wien begann der Monat März mit Petitionen bürgerlicher Gremien wie des Niederösterreichischen Gewerbevereins und des Juridisch-Politischen Lesevereins, die in zahmer Form eine bescheidene Teilnahme des Großbürgertums an der Staatsverwaltung und Finanzgebarung erbaten. Die Studenten hatten dem ängstlich zögernden Wirtschaftsbürgertum den Mut der Jugend voraus - sie verlangten unumwunden Presse-, Rede- und Lehrfreiheit, Volksbewaffnung, Gleichstellung der Konfessionen (die Emanzipationsforderung führte viele jüdische Intellektuelle in die Reihen der Revolutionäre), Volksvertretung und eine Reform der deutschen Bundesverfassung. Studenten waren es auch, die sich der Mithilfe der Arbeiter in den Wiener Vorstädten bei den erwarteten Auseinandersetzungen versicherten. So sah der Morgen des 13. März die Wiener auf den Beinen - die meisten als neugierige Zuschauer, Studenten und Arbeiter aber entschlossen, diesen Tag des Zusammentritts der niederösterreichischen Ständeversammlung nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Die Studenten wollten zunächst durch ihren Zug zum Landhaus den Reformwünschen der liberalen Ständepartei Nachdruck verleihen. In den turbulenten Geschehnissen im Hof des Landhauses und in der Herrengasse wurde die Reformbewegung durch den Einsatz des Militärs gegen die friedlichen Demonstranten zur Revolution. Während Bürger und Studenten in der Innenstadt vehement die Abdankung des verhaßten Staatskanzlers Metternich forderten, der zum Symbol für den Stillstand des vormärzlichen Regierungssystems geworden war, erhob sich die Bevölkerung der Arbeitervorstädte. Eine Bewegung von elementarer Wucht hatte diese Menschen erfaßt, deren lange verhaltener Groll sich nun in Zerstörungsakten gegen die Verzehrungssteuerämter, Polizeistuben und Grundgerich-

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te Luft machte. Die durch die Maschinen arbeitslos Gewordenen stürmten die Fabriken und vernichteten die Perrotinen und mechanischen Webstühle - dieser Maschinensturm pflanzte sich auch in die südlich von Wien gelegenen Industrieorte fort. Von dieser archaischen Form der sozialen Revolte ausgehend beschritt die Arbeiterschaft aber sehr schnell den Weg zu modernen Formen der Organisation und Interessenvertretung, ein Lernprozeß, der in der Schule der Revolution in nur wenigen Monaten durchlaufen wurde. Es kann nicht bezweifelt werden, daß die bürgerliche Revolution in Wien dank dem spontanen Eingreifen der proletarischen Schichten gesiegt hat. Die herrschenden Kräfte hätten andernfalls kaum so rasch das Feld geräumt. Metternichs Rücktritt erfolgte unter dem drohenden Eindruck der in den Vorstädten aufsteigenden Feuersäulen. Angesichts der Erhebung der Massen wagte es die Militärpartei unter Fürst Windischgrätz, die nur über eine schwache und schwankend gewordenen Garnison verfügte, nicht, die Wiener Revolution wie geplant im Keim zu ersticken. Sie mußte noch auf ihre Stunde warten, die mit dem Zerfall des revolutionären Bündnisses von Bürgerschaft und Arbeiterschaft kommen sollte. Dieser Klassenkonflikt, der im Sommer unverhüllt zu Tage trat, war schon in den Widersprüchen der Märztage angelegt. Die Bürgerwehr und die neugebildete Nationalgarde griffen gegen die unruhigen Arbeiter in den Vorstädten scharf durch. Die Mehrzahl der Märzgefallenen starb nicht unter den Schüssen des Militärs in der Innenstadt, sondern bei der Herstellung von „Ruhe und Ordnung" in den Arbeitervierteln der Vorstädte und Vororte. Unter diesen Umständen erfolgte die „Volksbewaffnung" der Nationalgarde „auf den Grundlagen der Bildung und des Besitzes"; die Arbeiter als „gefährliches" Element blieben vom Recht des Waffentragens ausgeschlossen. In seinem Protest gegen die Auswüchse der frühen kapitalistischen Wirtschaftsordnung hatte das Proletariat dem Bürgertum zum Sieg verholfen; dieses Paradox prägte den weiteren Verlauf der Revolution. Die „Demokratie" des Sturmjahres wurzelt in diesem Widerspruch. Es galt nunmehr, die „Märzerrungenschaften" des Bürgertums - Pressefreiheit und Gestalt der versprochenen Verfassung - im Interesse des Volkes zu verwirklichen. Michail Bakunin, der berühmte russische Revolutionär und spätere Anarchist, der 1848 am Präger Slawenkongreß und 1849 am Dresdener Aufstand teilnahm, von der sächsischen Regierung an Österreich und dann an Rußland ausgeliefert wurde, hat die Stimmung dieses Frühlings festgehalten: „Es schien, als vollziehe sich eine Umwälzung in der ganzen Welt. Das Unwahrscheinliche wurde gewöhnlich, das Unmögliche möglich; das Mögliche und Gewöhnliche aber war sinnlos geworden. (...) Aber nicht nur die Demokraten lebten in die-

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ser Trunkenheit; im Gegenteil, die Demokraten wurden zuerst wieder nüchtern, da sie ans Werk gehen und ihre Macht, die ihnen wie durch ein unerwartetes Wunder in den Schoß gefallen war, befestigen mußten." Demokratische Intellektuelle - Studenten, Schriftsteller, Journalisten, kleine Beamte - nahmen sich der Anliegen des Kleinbürgertums und der Arbeiterschaft, die unter dem Begriff „Volk" subsumiert wurden, an. Dr. Hermann Jellinek, einer der publizistischen Wortführer des Sturmjahres, hat die später von konservativen Historikern oft verzerrte Bedeutung der Massenbewegung für die Erkämpfung der Demokratie gewürdigt: „Die Märzrevolution hat das Volk gemacht, der 'Pöbel', auf den die Bourgeoisie so stolz herabblickt, das 'Gesindel', welche der hohe Adel für 'Bestien' erklärte: Die Märzrevolution war das große Werk der Volksmassen." Vergleichbar den Jakobinern in der Französischen Revolution beanspruchten die Demokraten, die in der sich bald reich entfaltenden Journalistik ein wirkungsvolles Sprachrohr fanden, das Vertretungsrecht für die Interessen des Volkes. Tatsächlich vermittelten sie vor allem durch die Schaffung von Vereinen der spontanen Massenbewegung wichtige politische und organisatorische Anstöße zur Weiterführung der Revolution. In den Auseinandersetzungen um die Verfassung formierten sich die demokratischen Kräfte zum gemeinsamen politischen Einsatz. Der Kampf um das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht wurde das nächste wichtige Etappenziel der Revolution. Die „Sturmpetition" zur Hofburg am 15. Mai, an der auch Arbeiter eindrucksvoll beteiligt waren, setzte die demokratischen Forderungen gegenüber dem schwachen Ministerium Pillersdorf durch. Den Schachzug der Reaktion, den regierungsunfähigen Monarchen Ferdinand I. und den Hof aus der revolutionären Hauptstadt nach Innsbruck zu übersiedeln (17. Mai), und den Versuch, die Akademische Legion aufzulösen, beantwortete Wien mit den Barrikadentagen vom 26. bis 28. Mai. Die Aula wurde das Zentrum des demokratischen Widerstandes. Als Organ der kleinbürgerlichen Demokratie trat der Sicherheitsausschuß im Rathaus in der Wipplingerstraße zusammen. Der Gedanke der Volkssouveränität hatte gesiegt: Der auf Grund allgemeiner, freilich indirekter und den Arbeitern nur erschwert zugänglicher Wahlen zusammentretende Reichstag sollte die Verfassung beschließen. Die Arbeiter ernteten nicht die Früchte jener politischen Rechte, die sie für das Bürgertum erkämpft hatten. Um dem Heer der in der Krise arbeitslos gewordenen Menschen Beschäftigung zu verschaffen, hatte man Erdarbeiten organisiert, bei denen schon im Juni über 20 000 Personen, darunter zahlreiche Frauen, gezählt wurden. Das unter Andreas von Baumgartner am 9. Mai ins

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Leben getretene Arbeitsministerium, der Sicherheitsausschuß und der Gemeindeausschuß versuchten mit geringem Erfolg, diese Arbeitermassen unter Kontrolle zu bringen. In bestürzender Analogie zu den Pariser Vorgängen, die in der niederkartätschten Junierhebung gipfelten, verschärften sich in Wien die sozialen Probleme zu offener Konfrontation. Bürgerliche Nationalgarden und städtische Sicherheitswache richteten unter den Erdarbeitern, Frauen und Kindern, die im Prater gegen eine vom Ministerium (Ernst von Schwarzer war an die Stelle Baumgartners getreten) verfügte, existenzbedrohende Lohnkürzung protestierten, am 23. August ein blutiges Gemetzel an. Angesichts dieser „Praterschlacht" betonte Karl Marx, der bald darauf als Redakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung" in Wien weilte und vor dem Demokratischen Verein und dem Arbeiterverein sprach, daß es sich „jetzt auch hier - wie in Paris - um den Kampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat" handle. Das „Recht auf Arbeit", dies hatte sich gezeigt, war in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht einlösbar. Ein großer Teil der unruhigen Arbeiterschaft wurde in der Folge beim Bau der Semmeringbahn eingesetzt, der nach den kühnen Plänen Ghegas im Sommer 1848 in Angriff genommen wurde. An der Krise der Revolution konnte auch der Umstand nichts ändern, daß sich die fortgeschrittensten Gruppen der Wiener Arbeiterschaft unter Führung des Buchbindergesellen Friedrich Sander im Zeichen eines politische Demokratie und soziale Forderungen vereinenden Programms organisierten und mit der deutschen „Arbeiterverbrüderung" Kontakt aufnahmen. Eine funktionierende gewerkschaftliche Organisation bauten die Buchdrucker auf. Die Facharbeiter der Maschinenfabriken konnten den Zehnstundentag durchsetzen - soziale Errungenschaften, die in der Reaktionszeit sofort widerrufen wurden und erst nach Jahrzehnten von der organisierten Abeiterbewegung nach und nach erkämpft werden sollten. Der nationalistischen Zerklüftung der bürgerlichen Emanzipationsbewegung stellten die Wiener Erdarbeiter, unter denen sich viele Tschechen befanden, ein bemerkenswertes Dokument der Solidarität entgegen. In ihrer Petition an den Reichstag hieß es: „Auch halten wir für ein Unrecht, daß alle Österreicher, Mährer und Böhmen und aus allen anderen Provinzen, welche zu Österreichs Staaten gehören, gewaltsam von den öffentlichen Arbeitsplätzen entfernt worden sind. (...) Ja auch sie sind unsere Brüder - und wir wollen keinen Haß gegeneinander hegen - weil wir alle gleiche Staatsbürger sind. (...) Folglich soll jeder seine Menschenpflichten und Rechte genießen, sei er Bürger oder Bauer oder Arbeiter, denn lange genug schmachteten wir im Sklavenjoche." Für den Fortgang der Revolution wurde verhängnisvoll, daß die wichtigste Tat des Reichstages, die Bauernbefreiung, nicht in konsequent demokratischem

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Sinn vollzogen worden ist. Die durch Hans Kudlichs berühmten Antrag initiierten Debatten endeten damit, daß die Bauern für die Ablösung der Herrschaftsrechte Entschädigung leisten mußten - die Demokraten hatten es nicht gewagt, an das revolutionäre Potential der Bauern zu appellieren und die Zerschlagung des feudalen Grußgrundbesitzes zu fordern. Vom Sommer an bildeten die Bauern kein revolutionäres Element mehr; sie standen abseits, als die Entscheidung über das Schicksal Wien fiel. Die Reaktion wußte ihre Stunde gekommen. Erfolgreiche militärische Maßnahmen gegen die nationalrevolutionäre Bewegung der Polen in Krakau, die Niederwerfung des Prager Pfingstaufstandes durch Windischgrätz und vor allem Radetzkys von Grillparzer bejubelte und durch den Marsch von Johann Strauß Vater verewigte Siege in Oberitalien während des Sommers ließen die Pläne eines konterrevolutionären Vorgehens gegen die immer stärker ihre Selbständigkeit betonenden Magyaren und gegen Wien reifen. Die Demokraten entwickelten eine lebhafte Tätigkeit, agitierten in den Vereinen, hielten Volksversammlungen ab, versuchten mit den Bauern in Verbindung zu treten, waren aber in ihren Aktionen auf die Defensive beschränkt. Der ungarisch-kroatische Konflikt bedrohte auch Wien. Die dumpfe, gewitterschwüle Atmosphäre entlud sich im bewaffneten Konflikt des 6. Oktober. Noch einmal erhoben sich Arbeiter, Kleinbürger und Studenten Wiens gemeinsam gegen den Versuch des Kriegsministers Latour, Truppen nach Ungarn zu senden, wo Banus Jellacic gegenüber der ungarischen Honvédarmee arg in die Klemme geraten war. Die Wiener Demokraten wußten, daß der Staatsstreich gegen Ungarn auch ihnen galt. Der Abmarsch der Richter-Grenadiere, die zu den Revolutionären übertraten, wurde in blutigem Kampf an der Taborbrücke vereitelt. Der Angriff der konservativen Teile der Nationalgarde auf die in die Innenstadt zurückkehrende Volksmenge beim Stephansdom und das Kartätschenfeuer der Truppen am Graben erbitterte die Vorstadtgarden und die Arbeiter bis zur Weißglut. In kurzer Frist war das Volk Herr der Innenstadt, die Garnison mußte zurückgezogen werden, der des verräterischen Doppelspiels bezichtigte Latour wurde von einem wütenden Volkshaufen in seinem Ministerium Am Hof gelyncht. Die Erstürmung des Zeughauses in der Renngasse gab dem bisher unbewaffneten Volk die Möglichkeit, die Initiative an sich zu reißen. Der Überraschungssieg über das Militär konnte aber aus Mangel an entschlossenen Führungskräften nicht ausgenützt werden. Der Reichstag, der Gemeinderat und das Oberkommando der Nationalgarde unter dem ewig zögernden ehemaligen Offizier und Dichter Messenhauser suchten ängstlich die Fiktion der Legalität festzuhalten und zeigten sich der revolutionären Situation nicht gewachsen, da dem Gegner derlei Bedenken fernlagen. Demokratischer Verein und Akademische Legion

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erwiesen sich als zu schwach, um die kampfbereiten Massen zu entscheidenden Taten zu führen. Die Demokratie bekam in diesen Kämpfen, die zunächst zur Abwehr des Schlages der Gegenrevolution geführt wurden, eine neue Dimension. Ihre fortgeschrittensten Wortführer sprachen nun unumwunden von der „sozialen Demokratie" als dem Ziel der Revolution. So schrieb Hermann Jellinek im „Radikalen": „Wißt ihr, wo die Gerechtigkeit ruht? In der sozialen Demokratie und nirgends anders. Unsere Demokratie ist nicht etwa die des kleinen engherzigen Geldkrämers oder des beschränkten Kleinbürgers, welcher entzückt ist, daß man gegen einen Minister auftritt, aber außer sich gerät, wenn man ihn selbst seine Privilegien aufzugeben zwingt. Diese Demokratie wird noch große Kämpfe kosten. A m 6. Oktober ward der Kampf eingeleitet." Während des entscheidenden Ringens um Wien waren es Arbeiter, Handwerker und Studenten, die bis zuletzt auf ihren Posten verharrten. Ihre Hoffnung auf das Eingreifen der Ungarn war angesichts der erdrückenden Übermacht der gegenrevolutionären Truppen unter Windischgrätz und Jellacic illusorisch. Der zu spät und halbherzig unternommene Entsatzversuch der Magyaren wurde bei Schwechat am 30. Oktober zurückgeschlagen - letztes retardierendes Moment in der großen Tragödie des Falles von Wien. Die letzten Kämpfe tags darauf schon nach der von Gemeinderat und Nationalgardeoberkommando geschlossenen Kapitulation waren vom militärischen Standpunkt gesehen sinnlos. Die Wiener Revolution ergab sich ihren Feinden aber nicht auf den Knien, sondern empfing den Todesstreich stehend; dies war der geschichtliche Sinn des Widerstandes der Wiener Revolutionäre, unter denen die Arbeiter an die erste Stelle gerückt waren. Der Reichstagsabgeordnete Ernst von Violand würdigte diesen Einsatz der Wiener Arbeiter mit folgenden Worten: „Hätten alle anderen Menschen das Herz, den Mut, die Begeisterung für Recht und Gerechtigkeit, hätten sie die Uneigennützigkeit wie die Proletarier Wiens, ich bin überzeugt, die Erde wäre ein Paradies." Selbst zeitgenössische Beobachter, die sonst durchaus nicht mit dem Proletariat und seinen revolutionären Aktivitäten sympathisierten, zollten diesem letzten Einsatz ihren Respekt, wie etwa der später als Dichter und Mineraloge bekannt gewordene Adolf Pichler: „Nie werde ich einen Arbeiter vergessen, der blaß und verwundet durch die Alsergasse herabkam. Auf der Schulter die Muskete mit brandigem Schloß, in der Hand den Säbel, blickte er von Zeit zu Zeit um, setzte dann wieder den Weg fort, für sich murmelnd: 'Es ist alles umsonst, wir sind wieder verraten und verkauft.'"

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Die Rache der Sieger an den Demokraten und Arbeitern, die ihnen Widerstand zu leisten gewagt hatten, war furchtbar. Nicht genug damit, daß die Führer der revolutionären Bewegung, soweit man ihrer habhaft werden konnte, teils hingerichtet, teils zu langjährigen Kerkerstrafen verurteilt wurden, errichtete das Zivil- und Militärgouvernement von Wien auf Jahre hinaus eine Schreckensherrschaft, die jede Regung im Keim ersticken sollte. Schon im Dezember 1848 wurden die „sogenannten demokratischen Clubs und Arbeiterclubs, deren ebenso verbrecherisches als verderbliches Treiben überall Unruhe und Aufregung und in so manche Art das beklagenswerteste Unheil angestiftet hat", streng verboten. Viele Vertreter der demokratischen Linken, deren Andenken eine servile Presse und Historiographie besudelten, gingen - in der Heimat geächtet und zum Tode verurteilt - ins Ausland, zumeist in die Vereinigten Staaten von Amerika, wie Kudlich oder Violand, der in der Schule der Revolution zum bewußten Sozialisten geworden war. Jene Teile des Wiener Besitzbürgertums, die einen geregelten Geschäftsgang allen politischen Freiheiten vorzogen, jubelten den Siegern zu, die durch Standrecht und Belagerungszustand die „unruhigen Proletarier" im Zaum hielten. Noch heute liest man auf der Tafel der Ehrenbürger der Stadt Wien im Rathaus die Namen der siegreichen Feldherren der Gegenrevolution: Radetzky, Jellacic und Haynau. General Haynau war es gewesen, der mit äußerster Härte im Jahre 1849 die oberitalienische Freiheitsbewegung niederwarf und sich mit den Exekutionen der ungarischen Generäle zu Arad und des ungarischen Ministerpräsidenten Graf Lajos Batthyâny einen furchtbaren Ruf schuf. V I . „Siegende Geschlagene" Das Erbe der blutig niedergeworfenen, aber auch an ihren eigenen politischen, sozialen und nationalen Widersprüchen gescheiterten Revolution lebte trotz alledem weiter. Wie lange der Weg zur Wiedergewinnung einer demokratischen Grundlage des politischen Lebens währte, zeigt das Datum 1907 für die Einführung des allgemeinen und gleichen (Männer-) Wahlrechts für den cisleithanischen Reichsrat. Den Kampf um das Wahlrecht im Sinne der Achtundvierziger hatte die österreichische Sozialdemokratie seit ihrer Gründung in der liberalen Ära auf ihre Fahnen geschrieben - gegen das Besitzbürgertum, das sich im Zensussystem behaglich eingerichtet hatte. Diese Rückbindung der Arbeiterbewegung an das Jahr 1848 war theoretisch noch von den vertriebenen Demokraten vollzogen worden. Der an Lorenz von

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Steins Gesellschaftslehre geschulte und auch vom Kreis der Londoner Emigranten um Karl Marx beeinflußte Jurist und radikale Demokrat Dr. Ernst von Violand war es, der in seiner 1850 erschienenen „Socialen Geschichte der Revolution in Österreich" diese Beziehungen aufzeigte und zum politischen Programm der „socialen Demokratie" formte: „Die Demokratie ist, solange man nichts Besseres kennt, um die Idee des Staates vollkommen zu realisieren, die beste, ja solange man an der Erreichung des Strebens der socialen Demokratie zweifelt, die allein rechtliche Regierungsform. (...) Aber auch die demokratische Republik ist nicht imstande, die Idee des Staates vollkommen zu verwirklichen und die Abhängigkeit der Minorität von der herrschenden Majorität der Gesellschaft aufzuheben, demnach geht das Bestreben der sogenannten socialen Demokratien dahin, mittelst einer Dictatur jedes Privilegium abzuschaffen und da die Arbeitskraft in der Regel gleichmäßig verteilt ist - die die Arbeit beherrschende Macht des Kapitals zu brechen. Gelingt es ihr, dies durchzusetzen, dann, meinen die socialen Demokraten, lasse sich leicht die Demokratie herstellen und die Idee des Staates erfüllen, da der Unterschied zwischen der herrschenden und beherrschten Klasse oder eigentlich das sich sonst dem Staat entziehende Mittel der Ausbeutung des einen durch den anderen Teil hinweggeräumt ist. Dieses Streben mir seiner sittlichen Berechtigung wird jedenfalls der Kampf der Zukunft, und zwar vor allem in Frankreich, sein. Ja er hat schon begonnen und seine erste Schlacht im Juni des Jahres 1848 zu Paris geführt. Wenn auch besiegt, rüsten sich doch die sozialen Demokraten, von der Idee des Rechtes begeistert, mit ihrem darniedergetretenen ungeheuren Anhang der ausgebeuteten Besitzlosen zu neuem erbittertem Kampf. " In merkwürdiger Weise ist dieser in seiner Heimat zum Tode verurteilte Revolutionär, der in den Vereinigten Staaten in bitterer Armut 1875 starb, wie seine Kollegen im konstituierenden Reichstag mit gegenwärtig geltendem Verfassungsrecht der Republik Österreich verbunden. Violand gehörte nicht nur mit seinen Gesinnungsgenossen von der Linken, Dr. Adolf Fischhof und Dr. Josef Goldmark, seit dem 2. August 1848 dem Konstitutionsausschuß des Reichstages an, sondern wurde auch tags darauf in die Dreierkommission zur Beratung der Grundrechte gewählt. Hier waren der prominente tschechische Politiker Franz Ladislaus Rieger, Palackys Schwiegersohn, und der Deutschschlesier Franz Hein, beide von der Rechten des Hauses, seine Partner. Es zeigte sich, daß trotz Meinungsverschiedenheiten die Einigung auf einen radikal-liberalen Katalog der Bürgerrechte mit demokratischer Akzentsetzung möglich war. Dank seiner hervorragenden juristischen Schulung und seiner konsequenten Logik konnte Violand seine Vorstellungen gegenüber den konservativen Kollegen weitgehend durchsetzen. Der schon am 18. August präsen-

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tierte erste Entwurf, der sich an die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution anschloß und den Frankfurter Grundrechtsentwurf rezipierte, verkündete die „gleichen, angeborenen und unveräußerlichen Rechte" aller „frei geborenen" Menschen - die Privilegienordnung sollte für immer gebrochen werden. Das Volk ist souverän: „Die Regierung besteht nur durch die Autorität desselben und zu seinem Wohle." Damit war das Gottesgnadentum des Herrscheramtes verworfen. Mit der Abschaffung des Adels und der Fideikommisse, der Aufhebung der Todesstrafe und der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht waren wichtige, in die Zukunft weisende Ansätze gegeben. Wohl mußte § 1 des Verfassungsentwurfes unter dem Druck der Regierung zurückgenommen werden. Er hatte gelautet: „Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus und werden auf die in der Konstitution festgesetzte Weise ausgeübt. " Gerade der Widerstand der Regierung gegen demokratische und liberale Kräfte bewirkte aber auch, daß sich deutsche und slawische Volksvertreter von der Linken und von der Rechten in dem nach Kremsier verlegten Reichstag auf eine Verfassung einigen konnten, die ein Bauplan für eine demokratisch verjüngtes Österreich hätte werden können. Die einhellige und feierliche Annahme dieses Entwurfes im Plenum war für den 15. März 1849 (der Jahrestag des kaiserlichen Konstitutionsversprechens) bereits akkordiert, als das Militär am 7. März den Reichstag besetzte und die Regierung Schwarzenberg ihre vom 4. März datierte Verfassung oktroyierte, die hinter den Parlamentarismus des Kremsierer Entwurfes zurückging und ein in wesentlichen Punkten reduziertes konstitutionelles Modell präsentierte, das niemals ins Leben trat und auch formal mit dem Silvesterpatent von 1851 zugunsten des neoabsolutistischen Kurses kassiert wurde. Über die allgemeinen demokratischen Prinzipien hinaus hatte Kremsier noch einen für das österreichische Reichs- und Nationalitätenproblem spezifischen Paragraphen vorgesehen: „Alle Volksstämme des Reiches sind gleichberechtigt. Jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität überhaupt und seiner Sprache insbesondere. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate gewährleistet." Darüber hinaus sah der Verfassungsentwurf eine Kreisgliederung der historischen Länder nach nationalen Kriterien vor und stellte ein Schiedsgericht für nationale Angelegenheiten in Aussicht. Die Verrechtlichung des Kampfes der Nationen um den Staat, der 1848 in vielfältigen Konflikten aufgebrochen war, war das große Thema der österreichischen Konstituante. Der Anwendung demokratischer Prinzipien auf die nationalen Fragen, die ja nicht wie in der politischen Demokratie durch Mehrheitsentscheidungen

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lösbar sein können, blieb die praktische Erprobung versagt. In den späteren Versuchen des ersten Wortführers der Wiener Märzrevolution Dr. Adolf Fischhof, dem österreichischen Staat als einer Föderation seiner Völker neuen Inhalt, Sinn und Zukunft zu geben, wie in den Konzepten der österreichischen Sozialdemokratie (Brünner Nationalitätenprogramm 1899: „Österreich ist umzubilden in einen demokratischen Nationalitäten-Bundestaat") und Dr. Karl Renners theoretischen Schriften lebte das Erbe der demokratischen Revolution von 1848/49 fort. Die so widerspruchsvolle, von schwersten Rückschlägen begleitete Entwicklung konstitutionellen Lebens in der Habsburgermonarchie hat dazu geführt, daß der Grundrechtskatalog der 48er-Revolution kaum verändert - da unter großem politischen Zeitdruck - als „Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger" vom 21. Dezember 1867 rezipiert wurde. Diese so typisch österreichische Improvisation fand eine Fortsetzung in der Republik. Da die politische Situation der Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen zu Beginn der Ersten Republik eine fundamentale Diskussion der Grundrechte im Interesse einer gemeinsamen Verfassungsfindung für die junge Republik nicht tunlich erscheinen ließ, entschloß man sich kurzerhand zur Übernahme des Katalogs von 1867, somit letztlich für die Grundlagenarbeit der Verfassungsschöpfer von Wien und Kremsier 1848/49. Was blieb sonst von 1848 außer enttäuschten Hoffnungen? Friedrich Hebbel sagte lange vor 1848 die bittere Wahrheit: „Wenn eine Revolution verunglückt, so verunglückt ein ganzes Jahrhundert, denn dann hat der Philister einen Sachbeweis." Dennoch: Die unwiderrufliche Vernichtung der sozialen Grundlagen des Feudalismus eröffnete den Völkern der Donaumonarchie den Weg in die bürgerliche Gesellschaft. Die 1848 erstmals ins Bewußtsein getretenen Probleme sollten auf einer höheren Entwicklungsstufe immer wieder gestellt werden. Die Revolution von 1848 schuf nicht nur die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, sondern zeigte auch die mir ihr verknüpften Konflikte und Gefährdungen auf. In einer seiner Denkschriften sprach der bedeutendste österreichische Wirtschaftspolitiker des 19. Jahrhunderts, Minister Carl Ludwig von Bruck, im Rückblick auf die Revolution von dem „dunklen Strich von 1848", hinter den man nicht mehr zurückgehen könne, „weil die Bedingungen des Güterlebens, der Geldwirtschaft, des Kapitals, die volkswirtschaftlichen Verhältnisse, das erstarkte Bürger- und Bauerntum solches nicht mehr erlauben". Das Sturmjahr hatte zunächst durch die Abschüttelung der feudalen Lasten der Entfaltung der kapitalistischen Wirtschaft - freilich unter der bürokratisch-zentralistischen Herrschaft des Neoabsolutismus - den Weg gebahnt,

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darüber hinaus aber hatte es das Programm der Demokratie und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit auf die Tagesordnung gesetzt. 1848 bezeichnete in der Tat, wie der demokratische Publizist Andreas von Stifft damals schrieb, „den Anfang eines Kampfes, der die Welt durchzieht". „Ideen können nicht erschossen werden", sagte der am 23. November 1848 kriegsrechtlich erschossene Hermann Jellinek vor seinem Tod - ein Wort, das seine Gültigkeit nie verlieren wird. Die Wiener Arbeiter und Handwerker und jene Studenten und Demokraten, die sich auf ihre Seite stellten, waren, wie Ferdinand Freiligrath in seinem Gedicht „Die Toten an die Lebenden" die Gefallenen der Pariser Junischlacht nannte, wahrhaft die „siegenden Geschlagenen" der Revolution. Den Ideen der Hingerichteten, Eingekerkerten, Verfolgten und Geächteten und nicht den über die Niederwerfung der Revolution triumphierenden alten und neuen Mächtigen sollte die Zukunft gehören. Literatur Bach, Maximilian: Geschichte der Wiener Revolution im Jahre 1848. Wien 1898. Brauneder, Wilhelm: Leseverein und Rechtskultur. Der juridisch-politische Leseverein zu Wien 1840-1990. Wien 1992. Bürgersinn und Aufbegehren. Biedermeier und Vormärz in Wien 1815-1848. Katalog der 109. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien. Wien 1988. Czeike, Felix (Hrsg.): Wien im Vormärz. Wien/München 1980. Größing, Helmut: Der Kampf um Wien im Oktober 1848. Wien 1973. Häusler, Wolfgang: Das Gefecht bei Schwechat am 30. Oktober 1848. Wien 1977. - Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848. München 1979. Hauch, Gabriella: Frau Biedermeier auf den Barrikaden. Frauenleben in der Wiener Revolution 1848. Wien 1990. Jaworski, Rudolf / Luft, Robert (Hrsg.): 1848/49. Revolutionen in Ostmitteleuropa. München 1996. Kiszling, Rudolf: Die Revolution im Kaisertum Österreich. 2 Bde., Wien 1948. Klete&a, Thomas (Hrsg.): Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848-1867. I. Abt.: Die Ministerien des Revolutionsjahres 1848. Wien 1996. Mellach, Kurt: 1848. Protokolle einer Revolution. Wien, München 1968. Niederhauser, Emil: 1848. Sturm im Habsburgerreich. Wien 1990. Reschauer, Heinrich / Smets, Moritz: Das Jahr 1848. Geschichte der Wiener Revolution. 2 Bde. Wien 1876. Rumpier, Helmut: Eine Chance für Mitteleuropa. Bürgerliche Emanzipation und Staatsverfall in der Habsburgermonarchie. Wien 1997. Steiner, Herbert: Karl Marx in Wien. Die Arbeiterbewegung zwischen Revolution und Restauration 1848. Wien, München, Zürich 1978.

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Valentin, Veit: Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849. 2 Bde., Berlin 1930/31. Violand, Ernst: Die soziale Geschichte der Revolution in Österreich 1848. Hrsg. v. Wolfgang Häusler. Wien 1984. Zenker, Ernst Victor: Die Wiener Revolution in ihren socialen Voraussetzungen und Beziehungen. Wien, Pest, Leipzig 1897.

Faschismus versus Totalitarismus Der Faschismus in Italien

Von Angelica Gernert

Benito Mussolinis glorifizierter 'Marsch auf Rom' am 28. Oktober 1922 gilt als das historische Datum, das den Beginn des faschistischen Zeitalters markiert, und zwar nicht nur in Italien: vielmehr wurde diese theatralische Masseninszenierung gerade auch wegen ihres Symbolcharakters zum Vorbild und Wegbereiter für nationalistische Diktaturen in Europa. Abgeleitet vom historisch-authentischen italienischen „Fascismo" versteht man unter Faschismus heute im engeren Sinne die Epoche der italienischen Geschichte vom Ende des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, im weiteren, wissenschaftlich jedoch unpräzisen Sinne aber auch jedes national ausgerichtete totalitäre politische System. Zumeist von revolutionären Bewegungen begründet, definiert sich deren Selbstverständnis nicht nur als tragfähige gesellschaftliche Zukunftsperspektive, sondern vor allem auch als „Gegenbewegung" gegen kommunistische, sozialistische oder liberal-demokratische Gesellschaftsordnungen. Dabei besaß der italienische Faschismus als die zeitlich früheste Form einer revolutionär-reaktionären Diktatur, nicht nur eine Vorbildfunktion, sondern stellte auch den Normaltyp dar. Führer der italienischen Faschisten war der ehemalige Sozialist Benito Mussolini, der 1919 eine Reihe, politisch keineswegs einheitlicher sozialer Protestgruppen als Kampfbund, als „fascio di combattimento" zusammenfaßte. Als politische Partei ab 1922 organisiert, verwandelte die „Partito Nazionale Fascista (PNF)" Zug um Zug den liberalen demokratischen Staat bis hin zur imperialistischen Diktatur. Im Gegensatz zu den ideologiebezogenen Termini Sozialismus, Kommunismus, Liberalismus und Konservatismus ist Faschismus (Bündlertum) wenig aussagekräftig in bezug auf Geist und Ziele der Bewegung. Über die Herrschafts-Emblematik der „fasces", der mit dem Beil bewehrten Rutenbündel der

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römischen Liktoren, verwies Mussolini schon früh auf die Tradition des Römischen Imperiums und auf die staatstragende Bedeutung der Exekutive. Das zentrale Problem in der Faschismusforschung ist das Kontinuitätsproblem: in Italien versucht man unter dem Begriffspaar „Risorgimento und Faschisnus" das Verhältnis der traditionellen gesellschaftlichen Kräfte zur faschistischen Bewegung zu klären. Während die Konservativen (Benedetto Croce) den Faschismus als vorübergehende Krankheit zu entschuldigen suchten, den Duce dämonisierten und für diesen „Betriebsunfall" in der italienischen Geschichte verantwortlich machten, erklärte die liberal-demokratische Position den Fall in die Diktatur als „rivelazione", als Enthüllung der Strukturdefizite der verspäteten Nation. Die Marxisten erkennen darüberhinaus gerade auch im italienischen Faschismus die Konsequenz des Kapitalismus. Sie verweisen auf die führende Rolle der „Padroni del vapore", auf die Kontinuität der alten sozialen Hierarchie und sprechen dem Faschismus die Dynamik einer sozialen Bewegung ab; Mussolini verliert in ihren Augen jegliche politische Führungsqualität. Für die Italiener war der Faschismus von Anfang an kein Schreckgespenst. Weder die faschistische Revolution noch der Faschismus insgesamt wurden als Bruch in der eigenen Geschichte empfunden; vielmehr schien er an den ruhmreichen Patriotismus des Risorgimento anzuknüpfen. Man fühlte sich an die Dynamik der Aktionen Garibaldis und seiner Freischärler, an die berühmte „spedizione dei mille" erinnert. Mit ihrem Marsch auf Rom im Oktober 1922 beziehen sich die Faschisten dezidiert auf den mythisch verklärten Marsch auf Rom Garibaldis im Oktober 1867. Die sorgfältig vorbereitete, keineswegs spontane, geschickte Masseninszenierung sucht sich damit nicht nur in die eigene Nationalgeschichte einzubinden, sondern auch als demokratische Volksbewegung zu legitimieren. Mussolini nutzte einen Moment allgemeiner politischer Führungsschwäche, um den Faschismus erfolgreich als rettende Alternative zur Unbeweglichkeit und Schwäche des liberalen Staates darzustellen. Italien ist - wie Deutschland - eine „verspätete Nation". 1861 konstituiert, wurde Rom erst 1870 zur Hauptstadt eines geeinigten italienischen Nationalstaates. Die Führungsrolle in diesem Nationalstaat kam unbestritten dem liberalen Bürgertum zu, das jedoch kein Interesse am Ausgleich des gravierenden demokratischen Legitimitätsdefizits besaß; der Staat wurde letztlich nur von einem sehr schmalen Konsens getragen: Die Zahl der Wahlberechtigten erreichte nach

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anfänglich kaum mehr als 2 % (1861) trotz der Wahlrechtsreform Giovanni Giolittis im Jahre 1912 gerade einmal 23 %. Nachteilig wirkte sich aber auch im geeinten Königreich die starke regionale Entwicklungsdiskrepanz aus zwischen dem industrialisierten innovationsfreudigen Norden und dem eher rückständigen agrarischen Süden. Durch die außenpolitisch motivierte Förderung der Schwerindustrie im Norden verstärkte man auch dieses Strukturdefizit so nachhaltig, daß es Italien bis zum heutigen Tag nicht gelungen ist, einen einheitlichen und ausgewogenen Wirtschaftsraum auszubilden. Politisch versuchte man den Graben in der italienischen Gesellschaft zwischen den industriellen Eliten des Nordens und den agrarischen des Südens durch einen völlig eigenen Weg zu lösen, durch den sogenannten „trasformismo". Der Begriff umschrieb eine Regierungstechnik, die versuchte, durch vorherige Harmonisierung der verschiedenen politischen Meinungen, im Prinzip eine Opposition gar nicht erst aufkommen zu lassen. Trasformismo war eine personalorientierte Regierungspolitik, die stets auf politische Zusammenarbeit und politischen Kompromiß abzielte. So bildete Italien lange Zeit kein pluralistisch-demokratisches System aus. Die aus dem Trasformismo resultierende Reformunfähigkeit wuchs mit der Bevölkerungsexplosion zu einem vom System nicht mehr steuerbaren Problem, weil aus sozialistischen und katholischen Massenprotesten eine breite soziale Bewegung entstand. Der zunehmenden Radikalisierung bei den Wahlen von 1897 und den Hungerrevolten von 1898 folgten Streikwellen, die vornehmlich von den Landarbeitern getragen wurden und im Generalstreik von 1904 und einer offensichtlichen Polarisierung in der Gesellschaft gipfelten. In den folgenden Jahren bis 1914 gelang es zwar durch die politische und soziale Reformpolitik Giolittis, die innerstaatliche Situation vorübergehend zu beruhigen; von politischer Stabilität konnte jedoch keine Rede sein: immerhin wurden im Königreich bis zum Machtantritt Mussolinis 59 Kabinette verschlissen. Gian Enrico Rusconi hat den Faschismus als Versuch interpretiert, „die Italiener wenn nötig mit Gewalt und Stockschlägen in eine Nation und ein Volk zu verwandeln". Und in der Tat gelang es den Faschisten, durch die Überbetonung des Nationalgedankens einen neuen gesamtitalienischen Konsens herzustellen, sowohl Mazzini als auch Garibaldi als Vorläufer Mussolinis erscheinen lassen, ihren Faschismus insgesamt als Höhepunkt und Erfüllung der eigenen 20*

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Nationalgeschichte darzustellen. Erst ihm gelang mit seinem sozial-revolutionären Programm eine Nationalisierung der Massen. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sahen sich die Patrioten um die vermeintlich gerechten Früchte des mit großen Verlusten erzielten Sieges betrogen. Daher konnte der auf Garibaldi und Mazzini zurückgehende Irredentismus gerade auch für die innenpolitische Stabilisierung funktionalisiert werden. Denn das Nachgeben der Regierung gegenüber den Aliierten, der Verzicht auf Dalmatien, stieß in der Bevölkerung auf völliges Unverständnis; die militärische Lösung des Fiume-Problems empfand die Mehrheit der Italiener mit Ausnahme der Sozialisten als Verrat der Regierung gegenüber dem eigenen Volk. Das Bürgertum und die Oberschichten fanden sich im gleichen Boot mit den nationalistisch eingeschwenkten Faschisten, tolerierten und unterstützten sie, um die vermeintlich drohende sozialistische Revolution zu neutralisieren und eine weitere Demokratisierung Italiens zu verhindern. So feierte die bürgerliche Presse die faschistische Expansion seit 1921 als Wiederherstellung des Bürgertums und die liberale Regierung versuchte, getreu der Praxis des Trasformismo, zu integrieren und den Faschismus als Alternative zum Sozialismus zu instrumentalisieren. Die Keimzellen des Faschismus, die sogenannten „Fasci di combattimento", bestanden aus Kriegsveteranen, ehemaligen Sozialisten, revolutionären Syndikalisten, Republikanern und sogar einer intellektuellen Bohème; sie boten Identifikationsmöglichkeiten sowohl für die gemäßigte Linke als auch für die patriotische Rechte, indem sie sich einerseits in die Tradition der frühen Arbeiterbewegung und andererseits in die der risorgimentalen Freischärler Garibaldis stellten. Emotionalisierung der Getreuen, charismatisches Führerprinzip und die faschistischen Rituale waren schon durch den Dichter und Nationalhelden Gabriele D'Annunzio ausgebildet worden. Die Absicht, das diffuse kämpferische Gemeinschaftsgefühl einer kleinen Gruppe, einer Squadra, in einer Art Schneeballeffekt auf die Masse zu übertragen, konnte nur auf der Basis von skrupellosem Aktionismus nach dem Vorbild D'Annunzios gelingen. Dagegen setzte Mussolini mit seinen im März 1919 gegründeten „Fasci italiani di combattimento" lediglich auf die Unzufriedenheit der Masse, doch das Konzept mit einer Antipartei, mit einer „universalen Ersatzpartei für die Parteien der Nachkriegszeit" zu einer politischen Kraft zu werden, hatte keinen Erfolg. Erst durch die Niederlage D'Annunzios, der künftig als Hoffnungsträger für die bürgerliche Rechte ausfiel, bot sich dem bis dahin glücklosen Mussolini die Chance, in dieses Machtvakuum hineinzustoßen. Er erhielt Schützenhilfe durch Giolitti, der mit einer entgegenkommenden Wahlrechtsänderung die Faschisten

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zu integrieren suchte und ihnen bei der Parlamentswahl am 15. Mai 1921 immerhin zu 35 Mandaten verhalf. Nunmehr zwang Mussolini den lockeren Verbund seiner Fasci in das Korsett einer nationalen Parteiorganisation und bekämpfte im Sinne einer stringenten Machtpolitik die Sozialisten als Mitkonkurrenten um das Erbe des liberalen Staates. Mit Billigung des Großbürgertums agierten seine Squadre dabei auch außerhalb der politischen und legalen Auseinandersetzung. Von der Bevölkerung wurde daraufhin der neuen PNF (Partito Nazionale Fascista) Stärke und Machtfülle unterstellt. Klug vermied es Mussolini, zu früh die Machtfrage zu stellen und sich damit einer die tatsächlichen Machtverhältnisse entlarvenden Wahl zu stellen; stattdessen inszenierte er, höchstwahrscheinlich nach Absprache mit D'Annunzio, seinen Marsch auf Rom. Er war bei weitem nicht die Massenbewegung, die Abstimmung der Mehrheit der Bevölkerung mit den Füßen, als die sie im Nachhinein ausgegeben wurde, und das riskante Unternehmen eines Staatsstreiches gelang nur, weil entscheidende Verteidigungsmechanismen des Staates lahmgelegt worden waren. Ob nun durch Desorganisation oder Mißverständnisse oder durch bewußte Manipulationen - trotz intensiver Forschung bleibt hier das Feld der Spekulation überlassen -; der Widerstand der rechtmäßigen Regierung blieb jedenfalls aus, und so konnte der König die faschistische Revolution ohne Gesichtsverlust legalisieren und Mussolini zum Regierungschef ernennen. Renzo De Feiice entlarvte mit seinen grundlegenden Forschungen alle bisherigen Statements über die Ursachen für die Entstehung des italienischen Faschismus als ideologiebefangen und als historisch inadäquat. Mussolini war kein Dämon, und fataler als die demokratischen Strukturdefizite des liberalen Staates waren schlicht die wirtschaftlichen Probleme des Landes: die immensen Kriegsinvestitionen ließen sich nicht durch entsprechenden Zugewinn kompensieren und die Umstrukturierungen von einer hochkonjunkturellen Kriegswirtschaft in eine gemäßigte Friedenswirtschaft verliefen keineswegs reibungslos. Der im Krieg hochgeputschte Patriotismus stellte zudem ein gravierendes massenpsychologisches Problem dar, dessen Brisanz die zumeist intellektuellen und aus dem Bürgertum stammenden Politiker gefährlich unterschätzten. Schließlich überschnitten sich vielfach die Interessen von Kapital und Faschismus, denn man sah den gemeinsamen Feind in den Sozialisten und den Gewerkschaften sowie in den Kommunisten und der 3. Internationale. Doch ist es völlig absurd zu unterstellen, man hätte damals schon den liberalen Staat schwächen, abschaffen und am Ende durch einen totalitären Staat ersetzen wollen.

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Wenn man es schon auf einen historischen Nenner bringen will, so muß man festhalten, daß der Eintritt Italiens in den Ersten Weltkrieg im Jahre 1915 und die propagandistisch damit untrennbar verbundene Risorgimento-Mythographie entscheidend für die Entstehung und den Aufstieg des italienischen Faschismus gewesen ist. Mussolini sollte im Rahmen des vorgegebenen Systems erklärtermaßen eigentlich nur die zerrütteten Staatsfinanzen sanieren, um damit eine neue Basis für die nationale Wirtschaft zu schaffen. Jedem, der etwas von Geld und Wirtschaft versteht, war klar, daß dazu klare Mehrheiten und eine Akzeptanz-Bereitschaft für härteste soziale Schnitte in der Bevölkerung unabdingbare Voraussetzungen bildeten. Um diese zu erreichen, war eine Mischung aus charismatischer Führung und gnadenloser sozialer Kontrolle erforderlich; Gabriele D' Annunzio und Benito Mussolini kannten diese Führungsstrategie von ihrer eigenen Fronterfahrung. Sofort nach seiner Ernennung zum Ministerpräsidenten ließ sich Mussolini für die Dauer eines Jahres völlig legal mit außerordentlichen Vollmachten ausstatten (25.11.1922) und gab seinen Squadre einen offiziellen Status als „Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale" (MVSN), deren Position und Aufgabe er als „Guardia armata della rivoluzione fascista" definierte. Daneben gründete und institutionalisierte er den Faschistischen Großrat, ein neues Verfassungsorgan, das sich das Recht zur Ratifizierung der Thronfolge reservierte. Basis und repräsentative Spitze des Staates waren somit zufriedengestellt und kontrolliert. Die Nationalisten ließen sich in die PNF integrieren, zumal da man sofort danach mit der Italianisierung Südtirols begann. Und noch vor Ablauf dieses ersten Jahres nutzte Mussolini schließlich seine außerordentlichen Vollmachten, um ein neues Wahlgesetz zu erlassen, demzufolge die Partei mit der relativen Mehrheit von wenigstens 25% der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate erhalten sollte (Legge Giacomo Acerba). Alle diese Maßnahmen hielt man weder für anrüchig noch für illegitim, auch wenn sie die Machtverhältnisse zugunsten der Faschisten stabilisieren sollten. Bei den Parlaments wählen vom 6. April 1924 erhielt die PNF dementsprechend 65% der Stimmen und 365 Mandate, während sich die Oppositionsparteien mit 35% der Stimmen und 147 Mandaten zufrieden geben mußten. Damit war das erste Ziel, die Herstellung einer handlungsfähigen Regierung mit komfortabler 2/3 Mehrheit, erreicht; nun hätte man sich an die finanzielle Sanierung des Staates machen und versuchen können, die Gebietsansprüche

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Italiens im Bereich der Adria gegenüber den Aliierten durchzusetzen, auch ohne den Schritt zum Totalitarismus folgen lassen zu müssen. Es ist nun ein nicht vorhersehbares und in dieser Form eher nicht geplantes Ereignis, das man als Ursache für die dann folgende Umgestaltung zu einer faschistischen Diktatur erkennen darf: Aufgehetzt von der eigenen Propaganda, griff ein faschistisches Kommando, die „CEKA del Viminale" zur Selbstjustiz: es entführte am 10. Juni 1924 den sozialistischen Abgeordneten Giacomo Mateotti und ermordete ihn. Mateotti hatte gewalttätige Übergriffe von faschistischen Rollkommandos im Wahlkampf angeprangert und versucht, das Wahlergebnis, wenn nicht anzufechten, so doch wenigstens zu diffamieren. Dieser politische Mord stürzte den Faschismus in eine schwere Krise. Mussolini zog sich aus der Öffentlichkeit weitgehend zurück, wartete ab, grübelte und entschloß sich nach gut einem halben Jahr zur Flucht nach vorn in die Diktatur. In einer denkwürdigen Rede am 3. Januar 1925 kündigte er die Unterdrückung jeglicher Opposition an; in der Folge wurden antifaschistische Organisationen aufgelöst, ihre Führer verhaftet und ihre Zeitungen unterdrückt. Am 24. Dezember 1925 regelte ein Gesetz die Befugnisse des Capo del Governo, d.h. Mussolinis, das ihn mit fast unbeschränkter Führungsgewalt ausstattet. Wenig später, am 31. Januar 1926, berechtigte ein Gesetz die Regierung, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen. Am 3. April 1926 wurde die Tarifautonomie durch das Gesetz über die kollektiven Arbeitsbeziehungen aufgehoben. Um alle diese Dekrete und Gesetze durchsetzen zu können, stärkte Mussolini die Exekutive, stattete den Präfekten mit Entscheidungsbefugnissen vor Ort aus, die ganz im Sinne Mussolinis auch gegenüber der Partei wirksam sein konnten, und verhinderte so einen für ihn nicht mehr kontrollierbaren Parteienklüngel. A m 6. April 1926 vollendete er diese Umgestaltung des Staates mit der Abschaffung der Bürgermeisterwahlen; stattdessen ernannte er den Podestà. Das Schema verdeutlicht die Entmachtung des Parlaments, die totale Dominanz der Legislative durch den Capo del Governo. Die Ämtervergabe im Bereich der Exekutive an verdiente und ausgesuchte Parteigenossen förderte nicht nur die gegenseitige Kontrolle an der Basis, sondern schuf auch ein persönliches, ein immediates Vertrauensverhältnis. Am 25. November 1926 krönte und zementierte Mussolini diesen kaum zwei Jahre dauernden und Schritt für Schritt legalisierten Prozeß der Errichtung des totalitären Staates mit dem Gesetz zum Schutz des Staates. Der parlamentarischen Opposition, ohnehin faktisch ohne jeden Einfluß, wurden die Mandate aberkannt: sie verlor ihre institutionelle Existenz. Der Einparteienstaat wurde polizeistaatlich abgesichert durch den „ O V R A " , den „Organo di Vigilanza e Repressione dell' Antifascismo" (Organ

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für Wachsamkeit und zur Unterdrückung des Antifaschismus) und durch ein spezielles Gericht, die „Tribunale speciale per la difesa dello Stato". Ebenfalls 1926 wurde die Einheitsgewerkschaft mit der Gründung der „Ceta del Lavoro" ('Arbeitskammer') institutionalisiert. Der totalitäre Staat kümmerte sich aber nicht nur um die arbeitende Bevölkerung, sondern auch um die Rentner und Pensionäre ( „ O N D " , „Opera Nazionafe Dopolavoro"), um Frauen und Kinder ( „ O N M I " , „Opera Nazionale di Maternità e Infanzia") und v.a um die Indoktrination der Jugend („ONB", „Opera Nazionale Balilla"). Über das ganze Jahr wurden neue Festtage institutionalisiert; es entstand eine Kultur der Militarisierung des Volkes. Die totale Führung des Lebens im faschistischen Staat brachte Mussolini in seinem Artikel in der Enciclopedia Italiana auf den Punkt: Der Faschismus „nato senza un programma preciso" (ohne präzises Programm entstanden) sei geradezu „una concezione spiritualistica, etica e religiosa del mondo" (zu einem geistigen, ethischen und religiösen Konzept geworden), „che concepisce la vita come lotta" (das das Leben als Kampf versteht)." Den umfassenden kulturell-religiösen Anspruch machte auch die Änderung der Zeitrechnung am 27. Oktober 1927 sinnfällig: am 29. Oktober 1929 begann das VI. Jahr der faschistischen Ära und man schrieb nicht mehr das Jahr nach Christus. Um einen dauerhaften faschistischen Staat zu errichten, mußte sich Mussolini vor allem aber mit der Katholischen Kirche aussöhnen, und zwar ohne den im Risorgimento annektierten Kirchenstaat zu restituieren. Mit den Lateran-Verträgen vom 11. Februar 1929 gelang ihm auch das. Die folgenden Phasen, 1929-1936 und 1936-1940 bezeichnet Renzo De Feiice als „Gli anni del consenso" (Die Jahre des Konsenses) und als „Lo stato totalitario" (Der totalitäre Staat). Nachdem jegliche politische Opposition ausgeschaltet und die Kirche in den Nationalstaat integriert war, brauchte man endgültig keine Parteien und eben auch kein Parlament mehr, da es unterschiedliche politische Meinungen im Staat offiziell nicht mehr gab. Zug um Zug bereitete man die Auflösung der Camera dei Deputati vor ; am 19. Januar 1939 trat an ihre Stelle die „Camera dei Fasci e delle Corporazioni". Der „Gonsiglio Nazionale delle Corporazioni" (Die 22 corporazioni waren, vergleichbar den mittelterlichen Zünften, die in Wirtschaftskammern und ständischen Vereinigungen organisierten Berufsgruppen), gesetzlich kodifiziert am 15. Januar 1934, ging in dieser neuen Kammer auf und verlor damit den letzten Rest an Eigenständigkeit gegenüber der Partei und dem Duce. Schon bei den Parlamentswahlen 1929 und 1934 gab es nur

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noch die Einheitsliste der PNF mit 400 vom „Gran Consiglio Fascista" ausgewählten Parteimitgliedern; der Wähler konnte lediglich zustimmen und ablehnen. 98,3 % der Wähler fanden das in Ordnung. De facto standen also seitdem der Regierung als virtuelle Kontrollorgane anstelle des Parlaments eine Art immerwährender Parteitag und eine Art nationaler Wirtschaftskammer gegenüber. Mussolini hatte sein erstes Ziel, die politische Umgestaltung Italiens mit den Lateranverträgen erreicht. Nunmehr, auf der Basis umfassender Zustimmung, ließ er sich als „Duce" feiern, war gewissermaßen der eigentliche König Italiens und übernahm folgerichtig bei Kriegseintritt im Jahre 1940 auch den militärischen Oberbefehl. Vittorio Emanuele III., zu einer politischen Marionette degeneriert, blieben nur noch repräsentative Funktionen. Der militaristische Kern des Faschismus trat nun offen zu Tage. Mit dem „Führer-Kult" spielte man nicht nur rühmend auf den geistigen Führer des faschistischen Italien an, sondern auch auf den nun angesetzten Cäsarismus bzw. Imperialismus. Innenpolitisch gefestigt konnte das faschistische Italien nun versuchen, seine wirtschaftlichen Ambitionen zu realisieren, um in Europa endlich eine gleichwertige Rolle neben Frankreich und Großbritannien und nach 1933 auch neben Deutschland zu spielen. Die wirtschaftlichen Probleme ließen sich mit Hilfe der nationalen Wirtschaftskammer steuern, selbst die Weltwirtschaftkrise überstand man ohne größeren Schaden. Impulse konnten jedoch im totalitären Staat von diesem Organ nicht ausgehen, und so mußte man 1933 das „Istituto per la Ricostruzione Industriale (IRI)" gründen, das mit Hilfe einer staatlich initiierten Rüstungswirtschaft den gewünschten Konsolidierungserfolg erzielte. Angesichts der weltweiten Probleme waren Großbritannien und Frankreich nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland an dem von Mussolini vorgeschlagenen Viererpakt interessiert, der eine erste greifbare Anerkennung des faschistischen Italiens als europäischer Partner brachte und somit den Einstieg in die folgende, vornehmlich auf vorsichtigen diplomatischen Strategien aufgebaute Außenpolitik markiert. Deren Zielrichtung war kein Geheimnis: mit der Annektion Dalmatiens und Albaniens sollte das Risorgimento endlich vollendet und der gesamte ostmittelmeerische Raum und die Suez-Schiffahrtsstraße unter italienische Kontrolle gebracht werden. Damit wäre zwar nicht der Besitz, aber doch wenigstens der ungehinderte Zugang zu den Rohstoffen für die italienische Industrie gesichert gewesen.

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Im Gegensatz zum nationalsozialistischen Deutschland war der italienische Imperialismus lediglich wirtschaftlich ausgelegt und wollte nicht etwa die faschistische Staatsideologie exportieren oder gar im Sinne des Sozialismus eine Weltherrschaft ansteuern. So stand die Achse „Berlin-Rom" keineswegs auf der Wunschliste Mussolinis, und das erste Treffen zwischen dem Duce und dem Führer am 14./15. Juni 1934 in Venedig verlief eher kühl. Mussolini paktierte jedenfalls noch nicht mit Hitler, auch um sich die Westmächte zu verpflichten, seinen ersten imperialistischen Schritt zu tolerieren. Ein Jahr später marschierten italienische Truppen in Abessinien (=Äthiopien) ein. Die neue Präsenz Italiens am wichtigsten Handelsweg Europas nach Asien hätte gewaltige Irritationen auslösen können, doch es blieb bei letztlich halbherzigen Sanktionen durch den Völkerbund, die noch dazu von Deutschland unterlaufen wurden; so konnte Vittorio Emanuele III am 9. Mai 1936 den Titel des Kaisers von Äthiopien annehmen. Die vorsichtige Annäherung Italiens und Deutschlands, gefördert von der deutschen Wirtschaftshilfe während der Abessinienkrise, setzte sich im gemeinsamen Engagement im spanischen Bürgerkrieg in der zweiten Hälfte des Jahres 1936 fort. Mit dem Deutsch-Italienischen Vertrag vom 25. Oktober 1936, der die sog. Achse Berlin-Rom begründete, regelte man untereinander die Abgrenzung der wirtschaftlichen Interessensphären in Südosteuropa. Um diesen Schritt zu entschärfen vereinbarte Mussolini mit Großbritannien am 2. Januar 1937, den Status Quo im Mittelmeerraum zu respektieren, und schloß mit Jugoslawien am 25. März 1937 einen Nichtangriffspakt. Eine solche diplomatische Politik war zwar sehr klug, ließ sich aber in einem totalitären Staat über längere Zeiträume kaum vermitteln; Diplomatie war dem Wesen des Faschismus eigentlich fremd, der ja explizit den Vorteil klarer Verhältnisse propagierte. Propaganda und Repräsentation bekamen einen noch bedeutenderen Stellenwert und die Ausgleichspolitik zur Stärkung der nationalen Position verschob sich immer mehr zugunsten der Achse Berlin-Rom. Nach dem triumphalen Staatsbesuch Mussolinis in Berlin (25. September 1937) erfolgte am 6. November der Beitritt zum deutsch-japanischen Antikominternpakt und am 11. Dezember der Austritt aus dem Völkerbund. Am 13. März 1938 billigte Italien den Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich und nahm Partei für Hitler in der Sudetenkrise. Die Würfel waren damals schon zugunsten der Achse gefallen und so verstand man das Britisch-Italienische Abkommen vom 16. April 1938, das endlich auch die britische Anerkennung der Annektion Abessiniens brachte, im Lande nur noch als Bestätigung der eigenen Haltung. Selbstbewußt opferte man dennoch die eigene Position nicht einer vermeintlich

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gemeinsamen Ideologie. Und so wich Mussolini beim demonstrativen Gegenbesuch Hitlers vom 2. bis 9. Mai 1938 in Rom trotz dessen Verzichts auf Südtirol dem Abschluß eines Bündnisses aus, zumal da die gegenseitige Annäherung im faschistischen Staat keineswegs Konsens fand; gerade die den Faschismus mittragende italienische Großbourgeosie mit ihrem 1938 gestorbenen Sprachrohr und Berater Mussolinis, Gabriele D'Annunzio, sah in Hitler vorzüglich den nicht geschäftsfähigen Proleten. Diese Einstellung, wenngleich gerechtfertigt, aber ohne Konsequenz, mußte sich rächen. Die imperialistische Politik des faschistischen Italien wollte aufgrund der Einsicht in die eigene militärische Schwäche einen Krieg in jedem Fall vermeiden; das aber ließ sich an der Seite Hitlers nicht durchhalten. Als Hitler nach der italienischen Eroberung Albaniens im Frühjahr 1939 mit der Annektion Polens nachziehen wollte, ließ er sich selbst von einem Vermittlungsversuch Mussolinis nicht mehr umstimmen und löste den Zweiten Weltkrieg aus. Italien konnte zunächst noch nichtkriegführend bleiben, erlag jedoch bald der Versuchung des eigenen Machtrausches. Nach den schnellen Erfolgen Hitlers glaubte Mussolini, eine einmalige Chance zur ungehinderten Realisierung seines Mittelmeer-Imperiums ergreifen zu müssen und erklärte am 10. Juni 1940 Frankreich und Großbritannien den Krieg. Der Kriegseintritt Italiens war der Anfang vom Ende des italienischen Faschismus. Was auf den ersten Blick wie eine Erfüllung der ideologischen Aufrüstung des eigenen Volkes und des Risorgimento-Mythos aussieht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als klare Aufgabe der bisherigen erfolgreichen faschistischen Politik. Das Ausschalten jeglicher konstruktiver Kontrollorgane im Innern zerstörte auch die für die Stabilität des Regimes unverzichtbare Konsensfähigkeit im Volk und die Aufgabe der Diplomatie, die spätestens mit der Aufnahme des Afrika-Feldzuges am 13. September 1940 erfolgt war, bedeutete zugleich eine Aufgabe des bei allem Imperialismus penibel beachteten Legalitätsprinzips. Wie in den Ersten Weltkrieg trat Italien auch in den Zweiten Weltkrieg verspätet ein und eröffnete, immer noch auf Eigenständigkeit gegenüber Hitler bedacht, seinen Parallelkrieg in Afrika. Doch dieser Feldzug verlief für Italien von Anfang an katastrophal. Schon Anfang 1941 mußte sich Mussolini den strategischen Entscheidungen Hitlers fügen, beteiligte sich an der Besetzung des Balkans und erklärte zusammen mit Deutschland und Japan auch den USA den Krieg. Trotz aller gemeinsamen Anstrengungen endete der Afrika-Feldzug am 13. Mai 1943 mit einer totalen Niederlage, sodaß der Süden Italiens einer Offensive der britischen und amerikanischen Streitkräfte schutzlos ausgeliefert

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Angelica Gernert

war. Die Angst vor der Zerstörung des eigenen Landes bei der Fortsetzung der Kämpfe brachte die Kehrtwendung: der Große Faschistische Rat beschloß am 25. Juli 1943, den König zu bitten, den Oberbefehl über die Armee wieder zu übernehmen, Mussolini damit zu entmachten, um dann einen Separatfrieden auszuhandeln. Mit der Gefangensetzung Mussolinis brach der totalitäre faschistiche Staat auseinander: anstatt eine breite Führungselite auszubilden hatte man das System allzu einseitig auf den Duce aufgebaut. Von den Deutschen befreit, bildete er unter der deutschen Schutzmacht eine Gegenregierung, und steuerte in der sog. Republik von Salö nunmehr einen republikanisch-sozialistischen Kurs, ohne jedoch damit das stetige Wachsen der Resistenza verhindern zu können. Nach dem Generalangriff der Aliierten am 27. April 1945 wurde er schließlich auf der Flucht in die Schweiz bei Dongo von Partisanen gefangengenommen und erschossen. Die Geschichte des italienischen Faschismus zeigt, daß die Durchsetzung einer totalitären Ideologie keineswegs der Ausgangspunkt und die Errichtung der Diktatur nicht die Zielperspektive der Machtstrategie Mussolinis von Anfang an war. Seine grundsätzliche politische Ambivalenz, vor allem aber die von den Faschisten selbst ausgehende und vollzogene Kehrtwendung Italiens im Krieg machten es möglich, daß neofaschistische Gruppierungen und Parteien, trotz der allseitig einsetzenden Dämonisierung Mussolinis und seines Faschismus auch im Nachkriegsitalien eine Überlebenschance hatten. A m bekanntesten war sicherlich der „ M S I " , der „Movimento Sociale Italiano", unter Giorgio Almirante, der einerseits an die Republik von Salö anschloß, sich aber andererseits als monarchistisch darstellte. Im derzeitigen Parteienspektrum gilt die „ A N " , die „Alleanza Nazionale" unter Gianfranco Fini als neofaschistische Partei, schließt jedoch wie die „ F I " , die „Forza Italia" nicht an den Faschismus und die „PNF", sondern an die patriotischen, nationalen bis nationalistischen Gruppierungen vor dem Ersten Weltkrieg an. Sie ist damit politisch nicht indifferent bzw. ambivalent, somit im eigentlichen Sinne nicht faschistisch, sondern besetzt eindeutig die rechte Seite im politischen Spektrum des heutigen Italien.

Zur Demokratiekritik Gaetano Moscas Von Karl-Egon Lonne

In meinem Beitrag möchte ich die Demokratiekritik Gaetano Moscas vorstellen und sie vor allem in ihrer Bedeutung für Moscas Verhältnis zum italienischen Faschismus charakterisieren. 1 Diese Demokratiekritik Moscas ist weniger bekannt als seine Elitetheorie, sie hängt jedoch aufs Engste mit ihr zusammen. Ja, man kann wohl mit Recht sagen, daß sie den Negativaspekt von Moscas Elitetheorie darstellt und insofern auch nur im Zusammenhang mit ihr dargestellt werden kann. Zusätzliche Bedeutung bekommt die Demokratiekritik durch ihren historischen Kontext, denn sie wirkt - im größeren Zusammenhang der Entwicklung des italienischen Nationalstaates betrachtet - wie die gedankliche Vorbereitung auf eine Entwicklung, die sich in Italien mit der Herrschaft des Faschismus durchsetzte. Die Demokratiekritik Moscas war eng verbunden mit seiner Ablehnung von Parlamentarismus und allgemeinem Wahlrecht. Beide Institutionen, Parlament und Demokratie, waren auch die Gegner, gegen die der Faschismus sein diktatorisches Regime durchsetzte. Hinzu kommt in Moscas Kritik die besondere Akzentuierung, die der demokratische Gedanke in der Sozialdemokratie fand. 2 Auch ihr und in noch verstärktem Maße Kommunismus und Anarchismus galt die Gegnerschaft Moscas, und sie wurden ja auch zum bevorzugten Angriffsziel des Faschismus. Die Übereinstimmung von theoretischen Grundpositionen Moscas und praktischen Stoßrichtungen des Faschismus könnte dazu veranlassen, Mosca keine gesonderte Aufmerksamkeit zu schenken, da sein Denken im Faschismus politische Gestalt angenommen hätte und zugleich mit dem Faschismus abzuhandeln wäre. Diese Konstellation verliert jedoch ihre Eindeutigkeit dadurch, daß Mos1 Die Übersetzungen von Texten Moscas, für die kein Quellennachweis erfolgt, stammen vom Autor des vorliegenden Beitrages. 2 Ausführlich zum Verhältnis Moscas zum Sozialismus und zu seinen Einflüssen auf die Gesellschaft: Nunzio Dell'Erba: Gaetano Mosca socialismo e classe politica, Milano 1991.

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ca nach der demonstrativen Entscheidung Mussolinis für die Diktatur des Faschismus von Anfang 19253 als einer der wenigen entschiedenen Kritiker des neuen Regimes öffentlich hervortrat und bei verschiedenen Gelegenheiten seinen Dissens aufs Deutlichste zum Ausdruck brachte. Dem entspricht, daß der Faschismus nicht etwa Mosca zu seinem Ideologen erklärte, sondern diese Rolle Giovanni Gentile überließ, selbst wenn dessen Berufung auf Hegel und sein aktualistischer Idealismus für die ideologische Unterbauung der Praxis des faschistischen Regimes oft erhebliche Schwierigkeiten bot. Ihre konkrete Umsetzung und Anwendung war nur schwer einsichtig zu machen und auch die faschistische Praxis war nicht ohne Mühe mit dieser theoretischen Grundlage zu verbinden. Zunächst möchte ich Gaetano Mosca biographisch vorstellen, 4 da er in Deutschland nicht unbedingt als bekannt angesehen werden kann, denn er hat vielfach im Schatten Vilfredo Paretos gestanden, dessen Überlegungen zum Wechsel der Eliten weitaus größere internationale Verbreitung gefunden haben.5 Moscas Reflexionen über die classe politica bzw. über die classe dirigente (Führungsschicht), auf denen seine Bedeutung für die Geschichte des politischen Denkens beruht und durch die er auch politischen Einfluß zu nehmen versuchte und politische Wirkungen verschiedener Art erzielte, ging zwar Paretos Untersuchungen über Eliten 6 voraus, haben aber in der Forschung im ganzen weniger allgemeine Beachtung gefunden. Von amerikanischen Politologen und auch in Italien sind sie allerdings immer wieder aufgegriffen worden. Jedenfalls dürfte der in Italien bald schon bis in die Alltagssprache verbreitete Begriff der politischen Klasse nicht nur anregend auf Pareto gewirkt haben. Auch die Untersuchungen von Robert Michels zur Soziologie des Parteienwesens7 mit der These der gesetzmäßig oligarchischen Entwicklung der Parteien 3 Benito Mussolini: S. 232-237.

Scritti politici. Introduzione a cura di Enzo Santarelli, Milano 1979,

4 Kurze Angaben in der Einleitung von Norberto Bobbio zu der Taschenbuchausgabe G. Mosca: La classe politica, a cura e con un'introduzione di Norberto Bobbio, Bari 1966, S. VII-XL. 5 Zur Rezeption Moscas im deutschsprachigen Raum einschl. einer einschlägigen Bibliographie vgl.: Arnold Zingerle: La difusione della conoscenza dell'opera di Gaetano Mosca nel mondo di lingua tedesca (germania, Austria e Svizzera tedesca), in: La dottrina della classe politica ed i suoi sviluppi internazionali, Palermo 1982, S. 219-236. 6

Vilfredo

Pareto: Les systèmes socialistes, 2 Bde., Paris 1902/1903.

7 Robert Michels: Zur Soziologie des Parteienwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Stuttgart 21925; Zum Verhältnis Pareto, Mosca und Michels speziell auch im Hinblick auf den Faschismus vgl. Hughes, H. Stuart: Consciousness and society, London 1959.

Zur Demokratiekritik Gaetano Moscas

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ist ohne Mosca kaum zu denken und Michels nennt ihn auch in wichtigen Zusammenhängen seines Werkes. Gaetano Mosca wurde 1858 in Palermo geboren. Schon 1884, also mit 26 Jahren, erregte er mit einer Untersuchung unter dem Titel „Sulla teorica dei Go verni e sul Governo parlamentare. Studi storici e socali" 8 Aufmerksamkeit. In diesem Frühwerk äußerte sich sein Interesse an einer theoretischen Klärung politischer Macht und dies unter dem Gesichtspunkt des auch in Italien an Bedeutung zunehmenden Parlamentarismus. Herausgefordert wurde diese Arbeit Moscas durch die Bewußtseinskrise im politischen Leben Italiens, wie sie einerseits durch das Erschlaffen der Impulse der nationalen Einigungsbewegung des Risorgimento ausgelöst wurde, andererseits durch den sich immer ungezügelter äußernden politischen Transformismus, der die Regierungen nicht mehr auf fest umrissene politische Willensrichtungen gründete, sondern sie mehr noch von persönlichen Einflußnahmen und von der Bündelung egoistischer Interessen abhängig zu machen schien. 1896 veröffentlichte Mosca sein zweites Hauptwerk „Elementi di scienza politica" 9 in dem er, auf sein Frühwerk aufbauend, als den Kernbegriff seines politischen Denkens den Begriff der classe politica, der politisch führenden Schicht, herausarbeitete und zum Bezugspunkt seiner gesamten theoretischen Erörterungen machte. Mosca folgte einem positivistischen, an den Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftsbegriff. 10 Aus einer möglichst umfassenden Beobachtung des durch die Geschichtswissenschaft verfügbar gemachten Erfahrungsmaterials vieler Zeiten und Kulturen suchte er die für das Staatsleben grundlegend wichtigen Tatsachen und Gesetze abzulesen. Damit wurde er zum Begründer und wichtigen Anreger der politischen Wissenschaft in Italien. Als solchen hat ihn Norberto Bobbio, der Nestor der italienischen Politikwissenschaftler, mehrfach gewürdigt. 11 Mosca betätigte sich neben der universitären Lehrtätigkeit, die er von 1896 bis 1923 in Turin, dann von 1923-1933 an der Universität Rom ausübte, auch politisch. 1909-1919 gehörte er dem Abgeordnetenhaus an, 1914-1916 war er Unterstaatssekretär für die Kolonien im Kriegskabinett Antonio Salandras. 1919 8

Torino 1884.

9

Roma/Firenze/Torino 1895.

10 Zum Einfluß einerseits der positivistischen Methode und andererseits der historischen Situation auf Moscas Denken vgl.: Vittorio De Caprariis, in: II mulino III (1954), S. 343-364. 11 Norberto Bobbio: Saggi sulla scienza politica in Italia, Bari 1969, S. 177-198 („Mosca e la scienza politica.") u. S. 199-218(„Mosca e la teoria délia classe politica.")

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wurde er zum Senator auf Lebenszeit berufen. Von 1901-1925 war er Mitarbeiter der Liberalen Mailänder Zeitung Corriere della sera und 1911-1921 der Tribuna. Seine Erfahrungen über die politische Verfaßtheit von Gesellschaften bezog er also nicht nur aus seinen weit gespannten historischen Studien, sondern unmittelbarer noch aus seiner Beteiligung am politischen Geschehen der Gegenwart in Italien auf den verschiedenen Ebenen des Publizistik, des Parlaments und der Regierung. 1923 ließ Mosca eine zweite Auflage seiner „Elementi di scienza politica" erscheinen. 12 Er ergänzte sie jetzt durch einen zweiten Band, in dem er seine Theorien weiter ausbaute. Auch mit dieser Ergänzung glaubte er allerdings keineswegs schon an das Ziel seiner Bemühungen um die Analyse der politischen Klasse gekommen zu sein. Er hoffte lediglich, mit seinen Überlegungen einige Pfade geöffnet zu haben, mit deren Hilfe die Untersuchung durch andere Forscher weiter vorangetrieben werden könne. Zur Lösung dieser Aufgabe suchte Mosca selbst, wie schon seit dem Erscheinen seines Erstlingswerkes, in der Folgezeit mit größeren und kleineren Untersuchungen beizutragen. 13 So veröffentlichte er 1933 seine als Professor der Universität Rom gehaltenen Vorlesungen unter dem Titel" Storia delle dottrine politiche". 14 1939, zwei Jahre bevor er im Alter von 89 Jahren starb, ließ Mosca eine dritte Auflage seines Hauptwerkes erscheinen, unverändert im Text, aber mit einigen Anmerkungen, in denen er neue Erkenntnisse hinzufügte, wie sie ihm die geschichtliche Entwicklung und Veränderungen seines Denkens hätten nötig erscheinen lassen. Er blieb also seinem positivistischen Methodenansatz treu, insofern er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse immer wieder mit der Wirklichkeit konfrontierte, um sie gegebenenfalls aufgrund dessen auch zu korrigieren und zu ergänzen. Es ist vermutlich auf den bei Erscheinen dieser dritten Auflage noch andauernden Druck des faschistischen Regimes zurückzuführen, daß Mosca in einem Nachwort zu dieser dritten Auflage 15 seiner „Elementi" zwar sehr deutlich auf die von Rußland drohende Gefahr hinwies, von der der Rückfall in ein neues Mittelalter mit weit schlimmeren Kampfmitteln wie Flugzeugen, Gas und Dynamit zu befürchten sei, daß er sich aber im übrigen mit vagen Andeutungen begnügte, die sich nur im Hinblick auf seinen aus anderen Zusammenhängen be12

Gaetano Mosca: Elementi di scienza politica, 2 Bde., Torino 1923.

13 Umfassende Bibliographien der Schriften Moscas und der Sekundärliteratur in: Gaetano Mosca: Scritti politici, a cura di Giogio Sola, Bd. 1, Torino 1982, S. 81-173. 14

Gaetano Mosca: Storia delle dottrine politiche, Roma 1933.

15

Gaetano Mosca: Elementi di scienza politica, Bd. II, Bari 31953, S. 145f.

Zur Demokratiekritik Gaetano Moscas

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kannten Gegensatz zum Faschismus eindeutiger interpretieren lassen. Er schrieb dort, daß die Neuerungen der Zeit und die gewandelte Sinnesart des Autors eigentlich zahlreiche Veränderungen des Textes erforderlich gemacht hätten. Der Autor habe es jedoch aus Gründen der Klarheit vorgezogen, fast vollständig den Text der zweiten Auflage zu belassen „... und - so hieß es wörtlich - es der Intelligenz des Lesers zu überlassen, in ihn die Veränderungen aufzunehmen, wie sie von dem intensiven und beschleunigten Gang der nach den beiden vorhergehenden Auflagen eingetretenen Ereignisse notwendig gemacht worden seien." 16 Bei Moscas besonderem Verhältnis zum Faschismus, auf das wir noch eingehen werden, muß darunter vor allem die vom Faschismus geprägte Entwicklung Italiens verstanden werden. Nach dem kurzem Überblick über Leben und Werk Gaetano Moscas, möchte ich mich nun seinem Hauptwerk „Elementi di scienza politica" zuwenden, dessen verschiedene Auflagen Leben und Lebenswerk des Autors begleiteten und die in ihnen Höhepunkte darstellten, die allerdings der Interpretation aus ihrem jeweiligen historischen Kontext bedürfen. 17 Es ist schon die Rede von Moscas positivistischer Methode gewesen. Ihrer Entfaltung widmete er als methodologische Grundlegung das erste Kapitel seines Buches, um darauf gestützt seine Konzeption vorzutragen und sie in verschiedenen historischen Zusammenhängen und in Hinblick auf ausgewählte Problembereiche zu erörtern. In den einleitenden Sätzen des zweiten Kapitels wird die grundlegende These zur politischen Klasse vorgetragen. Es heißt dort - und ich zitiere hier und im folgenden, soweit nicht ausdrücklich anders vermerkt, die Übersetzung von Franz Borkenau, 18 die dieser 1950 unter dem Titel: „Die herrschende Klasse" erscheinen ließ -„Unter den beständigen Tatsachen und Tendenzen des Staatslebens liegt eine auf der Hand: in allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der Zivilisation bis zu den fortgeschrittensten und mächtigsten, gibt es zwei Klassen, eine, die herrscht, und eine, die beherrscht wird. Die erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle politischen Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während die zweite, zahlreichere Klasse 16

Ebenda, S. 145.

17

Zur umfassenden Interpretation von Moscas Denken vgl.: EttoreA. Albertoni'. Gaetano Mosca and the „elite", Westport 1980; James Hans Meisel: Der Mythus der herrschenden Klasse. Gaetano Mosca und die „Elite", Düsseldorf 1962; Zu Einzelaspekten im werk Moscas vgl. EttoreA. Albertoni (Hg.): Governo e governabilità nel sistema politico e giuridico di Gaetano Mosca und Dottrina délia classe politica e teoria delle elites (=Archivio internazionale Gaetano Mosca per lo studio della classe politica, serie italiana, Bd. II u. III, Milano 1983 und 1985. 18

Gaetano Mosca: Die herrschende Klasse. Grundlagen der politischen Wissenschaft, München

1950. 21 Timmermann / Gruner

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von der ersten befehligt und geleitet wird. Diese Leitung ist mehr oder weniger gesetzlich, mehr oder weniger willkürlich oder gewaltsam und dient dazu, den Herrschenden den Lebensunterhalt und die Mittel der Staatsführung zu liefern." 1 9 Für Mosca ist die Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit in jeder Gesellschaft ein grundlegendes Gesetz, von dessen Wirksamkeit sich jeder durch Augenschein überzeugen kann. Weder durch die Herrschaftsstellung Einzelner noch durch die politische Unzufriedenheit der beherrschten Massen darf sich der Beobachter täuschen lassen.20 Hier wie im folgenden ersetzt Mosca den Begriff der politischen Klasse durch einen zweiten, nämlich den der classe dirigente, der Führungsschicht, den er alternativ benutzt und in den das entscheidende Charakteristikum der politischen Klasse, nämlich ihre Führungsfunktion, schon aufgenommen ist. Es ist von Bedeutung, daß Mosca die herrschende Gruppe als classe politica oder auch classe dirigente bezeichnet, aber nicht von Elite spricht. Er läßt damit offen, woraus sich jeweils die Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit ergibt und worauf sie sich stützt. Wichtig ist ihm nur die Allgemeingültigkeit der beobachteten Tatsache. Sie belegt er denn auch mit immer neuen Beispielen und verfolgt sie in ihren historischen Erscheinungsweisen. Die politischen Klasse wird für Mosca auch der eigentliche Maßstab zur Beurteilung von Gesellschaften. Deren Organisation als Monarchie, Oligarchie oder Demokratie, erscheint ihm demgegenüber als oberflächlich und nicht eigentlich wichtig. Erst die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die politische Klasse ergibt für ihn eine sinnvolle Einschätzung der verschiedenen Staatswesen. „ V o m Standpunkt der Forschung aus gesehen liegt die Bedeutung des Begriffes der politischen Klasse darin, daß deren wechselnde Zusammensetzung über die politische Struktur und den Kulturstand eines Volkes entscheidet." 21 Die politische Klasse ist nicht nur notwendige Bedingung der Gesellschaft, sondern sie entscheidet auch über ihren Charakter, über ihre Qualität. 19

Ebenda, S. 53.

20 „... Der Mann an der Spitze des Staates konnte gewiß nicht ohne die Unterstützung einer herrschenden Klasse regieren, die seinen Befehlen Respekt verschafft und für ihre Durchführung sorgt ... Andererseits mag die Unzufriedenheit der Massen zwar zum Sturz der herrschenden Klasse führen, aber wir werden noch sehen, daß dann unvermeidlicherweise eine andere organisierte Minderheit innerhalb der Massen entsteht, welche die Funktionen einer herrschenden Klasse übernimmt. Andernfalls würde alle Organisation und jeder gesellschaftliche Zusammenhalt zerstört werden. " Ebenda, S. 54. 21

Ebenda, S. 54.

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Daß mit der Herrschaft der politischen Klasse immer eine Minderheit über die Mehrheit regiert, erklärt Mosca unter anderem damit, daß die politische Klasse organisiert ist und einheitlichen Antrieben gehorcht. Das aber unterscheidet sie gerade von den Mehrheiten, die um so uneinheitlicher und uneiniger sind, je größer sie sind. Gegen diese Mehrheiten setzen sich daher die Minderheiten als jeweilige politische Klasse mit Notwendigkeit durch. Hinzu kommt allerdings hier auch in Moscas Argumentation eine qualitative Wertung, die er dem Minderheitsaspekt und den mit ihm verbundenen Vorteilen hinzufügt. „Aber auch abgesehen von allen Vorteilen der Organisiertheit bestehen die herrschenden Minderheiten meisten aus Individuen, die der Masse der Beherrschten in materieller, intellektueller, sogar in moralischer Hinsicht überlegen sind, oder sie sind wenigsten Nachkommen von Individuen, die solche Vorzüge besaßen. Anders ausgedrückt haben die Mitglieder der herrschenden Minderheit regelmäßig wirkliche oder scheinbare Eigenschaften, die hochgeschätzt sind und in ihrer Gesellschaft großen Einfluß verleihen." 22 Die ursprünglich grundlegend wichtige kriegerische Qualität der politischen Klasse wurde im Laufe der Entwicklung durch Verfügung über Reichtum verdrängt. Einschneidende Veränderungen in den Grundlagen des Reichtums oder auch in den Wertmaßstäben einer Gesellschaft führten ebenfalls zu Veränderungen der politischen Klasse.23 Es gibt Zeiten der Beruhigung und des Stillstandes, in denen die politische Klasse und ihre Herrschaft kaum Veränderungen und Anfechtungen ausgesetzt sind, während zu anderen Zeiten die Herrschaftsverhältnisse in Frage gestellt und erschüttert werden. Einer Entscheidung über den Vorzug zwischen diesen beiden Entwicklungsphasen weicht Mosca mit dem Argument aus, daß sie allein von der persönlichen Einstellung des Beobachters abhänge. Er fügt zugleich auch hinzu, daß er der Einzelentscheidung im Laufe der Geschichte wenig Bedeutung beimesse, und so wird seine Erklärung zu einer Selbstbegrenzung seiner auf die gesetzmäßigen Faktoren der Politik gerichteten positivistischen Betrachtungsweise gegenüber philantropisch-philosophischen und theologischen Überlegungen. 24 Sie klammerte er bei der Beurteilung historischer Entwicklungsphasen aus.

22 23

Ebenda, S. 55.

„Wo eine neue Reichtumsquelle auftaucht, wo die praktische Bedeutung des Wissens wächst, wo eine alte Religion verfällt oder eine neue geboren wird, wo sich neue Ideen verbreiten, dort treten gleichzeitig weitgreifende Verschiebungen in der politischen Klasse auf." Ebenda, S. 64. 2

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Es ist für unseren Zusammenhang entbehrlich, auch nur in großen Zügen darzulegen, wie Mosca die Stellung und Bedeutung der politischen Klasse in verschiedenen großen Problemzusammenhängen verfolgt und entsprechend seiner positivistischen Methode durch ein breites Belegmaterial Zeiten und Kulturen übergreifend dokumentiert. Nur diese Problemkreise selbst seien kurz genannt. Es sind dies Kultur, Rechtsschutz, Religionen, Revolutionen und Militär. In diese Reihe gehört dann noch die Behandlung des Parlamentarismus und des Kollektivismus, der wir uns jetzt zuwenden, weil in ihr die Demokratiekritik Moscas näher ausgeführt ist, während sie sich im übrigen Text nur in gelegentlichen Bemerkungen äußert. Bevor Mosca das Problem des Parlamentarismus angeht,25 vergewissert er sich selbst noch einmal der bisher von ihm erarbeiteten Grundlage: „Wir versuchten zu beweisen, daß es in jeder menschlichen Vergesellschaftung einer gewissen Kulturhöhe, eine leitende Minderheit gibt, die sich zwar verschieden zusammensetzt, sich aber immer auf den Besitz von vielerlei „sozialen Kräften" stützt. Unter „sozialen Kräften" verstanden wir alles, was unter den gegebenen Umständen von Zeit und Ort bestimmten Individuen moralisches Prestige, geistige und wirtschaftliche Überlegenheit und damit Mittel zur Leitung anderer Menschen verleiht. Wir haben uns auch bemüht klarzustellen, daß jedes politische Regime sich auf einen Komplex bestimmter Glaubenssätze, religiöser und philosophischer Prinzipien stützt, die zur Erklärung und Rechtfertigung der betreffenden politischen Ordnung dienen." 26 Es überrascht zunächst, daß Mosca seine Auseinandersetzung mit Überlegungen über die Lage und die Entwicklungsperspektiven des Christentums einleitet. Es wird aber dann klar, daß er in der aktuellen Entwicklung des Christen-

24 „Ein Philanthrop mag sich versucht fühlen zu fragen, wann die Menschheit glücklicher oder wenigstens minder unglücklich ist: in Perioden der Ruhe und der Erstarrung, wenn jeder in dem Stand verbleiben muß, zu dem er geboren ist, oder in den entgegengesetzten Perioden der Erneuerung und der Revolution, wo jeder sich die höchsten Ziele setzen kann. Aber eine solche Untersuchung wäre schwierig. Man müßte viele Bedingungen und Einschränkungen formulieren, und letzten Endes bliebe die Antwort doch von der persönlichen Einstellung des Beobachters abhängig. Wir werden uns hüten, eine solche Antwort zu geben, um so mehr, als auch das sicherste Resultat kaum von praktischem Nutzen wäre. Denn der freie Wille, die spontane Entscheidung des Einzelnen, von der Philosophen und Theologen sprechen, hat bisher nie viel Einfluß auf Anfang und Ende solcher Geschichtsperioden gehabt und wird sie nie haben.M Ebenda, S. 67. 25 Pietro Rossi : Liberalismo e regime parlamentare in Gaetano Mosca, in: Giornale degli economisti e annali di economia VIII (1949), N.S., S. 621-635. 26

Mosca (Anm. 18), S. 206.

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turns eine wichtige Ursache gegenwärtiger politischer Schwierigkeiten erkennt. Mosca sieht das Christentum in der Gegenwart vor allem unter den gesellschaftlichen Auswirkungen, die vom Rationalismus der modernen Wissenschaften ausgehen. Dieser Rationalismus hat bei den Gebildeten das Christentum verdrängt oder zu einer nur noch traditionellen Haltung werden lassen. Die Verdrängung des Christentums hat auch die Massen ergriffen, aber an die Stelle der Religion ist bei ihnen nicht der Rationalismus getreten, denn weder die Massen des Volkes noch die Halbgebildeten vermögen ihn wirklich zu fassen. 27 So führt die Verdrängung des Christentums zu einem Vakuum und was dies für Mosca bedeutet, läßt sich aus der Tatsache ablesen, daß er den Sozialismus als Religion bezeichnet, die eine gefährliche Konkurrenz für das Christentum darstellt. In dieser Situation hält Mosca ein Arrangement von Rationalismus und Christentum für notwendig und vernünftig: „Die Gebildeten müssen verstehen, daß die Propaganda des Unglaubens unter den Gläubigen und unter Ungebildeten, die sich ohnehin über die Frage der Natur und der Gesellschaft kein eigenes Urteil bilden können, keinerlei soziale Vorteile hat. Andererseits müßten die Leiter der christlichen Kirche und besonders des Katholizismus sich davon überzeugen (was gewiß nicht leicht sein wird), daß die Wissenschaft heute ein Bestandteil des Daseins der Kulturvölker geworden ist, den man kaum oder vielmehr überhaupt nicht mehr zerstören kann." 28 In dieser Argumentation wird die Grundhaltung Moscas deutlich, die sein ganzes Werk durchzieht und bestimmt. Er ist überzeugter Anhänger eines rationalistischen Positivismus, den er durch sein wissenschaftliches Engagement zu fördern versucht, um die menschliche Erkenntnis voranzubringen und zugleich mit ihr nach Möglichkeit auch auf die politischen Gestaltungskräfte, also auf die Führungsschicht einzuwirken. Den Einflußbereich dieses Rationalismus sieht er jedoch begrenzt durch Bildungsschranken und durch Einflüsse von Gefühlen und Leidenschaften, denen zwar auch die Gebildeten ausgesetzt sind, die aber für die Masse der Menschen die bestimmenden Kräfte darstellen. Moscas politische Wissenschaft muß daher ihr Hauptziel darin sehen, die politische Klasse zur bestmöglichen Haltung zu bringen und sie vor negativen Einflüssen zu bewahren. Dem entspricht seine Kritik an der Entartung, die für ihn der Parlamentarismus darstellt. Da der Parlamentarismus die Regierung aus der 27 „All die Ungläubigen aus dem Volke und, sagen wir es ruhig, auch die große Mehrheit der Ungläubigen unter den Halbgebildeten gelangt heute in Europa auf diesem Wege nicht zum Rationalismus. Sie ist ungläubig und spottet, weil sie in einem Milieu aufgewachsen ist, wo man ihr Unglauben und Spott beigebracht hat. Und wenn sie das Christentum als übernatürlich ablehnt, so ist sie darum nicht weniger geneigt, anderen Glaubenslehren zu verfallen, die gewiß nur gröber und niedriger sind." Ebenda, S. 208.

Ebenda, S.

.

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Abgeordnetenkammer hervorgehen läßt, macht er alle ihre Mitglieder zu Konkurrenten um Regierungsämter. Die Sachdiskussionen werden durch persönliche Interessen verfälscht und auch die Wirkung der parlamentarischen Kontrolle der Regierung wird in ihr Gegenteil, nämlich in ein Mittel der Korruption pervertiert. 29 Aus einer anderen Perspektive seiner Überlegungen, nämlich in den Auseinandersetzungen mit dem demokratischen Prinzip kam Mosca zu dem gleichen negativen Urteil über Bestrebungen, die Mehrheit zur Herrschaft zu bringen. Die allgemeine Bedeutung, die Mosca der politischen Klasse zusprach, machte ihn zum grundsätzlichen Gegner des demokratischen Gleichheitsprinzips und ihres modernen Theoretiker Jean Jaques Rousseau. Rousseau behauptete die naturgegebene, aber durch die Kultur verloren gegangene Gleichheit aller Menschen und rief dazu auf, diese Gleichheit als Grundlage aller Staatswesen wiederherzustellen. Damit verkündetet er nach Moscas Auffassung eine verführerische Unwahrheit, die auch Sozialismus und Kommunismus zugrunde lägen, denn diese richteten sich gegen Verfälschungen der grundsätzlichen Gleichheit und bekämpften in diesem Sinne die Verfügung über privates Eigentum an den Produktionsmitteln. 30 Das demokratische Prinzip der Gleichheit in seiner konsequentesten Form gründete die Regierungen auf den mit Hilfe des allgemeinen Wahlrechts ermittelten Mehrheitswillen. Dabei blieb die von Mosca als unumstößlich angesehene Tatsache außer acht, daß in Wirklichkeit niemals die Mehrheit, sondern immer eine Minderheit regiert. Die Lösung der gesellschaftlichen Probleme war daher nach Moscas Erkenntnis nicht von einer grundlegenden Umwälzung mit der Abschaffung des Kapitalismus zu erwarten. „Wer so denkt, vergißt aber etwas Entscheidendes, nämlich daß es auch in der sozialistischen Gesellschaft immer eine Minderheit geben wird, die den gesellschaftlichen Reichtum verwaltet, und eine große Mehrheit, die sich mit dem ihr zugewiesenen Anteil zufrieden geben muß. Und die Verwalter der sozialen Republik, die zu gleicher Zeit ihre politischen Häupter wären, hätten unzweifelhaft viel größere Macht als die heutigen Minister und Millionäre." 3 1 29 „Infolge dessen [infolge des Parlamentarismus] mischen sich in die Diskussion der Kammer und in ihre Kontrolle über die Regierungsmaßnahmen persönlicher Ehrgeiz und Sonderinteressen. Darum stellt sich dem natürlichen Wunsch der Regierung, etwas zu leisten, stets der ebenso natürliche Wunsch entgegen, ihre Interessen zu wahren, und das Pflichtgefühl der Minister und der Abgeordneten wird durch ihren Ehrgeiz und ihre Eigenliebe aufgewogen. Darum verwandeln sich Verwaltung und Gerichtswesen in Wahlagenturen, die die Staatsgelder verschwenden und den moralischen Sinn unterhöhlen, ... Dieser dauernde offenkundige Widerspruch zwischen Pflicht und Interesse der Regierungen und der Volksvertretungen führt schließlich dazu, daß die Bürokratie und die gewählten Körperschaften, die sich gegenseitig kontrollieren sollten, statt dessen einander gegenseitig korrumpieren." Ebenda, S. 217. 30

Ebenda, S. 237. Ebenda, S.

3.

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Die Aufrichtung des Sozialismus als äußerste Konsequenz des Gleichheitsgedanken verbunden mit dem allgemeinen gleichen Wahlrecht würde keine Verbesserung, sondern eine vorhersehbare Verschlechterung der Verhältnisse bringen. Alle Machtbestrebungen und alle in ihrem Dienste eingesetzten bösen Machenschaften würden sich auf ein einziges Ziel konzentrieren, und es gäbe keine mit unterschiedlichen Zielsetzungen und Mitteln konkurrierenden politischen Kräfte. „Alle Lügen, alle Niedrigkeiten, alle Gewalttaten und Unterschleife dienen heute nicht nur dem Stimmenfang, sondern auch der Karrieremacherei und oft der Beutelschneiderei; in einer kollektivistischen Gesellschaft hingegen würden sie alle dem einzigen Zweck dienen, eine leitende Stellung in der Verwaltung des gesellschaftlichen Eigentums zu erringen. Die Gierigen, die Schlauen und die Gewalttätigen hätten dasselbe Ziel, und alle Kabalen, an denen es zum Schaden der Sanften, gerechten und loyalen nicht fehlen würde, dienten nur einer einzigen Absicht. Der Vergleich fiele durchaus zum Vorteil der bestehenden Gesellschaft aus. Denn das Fehlen einer Mehrzahl von politischen Kräften, der Mangel einer Verschiedenheit der Wege zum Aufstieg des Einzelnen würde jede persönliche Unabhängigkeit und jede Möglichkeit gegenseitiger Kontrolle aufheben". 32 Die Menschen lassen sich nicht in allem vom Gerechtigkeitssinn leiten, sondern in einer höchst individuellen Mischung auch von ihren Interessen der verschiedensten Art. „...der Versuch, mit solchen Menschen eine Gesellschaftsordnung aufgrund eines Gerechtigkeitsideales zu schaffen, das der Mensch zwar erdenken aber nicht verwirklichen kann, ist eine gefährliche Utopie. Denn wenn geistige und moralische Kräfte sich auf ein Ziel richten, das nie verwirklicht werden kann, dann kann ein solcher Versuch zu nichts anderem führen als zum Sieg der Schlechtesten und zur Enttäuschung der Guten. " 3 3 Nicht ein utopisches Gerechtigkeitsideal, wie es der Sozialismus verfolgt, und nicht die angebliche gleichberechtigte Teilnahme an der politischen Macht, wie sie das allgemeine gleiche Stimmrecht in Verbindung mit dem Parlamentarismus verwirklichen soll, fuhren nach Mosca zu der bestmöglichen Gestaltung der politischen Verhältnisse, sondern die Beteiligung einer Vielzahl politischer Kräfte, wie sie ein begrenztes Repräsentativsystem stark gefördert hat. Parlamentarismus und Sozialismus werden keine wirklichen Verbesserungen der Verhältnisse erzielen, vielmehr besteht ihre tatsächliche Wirkung in einer Korrumpierung

32

Ebenda, S. 236. Ebenda, S.

3.

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der politischen Klasse.34 Bei dieser Bewertung des bis zur äußersten Konsequenz getriebenen Prinzips der Volkssouveränität und des voll entwickelten Parlamentarismus überrascht es nicht, welche Wirkung Mosca von einer auf die Analyse der Wirklichkeit gegründeten Wissenschaft der Politik erwartet: „in der heutigen Welt [kann] der Sozialismus nur aufgehalten werden, wenn es der Wissenschaft der Politik gelingt, auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften alle aprioristischen und optimistischen Methoden auszuschalten, wenn die Entdeckung und der Beweis der großen konstanten Gesetze des gesellschaftlichen Daseins die Unmöglichkeit einer Verwirklichung einer demokratischen Ideologie in helles Licht setzen wird. Unter dieser und nur unter dieser Bedingung wird der Sozialismus seinen Einfluß auf die Intellektuellen verlieren, und sie werden sich als ein unüberwindliches Hindernis für seinen Sieg erweisen." 35 Mosca beschränkt sich also nicht auf die positivistisch-wissenschaftliche Klärung gesellschaftlicher Sachverhalte, sondern er empfiehlt auch ihre politische Nutzanwendung. Für ihn liegt darin keine Verfälschung der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern die Verfolgung ihrer eigentlichen Zielsetzung, die darin liegt, politisches Handeln durch die Entwicklung einer Wissenschaft von der Politik in die richtige Richtung zu lenken. Es ist im Zusammenhang seiner Biographie schon die Rede davon gewesen, daß Mosca lange Zeit und in verschiedenen Positionen politisch tätig gewesen ist. Er ist dabei immer als entschiedener Gegner jeder Wahlrechtserweiterung aufgetreten, und das entsprach ja auch seiner Ablehnung des demokratischen Prinzips und des Parlamentarismus mit allen von ihnen auch für die politische Klasse gefürchteten ethisch-politischen Auswirkungen. Angesichts der Tatsache, daß in Italien schon 1913 das fast allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde und sich nach dem Ersten Weltkrieg durch die Einführung des Verhältniswahlsystems das demokratische Prinzip noch intensiver durchgesetzt hatte, mußte es

34

„Ein breites Wahlrecht ist nicht darum gefährlich, weil, wie viele hoffen oder fürchten, die wirklichen Vertreter des Proletariats die Mehrheit in den Parlamenten gewinnen könnten; denn im Grunde bleibt bei jedem Wahlsystem die wirkliche Entscheidung immer bei der einfluchsreichsten und nicht bei der zahlreichsten Schicht. Die wirkliche Gefahr liegt darin, daß die meisten Kandidaten sich im Konkurrenzkampf vor den Gefühlen und Vorurteilen der Masse verbeugen. Und das fährt dazu, daß sie sozialistische Gesinnungen verkünden und sozialistische Versprechungen machen. Naturgemäß halten sich dann die aufrichtigsten und energischsten Charaktere vom öffentlichen Leben fern, Kompromisse mit der Unmoral werden immer häufiger, und die sogenannten Konservativen verlieren immer mehr an moralischer und geistiger Schwungkraft." Ebenda, S. 256. 5

Ebenda, S.

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Zur Demokratiekritik Gaetano Moscas

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Mosca um so erklärungsbedürftiger erscheinen, daß dies geschehen war,^obwohl inzwischen die Bedeutung der politischen Klasse nach seiner Beobachtung weitestgehende Anerkennung gefunden hatte. Er fand die Erklärung darin, daß sich der nominellen Geltung des demokratischen Prinzips bei dessen hoher Wertung niemand entziehen könne. „Diese offizielle Huldigung, die die natürlichen Gegner der Demokratie [alle Gruppen der herrschenden Klasse] hier leisten müssen, macht es ihnen unmöglich, sich öffentlich als Anhänger einer Lehre zu bekennen, die ausdrücklich die Möglichkeit eines demokratischen Regimes im gewöhnlichen Sinne dieses Ausdrucks leugnet. Darum kann jenes Bündnis von Gefühlen und Interessen nicht zustande kommen, das eine neue Lehre braucht, um die bestehende Ordnung zu verändern, indem sie die Geister erobert und dadurch die Entwicklung beeinflußt." 3 7 Wenn man die Situation der ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg betrachtet, dann dürften Moscas Worte zutreffend die Stimmung des bisher führenden liberalen Bürgertums wiedergeben, das sich den durch die Praktizierung des allgemeinen Wahlrechts und des Systems der Verhältniswahl mächtig angewachsenen Massenparteien der Sozialisten und Katholiken gegenüber sah und es nicht mehr vermochte, sie wie bisher auf die eine oder die andere Weise politisch zu beeinflussen und zu führen. Diese Interpretation wird bestätigt durch eine Besprechung, die Benedetto Croce 1923 der Neuauflage von Moscas Werk widmete und die Borkenau seiner Übersetzung voranstellte. Croce erkannte in dieser Besprechung die hohe Bedeutung von Moscas Werk an. „Der Zentralbegriff des Werkes ist heute bekannt, weil er mit dem Namen von Mosca verbunden ist. Es ist der Begriff der „politischen" oder herrschenden Klasse, die in Wahrheit das politische Leben des Staates in Händen hält; einer Klasse, die der Zahl nach eine Minderheit, aber der Qualität nach eine Mehrheit darstellt, weil sie Wissen und Können besitzt. 38 Croce hebt hier die Eindeutigkeit des Mehrheitsbegriffes, die in seinem quantitativen Charakter liegt, auf zugunsten einer qualitativen Bestimmung. Man kann sagen, daß auch er damit dem 36 „Heute [d.h. 1929] besitzt das demokratische Regime eine größere Kraft der Selbsterhaltung als jedes andere; denn seine natürlichen Gegner müssen es offiziell anerkennen, wenn sie seine Wirkungen mehr oder weniger umgehen wollen. Ist einmal das allgemeine Wahlrecht eingeführt, dann müssen sich alle, die durch Reichtum, Kultur, Verstand oder Schlauheit für leitende Stellungen in Frage kommen, und d.h. alle Gruppen der herrschenden Klasse, vor ihm beugen. Sie müssen ihm sogar schmeicheln, wenn sie an der Staatsleitung teilnehmen und jene Stellungen besetzen wollen, wo sie ihre Klasseninteressen am Besten vertreten können." Ebenda, S. 274. 37

Ebenda, S. 274. Ebenda, S.

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demokratischen Prinzip seine Referenz erwies und trotzdem Moscas Theorie der politischen Klasse voll zustimmte. Er unterstrich denn auch in seinen weiteren Ausführungen die Wichtigkeit von Moscas Überlegungen. „Die Wiederherstellung, die genaue Bestimmung, die Herausarbeitung der Bedeutung des Begriffes der politischen Klasse oder herrschenden Klasse ist nicht nur zum Verständnis der politischen Geschichte notwendig, sie ist auch der Kompaß der politischen Erziehung in unserer Zeit wie in jeder Zeit. Politische Erziehung heißt Erziehung zur Beobachtung, zur Vorsicht, zur Entschlußkraft und zum Gebrauch der Macht. 39 Croce hob in seiner weiteren Besprechung Akzente im Werk Moscas hervor, die dessen Widerlegung des demokratischen Prinzips zwar nicht zurücknahm, aber doch vor allem Raum schuf für eine Politik, in der sich demokratische Elemente mit aristokratischen zu verbinden vermochten. „Es [Moscas Werk] bekämpft die demokratische politische Theorie, aber nicht die praktischen demokratischen Tendenzen, denn diese existieren auf dem Gebiet der Tatsachen, und der Forscher könnte sie nicht verneinen, ohne die Wirklichkeit zu verstümmeln und sie dadurch unverständlich und unwirklich zu machen. Auch leugnet sie Mosca nicht, denn er sieht in ihnen gerade einen Faktor der Wiederbelebung der Aristokratie, ein Element beständiger Erneuerung der herrschenden Klasse." 40 Nicht die Abschaffung der politischen Institutionen, die sich im italienischen Nationalstaat bis zur Gegenwart entwickelt hatten, stand auf dem Programm, weder für Mosca noch für Croce, aber beiden war an der Stärkung des liberalen Staates gelegen und sie beinhaltete für beide auch Korrekturen der politischen Praxis. 41 „Weit entfernt, gegen den liberalen Staat in den Krieg zu ziehen, ist er nun ein entschlossener Verteidiger dieses Staates, der reifsten Form des politischen Lebens Europas und er sieht auch seine Gefahren, aber er weiß, daß jede Form des Lebens ihre Gefahren hat. Er sieht auch Gesetze und Institutionen, die nur aus blindem Glauben an die demokratische Ideologie, aus Nachgiebigkeit ihr gegenüber und also aus Feigheit dort einen Platz gefunden haben. Aber er meint, daß Tatsachen Tatsachen sind und daß ihre Beseitigung oft schlimmer ist als das Übel selbst, das die herrschende Klasse einschränken und letzten Endes in ein Gutes verwandeln kann. Schließlich ist auch der liberale Staat nicht der demokratische Staat. Sein Grundprinzip ist gesund, und man 39

Ebenda, S. 6.

40

Ebenda, S. 7f.

41

Mario Deila Pane: Gaetano Mosca. Classe politica e liberalismo, Napoli 1952; Pietro Piovani: II liberalismo di Gaetano Mosca, in: Rassegna di diritto pubblico V (1950), S. 265-305.

Zur Demokratiekritik Gaetano Moscas

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muß es nur in die Wirklichkeit umsetzen, um seiner politisch herrschenden Klasse mehr Wissen und Erfahrung, mehr Würde und Strenge gegen sich selbst, mehr Vertrauen und Mut einzuflößen. Daher das Bedürfnis nach größerer Verbreitung exakter politischer Kenntnisse, die von ebenso großem oder größerem Wert sind als die Lehren der exakten Ökonomie. Darum auch der Appell an alle denkenden Menschen." 42 Anhand einer Reihe von Interventionen Moscas im italienischen Senat in den Jahren 1920 bis 1925 soll im Folgenden verdeutlicht werden, wie sich im Laufe der politischen Entwicklung dieser Jahre die Stoßrichtung von Moscas Stellungnahme veränderte und sie sich immer deutlicher gegen den Faschismus wendete, der sich inzwischen als eigentliches Hindernis und als Hauptfeind einer rationalen, politischen und gesellschaftlichen Ordnung zu erkennen gegeben hatte. 43 Im Juni 1920 forderte Mosca in einer Anfrage an den Innenminister gesetzliche Maßnahmen zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit im Hinblick auf die Zunahme von Viehdiebstählen in den westlichen Teilen Siziliens und legte als Sofortmaßnahme die Verstärkung der Carabinieri und die Einrichtung neuer Carabinieri-Stützpunkte nahe. Die Interpretation von Moscas Vorstoß liegt auf der Hand: in einem ganz konkreten Fall forderte er die staatliche Macht auf, ihrer Aufgabe nachzukommen, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und Eigentumsverletzungen zu verhindern. Grundsätzlicher schien Mosca die Stellung des Staates durch ein Gesetzesvorhaben in Frage gestellt, das einem neu zu schaffenden „Nationalen Rat der Arbeit"(Consiglio nazionale di Lavoro) eine Schlüsselstellung in allen Fragen der Gesetzgebung zum Verhältnis von Kapital und Arbeit geben sollte. Mosca kritisierte zunächst, daß durch die neue Institution die gesetzgeberischen Rechte des Parlaments gravierend beeinträchtigt, wenn nicht sogar bis auf die bloße Registrierung anderweitig getroffener Entscheidungen vermindert werden könnten „Ich glaube deshalb, daß dieses vierte Gesetzgebungsorgan (neben Abgeordnetenhaus, Senat und Regierung), das man einrichten möchte, immer höchst gefährlich wäre und die Harmonie und das Gleichgewicht der öffentlichen Machtfaktoren tiefgehend stören würde." 4 4 Noch bedrohlicher erschien es Mos42

Ebenda, S. 8f.

43

Wandlungen in Moscas Grundhaltung zu Freiheit und demokratischen Institutionen werden herausgearbeitet in: Passerin d'Entrèves, Alessandro: Gaetano Mosca e la libertà, in: II politico XXIV (1959), S. 579-593. 44

Atti parlamentari, Senato: Legislatura XXVI, 1° sessione 1921, discussioni, tornata del 29 luglio 1921, S. 208-211;209.

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ca, daß die Interessen von Arbeitgebern und Arbeitern in der neu zu schaffenden Institution von Organisations Vertretern wahrgenommen werden sollten. Gewerkschaften und entsprechende Organisationen der Arbeitgeber konnten damit einen Einfluß bekommen, der sie zu Konkurrenten der Staatsorgane machte und der diese in weiterer Entwicklung zu zerstören drohte. In der arbeitsteiligen und breit gefächerten spezialisierten Gesellschaft und Arbeitswelt kam den Syndikaten, eben den genannten Organisationen, eine Bedeutung zu, die sie zu einer vernichtenden Bedrohung des Staates werden ließen, wenn sie sich dem Einfluß des Staates entzogen. „Nun diese Spezialisierung bewirkt ja, daß, wenn diese Klassen sich in Syndikaten organisieren und sich ein Klassenbewußtsein schaffen, das gegen die staatliche Organisation gerichtet ist, und wenn die Mitglieder der Syndikate mehr ihren Organisationen als den Gesetzen des Staates gehorchen, reicht eine dieser Organisationen oder Syndikate aus, um das gesamte Leben der Gesellschaft zum Stehen zu bringen." 45 Mosca erläuterte seine Feststellung mit dem Hinweis auf die Eisenbahner, die mit einem Streik die gesamte Gesellschaft in ihre Hand bekämen und sich zu Herren des Staates machen könnten, wenn sie ihrer Gewerkschaft mehr gehorchten als dem Staat. Mosca war nicht bereit, durch Zugeständnisse an die Berufsorganisationen von Arbeitgebern und Arbeitern dem augenblicklichen Trend zu einer Einflußverbreiterung der Syndikate nachzugeben, sondern betonte demgegenüber die Verantwortung der politisch Herrschenden, nicht einer scheinbaren historischen Zwangsläufigkeit nachzugeben. „Sehr geehrte Kollegen, ich glaube, daß die historische Zwangsläufigkeit und der Verlauf der Zeiten zu einem großen Teil von uns selbst bestimmt werden; die historische Zwangsläufigkeit stellt sich ein, wenn man nicht beizeiten eine Bewegung zu verhindern gewußt hat, die Keime der Zersetzung der gegenwärtigen Form des Staates enthält, wenn man nicht beizeiten zu verhindern gewußt hat, daß sich die zersetzenden Keime organisieren und sich nicht das Bewußtsein der eigenen Kraft und die Instrumente der eigenen Aktion verschafft hat." 4 6 Moscas Stellungnahme ist eindeutig. Sie wandte sich gegen den gerade zurückgetretenen Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti wie gegen seinen Nachfolger Ivanoe Bonomi und damit gegen die augenblicklich vorherrschende Regierungstendenz, dem erhöhten Gewicht der Arbeiterschaft in der italienischen Nachkriegssituation, die sich in einer Streikwelle und in sozialistischen Revolutionsdrohungen geäußert hatte, nun einen institutionellen Rahmen zu schaffen. Mosca fürchtete davon eine grundsätzliche Steigerung der Gefahren für den 45

Mosca (Anm. 18), S. 210. Ebenda, S.

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bestehenden Staat und rief den Senat dagegen zur Besinnung und zum Handeln auf. Er machte sich damit ganz eindeutig zum Sprecher einer Politik, die entgegen dem sich stark erhöhenden Gewicht der organisierten Arbeiterschaft die Entscheidungsfreiheit und Entscheidungsgewalt des Staates strikt zu wahren suchte. Zwar verteidigte er damit auch die Rechte von Senat und Abgeordnetenkammer, aber es ging ihm vor allem um die Staatsmacht. In der gleichen Absicht hatte er sich im April 1921 gegen eine großzügige Finanzierung von Kooperativen gewendet, vor allem da diese Gelder dem politischen Mißbrauch ausgesetzt seien und die begünstigten Kooperativen selbst eine starke Stellung in den zuständigen Verwaltungsgremien erhalten sollten. Noch deutlicher war eine Anfrage Moscas vom März 1922 im Hinblick auf eine Streikdrohung der Arbeiter mehrerer italienischer Häfen und auf „die Anweisungen der Regierung gegenüber einer Agitation die offen das Ziel verfolge in allen unseren Häfen das System der obligatorischen Gewerkschaft einzurichten." 47 Einem solchen Vorhaben mußte die Regierung nach der Vorstellung und den Erwartungen Moscas entgegentreten, da es der Gewerkschaft eine Monopolstellung zu sichern drohte, durch die er die Handlungsfreiheit staatlicher Institutionen verstärkt bedroht sah. Einen Monat nach dem Marsch auf Rom, der Mussolini in das Amt des Ministerpräsidenten gebracht hatte, brachte Mosca seine Erwartungen gegenüber dem neuen Regierungschef zum Ausdruck. 48 Mussolinis Regierungsübernahme brachte Mosca mit der schweren Krise des Repräsentationssystems in Europa in Zusammenhang, die in Italien eine besondere Schärfe angenommen habe. Sie beruhte insbesondere auf einer Schwächung der Mittelklasse durch den Krieg und auf einer Erschütterung des Staatsapparates, durch welche die Schwächen des Regierungssystems sich um so leichter zeigten. Es gebe drei radikale Lösungen der Krise: die Diktatur des Proletariats, die Rückkehr zum mehr oder weniger verschleierten Absolutismus der Bürokratie und den Syndikalismus, d.h. die Herrschaft der Berufs- bzw. Klassenorganisationen. Für die Beseitigung der Gefahr der Diktatur des Proletariats sprach Mosca Mussolini größtes Lob aus. Die Rückkehr zum Absolutismus der Bürokratie in der Weise des 19. Jahrhunderts ohne die Kontrolle durch gewählte Vertreter hielt er bei der Zunahme der Herrschaftsmittel und der staatlichen Funktionen für unerträglich drückend und befürchtete, daß ein solches System alle vitalen Kräfte der Gesellschaft absorbieren könne. Als gefährlichste Lösung bezeich47 Atti parlamentari, Senato: Legislatura XXVI, l a sessione 1921-1922, discussioni, tornata del 20 marzo 1922, S. 1718. 48

41 Atti parlamentari, tornata del 27 novembre 1922, S. 4240-4242.

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nete er den Syndikalismus, da er durch die moderne wirtschaftliche Entwicklung und ihre Arbeitsteilung, die größten Aussichten auf Erfolg habe. Wenn sich eine Repräsentanz der Klassen an die Stelle der gewählten Körperschaften schiebe, erleide der Staat eine höchst gefährliche Umformung, und leicht könne eine solche Repräsentanz zum vorherrschenden Machtfaktor werden, der nicht durch seine gebildetsten Mitglieder bestimmt werde, sondern durch diejenigen, die die unerläßlichste wirtschaftliche Funktion ausübten. Gegenüber der Ablehnung der radikalen Lösungen blieb für Mosca nur die Empfehlung der Wiederherstellung der repräsentativen Regierung, und er unterstrich selbst die Bedeutung dieses Votums durch den Hinweis darauf, daß er in seinem Jugendwerk - zu dem er auch heute noch stehe - gegen das parlamentarische System geschrieben habe. Elemente zum Aufbau eines anderen Systèmes ständen nicht zur Verfügung. Dem entsprechend formulierte er die Erwartung an Mussolini: „Onorevole Mussolini, schwer ist daher die Last, die auf ihren Schultern ruht, die Last der Wiederherstellung der repräsentativen Regierung. Beim Tragen dieser Last haben alle, die wir hier sind, die Verpflichtung, Sie mit allen unseren Kräften zu unterstützen. Denn es darf nicht vergessen werden, daß es, um die parlamentarische Regierung wiederherzustellen, nötig ist, die Parteien zu reorganisieren, die Disziplin innerhalb und außerhalb des Parlaments wiederherzustellen und endlich nicht die gesamte politische Klasse zu erneuern, aber die 4 bis 5 Dutzend Personen, unter denen man die Leiter des Staates auswählte die, mit wenigen Ausnahmen, nicht die intellektuelle und moralische Qualität hatten, die ihrem äußerst hohen Amt entsprachen. Sie, Onorevole Mussolini, müssen sie durch Personen ersetzen, die sie durch Energie und Kompetenz würdig ersetzen können." 49 Den Beifall Moscas fanden daher Initiativen Mussolinis, die seiner Ansicht nach dem Funktionieren des parlamentarischen Systems zugute kamen, wie die Wahlrechtsänderung von 1923, die der Partei mit den meisten Stimmen eine hohe Prämie an Mandaten zusprach und ihr damit eine breite parlamentarische Grundlage sicherte. Mosca erwartete von der Wahlrechtsänderung eine Neutralisierung der Machtzersplitterung, wie sie in Italien die Einführung des Verhältniswahlrechts gebracht habe. Es entfalle die Notwendigkeit einer mühsamen und vielfältig unzureichenden Koalitionsbildung, die auch nur eine unzulängliche Machtgrundlage für die von ihr getragene Regierung ergebe. Koalitionsregierungen seien in sich gespalten und das führe dazu, daß solche Regierungen „...nicht wissen, was sie tun, da sie von zwei Steuerrudern geleitet werden,

9

Ebenda, S.

4 .

Zur Demokratiekritik Gaetano Moscas

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und man weiß, daß ein Schiff mit zwei Steuern sich nicht hält und damit endet, daß es das eine oder andere Mal sinkt." 5 0 Mosca verlieh hier seiner Kritik an den innenpolitischen Zuständen Ausdruck, die dadurch bestimmt war, daß das parlamentarische System durch eine Machtzersplitterung korrumpiert worden war. Dem gegenüber betonte er: „... die politische Macht ist keine Sache, die man teilen kann: sie ist ihrer Natur nach geeint und unteilbar; sie kann nicht wie das Kapital eines industriellen Unternehmens in Aktien aufgeteilt werden. Wenn daher eine Partei an der Macht ist, muß sie sich darauf beschränken zu kontrollieren und zu kritisieren. Die Macht zu teilen, die eine unteilbare Einheit bildet, bewirkt ihre Paralyse. " 5 1 Die klassische Funktionsteilung zwischen regierender Partei und kontrollierender Opposition mit der Möglichkeit eines Machtwechsels erschien Mosca als die ihrem Wesen entsprechende Form der parlamentarischen Demokratie und er erwartete die Wiederherstellung dieses Verhältnisses auch vom Faschismus, wenn er der Rolle gerecht werden wollte, die Mosca ihm zudachte, nämlich dem politischen Systems Italiens wieder zu Funktion und Effizienz zu verhelfen. Mosca lenkte allerdings die Aufmerksamkeit auch auf Schwächen des Gesetzes. Die Änderung des Wahlrechts konnte nicht der eigentlichen Ursache der Krise des Repräsentativsystems abhelfen, die nach seiner Interpretation in einer wachsenden Differenz zwischen Gesellschaft und politischem System lag. Das Repräsentativsystem hatte am besten im 19. Jahrhundert dem gesellschaftlichen Zustand entsprochen. Es hatte sich auf eine gefestigte Mittelschicht stützen können. Diese war zum Ende des Jahrhunderts einem Rückgang ausgesetzt gewesen. Zwar waren die politischen Formen erhalten geblieben, aber in ihnen hatte sich eine damagogische, plutokratische oder auch bürokratische Oligarchie entwickelt bzw. die drei Elemente hatten gemeinsam Einfluß bekommen. Dies Tendenz sah Mosca durch das vorliegende Wahlgesetz gefördert und da setzte seine Kritik an. Sie richtete sich gegen die Einführung eines einzigen großen nationalen Wahlkreises, da damit die Auswahl der Kandidaten in die Hand von wenigen hundert Personen gelangte und dem Wähler nur noch die Auswahl zwischen den nominierten Kandidaten blieb. Auf längere Sicht drohte dadurch auch der persönliche Kontakt zwischen Wählern und Wahlkandidaten verloren zu gehen. Mosca kritisierte außerdem, daß die Wahlprüfung in erster Instanz dem Parlament entzogen und einer zentralen Institution übertragen werde. Damit habe auch das Recht der Wahlprüfung in letzter Instanz für das Parlament 50

Atti parlamentari tornata del 13 novembre 1923, S. 5365-5368; 5366.

51

Ebenda.

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seine Bedeutung verloren, da die erste Entscheidung kaum noch zu korrigieren sei. Angesichts dieser Kritikpunkte trat Mosca für eine Rückkehr zu den Einmann-Wahlkreisen - also zu den Wahlkreisen, in denen nur ein Kandidat gewählt wurde - und damit für das ehemals gültige Mehrheitswahlrecht ein. Die Tatsache, daß sich dann die Regierung nur auf eine Minderheit der Wähler stütze, schien ihm demgegenüber als ein unbedeutender Einwand. Im ganzen sah Mosca also in dem faschistischen Wahlgesetz die Stärkung der Regierungsmacht und bedauerte, daß dieses Ziel nicht durch die Rückkehr zu EinmannWahlkreisen und zum Mehrheitswahlrecht und damit durch Beseitigung des nach dem Weltkrieg eingeführten Verhältniswahlrechtes verwirklicht werden sollte. Bei den bisher behandelten Stellungnahmen war die Grundannahme, daß Mosca davon ausging oder zumindestens nach außen die Voraussetzung machte, der Faschismus oder zumindest Mussolini verfolgte insgesamt das Ziel, das politische Repräsentativsystem Italiens wieder funktionsfähig zu machen. Das klare Bekenntnis Mussolinis zu einer diktatorischen, von ihm allein verantworteten Regierung, wie er es in einer Rede vor dem Senat im Januar 1925 abgelegt hatte, machte es Mosca unmöglich, künftig ohne weiteres von dieser Annahme auszugehen. Das hatte zur Folge, daß Moscas Reden nun einen immer wieder deutlich hervortretenden Akzent grundsätzlicher Ablehnung des faschistischen Herrschaftssystems aufwiesen und dies auch in Fällen, in denen das Gesetzgebungsvorhaben in seinen formalen Inhalten, seinen früheren Forderungen entsprach. Die neue Linie in Moscas Stellungnahmen zeigte sich schon im Februar 1925 bei der Diskussion einer Wahlrechtsänderung, die an sich für Mosca - wie er auch selbst betonte - höchst willkommen sein mußte, da sie die Rückkehr zu den Einmann-Wahlkreisen brachte. 52 Diese positive Korrektur des von Mosca immer wieder als verhängnisvollen Fehler angeprangerten Übergangs zum Verhältniswahlrecht war jedoch in seinen Augen durch verschiedene andere Bestimmungen des Gesetzentwurfes stark entwertet. Der gewesene Abgeordnete wurde gegenüber den anderen Kandidaten sehr bevorzugt, weiterhin fehlte die Festsetzung eines zu erreichenden Mindeststimmanteils für die Wahl eines Abgeordneten und schließlich wurde die Kandidatur Bediensteten des Staates praktisch unmöglich gemacht.

52 Atti del Parlamente, Senato del Regno, Legislature 27, 1° Sezione 1924/25, discussioni, tornata del 13 Febbraio 1925, S. 1665-1668.

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Wichtiger als die genannten Kritikpunkte waren jedoch Moscas Erwägungen zu den allgemeinen politischen Bedingungen, unter denen die nächsten Wahlen stattfinden würden. Um die Repäsentativregierung Wahrheit werden zu lassen, seien die Bürgerrechte der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Person in der Verfassung des geeinten Italien, im Statuto Albertino, feierlich proklamiert. „In der Tat, ohne die Repektierung der Individualrechte kann die Repräsentativregierung tatsächlich zur absoluten Regierung werden. Bei den furchtbaren Mitteln, über die heute jede Regierung verfugt, wehe wenn das Handeln der Regierung nicht gesetzliche Grenzen findet. Da sie, wenn diese Grenzen nicht beachtet werden, immer den freien Ausdruck des Bürgerwillens nötigen kann, wie es in manchen Staaten Südamerikas geschieht, wo dem Anschein nach ein Repräsentativsystem herrscht, es in Wirklichkeit aber die Exekutivgewalt ist, die die Wahlen macht." 53 Ohne den garantierten Schutz der Bürger gegen öffentliche und private Gewaltanwendung konnten die nächsten Wahlen nicht der freie Ausdruck des Volks willens sein. Zum Abschluß seiner Rede bezog Mosca sich auf seine Forderung von 1922 gegenüber dem gerade auf revolutionäre Weise ins Amt gekommenen Ministerpräsidenten Mussolini, den er mit der Alternative konfrontiert habe, nach diesem außergewöhnlichen Vorgehen entweder eine neue Legalität aufzurichten oder zu der alten zurückzukehren. Da die Schaffung einer neuen Legalität zu verwerfen gewesen sei, habe er die Rückkehr zum repräsentativen Regierungssystem gefordert. Die Forderung zu seiner Wiederherstellung lag auch jetzt auf der Hand: „Aber blicken wir um uns, betrachten wir das gesamte Europa und einen großen Teil Amerikas: können wir sagen, daß die liberale Idee, Grundlage der repräsentativen Regierungssysteme, tot sei? Sicherlich nicht, und nun, wenn wir für jetzt zu dieser Form der Regierung zurückkehren müssen, und wenn es wahr ist, daß es heute keine andere, bessere Form der Regierung gibt, die man an die Stelle setzen könnte, nun gut, wer das Ziel will, muß auch die Mittel wollen. Und die unerläßlichsten Mittel bestehen in der Respektierung der individuellen Freiheiten, denn da, wo es Respektierung dieser individuellen Freiheiten nicht gibt, da kann es kein ehrliches, kein wahres repräsentatives Regierungssystem geben.54 Mit seiner Argumentation suggerierte Mosca die zutreffende Charakterisierung des faschistischen Regierungssystems als tatsächliche Abwendung vom Repräsentativsystem hin zu einer absoluten Herrschaft der Exekutive. Er ließ aber doch auch noch die Möglichkeit offen, diesen Zustand durch Anerkennung 53

Ebenda, S. 1667.

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Ebenda, S. 1667.

22 Timmermann / Gruner

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der grundlegenden Bürgerrechte zu korrigieren. Gegenüber der tatsächlichen Macht der faschistischen Regierung blieb Moscas Freiheitsforderung auf einen an die Regierung bzw. an Mussolini gerichteten Appell beschränkt, noch in dieser Situation den Kurs zu ändern und dem der historischen Entwicklung entsprechenden repräsentativen Regierungssystem durch Respektierung der verfassungsmäßig verbrieften Bürgerrechte zur tatsächlichen Verwirklichung zu verhelfen. Als Kern von Moscas ideellen Zielsetzungen schälte sich nun ganz klar seine Freiheitsforderung für die Bürger heraus. Mit der Betonung der Macht der Exekutive allein, so wichtig ihm diese Macht früher gewesen war, war kein Staat zu schaffen, der auf der Höhe der Zeit und der Staaten Europas stand. Für einen solchen Staat boten sich Mosca nur südamerikanischen Parallelen. Die neue Verteidigung der Freiheit des Bürgers tritt auch in Moscas Rede zu dem faschistischen Gesetz gegen Geheimgesellschaften, speziell gegen Freimaurer, von 1925 sehr deutlich hervor. So hob er zunächst die grundsätzliche Bedeutung der Vereinsrechte für das öffentliche Recht der Staaten hervor, die mehr oder weniger vom Repräsentationssystem bestimmt seien, „...es gibt der Exekutivgewalt die Möglichkeit, alle die Gesellschaften aufzulösen, die sie für gefährlich und gegen die allgemeinen Anweisungen der Regierung gerichtet hält, und es verhindert die Bildung und die Tätigkeit jeder politischen Strömung, die mit der augenblicklich an der Macht befindlichen im Gegensatz steht;..." 55 Eine ungeregelte Vereinsfreiheit konnte dagegen Vereinigungen zum Zuge kommen lassen, die den Staat bedrohten oder die sich an seine Stelle zu setzten suchten. Daraus leitet Mosca als Anforderung an ein Vereinsgesetz ab, daß es deutlich feststelle, wo eine staatsfeinliche Tätigkeit beginne und daß die Ausführung des Gesetzes d.h. die Feststellung der Unrechtmäßigkeit von Handlungen, in die Entscheidungsgewalt von Gerichten gelegt würde. Beiden Forderungen wurde das Gesetz nicht gerecht. Es eröffnete vielmehr für die Regierung einen unbegrenzten Ermessensspielraum. Wie die faschistische Regierung ihn nützen würde, sprach Mosca nur indirekt, aber doch unmißverständlich an: „Ich glaube, mit den Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzesentwurfs könnte eine Regierung, die das scharfe Vorgehen bevorzugt, unter Zuhilfenahme auch des Artikels 3 des Gemeinde- und Provinzialgesetzes das Vereinigungsrecht unterdrücken, während eine schwache Regierung erlauben kann, daß sich Vereinigungen bilden, die in Wahrheit eine Gefahr für den Staat darstellen und nicht im engeren Sinne für die Regierung, vielmehr für die ge-

55

Tornato del 18 novembre 1925, S. 3660-3662;S. 3661.

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sellschaftlichen Einrichtungen, auch für die grundlegendsten, wie Eigentum und Familie." 5 6 Wenn auch indirekt, stellte Mosca hier den funktionierenden Rechtsstaat dem autoritären Willkürstaat entgegen, erinnert aber zugleich auch an die möglichen Konsequenzen eines schwachen Staates, die in einem Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse liegen könnten. Hatte Mosca noch in den ersten Jahren des Faschismus ausschließlich vor einer Schwächung und Bedrohung der Staatsmacht gewarnt, so hatte die Entwicklung des faschistischen Regimes ihn nun zum entschiedenen Verfechter staatsbürgerlicher Freiheitsrechte gegenüber dem Staat gemacht. Der Staat sollte durch eine rechtsstaatliche Ordnung d.h. konkret durch klare Gesetzgebungsvorschriften zum Einschreiten gegen Verletzungen seiner Rechtsordnung angehalten werden, aber er sollte gschützt werden, zum Machtinstrument einer bestimmten Regierung gegen ihre politischen Gegner und Rivalen gemacht zu werden. Die Forderung nach klarer Abgrenzung von erlaubter und unerlaubter Vereinstätigkeit zeigt dies ebenso, wie das Verlangen, die Entscheidung in konkreten Fällen den Gerichten und nicht der Exekutive anzuvertrauen. Eine weitere Einzelheit unterstreicht die neue Stoßrichtung Moscas. Er wendete sich gegen die Verpflichtung der Beamten, nicht nur ihre Zugehörigkeit zu der verbotenen Freimauererei aufzugeben, sondern auch ihre ehemalige Mitgliedschaft bekannt zu machen, werde ein Mißbrauch ermöglicht, einmal von Seiten des Staates, der die ehemaligen Mitglieder der Freimaurerlogen wie in einer Proskriptionsliste zusammenfassen könne, und zum anderen von Seiten der Kollegen, die mit dieser Tatsache Inhaber von Posten dikreditieren konnten, die sie selbst anstrebten. Den Höhepunkt von Mosca Engagement zur Verteidigung von Recht und Freiheit auf der Grundlage der bestehenden Verfassungsordnung und in Ausrichtung auf ein funktionstüchtiges Repräsentativsystem auch und nun vor allem gegen den Faschismus stellt Moscas Rede zum Gesetzesentwurf von Ende 1925 über die Kompetenzen des Regierungschefs (Attributzioni e praerogative del Capo del Governo, primo ministro segretario di Stato) dar. 57 Der Entwurf verfolgte für ihn nach dem Inhalt und nach der Art seiner Präsentation durch die Regierung das Ziel einer grundlegenden Änderung der öffentlichen Gewalten und damit der italienischen Verfassung, und Mosca bemühte sich, diese Änderung möglichst klar hervorzuheben. Zu diesem Zweck wies er zunächst darauf hin, daß das Gesetz in Zusammenhang mit anderen, bereits verabschiedeten Gesetzen über Presse, Vereinigungen, Bürokratie und über die Möglichkeit der

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Ebenda, S. 3661f.

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Dornato del 19 dicembre 1925, S. 4372-4374.

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Exekutive, Rechtsnormen zu erlassen, zu sehen sei. Er rief damit die Tendenz des Regimes in Erinnerung, die Macht der Exekutive auf Kosten der Rechte der Bürger zu erweitern. Jetzt ging es um das Verhältnis zwischen Ministerpräsident und Ministern, also um die Organisation der Exekutive und weiter um das Verhältnis von Exekutive und Legislative. Im Hinblick auf die Stellung des Ministerpräsidenten skizzierte Mosca deren langsam wachsende Bedeutung bis zur Gegenwart. Nach dem vorliegenden Entwurf verloren die einzelnen Minister praktisch jeden Kontakt zum König. Das Kabinett wurde von einem Beschluß- zu einem Beratungsorgan. Die Überordnung des Ministerpräsidenten wurde erweitert: er konnte neue Minister berufen, konnte amtierende entlassen, konnte die Zuständigkeit der Minister ändern, konnte die Entscheidung aller Kompetenzfragen unter den Ministern an sich ziehen. „Die gesamte Exekutivgewalt sammelt sich nun im Regierungschef und die Minister sind gleichsam nicht anderes als die Vollstrecker seines Willens." 58 Das Verhältnis von Exekutive und Legislative würde sich dadurch ändern, daß die Regierung das Recht bekäme, die Tagesordnung der beiden Kammern des Parlaments zu ändern. Die Regierung könne dadurch unliebsame Diskussionen vermeiden und ihr Übergewicht wachse beachtlich. Sein Resümee zog Mosca in einer historischen Betrachtung über die Entwicklung der repräsentativen Monarchie in Europa, die sich in zwei Formen vollzogen habe: als konstitutionelle und als parlamentarischen Monarchie. In der parlamentarischen Monarchie sei die Regierung insgesamt verantwortlich gegenüber dem König und gegenüber dem Parlament, in der konstitutionellen Monarchie dagegen nur gegenüber dem Staatsoberhaupt. In dem Gesetzentwurf werde der Regierungschef nicht vom Staatsoberhaupt, also vom König, abhängig gemacht; es handele sich also nicht um den Übergang von der parlamentarischen zur konstitutionellen Monarchie. Er werde auch nicht vom Parlament getragen, sondern das Staatsoberhaupt halte ihn im Amt, „...solange der Komplex von wirtschaftlichen, politischen und moralischen Kräften, die ihn zur Regierung gebracht hat, ihn nicht verlassen hat." 5 9 Man wolle weder dem König die freie Wahl der Regierung überlassen, noch ihre Wahl von den Abstimmungen des Parlamants beeinflussen lassen. Das bedeutete klar ausgesprochen: die Abschaffung des parlamentarischen Systems. Mosca bekannte sich abschließend erneut als ehemals scharfer Kritiker dieses parlamentarischen Systems, fühlte sich aber jetzt dennoch gezwungen, dessen 38

Ebenda, S. 4373.

59

Ebenda, S. 4373.

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Sturz zu beklagen. Es habe die ungeheure Entwicklung Italiens zwischen 1848 und 1914 ermöglicht, habe allerdings von 1919 bis 1922 eine Degenerierung erfahren, die einmal durch die kriegsbedingten Zustände verursacht worden sei, zum anderen aber auf falsche Entscheidungen zurückgehe, und zwar auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts und des Verhältniswahlrechts. In der Gegenwart sah Mosca in der Jugend vorwiegend den Wunsch nach schnellen und radikalen Veränderungen, während die sicherlich notwendige Anpassung der politischen Ordnung an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse langsam und überlegt erfolgen müsse. Demgegenüber habe die alte Generation die Pflicht, die Jungen zu ermahnen und die Veränderungen nicht zu billigen, die sie für unzeitgemäß hielten. Er lehnte daher den Gesetzentwurf ab: „Ich für meinen Teil würde, wenn ich sie [diese Veränderung] billigte, gegen mein Gewissen stimmen, gegen meine innere Überzeugung, und daher bin ich gezwungen, gegen die Vorschläge zu stimmen, die uns heute vorliegen." 60 In der Elite-Theorie Moscas und seiner mit ihr korrespondierenden Demokratiekritik spiegeln sich die Schwierigkeiten wider, die der politischen Entwicklung in Italien nach seiner Einigung entgegenstanden. Ein geeinter nationaler Staat war ins Leben getreten, aber er konnte sich offensichtlich zunächst nur auf eine dünne Trägerschicht stützen. Es mußte die Aufgabe dieser Schicht sein, möglichst schnell und intensiv weitere Volksschichten zu politisieren und zu integrieren. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde immer deutlicher, daß diese Aufgabe noch ausstand, als neben die oppositionelle Gruppierung der Katholiken die ebenfalls zu einer Massenbewegung tendierende sozialistische Partei trat. Moscas Elite-Theorie reflektierte diesen Zustand zwar, interpretierte ihn aber als gesellschaftlichen Normalzustand der Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit. Er erkannte einen gewissen Legitimierungszwang der Elite an und sah auch die Notwendigkeit einer Anpassung der politischen Institutionen an die sich ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse. Er tendierte dabei aber zu äußerster Vorsicht, da er der Notwendigkeit der Führung durch eine Elite weit größere Bedeutung beimaß, als den Möglichkeiten der geistigen und politischen Entwicklung breiterer Volksschichten auf ein Niveau, das ihnen eine qualifizierte politische Mitsprache erlaubte. Die sich verstärkenden gesellschaftlichen Spannungen mußten nach seiner Meinung durch eine Sicherung und Stärkung der Staatsmacht neutralisiert werden, wenn sich das italienische politische System in angemessener Weise, d.h. in dem Rahmen der tatsächlichen Möglichkeiten entwickeln sollte.

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Ebenda, S. 4374.

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Karl-Egon Lonne

Der von Giovanni Giolitti 1913 herbeigeführte Übergang zum allgemeinen Wahlrecht mußte in Mosca einen erbitterten Gegner finden, da er die Massen nicht für befähigt hielt oder jedenfalls noch nicht für befähigt hielt, die ihr eingeräumten politischen Rechte mit Maß und Vernunft auszuüben. Mochte Giolitti die Wahlrechtserweiterung als ein Mittel zur Integration der Volksmassen auffassen, deren negative Auswirkungen durch geschickte politische Schachzüge - wie z.B. bei den Wahlen von 1913 durch die Funktionalisierung der katholischen Wählermassen zugunsten der liberalen Mehrheit - zu neutralisieren waren, so war dies für den Theoretiker Mosca keine überzeugende Betrachtungsweise. Er hatte ja schon in der sich im geeinten Italien entwickelnden parlamentarischen Regierungsweise nicht die positiven politischen Möglichkeiten, sondern die sich vielfältig einschleichende Korruption hervorgehoben. Für Mosca stellte das allgemeine Wahlrecht eine schwere Belastung des italienischen politischen Systems dar, deren Brisanz dann nach dem Ersten Weltkrieg noch ungeheuer verstärkt worden war durch den Übergang zum Verhältniswahlrecht. Die verderblichen Auswirkungen zeigten sich für ihn klar in der Schwäche der Regierungen, die nicht mehr in der Lage waren, Führungsauftrag und Führunsganspruch des Staates durchzusetzen, und die so zum Spielball auch kleinster gesellschaftlicher Gruppen zu werden drohten. Mosca setzte gegenüber diesem Zustand, der für ihn anarchische Züge trug, seine Hoffnung auf eine Korrektur durch die Stärkung der Staatsmacht und war bereit anzuerkennen, daß Mussolini und der Faschismus dieses Ziel verwirklichen könnten. Darüberhinaus kam es ihm dann aber entscheidend darauf an, die in seinen Augen falschen Weichenstellungen im Bereich des Wahlrechts wenigsten teilweise wieder rückgängig zu machen. Damit konnte die Stärkung der Staatsmacht unabhängig gemacht werden von ihrer faktischen Verwirklichung durch den Faschismus. Sie konnte wieder die Grundlage eines funktionierenden liberalen Systems darstellen, konnte also wieder von einer tatsächlichen Führungsschicht in die Hand genommen und mit der Sicherung der bürgerlichen Freiheitsrechte verbunden werden. Mosca sprach dem Faschismus also eine positive Funktion zu, deren Erfüllung ihn dann jedoch überflüsig machen werde, da die Wiederherstellung der Staatsautorität die Rückkehr zu dem ehemaligen herrschenden und funktionierenden liberalen System ermöglichen würde. Als sich Mussolini unmißverständlich zu einer diktatorischen Herrschaft bekannte, da richtete Mosca seine Kritik bevorzugt gegen Mißbräuche der Staatsmacht durch Mussolini und den Faschismus und ergriff entschieden Partei für die Verteidigung der bürgerlichen Freiheitsrechte.

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Die Tatsache, daß Benedetto Croce sein Verhältnis zum Faschismus von denselben Kriterien leiten ließ wie Mosca, obwohl er die empirisch-positivistische Grundhaltung Moscas nicht teilte, dürfte als Indiz dafür zu werten sein, daß in Moscas politischem Denken eine Haltung zum Ausdruck kam, die in der liberal-konservativen bürgerlichen Führungsschicht Italiens weit verbreitet war. Diese Schicht war zu einer langsamen Entwicklung der politischen Institutionen Italiens zugunsten einer behutsamen Erweiterung der politischen Klasse bereit, aber dieser Vorgang sollte kontrolliert und geführt durch eben diese politische Klasse selbst erfolgen, durfte also nicht den dafür nur unvollständig gerüsteten breiten Massen selbst in die Hand gelegt werden, zumal diese leicht von der einen oder der anderen Seite Einflüssen ausgesetzt sein konnten, die sie gegen den bestehenden Staat mobilisierten. Nachdem verfehlte Weichenstellungen eine langsame und behutsame Entwicklung des Systems unmöglich gemacht hatten, verbreitete sich in der Führungsschicht die Illusion, der Faschismus sei für die Sanierung des Systems zu instrumantalisieren. Der Faschismus wurde also keineswegs in seinem eigenen Charakter und seiner eigenen Zielsetzung akzeptiert, sondern er wurde als Gegengewicht angesehen, das sich durch seine Anwendung überflüssig machte und dann keiner weiteren Beachtung bedurfte und auch keine weitere Existenzberechtigung hatte. Mosca und auch Croce zeigten mit ihrer deutlichen Kritik am Faschismus seit Mussolinis Bekenntnis zu einer dikatorischen faschistischen Herrschaft Anfang 1925, daß sie sich ihres Irrtums bewußt geworden waren und daß sie nun entschlossen waren, der Verteidigung der rechtsstaatlichen Ordnung und der in ihr garantierten freiheitlichen Bürgerrechte den Vorrang zu geben. Für sie kam eine Rücknahme der liberalen Entwicklung des 19. Jahrhunderts nicht in Frage. Sie ließen entsprechende Tendenzen des Faschismus vielmehr nun als das erkennen, was sie waren: als Willkür und Unterdrückung durch Kräfte, die die Staatsmacht zum Instrument ihres egoistischen Machtstrebens gemacht hatten.

Der Fall Deutschland von 1919 -1945 Von Heiner Timmermann

I . Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik Keine historische Betrachtungsweise der Vergangenheit kann sich mit dem Aufzeigen des Geschehenen begnügen. Im Mittelpunkt wird immer wieder die Frage nach dem „Warum" und „Weshalb", nach der Geisteshaltung, der Weltanschauung, der Ideologie stehen. Allein die Endphase der Weimarer Republik und die Gründe für die unmittelbare Regierungsübergabe an Hitler am 30. Januar 1933 zu betrachten, genügt nicht für die Beantwortung der Frage, wie es möglich war, daß in Deutschland eine derart radikale Partei an die Macht kam, bzw. warum die Weimarer Republik scheiterte. Die Geschichtswissenschaft hat in Übersichts- und Detailforschungen eine Vielzahl von Faktoren zum Scheitern der Weimarer Republik herausgestellt. In dem hier angebotenen Rahmen können einige lediglich thesenhaft vorgetragen und erläutert werden: -

Folgen des Ersten Weltkrieges Versagen der Parteien Strukturelle Schwächen der Weimarer Verfassung Weltwirtschaftskrise Rolle des antidemokratischen Denkens in der Weimarer Republik Fragwürdige Haltung Hindenburgs und seiner Ratgeber Soziale, politische und wirtschaftliche Einflüsse

1. Die Folgen des Ersten Weltkrieges Der Krieg verlangte von den Völkern besondere wirtschaftliche, politische und militärische Anstrengungen, die nur von starken Exekutivgewalten gemeistert werden konnten. Die Lösung der Nachkriegsprobleme, z. B. Reparationszahlungen, Wiederaufbau, soziale und psychologische Auswirkungen, Störungen und Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft, Kriegsschuld und

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Kriegsschulden, Arbeitsbeschaffung, nationale Fragen, Staatenneugründungen wird von vielen Völkern ebenfalls nur starken Regierungen zugetraut. Die unmittelbare End- und Nachkriegszeit in Deutschland wurde ferner noch gekennzeichnet durch Soldatenrevolution, Hunger, Arbeitslosigkeit, überstürzte Republikanisierung, Revolutions- und Putschversuche der Linken und der Rechten, politisch motivierte Morde und Mordversuche, Schwächung der zentralen Reichsgewalt und aufkommender Separatismus in verschiedenen Teilen des Reiches. In dieser, für die Errichtung einer neuen Ordnung ungünstigen Lage fielen wichtige Vorentscheidungen und Entscheidungen auf internationaler und nationaler Ebene, die die Zukunft Deutschlands und Europas nachdrücklich prägten. 2. Das Versagen der Parteien Die Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik dürfen nicht nur bei den Linken und der nationalen Rechten gesucht werden. Die rücksichtslose Verfolgung der Kommunisten durch die Nazis nach der Machtübernahme bedeutet keinen Abstrich an der Mitschuld jener am Untergang der Republik; denn die Kommunisten waren „in den entscheidenden Stunden der Republik deren unerbittlichste Gegner..." (Gerhard Schulz). Bei den Reichstags wählen von 1920 gewannen die staatstragenden und die Demokratie bejahenden Parteien 65 %, bei der Wahl vom Juli 1932 nur noch 43 % der Stimmen. Die Parteien hatten es nicht vermocht, dem Bürger ein politisches Verantwortungsgefühl für das Funktionieren einer parlamentarischen Demokratie nahezubringen. Darüber hinaus waren sie nicht in der Lage, „sich unter Zurückstellung von Parteidoktrinen über eine geschlossene Abwehr der dem Staate und seiner demokratischen Verfassung von den radikalen Parteien drohenden Gefahr und über ein Notprogramm zu verständigen" (Boris Meißner). Die staatsbejahenden Parteien (SPD und Zentrum) gingen auseinander, um besser ihren parteipolitischen Interessen nachgehen zu können. Mit dem Bruch der Großen Koalition im Frühjahr 1930 - die SPD-Reichstagsfraktion widersetzte sich mehrheitlich der halbprozentigen Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung, welche ihr eigener Kanzler vorgeschlagen hatte - schalteten die Parteien der Mitte sich selbst weitgehend von der Herrschaftsausübung aus. Die SPD machte sich selbst bewegungsunfähig, indem sie sich auf die Tolerierung der Regierung Brüning beschränkte und darauf verzichtete, ihre 143 Abgeordneten als politische Kraft für die RegierungsVerantwortung einzusetzen. Verhängnisvoll bleibt der Beschluß von SPD und Ei-

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serner Front, gegen Papens Verfassungsbruch mit der Absetzung des preußischen Ministerpräsidenten vom 20. Juli 1932 keinen Widerstand entgegenzusetzen. Verhängnisvoll bleibt auch das Lavieren der Zentrums-Partei zwischen den Fronten und schließlich die bereitwillige Befürwortung der Regierungsbeteiligung der NSDAP, von wo aus es bis zur Regierungsübernahme nicht mehr weit war. 3. Strukturelle

Schwächen der Weimarer

Verfassung

Die Reformen des Oktober 1918 - politische Parlamentarisierung des Kabinetts Prinz Max von Baden, Abschaffung des Drei-Klassen-Wahlrechts in Preußen, Verfassungsänderung vom 28. Oktober 1918 - und die Entscheidung für den Parlamentarismus auf dem Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte vom Januar 1919 waren wichtige Markierungen auf dem Wege zur Weimarer Verfassung, die am 31. Juli 1919 mit 262 gegen 75 Stimmen von der Nationalversammlung gebilligt wurde. Der Realisierung und Entwicklung der Verfassungsprinzipien: -

Volkssouveränität Parlamentarismus Grundrechte Republikanische Staatsform Föderalismus - Einheitsstaat mit der Tendenz zur Beschränkung der Selbständigkeit der Länder und Stärkung des Zentralstaates - Präsidentielles Prinzip standen hemmende und belastende Elemente struktureller Art entgegen:

-

Verhältniswahlrecht Plebiszit Amtsfülle des Reichspräsidenten Notverordnungsrecht.

Das Verhältniswahlrecht garantierte auf der einen Seite die Spiegelung des Wählerwillens im Parlament. Auf der anderen Seite führte es zu einer Zersplitterung des Parteiensystems, der Entfremdung zwischen Abgeordneten und Wählern, instabilen Regierungsmehrheiten, häufigen Regierungs- und/oder Kabinettsmehrheiten ohne Einfluß des Wählers, da die Entscheidungen hierfür von Partei vorständen oder Parteiausschüssen bzw. später von einer Person, dem Reichspräsidenten, getroffen wurden.

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Nach Hermens führte die Dynamik des Verhältniswahlrechts im September 1930 zu einem revolutionären Erdrutsch. Nach dem MehrheitsWahlrecht hätten im September 1930 die SPD in 186, die Bayerische Volkspartei und das Zentrum in 110 von ca. 400 Wahlkreisen die relative Mehrheit erreicht und somit im Reichstag über eine stabile Mehrheit verfügen können. Wegen der Vielzahl der auf Grund des Verhältniswahlrechts im Reichstag vertretenen Parteien „überrascht es daher kaum, daß eine derartige Anarchie im Parteiwesen die parlamentarische Demokratie in Deutschland diskreditierte" (Newman). Als plebiszitäre Elemente kannte die Weimarer Verfassung das Volksbegehren, den Volksentscheid und die Direktwahl des Reichspräsidenten. Das Volksbegehren wurde siebenmal eingeleitet und dreimal durchgeführt, zweimal ein Volksentscheid. Alle Fälle dienten der Opposition als Agitation gegen die Regierung, die Parlamentsmehrheit und zu einem beträchtlichen Teil auch gegen die demokratische Republik als solche. Sie trugen zur Verhetzung des innenpolitischen Klimas bei. Insbesondere das Volksbegehren und der Volksentscheid vom Oktober bzw. Dezember 1929 („Volksbegehren gegen die Versklavung des Deutschen Volkes") bewirkten mit ihren Begleitumständen eine emotionale Aufputschung des politischen Klimas und eine rapide ansteigende Popularität Hitlers. Die NSDAP gewann wenige Monate vor dem Volksentscheid bei den Reichstags wählen 179.000 Stimmen, einige Monate nach dem Volksentscheid ca. 6,5 Millionen Stimmen. „Die Praxis von Weimar zeigt demnach, daß die Instrumente 'Volksbegehren' und 'Volksentscheid' zu Prapagandawaffen radikaler Gruppen wurden, durch die die Kampfbereitschaft ihrer Anhänger erhöht wurde" (Newman). Abgesehen davon war die potentielle direkte Beteiligung des Volkes bei dem Zustandekommen von Gesetzen ohnehin illusionär, da sich das Volk wie bei anderen Wahlen nur über die Parteiorganisation äußern konnte. Die Direktwahl des Reichspräsidenten sollte dem Gewicht und der Legitimation des Amtes dienen. Doch wie bei dem Volksbegehren und dem Volksentscheid waren auch hier die Parteien für die Willensbildung der Wählers unerläßlich. Mit Zunahme der Bedeutung des Präsidentenamtes - das Amt war inzwischen zur Schaltposition der Verfassungsrealität geworden - im Krisenjahr 1932 gerieten auch die zwei Präsidentenwahlen in den Sog der emotional gefärbten politischen Entscheidung und der destruktiven Propaganda gegen die Demokratie. Eng mit diesem Problemkreis war insofern die Amtsfülle des Reichspräsidenten verbunden, als ihm laut Verfassung das Recht der Reichstagsauflösung sowie die Ernennung und jederzeitige Entlassung des Reichskanz-

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lers und seiner Minister zustand. Von 1920 bis zum März 1933 wurde der Bürger aufgerufen zu: - acht Reichstagswahlen - zwei Reichspräsidentenwahlen mit je zwei Wahlgängen - zwei Volksentscheiden. Landtags- und Kommunal wählen sind noch hinzuzurechnen. Allein im Krisenjahr 1932 gab es vier Reichstagswahlen und eine Wahl zum Preußischen Landtag. Die Feinde der Demokratie von links und rechts schienen dadurch beweisen zu können, daß die Demokratie zur Schaffung einer stabilen Regierung unfähig war. Jeder der sieben Reichstage endete vorzeitig mit Hilfe des Auflösungsartikels 25 Abs. 1 der Weimarer Verfassung. Dadurch ging wichtige Zeit für eine kontinuierliche Regierungs- und Parlamentsarbeit verloren. Noch schwerwiegender sollte sich das Ernennungs- und Entlassungsrecht des Reichspräsidenten von Reichskanzler und seiner Minister auswirken. Die von der Verfassung erwünschte theoretische Übereinstimmung von Reichspräsident und Reichstagsmehrheit bei Ernennung und Entlassung des Kanzlers wurde schon bei der ersten Koalitionsregierung Müller 1920 aufgegeben. Nur fünf der 18 Regierungen nach 1920 konnten sich auf eine parlamentarische Mehrheit berufen. Die Macht des Reichspräsidenten nahm derart zu, daß der Reichspräsident sogar erheblichen Einfluß auf die Politik der Regierung ausübte. Schließlich wurde mit dem 30. März 1930 - Ernennung Brünings zum Kanzler - die Zeit der Präsidialkabinette eingeleitet, die ohne Bindung an Koalitions- und / oder Reichstagsmehrheit regierten und mit Hitler den Weg ins Chaos beschritten. Die extensive Auslegung von Art. 48 Abs. 2 der Verfassung - Notverordnungsrecht -, wodurch die Anwendung des Artikels nicht nur bei Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, z. B. bei Unruhen und Aufständen, sondern bei der Regelung gesetzgeberischer Vorlagen (Wirtschafts- und Sozialgesetze) erfolgte, war eine Konsequenz der totalen Oppositionspolitik der Radikalen von rechts und links und der Ohnmacht des Reichstages infolge der Parteienzersplitterung. Dieser Verfassungswandel bedeutete einen klaren Bruch der Gewaltentrennung, ... „eine derartige Notgesetzgebung hatten die Schöpfer der Verfassung nicht im Auge gehabt" (Winkler). 4. Weltwirtschaftskrise Den Ursachen der Weltwirtschaftskrise soll hier nicht nachgegangen werden. Es kann davon ausgegangen werden, daß zwischen den Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland und der sich verschärfenden Krise des Par-

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lamentarismus ein innerer Zusammenhang bestand. Die zunehmende Arbeitslosigkeit, verbunden mit der Reparationsproblematik und der Bankenkrise des Jahres 1931, hatte die wirtschaftliche und soziale Situation in Deutschland erheblich verschlechtert. Hinzu kam die beängstigende Lage der verschuldeten Bauern, Handwerker, der kleinen Unternehmer und Ladenbesitzer. „Vor allem aber die Jugendlichen wuchsen von Anbeginn in eine dauernde Arbeitslosigkeit hinein" (Bracher) und liefen den Nationalsozialisten als Wähler scharenweise in die Arme. Da die Wirtschaftskrise sich nicht nur auf Deutschland beschränkte, sondern gleichzeitig eine Krise des kapitalistischen Systems darstellte, hätten eigentlich die Kommunisten, die dieses Wirtschaftssystem am radikalsten bekämpften, den größten Wahl vorteil erwarten können. Ihr Wähleranteil vergrößerte sich zwar erheblich (1928: 10,6 % - November 1932: 16,9 %), sie konnten aber die enormen Zuwächse der NSDAP nicht erreichen.

5. Das antidemokratische

Denken der Weimarer Republik

Während in den deutschen Staaten im 19. Jahrhundert der Staat durchweg als übergeordnetes, für sich selbst existentes Wesen interpretiert und dem einzelnen eine dienende Rolle zugewiesen wurde, waren die Ideen der Französischen Revolution von der Würde des Individuums, von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen und vom Staat als Zweckverband zur Ermöglichung eines freiheitlichen Lebens weitgehend nicht übernommen worden. Freiheitlich demokratische Traditionen konnten im Kaiserreich nur mäßig ausgebildet werden. Theodor Eschenburg stellte vor als fast 50 Jahren fest, daß die Weimarer Demokratie nicht das Ergebnis einer innenpolitischen Kraftanstrengung, nicht der Erfolg einer politischen Bewegung, sondern eine Notlösung, ein taktischer Ausweg gewesen sei. Als sich dieser Ausweg, wie der Friedensvertrag von Versailles gezeigt hatte, nicht bewährte, wurde die Institution als solche verworfen. „Die neue Staatsform wurde durch Versailles um ihre politische Legitimierung gebracht. Die Demokratie war in dieser Form nicht erwünscht, sie war nicht begehrt worden" (Eschenburg). Entscheidend war aber, daß es in großen Teilen lediglich um eine Übernahme der Herrschaftsgewalt über den Bismarckschen Obrigkeitsstaat durch die Parteien - vor allem die Sozialdemokraten und das Zentrum - kam. Es blieb z. B. die dynastische Ländereinteilung, es unterblieb der demokratische Ausbau der Selbstverwaltung in den Provinzen und Kommunen. Es gab maßgebliche Einrichtungen und staatliche Institutionen

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sowie wirtschaftliche, politische, geistige und moralische Kräfte, die sich allen Versuchen eines demokratischen Anpassungsprozesses entzogen. Reichswehr, Polizei, Beamtentum, Verwaltung, Justiz, Universitäten, Großgrundbesitz und Schwerindustrie hatten nicht dauernd oder mehrheitlich für die Republik gewonnen werden können. „Antidemokratisches Denken ist daher nicht gleichbedeutend mit nationalsozialistischem Denken, sondern ist ein Denken, das auf die Ablösung der Weimarer Republik durch andere politische Gestaltungsformen gerichtet ist. Indem es den bestehenden Staat geistig unterhöhlt und für einen anderen, wie immer gearteten Staat eintritt, bewirkt es eine geistige Auszehrung der Demokratie und vereitelt den Konsensus der Staatsbürger, auf dem die demokratische Verfassung eines Gemeinwesens beruhen muß, wenn es einigermaßen funktionieren soll" (Sontheimer). Daher bedeutete Opposition in der Weimarer Republik auch nicht Alternative zur Regierung im Rahmen der von allen akzeptierten Grundlinien, sondern Widerstand gegen den Staat und seine verfassungsmäßigen Grundprinzipien. Das Spektrum des antidemokratischen Denkens umfaßte die Kommunisten wie die nationale Rechte, wobei anzumerken ist, daß diese einer subtileren und differenzierteren Betrachtung bedarf als die Kommunisten. Ziel der Kommunisten war die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Gekennzeichnet war das antidemokratische Denken der nationalen Rechten durch einen Irrationalismus als „modische Obsession, die nichts anderes gelten lassen wollte" (Sontheimer), Verhöhnung des Intellekts durch die sogenannten Intellektuellen und durch hektischen Tatwillen - besonders der Jugendbewegung bis hin zum Antisemitismus. Insgesamt war dieses Denken gezielt ausgerichtet auf die Abschaffung der parlamentarischen und liberalen Demokratie, an deren Stelle die Diktatur des Proletariats, ein Ständestaat, ein deutscher Volksstaat oder ein totaler Staat errichtet werden sollte. Seine Polemik stellte die demokratischen Einrichtungen, insbesondere Parlament und Parteien als verächtlich und nichtswürdig dar. „Die folgenschwerste und am Ende zerstörende Paradoxie ... kam schließlich darin zum Vorschein, daß sich die NSDAP seit 1930 als eine politische Kraft erwies, die, unbeeinträchtigt durch ihre dezidiert antiparlamentarische Haltung, auf dem Wege über das demokratische Wahlrecht der Weimarer Republik innerhalb der Parlamente zur stärksten Partei aufsteigen und schließlich auch von innen her das parlamentarische System aus den Angeln heben konnte.

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6. Zusammenfassung und Wertung Es ist schwierig, die primären Ursachen und Anlässe für das Scheitern der Weimarer Demoratie in den Folgen des Ersten Weltkrieges, den strukturellen Schwächen der Verfassung, dem Versagen der Parteien, der Weltwirtschaftskrise und möglicherweise der Dynamik der nationalsozialistischen Bewegung zu suchen. Entscheidend wird wohl die antidemokratische Haltung der Bürger und die mangelnde Abwehrbereitschaft der Weimarer Republik selbst sein. „Wenn Bürger Kompromisse als faul, Toleranz als schwächlich, Meinungsfreiheit als zersetzend, Parteienkonkurrenz als 'Gezänk', den Rechtsstaat als undeutschen Formalismus, die Grundrechte als überflüssige Ordnung, aber nicht als ihre gesellschaftliche Organisation ansehen, dann ist die Gefahr groß, daß diese Bürger in der Krise als Untertanen in die Arme eines 'starken Mannes' fliehen und sich schließlich 'geschlossen' in den Untergang 'führen' lassen. I I . Der Nationalsozialismus und seine innen- und außenpolitischen Wirkungen Ein Vergleich zwischen der historischen Entwicklung in Deutschland und den westlichen Ländern im 19. Jahrhundert zeigt, daß bereits seit der Französischen Revolution die Linien divergieren: In den deutschen Staaten wurden die umwälzenden Ideen von der Gleichheit und Freiheit aller Menschen, von der Würde des Einzelwesens und vom Staat als Zweckverband zur Ermöglichung eines freiheitlichen Lebens (mit allen Implikationen) nicht übernommen. Die deutschen Romantiker interpretierten demgegenüber den Staat als übergeordnetes, für sich existentes Wesen und wiesen dem einzelnen eine dienende Rolle zu, denn „allen Wert, den der Mensch hat, hat er allein durch den Staat" (Hegel). 7. Der Erste Weltkrieg

und seine Folgen für Deutschland

Dem Sieg der Waffen folgte zunächst der Sieg der Demokratie. In Europa scheint des Kriegsziel der USA „Make the World Safe for Democracy" 1919 verwirklicht: Die Demokratische Weltrevolution. Die Dynastien der Habsburger und Romanows, der Hohenzollern und der Osmanen verschwinden. Europa, das 1914 aus 17 Monarchien und drei Republiken bestand, hat 1919 13 Republiken und 13 Monarchien. In manchen Ländern wurde die Monarchie zeitweise durch die Staatsform der Republik abgelöst. Allerdings gerieten die Demokratien sehr bald in eine Krise. Wesentlich für die Krisen nach dem Er-

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sten Weltkrieg wurde der Gegensatz von Demokratie und Diktatur. Die russische Revolution und die Errichtung der bolschewistischen Diktatur ließ in den 20er Jahren die Gefahren, die von den Faschismen drohen, gering erscheinen, zumal sich die Diktaturen und Diktatoren zum Teil auf straffe Führung der Regierungsgeschäfte zur Meisterung der Krisen beschränken und oft einen Großteil der Bevölkerung hinter sich wußten. Erst die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland ließ die Gefahr, die von den Rechtsdiktaturen ausging, erkennen und den Sieg der Demokratie von 1919 zu einem Scheinsieg werden. Die Ursachen der Krisen waren in folgenden Umständen zu suchen: - Soziale Veränderungen : Anerkennung der politischen Gleichberechtigung der Massen - Psychologische und soziologische Auswirkungen des Krieges - Enttäuschung über die Friedensschlüsse - Neue Konflikte: Zerrüttung der Weltwirtschaft und Währungen - Innerstaatliche Machtkämpfe: Kampf des herrschenden Staats Volkes in den neugegründeten Vielvölkerstaaten gegen nationale Minderheiten - Einführung des Verhältniswahlrechts in vielen kontinentaleuropäischen Staaten mit der Folge der Bildung von Splittergruppen und der Verhinderung von klaren parlamentarischen Mehrheitsbildungen. Eine der Voraussetzungen der Diktaturen wurde die moderne Massendemokratie. Die Massen wurden gewonnen durch Berufung auf die große nationale Vergangenheit, opportunistische Programme, die die widersprechenden Elemente in sich verschmelzen, und durch geschickte Propaganda, die den Glauben an den eigenen Sieg einhämmert. Kennzeichen des Diktaturstaats in Europa waren: Gelenkte Publizistik, Scheinwahlen (Aufstellung von Kandidatenlisten durch die herrschende Partei), Ausschaltung der Oppositon, brutale Unterdrükkung jeglichen Widerstandes, Aufgabe des Rechtsstaates zugunsten des „Wohl des Volkes", Mißachtung des Individuums. Der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus wurden vor allem durch ihre antimarxistischen Parolen und ihren hypertrophen Nationalismus zu Vorbildern rechtsgerichteter Gruppen in vielen Ländern Europas: Die „Rote" Diktatur in Rußland (Sowjetunion) verschling Myriaden von Opfern.

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2. Die Diktatur in Deutschland a) Innenpolitik aa) Die Ideologie des Nationalsozialismus Der Nationalsozialismus entstand nach 1918 als Gegenbewegung gegen die Revolution und das parlamentarisch-demokratische System. Seine geistigen Wurzeln sind uneinheitlich und zum Teil verfälscht: Nietzsches „Wille zur Macht", die Rassenlehre Joseph Arthur Comte de Gobineaus und Houston Stewart Chamberlains, der „Schicksalsglaube" Richard Wagners, Johann (Gregor) M. Mendels Vererbungslehre, Karl Ernst Haushofers „Geopolitik" oder die sozialdarwinistischen Vorstellungen eines Alfred Ploetz werden ebenso zu Bestandteilen der NS-Ideologie wie die Ideen Machiavellis, Fichtes, Treitschkes oder Spenglers. Dominierend wird der Antisemitismus: Da dem Deutschtum eine langsame Vernichtung durch die jüdische „Rasse" drohe, fordert Hitler die Verteidigung von „Blut und Boden" und die Vernichtung der Juden sowie die „Stärkung der nordischen Rasse", die als „Herrenvolk" über die „Minderheiten" regieren soll. Der Nationalsozialismus betonte das „Völkische", forderte unbedingtes Aufgehen des einzelnen in die Gemeinschaft („Du bist nichts, dein Volk ist alles!") und predigte einen charismatischen „Führerglauben" („Führer befiehl, wir folgen!"). Er übernahm Anregungen aus der Jugendbewegung („Gemeinschaftsromantik"), pries das „Fronterlebnis" der Kameradschaft. Die Bewegung wurde zum Sammelbecken Unzufriedener, die von der parlamentarischen Demokratie enttäuscht waren und die Forderungen der NSDAP nach wirtschaftlicher Autarkie, expansiver Außenpolitik („Volk ohne Raum"), Befreiung von den „Fesseln des Versailler Diktats" und Abwendung des Bolschewismus unterstützten. bb) Der totale Staat Der nationalsozialistischen Revolution folgte die legale Revolution, der Ausbau der Macht mit Hilfe des Notstandsartikels 48 der Weimarer Verfassung mit dem Ziel der Befestigung der totalen Herrschaft der NSDAP und des Führerprinzips durch Gleichschaltung, Aufhebung verfassungsmäßiger Grundrechte durch Verordnungen des Reichspräsidenten „Zum Schutze des deutschen Volkes" (4. Februar 1933) und „Zum Schutze von Volk und Staat" (28. Februar 1933). Nach den Reichstagswahlen und dem Staatsakt in der Potsdamer Garnisonskirche (21. März 1933: Tag von Potsdam) erfolgte die Ausschaltung des Reichstages durch das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Staat" (Er-

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mächtigungsgesetz vom 23. März 1933). Der Übergang der gesetzgeberischen Gewalt auf die Exekutive, die als ausführendes Organ gleichgeschaltet wurde, geschah durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (7. April 1933) mit der Folge der Entlassung von politisch mißliebigen und nichtarischen Beamten. Der föderalistische Aufbau des Reiches wurde zerschlagen durch das „Vorläufige Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich (31. März 1933) und mit dem „Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich" (7. April 1933), wodurch in den Ländern Reichstatthalter eingesetzt wurden, die die Länderregierungen ernennen. Den Abschluß der Gleichschaltungsaktion erfolgte durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches" vom 30. Januar 1934 (Beseitigung der Länderparlamente) und durch das Gesetz über die Auflösung des Reichsrates vom 14. Februar 1934. Die Übernahme der Polizeigewalt befestigte die Macht der NSDAP. Bis 1936 wurde die gesamte Polizei (Schutz-, Kriminal- und politische Polizei (seit 1934: „Gestapo") dem Reichsführer der SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, unterstellt. Nach der Röhm-Affäre trat die SS an die Stelle der SA. Die SS wurde das Vollstreckungsorgan Hitlers. Im „Völkischen Rechtsstaat erfolgte die Rechtsprechung nach „Volksempfinden", nicht nach klassischen Rechtsnormen: Einsetzung von Sondergerichten, Bildung des Volksgerichtshofes. Grundlagen der NS-Rechtsauffassung sind der Wille des Führers und die NS-Weltanschauung. Die Rechtssicherheit des Individuums wurde bestritten. Es herrschte Willkür der Polizei und Bekämpfung staatsgefährdender Bestrebungen. Politische Gegner wurden durch Entzug der persönlichen Freiheit und zur „Erhaltung und Sicherheit der Volksgemeinschaft" bestraft und in Konzentrationslager eingewiesen. Seit Mai 1933 erfolgte die Liquidation und Auflösung bzw. Verbot von Parteien und Gewerkschaften. Nach Beschlagnahme des Gewerkschafts Vermögens wird die Deutsche Arbeitsfront gebildet (DAF). Mit dem 1. Dezember 1933 (Gesetz zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat) wird die NSDAP Staatspartei. Die Gefahr einer sozialistischen „zweiten Revolution" und der Verschmelzung von Reichswehr und SA zu einer Miliz (Plan Röhms) wurde durch die Ermordung des Stabschefs der SA Röhm und der ihm ergebenen SA-Führung am 1. Juli 1934 beseitigt. Gleichzeitig werden andere politische Gegner umgebracht. Die Morde wurden als Staatsnotwehr durch Gesetz für rechtens erklärt. Nach dem Tode Hindenburgs am 2. August 1934 übernahm Hitler das Amt des Reichspräsidenten. Die Vereidigung der Reichswehr erfolgte auf den „Führer und Reichsklanzler Adolf Hitler". 23*

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cc) Wirtschafts- und Sozialpolitik Bei prinzipieller Erhaltung des Privateigentums an Wirtschaftsgütern und Unternehmen wurde die deutsche Wirtschaft in ein gelenktes System mit dem Ziel der Autarkie überführt. Es war durch Erzeugungsplanung, Einfuhr- und Ausfuhrlenkung, Rohstoffzuteilung, Auftrags- und Kreditlenkung, Preisüberwachung und Devisenlenkung streng nach wehrwirtschaftlichen Zwecken reguliert. Zur Erlangung der wirtschaftlichen Autarkie wurde die Landwirtschaft gestärkt. Stichwörter: „Reichsnährstand", „Reicherbhofgesetz". Die Beseitigung der Arbeitslosigkeit erfolgte durch Instandsetzungsprogramme: Unternehmen Autobahn (27. Mai 1933), Aufrüstung und obligatorischer Reichsarbeitsdienst (26. Juni 1934). Die Finanzierung der Arbeitsbeschaffung geschah durch Schuldenpolitik (MefoWechsel). Die innere Verschuldung des Reiches betrug 1938 42 Mrd. RM. Die Umstellung auf die Kriegswirtschaft wurde 1936 mit dem 2. Vierjahresplan eingeleitet. In der Arbeits- und Sozialpolitik erstrebte die NSDAP Leistungssteigerungen durch feste Unterordnung von Unternehmen und Arbeitnehmern unter die Staatsgewalt, durch Verbot von Streik und Aussperrung, durch Einführung staatlicher Tarifordnungen an die Stelle von Tarifverträgen, durch ein autoritäres Bestimmungsrecht der Betriebsführer in den Betrieben und durch soziale Ehrengerichtsbarkeit (20. Januar 1934). Die Freiheit der Arbeitsverträge wurde durch Lohnstopp und erzwungenen Arbeitseinsatz aufgehoben. Für die politisch organisierte Freizeit wurde die Gemeinschaft „Kraft durch Freude (KdF) geschaffen. Die Wohlfahrtspflege der freien und kirchlichen Verbände wurde zugunsten der NS-Volkswohlfahrt (NSV) und des Winterhilfswerks (WHW) benachteiligt. dd) Kultur-und Kirchenpolitik Der Machtanspruch wurde auf das Pressewesen (Schriftleitergesetz), auf den Rundfunk (Reichsrundfunkgesellschaft), auf die literarische und künstlerische Tätigkeit (Reichskulturkammer), auf die wissenschaftliche Forschung und Lehre (Reichsforschungsrat, Ahnenerbe e.V.) auf das Erziehungswesen (Nationalpolitische Erziehungsanstalten) erstreckt. Grundzüge der Kulturpolitik waren in Ausrichtung des gesamten Kulturlebens auf die Ideologie, die Ausschaltung des Judentums, die Bekämpfung „entarteter Kunst", die Förderung einer Literatur und Kunst, die das Heldische und Kriegerische preist, das Volkhafte und Bo-

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denständige verherrlicht (Blut- und Bodenliteratur) und auf germanisch-deutsche Geschichte aus nationalisticher und rassistischer Sicht behandelt. Auf dem Gebiet der Baukunft wurde in vielen Partei- und Staatsbauten ein eklekzisticher Monumentalstil mit Neigung zum Gigantischen gepflegt. Trotz Reichskonkordat (Juli 1933) wuchs der Widerstand der katholischen Kirche (Enzyklika Pius XI. „ M i t brennender Sorge", 1937). Gegen die Errichtung einer evangelischen Reichskirche wandte sich im Mai 1934 die Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche mit der Konstituierung der aus dem 1933 gegründeten Pfarrernotbund hervorgegangenen Bekennenden Kirche. ee) Presse- und Rundfunkpolitik In Rivalität mit dem Auswärtigen Amt (Auslandspropaganda) und dem Oberkommando der Wehrmacht (Wehrmachtspropaganda gelang es dem Reichspropagandaministerium (eingerichtet am 13. März 1933) unter Goebbels, das Informations- und Meinungsmonopol, das der Nationalsozialismus für sich beanspruchte, weitgehend bei sich und seinem Apparat zu konzentrieren. In täglichen Ministerkonferenzen wurden die Weisungen an die Presse, Funk und Film (Wochenschau) erteilt. Der „Völkische Beobachter" blieb als offizielles Zentralorgan der Partei erhalten, trat jedoch in seiner Bedeutung hinter dem „Großdeutschen Rundfunk" und den von Goebbels gesteuerten Organen (z. B. „Der Angriff") zurück. ff) Wehrpolitik In der Wehrpolitik wirkte der Nationalsozialismus mit Energie auf die „Wehrmachung" der Nation hin (Beseitigung der Rüstungsbeschränkungen des Versailler Vertrages, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, Steigerung des Rüstungspotentials, wehrgeistige Erziehung, Einmarsch in das Rheinland, Bau des Westwalles). Die von nationalsozialistischen Dienststellen provozierten Krisen der Wehrmachtsführung um die Reichskriegsminister von Blomberg und den Generalobersten von Fritsch beschleunigten die innere Gleichschaltung der Wehrmacht. Das Reichskriegsministerium wurde aufgelöst. Hitler selbst übernahm als Führer und Oberster Befehlshaber der Wehrmacht die unmittelbare Befehlsgewalt. Als sein Befehlsinstrument wurde das Oberkommando der Wehrmacht geschaffen.

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gg) Bevölkerungspolitik In seiner Bevölkerungspolitik zielte der Nationalsozialismus einerseits auf Volksmehrung (Stärkung des Willens zum Kind). Entsprechende soziale Maßnahmen waren: Beihilfen für Kinderreiche, Kinder-Landverschickung, Ehestandsdarlehen, Hilfswerk Mutter und Kind). Andererseits suchte er den Nachwuchs bestimmter Bevölkerungsteile, vor allem von Juden und Erbkranken, zu verhindern. Im Ehegesundheitsgesetz und in der Rassengesetzgebung schuf er sich entsprechende Handhaben. Die nach diesen Vorstellungen als „biologisch Minderwertige" eingestufen wurden zwangsweise fortpflanzungsuntauglich gemacht oder umgebracht (Euthanasie). hh) Die Judenverfolgung Nach der Machtübernahme nahm die Verfolgung der Juden stufenweise schärfere Formen an (Boykottmaßnahmen, Berufs- und Heirats verböte, Bestrafung von „Rassenschande", „Arisierung" der Wirtschaft, Ausschreitungen vom 9. November 1938 mit anschließendem Vermögensentzug). Sie gipfelte während des Krieges in der Ausrottung großer Teile des deutschen und europäischen Judentums. Von 1942 - 1944 entstanden Vernichtungslager. b) Außenpolitik Ziel war die Revision des Versailler Vertrages als Vorstufe zur „Eroberung neuen Lebensraumes". Hitler beteuerte zwar den deutschen Friedenswillen, lehnte aber eine Politik der kollektiven Sicherheit ab und befürwortete zweiseitige Abkommen. Die deutsche Außenpolitik lenkte Hitler nach 1933 auf verschiedenen Wegen, nicht nur über das Auswärtige Amt, an dessen Spitze 1938 sein Berater von Ribbentrop trat, sondern u. a. über das „Außenpolitische Amt" und die „Auslandsorganisation" der NSDAP. Von entscheidender Bedeutung für die Außenpolitik Hitlers war sein weitgespanntes machtpolitisches und rassenpolitisches Programm. Seit Beginn seiner Reichskanzlerschaft betrieb Hitler eine militärische und wirtschaftliche Aufrüstung, die in ihrer Zielsetzung verharmlost, aber zugleich mit großem propagandistischen Aufwand verteidigt und ideologisch untermauert wurde. Grundsätzliche politische Erklärungen (Reichstagsrede Hitlers vom 17. Mai 1933) und außenpolitische Initiativen (z. B. Nichtangriffsabkommen zwischen Deutschland und Polen vom 26. Januar 1934) während der ersten Zeit erweckten, auch im Ausland, den Eindruck einer verhandlungs-

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bereiten, gemäßigt revisionistischen Haltung. Die ersten Versuche einer Einbeziehung Österreichs scheiterten infolge der diplomatischen Isolation Deutschlands (fehlgeschlagener nationalsozialisticher Putschversuch in Österreich, Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Dollfuß am 25. Juli 1934). Bis 1936 legte sich Hitler eine gewisse außenpolitische Zurückhaltung auf, um die Aufrüstung nach außen abzuschirmen. Doch nach der französisch-russischen Annäherung im Frühjahr 1935 und dem Abschluß des deutsch-britischen Flottenabkommens (18. Juni 1935) wurde die Politik der Expansion eingeleitet. Im März 1936 erfolgte die Kündigung des Locarno-Vertrages und der Einmarsch in das entmilitarisierte Rheinland. Der Gegensatz zwischen der britischen und der sowjetischen Europapolitik stellte eine wesentliche Voraussetzung für Hitlers außenpolitische Erfolge dar. Großbritannien war zudem durch Spannungen mit Italien im Mittelmeerraum und mit Japan in Ostasien an verschiedenen Schauplätzen gebunden. Die außenpolitishe Entwicklung war frappierend: Juli 1936 - Abkommen mit Österreich; August 1936 - Olympische Spiele in Berlin; August 1936 - Einführung einer zweijährigen Wehrpflicht; November 1936 Antikominternpakt: Damit Beginn der Zusammenarbeit gegen gemeinsame politische Gegner. Dem Pakt trat zunächst Italien (Januar 1937) bei, später im März 1939 Spanien. Demgegenüber zerfiel das von Frankreich gestützte Bündnissystem der südost- und osteuropäischen Staaten, für das der am 2. Mai 1935 abgeschlossene französisch-sowjetische Beistandspakt keinen Eresatz bot. Sowohl die wechselnden Mittel der Diplomatie als auch die begrenzte und schrittweise Erfüllung deutscher Forderungen im Rahmen der Appeasement-Politik, schließlich aber auch die britisch-französischen Garantien für Polen, Rumänien, Griechenland konnten der von Hitler betriebenen Expansionspolitik keinen Einhalt gebieten. Im Spätherbst 1937 ging Hitler dazu über, seine weiteren Ziele (siehe Hoßbach-Protokoll) unter Ausschaltung konservativer Persönlichkeiten in der Wehrmacht und in der Diplomatie zu verwirklichen. Nach dem Anschluß Österreichs im März 1938 erfolgte die militärische Besetzung Böhmens und Mährens und damit die Auflösung der Tschechoslowakei. Die tschechischen Gebiete wurden in das Reichsprotektorat Böhmen und Mähren umgewandelt. Damit entfielen die Voraussetzungen, unter denen Großbritannien und Frankreich das Münchener Abkommen geschlossen hatten. Das Vorgehen Deutschlands gegen Polen führte zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (1. September 1939), nachdem Hitler mit der Sowjetunion am 23. August 1939 einen Nichtangriffspakt abgeschlossen hatte. Ein Jahr nach der Niederlage Frankreichs begann Hitler mit dem Angriff auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) einen rassenideologisch motivierten Vernichtungskrieg größten Ausmaßes mit dem

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Ziel der Dezimierung der osteuropäischen Völkerschaften und der dauernden Sicherung eines „deutsch-germanischen" beherrschten Großraumes. c) Der NS-Staat im Kriege Die terroristischen Tendenzen steigerten sich während des Krieges ins Ungemessene. Die militärischen Erfolge der ersten Kriegsjahre bildeten die Grundlage einer ebenso bedenken- wie schrankenlosen Annexions- und Unterdrükkungspolitik in den besetzten Gebieten. Nach den ersten Rückschlägen in Rußland wurde die Macht Hitlers vor allen bis dahin noch verbliebenen Begrenzungen gelöst (Reichstagsbeschluß vom 26. April 1942). Je deutlicher sich die Niederlage abzeichnete, desto hemmungsloser steigerte sich der Machtgebrauch zum Despotismus und zum Vernichtungswillen sowohl in den besetzten Gebieten (Zwangsdeportation von Fremdarbeitern, Nacht- und Nebelerlaß und Folgen, 7. Dezember 1941) als auch im Innern (drakonische Strafen gegen „Wehrkraftzersetzung"). Wie frühere Versuche der Widerstandsbewegung, Hitler zu stürzen, schlug auch das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 fehl. Durch die Todesurteile des Volksgerichtshofes wurde der deutsche Widerstand seiner Führer beraubt. Während die unterlegenen deutschen Armeen an allen Fronten zurückwichen und die Zivilbevölkerung vernichtenden Luftangriffen ausgesetzt war, verschärfte sich das Zwangssystem bis zum äußersten. Erst mit dem Selbstmord Hitlers am 30. April 1945 brach es zusammen. d) Das Ende Die Besatzungsmächte verfügten 1945 mit dem Verbot auch die Auflösung aller NS-Organisationen. Die noch lebenden Führer des Nationalsozialismus wurden vor dem Internationalen Militär-Tribunal in Nürnberg verurteilt. Anhänger und Nutznießer gewisser Kategorien wurden durch Entnazifizierung aus ihren Stellungen entfernt. Den vom Nationalsozialismus Verfolgten sind in der Bundesrepublik Deutschland Entschädigungsansprüche zugestanden worden. Über das Nürnberger Verfahren gegen bestimmte NS-Organisationen (das Korps der politischen Leiter der NSDAP, die Gestapo, der SD und die SS) als Organisationsverbrechen geben das Londoner Abkommen vom 8. August 1945, das Kontrollratsgesetz Nr. 10 und das Urteil von Nürnberg vom 30. August/ 1.10.1946 detaillierte Auskünfte. Der Versuch, den Nationalsozialismus ideologisch oder organisatorisch wiederzubeleben (Neo-Nazismus), wird in der Bundesrepublik Deutschland als

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verfassungsfeindliche Unternehmung mit Verwirkung der Grundrechte (Art. 18 GG) und Parteiverbot (Art. 21 GG) bedroht. Π Ι . Versuch einer Antwort „ M i r erscheint jetzt immer der Schillersche Demetrius wie ein Symbol unseres Schicksals: Rein und edel fangt er an, und als Verbrecher endet er! Rätselhaft - aber jedenfalls sehr tragisch. Ich werde nicht fertig mit dem Nachdenken darüber!" Diese Worte schrieb Friedrich Meinecke 1946 an einen befreundeten Historiker. Dem Nationalsozialismus hatte Meinecke stets vorausgesagt, daß er über Deutschland eine totale Katastrophe bringe. Für ihn hatte sich die Vision der deutschen Katastrophe sogleich zu einer über Deutschland hinausgehenden Frage an das abendländische Schicksal erweitert. In seinem großartigen und erschütternden Rechenschaftsbericht über die Entwicklung des deutschen Staates und des deutschen Menschen von Bismarck bis Hitler, dem er den Titel „Die deutsche Katastrophe" gab, zeigte er im letzten Kapitel Wege zur Erneuerung: - Unterstützung derjenigen, die nationalsozialistische Einflüsse auf das Volk auszurotten versuchen und christlich-abendländischer Gesittung dadurch wieder Geltung verschaffen wollen, - Ausschaltung des entarteten Militarismus, - Revision unseres herkömmlichen Geschichtsbildes, ohne geschichtliche Tradition in „Bausch und Bogen zu verwerfen", - Besonnene und weise Beschränkung der Macht, - Deutschland wird Glied einer künftigen, freiwillig sich zusammenschließenden Föderation mittel- und westeuropäischer Völker, - evolutionäre Verschmelzung von nationaler und sozialistischer Bewegung und Wahrung der besonderen Formen für jedes Volk, - seelische Erneuerung des deutschen Volkes in Religion und Kultur, - gegenseitige Befruchtung von Weltbürgertum und Nationalstaat. Der große Historiker gab keine konkreten Anweisungen für eine politische Neuordnung Deutschlands und Europas, seine Empfehlungen waren von grundsätzlicher Art ebenso wie die des Soziologen und Volkswirtschaftlers Alfred Weber in seinem in den letzten Kriegsmonaten abgeschlossenen Werk „Abschied von der bisherigen Geschichte - Überwindung des Nihilismus?" Personale Identität bedarf der historischen Dimension. Aus einer Vielzahl von Gründen tun sich die deutschen damit besonders schwer. Dies allein im

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unmittelbaren Zusammenhang mit der Epoche des Nationalsozialismus sehen zu wollen, hieße eine unvollständige Begründung für diese Erscheinungen zu geben, aber die oft schwankende deutsche Geschichtsschreibung hat sicherlich einiges dazu beigetragen. Der Nationalsozialismus und der demokratische Neubeginn in Deutschland können mit einer Fragestellung, die ausschließlich den inneren Ereignissen und Umständen gilt, nicht verständlich gemacht werden. Das Ende der NS-Herrschaft und der Wiederaufbau des politischen Lebens auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage lassen sich nur angemessen erklären, wenn der Anteil Europas an diesen Entwicklungen und die Einbindung Deutschlands in die europäischen Zusammenhänge verdeutlicht werden können. Um den Nationalsozialismus und seine innen- und außenpolitischen Wirkungen zu verstehen, muß man auch seine Sonderstellung unter den faschistischen bzw. totalitären Regimen Europas in den 20er und 30er Jahren und das Spannungsverhältnis zu den demokratischen Nachbarländern sehen. Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus war einerseits ein deutsches, andererseits ein europäisches Phänomen. Dieser Widerstand sah nahezu ausnahmslos in seinen außenpolitischen Programmen in einer europäischen Föfderation ein zuverlässige Basis für die Errichtung einer friedlichen Neuordnung Europas nach der zu erwartenden Katastrophe. Die Realisierungsbemühungen zur westeuropäischen Einigung und die zunehmende Einbeziehung der Westzonen bzw. der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Auswirkungen im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich, wobei die Deutschlandfrage eine angemessene Berücksichtigung fand, leisteten einen hohen Beitrag zum wirtschaftlichen Wiederaufbau und zur demokratischen Stabilisierung Westdeutschlands. Auch wurde die Integration Westeuropas bewußt als Schutz vor totalitären Regimen im Osten entwickelt. Die Beschäftigung mit dem historisch-politischen Thema wird zu einem anthropologischen Anliegen, das notwendigerweise Bestandteil unseres aktuellen Seins unserer Vergangenheit ist. Identität und Selbstfindung kann dabei durch bewußte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gewonnen werden. Das politisch-historische Thema ist ein notwendiges, sinnvolles und heilsames Mittel gegen Vergessen/Verdrängen und für Bewältigen. Literatur Broszat, Martin: Der Staat Hitlers. Gundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1990.

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Dülffer, Jost: Deutsche Geschichte 1933-1945. Führerglaube und Vernichtungskrieg, Stuttgart u.a. 1992. Herbst, Ludwolf: Das nationalsozialistische Deutschland. 1933-1945, Frankfurt 1996. Hof er, Waither (Hg.): Europa und die Einheit Deutschlands. Eine Bilanz nach 100 Jahren, Köln 1970. Meinecke, Friedrich: Die deutsche Katastrophe, Wiesbaden 1946. Möller, Horst: Weimar. Die unvollendete Demokratie, 4. Aufl., 1993. Martin, Bernd: Weltmacht oder Niedergang? Deutsche Großmacht-Politik im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1989. Schulz, Gerhard : Deutschland seit dem Ersten Weltkrieg. 1918-1945, 2. Aufl., Göttingen 1982. Weber, Alfred: Abschied von der bisherigen Geschichte - Überwindung des Nihilismus?, Bern 1946.

Zwei Diktaturen in Deutschland Überlegungen zu Möglichkeiten und Grenzen des historischen Diktaturenvergleichs

Von Günther Heydemann und Christopher Beckmann

I. „ Z u der Zeit, von der die Rede ist, tobte in Europa ein jugendlicher, ungewöhnlich räuberischer und aggressiver Totalitarismus, der unbarmherzig ganze Völker mordete und bei dieser Gelegenheit auf beispiellose Weise beraubte. Später sollte die Welt ein wenig ruhiger werden, weil - mindestens in Europa nicht mehr Krieg herrschte, deshalb betrieben die Totalitarismen ihr Verfahren diskreter und griffen selten nach dem Leben der Menschen, umso häufiger aber nach ihrer Würde und Freiheit, ohne natürlich den Raub des Eigentums und der Gesundheit zu vernachlässigen, vor allem jedoch des Bewußtseins [ . . . ] . M l Anders als dem Schriftsteller ist es dem Historiker nur selten möglich, wissenschaftliche Erkenntnisse mit solcher Leichtigkeit und Eleganz der Sprache zu formulieren. Seine Aufgabe ist vielmehr die nüchterne Analyse, die auf fundierter Recherche, präziser Darstellung und kritischer Beurteilung komplexer historischer Sachverhalte beruht. Hierzu gehört besonders der schwierige, aber oft sehr fruchtbare Vergleich historischer Phänomene. Ist dieser Ansatz schon von jeher grundsätzlich methodisch umstritten, so galt und gilt dies besonders für den Vergleich der NS- mit der SED-Diktatur. Wer sich für einen solchen Forschungsansatz ausspricht und ihn zu praktizieren beabsichtigt, hat sich angesichts einer brisanten öffentlichen wie wissenschaftlichen Debatte nicht selten zunächst einmal zu rechtfertigen.Versucht man, die Hauptargumentationslinien derjenigen, die einer komparatistischen Betrachtung der beiden deutschen Diktaturen dieses Jahrhunderts ablehnend oder zumindest skeptisch gegenüberstehen, zu systematisieren, so lassen sich politisch-historische wie z. B. moralisch begründete Einwände unterscheiden, 1

Andrzej Szczypiorski:

Die schöne Frau Seidenmann, Zürich 1991, S. 98f.

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Günther Heydemann und Christopher Beckmann

die allerdings oftmals eng miteinander verwoben sind. Dabei gewinnt der Verweis auf den mörderischen Charakter des NS-Regimes häufig die Funktion eines Universalarguments, wie z. B. die Äußerung der Berliner PhilosophieProfessorin Margherita von Brentano: „Der bloße Vergleich des Dritten Reiches mit der DDR ist eine schreckliche Verharmlosung. Das Dritte Reich hinterließ Berge von Leichen. Die DDR hinterließ Berge von Karteikarten." 2 Ausgehend von dieser Bemerkung, die man in vielerlei Hinsicht als repräsentativ bezeichnen kann, lassen sich drei Haupteinwände ausmachen: 1. Die Behauptung, ein Vergleich bedeute oder impliziere Gleichsetzung bzw. beinhalte eine Tendenz hierzu Hier wird zunächst einmal eine Schwierigkeit im Sprachverständnis deutlich: Vergleich wird oft im Sinne von Gleichsetzung verwendet, obwohl der Begriff eigentlich genau das Gegenteil meint, nämlich die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Vergleichsobjekten. „Vergleich und Unterscheidung bedingen einander", 3 hat Golo Mann einmal festgestellt. Die Aussage, zwei Phänomene unterschieden sich in wesentlichen Punkten, setzt zwingend methodisch voraus, daß sie zuvor verglichen worden sind. Selbst die Feststellung völliger Gegensätzlichkeit kann immer nur das Ergebnis eines Vergleichs sein und führt die Behauptung von einer angeblichen Unvergleichbarkeit ad absurdum. 4 Auch die Befürchtung, der Vergleich könne, wenngleich vielleicht nicht beabsichtigt, zu einer Gleichsetzung verleiten, wie dies etwa der einst führende „Konservatismus"-Forscher der DDR, Ludwig Elm, geäußert hat, 5 ist mit Blick auf die bislang entstandene wissenschaftliche Literatur unbegründet. Im Gegenteil, die Feststellung, daß Vergleich eben nicht Gleichsetzung bedeuten kann

2

DIE ZEIT v. 16.5.1991.

3

Interview in: BADISCHE ZEITUNG v. 23.8.1989.

4 Alfred Grosser hat denn auch erklärt, daß „unvergleichbar" eines der törichsten Worte sei, die es gebe. Ders.: Verbrechen und Erinnerung. Für eine Politik der Mitverantwortung, in: Brigitte Rauschenbach (Hg.): Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten. Zur Psychoanalyse deutscher Wenden, Berlin 1992, S. 56-79, hier 64. Vgl. auch ders.: Ermordung der Menschheit. Der Genozid im Gedächtnis der Völker, München 1993, v.a. S. 45-96. 5 Ludwig Elm: Nach Hider - nach Honecker. Zum Streit der Deutschen um die eigene Vergangenheit, Berlin 1991, S. 34ff.

Zwei Diktaturen in Deutschland

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und darf, ist Gemeingut; entsprechend ist die Beteuerung, daß dem so sei, geradezu zu einer Pflichtübung geworden. Die Mahnung schließlich, daß ein Vergleich nicht dazu führen dürfe, über den Gemeinsamkeiten die Unterschiede zu vernachlässigen, 6 ist allerdings ebenso beachtenswert. Sie läßt sich aber durchaus auch umkehren: Man kann über den Unterschieden auch die Gemeinsamkeiten übersehen.7 2. Es werden historische Gründe ins Feld geführt An der ο. g. Äußerung ist unbestreitbar richtig, daß die Verbrechen des „Dritten Reiches" unendlich viel größer waren als die der DDR. Letztere hat in der Tat keinen Holocaust verübt und war auch nicht für die Entfesselung eines Weltkrieges mit seinen Hekatomben von Opfern und seinen unbeschreiblichen Leiden verantwortlich. Zudem wurde der SED-Staat ein weitgehend von außen geprägtes und gestaltetes Produkt des Kalten Krieges und war nicht das Ergebnis einer vorwiegend an ihren inneren Verletzungen gescheiterten Demokratie. In der Tat, das „Dritte Reich" war „hausgemacht", Hitler und die NSDAP kamen in einem Prozeß zur Macht, der zwar keinesfalls dem Geist, durchaus aber dem Buchstaben der Weimarer Reichs Verfassung entsprach. 8 Als weiteres Hindernis für eine komparatistische Analyse wird konstatiert, daß die NS-Diktatur ein Phänomen sui generis, der SED-Stalinismus hingegen ein abgeleitetes Phänomen gewesen sei, und der eigentliche Bezugspunkt für einen Vergleich mit Hitler-Deutschland daher die stalinistische Sowjetunion darstelle. 9 Dem ist gleichfalls nicht zu widersprechen, wohl aber der Forde6 Hans Mommsen: Nationalsozialismus und Stalinismus. Diktaturen im Vergleich, in: Klaus Sühl (Hg.): Vergangenheitsbewältigung 1945 und 1989 - ein unmöglicher Vergleich?, Berlin 1994, S. 109-126, hier 109. 7

Zur Auseinandersetzung hierüber vgl. Klaus Schroeder/Jochen Staadt: Der diskrete Charme des Status quo. DDR-Forschung in der Ära der Entspannungspolitik, in: LEVIATHAN 21 (1993), S. 24-63, sowie die Erwiderung von Sigrid Meuschel: Auf der Suche nach der versäumten Tat - Kommentar zu Klaus Schroeders und Jochen Staadts Kritik an der bundesdeutschen DDR-Forschung, ebd., S. 407-423. Vgl. auch Heiner Timmermann (Hg.): DDR- Forschung. Bilanz und Perspektiven, Berlin 1995. 8 Heinrich August Winkler: Requiem für eine Republik. Zum Problem der Verantwortung für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 54-67. 9 So etwa Wolfgang Schuller: Einzelbesprechung: Bericht der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, in: GWU 46 (1995), S. 738-742, hier 742. Vgl. dazu neuerdings Matthias Vetter (Hg.): Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Strukturmerkmale der nationalsozialistischen und stalinistischen Herrschaft, Opladen 1996.

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rung, diesen Vergleich räumlich und zeitlich auf die Phase des ,,originäre[n] Stalinismus" in der Sowjetunion zwischen der Mitte der zwanziger Jahre und 1953 zu beschränken. 10 Von entscheidendem Interesse ist neben den „großen" Zusammenhängen die innere Funktionsweise von Diktaturen, ihre Alltagsdimension, das oft wenig Spektakuläre und doch Geschichtsmächtige. Horst Möller hat daraufhingewiesen, daß die in den letzten Jahren verstärkt auftretenden Forderungen nach einem alltagsgeschichtlichen Blickwinkel, der auch die Perspektive der Opfer einschließe, eine vergleichende Diktaturgeschichte „von unten" geradezu zwingend nahelege.11 Schon Martin Broszat hat bei der Erläuterung des Resistenz-Modells, das die „kleinen", oft auch unreflektierten Formen von Verweigerung und widerständigem Verhalten im Alltag des „Dritten Reiches" zu erfassen sucht, als Ergebnis eines solchen Ansatzes eine „zwar weniger spektakuläre, aber dafür um so leichter nachvollziehbare histoire humaine" 12 propagiert. Insofern wird ein so verstandenes und begründetes Erkenntnisinteresse durch die ins Feld geführten historischen Argumente nicht tangiert. 3. Schließlich wird die Beßrchtung geäußert, eine vergleichende Betrachtung könne auf eine Relativierung der NS-Verbrechen abzielen oder sie zumindest ermöglichen Dieser Vorbehalt drückt sich in der Formulierung von der „schrecklichen Verharmlosung" des „Dritten Reiches" durch einen Vergleich mit der DDR aus und wird mit dem Verweis auf die „Berge von Karteikarten" anstelle der „Berge von Leichen" zu belegen versucht. In eine ähnliche Richtung zielt etwa die Behauptung, nicht wenige Bürger der alten Bundesrepublik würden sich deshalb gerade auf die Aufdeckung und Verfolgung von SED- und Stasi-Unrecht stürzen, um von den Mängeln bei der Aufarbeitung und „Bewältigung" der Hitler-Diktatur, ihrer „Zweiten Schuld" 13 also, abzulenken oder Versäumtes in 10

Elm, S. 34.

11

Horst Möller: DDR und Drittes Reich - ein (un)möglicher Vergleich?, in: Suhl (Hg.): Vergangenheitsbewältigung, S. 127-138, hier 129. 12

Martin Broszat: Resistenz und Widerstand. Eine Zwischenbilanz des Forschungsprojekts, in: Bayern in der NS-Zeit, 6 Bde., München 1977ff., Bd. IV, 1981, S. 691-709, das Zitat 693. 13

Ralph Giordano: Die Zweite Schuld oder Von der Last, Deutscher zu sein, München 1990. S. dazu die Gegenposition etwa bei Manfred Kittel: Die Legende von der „Zweiten Schuld". Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Frankfurt a.M./Berlin 1993. Nach dem Zusammenbruch der DDR wird das Problem der „doppelten Vergangenheitsbewältigung" als deutsches Spezifikum verstärkt diskutiert. Der bislang wohl beste Beitrag hierzu stammt von Friso Wielenga: Schatten

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einer „Verschiebungshandlung" nachzuholen;14 dies in der Intention, die Schatten des Nationalsozialismus endgültig hinter sich zu lassen.15 Auch diese Befürchtung ist unbegründet. Abgesehen von marginalen Gruppen der extremen Rechten gibt es, allen Alarmrufen zum Trotz, kaum ernstzunehmende Versuche, die Verbrechen des NS-Regimes zu relativieren oder zu verharmlosen. 16 Die weltgeschichtliche Singularität der NS-Diktatur steht außer Frage; allen Versuchen, sie durch Vergleiche mit den Untaten anderer Regime zu relativieren, ist nach wie vor nachdrücklich entgegenzutreten. Umgekehrt läßt sich ins Feld führen, daß die Verbrechen der DDR im Vergleich mit jenen der Nazis bagatellisiert werden könnten, da sie in einem solchen Kontext betrachtet als viel „geringer" erscheinen. 17 Nachdrücklich ist daher daraufhinzuweisen, daß die Toten an der innerdeutschen Grenze 18 und die Opfer der Justizmorde, die es vor allem in den ersten beiden Jahrzehnten der DDR gegeben hat, 19 auch angesichts der in der Tat beispiellosen NS-Verbrechen keinesfalls als quantité négligéable anzusehen sind. Ebensowenig dürfen auch die unzähligen Repressalien vergessen werden, die gegen Bürger der DDR vom SED-Regime im Verlauf seiner vierzigjährigen Herrschaft begangen worden sind. Auch sollte man nicht einfach beiseite schieben, daß die SED trotz des Wissens um den Holocaust vierzig Jahre lang eine antizionistische und antiisraelische Politik betrieb, den zentralen Stellenwert der Judenverfolgung im nationalsozialistischen Herr-

deutscher Geschichte. Der Umgang mit dem Nationalsozialismus und der DDR-Vergangenheit in der Bundesrepublik, Vierow bei Greifswald 1995. 14

Friedrich Dieckmann: Von der Unfaßbarkeit des Sieges. Irritationen im Prozeß der deutschen Einheit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 40 (1995), S. 799-807, hier 799. S. auch Elm, S. 41. 15 S. etwa Jürgen Habermas: Bemerkungen zu einer verworrenen Diskussion, in: DIE ZEIT v. 3.4.1992. 16 Zu diesem Ergebnis kommt auch Wielenga in seiner materialreichen und durchgehend objektivdistanzierten Studie. Vgl. ebd., S. 114. 17 So etwa bei Uwe Wesel in: DIE ZEIT v. 17.8.1990. S. auch Dieckmann: Von der Unfaßbarkeit des Sieges, der behauptet, die DDR habe „unter Honecker mehr noch als unter Ulbricht" den „Zuschnitt des Metternichschen Österreichs" gewonnen (S. 800). 18 Vgl. Werner Filmer/Heribert Schwan: Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, München 1991. Die Gesamtzahl der an den Grenzen der DDR zu Tode gekommenen Menschen wird von der Arbeitsgemeinschaft 13. August mittlerweile mit über 900 angegeben (vgl. „900 Tote an Stacheldraht und Mauer", in: GENERALANZEIGER BONN v. 10.8.1996). 19 S. exemplarisch für eine Vielzahl von Aufsätzen über verschiedene Fälle Karl Wilhelm Fricke: Ein Federzug von Ulbrichts Hand: Todesstrafe, in: Deutschland-Archiv 24 (1991), S. 840-845.

24 Timmermann / Gruner

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schaftssystem nicht genügend würdigte 20 und jegliche Wiedergutmachungsleistungen gegenüber Israel ablehnte21- zumindest in den fünfziger Jahren. Darüber hinaus war die Partei nicht frei von eindeutig antisemitischen Anwandlungen. 22 Insofern kann man Äußerungen wie die von Margherita von Brentano durchaus als Verharmlosung der DDR-Realität betrachten, denn hinter „Bergen von Karteikarten" verbergen sich schließlich menschliche Schicksale, zerstörte Existenzen und zum Scheitern gebrachte Lebensentwürfe. Noch die späte Stasi produzierte „paranoide Wahnsinnige, seelisch Zerstörte", wenn auch keine Leichen mehr. 23 Zweierlei gilt es daher bei der Auseinandersetzung mit den beiden deutschen Diktaturen wie Sky IIa und Charybdis zu umschiffen: Weder dürfen die Untaten des „Dritten Reiches" durch den Hinweis auf die Verbrechen des SED-Staates relativiert, noch letztere mit Blick auf die NS-Verbrechen bagatellisiert werden. 24 So verstanden ist der bisweilen als Universalargument verwendete Verweis auf die Einzigartigkeit der NS-Verbrechen nicht geeignet, einen Vergleich zwischen beiden Systemen von vornherein auszuschließen. Bei allem Verständnis und Respekt für die Gefühle vieler Bürger aus den neuen Bundesländern, die einen solchen Vergleich mehrheitlich ablehnen, wird man gleichwohl nicht daran vorbeigehen können, die Geschichte der DDR auch als Geschichte einer Parteidiktatur aufarbeiten zu müssen. Denn gemessen an den normativen Kriterien einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung mit 20

Zur Behandlung der NS-Judenverfolgung durch die offiziöse DDR-Geschichtsschreibung s. Olaf Groehler: „Aber sie haben nicht gekämpft!*4, in: Konkret 5 (1992), S. 38-44. 21

S. hierzu Angelika Timm: DDR - Israel: Anatomie eines gestörten Verhältnisses, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B4/1993, S. 46-54 sowie Lothar Mertens: Staatlich propagierter Antizionismus: Das Israelbild der DDR, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung (1991), S. 139-153. Zum Verhalten der DDR gegenüber ihren jüdischen Bürgern s. Mario Keßler: Zwischen Repression und Toleranz. Die SED-Politik und die Juden (1949-1967), in: Jürgen Kocka (Hg.): Historische DDRForschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 149-167. 22 Dies belegen die Vorgänge um die Entmachtung und Verhaftung des Politbüro-Mitgliedes Paul Merker. S. dazu Jeffrey Herf: Antisemitismus in der SED. Geheime Dokumente zum Fall Paul Merker aus SED- und MfS-Archiven, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 635-667. 23

Jens Reich: Abschied von den Lebenslügen. Die Intelligenz und die Macht, Berlin 1992, S.

68f. 24 Bernd Faulenbach: Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit im vereinten Deutschland: Zur Gegenwartsbedeutung der jüngsten Geschichte, in: Werner Weidenfeld (Hg.): Deutschland. Eine Nation - doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, S. 175-190, hier 190.

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verfassungsmäßig verbürgter Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten handelte es sich beim SED-Staat zweifelsfrei um eine Diktatur. 25 Ebenso wie das NS-Regime verkörperte das SED-Regime sowohl von seinem Selbstverständnis als auch von seiner tatsächlichen Herrschaftspraxis her weder eine parlamentarische Demokratie noch einen verfassungskonformen Rechtsstaat. Schon deshalb darf auch die unbestreitbare Singularität des Holocaust, wie mit Recht festgestellt wurde, nicht zu einer Tabuisierung der Frage führen, inwieweit die beiden deutschen Diktaturen Gemeinsamkeiten und Analogien aufwiesen, zumal „sie im Kern antidemokratisch, antipluralistisch, freiheitsberaubend waren". 2 6 Grundsätzlich sind die hier nur knapp referierten Einwände von unterschiedlicher Qualität und Stichhaltigkeit. Einige von ihnen erscheinen richtig und gewichtig und in der Sache unbestreitbar zutreffend. Aber sie reichen jedoch nicht aus, um einen Vergleich der beiden deutschen Diktaturen dieses Jahrhunderts als unzulässig oder gar unsinnig abzutun. Vielmehr stehen dem verschiedene Erwägungen entgegen, die den Versuch einer wissenschaftlich begründeten Komparatistik beider deutscher Diktaturen als ein wissenschaftlich vielversprechendes und gesellschaftspolitisch unerläßliches Unterfangen erscheinen lassen. Es sind dies in systematischer Reihung historische, lebensweltlich-gesellschaftspolitische und erkenntnistheoretischmethodologische Gründe. Π.

1. Historische Aspekte Blickt man angesichts der bevorstehenden Jahrtausendwende auf das ausgehende 20. Jahrhundert zurück, so ist die inzwischen zum Topos gewordene Feststellung zweifellos zutreffend, daß die europäische, vor allem aber die deutsche Geschichte vom Kampf zwischen Diktatur und Demokratie geprägt 25 Über die Berechtigung dieser Klassifizierung scheint mittlerweile weithin Konsens zu bestehen. Die Anwendbarkeit des Terminus „Diktatur" auf beide Regime ist vor der Enquete-Kommission des Bundestages ausdrücklich hervorgehoben worden von Karl-Dietrich Bracher. Ders.: Aufarbeitung der Geschichte und Bestand der Demokratie, in: Deutschland-Archiv 27 (1994), S. 1004-1007, hier 1005. Auch das im Zuge des Umbruchs zu einiger Prominenz gelangte ehemalige Politbüro-Mitglied, Günther Schabowski, hat rückblickend die Frage, ob er Teil einer Diktatur gewesen sei, nachdrücklich bejaht. Vgl. Günther Schabowski: Das Politbüro. Ende eines Mythos. Eine Befragung, hg. v. Frank Sieren und Ludwig Koehne, Reinbek b. Hamburgl990, S. 162. 26

Ludger Kühnhardt: Zur Einführung, in: ders u.a. (Hg.): Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. Drittes Reich und DDR - ein historisch-politikwissenschaftlicher Vergleich, Frankfurt a.M. u.a. 1994, S. 11-17, hier 12. 24*

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worden ist. „Drittes Reich" und DDR stellen unbestreitbar integrale Bestandteile der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts dar. Ihre unmittelbare zeitliche Abfolge rechtfertigt die Suche nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten und läßt „die Frage nach dem Mischungsverhältnis von Kontinuität und Neubeginn nach 1945 zentral werden". 27 Fundierte Forschungen zur alten Bundesrepublik haben längst erwiesen, daß es die vielbeschworene „Stunde Null" zum Kriegsende 1945 nicht gegeben hat 28 - ohne daß deshalb simplifizierend von einer „Restauration" gesprochen werden könnte. 29 Erste Untersuchungen zum Neubeginn in der DDR nach Kriegsende deuten vielmehr daraufhin, daß auch hier erhebliche Kontinuitäten existierten und eben nicht von einem radikalen Bruch und Neuanfang gesprochen werden kann. 30 Neben einer Historisierung der Geschichte des Nationalsozialismus und ihrer Einbettung in die deutsche, europäische und letzlich universale Geschichte, wie dies Martin Broszat bereits vor Jahren gefordert hat, bedarf es nunmehr auch einer Historisierung der DDR-Geschichte.31 Mit Blick auf die Entstehung und Ausgestaltung der zweiten deutschen Diktatur wird in der historischen Forschung zu Recht der entscheidende Einfluß der UdSSR hervorgehoben und nicht selten von einer „Sowjetisierung" Ostdeutsch-

27 Jürgen Kocka: Die Geschichte der DDR als Forschungsproblem, in: ders. (Hg.): Historische DDR-Forschung, S. 9-26, hier 21. Teilweise erneut abgedruckt in ders.: Vereinigungskrise. Zur Geschichte der Gegenwart, Göttingen 1995, S. 83-90. M Vgl. den von Werner Conze und Rainer M. Lepsius herausgegebenen Sammelband: Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Beiträge zum Kontinuitätsproblem, Stuttgart 1983, sowie Martin Broszat u.a. (Hg.): Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988. Knappe Zusammenfassung bei Anselm Döring-Manteuffel: Die Bundesrepublik Deutschland in der Ära Adenauer. Außenpolitik und innere Entwicklung 1949-1963, Darmstadt21988, S. 9-24. 29

S. etwa Ernst-Ulrich Huster/Gerhard Kraiker: Determinanten der westdeutschen Restauration 1945-1949, Frankfurt a.M. 1975. Kritisch und ablehnend zum „Restaurations"-Verdikt Jürgen Kocka: 1945: Neubeginn oder Restauration?, in: Carola Stern/Heinrich-August Winkler (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1945, Frankfurt a.M. 1979, S. 141-168, hier v.a. 164ff. sowie Karlheinz Niclauß: Restauration oder Renaissance der Demokratie? Die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland 1945-1949, Berlin 1982, S. 97ff. 30 Vgl. hierzu bei Kocka (Hg.): Historische DDR-Forschung, die Beiträge von Petzold, Ansorg, Hübner, Hader, Lokatis, Groehler, Barck. 31 Vgl. Martin Broszat: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Merkur 39(1985), S. 373-385; Wiederabdruck in ders.: Nach Hitler, S. 159-173. S. auch Wolfgang J. Mommsen: Die DDR in der deutschen Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 29-30 (1993), S. 20-29.

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lands gesprochen. 32 Darüber gerät indes leicht in Vergessenheit, daß es auch eine spezifisch „deutsche Dimension" gab 33 und daß das soziale, wirtschaftliche und kulturelle Erbe, wozu selbstverständlich auch das „Dritte Reich" gehört, den Prozeß der Staatswerdung der DDR mitbestimmte. Ein Vergleich zwischen „Drittem Reich" und DDR wird daher auch die Frage einschließen müssen, ob die zweite deutsche Diktatur strukturell, herrschaftstechnisch, aber auch mental u. U. an die erste anknüpfte, inwieweit sich beispielsweise Repressions- und Indoktrinationsmechanismen der neuen Machthaber an Strategien und Methoden des NS-Regimes bewußt oder unbewußt anlehnten und in welchem Maße dies von den Betroffenen wahrgenommen wurde. So hat etwa Hartmut Zwahr die These aufgestellt, daß der Repressionsapparat des SED-Staates nur deshalb so lange funktionieren konnte, weil aus der „Anpassungs- und Mitmachmentalität der nationalsozialistischen Kriegswie der Kriegskindergeneration" die „alternde Aufbaugeneration" der DDR hervorgegangen sei. 34 In diesem Zusammenhang ist neben der actio des diktatorischen Staates die reactio der betroffenen Gesellschaft mit einzubeziehen. Zu fragen ist zum einen, inwieweit es beiden Regimen - bei höchst unterschiedlicher Herrschaftsdauer - gelang, die ihr unterworfene Gesellschaft zu durchdringen, zu beeinflussen und zu kontrollieren. Zum anderen muß untersucht werden, welche Resistenz- und Widerstandskräfte einerseits, welches Anpassungsvermögen andererseits die Bevölkerung entwickelte, welches Sympathiepotential sich herausbildete und auf welche Träger bzw. Trägerschichten sich die beiden deutschen Diktaturen zu stützen vermochten. 35 Und schließlich: Gerade hinsichtlich des Zusammenspiels und der wechselseitigen Beeinflussung von Kommunismus und „Faschismus", die nach dem 32 Der ehemalige sowjetische Botschafter, Pjotr Abrassimow, hat die DDR gar einen „Homunculus aus der sowjetischen Retorte" genannt, vgl. DER SPIEGEL Nr.34/1992. 33

Dietrich Staritz: Geschichte der DDR 1945-1985, Frankfurt a.M. 1985, S. 11.

34

Hartmut Zwahr: Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 21993, S. 31f. In ähnlichem Sinne hat der Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen, Götz Planer-Friedrich, die besondere Nähe der Thüringer Landeskirche unter Bischof Mitzenheim zum SED-Staat auch auf die hier besonders ausgeprägte Dominanz der obrigkeitsfixierten „Deutschen Christen" während der vorangegangenen NS-Diktatur zurückgeführt (vgl. den Tagungsbericht von Gisela Helwig, in: Deutschland-Archiv 25 (1992), S. 352ff, hier 354). 35 Für die DDR vgl. hierzu Ralph Jessen: Die Gesellschaft im Staatssozialismus. Probleme einer Sozialgeschichte der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 96-110 u. Richard Bessel/Ralph Jessen (Hg.): Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996.

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Ende des Kalten Krieges mehr und mehr in das Blickfeld auch der internationalen Forschung rücken, 36 steht die deutsche zeitgeschichtliche Forschung aufgrund der spezifischen historischen Erfahrung auch unter einem besonderen internationalen Erwartungsdruck und ist nicht zuletzt deshalb der Aufgabe des Diktaturen- und Systemvergleichs in besonderem Maße verpflichtet. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels des Jahres 1994, Jorge Sémprun, hat insofern mit Recht betont, daß die Deutschen das einzige Volk in Europa seien, das sich mit den beiden totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen kann und muß.37 2. Lebensweltliche Determinanten und generationsspezifische

Erfahrungen

Viele Bürger aus den neuen Bundesländern, insgesamt ein beträchtlicher Anteil der deutschen Bevölkerung, haben generationsbedingt den weitaus größten Teil ihres Lebens unter diktatorischen Regimen verbringen müssen, mithin während dieses Zeitraumes nicht in freiheitlichen und rechtsstaatlichen Verhältnissen leben können. Schon von den politischen und gesellschaftlichen Sozialisationsbedingungen her haben sich deshalb, wie nach dem Umbruch von 1989/90 deutlich geworden ist, die Gesellschaften in Ost und West unterschiedlich entwickelt. Angesichts der bestehenden Integrations- und Kommunikationsprobleme im vereinten Deutschland kommt der historischen und sozialwissenschaftlichen Rekonstruktion der unterschiedlichen Lebenserfahrungen und Wertbezüge, die für die einzelnen Generationen unter einer bzw. zwei Diktaturen bestimmend wurden, entscheidende Bedeutung zu. Hierzu gehören auch der interdiktatoriale Vergleich und - mit Blick auf Ostdeutschland - die Frage nach der Prägekraft eines Lebens unter den Bedingungen von zwei Diktaturen. 38 Dies auszublenden hieße, an individuellen wie gruppenspezifischen Lebensläufen von Millionen von Deutschen vorbeizugehen und damit ein Problem zu vernachlässigen, das etwa Karl-Dietrich Bracher als „für die weitere Stabilisierung unserer Demokratie in der Tat fundamental" bezeichnet hat. 39 Ein Vergleich beider Diktaturen könnte in diesem Zusammenhang 36 S. etwa neuerdings François Furet : Das Ende der Illusion. Der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München/Zürich 1996, S. 209-271. 37 Wortlaut der Rede in: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1994: Jorge Sémprun. Ansprachen aus Anlaß der Verleihung, Frankfurt a.M. 1994, S. 35-52, hier 51. 38 S. hierzu auch die Gedanken von Wolfgang Thierse: Mut zur eigenen Geschichte, in: Suhl (Hg.): Vergangenheitsbewältigung, S. 19-36, v.a. 29f. 39

Bracher: Aufarbeitung, S. 1004.

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durch vertiefte Erkenntnisse über innere Strukturmechanismen der NS- und SED-Herrschaft deren spezifische Auswirkungen auf die Betroffenen transparenter machen und damit demokratiefördernd wirken, weil potentielle Gefährdungen demokratischer Strukturen durch ein geschärftes historisches Vorwissen eventuell leichter abgewehrt werden können. Bekanntlich haben ja das Wissen um die Strukturdefizite der Weimarer Demokratie und die Gründe für ihr Scheitern außerordentlich positiv bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes nach Kriegsende mitgewirkt und damit der zweiten deutschen Demokratie schon in konstitutioneller Hinsicht erhebliche Stabilität verliehen. Schließlich: Es darf nicht übersehen werden, daß Vergleiche zwischen dem „Dritten Reich" und der DDR schon vor 1989/90 vielfach gezogen wurden und den deutschen Einigungsprozeß von Anfang an begleitet haben und nach wie vor begleiten. 40 Bestimmend sind hierbei - neben einer teilweisen politischen Instrumentalisierung - in erster Linie die nicht selten primär an „Enthüllungen" interessierten Medien. Gerade eine derart sensible Frage aber ist angesichts des nach wie vor problematischen Verhältnisses zwischen Ost- und Westdeutschen zu wichtig, um sie nur diesen Institutionen zu überlassen. Im diffizilen Prozeß der deutschen Einigung trägt die Ausgrenzung und Tabuisierung öffentlich diskutierter und mit großen Emotionen beladener Fragestellungen durch die Wissenschaft keineswegs selbstverständlich zur Klärung der Probleme und zur Versachlichung der Auseinandersetzung bei. Sie wäre im Gegenteil kontraproduktiv und - wie mit vollem Recht betont wurde - „sicherlich der falscheste aller möglichen Wege". 41 3. Erkenntnistheoretisch-methodologische

Gründe

Die Feststellung „Vergleich bedeutet nicht Gleichsetzung" ist in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion mittlerweile zu einem gängigen, ja fast bis zum Überdruß wiederholten Topos geworden. Gleichwohl gilt unumstöß-

40

Thierse: Mut, S. 26. In den ersten Nachkriegsjahren wurden von oppositionellen Kräften in der DDR häufig und offen Vergleiche zwischen Stalin und Hitler sowie dem SED-Regime und NaziDeutschland angestellt (vgl. Armin Mitter/Stefan Wolle: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 46) und noch in den achtziger Jahren flössen in der Erinnerung mancher DDR-Bürger häufig NS- und DDR-Massenorganisationen ineinander (vgl. Lutz Niethammer/Alexander von Plato/Dorothee Wierling: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologi des Lebens in der Industrieprovinz der DDR. 30 biographische Eröffnungen, Berlin 1991, passim). 41

Suhl: Einleitung, S. 9.

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lieh, daß Vergleich nicht undifferenzierte und damit unwissenschaftliche Gleichsetzung bedeuten kann und darf. Ebensowenig kann und darf es aber darum gehen, die Unvergleichbarkeit der beiden deutschen Diktaturen von vornherein festzuschreiben und jeglichen komparatistischen Ansatz a priori mit einem Tabu zu belegen. Auch seine Kritiker und Gegner stehen unter dem argumentativen Zwang, die Unzulässigkeit des Vergleichsansatzes empirisch und theoretisch nachzuweisen. Tatsächlich ist die komparatistische Analyse seit langem ein fester Bestandteil des geschichts- und politikwissenschaftlichen Methodenkanons; die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes wurde häufig unter Beweis gestellt. 42 Zu fragen ist deshalb, weshalb der Vergleich von „Drittem Reich" und DDR eine wissenschaftlich weniger legitime Methode darstellen soll als der Systemvergleich zwischen den früheren beiden deutschen Staaten oder der sogenannte intrasystemare Strukturvergleich zwischen den ehemals"real-sozialistischen" Ostblockstaaten.43 Ziel eines historisch-politikwissenschaftlichen Vergleichs ist es, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen zwei Phänomenen herauszuarbeiten, um nicht zuletzt auch die Spezifika, das jeweils Besondere und Unvergleichbare stärker hervortreten zu lassen. Im vorliegenden Falle geht es um die Erkenntnis des Wesens diktatorischer Herrschaft in seinen unterschiedlichen Ausprägungen einerseits und seinen Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung und deren Reaktionen andererseits. Darüber hinaus könnte sich besonderer Erkenntnisgewinn bei der komparativen Untersuchung des NS-Systems und des SED-Regimes auch daraus ergeben, inwieweit das inzwischen von der NS-Forschung erarbeitete, sehr differenzierte Begriffsinstrumentarium, 44 etwa zum Widerstand, 45 auch auf die 40 Jahre SEDHerrschaft anwendbar ist. Das muß durchaus keine Einbahnstraße sein. 46

42

S. etwa Ernst Noltes Frühwerk: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française - Faschismus - Nationalsozialismus, erschienen erstmals 1963, seitdem mehrere Neuauflagen, oder Allan Bullocks Doppelbiographie Hitler und Stalin. Parallele Leben, Berlin 1991. Für laufende Forschungsprojekte mit komparatistischem Ansatz vgl. Armin Triebet (Hg.): Gesellschaften vergleichen, Berlin 1994 (Graduiertenkolleg Gesellschafts vergleich in historischer, sozialer und ethnologischer Perspektive) sowie Jürgen Kocka: Comparative Historical Research - German Examples, in: International Review of Social History 38 (1993), S. 369-379. Neuerdings Heinz-Gerhardt Haupt/Jürgen Kocka (Hg.): Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt/New York 1996. 43

Vgl. Renate Damus: RGW - Wirtschaftliche Zusammenarbeit in Osteuropa, Opladen 1979.

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in. Damit stellt sich die Frage, wie denn ein solcher Vergleich praktisch-methodisch ins W e r k zu setzen sei. Hier ist zu konstatieren, daß trotz einer intensiven politischen und wissenschaftlichen Debatte bislang keine Klarheit über mögliche Vergleichstypen und potentielle Vergleichskriterien besteht. A l s Ausgangspunkt hierfür ist zunächst die grundsätzliche Unterscheidung v o n Demokratie und Diktatur unerläßlich. I n diesem Sinne bleiben die Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, demokratische Mitbestimmung, die Garantie der Meinungsvielfalt sowie die Gleichheit der Lebenschancen entscheidende Kategorien und Kriterien für die Bewertung und den Vergleich politischer Systeme überhaupt. 4 7 Dieser Gesichtspunkt ist v o n entscheidender Bedeutung und reicht aus, politische Systeme moralisch zu beurteilen, taugt aber aufgrund seiner Allgemeinheit kaum als Instrument wissenschaftlicher Analyse. Seit dem Ende des Kalten Krieges steht die bereits v o n vielen Forschern ad acta gelegte Totalitarismus-Theorie erneut auf der Tagesordnung und i m M i t t e l punkt wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. 4 8 Hier ist nicht der Ort, die

44 Vgl. Christoph Kleßmann: Zwei Diktaturen in Deutschland. Was kann die künftige DDR-Forschung aus der Geschichtsschreibung zum Nationalsozialismus lernen?, in: Deutschland-Archiv 25 (1992), S. 601-606. 45 Vgl. Werner Bramke: Widerstand und Dissens. Gedanken über die Vergleichbarkeit von Widersetzlichkeit im Faschismus und im „realen Sozialismus", in: Konrad Jarausch/Matthias Middell (Hg.): Nach dem Erdbeben. (Re-) Konstruktion ostdeutscher Geschichte und Geschichtswissenschaft, Leipzig 1994, S. 219-243; Rainer Eckert: Die Widerstandsforschung über die NS-Zeit - ein methodisches Beispiel für die Erfassung widerständigen Verhaltens in der DDR?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 553-566; Christoph Kleßmann: Opposition und Resistenz in zwei Diktaturen in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 262 (1996), S. 453-479; Ehrhart Neubert: Widerständigkeit im NS-Staat und im SED-Staat, in: Kirchliche Zeitgeschichte 9 (1996), S. 43-69. 46 Mittlerweile neigen auch Skeptiker zu der Ansicht, daß „behutsame Vergleiche" einen gewissen Erkenntnisfortschritt ermöglichen können. Vgl. etwa Mommsen: Nationalsozialismus und Stalinismus, S. 109. 47 Eberhard Jäckel: Die zweifache Vergangenheit. Zum Vergleich politischer Systeme, Bonn 1992, S. 12ff. S. auch die u.a. von diesem Bezugspunkt ausgehenden Beiträge in: Kühnhardt u.a. (Hg.): Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung. 48

Vgl. Uwe Backes/Eckhard Jesse: Totalitarismus und Totalitarismus forschung. Zur Renaissance einer lange tabuisierten Konzeption, in: dies. (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie, Bd. 4, Bonn/Berlin 1992, S. 7-27.

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neuere Diskussion, die sich ja auf ein nahezu unüberschaubares Schrifttum aus sieben Jahrzehnten beziehen kann, in ihren verschiedenen Verästelungen zu referieren. 49 Es ist aber erkennbar, daß die Debatte um Möglichkeiten und Grenzen des Totalitarismus-Konzepts nunmehr wesentlich „unverkrampfter" und mit geringerer Beeinflussung durch politische Absichten geführt werden kann. Deutlich ist etwa das Bemühen, die „klassische" Totalitarismus-Theorie, wie sie von Carl J. Friedrich und anderen entwickelt wurde, 50 in geeigneter Weise zu ergänzen, um ihre unbestreitbaren Defizite, etwa den statischen, die dynamischen Prozesse innerhalb einer Gesellschaft vernachlässigenden Charakter, auszugleichen.51 Zum anderen wird die Notwendigkeit betont, zwischen totalitärem Anspruch und dessen tatsächlicher Durchsetzung zu unterscheiden. 52 Insgesamt wird man festhalten dürfen, daß ein gewissermaßen undogmatisch verstandener und seiner tagespolitischen Implikationen entkleideter, „pragmatischer" 53 Totalitarismusbegriff nach wie vor von beträchtlichem Nutzen für Analyse, Beschreibung und den Vergleich moderner Diktaturen sein wird, wenn man ihn im Sinne Max Webers als Idealtypus, als Mittel zur Annäherung an die historische Realität versteht und zudem durch Hinzuziehung anderer Konzepte zu ergänzen sucht, um dem komplexen Charakter der Diktaturen des 20. Jahrhunderts gerecht werden zu können. Derzeit überwiegt noch immer die theoretische Ebene, während es an empirischer Erprobung mangelt. Vorrangig 49

Vgl. dazu die Sammelbände von Bernd Seidel/Siegfried Jenkner (Hg.): Wege der Totalitarismusforschung, Darmstadt 1974, sowie neuerdings Eckhard Jesse (Hg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996. 50 Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1955; Carl J. Friedrich/Zbigniew Brzezinski: Totalitäre Diktatur, Stuttgart 1957; Raymond Aron: Demokratie und Totalitarismus, Hamburg 1970. 51 S. etwa Eckhard Jesse: War die DDR totalitär?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 40/1994, S. 12-23, der den Autoritarismus-Begriff ergänzend heranzieht, sowie auf das Konzept der „Politischen Religionen" rekurrierend Hans Maier (Hg.): „Totalitarismus" und „Politische Religionen": Konzepte des Diktaturvergleichs, in: Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte 43 (1995), S. 1-19. Vgl. auch ders. (Hg.): „Totalitarismus" und „Politische Religionen". Zwei Konzepte des Diktaturvergleichs, Paderborn 1995. „Warum", sofragt Norbert Kapferer mit Recht, „also gerade jetzt - in einer vergleichsweise privilegierten historischen Situation - den Totalitarismusbegriff über Bord werfen, wo doch wie nie zuvor die Möglichkeit zu komparatistischen Studien seiner geschichtlich abgeschlossenen Erscheinungsformen gegeben ist?" (Ders., Der Totalitarismus-Begriff auf dem Prüfstand. Ideengeschichtiiche, komparatistische und politische Aspekte eines umstrittenen Terminus, Dresden 1995, S. 17). 52

Vgl. etwa Hans-Ulrich Thamer: Staatsmacht und Freiheit in den beiden Diktaturen, in: Kirchliche Zeitgeschichte 9 (1996), S. 28-42, hier 30f. 33

Matthias Vetter: Terroristische Diktaturen im 20. Jahrhundert. Zum Vergleich zwischen nationalsozialistischer und stalinistischer Diktatur, in: ders. (Hg.): Terroristische Diktaturen, S. 7-15, hier 13.

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ist daher die nun auch quellenmäßig mögliche Schaffung einer breiten empirischen Grundlage, um nicht bei theoretischen Erwägungen stehen zu bleiben. Nach allem, was wir derzeit wissen, ist die Reichweite und Tiefenwirkung von Diktaturen trotz Indoktrination, Propaganda, Repression und Terror begrenzt. Die einer Diktatur unterworfene Gesellschaft akzeptiert eben nicht geschlossen, sondern individuell wie gesamtgesellschaftlich höchst unterschiedlich das jeweilige System und seine Herrschaftsideologie. Von daher ist die Frage, in welchem Ausmaß die beiden Diktaturen totalitär waren, d.h. ihnen der angestrebte umfassende Zugriff auf die bzw. den Menschen gelang, noch keineswegs empirisch ausgelotet. Hierzu gibt es derzeit unterschiedliche Auffassungen. So wird einerseits argumentiert, aufgrund ihres höheren Durchdringungsgrades aller gesellschaftlichen Verhältnisse sei die DDR im Verhältnis zur NS-Diktatur der totalitärere Staat gewesen. Andererseits gilt mit Blick auf das Ausmaß des Terrors und die herausragende Stellung des „Führers" Adolf Hitler nach wie vor das „Dritte Reich" als das totalitärere System. Diese bislang offenen Fragen rechtfertigen gleichfalls den Versuch einer komparatistischen Analyse „moderner Diktaturen", 54 nicht zuletzt, um die verschiedenen Kriterien der „klassischen" Totalitarismustheorie 55 differenziert anwenden und angemessen gewichten zu können. 56 Grundsätzlich lassen sich in methodologischer Hinsicht zwei Vergleichstypen unterscheiden, die aufeinander aufbauen und voneinander abhängig sind, nämlich: a) ein ganzheitlicher, integraler Vergleich, der beide diktatoriale Herrschaftssysteme in ihrer Gesamtheit zu erfassen sucht. Dieser Vergleichstyp bewegt sich notwendigerweise auf einer historisch eher abstrakten Ebene, weil er spezifische Entwicklungen beider Diktaturen weniger in ihrem konkreten geschichtlichen Verlauf als vielmehr generalisierend aufzeigt und sowohl temporäre als 34

Zu diesem Terminus s. Kocka: Forschungsproblem, S. 23f.

53 Nach Carl J. Friedrich sind dies: - eine eschatologische, alle Aspekte der menschlichen Existenz umfassende Ideologie; - eine straff organisierte Monopolpartei mit Massenbasis und einem Führer an der Spitze; - eine omnipräsente, mit terroristischen Mitteln arbeitende Geheimpolizei; ein Monopol der Massenkommunikationsmittel; - ein Waffenmonopol; - eine zentral gelenkte und geplante Ökonomie. Vgl. Kapferer: Das Totalitarismusmodell, S. 10. 36 Siegfried Mampel etwa unterscheidet zwischen konstanten Elementen „Essentialen" wie monopolistischer Machtausübung und ideologischem Ausschließlichkeitsanspruch und „Variablen" wie der Mittel der Herrschaftsausübung und dem Inhalt der Heilslehre. Vgl. ders.: Versuch eines Ansatzes für eine Theorie des Totalitarismus, in: Konrad Low (Hg.): Totalitarismus, Berlin 21993, S. 13ff. S. jetzt auch ders.: Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR als Ideologiepolizei. Zur Bedeutung einer Heilslehre als Mittel zum Griff auf das Bewußtsein für das Totalitarismusmodell, Berlin 1996, v.a. S. 13ff. u. 364ff.

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auch regionale Unterschiede und Besonderheiten weitgehend ausspart. Trotz aller dabei kaum vermeidbaren Verkürzungen ist ein solcher genereller Vergleich unverzichtbar, weil er als Vororientierung über generelle Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder Unterschiede beider Diktaturen dient. Dem schließt sich b) ein partieller bzw. sektoraler Vergleich an, der ganz bestimmte Strukturen und Mechanismen beider Systeme herausgreift und einzelne Sektoren, d.h. Institutionen von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, das Verhalten von sozialen Schichten oder Berufsgruppen in ihrer Alltags- und Lebenswelt und anderes mehr untersucht. Dieser Ansatz ist in historischer Hinsicht wesentlich konkreter, zumal das komparative methodische Vorgehen gerade auf spezifische Eigenheiten etwa personeller, sozialer oder lokal-regionaler Art abzielt. Gerade hier können methodische Ansätze und begriffliche Kategorien, die sich im Rahmen der NS-Forschung als fruchtbar erwiesen haben, eventuell auch auf die DDR angewendet und so für den historischen Vergleich nutzbar gemacht, zugleich aber hinsichtlich ihrer Tragfähigkeit neu überprüft werden. Als gewichtige Faktoren eines ganzheitlich-integralen Vergleichs zwischen beiden Diktaturen sind vor allem folgende Punkte zu berücksichtigen: 1. Zeitliche Dauer Das alles überwölbende und und stets mitzudenkende Element ist ein nichtstrukturelles, nämlich das der zeitlichen Dauer. Das „Tausendjährige Reich" Adolf Hitlers bestand „gerade" zwölf Jahre, die DDR hörte wenige Tage vor ihrem 41. Jahrestag auf zu bestehen, existierte mithin - rechnet man die SBZJahre hinzu - nahezu viermal so.lange. Von daher gesehen besaß die SED weitaus mehr Möglichkeiten, die gesellschaftlichen Strukturen in ihrem Sinne zu verändern und zu gestalten. Gerade in dieser Hinsicht - wie auch in dem der allumfassenden Überwachung und Kontrolle - ist die SED-Diktatur sehr viel effektiver gewesen als das „Dritte Reich", erreichte sie offensichtlich einen erheblich höheren Durchdringungsgrad aller Bereiche von Staat und Gesellschaft. Die NS-Diktatur hat infolgedessen die Strukturen und Mentalitäten der ihr unterworfenen Gesellschaft weitaus weniger verändern können als es die viel längere Herrschaft der SED vermochte. 57

57

Vgl. Sigrid Meuschel: Vom unterschiedlichen Ausmaß der Zerstörung von Staat und Gesellschaft. Überlegungen zum Vergleich zweier deutscher Staaten, in: Sw/2/(Hg.): Vergangenheitsbewältigung, S. 92-108, hier v.a. 106.

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Aus der ungleich längeren Dauer der SED-Diktatur ergibt sich zudem die Notwendigkeit, in noch stärkerem Maße als bei der Beschäftigung mit dem sog. „Dritten Reich" zwischen verschiedenen intern und extern beeinflußten beeinflußten Phasen zu unterscheiden. 58 Darüber hinaus ist ein weiterer zeitlicher wie struktureller Faktor ins Kalkül zu ziehen, von dem an anderer Stelle noch zu sprechen sein wird: Während sich die NS-Zeit aus einer Friedens- und einer Kriegsphase zusammensetzt, die besonders während der Kriegsjahre zu einer bis dahin ungekannten Mobilisierung der Bevölkerung führte, trifft dies für die DDR nicht zu, obwohl sie an den Folgen dieses Krieges nachhaltig zu tragen hatte. 2. Entstehungs- und Ausgangslage Das „Dritte Reich" entstand - rückblickend betrachtet - in einer Art Transformationsphase der internationalen Politik: Der kriegsentscheidende Eintritt der USA und die Oktoberrevolution in Rußland im Jahre 1917 hatten erstmals die traditionelle Dominanz der europäischen Mächte und damit Europas als weltpolitisches Zentrum nachhaltig erschüttert. Bereits die Zwischenkriegszeit war von der Suche nach einer neuen Weltordnung geprägt, die sich z. B. in der Revisionspolitik Weimars manifestierte. Der von Hitlers Hegemonialstreben als Expansions-, Rasse- und Vernichtungsfeldzug entfesselte Zweite Weltkrieg führte schließlich nach seinem Ende zu der vom Kalten Krieg geprägten Konstellation mit der Systemkonkurrenz der großen Blöcke in Ost und West. 59 Das Bestreben der Siegermächte, Deutschland oder zumindest die eigene Besatzungszone in ihre Einflußsphäre zu integrieren und das politische und ökonomische System entsprechend den eigenen Ordnungs- und Wertvorstellungen zu gestalten, führte zu seiner Spaltung. Beide deutsche Staaten entstanden als nationale Teilstaaten und blieben letztlich artifizielle Produkte des über Jahrzehnte hinweg bestehenden Ost-West-Gegensatzes. Trotz bald divergierender Entwicklung zwischen den westlichen Besatzungszonen und der SBZ zeigte sich, daß es zunächst auch eine kurze „demokratische" Vorgeschichte in Ost58

Zur Frage der Periodisierung der DDR-Geschichte jüngst Werner Müller: Doppelte Zeitgeschichte. Periodisierungsprobleme der Geschichte von Bundesrepublik und DDR, in: DeutschlandArchiv 29 (1996), S. 552-559. 39 Vgl. Karl Dietrich Bracher: Die Krise Europas, Frankfurt a.M. 1982 (Propyläen-Geschichte Europas Bd. 6). Bracher hat die Jahre zwischen 1918 und 1933 eine „Zwischenperiode vergeblicher Lösungsversuche" genannt (ebd., S. 12). S. ferner Gottfried Niedhart: Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn u.a. 1989 sowie weiterhin Hermann Graml: Europa zwischen den Kriegen, München 31982.

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deutschland gegeben hat, die unter den Eingriffen der SMAD und KPD/SED jedoch nach kaum zwei Jahren ihr Ende fand. Die SED, die zudem die einmal errungene Macht keinesfalls wieder aus der Hand zu geben gedachte - „weder durch Wahlen noch andere Methoden" 60 - konnte durch die massive Unterstützung der sowjetischen Besatzungsmacht ihre dominierende Machtposition behaupten und ausbauen.61 Festzuhalten bleibt somit, daß der Nationalsozialismus in weitaus stärkerem Maße ein Produkt genuiner deutscher Geschichte gewesen ist 62 als das ohne die sowjetische Politik undenkbare Regime der SED, die bis zum Schluß von der Politik der UDSSR abhängig blieb. 3. Innen- und außenpolitische Handlungsfreiheit Die Tatsache, daß die DDR an der Nahtstelle der sich im „Kalten Krieg" gegenüberstehenden Blöcke lag, hatte zur Folge, daß sie aufgrund der Blockräson in ihrem außenpolitischen Handlungsspielraum weitaus stärker eingeschränkt blieb als das nationalsozialistische Deutschland. In einer Konstellation, in der Europa im Zuge der Weltwirtschaftskrise und nach dem Scheitern des Völkerbundsexperimentes wieder zur ,,internationale[n] Anarchie der Vorkriegsjahre" 63 zurückgekehrt war, hatte das „Dritte Reich" sich Zug um Zug aus den Bindungen der Versailler Ordnung lösen und schließlich als weitgehend selbständiger Akteur seine ebenfalls autonom entwickelten, außenpolitischen und militärischen Zielsetzungen verfolgen können. Demgegenüber traten gerade in diesem Bereich die Abhängigkeit der DDR von der Blockführungsmacht Sowjetunion und ihr vergleichsweise geringer, wenngleich im Zuge der Entspannungspolitik allmählich wachsender, eigener Handlungsspielraum deutlich

60 So Gerhart Eisler in der SED-Vorstandssitzung v. 4.10.1949, zit. nach: Siegfried Suckut: Die Entscheidung zur Gründung der DDR. Die Protokolle der Beratungen des SED-Parteivorstandes am 4. u. 9. Oktober 1949, in: Vierteljahrshefte fur Zeitgeschichte 39 (1991), S. 125ff, hier 161. 61 Allerdings waren der Sozialismus der SED und die Sowjetisierung der SBZ/DDR insoweit ebenfalls „hausgemacht", als sie sich auf die seit den 20er Jahren vollzogene Bolschewisierung der KPD und eine lange Tradition der Leugnung oder Verharmlosung der stalinistischen Verbrechen stützen konnte, vgl. Meuschel: Zerstörung, S. 96. Eingehend zu diesem Prozeß Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stabilisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1969. 62

Vgl. Faulenbach: Probleme des Umgangs, S. 186f.

63 Graml: Europa zwischen den Kriegen, S. 237ff., hier 237. S. auch Josef Becker/Klaus brand (Hg.): Internationale Beziehungen in der Weltwirtschaftskrise 1929-1933, München 1980.

Hilde-

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383

zutage. 6 4 Nirgendwo w i r d dies transparenter als i n dem Sachverhalt, daß HitlerDeutschland die Errichtung einer kontinentaleuropäischen Hegemonie 6 5 anstreben und zu diesem Z w e c k 1939 bewußt und planmäßig einen Krieg entfesseln k o n n t e . 6 6 Die D D R als Satellit der Sowjetunion wäre hierzu, hätte sie entsprechende Absichten gehegt, schon was die eigene Entscheidungskompetenz betrifft, keinesfalls imstande gewesen. Für den innenpolitischen Handlungsspielraum der beiden Regime gilt - wenngleich etwas abgeschwächt - ähnliches. A u c h nach Ende der Besatzungszeit, i n der die S M A D fast uneingeschränkte Macht ausübte, war und blieb die SED in hohem Maße abhängig v o n den Vorgaben der UdSSR als unangefochtener Blockführungsmacht, die keine substantiellen Abweichungen v o m allein durch sie bestimmten Kurs hinzunehmen bereit war und auch vor massiven Eingriffen nicht zurückscheute, wofür etwa die Verordnung des „ N e u e n Kurses" nach Stalins T o d ein exemplarischer Beleg ist. 6 7 Ungeachtet aller Schwankungen i m Verhältnis z u m „Großen B r u d e r " , blieb Moskau für die SED-Führung stets der „Referenzpunkt außen- und innenpolitischer O r i e n t i e r u n g " . 6 8

64 S. dazu Eberhard Schulz: Bestimmungsfaktoren, in: Hans-Adolf Jacobsen u.a. : Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR. Bestimmungsfaktoren, Instrumente, Aktionsfelder, München/Wien 1979, S. 201-231, sowie Fred Oldenburg: Die Autonomie des Musterknaben: Zum politischen Verhältnis DDR-UdSSR, in: Richard Löwenhal/Boris Meissner (Hg.): Der Sowjetblock zwischen Vormachtkontrolle und Autonomie, Köln 1984, S. 153-197 u. ders.: Das Dreieck Moskau - Berlin - Bonn 1975-1989. Aus den Akten des SED-Archivs, (BIOST) Köln 1994. Im Sommer 1984 etwa mußte Erich Honecker eine geplante Reise in die Bundesrepublik auf Druck der sowjetischen Führung absagen. Zu den Hintergründen aus damaliger Sicht Wolfgang Seiffert: Die Natur des Konflikts zwischen der SED-Führung und Moskau, in: Deutschland-Archiv 17 (1984), S. 1043-1058. 65

Zu den „kontinentalistischen" bzw. „globalistischen" Deutungen der nationalsozialistischen Außenpolitik vgl. zusammenfassend Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, München41991, S. 192f. und Marie-Luise Recker: Die Außenpolitik des Dritten Reiches, München 1990, S. 57f. 66 Vgl. dazu Hermann Graml: Europas Weg in den Krieg. Hider und die Mächte 1939, München 1990. S. auch Gottfried Niedhardt (Hg.): Kriegsbeginn 1939. Entfesselung oder Ausbruch des Zweiten Weltkrieges?, Darmstadt 1976. Klaus Hildebrand: Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Stuttgart 1995, S. 678-700. 67

Der entsprechende Beschluß des Politbüros der KPdSU vom Mai 1953 trug den Titel „Über die Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage in der Deutschen Demokratischen Republik", veröffentlicht u. eingeleitet v. Rolf Stöckigt in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung 32 (1990), S. 648-654. Der Hohe Kommissar der UdSSR in Ostberlin, Wladimir A. Semjonow, hatte ultimativ die Umsetzung des Beschlusses binnen sieben Tagen verlangt. 68

Fred Oldenburg: Eine unendliche Geschichte. Zum Verhältnis DDR-UdSSR 1970 bis 1990, in: Gisela Helmg (Hg.): Rückblicke auf die DDR. Festschrift für Ilse Spittmann-Rühle, Köln 1995, S. 163-174, hier 171.

384

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4. Gesellschaftliche

Akzeptanz und Mobilisierung

Auffällig ist die unterschiedliche Akzeptanz der jeweiligen Regime bei der Bevölkerung. Über Jahre hinweg übertrafen Führerkult, Volksgemeinschaftsideologie sowie die außenpolitischen und die anfänglichen militärischen Erfolge Hitlers hinsichtlich ihrer identitätsstiftenden Wirkung nahezu alles, was die DDR Ulbrichts oder Honeckers jemals zu erzielen vermochte. 69 Hier ist es zwar nach dem Machtwechsel von 1971 durch die Forcierung sozialpolitischer Leistungen - „Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik" - zu einer bis über die Mitte der 70er Jahre hinausgehenden stärkeren Akzeptanz gekommen, 70 aber die dann folgende spürbare Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage führte erneut zu wachsender Unzufriedenheit in der Bevölkerung, mit dem Tiefjpunkt im letzten Drittel der 80er Jahre. Die Tatsache, daß das „Dritte Reich" durch die Alliierten von außen militärisch bezwungen werden mußte, während die DDR implodierte, als die Schutzmacht Sowjetunion ihre Bestandsgarantie zurückzog, sagt einiges über die Akzeptanz der Regime bei ihrer Bevölkerung aus. Sie ist aber auch darauf zurückzuführen, daß der Loyalitätsanspruch des NS-Staates angesichts der existentiellen Bedrohung durch den Krieg auf größere Resonanz stieß und - etwa in Kreisen des konservativen und vor allem des militärischen Widerstandes 71 - regimekritische oder gar -feindliche Tendenzen zeitweise überlagerte. Die permanenten Ideologisierungsversuche der SED und der Massenorganisationen, die auf Nivellierung angelegte Sozialpolitik hatten offensichtlich eher demobilisierende

69

Vgl. etwa Marlies G. Steinen: Hitlers Krieg und die Deutschen. Stimmung und Haltung der deutschen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf/Wien 1970. 70 Vgl. Hans-Günther Hockerts: Soziale Errungenschaften? Zum sozialpolitischen Legitimitätsanspruch der zweiten deutschen Diktatur, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hg.): Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, München u.a. 1994, S. 790-804, v.a. 794ff. Ausführlich zur Sozialpolitik der DDR Johannes Frerich/Martin Frey: Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 2: Sozialpolitik der Deutschen Demokratischen Republik, München 1993. S. auch Hans-Hermann Hertie: Der Weg in den Bankrott der DDR-Wirtschaft. Das Scheitern der „Einheit von Wirtschaftsund Sozialpolitik" am Beispiel der Schürer-Mittag-Kontroverse im Politbüro 1988, in: DeutschlandArchiv 25 (1992), S. 127-145 u. Maria Haendcke-Hoppe-Arndt: Wer wußte was? Der ökonomische Niedergang der DDR, in: Helwig (Hg.): Rückblicke auf die DDR, S. 120-131. 71 Ger van Roon: Widerstand und Krieg, in: Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 31994, S. 50-69, hier v.a. 60 u. Klaus-Jürgen Müller: Über den „militärischen Widerstand", in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 266-279, hier 276f. Müller diagnostiziert eine „unheilvolle Dialektik von Widerstand und Kriegslage" (ebd., S. 277).

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385

Effekte, zeitigten vielmehr häufig unbeabsichtigte, konträre Wirkungen („Nischen-Syndrom"). 5. Repressionsfaktor Ohne Zweifel ist die kriminelle Potenz des Naziregimes weitaus höher anzusiedeln als die der SED-Diktatur. Der Genozid bleibt beispiellos. Jedoch gab es auch in der DDR die Verfolgung Andersdenkender bis hin zur physischen Vernichtung, vor allem in den späten vierziger und den fünfziger Jahren. 72 Mit fortschreitender Herrschaftsdauer wurde sich allerdings subtilerer Methoden bedient. Das ausgefeilte Überwachungssystem der Staatssicherheit, das an die Stelle des offenen Terrors trat, sucht seinesgleichen. Personen mit „feindlich-negativer Haltung" wurden durch das MfS mit z.T. beträchtlichem Aufwand „operativ bearbeitet", d.h. ihre Post wurde kontrolliert, ihr Privatleben ausspioniert, schlimmstenfalls ihre Ehe und ihre Persönlichkeit systematisch zerstört. 73 Offene und spektakuläre Gewalt, von Anfang bis Ende Signum der NS-Diktatur, wurde in der DDR durch Rücksichtnahme auf den Westen zunehmend subkutan ausgeübt, während mittels des immer stärker ausgebauten Staatssicherheitssystems die Ausübung „struktureller Gewalt" gleichzeitig verstärkt wurde. 74 Das Überwachungsnetz der Gestapo war hingegen wesentlich weniger dicht als von Zeitgenossen und Nachgeborenen lange angenommen,75 während in der DDR Überwachung und Kontrolle weitaus stärker systematisiert waren. Dabei verließ sich das Mielke-Imperium nicht auf sporadische Denunziationen, sondern institutionalisierte das Spitzelwesen durch einen ständig wachsenden Bestand an Informellen Mitarbeitern, deren Zahl nach dem der-

72 Vgl. neuerdings Gerhard Finn (Hg.): Mauern - Gitter - Stacheldraht. Beispiele politischer Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR, Berlin/Bonn 1996. 73 Alle zitierten Termini entstammen Dienstanweisungen des MfS und werden zitiert nach Bürgerkomitee Leipzig (Hg.): Stasi intern. Macht und Banalität, Leipzig 1991, S. 141ff. u. 159f. Zur Semantik des Mielke-Ministeriums s. auch BStU (Hg.): Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen des MfS zur „politisch-operativen Arbeit". Reihe A, Dokumente 1/93, Berlin 1993. Zu Aufbau und Arbeitsweise des MfS s. David Gill/Ulrich Schröter: Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums, Berlin 1991. 74

Vgl. Mommsen: Nationalsozialismus und Stalinismus, S. 123.

75 Robert Gellately: Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933-1945, Paderborn 1993. Vgl. auch Gisela Diewald-Kerkmann: Politische Denunziation im NS-Regime oder die kleine Macht der Volksgenossen, Bonn 1995.

2

Timmermann / Gruner

386

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zeitigen Kenntnisstand 1988 bei ca. 173.000 gelegen haben dürfte. 76 Bei allen Differenzen im Ausmaß des Terrors wie der flächendeckenden Überwachung und der Repression kann man von einem gleichsam spiegelbildlichen Verlauf sprechen: War während der Dauer des „Dritten Reiches" eine permanente Verschärfung von Terror und Repression zu verzeichnen, so daß schließlich während des Krieges in immer stärkerem Maße auch sporadische oder beiläufige Unmutsäußerungen als „Defätismus" und „Wehrkraftzersetzung" eingestuft und mit dem Tode bestraft wurden, 77 wurde in der DDR die anfängliche Phase des Terrors gegenüber Andersdenkenden allmählich abgelöst durch ein immer weiter ausgebautes Geflecht von Arrangement, Überwachung und Kontrolle. 78 „George Orwell war", wie Christoph Kleßmann zurecht festgestellt hat, „in der DDR der achtziger Jahre im Hinblick auf die Überwachungsdichte durch den Staatssicherheitsdienst viel eher realisiert als in der NS-Zeit". 7 9 6. Permanente Konkurrenzsituation

der DDR zur Bundesrepublik

Hier liegt ein weiterer, entscheidender Unterschied zwischen beiden deutschen Diktaturen: Während das „Dritte Reich" ein nationaler Einheitsstaat mit hoher Identifikation der Bevölkerung war, bildete die DDR lediglich einen Teilstaat in steter Fixierung auf und in beständiger Konkurrenz zum anderen Teil der Nation. Das galt für die Wirtschafts- wie für die Außenpolitik, wo der Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik, unterstrichen durch die Hallstein-Doktrin, 80 die Konkurrenzsituation noch forcierte. Erst eine Klärung des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten im Rahmen der Entspannungspolitik (Grundlagenvertrag von 197281) ermöglichte die eigentliche internationale Anerkennung der 76

Vgl. Clemens Vollnhals: Das Ministerium für Staatssicherheit. Ein Instrument totalitärer Herrschaftsausübung, in: Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka/Hartmut Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 498-518, hier 507ff. 77 S. Heinz Hillermeier hofs, Darmstadt 1980.

(Hg.): Im Namen des Deutschen Volkes. Todesurteile des Volksgerichts-

78 Weber: Grundriß, S. 162. Vollnhals hat in diesem Zusammenhang von einem „sanften Totalitarismus" gesprochen (Das Ministerium für Staatssicherheit, S. 514). 79

Kleßmann: Zwei Diktaturen in Deutschland, S. 602.

80

S. dazu Rüdiger Marco Booz: Hallsteinzeit. Deutsche Außenpolitik 1955-1972, Bonn 1995.

81 Vgl. Benno Zündorf. Die Ostverträge. Die Verträge von Moskau, Warschau, Prag, das BerlinAbkommen und die Verträge mit der DDR, München 1979, S. 211-319.

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387

DDR. Für die Verbündeten der Bundesrepublik besaßen die innerdeutschen Beziehungen und ihre Entwicklung jedoch stets „eine Art Orientierungsfunktion" 8 2 hinsichtlich ihrer Politik gegenüber dem anderen deutschen Staat. Die DDR mußte sich ständig an der ökonomisch ungleich potenteren westdeutschen Republik messen lassen - ein Vergleich, der nur zu ihren Ungunsten ausfallen konnte. Das als Alternative zur Bundesrepublik offerierte Gesellschaftsmodell war angesichts seiner realen Ausgestaltung ebenfalls kaum konkurrenzfähig. 83 Gleichwohl blieb die SED trotz aller feindseligen Kritik immer auf den westdeutschen Staat fixiert. 84 Zwar machte die Teilung Deutschlands die Parteiherrschaft der SED überhaupt erst möglich, sie beraubte den sozialistischen Staat jedoch seiner nationalstaatlichen Basis, deren selbstverständliche Akzeptanz und emotionale Bindungskraft dem NS-Regime noch nachhaltig zugute gekommen war. Angesichts dieses „nationalen Defizits" wurde der Sozialismus aus Sicht der SED zum unverzichtbaren Konstitutivum der DDR, was sich augenfällig im Begriff der „sozialistischen Nation" niederschlug, den Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der in der Bundesrepublik angeblich fortdauernden „bürgerlichen Nation" gegenüberstellte. 85 Ohne gleichzeitige Bedrohung der staatlichen Existenz war dieser sozialistische Charakter als spezifisches Implement nicht in Frage zu stellen. 86 Das führte dazu, daß die „Bereitschaft, mitzumachen oder das Regime aus der kritischen Haltung eines innenpolitischen Reformers heraus zu unterstützen, [...] in der DDR offenbar größer als in anderen sozialistischen Gesellschaften" war. 8 7 Für keinen anderen Staat des sozialistischen Machtbereichs 82 Marcel Bulla: Zur Außenpolitik der DDR. Bestimmungsfaktoren - Schlüsselbegriffe - Institutionen und Entwicklungstendenzen, Melle 1988, S. 150. 83 Johannes L. Kuppe: Die DDR und die nichtsozialistische Welt. Ein Essay zur Außenpolitik der SED, in: Helwig (Hg.): Rückblicke auf die DDR, S. 175-182, hier v.a. 176. 84

Vgl. Christoph Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: aus Politik und Zeitgeschichte Β 29-30/1993, S. 30-41. 85 S. auch Hermann Axen: Die Herausbildung der sozialistischen Nation in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus 19/1976, S. 29Iff. Ausführlich Ulrich Scheuner: Das Problem der Nation und des Verhältnisses zur Bundesrepublik Deutschland, in: Jacobsen u.a. (Hg.): Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR, S. 85-108, v.a. 104ff. 86

In diesem Sinne äußerte sich noch kurz vor der Wende der Direktor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Otto Reinhold: Vierzig Jahre DDR - eine sozialistische Alternative, in: Horizont Nr. 10/1989, S. 9. 87 Meuschel: Überlegungen, S. 13. Ausführlich dies.: Legitimation und Parteiherrschaft. Zum Paradox von Revolution und Stabilität in der DDR, Frankfurt a.M. 1992. 2

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außer der UdSSR - besaß die „Legitimationsfunktion der Ideologie" solch zentrale Bedeutung;88 sie war Ersatz für das fehlende nationalstaatliche Fundament, ein Dilemma, das im Bewußtsein breiter Schichten manifest blieb - trotz unablässiger Propaganda. Ein weiterer, außerordentlich folgenreicher Aspekt der räumlichen Nähe zur Bundesrepublik und zum Westen lag schließlich - v.a. in den 70er und 80er Jahren - in der Durchbrechung des staatlichen Meinungsmonopols infolge des zunehmenden Konsums von Westfernsehen sowie verwandtschaftlicher Kontakte, wodurch das kritische Potential in der DDR nach und nach vergrößert wurde. 7. Recht, Justiz, Verfassung Auch in diesem Bereich lassen sich sowohl strukturelle Gemeinsamkeiten als auch fundamentale Unterschiede konstatieren. In beiden Diktaturen wurde Recht primär als Herrschaftsinstrument begriffen. Während „Reichsjuristenführer" Hans Frank 1936 erklärt hatte, daß „Grundlage der Auslegung aller Rechtsquellen die nationalsozialistische Weltsanschauung" zu sein habe, 89 forderte die DDR-Justizministerin Hilde Benjamin 1955 eine „parteiliche" anstelle einer unabhängigen Justiz und qualifizierte letzteres als „bürgerliche Vorstellung" ab. 90 Die Instrumentalisierung des Rechts und der Rechtssprechung schlug sich vor allem in der Handhabung eines immer weiter ausgebauten Strafrechts nieder, das der politischen Führung zur Durchsetzung ihrer Ziele diente. 91 Roland Freisler bezeichnete sich als „politischen Soldaten" Hitlers und beteuerte, der Volksgerichtshof sei bemüht, „so zu

88

Schulz·. Bestimmungsfaktoren, S. 211 f.

89 Hans Frank in seinen Leitsätzen v. 14.1.1936; vgl. Deutsche Juristenzeitung 41 (1936), S. 179f. S. ausführlich Bernd Rüthers: Entartetes Recht. Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1988. 90 Hilde Benjamin: Recht und Rechtsbewußtsein, in: dies.: Aus Reden und Aufsätzen, Berlin (O) 1982, S. 234-246 (Erstveröffendichung 1955), hier 234. 91 Für neuere Literatur zum Strafrecht unter der NS-Diktatur s. Rainer Möhler: Strafjustiz im „Dritten Reich", in: Neue Politische Literatur 39 (1994), S. 423-441. Zur DDR-Strafjustiz vgl. Falco Werkentin: Politische Strafjustiz in der Ära Ulbricht, Berlin 1995. S. auch Hubert Rottleuthner u.a.: Steuerung der Justiz in der DDR. Einflußnahme der Politik auf Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte, Köln 1994. Literatur zum Rechtssystem der DDR bespricht außerdem Hermann Wentker: Geschichte der Justiz in der DDR, in: Neue Politische Literatur 39 (1994), S. 442^58.

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urteilen, wie er glaubt, daß Sie, mein Führer, den Fall beurteilen würden". 9 2 In der DDR wurden Mitte der fünfziger Jahre Todesurteile auf ausdrückliche Anweisung Walter Ulbrichts hin ausgesprochen, 93 das Politbüro der SED wurde bei allen strafrechtlichen Angelegenheiten von großer politischer Bedeutung einbezogen.94 Eine weitere Parallele besteht darin, daß sowohl die Gestapo wie die Staatssicherheit in einem weitgehend rechtsfreien Raum operierten, ohne justizieller Kontrolle zu unterliegen. In diesem Zusammenhang muß allerdings betont werden, daß die Dimensionen des justiziellen Terrors fundamental unterschiedlich waren und mit Blick auf die DDR keinesfalls von einer systematischen Ausrottung politisch mißliebiger Personen gesprochen werden kann. Auch in der politischen Handhabung des Strafrechts durch beide Regime ist die bereits erwähnte spiegelbildliche Entwicklung zu beobachten: Während sich die Rechtsprechung des „Dritten Reiches" in dieser Hinsicht v.a. unter dem Einfluß des Krieges fortschreitend radikalisierte, wurde in der DDR der „ 'bekennende ' Terror der politischen Justiz aus den fünfziger Jahren durch den heimlichen Terror eines Apparates" ersetzt. 95 Weitere Unterschiede sind den differierenden Ausgangspositionen geschuldet: Das NS-Regime übernahm das in der Weimarer Republik geltende Recht „ i m Prinzip en bloc" und baute es erst mit fortschreitender Herrschaftsdauer nach und nach um. 9 6 Zumindest in einigen Bereichen wie etwa dem Zivil- oder Handelsrecht wurden rechtsstaatliche Prinzipien bewußt beibehalten97 - die allerdings für „Fremdrassige" nicht

92

Brief Freislers an Hider v. 15.10.1942, zit. nach Heinrich Ortner: Der Hinrichter. Roland Freisler - Mörder im Dienste Hiders, Göttingen21995, S. 123. 93

S.o., Anm. 19.

94 So wurden die Prozesse von Dessau und Waldheim von der SED-Führung in allen Einzelheiten vorbereitet (vgl. Wolf gang Eisert: Die Waldheimer Prozesse. Der stalinistische Terror 1950. Ein dunkles Kapitel der DDR-Justiz, München 1993). Sehr aufschlußreich ist auch ein Schreiben Erich Mielkes an Walter Ulbricht, in welchem er über ein Ermitüungsverfahren des MfS berichtete und schloß: „Ich bitte hier um Mitteilung, in welcher Höhe die Strafe ausgesprochen werden soll, oder ob die Stellung der Strafanträge und die Verurteilung dem Staatsanwalt und dem Gericht überlassen werden sollen." (Zit. nach Karl Wilhelm Fricke: Kein Recht gebrochen? Das MfS und die politische Strafjustiz der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 40/1994, S. 24-33, hier 30). 95 Falco Werkentin'. Die Reichweite politischer Justiz in der Ära Ulbricht, in: Bundesminister der Justiz (Hg.): Im Namen des Volkes? Über die Justiz im Staat der SED, Leipzig 1994, S. 179-196, hier 194. 96

Michael Stolleis: „Recht im Unrecht", in: ders.: Recht im Unrecht. Studien zur Rechtsgeschichte des Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1994, S. 7-35, hier 10. 97

Ebd., S. 25.

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galten98 - und auch ein Großteil des Personals aus der Zeit der Weimarer Republik übernommen. Die Folge war vor allem in den ersten Jahren des Regimes ein Neben- und Gegeneinander von rechtlichen Normen und politisch erwünschten staatlichen Maßnahmen. So kam es zum bekannten Dualismus von „Normenstaat" und „Maßnahmenstaat" und dem daraus hervorgehenden „Doppelstaat", wie Ernst Fraenkel bereits 1941 diagnostizierte. 99 Demgegenüber erfolgte im „sozialistischen Parteistaat" 100 der Aufbau des ausdrücklich als „Klassenjustiz" verstandenen Rechtswesens durch einen fast vollständigen Austausch der Justizangestellten. Staatsanwaltschaft und Juristenschaft wurden von „bürgerlichen Juristen" radikal gesäubert und mit parteitreuen Kadern besetzt, 101 was die Auslegung der bestehenden Rechtsvorschriften im Sinne der Partei gewährleistete. Im Vergleich zur relativen „Rechtsfeindschaft" 102 der NS-Machthaber widmete die SED dem Rechtssektor in ihrem unablässigen Bemühen um Legitimation allerdings größere Aufmerksamkeit. 103 In verfassungspolitischer Hinsicht beschritten NSDAP und SED indes völlig unterschiedliche Wege: Während der Nationalsozialismus die Weimarer Reichsverfassung niemals formell abgeschafft, aber durch Reichstagsbrandverordnung und Ermächtigungsgesetz faktisch außer Kraft gesetzt hat, schuf die Partei Ulbrichts und Honeckers demgegenüber Schritt für Schritt eine sozialistische Verfassung (1949/1968/1974), 104 in welcher der Führungsanspruch der „Partei der Arbeiterklasse" seit 1968 in Art. 1 verankert war. Die Schwäche der individuellen Rechtsposition des Bürgers gegenüber dem Staat zeigt sich besonders deutlich in der beiden Systemen eigenen Mißachtung von Menschen- und Bürgerrechten sowie der Geringschätzung von Ver98

Pars pro toto: So ist etwa die „Pervertierung des Jugendstrafvollzugs durch das rassische Ausleseprinzip" konstatiert worden. Im Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943 wurden „die Schwererziehbaren, Unerziehbaren und biologisch Minderwertigen" von der Anwendung des Strafrechts ausdrücklich ausgeschlossen und der Polizei überlassen. Vgl. Christine Dörnen Erziehung durch Strafe: Die Geschichte des Jugendstrafvollzugs von 1871-1945, Weinheim 1991, S. 286. 99

Ernst Fraenkel: Der Doppelstaat, Frankfurt a.M. 1974, (engl. 1941).

100

Meuschel: Zerstörung, S. 103.

101

Weber: Grundriß, S. 82ff.

102

Stolleis: Recht im Unrecht, S. 20.

103 Gerhard Dilcher: Politische Ideologie und Rechtstheorie, Rechtspolitik und Rechtswissenschaft, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, S. 469-482, hier 475 u. 482 (Anm. 18). 104

Herwig Roggemann: Die DDR-Verfassungen, Berlin 41989.

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waltungsrecht und -gerichtsbarkeit. Im „Dritten Reich" blieb eine Verwaltungsgerichtsbarkeit zwar bestehen, war aber in der Praxis schon bald bedeutungslos; 1 0 5 in der DDR erfolgte 1952 die Auflösung aller noch bestehenden Verwaltungsgerichte und sechs Jahre später, mit der Babelsberger Konferenz, auf der die Beschlüsse der Partei zur Grundlage für die Rechts- und Staatswissenschaft erklärt und die Juristenschaft auf diese Linie eingeschworen wurde, die faktische Abschaffung des Verwaltungsrechts. 106 Insofern besaßen trotz des unterschiedlichen Herangehens an den Justizapparat Menschen- und Bürgerrechte, Verfassung und Verfassungsrecht für beide Diktaturen lediglich deklamatorischen Charakter, politische Zielsetzungen hatten gegenüber rechtsstaatlichen Normen durchweg Vorrang. 107 Rechtssicherheit und -klarheit existierten nicht, der Ausgang von Rechtsfällen wurde unkalkulierbar. Weder der NSnoch der SED-Staat waren daher ein Rechtsstaat, wenngleich die DDR nach dem Mauerbau die Praxis der Rechtsprechung in eindeutig kriminellen Fällen verifizieren konnte und den Eindruck relativer Normalität zu erwecken vermochte. Dies galt allerdings nur dort, wo die Macht der SED nicht herausgefordert wurde. An die Stelle einklagbarer Rechte trat die Möglichkeit der Eingabe, über die nicht im Sinne formaljuristischer Vorgaben, sondern nach der Maßgabe politischer Opportunität entschieden wurde. 108 8. Wirtschaft,

Eigentum, Produktionsverhältnisse

Selbst nach dem Übergang zur Kriegswirtschaft wurden von Seiten der Nationalsozialisten Eigentumsrechte und Verfügungsgewalt über Besitz und Produktionsmittel nicht vollständig aufgehoben. Allerdings erfolgte seit 1939 die Transformation der marktwirtschaftlichen Ordnung Weimars in eine Zentralverwaltungswirtschaft. Seit 1942 existierte eine straffe zentrale Leitung der

105 Michael Stolleis: Verwaltungsgerichtsbarkeit im Nationalsozialismus, in: ders.: Recht im Unrecht, S. 190-220 (Erstdruck in: Festschrift fur Ch. F. Schroeder, Köln 1985, S. 57-80). 106 Vgl. Jörn Eckert: Die Babelsberger Konferenz vom 2./3. April 1958. Legende und Wirklichkeit, in: Deutschland-Archiv 26 (1993), S. 995-1004. S. auch ders. (Hg.): Die Babelsberger Konferenz vom 2./3. April 1958. Rechtshistorisches Kolloquium 13.-16. Februar 1992, Baden-Baden 1993. 107

Vgl. Angelo Rohlfs: Verfassungsstrukturen im Dritten Reich und der Deutschen Demokratischen Republik, in: Kühnhardt u.a. (Hg.): Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung, S. 107-123. 108

Vgl. dazu Wolf gang Bernet: Eingaben als Ersatz für Rechte gegen die Verwaltung in der DDR, in: Uwe-Jens Heuer (Hg.): Die Rechtsordnung der DDR. Anspruch und Wirklichkeit, BadenBaden 1995, S. 415-426.

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Wirtschaft durch das „Amt für zentrale Wirtschaftsplanung" unter Albert Speer. 109 Demgegenüber bildete die tiefgreifende Umgestaltung der Eigentumsverhältnisse vom Privat- zum Staats- und Gemeineigentum von Anfang eine der tragenden Säulen des SED-Staates. Bereits 1955 stammten 85% der industriellen Bruttoproduktion aus Volkseigenen Betrieben, bis 1974 erreichte der staatliche Anteil an der industriellen Warenproduktion über 99%. 1 1 0 Zentrale Planverwaltungswirtschaft blieb das entscheidende wirtschaftspolitische und ökonomische Strukturprinzip der DDR-Wirtschaft, als solches trug es allerdings auch entscheidend zum Zusammenbruch der zweiten deutschen Diktatur bei. 1 1 1 Beim Aufbau dieses zentralistisch und hierarchisch gegliederten Wirtschaftssystems konnte die DDR z. T. an die Organisationsstruktur der letzten Phase des NS-Kriegswirtschaft anknüpfen. 112 Anders als im „Dritten Reich", das privates Gewinnstreben durchaus als Leistungsanreiz akzeptierte, wurden Produktionsziele und -Verwendung nun ausschließlich zentral festgelegt. Gemeinsam wiederum war beiden Systemen die staatliche Preisfixierung, die zwischen 1933 und 1945 allerdings praxisnäher und in Kooperation mit Vertretern der Wirtschaft vorgenommen wurde. 113 Überhaupt konnte durch den weitgehenden Verbleib des sozioökonomischen Bereichs bei den klassischen Ressorts und dem angestammten Apparat die latente Verschleuderung volkswirtschaftlicher Werte, die dann zum Signum der DDR-Wirtschaft geworden ist - wie in allen Ökonomien sog. „real-sozialistischer Staaten" 114 - im „Dritten Reich" weitgehend vermieden werden. Trotz aller fundamentalen Unterschiede in der Wirtschafts- und Eigentumsordnung ist als wichtige Gemeinsamkeit schließlich festzuhalten, daß die Volkswirtschaft in beiden Systemen gegenüber der Politik letztlich nur eine sekundäre Stellung einnahm, wobei die SED die Trennung beider Bereiche in weitaus 109 Frank Waltmann: Wirtschaftssysteme. Ökonomische Grundstrukturen des Nationalsozialismus und der DDR im Vergleich, in: Kühnhardt (Hg.): Die doppelte deutsche Diktaturerfahrung, S. 125144, hier 127ff. 110

Weber. Grundriß, S. 62ff. u. 141.

111 Vgl. Lothar Fritze: Panoptikum DDR-Wirtschaft. Machtverhältnisse, Organisationsstrukturen, Funktionsmechanismen, München 1994, v.a. S. 120-149. 112

Vgl. Wilhelm Treue: Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, Bd. 2, Stuttgart 1973, S. 231f.

1,3

Waltmann, S. 142.

114 Günter Kusch u.a.: Schlußbilanz DDR. Fazit einer verfehlten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Berlin 1991.

Zwei Diktaturen in Deutschland

393

radikalerer Weise aufhob. 115 Die Krise der DDR, die schließlich zu ihrem Untergang führte, war zu einem nicht geringen Teil auch ökonomisch bedingt. 116 9. Ideologie bzw. weltanschauliches Fundament Vergleicht man die Ideologie des Marxismus-Leninismus, die seit spätestens 1948/49 auch für die SBZ/DDR verbindliche und zugleich ausschließliche Gültigkeit beanspruchte, 117 mit der des Nationalsozialismus, so fallen auch hier zunächst einmal Unterschiede ins Auge. Der Marxismus-Leninismus behielt «trotz aller Tendenz zur Regression die Verbindung mit einem philosophischen Lehrgebäude bei, während das nationalistische und rassistische Denken des Nationalsozialismus sich höchstens pseudowissenschaftlich (aus naturalistischen und sozialdarwinistischen Strömungen) rechtfertigen» konnte. 118 Während ersterer seine Wurzeln in der demokratischen und aufklärerischen Bewegung des 18. Jahrhunderts hatte und auf universal-ethische Werte und Ziele orientiert war, gründete die NS-Weltanschauung in einem dumpfen Rassismus, propagierte die Überlegenheit des Ariertums sowie die Versklavung und Ausrottung „minderwertiger" Rassen, womit sich jeder ethisch-universelle Anspruch von selbst verbot. Einem ausgefeilten philosophisch-theoretischen Lehrgebäude mit der Utopie einer friedlichen, humanen und egalitären Weltgesellschaft stand die sozialdarwinistische Verherrlichung der Rasse gegenüber, die in ihrem prononciert gegenaufklärerischen Impetus kaum Raum für universalistische Werte bot. 1 1 9 Falls dieses Defizit von breiten Bevölkerungsschichten überhaupt wahrgenommen wurde, so wurde es kompensiert durch die Fiktion der sog. „Volksgemeinschaft". Ebenso massenwirksam war die ständige Propagierung des Nationalsozialismus, der häufig chauvinistischer Tendenzen nicht entbehrte. Diesem enormen, massenpsychologischen Identifikationsferment hatte die SED, 115

Meuschel: Überlegungen, S.7.

116

Kusch u.a.: Schlußbilanz-DDR, S. 11.

117

S. dazu Wolf gang Leonhard: Die Etablierung des Marxismus-Leninismus in der SBZ/DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 40/1994, S. 3-11. 118

Hans Maier: Das totalitäre Zeitalter und die Kirchen, in: ders.: Politische Religionen, S. 3761, hier 42. Erstveröffendichung in: Historisches Jahrbuch 112 (1992), S. 383-411. Dieser Unterschied wurde, allen Pauschalisierungsvorwürfen zum Trotz, auch bereits von den „Klassikern" der Totalitarismustheorie wie Hannah Arendt und Carl J. Friedrich hervorgehoben, worauf jetzt Matthias Vetter hingewiesen hat. Vgl. ders.: Terroristische Diktaturen, S. 12. 119

Meuschel: Zerstörung, S. 94ff. Die Frage, ob Hider eine politische Utopie, die Vision eines „guten" Endzustandes gehabt hat, ist umstritten. Vgl. zuletzt Enrico Syring: Hitler. Seine politische Utopie, Berlin 1994, v.a. S. 156-239.

394

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schon aufgrund der permanenten Konkurrenzsituation zur Bundesrepublik und der Teilstaatlichkeit der DDR, nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Gemeinsam hingegen ist beiden Ideologien die Ablehnung der Gewaltenteilung zugunsten staatlicher Konzentration, die Frontstellung gegen den Liberalismus, die Geringschätzung von Menschen- und Bürgerrechten, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Pluralismus sowie ein eschatologischer Ausschließlichkeitsanspruch, der sich in der jeweiligen Ideologie manifestierte. In der Herrschafts praxis beider Ideologien spielten die skizzierten Unterschiede indes nur eine geringe Rolle. Die Intensität der Indoktrination und Propaganda zum Zweck der gewünschten Sozialdisziplinierung blieb in beiden Diktaturen gleich hoch; der Anspruch auf die allein richtige Welt- und Sinndeutung war ebenfalls analog. Es ist ohne Zweifel zutreffend, daß das verbrecherische Element in der NS-Weltanschauung selbst verankert war, während die Untaten des Realsozialismus der Durchsetzung allgemein anerkannter humanistischer Prinzipien dienen sollten. Aus der Perspektive der Opfer allerdings waren diese Unterschiede vergleichsweise irrelevant. 120 10. Grundstrukturen

der Herrschaftssysteme

Obwohl sich die beiden Monopolparteien NSDAP und SED den bestehenden wie den entstehenden Staat jeweils rasch unterwarfen, führte der ursprünglich zentralistische Herrschaftsaufbau im Nationalsozialismus allmählich zu polykratischen Instanzen mit monokratischer Spitze, wobei „der Führer" allerdings bis zum Zusammenbruch des „Dritten Reiches" seine absolute Weisungsbefugnis behielt. Demgegenüber verblieb der Staatsaufbau in der DDR unter der Maßgabe des sog. „demokratischen Zentralismus" streng zentralistisch, wobei die Machtkonzentration und letztinstanzliche Entscheidungskompetenz an der obersten Spitze gleichfalls evident ist und es nur Ansätze zu kollegialer Mitentscheidung gegeben hat. Selbstverständlich ist diese vorläufige komparative Auflistung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen der NS- und SED-Diktatur noch keineswegs vollständig. 121 Sie vermag aber durchaus eine Grundlage für den nachfolgend vorgenommenen sektoralen Vergleichsversuch zu bilden.

120

Ignacio Sotelo, in: Suhl (Hg.): Vergangenheitsbewältigung, S. 47.

121

So fehlt etwa noch die unterschiedliche Behandlung von Konkurrenzparteien.

Zwei Diktaturen in Deutschland

395

IV. Damit zu dem bereits genannten partiellen bzw. sektoralen Vergleich. Seiner spezifischen Methodik zufolge werden ganz bestimmte Strukturen und Mechanismen beider deutscher Diktaturen herausgegriffen und einer komparatistischen Analyse unterzogen, die zugleich eine besondere komparative Kompatibilität aufweisen. So z. B. die Politik des Herrschaftsapparates gegenüber anderen autonomen und gesellschaftlichen Großorganisationen, wie etwa Gewerkschaften oder Kirchen bzw. deren Reaktion darauf. Daneben sind u.a. auch vergleichende Studien mit lokalen und regionalen Schwerpunkten oder schichten- und milieuspezifischem Ansatz denkbar. Für den folgenden Versuch, diesen Vergleichstyp zu exemplifizieren, werden die Kirchen als Gegenstand gewählt. Aus verschiedenen Gründen erscheinen sie für eine komparatistische Analyse von NS- und SED-Regime besonders geeignet: a) Zunächst sind die beiden Konfessionskirchen in Deutschland als weitgehend autonome gesellschaftliche Großorganisationen zweimal einem staatlichen und ideologischen Omnipotenzanspruch unterworfen worden. Beide Male war letztlich ihre völlige Eliminierung als weltanschauliche Konkurrenten und gesellschaftlich wirksame Institutionen das Ziel. b) Beide Kirchen haben je auf ihre Weise zweimal Widerstand im weitesten Sinne geleistet und zwar von den Kirchenleitungen herunter bis zu einzelnen Gläubigen, trotz mancher Einbrüche und Verfehlungen. 122

122 Zum Widerstand der evangelischen Kirche im „Dritten Reich" s. aus der Vielzahl von Veröffentlichungen Gerhard Besier/Gerhard Ringshausen (Hg.): Bekenntnis, Widerstand, Martyrium. Von Barmen 1934 bis Plötzensee 1944, Göttingen 1986. Den katholischen Widerstand behandelt Heinz Härten: Katholische Kirche und Widerstand, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 182-193. Zum kirchlichen Widerstand in der DDR vgl. aus der weit weniger umfangreichen Zahl der Publikationen Friedrichwilhelm Graf: Das Nein der Christen. Widerstand und Systemdistanz im SED-Staat - Eine Westperspektive, in: Lutherische Monatshefte 33 (1994), S. 2-5; Markus Meckel/Martin Gutzeit (Hg.): Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit - Kommentierte Quellentexte, Köln 1994.

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c) Zudem stellt die Erfahrung des Kirchenkampfes 1 2 3 während des Nationalsozialis mus i n beiden K i r c h e n nach 1945 ein Bindeglied zu dem spätestens ab Beginn der fünfziger

Jahre i n der D D R einsetzenden beiderseitigen Be-

hauptungskampf d a r . 1 2 4 Beide Male wurden die Kirchen gezwungen, ihren Standort i n der Gesellschaft grundsätzlich neu zu bestimmen. 1 2 5 d) Z u r Geschichte der beiden Kirchen i m NS-Staat liegt inzwischen ein vergleichsweise umfassender Kenntnisstand vor, der - vor allem für die katholische Seite - über die traditionelle Kirchengeschichtsforschung hinaus auch verstärkt sozialhistorische Erkenntnisse u m f a ß t . 1 2 6 Der demgegenüber defizitäre Kenntnisstand zu den Kirchen i n der S B Z / D D R konnte inzwischen zwar

123 Kirchenkampf wird im folgenden verstanden als der sich aus dem totalitären Anspruch des Nationalsozialismus ergebende Kampf des Hitler-Regimes gegen die Kirchen und die ihr verbundenen Organisationen. Diese Definition beinhaltet mithin nicht nur das innerkirchliche Ringen der verschiedenen Gruppen der evangelischen Kirche um den „rechten Weg", sondern betrachtet „Kirchenkampf" als Epochenbezeichnung für die Geschichte beider Kirchen im Dritten Reich. Den jüngsten Forschungsüberblick bietet Joachim Mehlhausen: Nationalsozialismus und Kirchen, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 24, Berlin/New York 1994, S. 43-78, der allerdings den Terminus „Kirchenkampf 4 als Epochenbezeichnung ausdrücklich ablehnt (vgl. S. 43f.). Für den Versuch einer konfessionsübergreifend angelegten Bilanz kirchlicher Geschichte im Zeitalter der Weltkriege vgl. Kurt Meier. Deutschland und Österreich, in: Jean-Marie Majeur (Hg.): Erster und Zweiter Weltkrieg. Demokratie und totalitäre Systeme (1914-1958), Freiburg/Basel/Wien 1992, S. 681-772, bes. 688-705 u. 713-725. Da bislang eine Gesamtdarstellung beider Kirchen fehlt, sei für die evangelische Seite verwiesen auf die Arbeiten von Klaus Scholder. Die Kirchen und das Dritte Reich. Bd. 1 : Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918-1934, Frankfurt a.M. u.a.. 1977; Bd. 2: Das Jahr der Ernüchterung. Barmen und Rom, Berlin 1985, sowie Kurt Meier: Der evangelische Kirchenkampf. Bd. 1 : Der Kampf um die Reichskirche, Göttingen 21984; Bd. 2: Gescheiterte Neuordnungsversuche im Zeichen staadicher „Rechtshilfe", Göttingen21984; Bd. 3: Im Zeichen des Zweiten Weltkrieges, Göttingen 1984. Zur katholischen Kirche s. die umfangreiche Monographie von Heinz Hurten: Die deutschen Katholiken 1918-1945, Paderborn 1992. 124 Axel Noack: Der Weg der Kirchen in der DDR als Aufarbeitung vom Kirchenkampferfahrungen der NS-Zeit, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.): Die evangelischen Kirchen und der SEDStaat. Ein Thema kirchlicher Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S. 100-112, v.a. S. 106-110. Noack sieht eine Aufnahme der Erfahrungen des Kirchenkampfes in der NS-Zeit durch die evangelischen Kirchen in der DDR v.a. in der Zeit zwischen 1955 und 1975 u. besonders bis 1965, als es um die Suche nach einem Weg zwischen „Dibelianismus" (Ablehnung der DDR-Obrigkeit als Unrechtsstaat) und „Mitzenheimnismus" (Anerkennung der SED-Herrschaft als von Gott gewollter Obrigkeit) ging (ebd., S. 109). 125 126

Bramke: Widerstand und Dissens, S. 235.

Vgl. etwa: Cornelia Rauh-Kühne: Katholisches Milieu und Kleinstadtgesellschaft. Etdingen 1918-1939, Sigmaringen 1991, sowie Thomas Breuer. Verordneter Wandel? Der Widerstreit zwischen nationalsozialistischem Herrschaftsanspruch und traditioneller Lebenswelt im Erzbistum Bamberg, Mainz 1992. Generell Martin Greschat: Die Bedeutung der Sozialgeschichte für die Kirchengeschichte. Theoretische und praktische Erwägungen, in: Historische Zeitschrift 256 (1993), S. 67103.

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397

noch nicht aufgeholt werden, doch ist mittlerweile ein Wissensstand erreicht, der zumindest einen Vergleichsversuch zuläßt. 1 2 7 A u c h b e i m Sektoralvergleich ist es erforderlich, sich zunächst noch einmal über spezifische Rahmenbedingungen Klarheit zu verschaffen: - Erneut ist der Zeitfaktor i n Rechnung zu stellen: die Kirchen i n der D D R hatten sich - i m Vergleich zur Herrschaftsdauer des Nationalsozialismus mehr als dreieinhalb M a l so lang mit der kirchen- und glaubensfeindlichen SED-Diktatur auseinanderzusetzen. I n dieser Zeit durchlief die Kirchenpolitik der SED verschiedene Phasen - m i t entsprechenden Reaktionen auf kirchlicher Seite. - Die Auswirkungen des i n industriellen Wachstums- und Konsumgesellschaften sich vollziehenden Säkularisierungs- und Entfremdungsprozesses hat die soziale und normative Fundierung der Kirchen i n der Gesellschaft sukzessive erodiert, besonders massiv i n den protestantischen Kirchen. Konnten beide Konfessionskirchen i m Nationalsozialismus noch als Volkskirchen, insbesondere auf dem Lande, gelten, 1 2 8 so ist demgegenüber seit Beginn der fünfziger Jahre ein fortlaufender Mitgliederschwund und dramatischer Rückgang besonders i n den evangelischen Kirchen der D D R zu konstatieren. 1 2 9 Während 127 Gerhard Besier hat kürzlich den dritten und letzten Band seiner Darstellung der Geschichte der evangelischen Kirchen in der DDR vorgelegt. Die voluminösen Bände beruhen - und hierin liegt ihr unbestreitbarer Nutzen - auf ausgiebigen Quellenrecherchen, deren Interpretation jedoch auch auf Kritik stieß (s. etwa Detlef Pollack: Ideologie produziert. Besier und die Quellen, in: Evangelische Kommentare 26 (1993), S. 460-462). Zur katholischen Kirche vgl. Thomas Raabe: SED-Staat und Katholische Kirche. Politische Beziehungen 1949-1961, Paderborn u.a. 1995. Vgl. auch den auf reicher Literatur- und Quellenbasis beruhenden ersten der auf drei Bände angelegten Geschichte von Katholizismus und DDR-Kirchenpolitik von Martin Höllen: Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten, Bd. 1: 1945 bis 1955, Berlin 1994 sowie die von Gert Kaiser herausgegebenen Bibliographien des Arbeitskreises Christen, Staat und Gesellschaft in der DDR des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, 3 Teile, Düsseldorf 1993ff.

128 1933 gehörten 95,2% der Deutschen einer der beiden großen christlichen Kirchen an, und zwar 41 Mio. der evangelischen und 21 Mio. der katholischen Konfession, darunter aktive protestantische Christen zu 25% und aktive katholische Christen zu 62%, wenn man als Indikator die regelmäßige Teilnahme am Abendmahl bzw. der Kommunion zugrunde legt. Zahlen nach dem prägnanten Überblick von Ulrich von Hehl·. Kirchen in der NS-Diktatur. Zwischen Anpassung, Selbstbehauptung und Widerstand, in: Karl Dietrich Bracher/Hans-Adolf Jacobsen/Manfred Funke (Hg. Deutschland 1933-1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 153181, hier 155. 129 1989 gehörten formal nur noch 24% der DDR-Bevölkerung einer der beiden Kirchen an, 19,4% der evangelischen und 4,5% der katholischen Kirche; die aktive, bekennende Teilnahme, vor allem in den evangelischen Kirchen, lag noch einmal erheblich darunter, in Ballungsgebieten z.T. unter 3 %. Zahlen nach Horst Dahn: Der Weg der evangelischen Kirchen in der DDR - Betrachtung einer schwierigen Gratwanderung, in: ders. (Hg.): Die Rolle der Kirchen in der DDR. Eine erste Bilanz, München 1993, S. 7-20, hier 10f. S. auch die Tabelle bei Detlef Pollack: Von der Volkskir-

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die katholische Kirche hier auch aufgrund ihres Ghetto-Status zumindest regional weitgehend Volkskirche blieb - z.B. im Eichsfeld 130 - sanken die protestantischen Kirchen eindeutig zu Minderheitsorganisationen ab. 131 Dies mußte naturgemäß ihre Selbstbehauptungskraft und ihren Widerstandswillen reduzieren. Darüber hinaus hat die verlorene Reichseinheit durch die Teilung Deutschlands nach 1945 die Kirchen auch in organisatorischer Hinsicht geschwächt. Die katholische Kirche wurde in der DDR, dem früheren protestantischen Kerngebiet Deutschlands, trotz einer Verdoppelung ihrer Mitgliedschaft durch Flüchtlinge nach 1945 (1939: 6,1%; 1946: 12,2% 132 ), zu einer Randkirche in einer „doppelten Diaspora", was spezifische Auswirkungen auf die von ihr gewählten Überlebens- und Selbstbehauptungsstrategien hatte. 133 Ihre traditionelle Orientierung auf Rom blieb bestehen, auch erfolgte keine Anpassung der Diözesen an die neue deutsch-deutsche Grenze. 134 - Demgegenüber verblieben die evangelischen Kirchen auf dem Territorium der DDR zunächst, bis 1969, als Landeskirchen Mitglieder der EKD, gerieten aber durch die zweite Verfassung vom Vorjahr unter Zugzwang und gründeten den „Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR" (EKiD). Sie bekannten sich allerdings weiter als „zu der besonderen Gemeinschaft der ganzen evangelischen Christenheit in Deutschland" (Art 4.4. der neuen Bun-

che zur Minderheitenkirche. Zur Entwicklung von Kirchlichkeit und Religiosität in der DDR, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, S. 271-294, hier 272, sowie die Angaben zur Mitgliedschaftsentwicklung S. 275-280. Zum diesbezüglichen Forschungsstand umfassend ders. : Kirche in der Organisationsgesellschaft. Zum Wandel der gesellschaftlichen Lage der evangelischen Kirchen in der DDR, Stuttgart u.a. 1994, S. 377-390. 130

Vgl. Paul J. Kockelmann: Zwischen Kanzel und Pfarrsaal. Systemdistanz im Eichsfeld, in: Jürgen Israel (Hg.): Zur Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981-1989, Berlin 1991, S. 238-242. 131

S. dazu die eingehenden Ausführungen Pollacks: Von der Volkskirche zur Minderheitenkirche.

132

Ulrich von Hehl/Wolfgang Tischner: Die katholische Kirche in der SBZ/DDR 1945-1989, in: Deutscher Bundestag (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur, Bd. VI/2, S. 875-949, hier 879. 133 Vgl. Bernd Schäfer. Selbstbehauptungsstrategie und (Über)lebensmuster der katholischen Kirche in der Zeit des DDR-Staats, in: Kirchliche Zeitgeschichte 7 (1994), S. 264-278. Schäfer hebt besonders ein in der Öffentiichkeit bewußt passives oder reaktives Verhalten der katholischen Kirche gegenüber den „Erwartungen, Avancen und Zumutungen" des Staates hervor (ebd. S. 271). 134

Vgl. Dazu Konrad Hartelt: Die Entwicklung der JurisdiktionsVerhältnisse der katholischen Kirche in der DDR von 1945 bis zur Gegenwart, in: Erfurter Theologische Studien 63 (1992), S. 97-116.

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desordnung) zugehörig. 135 Obwohl eine enge Verbindung zur EKD erhalten blieb, sahen sich die Landeskirchen in der DDR zunehmend auf sich selbst gestellt, wobei die Abhängigkeit von den Landeskirchen der Bundesrepublik in finanzieller und wirtschaftlicher Hinsicht allerdings nach wie vor unverändert groß blieb. 1 3 6 - Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die SED-Kirchenpolitik politisch-ideologische Vorgaben aus Moskau, die meist an außenpolitischen Interessen der UDSSR orientiert waren, zu beachten hatte. So verlangte der bereits erwähnte Beschluß der KPDSU über die Umsetzung des „Neuen Kurses" in der DDR vom Juni 1953 ausdrücklich ein diplomatischeres Vorgehen gegenüber den Kirchen und beendete zumindest vorerst das kirchenfeindliche Vorgehen der SED in dieser Zeit. 1 3 7 Darüber hinaus ist im Verlauf der Debatte über den Diktaturenvergleich immer wieder moniert worden, daß konkrete Vergleichskriterien bisher kaum Anwendung gefunden hätten. Für den nachfolgend praktizierten sektoralen Vergleichsversuch zwischen NS- und SED-Diktatur am Beispiel der Kirchen auf der Grundlage des bestehenden Forschungsstandes sollen für die Untersuchungsebenen NS- und SED-Kirchenpolitik einerseits sowie Reaktion und Verhalten von Kirchen und Gläubigen andererseits folgende Vergleichskriterien angewendet werden: a) Zielsetzungen b) Infiltration und Penetration c) widerständiges Verhalten. 138

135 Zur Entstehung vgl. Manfred Wilke/Peter Maser (Hg.): Die Gründung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR. Materialien aus dem Zentralen Parteiarchiv der SED und dem Archiv der Ost-CDU, Berlin 1994. S. auch Christoph Demke/Manfred Falkenau/Helmut Zeddies (Hg.) Zwischen Anpassung und Verweigerung. Dokumente aus der Arbeit des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR, Leipzig 1994. 136 Insgesamt erhielten die Landeskirchen in der DDR über 2,1 Milliarden DM an Zuschüssen, ganz abgesehen von den privaten Unterstützungsleistungen im Rahmen der Partnerschaftshilfe und der Unterstützung von Rentenzahlungen an Pfarrer. Vgl. Heinz Georg Binder. Die Bedeutung des finanziellen Transfers und der humanitären Hilfe zwischen den Kirchen im geteilten Deutschland, in: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VI, 1: Kirchen in der SED-Diktatur, Baden-Baden 1995, S. 559-582, hier 581f. Kritisch dazu Besier: Der SED-Staat und die Kirche, S. 511-547. 137 Hermann Wentker: „Kirchenkampf" in der DDR. Der Konflikt um die Junge Gemeinde 19501953, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 125-152, hier 151. 138 Der Terminus widerständiges Verhalten wird hier als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Verhaltensweisen verstanden, die eine Differenzierung des Widerstandsbegriffes notwendig machen. Entsprechende Vorschläge bei Mehlhausen: Nationalsozialismus und Kirchen, S. 68 u. Hubertus Knabe: Was war die „DDR-Opposition"? Zur Typologisierung des politischen Widerspruchs in Ostdeutschland, in: Deutschland-Archiv 29 (1996), S. 184-198, hier v.a. 197.

Günther Heydemann und Christopher Beckmann

400

Dies zunächst i m H i n b l i c k auf die NS-Diktatur: a) Ziele, M i t t e l und Methoden nationalsozialistischer Kirchenpolitik Bereits v o n ihrem politischen und ideologischen Anspruch her war die NSKirchenpolitik auf die Verdrängung und darauffolgende Eliminierung der K i r chen, des christlichen Glaubens sowie entsprechender Gesinnung ausgerichtet,139

die

angesichts

des v o n

den

Machthabern

beanspruchten

totalen

Weltdeutungs- und Sinnkompetenzanspruchs deren tödliche Feindschaft auf sich z o g e n , 1 4 0 Das belegen alle bisher bekannte Aussagen führender Nationalsozialisten. 1 4 1 Dieses generelle Z i e l wurde nie aufgegeben, auch wenn Taktik und Rhetorik häufig bewußt das Gegenteil suggerierten, etwa i n A r t . 24 des NSDAP-Parteiprogramms,

der sich für ein „positives Christentum"

aus-

sprach. 1 4 2 E i n Beleg dafür ist das kirchenpolitische Vorgehen i n Österreich nach dem sog. „ A n s c h l u ß " 1938 oder i m NS-Mustergau Wartheland ab 1941. 1 4 3 Der gezielten Verschleierungstaktik gegenüber den Kirchen, die m i t dem Abschluß

139 Zur NS-Kirchenpolitik s. nach wie vor John S. Conway: Die nationalsozialistische Kirchenpolitik 1933-1945. Ihre Ziele, Widersprüche, Fehlschläge, München 1969 u. Leonore SiegeleWenschkewitz: Nationalsozialismus und Kirchen. Religionspolitik von Partei und Staat bis 1935, Düsseldorf 1974. 140

V. Hehl: Kirchen in der NS-Diktatur, S. 162.

141

Vgl. Henry Picker (Hg.): Hiders Tischgespräche, zit. nach Lothar Kettenacker: Hider und die Kirchen. Eine Obsession mit Folgen, in: ders./Heydemann (Hg.): Kirchen in der Diktatur, S. 67-87, hier 67f. S. auch das Rundschreiben von NS-Reichsleiter Martin Bormann an die Gauleiter v. 9.6.1941, Wortlaut in Friedrich Zipfel: Kirchenkampf in Deutschland 1933-1945. Religionsverfolgung u. Selbstbehauptung der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit, Berlin 1965, S. 512-516. Zahlreiche Äußerungen in diesem Sinne finden sich ferner in den Goebbels-Tagebüchern. Belege bei Hans-Günther Hockerts: Die Goebbels-Tagebücher 1932-1941. Eine neue Hauptquelle zur Erforschung der nationalsozialistischen Kirchenpolitik, in: Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen zum 60. Geburtstag, Berlin 1983, S. 359-392, hier 365. 142

Wilhelm Mommsen (Hg.): Deutsche Parteiprogramme, München 31964, S. 547-550, das Zitat

550. 143 Zu Österreich vgl. Erika Weinzierl: Prüfstand. Österreichs Katholiken und der Nationalsozialismus, Möding 1988. Im Wartheland wurden durch Verordnung des Reichsstatthalters Greiser die Kirchen ihres öffentlich-rechtlichen Charakters beraubt, auf den Status privater Kultvereine herabgedrückt und völlig dem Willen der Machthaber ausgeliefert. Vgl. Paul Gürtler: Nationalsozialismus und evangelische Kirchen im Warthegau. Trennung von Staat und Kirche im nationalsozialistischen Weltanschaungsstaat, Göttingen 1958 sowie Bernard Stasiewski: Die Kirchenpolitik der Nationalsozialisten im Warthegau, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 7 (1959), S. 46-74. Vgl. ferner Hilarius Breitinger: Als Deutschenseelsorger in Posen und im Warthegau 1934-1945. Erinnerungen, Mainz 21986.

Zwei Diktaturen in Deutschland

401

des Konkordats mit der katholischen Kirche am 20. Juli 1933144 ihren vorläufigen Höhepunkt fand und insbesondere anfänglich zu gewisser Kooperationsbereitschaft auf Seiten der Kirchen führte, 145 folgten seit 1935 zunehmend härtere Maßnahmen, vornehmlich gegen die kirchlichen Jugendorganisationen sowie im Schul- und Pressewesen.146 Da das Regime gegenüber den Kirchenleitungen taktisch zu operieren hatte, um seinen Kredit bei den Gläubigen beider Konfessionen nicht zu verspielen, entwickelte sich ein keineswegs geradliniger, sondern eher schwankender kirchenpolitischer Kurs. Die Denkschrift der Bekennenden Kirche an Hitler vom Juni 1936147 und die Veröffentlichung der Enzyklika „Mit brennender Sorge", die dem NS-Regime einen „Vernichtungskampf" gegen die Kirche vorwarf, 148 lösten eine scharfe antikirchliche Kampagne aus, die im November des gleichen Jahres auf Weisung Hitlers zurückgenommen wurde, um die außenpolitischen Zielsetzungen des Regimes, denen nun das Hauptinteresse des „Führers" galt, nicht zu gefährden. 149 Die endgülti144

Zum Konkordat grundlegend Rudolf Morsey: Der Untergang des politischen Katholizismus. Die Zentrumspartei zwischen chrisüichem Selbstverständnis und „Nationaler Erhebung" 1932/33, Stuttgart 1977. Zu der Kontroverse über einen angeblichen Zusammenhang zwischen der Konkordatsofferte und dem politischen Verhalten des Zentrums s. Gerhard Schuir. Neue Kontroversen in der Zeitgeschichte: Kirchengeschichte, Parteien und Reichskonkordat, in: Der Staat 22 (1983), S. 578603. Neue Quellenfunde in ostdeutschen Archiven bestätigen die von Konrad Repgen gegen Klaus Scholder vertretene Auffassung, daß das Reichskonkordat zunehmend von den Nationalsozialisten als Behinderung ihrer totalitären machtpolitischen Bestrebungen empfunden wurde und der Kirche trotz der Verletzungen von Seiten Machthaber die Handhabe bot, ihre Eigenständigkeit zu behaupten. Vgl. Ludwig Brandl: Neue Quellen zum Reichskonkordat vom 20. Juli 1933, in: Zeitschrift für Politik 38 (1991), S. 428-449. Zum Reichskonkordat und seiner Bedeutung für das kirchliche Leben s. Hurten : Deutsche Katholiken, S. 231-271. 145

Vgl. Mehlhausen: Nationalsozialismus und Kirchen, S. 49.

146 Während die evangelischen Jugendorganisationen nahezu geschlossen in die Hitlerjugend überführt wurden, konnten sich die katholischen Jugendverbände durch Berufung auf das Konkordat der Eingliederung in die NS-Jugendorganisation erwehren. Vgl. Evi Kleinöder. Verfolgung und Widerstand der Katholischen Jugend vereine. Eine Fallstudie über Eichstätt, in: Bayern in der NS-Zeit, Bd. II, München/Wien 1979, S. 175-236. Zum Schulkonflikt s. etwa Wilhelm Damberg: Der Kampf um die Schulen in Westfalen 1933-1945, Mainz 1987. Zum Pressewesen vgl. Karl Aloys Altmeier: Katholische Presse unter der NS-Diktatur. Die Katholischen Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands in den Jahren 1933-1945, Berlin 1962 u. Siegfried Kessemeier. Katholische Publizistik im NSStaat. Grundzüge und Entwicklung, Münster 1973. 147

S. dazu Martin Greschat: Zwischen Bekenntnis und Widerstand. Texte zur Denkschrift der Behennenden Kirche an Hitler (1936), München 1987. 148 Wortlaut der Enzyklika in Dieter Albrecht (Bearb.): Der Notenwechsel zwischen der Reichsregierung und dem Heiligen Stuhl. I. : Von der Ratifizierung des Reichskonkordats bis zur Enzyklika „Mit brennender Sorge", Mainz 21974, S. 402-443. Vgl. dazu Heinz-Albert Raem: Pius XI. und der Nationalsozialismus. Die Enzyklika „Mit brennender Sorge" vom 14. März 1937, Paderborn u.a. 1979 sowie Hürten: Deutsche Katholiken, S. 362-379. 149

Vgl. Conway : Kirchenpolitik, S. 297ff.

26 Timmermann / Gruner

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ge Lösung des „Kirchenproblems" sollte nach dem „Endsieg" erfolgen. 150 Während des Krieges unterblieben Maßnahmen gegen Bischöfe, während ein z.T. bewußt abschreckendes Vorgehen gegen - v.a. katholische - Priester 151 und Gläubige eine Steigerung erfuhr, welche die Kirchenleitungen trotz vieler Einsprüche kaum abzuschwächen vermochten.152 b) Infiltration und Penetration Der Versuch, mittels der „Deutschen Christen" die einzelnen protestantischen Landeskirchen mit nationalsozialistischen Sympathisanten zu unterwandern, um eine Reichskirche unter Führung des NS-Staates zuwege zu bringen, scheiterte indes.153 Abgesehen von der überwiegenden Ablehnung der NS-Ideologie widersetzten sich die meisten Kirchenleitungen, wenn auch unter Einbrüchen, der Aufgabe ihrer traditionellen kirchlichen Autonomie zugunsten einer vom Regime völlig kontrollierten Staatskirche. Insofern ist die Durchdringung der Kirchen und Gläubigen nur ansatzweise gelungen, allerdings mit erheblich stärkeren Einbrüchen bei den evangelischen Kirchen als bei der katholischen Kirche. 154 130

Vgl. Carsten Nicolaisen: Widerstand und Anpassung. Die evangelischen Kirchen im Zweiten Weltkrieg, in: Johannes Hampel (Hg.): Der Nationalozialismus. Bd. III: Das bittere Ende 19391945, München 1993, S. 237-311, hier 289f. Sowie Heinz Härten: „Endlösung" für den Katholizismus? Das nationalsozialistische Regime und seine Zukunftspläne gegenüber den Kirchen, in: Stimmen der Zeit (1985), S. 534-545. 151 Nach Ulrich von Hehl (Bearb.): Priester unter Hiders Terror. Eine biographische und statistische Erhebung, Mainz 1984, waren rund ein Drittel aller katholischen Kleriker in irgendeiner Weise von Strafmaßnahmen des Regimes betroffen. Dies reichte von der Verwarnung durch die Gestapo bis hin zu KZ-Haft und Hinrichtung. Nach neuen Quellen dürfte dieser Anteil sogar über 50% gelegen haben. Vgl. Konrad Repgen: Die deutschen Bischöfe und der Zweite Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch 115 (1995), S. 411-451, hier 450. Die Verfolgung von Laien ist zahlenmäßig kaum vollständig ermittelbar. 152

Vgl. etwa Hans-Günther Hockerts: Die Sittlichkeitsprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Priester 1936/37, Mainz 1971, sowie Petra Rapp\ Die Devisenprozesse gegen katholische Ordensangehörige und Geisdiche im Dritten Reich, Phil. Diss. Bonn 1981. 153 Zu den „Deutschen Christen" vgl. Kurt Meier. Die Deutschen Christen. Das Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Halle/Göttingen 1978. Neuerdings Doris L. Bergen: Twisted Road. The German Christian Movement in the Third Reich, Chapel Hill/London 1996. S. auch Thomas Martin Schneider. Reichsbischof Ludwig Müller. Eine Untersuchung zu Leben, Werk und Persönlichkeit, Göttingen 1993. 154 Dies lag v.a. an spezifischen historischen Bedingungen in Deutschland, wo die protestantischen Kirchen nahezu vier Jahrhunderte lang eng mit der weltlichen Obrigkeit verbunden gewesen waren und sich daher in viel stärkerem Maße als die v.a. im Kaiserreich massiv benachteiligten Katholiken mit der deutschen Nation identifizierten (v. Hehl: Kirchen in der NS-Diktatur, S. 160). Bereits vor der „Machtergreifung" der Nationalsozialisten resultierte hieraus eine deutlich ablehnendere Haltung großer Teile des protestantischen Bevölkerungsteils gegenüber der Weimarer Republik, der auch die überwältigende Mehrheit der NSDAP-Wähler stellte (vgl. Kurt Nowak: Evangelische Kirche und

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Immerhin führten die ideologische Einflußnahme und nicht zuletzt die Erfolge des NS-Regimes zur graduellen Distanzierung beträchtlicher Teile der Mitglieder von ihren Kirchen und ihrem angestammten Glauben bis hin zum Kirchenaustritt. Indirekt trugen die Kirchen hierzu allerdings auch bei: Ein traditionell in ihnen vorherrschender Patriotismus bzw. Nationalismus, ein autoritäres und demokratiefeindliches bzw. -kritisches Staats Verständnis, das zu einer „partiellen Identität" mit den staatspolitischen Zielen der Nationalsozialisten führte, 155 sowie die Empfindung einer staatsbürgerlichen Pflichtsolidarität, von der man glaubte, eine solche Führer, Reich und Volk, insbesondere während des Krieges entgegenzubringen zu müssen, ließen, verbunden mit einem ausgeprägten antibolschewistischen Affekt, die Grenzziehung zwischen Regime und oppositionellen Kirchen für viele Gläubige nicht selten diffus erscheinen.156 c) Widerständiges Verhalten Wie während der Herrschaft des Nationalsozialismus insgesamt ist das Spektrum auch in den Kirchen vielfältig und reicht von den Leitungen herunter bis zu einzelnen Pfarrern und Gläubigen. Die Abwehr staatlicher Übergriffe auf kirchliche Organisationen, das Eintreten für die freie Verkündigung des Evangeliums, das „Widerstehen" aufgrund des „Wächteramts" der Kirchen, aber auch aus christlicher Mitverantwortung - etwa in der Verurteilung der Euthanasie oder in der Ablehnung der NS-Rassenideologie157 - sind Hauptmerkmale. Zu

Weimarer Republik. Zum politischen Weg des deutschen Protestantismus zwischen 1918 und 1932, Weimar/Göttingen 1981 u. Jürgen Falter. Hiders Wähler, München 1991). 155

Kettenacker:

Eine Obsession mit Folgen, S. 70ff.

156 V. Hehl, S. 175f. Eine umfassende Darstellung des Themas Kirchen und Zweiter Weltkrieg ist ein Desiderat. Vgl. daher nach wie vor Heinrich Missalla: Für Volk und Vaterland. Kirchliche Kriegshilfe im Zweiten Weltkrieg, Königstein/Ts. 1978, sowie Günther van Norden/Volkmar Wittmütz (Hg.): Evangelische Kirche im Zweiten Weltkrieg, Köln 1991. Eine wichtige Rolle spielte hierbei die Ablehnung des „antichrisüichen" Bolschewismus. So betrachtete auch die Mehrheit der Bruderräte der „Bekennenden Kirche" seit 1941 die „Einigkeit des Vaterlandes gegenüber seinen Feinden" als höchsten Wert" (vgl. Günther van Norden: Die Banner Theologische Erklärung und ihr Ort in der Widerstandsgeschichte, in: Steinbach/Tuchel (Hg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 170-181, hier 178) u. Bischof Galen erklärte in einem Hirtenbrief v. 14. Sept. 1941: Gott ist mein Zeuge, daß ich mit heißem Herzen dem Kampf der deutschen Heere gegen d losen Kommunismus vollen Erfolg wünsche und täglich im Gebet von Gott, dem Lenker de ten, erflehe. Zit. nach Peter Löffler (Bearb.): Bischof Clemens August Graf von Galen. Akten Briefe und Predigten 1933-1946, Bd. 2, Mainz 1988, S. 907. 157 S. dazu Kurt Nowak: „Euthanasie" und Sterilisierung im „Dritten Reich". Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" und der „Euthanasie"-Aktion, Göttingen 1978 sowie Martin Höllen: Katholische Kirche und NS-„Euthanasie", in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 91 (1980), S. 53-82.

26*

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erinnern ist hier an das in der Barmer Theologischen Erklärung 158 formulierte Eintreten gegen staatliche Omnipotenzansprüche sowie die am 4. Juni 1936 von der Zweiten Vorläufigen Leitung der Bekennenden Kirche an die Reichskanzlei gerichtete Denkschrift. 159 War diese Denkschrift vertraulich und erst durch eine Indiskretion im Ausland bekannt geworden, so reagierte die katholische Kirche auf die ab 1935 von der NSDAP ausgelösten Welle von Sittlichkeitsprozessen durch die Verlesung der Enzyklika „Mit brennender Sorge" in 11500 Pfarrgemeinden am 21. März 1937. Eigentlicher Widerstand im Sinne fundamentaler Opposition, wurzelnd in diametralen ethisch-normativen bzw. politischideologischen Überzeugungen, ist jedoch nur von Einzelnen als „Akt persönlicher Glaubensverantwortung" 160 geleistet worden; etwa von Pater Alfred Delp oder Dietrich Bonhoeffer mit ihren Kontakten zu konspirativ tätigen Widerstandskreisen.161 Auch die „Bekennende Kirche", bei der es sich ja um eine Zusammenfassung sehr heterogener Gruppierungen und Strömungen der evangelischen Kirche handelte, hat niemals zum Widerstand aufgerufen und verstand sich ausdrücklich nicht als politische Opposition.162 Allerdings mußte der v.a. in den Thesen I, II und V der Barmer Theologischen Erklärung 163 bekräftigte absolute Geltungsanspruch des Evangeliums sowie die Ablehnung anderer ideologischer und staatlicher Einflüsse auf die Verkündigung der Kirche 164 als Herausforderung und Negierung des Totalitätsanspruchs der NSDAP verstanden werden und entsprechende Reaktionen provozieren.

I5

* Zur Barmer Theologischen Erklärung vgl. Carsten Nicolaisen: Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der Theologischen Erklärung von 1934, Neukirchen-Vluyn 1985 sowie WolfDieter Hauschild: Zur Erforschung der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, in: Theologische Revue 51 (1986), S. 130-165. 159

Vgl. Greschat (Hg.): Zwischen Widerspruch und Anpassung.

160

Mehlhausen: Nationalsozialismus und Kirchen, S. 69.

161

Zu Delp vgl. Roman Bleistein: Alfred Delp. Geschichte eines Zeugen, Frankfurt a.M. 1989, zu Bonhoeffer Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Theologe, Christ und Zeitgenosse, München 7 1989. 162 Vgl. Gerhard Besier: Ansätze zum politischen Widerstand in der Bekennenden Kirche. Zur gegenwärtigen Forschungslage, in: Schmädeke/Steinbach (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 265-280, das Zitat 266. 163 Wortlaut der Erklärung in Karl Barth: Texte zur Barmer Theologischen Erklärung. Mit einer Einleitung v. Eberhard Jüngel u. einem Editionsbericht hg. V. Martin Rohkrämer, Zürich 1984, S. 1-5. 164

So hieß es im Verwerfungsspruch zur 5. These: Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle un könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung me Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. (A.a.O., S. 4).

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Ähnliches gilt für die katholische Kirche. Auch sie wurde „nicht zur Organisation des politischen Widerstandes".165 Im Vordergrund stand auch bei ihr zuallererst die Erhaltung kirchlicher Freiräume gegenüber den Ansprüchen des totalitären Staates, wobei das Reichskonkordat als eine Art „Verteidigungslinie" diente.166 Daneben standen öffentliche Abgrenzung von und Kritik an der NS-Ideologie - insbesondere der Rassenlehre - von z.T. bemerkenswerter Deutlichkeit, wofür die wiederholt erwähnte Enzyklika „Mit brennender Sorge" ein herausragendes Zeugnis darstellt. Beide Kirchen waren in erster Linie aufgrund des konkurrierenden Wahrheitsangebotes gegenüber der NS-Ideologie zu Resistenz fähig. Ihre Aktivitäten bewegten sich dabei allerdings überwiegend unterhalb der Schwelle von politischer Opposition und aktivem Widerstand. Hinsichtlich des Mit- und Nebeneinanders von Kooperation und Widersetzlichkeit lassen sich indes deutliche Unterschiede zwischen dem evangelischen und dem katholischen Bereich ausmachen. Günther van Norden hat dementsprechend den historischen Erkenntnisstand wie folgt zusammengefaßt: Während es im evangelischen Bereich - wenn auch mit den Jahren abnehmend - weitgehend Kooperation mit dem System gab, bei zunehmender partieller Bereitschaft zu Widersetzlichkeiten, gab es im katholischen Bereich - mit den Jahren zunehmend - weitgehend Widersetzlichkeiten gegenüber dem System, bei abnehmender partieller Bereitschaft zur Kooperation.167 Wendet man nun diese Kriterien auf den DDR-Staat an, so ist im Hinblick auf die Kirchenpolitik der SED unter dem Vergleichsparameter a) Zielsetzungen zunächst festzustellen, daß auch die SED ursprünglich das Ziel vertrat und lange Jahre daran festhielt, die völlige Eliminierung von Kirche, Religion, Glaubensüberzeugung usw. durchzusetzen („Absterben als Überbaurelikt"). 168 165

Hurten: Deutsche Katholiken, S. 537.

166 Dieter Albrecht: Der Heilige Stuhl und das Dritte Reich, in: Gotto/Repgen Katholiken und Nationalsozialismus, S. 35-48, hier 37.

(Hg.): Kirche,

167 Günther van Norden: Zwischen Kooperation und Teilwiderstand: Die Rolle der Kirchen und Konfessionen. Ein Überblick über Forschungspositionen, in: Schmädeke/Steinbach (Hg.): Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 227-239, hier 228. 168

Vgl. dazu Uwe Funk: DDR-Kirchenpolitik zwischen ideologischem Anspruch und theologischer Wirklichkeit (Texte und Materialien der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, Reihe B; 16), Heidelberg 1992, S. 15-21. In der Mitgliedschaft der SED hielt sich eine negative Bewertung des Christentums als „reaktionäre" Ideologie bis weit in die achtziger Jahre hinein (vgl. Joachim Heise: Kirchenpolitik von SED und Staat. Versuch einer Annäherung, in: Heydemann/Kettenacker (Hg.): Kirchen in der Diktatur, S. 126-154, hier 135). Diese Bedrohung war auch

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War die Besatzungszeit noch von einem Nebeneinander von taktisch bedingter Kooperation und allmählich gesteigerter Konfrontation gekennzeichnet,169 so kam es besonders in den frühen 50er Jahren - zusammenhängend mit dem Beschluß der 2. Parteikonferenz der SED über den beschleunigten Aufbau des Sozialismus vom Sommer 1952 - zu massiven und weitgehend erfolgreichen Eingriffen, z.B. im Kampf gegen die Junge Gemeinde und die Evangelische Studentengemeinde, vor allem durch die Zug um Zug durchgesetzte Ablösung der Konfirmation durch die Jugendweihe.170 Dennoch gelang es der SED nicht, die Marginalisierung der Kirchen oder gar ihre völlige Ausschaltung durchzusetzen. Nach der Verordnung des „Neuen Kurses" durch die sowjetische Führung ging man dazu über, eine systematische Kirchenpolitik zu konzipieren. In einer Vorlage des Politbüros wurden als deren Hauptziele die Schaffung einer zentralen Koordinierungsinstanz sowie die Aufbrechung der kirchlichen Einheitlichkeit durch eine sog. „Differenzierungspolitik", d.h. der Spaltung der Kirche in „reaktionäre" und „progressive" Gruppen, genannt.171 Das grundsätzlich weiter bestehende Ziel der Eliminierung wurde ergänzt durch das Bestreben, von den Kirchen eine Loyalitätserklärung im Sinne einer weitgehenden Unterwerfung zu erhalten.172 Das berühmte Gespräch vom 6. März 1978 zwischen Honecker und der Leitung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der

den Kirchenleitungen bewußt. So erklärte Werner Krusche 1976 auf dem Kirchentag in Magdeburg: „Uns Christen ist im Haus des Sozialismus das Altenteil zugedacht, vielleicht auch das Sterbezimmer." (zit. nach Peter Maser: Kirchen und Religionsgemeinschaften in der DDR 1949-1989, Konstanz 1992, S. 102). 169 Clemens Vollnhals: Zwischen Kooperation und Konfrontation. Zur Kirchenpolitik von KPD/SED und SMAD in der Sowjetischen Besatzungszone 1945-1949, in: Deutschland-Archiv 27 (1994), S. 478-490. 170 Vgl. Wentker: „Kirchenkampf" in der DDR. Das Protokoll der Sitzung des SED-Politbüros v. 27.1.1953, in der die Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde beschlossen wurden, ist abgedruckt bei Frédéric Hartweg (Hg.): SED und Kirche. Eine Dokumentation ihrer Beziehungen, Bd. 1: 19461967. Bearbeitet v. Joachim Heise, Neukirchen-Vluyn 1995, Dok. 23, S. 88-91. Zur Verfolgung der Leipziger Studentengemeinde s. den autobiographischen Bericht von Siegfried Schmutzler: Gegen den Strom. Erlebtes aus Leipzig unter Hider und der Stasi. „...Es war tatsächlich möglich...", Göttingen 1992. Eine Anweisung Ulbrichts an die leitenden SED-Funktionäre, „die Jugendweihe allseitig zu unterstützen" und der erste Aufruf zur Jugendweihe sind abgedruckt, in: Höllen: Loyale Distanz, S. 376f. 171 Martin Georg Goerner: Zu den Strukturen und Methoden der SED-Kirchenpolitik in den fünfziger Jahren, in: Schroeder (Hg.): Geschichte und Transformation des SED-Staates, S. 112-129, hier 116ff. 172

Ebd., S. 119.

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DDR 173 implizierte indes das Eingeständnis der SED-Führung, die Kirchen weder verdrängen noch eliminieren zu können; gezwungenermaßen setzte man fortan auf Kooperation, ohne sich jedoch auf rechtlich bindende Fixierungen einzulassen - ein Kontinuum der SED-Kirchenpolitik! Die weiterhin bestehende grundsätzliche Machtlosigkeit der Kirchen gegenüber Maßnahmen der Partei und des Staates manifestierte sich augenscheinlich in der Einführung des Wehrkundeunterrichts in den Schulen nur wenige Monate später.174 b) Infiltration und Penetration Das genannte Ziel der Verdrängung und Eliminierung wurde im Laufe der vierzigjährigen Existenz der DDR, parallel zum Auf- und Ausbau des Ministeriums für Staatssicherheit seit 1950, zunehmend davon begleitet, Kirchenleitungen und Gläubige durch eine sog. „Differenzierungsstrategie" voneinander zu entfremden, zu segregieren und zu separieren. 175 Zugleich schleuste man seit den frühen fünfziger Jahren verstärkt Spitzel in Kirchenleitungen und Gemeinden ein, mit dem Ziel, nicht nur Aufschluß über interne Meinungsprozesse und Stimmungen zu gewinnen, sondern auch den kirchlichen Entscheidungsprozess im Sinne der SED selbst langfristig zu beeinflussen. 176 Gegenüber der weitge173 Vgl. dazu Armin Boy ens: Gespräche im Schaufenster. Das Gipfeltreffen zwischen Honecker und den evangelischen Kirchenfiihrern der DDR vom 6. März 1978, in: Kirchliche Zeitgeschichte 7 (1994), S. 209-235, der den kirchlichen Vertretern per saldo eine Fehleinschätzung der staadichen Zielsetzungen attestiert. 174 Vgl. Besier: Der SED-Staat und die Kirche 11969-1990, S. 243-247 sowie J. Garstecki/H.-J. Röder: Aus unterschiedlicher Sicht. Die katholischen und evangelischen Bedenken gegen die Wehrerziehung in den Schulen der DDR. Auf der Ebene von Konzils- und Synodenaussagen: die katholischen Bedenken. Der Gesinnung des Friedens und der Versöhnung Raum schaffen: die evangelischen Bedenken, in: Kirche im Sozialismus 4 (1978), S. 13-26. Zum Protest der katholischen Kirche zuletzt Ute Haese: Das Protestverhalten der katholischen Kirche in der DDR bei der Einführung des Wehrkundeunterrichts, in: Deutschland-Archiv 26 (1993), S. 1049-1957; dies.: Überlegungen zur Haltung der katholischen Kirche in der DDR gegenüber der Wehrdienstfrage, in: Kirchliche Zeitgeschichte 7 (1994), S. 236-263. Zur evangelischen Seite U. Koch/Gero Neugebauer: Die Evangelische Kirche in der DDR in der Auseinandersetzung mit der Wehrdienstpolitik der SED, in: Horst Dahn (Hg.): Die Rolle der Kirchen in der DDR, München 1993, S. 127-140. 175 Horst Dohle beschrieb die Taktik des Staates des folgendermaßen: „Während der Verfassungsdiskussion [1968] vollzog sich eine erhebliche Differenzierung der Kräfte in den Kirchen. Das veranlaßte Hans Seigewasser zu der Aufgabenstellung, diesen massenpolitischen Aufschwung zu nutzen, noch stärker zu differenzieren, die innerkirchlichen Gegensätze von außen noch zu schüren, damit die Auseinandersetzungen innerhalb der Kirchen und nicht zwischen Kirche und Staat stattfinden." Ders. : Die Grundzüge der Kirchenpolitik der SED zwischen 1968 und 1978. Diss. Phil. B, Berlin (Ost), Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, 1988 (MS), S. 36. 176 Besonders die thüringische Landeskirche, die den „thüringischen Weg" einer staatsnahen Politik betrieb, hatte in Oberkirchenrat Lötz den wohl bekanntesten Zuarbeiter in ihren Reihen. S. dazu Clemens Vollnhals: Oberkirchenrat Lötz und das Ministerium für Staatssicherheit. Zur IMAkte „Karl", in: Deutschland-Archiv 27 (1994), S. 332-336. S. auch Guntolf Herzberg: Die frühe-

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henden Abschottung und Geschlossenheit der einheitlich auf Rom orientierten katholischen Kirche, 177 boten der traditionelle landeskirchliche, theologischreligiöse Pluralismus sowie latente Disharmonien der protestantischen Kirchen in der DDR untereinander zweifellos eine größere Angriffsfläche. Das Ausmaß der Durchdringung hat sich inzwischen als stärker als vermutet herausgestellt.178 Dennoch gelang es der SED bzw. dem MfS nicht, Kirchenleitungen und Gemeinden völlig zu unterwandern oder die Autonomie eigenkirchlicher Entscheidungen zu unterlaufen. 179 Auch die Tatsache, daß eine Reihe von protestantischen Theologen den Platz der evangelischen Kirchen in der DDR als „Kirche im Sozialismus" definierten, implizierte keineswegs eine vorbehaltlose Akzeptanz des real existierenden Sozialismus, auch wenn diese bisweilen als solche (miß)verstanden wurde. 180 Vielmehr konnten die Kirchen seit den achtziger Jahren zunehmend die Funktion einer Ersatz-Öffentlichkeit übernehmen und stärkten auf diese Weise - vor dem Hintergrund einer in weiten Teilen zunehmend frustrierten Bevölkerung - den Meinungs- und Willensbildungsprozeß in den Gruppen.181 sten Positionen der Staatssicherheit in der Evangelischen Kirche der DDR, in: Kirchliche Zeitgeschichte 7 (1994), S. 365-381. 177

Schäfer betont für die katholische Seite „die psychologische Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer Weltkirche, die den Alltag zumindest transzendieren und das Selbstwertgefuhl erhöhen konnte". Ders.: Selbstbehauptungsstrategie, S. 277. 178 Vgl. Gerhard Besier/Stephan Wolf (Hg.): Pfarrer, Christen, Katholiken. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen, Neukirchen-Vluyn 21992, passim. 179 Eine differenzierte Analyse der Grenzen und Erfolge des MfS in der Beeinflussung und Kontrolle der Kirchen bietet Erhart Neubert: Die Rolle des MfS bei der Durchsetzung der Kirchenpolitik der SED und die Durchdringung der Kirchen mit geheimdienstlichen Mitteln, in: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VI, 2: Kirchen in der SED-Diktatur, S. 1026-1047, hier v.a. 1044ff. 180

Der Begriff „Kirche im Sozialismus" konnte aufgrund seiner Unbestimmtheit einerseits als reine Ortsangabe, andererseits im Sinne einer Akzeptanz und Anpassung an das politische System dazu dienen, die verschiedenen Gruppen in den Kirchen der DDR zu integrieren. Auch bot sie dem Staat die Möglichkeit, die Kirchen im Sinne seiner Propaganda zu vereinnahmen. S. dazu Heino Falcke: Die Kirche im Sozialismus, in: Heydemann/Kettenacker (Hg.): Kirchen in der Diktatur, S. 259-281. Michael Beintker bezeichnet sie als eine „kirchenpolitische Gummiformel, die jeder analytischen Sorgfalt entbehrte"; ders.: Nachdenkliche Rückblenden auf das Verhältnis von Kirche und Staat in der DDR, in: Kirchliche Zeitgeschichte 7 (1994), S. 300-318, hier 313. Ablehnend Reinhard Steinlein: Erfahrungen mit dem Begriff „Kirche im Sozialismus". Kurzreferat vor der „Enquête-Kommission des Bundestages zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur" am 14.12.1993 in Erfurt, in: Maser/Wilke (Hg.): Gründung, S. 150-155. Hierzu auch Wolf gang Thumser: Kirche im Sozialismus. Geschichte, Funktion und Bedeutung einer ekklesiologischen Formel, Tübingen 1996. 181

Vgl. Jürgen Israel (Hg.): Zur Freiheit berufen. Die Kirche in der DDR als Schutzraum der Opposition 1981-1989, Berlin 1991. S. auch Pollack: Kirche in der Organisationsgesellschaft, S. 345-371. Der Einfluß der Kirche wurde den Machthabern so lästig, daß auf Initiative von Erich

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c) Widerständiges Verhalten Von diesem Vergleichskriterium ausgehend ist das Spektrum erneut vielschichtig. Zwischen den Extremen fundamentalen Widerstands und Protests als Tat Einzelner - z.B. Brüsewitz - und der jahrzehntelangen Spitzeltätigkeit eines hohen Funktionärs - Oberkirchenrat Lötz in Thüringen - liegt die gesamte Spannweite konkreten individuellen Verhaltens.182 Von besonderer Bedeutung war zunächst die Weiterexistenz eines traditionellen protestantischen Milieus mit beträchtlichem Resistenzpotential, das sich nach 1945 zunächst zu regenerieren vermochte. Selbst im Zuge des Entkirchlichungs- und fortschreitenden gesamtgesellschaftlichen Säkularisierungsprozesses blieb dieses Potential in den Kerngemeinden substantiell erhalten. Dissidenz und Resistenz aus christlicher Überzeugung wurde allerdings häufig, besonders in den 50er Jahren, kriminalisiert, fast immer jedoch mit gesellschaftlicher und beruflicher Ausgrenzung, auch bis ins letzte Jahrzehnt der DDR hinein, sanktioniert.183 Im Laufe der achtziger Jahre nahm der Spielraum für politisch Andersdenkende jedoch allmählich zu, so daß sich auch bei den evangelischen Kirchen vermehrt Stimmen zu Wort meldeten, die auf eine bessere Nutzung der daraus erwachsenden Möglichkeiten drangen.184 Dennoch bildeten in der DDR, wie schon im „Dritten Reich", aktiver Widerstand und bewußte politische Opposition eher die Ausnahme. Die Wirkung von Kirchen und Gläubigen als Hindernis für den staatlichen Omnipotenzanspruch resultierte - trotz des starken Rückgangs der Mitgliederschaft - vor allem aus ihrer bloßen geistigen und materiellen Existenz, besonders aber ihren alternativen Sinndeutungsangeboten. In den achtziger Jahren war daher der Kontakt zur evangelischen Kirche für nicht wenige Jugendliche „eine bewußt wahrgenom-

Honecker im Frühjahr 1989 die Gründung eines Freidenkerverbandes beschlossen wurde, um den Einfluß „reaktionärer kirchlicher Kräfte" zurückzudrängen, dem „politischen Mißbrauch" der Kirchen offensiv zu begegnen und die Kirchen in ihrer politischen Wirkungsmächtigkeit zu beschneiden. S. hierzu Besier/Wolf (Hg.): Pfarrer, Christen, Katholiken., S. 612 u. 616. 182 Zu Brüsewitz vgl. Helmut Müller-Enbergs/Heike Schmoll/Wolfgang Opfer des Pfarrers Brüsewitz und die evangelische Kirche, Frankfurt a.M. 1993.

Stock: Das Fanal. D

183 Christoph Kleßmann: Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus in der DDR, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), S. 29-53, hier v.a. 31. 184 Vgl. Eckhard Jesse: Artikulationsformen und Zielsetzungen von widerständigem Verhalten in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Materialien der Enquete-Kommission, Bd. VI,1, S. 985-1030, hier 1028.

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mene Alternative zur Perspektivlosigkeit des offiziellen Systems".185 Dies bildete die entscheidende Basis für die wichtige Rolle der evangelischen Kirchen im Revolutions- und Umbruchsprozeß von 1989/90. Vergleicht man nun analog zu allen Kriterien zunächst a) die Zielsetzungen der Kirchenpolitik des NS- und SED-Regimes, so ist primär festzustellen, daß trotz unterschiedlicher Ideologien in beiden Diktaturen Verdrängung und sukzessive Eliminierung der Kirchen das beiderseitige, gemeinsame Ziel darstellten. Während das SED-Regime dies zeitweilig ganz offen proklamiert hat, behauptete die NSDAP anfangs aus taktischen Erwägungen heraus das Gegenteil; ihre konkreten Maßnahmen ließen aber bei aufmerksamer Betrachtung schon bald die eigentlichen Absichten erkennen. Als deutlich wurde, daß die Kirchen nicht einfach an die Seite gedrängt und auch kein bestimmender Einfluß auf sie gewonnen werden konnte, wurde ihre Eliminierung zu einer nach dem „Endsieg" zu lösenden Aufgabe. 186 Die SED hat sich nach ähnlichen Erkenntnissen und Erfahrungen in den fünfziger und sechziger Jahren mit den Kirchen zu einer allerdings jederzeit einseitig aufkündbaren und niemals rechtlich fixierten Kooperation seit den siebziger Jahren durchgerungen; in ideologischer Hinsicht blieb aber die Eliminierung bzw. das Absterben der Kirchen letztendliches Ziel der SED-Kirchenpolitik. Hinsichtlich der gewählten Mittel und Methoden ist festzustellen, daß, abgesehen vom wichtigen Unterschied der erheblich höheren kriminellen Energie des NS-Staates, auch in der DDR vielfältige Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen gegen Kirchenleitungen, Pfarrer, Gemeinden und Gläubige begangen worden sind. Es wäre noch genauer zu überprüfen, inwieweit man die Funktionalisierung der „Deutschen Christen" durch die Nazis als eine Art „Differenzierungsstrategie" bezeichnen kann. Eine solche ist jedoch dezidiert von der SED praktiziert worden; exemplarisch zu nennen sind ihre diesbezüglichen Versuche, etwa durch die Gründungen des „Bundes Evangelischer Pfarrer in der DDR" sowie des „Regionalausschusses der Christlichen Friedenskonfe-

185 Detlef Pollack: Von der Volkskirche zur Minderheitskirche. Zur Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in der DDR, in: Kaelble/Kocka/Zwahr (Hg.): Sozialgeschichte der DDR, S. 271294, hier 288. 186

Belege bei Hockerts: Goebbels-Tagebücher, passim.

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renz". 187 Es wäre weiter zu untersuchen und abzuwägen, inwieweit hier Analogien im kirchenpolitischen Vorgehen von NSDAP und SED tatsächlich vorliegen. Was b) Infiltration und Penetration durch den jeweiligen Überwachungsapparat in beiden Diktaturen anbelangt, so fallen zwei Tatbestände ins Auge: Durchweg hat sich die katholische Kirche - sowohl in der NS- als auch in der SEDZeit 188 - als resistenter erwiesen als die protestantischen Kirchen. Dies lag jedoch auch daran, daß sie aufgrund der erwähnten doppelten Diaspora-Situation in Ostdeutschland weitaus weniger gesellschaftlichen Einfluß ausüben konnte als die protestanischen Kirchen und sich daher auch weniger als diese im Fadenkreuz der Staatssicherheit befand. 189 Daneben spielten zweifellos die auf Rom ausgerichtete übernationale Orientierung als Weltkirche, die hohe theologisch-religiöse Konformität sowie die stärkere Sozialdisziplinierung des Klerus, aber auch der Gläubigen, eine gewichtige Rolle. Allerdings führte die teilweise aus Selbstschutz gewählte, aber auch aufgrund der äußeren Umstände erzwungene Ghettorolle der katholischen Kirche in der DDR dazu, daß sie im Unterschied zu den evangelischen Kirchen in der DDR keinen entscheidenden Beitrag zur „Wende" 1989/90 leisten konnte. Zweifelsfrei erscheint inzwischen, daß die protestantischen Kirchen insgesamt stärker von den sog. Sicherheitsorganen des MfS durchzogen werden konnten als dies der Gestapo während der NS-Zeit möglich war. Hier kam besonders der Zeitfaktor, der ungleich perfektere Ausbau des Überwachungssystems in der DDR sowie der sich parallel dazu vollziehende Übergang von der Volks- zu einer Minderheitenkirche zum Tragen. Der gesellschaftliche Rückhalt der Kirchen schwand indes zusehends, Folge eines auch in der DDR sich vollziehenden, durch administrative Maßnahmen, Repression und Atheismus-Propagierung langfristig beförderten Säkularisierungs- und Entkirchlichungsprozesses. Der faktisch rechtlose Zustand, dem die Kirchen über vier Jahrzehnte in der ausgesetzt waren, zwang sie zu steter Dialogbereitschaft. Auch die NS-Dik187 Zur Entwicklung des Bundes, der 1974 wegen Erfolglosigkeit aufgelöst wurde, s. Gerhard Besier: Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993, S. 291-301. Zur CFK vgl. Matthias Hartmann: Falsche Sichten und persönliche Schuld. Zur Geschichte der Chrisdichen Friedenskonferenz, in: Deutschland-Archiv 25 (1992), S. 520-525.

188 Eine Diskussion um das Verhältnis von Staatssicherheit und katholischer Kirche hat Ute Haese: Katholische Kirche in der DDR und MfS, in: Deutschland Archiv 27 (1994), S. 130-140 entfacht. S. auch Dieter Grande/Siegfried Seifert/Bernd Schäfer: Stellungnahme des Bistums Dresde Meißen zu Ute Haeses Beitrag in: ebd., S. 531-533. 189

Bernd Schäfer: „Inoffizielle Mitarbeiter" und „Mitarbeit". Zur Differenzierung von Kategorien des Ministeriums für Staatssicherheit im Bereich der katholischen Kirche, in: Kirchliche Zeitgeschichte 6 (1993), S. 447-466, hier 456.

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tatur hat trotz des Konkordats und des noch aus Weimar stammenden kirchenrechtlichen Rahmens vertragliche Bindungen vielfach gebrochen oder übergangen. Hier konnte allerdings der massive Protest von Gläubigen, nicht zuletzt im Verbund mit der Ausnahmesituation des Kriegszustandes die Machthaber zu Konzessionen oder in Teilbereichen gar zum Rückzug zwingen.190 In der DDR eröffnete dieser Zustand dem Staat die Möglichkeit, eigenkirchliche Meinungsund Entscheidungsprozesse in einzelnen Landeskirchen bisweilen indirekt zu beeinflussen. Eine abhängige Variable von der Kirchenpolitik der SED wurden die protestantischen Kirchen jedoch nie, sonst wäre ihre wichtige Rolle während der Wende unmöglich gewesen. c) Widerständiges Verhalten. Es wurde bereits darauf verwiesen, daß Widerstand im fundamentalen Sinne oder christlich motivierte Opposition in beiden Diktaturen nur von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen geleistet wurde, die nicht als Mandatsträger ihrer Kirche fungierten. 191 Die unvergleichlich höhere Zahl an Opfern im Nationalsozialismus spiegelt dabei die außerordentliche kriminelle Energie der NS-Machthaber wider. Für die Kirchenleitungen stand jeweils die Sorge um den Erhalt der kirchlichen Strukturen in geistiger wie materieller Hinsicht im Vordergrund. 192 Die Abwehr und Ablehnung des weltanschaulichen Monopol- und Omnipotenzanspruchs der jeweiligen Einparteienherrschaft blieb die entscheidende Motivation193 - bei immer wiederkehrenden Schwankungen, wie man sich der diktatorischen Staatsautorität gegenüber verhalten solle. Zur Stabilisierung beider Diktaturen haben die Kirchen allerdings ebenfalls auf ihre Weise beigetragen. Das manifestierte sich im „Dritten Reich" etwa in

190

Vgl. etwa Joachim Kuropka (Hg.): Zur Sache - das Kreuz! Untersuchungen zur Geschichte des Konflikts um Kreuz und Lutherbild in den Schulen Oldenburgs. Zur Wirkungsgeschichte eines Massenprotests und zum Problem nationalsozialistischer Herrschaft in einer agrar-katholischen Region, Vechta 21987. Vgl. auch Bayern in der NS-Zeit, Bd. I, (1977), passim. 191 Gerhard Bester: Bekennende Kirche und Bürgerrechtsbewegung. Resistenz vor dem Hintergrund großkirchlicher Bestandserhaltung, politischer Theologien und totalitärer Ideologien im NSund SED-Staat, in: Kirchliche Zeitgeschichte 9 (1996), S. 70-88, hier 79. 192

Vgl. dazu Heinz Härten: Verfolgung, Widerstand und Zeugnis. Kirche und Nationalsozialismus. Fragen eines Historikers, Mainz 1987. S. auch Günther van Norden: Sieben Thesen eines profanen Historikers zur Diskussion um den Widerstand der Kirchen in der nationalsozialistischen Zeit. Eine Ergänzung zu Heinz Hürten, in: Kirchliche Zeitgeschichte 2 (1989), S. 291ff. 193 Bemerkenswert erscheint hierbei, daß etwa die Ausführungen Bischof Galens zum von ihm kritisierten „Staatsabsolutismus" sowie die Ausführungen Prof. Kurt Hubers in seiner Verteidigungsrede vor dem Volksgerichtshof deutliche Berührungspunkte zur späteren Totalitarismustheorie zeigen (vgl. Hildebrand: Das Dritte Reich, S. 128f.).

Zwei Diktaturen in Deutschland

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überkommener Staatsloyalität und im Bolschewismus-Syndrom, besonders während des Krieges und trotz der Unterdrückung durch die Machthaber.194 In der DDR versuchte die SED spätestens seit 1978, die Kirchen zu einem systemstabilisierenden Faktor zu machen. Zunehmend spielte auch der über die Kirchen laufende materielle Transfer aus der Bundesrepublik eine für die SED wichtige ökonomische Rolle. Aber auch der partiell erfolgreiche Versuch der „Einhegung" politischer und weltanschaulicher Dissidenten innerhalb des kirchlichen Bereichs - im Sinne der Domestizierung und Kontrolle - gewann für SED und MfS zunehmend an Bedeutung.195 Trotz aller Behinderungen konnten die evangelischen Kirchen in der DDR jedoch zu Foren einer Ersatzöffentlichkeit werden und einen gewissen Freiraum absichern, der für Gläubige wie für Nicht-Gläubige offenstand. Dieser praktizierte Pluralismus, Strukturelement der Kirchen selbst, kam einer nach Diskussion und freier Meinungsäußerung suchenden Gesellschaft entgegen und wurde von ihr genutzt. Demgegenüber wurde und wird ihnen mit Blick auf die NS-Zeit nicht völlig zu Unrecht vorgeworfen, daß sie in der Regel nur dann öffentlich Protest erhoben, wenn ihre eigenen Belange betroffen waren und etwa das Schicksal der jüdischen Bürger nicht als Anlaß zur Intervention genommen wurde. Insgesamt läßt sich resümieren, daß die Kirchen als Ganzes, d. h. als gesellschaftliche Großorganisationen, weder im „Dritten Reich" noch in der DDR fundamentalen Widerstand oder Opposition geleistet haben. Dies taten immer nur einzelne oder kleinere Gruppen. Ihre analoge Bedeutung in beiden Systemen bestand aber darin, daß sie der Reichweite diktatorischer Herrschaft, v.a. dem weltanschaulichen Ausschließlichkeitsanspruch beider Ideologien eine Be194

Für die evangelischen Kirchen in der DDR hat Friedrich Wilhelm Graf. Traditionswahrung in der sozialistischen Provinz. Zur Kontinuität antikapitalistischer Leitvorstellungen im neueren deutschen Protestantismus, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 36 (1992), S. 175-191, deren aus dem 19. Jahrhundert stammende antikapitalistische und illiberale Traditionen betont und damit eine Kontroverse ausgelöst. Dagegen Wolfgang Huber. Traditionserfindung. Zur Bildung einer neuen Legende durch Friedrich Wilhelm Graf, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 36 (1992), S. 303-305. Weitere Diskussionsbeiträge hierzu in der gleichen Zeitschrift. Besier hat darauf hingewiesen, daß zumindest Teile der Kirchen in beiden Diktaturen phasenweise nicht geringe Hoffnungen in die Machthaber setzten, dies allerdings in unterschiedlichen Phasen: War während der NS-Zeit die anfängliche Kooperationsbereitschaft recht hoch, um dann Ernüchterung und zunehmende Distanz zu weichen, so begegnete man dem SED-Regime zunächst mit großer Skepsis, um seit Mitte der sechziger Jahre zu einer allmählichen Annäherung aufgrund der angeblich ähnlichen Anliegen von Sozialismus und Christentum überzugehen. Vgl. Besier. Bekennende Kirche und Bürgerrechtsbewegung, S. 83. 193 Dazu wurden Persönlichkeiten aus dem Kreis der Kirche herangezogen und instrumentalisiert. Die bekanntesten, wenn auch unterschiedlich gelagerten und z.T. noch nicht abschließend geklärten Fälle sind die von Wolfgang Schnur und Manfred Stolpe. Zu Stolpe vgl. Ralf Georg Reuth: IM Sekretär. Die „Gauck-Recherche" und die Dokumente zum „Fall Stolpe", Berlin 1995.

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Günther Heydemann und Christopher Beckmann

grenzung, zumindest aber ein beträchtliches Hindernis entgegensetzten. In der Spätphase der DDR kam allerdings die Funktion der evangelischen Kirchen als Ersatzöffentlichkeit noch hinzu; insofern waren sie in beiden Diktaturen wichtige Resistenz-Träger. 196 VI.

Natürlich fallen diese vorläufigen Ergebnisse noch einigermaßen abstrakt aus. Es ging allerdings zunächst auch nur darum, einen eventuellen Weg der praktischen Umsetzung des Vergleichs von NS- und SED-Diktatur aufzuzeigen. Die noch zu leistende empirische Umsetzung dieses Ansatzes in konkrete Forschungsprojekte wird die eigentliche Nagelprobe zukünftiger komparativer Untersuchungen darstellen. Deutlich geworden sein dürfte indes, daß mit Hilfe eines komparatistischen Ansatzes politische Zielsetzungen, totalitäre Herrschaftsansprüche und -techniken sowie spezifisches Verhalten von Betroffenen unter beiden deutschen Diktaturen eingehender verdeutlicht werden können als bisher. Aus forschungspraktischen Gründen wäre es wünschenswert, mit einer Reihe von weiteren sektoralen Vergleichen, etwa zu den Gewerkschaften, zur Jugendund Schulpolitik, zur Wirtschaftslenkung oder zum Gesundheitswesen, die bisher bestehenden Kenntnisse über Herrschaftstechniken und Bevölkerungsverhalten unter Diktaturen zu erweitern und zu vertiefen, um damit den Diktaturenvergleich auch in ganzheitlicher, integraler Hinsicht zu präzisieren. Dabei sind noch einige grundsätzliche Probleme zu beachten, die abschließend kurz genannt werden sollen: 1. Ein systematischer Vergleich der NS- mit der SED-Diktatur kann verständlicherweise nur auf einer diachronen, d.h. zeitversetzten, nicht aber auf einer synchronen, gleichzeitigen Ebene erfolgen, wie das etwa bei einem Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der DDR oder dem SED-Regime mit anderen realsozialistischen Staaten der Fall ist. Das muß nicht notwendigerweise ein Nachteil sein; es gilt allerdings, langfristige Wandlungsprozesse entsprechend differenziert ins Kalkül zu ziehen, beispielsweise Säkularisierungseffekte, die sich in einem schwindenden Rückhalt der Kirchen in der Bevölkerung niederschlugen und etwa beim Vergleich des Staat-Kirche-Verhältnisses beachtet werden müssen. Ähnliches gilt für die gegenüber der NS-Zeit erheblich gestiegene Informationsdichte durch moderne Massen- und Kommunika-

196

Vgl. Gerhard Besier: Bekennende Kirche und Bürgerrechtsbewegung.

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tionsmittel, die eine Durchsetzung des angestrebten Meinungsmonopols zunehmend erschwerte und schließlich unmöglich machte. 2. Auch Diktaturen durchlaufen während ihrer Existenz verschiedene Etappen und Phasen. Bedeutende Zäsuren waren einerseits der Kriegsbeginn 1939, der Mauerbau von 1961 oder der Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker andererseits. Häufig, wenn auch nicht notwendigerweise, korrespondiert damit ein Wandel der Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung. Hinsichtlich des Grades der Akzeptanz eines Regimes durch die Bürger sind offensichtlich außenpolitische Erfolge und vor allem sozialpolitische Maßnahmen von großer Bedeutung; zugleich bleibt diese Akzeptanz abhängig von den Phasen niedriger oder höherer Repression, die das jeweilige diktatorische Regime ausübt. Entsprechend gilt es, die verschiedenen Phasen in der Geschichte beider Regime zu beachten, was besonders für die ungleich länger bestehende DDR wichtig ist. 3. Nach allem, was wir derzeit wissen, ist die Reichsweite und Tiefenwirkung von Diktaturen trotz Indoktrination, Propaganda, Repression und Terror begrenzt. Zu fragen ist deshalb nicht nur nach den Veränderungen, die aufgrund diktatorischer Maßnahmen innerhalb einer Gesellschaft und ihrer Gruppen angestoßen und vollzogen wurden, sondern ebenso nach dem Beharrungsvermögen und der fortdauernden Wirkungsmächtigkeit überkommener Strukturen, Mentalitäten, Normen und Werte. 197 Der Vergleich von Diktaturen, wie er hier als Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung, der Politik- und Sozialwissenschaft zu beschreiben versucht wurde, hat als methodischer Ansatz das Ziel, die spezifischen Herrschaftstechniken und die innere Funktionsweise ebenso wie das gesellschaftliche Verhalten genauer zu erfassen. Daraus kann sich auch ein normativer Gesichtspunkt ableiten lassen: Der fundamentale Wert demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen, deren Existenz in unserer Wohlstands- und Freizeitgesellschaft oftmals zu selbstverständlich geworden zu sein scheint, könnte auf diese Weise wieder stärker ins Bewußtsein gerückt und gewürdigt werden.

197

Kleßmann: Zur Sozialgeschichte des protestantischen Milieus, S. 29f.

Die Politik als Bauherr im nationalsozialistischen Berlin und im sowjetsozialistischen Ost-Berlin Von Ralf Rytlewski

I. Bauherr - ein weiter Begriff

Der Bauherr: Dies ist ein weiter Begriff, von dessen Komplexität wir als temporäre Bauherren längst schon eine empirische Anschauung gewinnen konnten. Am Anfang, wir erinnern uns, steht das Baumotiv. Vielleicht eine ideale Vorstellung von einer neuartigen Gestaltung des Wohnens oder des Arbeitens in der zukünftigen Zeit, je nach Neigung oder Profession des Bauherren ästhetisch, bautechnisch, medizinisch, historiographisch oder politologisch reflektiert. Zum Baumotiv tritt die Eröffnungsbilanz der Bauressourcen. Sie, vor allen Dingen der vorhandene Baugrund und die mobilisierbaren Finanzmittel, gilt es mit dem Baumotiv so in Verbindung zu setzen, daß eine gestalterische Strategie entsteht, aus der heraus variierte Bauentwürfe entwickelt werden können. Damit ist der entscheidende bauherrliche Schritt getan, denn anschließend geleitet ein enges Geflecht rechtlicher und technischer Normen den Ablauf vom Bauentwurf zur statischen Berechnung, zur Kostenkalkulation, zur Baugenehmigung, zur endgültigen Finanzierung, zur detaillierten Planung des Baus und seiner Durchführung und, wenn schließlich alles gerichtet ist, zu seiner Abnahme. Im Verlaufe des Baugeschehens stellt sich der Bauherr irritiert die Frage, wer denn wirklich den Titel des Bauherren verdiene. Verfügt nicht letztlich der Architekt über Maß und Nutzen des Bauwerks? Ist das Baugeschehen nicht zuallererst den Regeln der öffentlichen Bauämter unterworfen? Fallen die Entscheidungen nicht durch die allzu selbstbestimmte Praxis des Baumeisters und seiner Bauleute? Oder lassen die subtilen Rücksichtnahmen auf die Interessen und Geschmacksneigungen der Nachbarschaft nicht eigentlich die Öffentlichkeit in die Rolle des Bauherren schlüpfen? Man sieht, der Bauherr wird sein Motiv und die gestalterische Linie seines Projekts nur durchsetzen können, wenn er von Natur aus robust gebaut ist und zudem über genügend Ressourcen verfügt, um sich die kontinuierliche Folgebereitschaft all der Bauakteure zu sichern.

27 Timmermann / Gruner

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Ralf Rytlewski

Wenden wir das erfahrungsgesättigte Modell des individuellen Bauherren auf die Situation des kollektiven politischen Bauherren der Stadt Berlin an, dann gewinnen wir die Leitfrage, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen: Ob und in welcher Weise sich die politische Gestalt und Ordnung des Landes und des städtischen Gemeinwesens auf das Bauen in der Stadt Berlin auswirkt. Es soll also die klassische politikwissenschaftliche Fragestellung: Does politics matter? auf die Stadtgestaltung Berlins gerichtet werden, indem das Wirken der politischen Bauherren in den autokratischen Herrschaftsphasen des Nationalsozialismus und des SED-Marxismus verglichen werden. Π . Das Wirken der Hohenzollern

Im Rückblick auf die Geschichte Berlins läßt sich das Ob eines politisch bewirkten Baueinflusses in der Stadtgestaltung zweifelsfrei nachweisen. Auch nach den baulichen Verwüstungen und Zerstörungen dieses Jahrhunderts ist die immerhin fünfhundertjährige kontinuierliche Präsenz des schwäbischen Geschlechts der Hohenzollern an der Spree sowohl anhand einzelner Bauten und Straßen als auch anhand ganzer Stadtteile und der Stadtanlage insgesamt nach wie vor gut zu dokumentieren. Politics matters. Dem Wirken der Hohenzollern verdanken wir, daß die Rathäuser und Hauptkirchen der benachbarten Bürgerstädte Cölln und Berlin ihre Positionen als ranghöchste Profan- und Sakralbauten an die Bauten der Residenz verloren. Nicht ohne Grund schob sich der Hof zwar nicht direkt zwischen die beiden Zwillingsstädte, jedoch in ihre direkte Nähe auf der Insel zwischen den Spreearmen. Damit waren Rivalitäten zwischen dem städtischen Bürgertum und dem Hof und des weiteren mit der Kirche angelegt, die noch gegenwärtig im Streit um die zukünftige Gestaltung des Schloßplatzes und möglicherweise einer Rekonstruktion des HohenzollernSchloßes deutlich vernehmbar nachhallen. Ebenso blieb uns bis auf unsere Tage die Konkurrenz der verschiedenen politischen Bauherren erhalten. Trat zunächst der Hof, nachdem die inzwischen vereinten Städte Berlin/Cölln im 15. Jahrhundert unterworfen worden waren, unmittelbar als Bauherr auf, so wurden ab dem 19. Jahrhundert Verwaltungsexperten hinzugezogen, so vor allem der Gartenbaudirektor Lenné und der Kanalisationsexperte Hobrecht, deren Bebauungsplänen die Stadterweiterung folgte. Allerdings wird die empfohlene Ringstraßenkonzeption, der sich später noch die Berliner S-Bahn unterwirft, Ende des 19. Jahrhunderts zugunsten der radialen Stadtanlage verlassen. Aus heutiger Sicht erweist sich dies als eine eklatante Fehlentscheidung, denn nunmehr hatte aller Durchgangsverkehr die Straßen der historischen Mitte Berlins zu passieren. Sie säumten die zentralen Gebäude und Märkte der Doppelstadt

Die Politik als Bauherr

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sowie der Residenz, deren Schloß und Lustgarten sich als Querriegel für den aufkommenden Straßenverkehr in ost-westlicher Richtung erwies. Die Auswirkungen der Bauherren-Trinität von Berlin, Cölln und dem Hohenzollernhof reichen in unsere Zeit, wenngleich durch militärische und zivile Zerstörungen so dezimiert und inzwischen nach den Modellen der autogerechten Stadt und der ost-westlichen Konfrontation überformt, so daß der Ruf nach „historischer Rekonstruktion" in der aktuellen Stadtbaudebatte Berlins lauter denn je erschallt. Das aufklärungswillige Bauherrengeschlecht der Hohenzollern machte die Bewohner und Besucher Berlins mit städtebaulicher Geometrie, Linearität und mit Rastersystemen bekannt - zu besichtigen in der Friedrichstraße und in der Friedrichsstadt - und lehrte sie den Kreis - den Mehringplatz - vom Achteck dem Leipziger Platz - und vom Viereck - dem Pariser Platz - zu unterscheiden. Die historische Rekonstruktion des Leipziger und des Pariser Platzes wird uns das Ensemble der städtebaulichen Grundformen bald betrachten lassen, nachdem die Plätze zwischenzeitlich alle Form verloren hatten.

Π Ι . Die Stadt Berlin im 20. Jahrhundert

Der Obrigkeitsstaat der Hohenzollern hatte vorgearbeitet, woran das nationalsozialistische Deutschland in den 30er Jahren anknüpfen konnte, als der Führer und Reichskanzler und sein Generalbauinspektor Speer das schon angelegte Repertoire der Straßenachsen, der Plätze und der klassizistischen Bauten ergänzte, und das meint in der Hauptsache: Monumentalisierte und einer neuen Leitidee unterwarf. Monumentalität sollte den deutschen Untertan emotional schockieren, aus dem bürgerlich-liberalen oder sozialdemokratisch-sozialistischen Gleichgewicht werfen und danach auf den Mythos und Kult der NS-Diktatur ausrichten. Den anreisenden Fremden sollte Monumentalität den Grund und das Maß einer deutschen Hegemonie signalisieren. Auch die sowjetsozialistische Diktatur Ost-Berlins bekannte sich zur Linearität und Monumentalität. Die Frankfurter Allee bzw. Stalin-Allee bzw. KarlMarx-Allee und der neue Alexanderplatz wurden dazu angelegt, Inkarnationen einer neuen autokratischen Herrschaft zu dokumentieren. Liegen genügend Resultate der politischen Bauherren dieser Zeiten vor unser aller Augen, so diffus blieben die Konsequenzen republikanisch-demokratischen Neubeginns nach den beiden Weltkriegen. Demokratien haben es schwer, in Bauten und städtebaulichen Ordnungen sinnfällig zu werden. Sie setzen auf den 27*

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Ralf Rytlewski

mündigen Bürger, der seine erwerbswirtschaftlichen Präferenzen, seine politischen und ästhetischen Einstellungen nach eigenem Gutdünken einbringt. Bauen in der demokratischen Stadt unterliegt dem Richtungsstreit und Interessenskampf. Die Weimarer Republik beließ es bei den überkommenen öffentlichen Bauten und konzentrierte sich ganz auf Lösungsansätze der Wohnungsfrage in der „größten Mietskasernenstadt der Welt" (Hegemann). Sozialreformerische Architekten wie die Gebrüder Taut, wie Martin Wagner machten Berlin mit Siedlungen wie jenen der Hufeisensiedlung in Britz, der Waldsiedlung Zehlendorf und des Ortsteils Siemensstadt zu einer „Hochburg der Wohnreform" (Novy), deren gesellschaftspolitischer Pluralismus auch heute noch aufmerken läßt. Das Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg startete mit einem radikalen Bekenntnis zur aufgelockerte und „durchgrünten" Stadtlandschaft, vorgetragen von Scharoun, dem ersten Stadtbaurat Berlins. Gute Wohnlagen sollten nun nicht mehr in den Vorderhäuser entlang großer Straßen und Plätze zu finden sein, sondern in reinen Wohngebieten, die von einem hierarchisierten Straßennetz umgeben werden. Die durch Bombardements und Artilleriebeschuß ohnehin aufgelöste Mietskasernenstadt wird von Scharoun und seinen Kollegen als „Rohstoff zur Stadtlandschaft der Zukunft" freigegeben. Wenngleich Scharoun schon nach den Magistratswahlen 1946 abgelöst wurde, blieben seine stadtstrukturellen und -baulichen Überlegungen während der drei Jahrzehnte der sozialdemokratischen Hegemonie in Berlin-West tonangebend. Anfangsspuren hinterließ Scharoun auch in Berlin-Ost, wo seine Laubenganghäuser nunmehr mitten in der Urbanen Frankfurter-Allee vom ländlichen Bauen und vom frühen Scheitern seines Stadtumbaus in diesem Teil Berlins künden.

I V . Die Perspektive der Stadtinterpretation und -kritik

Politics matters, wenn politische Bauherren sogar in pluralistischen Demokratien, die zuvorderst die freiheitlich bestimmten Lebensräume der Bürger zu achten haben, zu großen, ja radikalen städtebaulichen Veränderungen fähig sind. In welcher Weise Politik als Bauherr agiert, hängt von einer Reihe von Faktoren ab, unter denen die Art der politischen Ordnung, der Struktur der Stadt und des Gesamtstaats, besonderes Gewicht zukommt. Rein analytisch gesehen haben wir es in Berlin mit dem günstigen Fall zu tun, Politik und Baugeschehen im schnellen Wechsel der systemischen Grundstrukturen beobachten zu können. Autokratische Herrschaftssysteme wechselten mit demokratischen, woraus sich ein breites Spektrum differenter Formen und Inhalte der politischen Bauherrenschaft ergeben hat. Den komplexen, dynamischen Sachverhalt des im Minimum politikbeeinflußten, im Maximum direkt politikgesteuerten

Die Politik als Bauherr

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Bauens in Berlin nachvollziehbar zu analysieren, bedarf einer methodologischmethodischen Vergewisserung. Der Zusammenhang von Politik und Baugeschehen erhellt sich m.E nur dann, wenn zugleich das Einzelne und das Insgesamt in den Blick genommen wird. Stadt als soziales und politisches Universum bedarf danach der zusammenfassenden und generalisierenden Stadtinterpretation, die die Stadt auch als Idee ansehen läßt. Die Analyse sollte bei der Interpretation nicht stehen bleiben und zur Stadtkritik fortschreiten können. Als die Grundlage der Stadtkritik empfehlen sich die Normen des modernen demokratischen Konstitutionalismus. Dies meint die Normen der politischen Gleichheit und der weitreichenden Beteiligungsrechte der erwachsenen Bevölkerung als der Grundlage indirekt oder direkt errichteter Volksherrschaft. Dies meint ferner die Rechenschaftspflichtigkeit der Herrschenden gegenüber den Beherrschten und es meint drittens gravierende verfassungs- oder gewohnheitsrechtliche Begrenzungen des legislativen und exekutiven Wirkens in der Stadt. Was nun den Begriff der politischen Bauherrenschaft angeht, so umfaßt er zumindest die Dimensionen der Legitimation, der Planung, der Finanzierung, der Durchführung sowie der Resultate und ihrer Bewertung. Mit einer solchen Perspektive der Fragestellung werden die Verfahren der Legitimierung der politischen Bauherren, der Rekrutierung des Fachpersonals der Baubürokratie, der Fixierung der Handlungsziele und Durchführungsformen und die Interpretationen und Bewertungen der Resultate zum Thema einer stadtbezogenen vergleichenden Herrschaftsanalyse. Beispielsweise ist es den unterschiedlichen Handlungszielen, -formen und -legitimationen von Autokratie und Demokratie geschuldet, wenn die Enteignungen von Grund und Boden im Spreebogen nahe dem Reichstagsgebäude Ende der 30er Jahre - in Vorbereitung der Großen Halle und der Nord-Süd-Achse - anders verliefen als sie jetzt noch nötig waren, um ein komplettes Areal für das neue Parlaments- und Regierungszentrum der Bundesrepublik Deutschland bereitstellen zu können. Am Beispiel Berlins lassen sich einige interessante analytische Grundzüge der städtepolitischen Bauherrenschaft aufzeigen. Zu diesen rechnen die Relationen zwischen Öffentlichkeit und Intimität und die von Öffentlichkeit und Geheimnis. Nach zwei Autokratien ließe sich der Lehrsatz aufstellen, daß die Öffentlichkeit der großen Aufmärsche, Versammlungen und Ansprachen der einseitigen Veröffentlichung der Menschen zu dienen hat, ihrer Ausrichtung auf quasiständische Rollen im Rahmen der jeweiligen gesellschaftspolitischen Bewegung. Es ließe sich postulieren, daß die öffentliche Vereinnahmung der Bevölkerung durch die Herrschenden mit der Verheimlichung der politischen Geschäfte ein-

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hergeht. Es blieben etwa die Hauptstadtpläne der nationalsozialistischen Führung Geheimsache des Zirkels um Hitler und Speer, unbeschadet oder gerade wegen ihrer hohen politischen und gesellschaftlichen Dringlichkeit schon bald nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Zu den Grundzügen einer Stadtinterpretation und -kritik Berlins gehört die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Herrschaftstypus und Baukunst. Wir lernen, daß autokratische Herrschaft in Staat und Stadt zur Linearität der Straßen- und Blockführung sowie zur Monumentalität der Fassadengestaltung und des Bauvolumens neigen; sie bevorzugt überlange Flure, verwendet vorzugsweise natürliche und regionale Baustoffe und bekennt sich zum monumental-heldischen Schmuck der Bauten, Straßen und Plätze. Kultische Denkmäler und Bauten für spezifische Herrschaftsrituale und die Präsentation der Herrschaft nach innen und außen stehen im Vordergrund, während Parlamentsbauten als „Herzstücke der Demokratien" (A. Arndt) nur marginale Bedeutung erlangen können. Vor diesem Hintergrund bleibt es recht rätselhaft, wie sich gerade die Rote Armee 1945 in Berlin so irren konnte, als sie die Erstürmung des Reichstagsgebäudes zu einem Inbegriff der Niederlage des faschistischen Deutschlands stilisierte. Schließlich befaßt sich ein weiterer Grundzug mit der Frage nach der Art und dem Ort des Menschenbildes, welches traditionellerweise gerade im politisch verantworteten Stadtbau seinen Spiegel findet. Adolf Arndt hat das Baugeschehen in den beiden Autokratien dahingehend gedeutet, den Herrschenden sei es vor allem darauf angekommen, die Menschen aus ihrem Gleichgewicht mit sich selbst und mit dem Raum zu bringen, um sie um so leichter vom Staat der Bewegung „aufsaugen" zu lassen. Hier wie dort wurde ein simplifiziertes heroisches Menschenbild propagiert. V. Gemeinsamkeiten zweier Diktaturen

Das Maß, in dem sich die beiden Diktaturen in Deutschland des 20. Jahrhunderts ähnelten oder glichen, wird in der Fachliteratur und in der Öffentlichkeit unterschiedlich eingeschätzt. Gelegentlich wird generell bestritten, die Methode des Vergleichs erkenntnisaufschließend anwenden zu können. Richten wir jedoch den Blick auf die politische Bauherrenschaft in beiden autokratischen Perioden, dann überwogen Parallelen und Kontinuitäten, wenngleich es natürlich auch Differenzen gab, und zwar nicht nur aufgrund der rassenpolitischen Ideologeme der NS-Herrschaft. Bis zur Gleichschaltung der Länder im Deutschen Reich der 30er Jahre hatte die Berliner Bevölkerung die drei Bauher-

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ren des Reiches, Preußens und der Stadt zu ertragen. Während der NS-Diktatur dominierte Hitler und eine ihm zuarbeitende und der Stadtverwaltung vorgeordnete Expertenschar die städtische Bauplanung, natürlich ohne jegliche öffentliche Meinungs- und Willensbildung. Die Berliner während der Periode der DDR erlebten zwar mehrere inhaltliche Schwenks in der Baupolitik und Stadtgestaltung, die jedoch den Führungsprimat der Parteileitung nicht in Zweifel ziehen ließen. Bauherren in diesen Zeiten der jüngeren Berliner Geschichte waren allemal die jeweiligen Parteiführungen, die sich die staatlichen Bauverwaltungen und genügend Bauexperten aus Wissenschaft und Wirtschaft verpflichteten. Zwar war Ulbricht im Unterschied zu Hitler kein Architekt und Baukünstler aus Passion, dennoch regierte er im Schatten des Baumeisters Stalin schon aus gesellschaftspolitischen und herrschaftlichen Gründen das Baugeschehen in Ost-Berlin. Kennzeichnend für beide Systeme ist deshalb die personengebundene politische Bauherrenschaft. Eine weitere Übereinstimmung liegt dort, wo in beiden Diktaturen das Stadtzentrum zum Ausgangspunkt der Stadtplanung wird. Der zentrale Platz wird zum funktionalen und symbolischen Mittelpunkt bestimmt und dient als Ausgangspunkt für die Straßenachsen in ost-westlicher und nord-südlicher Richtung. Darum wurden die Bauten der Partei- und Staatsmacht in der Art eines Forums geordnet. Die Kongruenz des städtischen Bauens basierte auf den gleichermaßen verwendeten Kommunikationsformen der Aufmärsche, Ansprachen, Appelle und Paraden, dies verbunden mit visuellen Symbolen der Ordnung und Größe und ausgewählter „großer Blickfelder". Gemeinsam ist beiden politischen Bauherren eine gewisse Stadtfeindlichkeit, die sich in der Kritik an der Bodenspekulation der entstehenden Mietskasernenstadt des 19. Jahrhunderts äußerte. In der Konsequenz verfochten beide das Prinzip der aufgelockerten städtischen Bauweise. Gemeinsam suchten sie im Klassizismus als der letzten großen Epoche städtebaulicher und architektonischer Leistungen anzuknüpfen. Schinkel war für die Bauherren beider Autokratien der gestalterische Fixpunkt, und von hier aus werden die gegenseitigen Referenzen beider Bauherren verständlich. Folglich war ihnen auch das Neue Bauen während der Weimarer Republik und der Funktionalismus amerikanischer Provenienz höchst suspekt. Schließlich agierten die politischen Bauherren beider politischer Systeme mit ähnlichen Verfahren. Als höchste Parteiführer intervenierten Hitler und Ulbricht mit konkreten Anweisungen und mit besonderen finanziellen Dotationen und schufen sich außerhalb der städtischen Bauverwaltung eigene, ihnen direkt unterstellte Bau- und Planungsbüros. Insgesamt gesehen überwog die Kontinui-

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tät des autokratischen Politikverständnisses und damit zusammenhängend der politischen Praxis. Sie bestimmte maßgeblich die Art und Weise, mit der die Politik als Bauherr auftrat. Literaturnachweis Arndt, Adolf 1992 (1960): Demokratie als Bauherr, in: Flagge, Ingeborg/Stock, Wolfgang Jean (Hrsg.), Architektur und Demokratie, Stuttgart, 52-65 Beyme, Klaus von (1987): Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deutschen Staaten, München-Zürich Hofmeister, Burkhard (1985): Alt-Berlin - Groß-Berlin - West-Berlin. Versuch einer Flächennutzungsbilanz 1786-1985, in: Ders. u.a., Berlin. Beiträge zur Geographie eines Großstadtraumes, Berlin, 251-273 Hoh-Slodczyk, Christine u.a. (1992): Hans Scharoun - Architekt in Deutschland 18931972, München Schönberger, Angela (1981): Die Neue Reichskanzlei von Albert Speer. Zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Ideologie und Architektur, Berlin Speer, Albert (1978): Architektur. Arbeiten 1993-1942, Frankfurt a.M. - Berlin - Wien Teut, Anna (1985): Achse und Symmetrie als Medium der Subordination. NS-Architektur redivivus, in: Daidalos, Nr. 15, 104-115 Werner, Frank (1976): Stadtplanung Berlin. Theorie und Realität, Teil I, 1900-1960, Berlin - (1981): Stadt, Städtebau, Architektur in der DDR, Erlangen Wengst, Udo (Hrsg.) (1992): Historiker betrachten Deutschland. Beiträge zum Vereinigungsprozeß und zur Hauptstadtdiskussion (Februar 1990-Juni 1991), Bonn-Berlin Timmermann, Clemens (1993): Urbanisierung - Stadtgeschichte - Stadtentwicklung, in: Neue Politische Literatur, H. 1, 7-28

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina in der Zeit des „Dritten Reiches", in der SBZ und in der frühen DDR-Zeit Von Sybille Gerstengarbe

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina1 wurde 1652 von vier Stadtärzten in Schweinfurt gegründet. 1687 wurde die Akademie vom Kaiser Leopold I. zur Reichsakademie erhoben und mit den unterschiedlichsten Privilegien ausgestattet. Sie war aber niemals eine staatliche Einrichtung. Die Akademie wanderte bis 1878 mit dem jeweiligen Präsidenten durch verschiedene Universitätsstädte Deutschlands. Seit 1878 hat die Leopoldina ihren Standort in Halle. Ihre Mitglieder waren und sind Naturwissenschaftler, Mediziner und Historiker dieser beiden Wissenschaftsrichtungen. Die Obergrenze der Mitgliederzahl liegt heute bei 1000. Zwei Drittel der Mitglieder leben in deutschsprachigen Ländern und ein Drittel lebt in anderen Ländern. Die Akademie wird vom Präsidium geleitet, das vom Senat unterstützt wird. An der Spitze steht der Präsident. Die Akademie hat monatliche Vortragssitzungen, im Rhythmus von zwei Jahren Jahresversammlungen zu übergreifenden Themen, Symposien und Meetings zu speziellen Themen, sie gibt Schriften heraus, verleiht Auszeichnungen und betreut ein Förderprogramm für herausragende promovierte Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.

1 Abkürzungen: BA S ΑΡΜΟ: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv; HAL: Archiv der Leopoldina in Halle; UAH: Universitätsarchiv Halle. Einen Überblick über die Leopoldinageschichte vermittelt: Parthier, Benno: Die Leopoldina - Bestand und Wandel der ältesten deutschen Akademie. Festgabe zur 300-Jahrfeier der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, überreicht vom Präsidium der Akademie. Halle 1994.

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I . Die Leopoldina in der NS-Zeit 2

Der Präsident durch die gesamte NS-Zeit (er wurde 1932 gewählt) war der Schweizer Wissenschaftler Emil Abderhalden,3 der an der Universität in Halle Physiologie und Physiologische Chemie lehrte. Er war ein besonders engagierter Präsident und wurde nach Ablauf seiner ersten Amtszeit 1942 wiedergewählt. Die Akademie erlebte unter seiner Präsidentschaft trotz der schwierigen Zeitumstände auf einigen Gebieten eine Blütezeit. Es gab monatliche Vortragssitzungen im Rahmen der Akademie, die auch Nichtmitgliedern zugänglich waren. Die sehr wertvolle und umfangreiche Bibliothek der Akademie stand interessierten Lesern offen. Die Akademie veranstaltete jährliche Festsitzungen und verlieh bei dieser Gelegenheit Ehrungen. Die Leopoldina gab kontinuierlich ihre Schriften heraus. 1937 wurde eine große Jubiläumssitzung (anläßlich der 250. Wiederkehr ihrer Privilegierung durch Kaiser Leopold) veranstaltet. Unter Abderhaldens Präsidentschaft wurden zwischen 1932 und 1945 810 Mitglieder zugewählt. Davon waren 381 Ausländer (47 %). Abderhalden richtete ein Mitgliederarchiv ein, eine Sammelstelle für nicht veröffentlichte Manuskripte und ein Nachlaßarchiv. Er gewann einen großen Kreis von Förderern (vorwiegend aus dem Bereich der Industrie), so daß die Akademie finanziell im wesentlichen unabhängig vom Staat war. Abderhalden führte im Rahmen der Akademie einen umfangreichen Briefwechsel und versuchte, die Mitglieder zur aktiven Mitarbeit zu bewegen. Die Festsitzungen wurden bis einschließlich 1944 durchgeführt, auch für 1945 waren schon Überlegungen angestellt worden. Nach den Vortragssitzungen gab es ein geselliges Beisammensein, auch während des Krieges.

2

Vgl. hierzu Berg (1992), Gerstengarbe (1993, 1994 und 1995), Gerstengarbe und Hallmann (1995) und Gerstengarbe, Hallmann und Berg (1995). 3

Emil Abderhalden (1877-1950) Physiologie und Physiologische Chemie, Leopoldinapräsident 1932-1950. Zur Persönlichkeit Abderhaldens vgl. die aufgeführten Arbeiten von Kaasch und Kaasch.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

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Π . Jüdische Leopoldinamitglieder

Die Leopoldina hatte 1933 mindestens 96 jüdische Mitglieder, das entspricht 15 Prozent ihres Mitgliederbestandes.4 Mindestens5 37 dieser jüdischen Mitglieder hatte Abderhalden selbst zur Aufnahme vorgeschlagen. Sehr viele der jüdischen Leopoldinamitglieder wurden in der Zeit des Nationalsozialismus zu verschiedenen Zeitpunkten „als Nichtarier" gestrichen.6 Eindeutig nachgewiesen sind 87 Streichungen.7 Die Streichungen sind in den Matrikelbüchern der Akademie mit Bleistift festgehalten. Hier steht neben dem Datum der Streichung meist eine Begründung, z. B.: „als Nichtarier gestrichen" . In der Vorstandssitzung vom 23. November 1938 wurde protokolliert: 8 „1. Arisierung der Akademie. Der Präsident weist darauf hin, daß er Kenntnis von einer Verfügung erhalten hat, laut der jüdische Mitglieder aus deutschen Akademien auszuschalten sind. 1933 sind alle diejenigen Mitglieder unserer Akademie gestrichen worden, die trotz wiederholter Bitten weder einen Lebenslauf Veröffentlichungen und Arbeiten usw. eingesandt haben. Es ist damals betont worden, daß die Beziehungen der Mitglieder zu unserer Akademie nicht dadurch erschöpft sein dürfen, daß die Ernennung erfolgt, vielmehr wird aktive Mitarbeit erwartet. Ferner will unsere Akademie Anteil an dem wissenschaftlichen Leben des einzelnen Mitgliedes nehmen und mit ihm ständig in Beziehung bleiben. Unter den Gestrichenen waren auffallend viele Juden. Eine weitere Streichung fand 1937 statt. Nunmehr wird beschlossen, den Rest der jüdischen Mitglieder 4

Im ersten Mitgliederverzeichnis, das unter Abderhaldens Regie 1933 veröffentlicht wurde (im Zusammenhang mit seinem Bericht über die Tätigkeit der Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinisch Deutschen Akademie der Naturforscher vom 1. Januar 1932 bis 31. März 1933) sind 816 Mitglieder ausgewiesen, von denen 236 seit dem Beginn seiner Präsidentschaft zugewählt worden waren. 3

„mindestens44 steht hier für die exakt (archivisch) belegbaren Fälle.

6 vgl. hierzu auch B. Parthier. Porträt Alfred Hauptmanns.

Festschrift 1994, W. Berg: Projektskizze und S. Gerstengarbe:

7 Frau Hildegard Froese-Glaser, die vom 1.3.1938 bis zum 17.9.1939 in der Leopoldina als Bibliothekarin angestellt war und heute in Aschaffenburg und München lebt, wußte von den Streichungen der jüdischen Mitglieder nichts. Sie konnte aber angeben, daß die Protokolle der Vorstandssitzungen in dieser Zeit von der Sekretärin Frau Ilse Herrmann-Köhler geschrieben wurden. Die Handschrift der Protokolle stimmt mit der Schrift der Eintragungen im Matrikelbuch überein (zumindest fur das Jahr 1938), so daß offensichtlich die Sekretärin auf Anweisung diese Bleistifteinträge vorgenommen hat. 8 Zu diesem Zeitpunkt wurden auch in anderen Akademien auf ministerielle Anweisung jüdische Mitglieder gestrichen.

Sybille Gerstengarbe

428

auszumerzen. Es soll nicht zugewartet werden, bis ein entsprechender Befehl kommt. Eine Mitteilung ergeht an die betreffenden Mitglieder nicht. " 9

Was besonders betroffen macht, ist die Tatsache, daß bereits vor der Anweisung Streichungen durchgeführt wurden. Es ist nicht richtig, daß man Mitglieder gestrichen hat, nur weil sie keine Arbeiten eingereicht haben, denn es wurden nur jüdische Mitglieder gestrichen, obwohl auch zahlreiche andere Mitglieder keine Arbeiten eingesandt hatten. Sechs jüdische Leopoldinamitglieder sind in Konzentrationslagern gestorben. Mindestens 33 jüdischen Leopoldinamitgliedern gelang es zu emigrieren, 20 von ihnen in die USA. Nur zwei von ihnen (Ernst Pringsheim10 und Hans Winterstein11) sind nach 1945 wieder nach Deutschland zurückgekehrt. I I I . Mitgliederzuwahlen in der NS-Zeit

Bei der Zu wähl ausländischer Mitglieder mußte ab Februar 1936 das Auswärtige Amt bzw. ab Mai 1938 das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung um Erlaubnis gefragt werden. In der Vorstandssitzung der Leopoldina vom 11. Mai 1938 wurde ein Brief des Wissenschaftsministers besprochen: „4. Schreiben des Reichs- und Preussischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Der Präsident hat seinerzeit aus freiem Willen sämtliche Mitgliedervorschläge, die ausländische Gelehrte betrafen, dem Auswärtigen Amt gemeldet mit der Bitte, festzustellen, ob Einwände gegen die Ernennung vorhanden sind. Kürzlich erfolgte die Beantwortung einer solchen Anfrage nicht durch das Auswärtige Amt, vielmehr durch das Reichs- und Preussische Ministenum für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Gleichzeitig wurde mitgeteilt, daß in Zukunft alle derartigen Anfragen auf dem Dienstwege über das genannte Ministerium zu leiten seien. " n

Ob Abderhalden tatsächlich von sich aus das Auswärtige Amt befragt hat, oder ob er das auf Anweisung getan hat, ging bisher aus den Akten nicht hervor. Wenn man den folgenden Brief berücksichtigt, den Abderhalden im März 9

Vorstandssitzung am 23. November 1938 (HAL Protokollbuch XXVII).

10

Ernst Pringsheim (1881-1970) Botaniker, Leopoldinamitglied seit dem 17.3.1932.

11

Hans Winterstein (1879-1963) Physiologe, Leopoldinamitglied seit dem 12.5.1922.

12

Vorstandssitzung am 11. Mai 1938 (HAL Protokollbuch XXVII).

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

429

1939 an ein Senatsmitglied geschrieben hat, so ist es möglich, daß er es ohne Anweisung getan hat.13 „[...] Nun habe ich von mir aus 1933 das Auswärtige Amt gebeten mir bei der persönlichen Begutachtung von Mitgliedervorschlägen behilflich zu sein. Ich wollte unter allen Umständen vermeiden, dass Forscher zu Mitgliedern unserer Akademie ernannt werden, die nachträglich beanstandet werden. Ich kann von hier aus nicht beurteilen, ob vorgeschlagene Persönlichkeiten in ihrer Einstellung zu Deutschland einwandfrei sind. Es hat sich diese Einschaltung des Auswärtigen Amtes im allgemeinen gut bewährt. Vielleicht ist die eine oder andere Ernennung nicht zustande gekommen, obwohl nichts besonderes vorgelegen hat. Es ist aber immer noch besser, es unterbleibt eine Ernennung, als dass eine nachträglich gelöscht werden muss. [...]" l A

Nach Beginn des Krieges war es nicht mehr möglich, Mitglieder aus den Ländern der Kriegsgegner aufzunehmen. Im Dezember 1940 wurde Abderhalden „gebeten", die Aufnahme sowjetischer Forscher auf spätere Zeiten zu verschieben.15 Im Februar 1941 wurde der Leopoldina vom Ministerium mitgeteilt: „In Übereinstimmung mit dem Auswärtigen Amt bitte ich, für die Dauer des Krieges von Ehrungen nordamerikanischer Gelehrter abzusehen."16 Dies traf zu dieser Zeit auch auf die anderen Staaten, mit denen Deutschland Krieg führte, zu. Das Auswärtige Amt erhielt seine Informationen über die zum Mitglied vorgeschlagenen Forscher von seinen Botschaften. Am 20. August 1936 schrieb z. B. ein Mitarbeiter des Deutschen Generalkonsulates in Zürich an das Auswärtige Amt in Berlin: „Betr. : Professor Dr. Bernhard Peyer Die von dem Generalkonsulat angestellten Ermittlungen über die Persönlichkeit des Professors der Paläontologie an der hiesigen Universität, Dr.

13

Brief vom 23. 3. 1939 an Gustav Hüttig (13. 5. 1890 - 1. 12. 1957) Chemiker, Mitglied seit 26. 11. 1937, Adjunkt für die Tschechoslowakei seit dem 14. 12. 1938. 14

HAL Sign. 111/12/1.

15 Ludwig Aschoff hatte im April 1940 den Leningrader Pathologen Anitschkow zum Mitglied vorgeschlagen. Aus dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung kam im Dezember 1940 die Antwort, daß gegen ANITSCHKOW zwar keine Bedenken erhoben würden, daß man aber die „Ehrungen russischer Gelehrter noch zurückstellen solle." HAL 114/1/5 Vom Auswärtigen Amt zurückgestellte Vorschläge, 1938 - 1944. 16 Brief vom 18. 2. 1941 vom Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an Abderhalden, HAL 114/1/5 Vom Auswärtigen Amt zurückgestellte Vorschläge, 1938-1944.

430

Sybille Gerstengarbe Bernhard Ρ e y er, haben ergeben, nen guten Ruf als Wissenschaftler In politischer Hinsicht scheint er ansehe Abstammung - er soll einer wird nicht bezweifelt. [..]' ΛΊ

dass der Genannte in Fachkreisen eiund persönliches Ansehen genießt. [...] niemals hervorgetreten zu sein. Seine Schajfhausener Familie angehören-

So mußte ein Gutachten aussehen, damit der Vorgeschlagene Mitglied werden konnte. Ein aus heutiger Sicht problematischer Punkt ist die Zuwahl zahlreicher hochbelasteter Mitglieder in der NS-Zeit. Dazu gehören u.a. mehrere exponierte Rassenhygieniker. Aus damaliger Sicht bedürfte es einer sehr differenzierten Analyse. Daraus sei hier nur ein nicht unwesentlicher Punkt hervorgehoben. Viele Rassenhygieniker wurden Mitglied, weil Abderhalden selbst an rassenhygienischen Fragestellungen interessiert war. Er gab die Zeitschrift „Ethik" heraus, in der soziale und moralische Fragen besprochen wurden. Er war selbst engagiert im Kampf gegen den Alkohol und glaubte, in den Zielen der Rassenhygieniker seine eigenen Ziele zu erkennen. 1937 weigerte sich die Akademie, Mitglieder allein deshalb aufzunehmen, weil sie politisch von den Machthabern angesehen waren. Hier ein Ausschnitt aus dem Protokoll18 der Vorstandssitzung vom 25. Juni 1937: „[...] 3. Anfrae e des Herrn Reichsminister für Wissenschaft usw., ob die Akademie allenfalls bereit wäre, Ausländer aus kulturpolitischen Rücksichten als Mitglieder bezw. Ehrenmitglieder aufzunehmen. Es ist daraufhingewiesen worden, dass die Akademie Mitglieder grundsätzlich nur auf Grund wissenschaftlicher Verdienste ernennt. "

Abderhalden geht 1942 in einem Brief auf die Wahl eines „von oben" zum Mitglied vorgeschlagenen Forschers ein. Ich zitiere: „[...] Nun ist wiederholt von 'oben herab ' angeregt worden, hervorragende Gelehne des befreundeten Auslandes bei Mitgliederernennungen zu berücksichtigen, ja es ist sogar jetzt vorgekommen, dass offensichtlich vom Auswänigen Amt aus selbst ein Vorschlag gemacht worden ist, der zur Zeit der Prüfung unterliegt. [...]

17

HAL MM Bernhard Peyer (1885-1963) Paläontologe, Leopoldinamitglied seit dem 5.9.1936.

18

HAL Protokollbuch XXVII.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

431

Es sind auch schon Anregungen an mich ergangen, Persönlichkeiten zu Mitgliedern unserer Akademie zu machen, die im öffentlichen Leben eine grosse Rolle spielen, jedoch keine besonderen wissenschaftlichen Leistungen aufzuweisen haben. Einen solchen Fall stellt z.B. Conti 19 [Leonardo Conti war seit 1939 Reichsärzteßhrer] dar. Man kann natürlich seine gesamte Einstellung zur Gesundheitsfuhrung als grosse hygienische Tat auffassen. Jedoch muss man in allen solchen Fällen sehr vorsichtig sein. Ich könnte mir sogar denken, dass unter Umständen eine Ablehnung der Mitgliedschaft erfolgen könnte, weil angenommen werden könnte, dass mit der Ernennung irgend etwas besonderes zu erreichen versucht wird. Die Akademie muß in dieser Hinsicht absolut untadelig dastehen, f...]" 20

Auch der Antrag, den Leiter der Deutschen Hochschulkommission im Stabe des Stellvertreters des Führers Wirz in die Leopoldina aufzunehmen, wurde vom Vorstand abgelehnt. Daraus wird deutlich, daß die Leopoldina sich in der Zeit des Dritten Reiches nicht „von außen" vorschreiben ließ, wer Mitglied der Akademie wurde. Das zeigt aber auch, daß der äußere Druck, der auf der Akademie lastete, nicht so groß war, daß der Akademievorstand ihm nicht widerstehen konnte. Der tatsächliche Mitgliederbestand war der vom Präsidenten und den anderen Vorstandsmitgliedern gewünschte. Im Vergleich zu den anderen wissenschaftlichen Akademien und den Universitäten wurde die Leopoldina in der NS-Zeit relativ wenig von außen beeinflußt. Es gab keinen erzwungenen Präsidentenwechsel, keine neue Satzung. Bedingung für das Weiterbestehen der Akademie war wohl die Streichung der jüdischen Mitglieder und die Begutachtung der Mitgliedervorschläge für ausländische Forscher durch das Auswärtige Amt. Emil Abderhalden lebte von 1945 bis zu seinem Tod 1950 in seinem Heimatland, der Schweiz, in Zürich. Dort erinnerte er sich 1947 in einem Brief: „[...] Bemerken moechte ich noch, dass die Akademie ohne jeden Tadel durch die Nazizeit gekommen ist. Ich widerstand jedem Eingriff und hatte deshalb sehr viel von Seiten der Gestapo zu leiden. Ich weigerte mich auch von Nazi empfohlene Mitgl. aufzunehmen. Natuerlich waren schon Nazi

19

Leonardo Conti, Reichsärzteführer, Mitbegründer des NS Ärztebundes.

20 nicht unterschriebener Durchschlag eines Briefes von Abderhalden an den Hygieniker Uhlenhuth, HAL 105/9/3 Korrespondenz mit Obmännern und Adjunkten (T - Ζ), 1940 - 1947.

Sybille Gerstengarbe

432 vorhanden. [•••r

Es wurde keine [sie] Jude gestrichen.

Einer trat selbst aus.

21

Daß dieser Rückblick des Präsidenten Abderhalden - unter anderen zeitbedingten Vorzeichen - nicht in allen Punkten der Realität entspricht, geht aus dem Archivmaterial deutlich hervor. I V . Die Situation der Leopoldina nach dem Ende des Krieges

Mitte April 1945 wurde Halle und der mitteldeutsche Raum von den Amerikanern besetzt. Im Juni 1945 zogen die Russen in dieses Gebiet ein. Die Amerikaner nahmen bei ihrem Rückzug eine große Zahl von Wissenschaftlern und Technikern der Universitäten Leipzig, Jena und Halle und großer Industriebetriebe mit, u.a. den Leopoldinapräsidenten Abderhalden und zahlreiche Leopoldinamitglieder. Von diesem Zeitpunkt an trug der Vizepräsident, der Geograph Otto Schlüter,22 die Verantwortung für die Akademie vor Ort. Die Leopoldina fiel unter eine Verordnung der Provinzialverwaltung Sachsen vom 22. Mai 1946 über die Neuordnung des Vereins- und Genossenschaftswesens.23 Diese Verordnung löste alle Vereine und Genossenschaften auf, gab ihnen aber die Möglichkeit, die Wiederzulassung zu beantragen. Otto Schlüter war bis zum Ende des Jahres 1951 damit beschäftigt, die Wiederzulassung zu erreichen. 24 Erst im Zusammenhang mit der 300-Jahrfeier der Akademie am Anfang des Jahres 1952 konnte die Leopoldina ihre Aktivitäten wieder im vollen Umfang aufnehmen. Es war eine Zeit des Umbruchs und der wechselnden Kompetenzen. Die Tendenz war eine immer stärkere Zentralisierung der Macht und der Entscheidungsgewalt. Schlüter verhandelte auf allen Ebenen: mit der Stadt, mit der Landesregierung, mit der örtlichen Stelle der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD), mit der zentralen SMAD in Berlin-Karlshorst, mit der Zentralverwaltung für Volksbildung in Berlin und nach der Gründung

21

Brief in Personalakte Abderhalden Nr. 3826 im UAH, Brief Abderhaldens an den Internisten Theodor Brugsch in Berlin, der inzwischen Viezpräsident der Zentralverwaltung für Volksbildung war. 22

Otto Schlüter (1872-1959) Geograph, Vizepräsident der Leopoldina 1942-1952, Präsident 1952-

1953. 23

Verordnungsblatt für die Provinz Sachsen, 2. Jahrgang 1946, S. 212.

24

Vgl. zum Prozeß der Wiederzulassung Gerstengarbe 1996.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

433

der DDR mit dem Ministerium für Hochschulwesen und dem Staatssekretariat für Hochschulwesen. Er kämpfte in dieser Zeit nicht nur allgemein um die Wiederzulassung der Akademie, sondern auch für die Klärung vieler Detailfragen. Er beantragte die Genehmigung für Vortragssitzungen und für den Druck der Leopoldinaschriften. Er bat um die Möglichkeit, neue Mitglieder wählen zu können. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Der örtliche Polizeipräsident genehmigte z. B. 1947 die Wiederzulassung der Akademie. Dies wurde von der Zentralverwaltung in Berlin nicht anerkannt und auf die Genehmigung von Vortragssitzungen beschränkt. Im Jahr 1949 erhielt Schlüter von einem Mitarbeiter des Landesministeriums die Genehmigung zum Druck eines kleinen Informationsheftes. Ein Jahr später war eine solche unkomplizierte Genehmigung nicht mehr möglich, denn der zentrale Kulturelle Beirat für das Verlagswesen, der in Berlin tagte, behielt sich alle Druckgenehmigungen vor. Neue Mitglieder in die Leopoldina aufzunehmen, wurde Schlüter von einem Mitarbeiter der Landesregierung ausdrücklich verboten.25 Dieses Verbot brachte Schlüter in eine schwierige Lage, denn der Mitgliederbestand im halleschen Raum hatte sich durch die Evakuierung durch die Amerikaner, durch den freiwilligen Weggang hallescher Mitglieder und durch den Tod einiger Mitglieder sehr verringert. Der Leopoldinavorstand kam auf die Idee, satzungsgemäß Wahlen durchzuführen, und bat dann die gewählten jüngeren aktiven Forscher, sich der Leopoldina als „freiwillige Mitarbeiter" zur Verfügung zu stellen. Alle 10 angefragten Wissenschaftler waren sofort bereit dazu, mit der Aussicht darauf, ordentliche Mitglieder zu werden, wenn der Status der Leopoldina geklärt sein würde. Mit diesen 10 Mitgliedern gewann Schlüter Mitstreiter, die in relativ kurzer Zeit Verantwortung in der Akademie übernahmen. V. Ein Beispiel für den politischen Druck der frühen DDR-Zeit

Einer dieser „freiwilligen Mitarbeiter" war der Geologe Hans Gallwitz,26 der seit Herbst 1946 an der Martin-Luther-Universität in Halle tätig war. Er betrieb die fachlichen Arbeiten am Geologischen Institut mit großem Engagement und setzte sich mit ganzer Kraft für seine Studenten ein. Nach seiner Wahl in die 25

Vgl. hierzu: Gerstengarbe (1997).

26

Hans Gallwitz (1896-1958) Geologe und Paläontologe, Leopoldinamitglied seit dem 14.3.1950.

28 Timmermann / Gruner

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Sybille Gerstengarbe

Leopoldina unterstützte er Otto Schlüter als Sekretär für die Naturwissenschaftliche Abteilung. Diese Erfolge waren sicher motivierend für ihn, er mußte aber persönlich einen ungeheuren politischen Druck ertragen, der hier nur an einem Beispiel verdeutlicht werden soll: Im Dezember 1957 beantragte der Prorektor für Studienangelegenheiten beim Rektor der Universität die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen Hans Gallwitz. Angeklagt war er, weil er einem Geologiestudenten des ersten Studienjahres eine Reise zur dessen Schwester in Westdeutschland befürwortet hatte. Dieses Disziplinarverfahren hat Gallwitz bis zu seinem Tod 1958 belastet. Er hat Abschriften des Antrages und seiner Antworten darauf in das Archiv der Leopoldina gegeben. Um die Absurdität der Anklage deutlich zu machen, soll aus dem Antrag zitiert werden: ..Betr. : Disziplinarverfahren Magnifizenz!

gegen Herrn Prof.Dr.Gallwitz

Ich beantrage die Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen Herrn Prof Dr. Gallwitz, weil er die ihm übertragenen dienstlichen Pflichten verletzt hat. 'Verfehlung nach § 2a der Anordnung über die disziplinarische Verantwortlichkeit der Hochschullehrer vom 8.2.1957. Der Bonner Staatsapparat, insbesondere sein Ministerium für gesamtdeutsche Fragen sowie verschiedene in Westdeutschland befindliche SabotageOrganisationen und Ostbüros unternehmen im letzten Jahr verstärkte Anstrengungen, um den Aufenthalt von Studenten aus der Deutschen Demokratischen Republik in Westdeutschland für die Spionage- und Diversionstätigkeit gegen die DDR auszunutzen. Im Interesse der Sicherheit unseres Staates und der persönlichen Sicherheit jedes einzelnen Studenten haben daher das Staatssekretariat für Hochschulwesen sowie das Ministerium für Volksbildung im Mai d.J. Anweisungen erlassen, denen zufolge bei Reisen von Oberschülern, Abiturienten bis zu ihrem Berufseinsatz und Studenten in die NATO-Staaten die Genehmigungspflicht besteht. Gegen die oben erwähnten Anweisungen hat der Student der Fachrichtung Geologie Consemüller verstoßen. Obwohl er im Juni d.J. von seiner Oberschule die Erlaubnis zum Besuch seiner Schwester in Westdeutschland erhalten hatte, suchte er etwa 6 Wochen später erneut um Genehmigung für eine Reise in die Bundesrepublik in seiner Oberschule nach. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits sein Abitur mit Auszeichnung abgelegt. Im Hinblick darauf, daß ihm erst kurz zuvor gestattet worden war, in die Bundesrepublik zu reisen, erhielt er von der Oberschule keine Genehmigung. Auch der zur Erteilung der Genehmigung befugte Rat der Stadt Halle, Abt. Volksbildung, gab ihm diese Genehmigung nicht.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

435

Inzwischen hatte sich Herr Consemüller um Zulassung zum Studium cm unserer Universität beworben und war zugelassen worden. Nach Ablehnung der Reise durch die Oberschule bzw. den Rat der Stadt Halle wandte sich Herr Consemüller an Herrn Prof. Dr. Gallwitz und bat ihn um Befürwortung der Reise. [...], Herrn Prof. Dr. Gallwitz ist die vom Staatssekretariat für Hochschulwesen getroffene Regelung über die Reisen von Studierenden in die NATO-Staaten bekannt. Herr Prof. Dr. Gallwitz wußte, daß diese Genehmigung nur durch den Prorektor für Studienangelegenheiten an der Universität zu erteilen war. Es wäre die Pflicht des Herrn Prof. Dr. Gallwitz gewesen, dem Studenten C. die Richtigkeit und Notwendigkeit der Anweisung des Staatssekretariats zu erläutern. Das wäre umso notwendiger gewesen, als Herr Consemüller noch sehr jung und unerfahren ist und sein Studium an der Universität noch nicht aufgenommen hatte. Herr Prof. Dr. Gallwitz hat das unterlassen, obwohl ihm bekannt war, daß sowohl der Senat der Universität als auch der Rat der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät den Angehörigen des Lehrkörpers eine solche Verpflichtung auferlegt hatte, um auf diese Weise zur Erziehung der Studenten beizutragen. [...] Herr Prof. Dr. Gallwitz schrieb fir Herrn Consemüller eine Bescheinigung aus, in der er die Reise befürwortete. Die Bescheinigung enthielt keine Anschrift. Mit dieser Bescheinigung wandte sich Herr Consemüller an die Volkspolizei. Zufolge eines Fehlers in der Verwaltung erhielt er hier die notwendigen Dokumente und reiste ohne Genehmigung der Oberschule oder des Rates der Stadt Halle oder der Universität nach Westdeutschland. [...] Da nach Rückkehr des Studenten C. aus der Bundesrepublik die Oberschule die Delegierung des Studenten C. zum Studium zurückgezogen hat, verfügte der Rektor am 5.11.1957 im Verwaltungswege die zeitweilige Exmatrikulation des Studenten Consemüller. Diese Entscheidung wurde dem Studenten C. mündlich und schriftlich mitgeteilt. Daß Herr Prof. Dr. Gallwitz von dieser Entscheidung Kenntnis hatte, ergibt sich daraus, daß er sich unmittelbar danach beim Prorektor für Studienangelegenheiten beschwerte, weil er irrtümlich annahm, das Prorektorat fir Studienangelegenheiten habe diese Entscheidung gefällt. Trotz der Kenntnis von der Exmatrikualtion hat es Herr Prof. Dr. Gallwitz geduldet, daß Herr Consemüller noch einige Zeit an Lehrveranstaltungen der Fachrichtung Geologie teilnahm. [...] gez. Herrmann" 11

Dieses waren die Vorwürfe, die Hans Gallwitz gemacht wurden. In der Folge wurde jede von ihm beantragte Westreise von der Universität abgelehnt. Das Disziplinarverfahren war nicht abgeschlossen, als Hans Gallwitz starb. Der 27 UAH PA 6466 Hans Gallwitz und HAL MM 4735 Gallwitz, am Ende des Antrages steht: „Für die Richtigkeit der Abschrift gez. Beyer (Beyer) Sachbearbeiterin".

28*

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exmatrikulierte Consemüller, der sich trotz des ausgezeichneten Abiturs in der Produktion bewähren sollte, verließ die DDR in Richtung Westen. Dieser politische Druck, der hier nur angedeutet werden konnte, traf nicht jeden der „bürgerlichen Professoren" mit gleicher Stärke, aber er belastete alle. V I . Die Pläne des Staatssekretariates für das Hochschulwesen im Zusammenhang mit der Leopoldina

Natürlich wollte die Staatsmacht nicht nur die einzelnen disziplinieren, sondern ebenso die Institutionen, also auch die Leopoldina. Wie die Regierung der DDR die Leopoldina beurteilte, erfahren wir aus einer Analyse28 des Staatssekretariates für das Hoch- und Fachschulwesens von 1959: „Die Mitglieder [der Leopoldina] sind in ihrer Mehrzahl international bekannte Forscher, unter ihnen befinden sich viele Nobelpreisträger und Angehörige ausländischer Akademien. Während der Nazizeit wurden Mitglieder jüdischer Abstammung aus der Mitgliederliste gestrichen, jedoch angeblich nicht offiziell ausgeschlossen. [.. JIhrer Herkunft nach sind die meisten Mitglieder bürgerlich; einige sind sogar bekannte Vertreter des Imperialismus - Ferdinand Friedensburg, 29 J. B. Conant. 30 Der größte Teil der nach 1945 aufgenommenen Mitglieder wohnt in Westdeutschland oder im kapitalistischen Ausland. Auf Grund mehrmaliger Interventionen von Seiten des Staatssekretariates für das Hoch- und Fachschulwesen wurden auch einige prominente Vertreter der Sowjetunion und der Volksdemokratien f... anzumerken ist hier: alle waren dem Leopoldinapräsidenten Kurt Mothes 31 bekannt, sie waren fachlich hervorragend und 'gleichgesinnt'] zu Mitgliedern ernannt. Es ist jedoch bisher nicht gelungen, fortschrittliche Wissenschaftler der DDR in die Leopoldina aufnehmen zu lassen. [...] Das Präsidium der Leopoldina trägt stark konservative Züge. [...] 28

BA S ΑΡΜΟ Akte DR-3 2360 Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen.

29 Ferdinand Friedensburg (1886-1972) Geologe und Paläontologe, Leopoldinamitglied seit dem 21.5.1946, 1957 Bundestagsabgeordneter der CDU, 1946-51 stellvertretender Oberbürgermeister von Westberlin. 30

James Briant Conant (1893-1978) Chemiker, Leopoldinamitglied seit dem 17.3.1932, Präsident der Harvard-University, erster Botschafter der Vereinigten Staaten in der Bundesrepublik, 1963-65 Berater der Stadt Berlin für den Ausbau des Erziehungswesens. 31 Kurt Mothes (1900-1983) Pflanzenphysiologe, Leopoldinapräsident 1954-1974, zur Persönlichkeit von Kurt Mothes vgl. die Arbeiten von Parthier 1986, 1996 und gemeinsam mit Schütte 1995.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

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Das derzeitige Präsidium der Leopoldina postuliert etwa folgende politische Linie: Wahrung der 'Unabhängigkeit Durchsetzung der von ihnen vertretenen philosophischen und politischen Ansichten in ihrem Bereich. Dabei spielt der bürgerliche Freiheitsbegriff und Gedanke europäischer Politik eine nicht zu unterschätzende Rolle.[...] Prof. Mothes erklärte 1957 in Schweinfurt: 'Seit Gründung unserer Akademie sind 305 Jahre vergangen. Die Probleme sind im Grund immer noch die gleichen, nur der Maßstab hat sich geändert. Das zersplitterte Europa der Gegenwart tritt allmählich an die Stelle des zersplitterten Deutschlands des 30-jährigen Krieges. '[...] VII. Der Einfluß der Leopoldina auf das wissenschaftliche Leben in der Deutschen Demokratischen Republik. An den Sitzungen der Leopoldina nehmen vor allem die Mitglieder aus Halle und weiterer Umgebung teil. Darüber hinaus stehen sie allen Interessenten offen. Sie sind ein, wenn auch bescheidener, Teil des wissenschaftlichen Lebens in der DDR, spielen aber für Halle eine große Rolle. Von offensichtlich internationaler Bedeutung sind ihre Jahreshauptversammlungen. [...] Entsprechend der Zusammensetzung der Leopoldina sind die mitunter in den Vorträgen gegebenen philosophisch-weltanschaulichen Auslegungen wissenschaftlicher Ergebnisse meist idealistischer Art. [...] Um die Bindung der Leopoldina an die DDR enger zu gestalten und unseren Einfluß geltend zu machen, sollte der Leopoldina ein Institut angegliedert werden. Es besteht die konkrete Möglichkeit, in Halle ein kleines Institut für Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin zu schaffen, da ein solcher Arbeitskreis [...] bereits an der Leopoldina besteht. Bei einer solchen Gründung hätten wir die Möglichkeit, die Kaderpolitik vom Staatssekretariat aus beeinflussen zu lassen und jüngere Wissenschaftler mit bestimmten Aufgaben zu betrauen. [...] Mit dem Institut ließen sich auch noch gewisse andere technische Fragen lösen. (Kontrolle über Bibliothekserwerbungen, Herausgabe wissenschaftlicher Publikationen, Archiv usw.) [•..Γ

An späterer Stelle dieser Analyse wird die Leopoldina mit den anderen wissenschaftlichen Akademien in der DDR durch das Staatssekretariat verglichen: „(Ihre Mitgliederzahl ist größer als die der DAW, die wissenschaftliche Bedeutung ihrer Mitglieder ist zum Teil umfassender als die der Mitglieder der DAW - sehr viele Nobelpreisträger -, die rege Publikationstätigkeit ihrer Mitglieder in aller Welt. Es besteht die Gefahr, daß auf Grund der vom Präsidium der Leopoldina in den letzten Jahren verfolgten Linie der Versuch unternommen wird, die DAW zu überflügeln.) [...] Der Charakter des internationalen wissenschaftlichen Verkehrs der Leopoldina, der sich neben den Publikationen [...] im wesentlichen auf die Beziehungen der Einzelpersönlichkeiten untereinander beschränkt d.h. sich ohne Kontrollmöglichkeit unsererseits vollzieht.

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Die internationale Bedeutung der von der Leopoldina veranstalteten gen.

Tagun-

7 Um den derzeitigen Zustand der Arbeit mit der Leopoldina zu verändern, wird vorgeschlagen, sich auf folgende 3 Schwerpunkte zu konzentrieren: 1. Betreuung der Leopoldina durch die Leitung des Staatssekretariates. 2. Schaffung eines neuen Statutes 3. Veränderung des Mitglieder [be] standes zu 1. Der Leopoldina und ihrem Wirken ist mehr Aufmerksamkeit zu widmen, als bisher, insbesondere muß der Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen seinen persönlichen Einfluß auf das Führungsgremium der Leopoldina verstärken. zu 2. Es ist anzustreben, auf schnellstem Wege den statutenlosen Zustand der Leopoldina zu überwinden. Bei der Neufassung des Statutes sollen folgende Gesichtspunkte berücksichtigt und aufgenommen werden: 1. Sitz der Leopoldina ist Halle. 32 2. Die Bestätigung des Präsidenten der Leopoldina erfolgt durch den Ministerpräsidenten der DDR oder den Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen. 3. Der Leopoldina wird ein Institut für Geschichte der Naturwissenschaften und Medizin geschaffen. 4. Das Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen tritt als Förderer auf [...] Der jeweilige Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen gehört als einer der Vertreter der Förderer dem Vorstand der Akademie an. 5. Statutenänderungen sind nur mit Genehmigung der Regierung möglich. Grundsätzliche Fragen der Tagungen und Feiern sind mit der Regierung zu besprechen. 6. Den Mitgliedern der Akademie ist größeres Mitspracherecht zu sichern. [. ..] Um auch eine Erneuerung von innen her durchzuführen, ist der Wahl neuer Mitglieder größte Aufmerksamkeit zu widmen. Vor allem muß die Aufnahme geeigneter DDR-Bürger erreicht werden.[...]"

In der gesamten Zeit der DDR gelang es dem Leopoldinapräsidium, ein neues Statut für die Akademie zu verhindern und den Mitgliederbestand der Akademie ohne äußere Einflüsse selbst zu bestimmen. Es wurde der Leopoldina kein Institut angegliedert, und bei den Veranstaltungen der Akademie hatte der Staat wenig Einfluß. Eine Möglichkeit des Staates sich darzustellen, waren die 32

Der Grund hierfür war die mehrmalige Drohung von Kurt Mothes, den Sitz der Leopoldina in den Westteil Deutschlands zu verlegen, wenn die Bedingungen in der DDR für die Akademie unerträglich würden.

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Reden des jeweiligen Ministers bei den Jahresversammlungen der Leopoldina, bei denen er die Staatsdoktrin vertrat und versuchte, den westlichen Mitgliedern die aktuelle DDR-Politik zu verdeutlichen. Die relative Unabhängigkeit der Leopoldina in der gesamten DDR-Zeit war möglich, weil die Akademie ihren gesamtdeutschen Status aufrechterhielt und stets betonte. Dieser gesamtdeutsche Charakter spiegelte sich im Mitgliederbestand und in der Zusammensetzung des Senats der Akademie wider. Bis 1961 wurden auch Senatssitzungen und Tagungen im Westteil Deutschlands abgehalten. Für 1961 war die Jahresversammlung in Schweinfurt geplant. Bezeichnend für die konsequente Reaktion von Präsident und Präsidium in dieser Situation war folgendes. Nach dem Mauerbau im August 1961 glaubten die staatlichen Stellen offensichtlich, endlich ein wirksames Druckmittel auch gegen die Akademie in der Hand zu haben. Sie erlaubten „großzügig" dem Präsidenten und einigen ausgewählten Präsidiumsmitgliedern, die geplante Reise im Oktober nach Schweinfurt durchzuführen. Mothes forderte Reisemöglichkeiten für alle interessierten Mitglieder, und als dies abgelehnt war, ließ er (in Übereinstimmung mit dem Präsidium) kurzerhand die ganze Jahresversammlung ersatzlos ausfallen, 33 ein eindeutiges Signal an die Machthaber, wie weit ihre Macht reichte und was sie gegebenenfalls damit ausrichten. Nach 1961 war die Leopoldina für viele DDR-Wissenschaftler die einzige Möglichkeit, persönlichen Kontakt zu westlichen Wissenschaftlern aufzunehmen.34 Obwohl die Regierung und speziell das Ministerium für Staatssicherheit versuchte, die Kontrolle über die Akademie zu gewinnen, gelang es den Präsidenten, unterstützt vom Präsidium, die Unabhängigkeit vom Staat zu wahren. Abgesehen vom innerdeutschen Dialog der Wissenschaftler ermöglichten die Leopoldina-Jahresversammlungen auch einen Kontakt der Wissenschaftler aus dem „Ostblock" mit den westlichen Wissenschaftlern. V n . Vergleich der Situation der Leopoldina in der NS-Zeit und in der DDR-Zeit

Verglichen mit anderen Akademien wurde die Leopoldina in der Zeit des „Dritten Reiches" relativ wenig reglementiert. Sie lag nicht im Blickpunkt des Interesses der Regierung. Als Staatsakademie stand die Preussische Akademie im Zentrum, dazu kamen die verschiedenen Landesakademien (wie z. B. die 33

HAL Protokollhefter IV (31. Jan. 1961/14. Dez. 1962), Präsidialsitzung vom 29. August 1961.

34

Vgl. zur Situation der Leopoldina in der DDR-Zeit auch Parthier 1996 und 1997.

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Bayerische, die Heidelberger und die Göttinger Akademie). Zwar wurden die Vertreter der Staatsmacht zu den Festsitzungen der Leopoldina eingeladen, und sie kamen auch, aber den Veranstaltungen der Preussischen Akademie maßen sie mehr Bedeutung bei. In der Frage der jüdischen Mitglieder, die gestrichen wurden, und bei der Aufnahme ausländischer Mitglieder nahm die NS-Regierung Einfluß auf den Mitgliederbestand. Es wurden allerdings keine Mitglieder aufgenommen, nur weil sie der Regierung genehm waren. Es gab also die Möglichkeit, sich in diesem Punkt zu widersetzen. Daß einige der Mitglieder stark belastet waren, liegt an der politischen Verstrickung zahlreicher deutscher Wissenschaftler im NS-Staat. Die Tatsache, daß viele Rassenhygieniker Leopoldinamitglieder waren, lag, wie bereits erwähnt, auch am speziellen Interesse Emil Abderhaldens für die Problemstellungen der Rassenhygiene. In der DDR-Zeit war die Leopoldina eine gesamtdeutsche Einrichtung in einem geteilten Land. Im Ostteil Deutschlands gab es außer der Leopoldina die Deutsche Akademie der Wissenschaften und die Sächsische Akademie in Leipzig.35 Die Deutsche Akademie der Wissenschaften wurde von der DDR-Regierung nach sowjetischem Vorbild zur Staatsakademie ausgebaut, mit vielen Instituten und Mitarbeitern. Der Staat übte politischen Druck auf zahlreiche Leopoldinamitglieder aus. Der Grad des Druckes war abhängig von der aktuellen politischen Lage. Im DDR-Staat, der über Jahrzehnte hinweg versuchte, die Bevölkerung und damit auch die Wissenschaftler politisch vollständig zu kontrollieren und zu beherrschen, war die Leopoldina eine Besonderheit als einzige gesamtdeutsche Wissenschaftseinrichtung. Wegen der Brisanz dieses Status und aus dem Interesse heraus, sich mit der alten Akademie zu schmücken, sie als Aushängeschild für liberale Wissenschaftspolitik zu benutzen, gewährte der Staat ihr eine relative Unabhängigkeit, beobachtete sie allerdings mit Hilfe seines Staatssicherheitsdienstes ständig. Der Präsident Mothes machte mehrmals deutlich, daß jederzeit die Möglichkeit bestand, die Tätigkeit der Leopoldina in den Westteil Deutschlands zu verlagern, falls der äußere Druck unerträglich würde. Daran aber hatten weder das Präsidium,36 noch die ostdeutschen Mitglieder, noch die DDRRegierung ein Interesse. 33

Hinzu kam die neu gegründete Akademie der Land Wirtschaftswissenschaften.

36 Nach dem Bau der Mauer 1961 hätte eine Verlagerung des Sitzes der Leopoldina in den Westteil Deutschlands bedeutet, daß ein westdeutsches Präsidium die Geschäfte übernommen hätte. Dies hätte auch bedeutet, daß die ostdeutschen Mitglieder und die Mitglieder aus den anderen Oststaaten den Zugang zu den Leopoldinaveranstaltungen verloren hätten.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

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Unter beiden Diktaturen wurde die Satzung der Leopoldina nicht an das aktuelle Staatssystem angepaßt. Die Mitgliederzuwahlen blieben in beiden Systemen in der Hand der Akademie. In der NS-Zeit bestand allerdings die massive Einschränkung bei Mitgliederzuwahlen darin, daß keine jüdischen Gelehrten mehr Mitglieder werden durften, und daß ausländische Forscher eine „positive" Einstellung zu Deutschland haben mußten, um Mitglied zu werden. Die Voraussetzung für die Aufnahme in die Akademie blieb durch die Zeit der Diktaturen hindurch ein wissenschaftliches Werk bzw. herausragende wissenschaftliche Leistungen des Zugewählten. Unter der Präsidentschaft von Kurt Mothes wurde das Begutachtungssystem sogar noch wesentlich erweitert, so daß es für den Staat noch schwieriger bzw. unmöglich wurde, ihm genehme Wissenschaftler in die Akademie hineinzudrücken. Die umfangreichen Pläne des Staatssekretariates, die Leopoldina zu verändern, konnte das Präsidium mit der Rückendekkung durch den westdeutschen Vizepräsidenten und die westdeutschen Senatsmitglieder abwehren. Ein Unterschied zwischen der Situation der deutschen Mitglieder in der NSZeit und der Situation der ostdeutschen Mitglieder in der DDR-Zeit war der, daß zumindest am Beginn der NS-Zeit ein Teil der Mitglieder mit dem sich etablierenden System übereinstimmten, während andere, besonders die jüdischen Mitglieder extrem darunter litten, in der DDR-Zeit gab es eine völlige Übereinstimmung mit dem System (wenn überhaupt) nur bei einem verschwindend geringen Anteil der Leopoldinamitglieder, es gab aber auch kein Leopoldinamitglied, daß bis zur physischen Vernichtung unter dem DDR-Regime gelitten hätte. Das Präsidium und der Senat waren aus der Sicht des Staates bis zum Ende der DDR-Zeit „bürgerliche", zumindest „konservative" Personen.

Literatur Abderhalden Emil: Bericht über die Tätigkeit der Kaiserlich Leooldinisch-Carolinisch Deutschen Akademie der Naturforscher vom 1. Januar 1932 bis 31. März 1933. Berg, Wieland: Emil Abderhalden und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina nach 1932 - eine Projektskizze. Jahrbuch 1991, Leopoldina (R. 3) 57(1992), S. 265 - 284. Gerstengarbe, Sybille: „Evangelisch als Jude geboren" - Dokumente eines deutschen Schicksals. Jahrbuch 1992, Leopoldina (R. 3) 38 (1993): 317 - 344. - Die erste Entlassungswelle von Hochschullehrern deutscher Hochschulen aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. 4. 1933. Ber. Wiss.gesch. 17 (1994) 17-39.

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- Die Leopoldina und ihre jüdischen Mitglieder im Dritten Reich. Jahrbuch 1993, Leopoldina (R. 3) 39 (1994): 363-410. - „Plötzlich musste ich Geschäfte übernehmen." Otto Schlüters Ringen um den Erhalt der Leopoldina nach dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands. Jahrbuch 1995, Leopoldina (R. 3) 41 (1996): 439-476. - Die Mitgliederzuwahlen der Leopoldina in den Jahren zwischen 1945 und 1954. Jahrbuch 1996, Leopoldina (R.3) 42 (1997): 479- 507. Gerstengarbe, Sybille / Hallmann, Heidrun /Berg, Wieland : Die Leopoldina im Dritten Reich. In: Acta historica Leopoldina Nr. 22 (1995): 167 - 212. Leopoldina-Symposion: Die Elite der Nation im Dritten Reich. Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld im Nationalsozialismus. Hrsg. von Eduard Seidler und Christoph J. Scriba. Gerstengarbe Sybille / Hallmann, Heidrun: Die Festsitzungen der Leopoldina unter Abderhaldens Präsidentschaft. Jahrbuch 1994, Leopoldina (R. 3) 40 (1995): 455-478. Kaasch, Michael: „Gelingt es mir jedoch auch nur da und dort Hilfe zu bringen, dann habe ich nicht umsonst gelebt" - Der Wissenschaftler und Arzt Emil Abderhalden in Halle. In: Hartwich, H.-H. und Berg, G. (Eds.): Bedeutende Gelehrte der Universität zu Halle seit ihrer Gründung im Jahr 1694. Montagsvorträge zur Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. II. S. 143-188. Opladen 1995. Kaasch, Michael / Kaasch, Joachim: Wissenschaftler und Leopoldina-Präsident im Dritten Reich: Emil Abderhalden und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. In: Die Elite der Nation im Dritten Reich. - Acta historica Leopoldina; Nr. 22 (1995): 213 - 250. - Emil Abderhalden und seine Ethik-Mitstreiter. Ärzte, Wissenschaftler und Schriftsteller als Mitarbeiter von Abderhaldens Zeitschrift „Ethik". Teil I (1925-1933). Jahrbuch 1995. Leopoldina (R. 3) 41 (1996) , 477-530. - Emil Abderhalden und seine Ethik-Mitstreiter. Ärzte, Wissenschaftler und Schriftsteller als Mitarbeiter von Abderhaldens Zeitschrift „Ethik". Teil I I (1933-1938) Jahrbuch 1996, Leopoldina (R.3) 42 (1997): 509-575. Parthier, Benno: Kurt Mothes (1900-1983) - Leben und Werk. Biochem. Physiol. Pflanzen (Jena) 178, 695-743 (1983). - Der Wissenschaftler Kurt Mothes. Leopoldina (R. 3) 29, 100-110 (1986) - Die Leopoldina in Vergangenheit und Gegenwart. Acta historica Leopoldina, Suppl. 3 32 S. Halle: 1993. - Die Leopoldina - Bestand und Wandel der ältesten deutschen Akademie. Festgabe zur 300-Jahrfeier der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, überreicht vom Präsidium der Akademie. Halle 1994. 136 S. - Adolf Butenandt (1903-1995) und die Leopoldina - Aus seinem Briefwechsel mit Kurt Mothes. Jahrbuch 1995, Leopoldina (R. 3) 41 (1996): 369-386. - Die Leopoldina und ihre 40jährige Klammerfunktion in der deutsch-deutschen Wissenschaftslandschaft. Jahrbuch 1995, Leopoldina (R. 3) 41 (1996): 415-424. - Die Leopoldina in Halle: Deutschlands älteste Akademie in ihrer jüngeren Geschichte. Jahrbuch 1996, Leopoldina (R. 3) 42 (1997): 467-478.

Die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina

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Schütte, Horst / Parthier, Benno: Kurt Mothes (1900-1983). Ein bedeutender Biologe seiner Zeit, Botaniker an der Albertina in Königsberg, Präsident der Leopoldina in Halle. In: Rauschning, Dietrich und Donata v. Nerée (Hrsg.): Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Jahrbuch der Albertus-Univ. Königsberg 29, 629-639. Berlin 1995. Verordnungsblatt für die Provinz Sachsen 1946, S. 212: Verordnung über die Neuregelung des Vereins- und Genossenschaftswesens. Für die Hilfe bei der Auswertung des Archivmaterials danke ich Frau Annett Wittwer. Für die kritische Durchsicht des Manuskriptes danke ich Dr. Wieland Berg. Den Mitarbeitern des Leopoldinaarchivs, des Universitätsarchivs Halle und des Bundesarchivs (SAPMO) danke ich für ihre Unterstützung. Das dieser Arbeit zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministers für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie unter dem Förderkennzeichen 01 GWS 007 3 (altes Kennzeichen: KGS 3200 A9) gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt trägt die Autorin.

Spanien unter Franco Von Antonio Peter

Über mehr als dreißig Jahre hinweg bestimmte der 1892 in El Ferrol geborene Francisco Franco Bahamonde das öffentliche Leben Spaniens. Der von ihm mitzuverantwortende Bürgerkrieg (1936-39) und die sich daran anschließende Phase politischer Repression haben nachhaltig auf das kollektive Bewußtsein aller Spanier gewirkt. Unmittelbar nach Francos Tod setzte in Spanien eine intensive, breite und öffentliche Debatte über die Leistungen, Fehler und Verbrechen des Caudillo und der „Nationalen", wie sich die Sieger des Bürgerkrieges selbst nannten, ein. Faschistisch, totalitär, diktatorisch, aber auch paternalistisch, national ist das Staatswesen Francos genannt worden. Im folgenden wird es darum gehen, politisches Handeln unter Franco nach seiner Legitimation und seinen Auswirkungen auf die Gesellschaft Spaniens hin zu untersuchen. Dabei versteht es sich, daß lediglich ein Überblick gegeben werden kann.1 Denn gerade in einem Sammelband über Diktaturen in Europa erscheint es angemessen, auf Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen der Entwicklung in Spanien und in anderen Staaten hinzuweisen. Franco stammte aus einer kleinbürgerlichen, eng mit der Kriegsmarine verbundenen Familie. Sowohl der Vater als auch der ältere Bruder Nicolâs waren Marineoffiziere. Der kleinwüchsige Franco (1,67 cm)2 wurde 1907 in die Militärakademie in Toledo aufgenommen. Nach einem durchschnittlichen Abschluß machte er zwischen 1916 und 1926 seine militärische Karriere in Marokko. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Spanien in einen Kolonialkrieg verwickelt, der sich 1904 aus der Aufteilung Marokkos zwischen Frankreich und Spanien ergeben hatte. Der spanischen Armee gelang es schließlich 1 Siehe auch Walther L. Bernecker, Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, 3. Aufl., München 1997. 2 Immer wieder ist vor allem in populärwissenschaftlichen Darstellungen darauf hingewiesen worden, daß Franco seine Körperstatur und seine Fistelstimme durch hemmungslosen Ehrgeiz habe kompensieren wollen, z. B. „De Franquito a Franco, Franco, Franco!", in: El Pais-Semanal, 29. November 1992, S. 14ff.

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unter hohen Verlusten (insg. 17.000 tote Soldaten) den Aufstand der Marokkaner niederzuschlagen. Erst 1927 galt Marokko als „befriedet". Franco hatte an diesem Ergebnis entscheidenden Anteil. Unter seiner Führung brach die spanische Armee den Widerstand Ben Abd el-Krims. 33jährig wurde Franco zum Brigadegeneral ernannt und galt als einer der jüngsten aktiven Generäle Europas. In die 20er Jahre fällt auch seine Heirat mit Carmen Polo, die der besseren Gesellschaft Asturiens entstammte. Förderlich für die Eheschließung war, daß Francos Militärruhm 1923 schon groß war, und er selbst in der Heimat als Kriegsheld galt. Unter dem Diktator Primo de Rivera erhielt Franco Posten, die ihm auch die politische und soziale Realität des Landes näherbrachten: Zunächst kommandierte er die in Madrid stationierte Erste Brigade, danach wurde er zum Kommandanten der wiedergegründeten Militärakademie in Zaragoza berufen. Aus letzterer Stellung entfernte ihn 1931 die erste republikanische Regierung. Besonders der neue Kriegsminister Manuel Azaiia begegnete Franco mit Skepsis. Franco selbst ließ keinen Zweifel an seinen Überzeugungen aufkommen. In einer aufsehenerregenden Rede anläßlich der Schließung der Militärakademie Zaragoza durch die republikanische Regierung am 29. Juni 1931 bekannte sich Franco zur Monarchie, ermahnte aber die Kadetten zur Loyalität gegenüber der Republik, solange diese zum Wohl des Landes handle. Obwohl Franco nicht an dem gescheiterten Putsch General Sanjurjos am 10. August 1932 teilnahm oder zu seinen Sympathisanten gehörte, galt er nach wie vor als unzuverlässig, und entsprechend wurde er mit weniger wichtigen Aufgaben betraut. Dies änderte sich erst, als 1933 die mitte-rechts Koalition die Wahlen gewann, und Franco 1934 als Berater des Ministeriums die Niederschlagung eines Aufstandes in Katalonien und Asturien gegen die Madrider Zentralregierung koordinierte. Er ließ Truppen aus Marokko heranbringen, die äußerst brutal gegen die Zivilbevölkerung der als aufständisch geltenden Gebiete vorgingen. Hier zeichnete sich eine Konstellation ab, die im Bürgerkrieg ihre Entsprechung fand: mit Härte führte Franco die in Marokko stationierten Elitetruppen Spaniens gegen einen großen Teil der Zivilbevölkerung des Mutterlandes. Unabhängig von der politischen Couleur galten diese Personen dem späteren Caudillo als Aufständische (rebeldes) und damit als Feinde Spaniens. Aus Sicht der rechtskonservativen Regierung empfahl sich Franco durch sein Verhalten als Chef der Obersten Heeresleitung, die 1935 erfolgte. Grundlegend änderte sich die politische Situation nach dem Wahlsieg der Volksfront 1936. Der unerwünschte General wurde wieder kaltgestellt. Diesmal kam die Versetzung als Militärkommandeur der Kanarischen Inseln einer Verbannung gleich, obwohl Franco vermutlich auf seine Kollegen immer wieder mäßigend einwirkte und von einem Putsch abriet. Er selbst weigerte sich

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grundsätzlich, einen Putsch anzuführen, solange er keine Notlage für das Vaterland zu erkennen glaubte.3 Diesen „Notstand" sah er erst im Sommer 1936. Franco war zutiefst von der Politik der Volksfrontregierung enttäuscht, die seiner Meinung nach zu den schlimmsten Befürchtungen Anlaß gab. Dem Wohle Spaniens besonders gefährlich erschienen ihm die Autonomiepolitik und der seiner Meinung nach wachsende Einfluß „Moskaus" (d.h. den der PCE und der Anarchisten) in Spanien. Diesen Verrat an Spanien zu bekämpfen, war nach Francos Weltbild die Pflicht jedes Spaniers. Aber auch dann setzte er sich zunächst nicht an die Spitze eines Putsches. In verschiedenen Gesprächen versuchte er, die politisch Verantwortlichen davon in Kenntnis zu setzen, daß ihre Politik ihn zum Putsch zwänge. Auch Ministerpräsident Casares Quiroga erhielt am 23. Juni 1936 einen Brief Francos mit Hinweisen über die Unzufriedenheit in den Streitkräften. Dieses Schreiben war dabei so zweideutig gehalten, daß nicht erkennbar wird, ob es sich um ein Verhandlungsangebot oder um ein Ultimatum handelt.4 Bis zuletzt zögerte er, den Aufständischen beizutreten. Oft umworben und dabei sehr unentschlossen, erwarb sich Franco den Beinamen Miss Canarias unter den Mitverschwörern. 5 Franco hat die Gründe für seine Teilnahme an dem Putsch immer wieder genannt. Wenn er in seinen Reden auf die Volksfrontregierung und die Lage im Sommer 1936 Bezug nahm, so machte er immer wieder ähnliche Aussagen. 1937 sagte er einem Korrespondenten der „Leipziger Illustrierten Zeitung": „ Wie kämpfen, um unser Volk vor dem Einfluß des Marxismus und des internationalen Kommunismus zu schützen, die in unser Land eingeführt wurden, um aus Spanien eine Filiale des Moskauer Bolschewismus zu machen. Wir wollen durch diesen Kampf, die moralischen, geistigen, religiösen und artistischen Werte retten, die während einer langen glorreichen Geschichte entstanden und die Voraussetzung unserer nationalen und individuellen Existenz sind. " 6

Damit ist ein zentrales Moment in Francos Denken angesprochen, das ihn zur Teilnahmen am pronunciamiento der Generäle bewog. Aus der Angst vor kommunistischem Einfluß ergaben sich die Sorge um das religiöse Bekenntnis und 3 Vgl. Francisco Franco Saigado-Araujo, S. 522f.

Mis conversaciones con Franco, Barcelona 1979,

4

Juan Pablo Fusi, Franco: Autoritarismo y poder personal, Madrid 1975, S. 36f.

5

Stanley G. Payne , Franco: El perfil de la historia, Madrid 1992, S. 32.

6 Pensamiento Politico de Franco: Antologia, Hrsg. August in del Rio Cisneros , Madrid 1964, S. 47, eigene Übersetzung. Siehe dort auch weitere Belegstellen.

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um die Einheit der Nation als Voraussetzungen spanischer Identität.7 Dieses Grundmotiv Francos Denken zeigt sich in seinen Reden, Gesetzeserlassen und auch in seinem politischen Testament, das 1975 allen Spaniern über die Massenmedien bekannt gemacht wurde. Franco bezeichnete sich darin als treuer Sohn der katholischen Kirche. Er selbst habe keine Feinde gehabt, nur die Feinde Spaniens seien auch die seinigen gewesen. Franco befürchtete, daß letztere und die „Feinde der christlichen Zivilisation" auch noch nach seinem Tode für jedes Zerstörungswerk bereit stünden. Daher ermahnte er alle Spanier eindringlich, an der Einheit des Vaterlandes festzuhalten. 8 Bei Ausbruch des Bürgerkrieges 9 am 17. Juli 1936 war allerdings noch nicht abzusehen, daß Franco sich unter den am Putsch beteiligten Generälen durchsetzen würde. Zunächst galten Emilio Mola, José Sanjurjo, Manuel Goded oder Gonzalo Queipo de Llano durchaus als aussichtsreichere Kandidaten als Franco. Letzterer konnte sich aber dank einiger Zufälle glücklich an die Spitze setzen. Sanjurjo kam am 20. Juli 1936 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Goded wurde am 19. Juli 1936 in Barcelona durch loyale Truppen gefangengenommen und fiel damit aus. Der zunächst im Vergleich zu Franco militärisch unglücklicher agierende Mola kam am 7. Mai 1937 ebenfalls bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Queipo de Llano begnügte sich damit, seine Macht in Andalusien zu festigen und dort eine eigenständige Politik zu betreiben. Am 17. Juli 1936 schlugen die Verschwörer los. Den äußeren Anlaß dazu gab die Ermordung des rechtskonservativen Politikers José Calvo Sotelo. Obwohl in der Forschung immer wieder darauf hingewiesen worden ist, daß der Putsch von langer Hand geplant worden sei,10 so sind doch dessen organisatorischen und die ideologischen Unzulänglichkeiten auffallend. In den drei Zentren, in denen sich die Aufständischen anfangs durchsetzen konnten, agierte der 7 Franco glaubte, daß die positiven Werte spanischen Wesens sich besonders unter der Herrschaft der Katholischen Könige (Ende 15. Jh.) in optimaler Ausprägung gezeigt hätten. Vgl. Rafael Valls, Ideologia franquista y ensenanza de la historia en Espana, 1938-1945, in: Espana bajo el Franquismo, Hrsg. Josep Fontana, Barcelona 1986, S. 231-254. 8

Pensamiento politico de Franco, Hrsg. Augustin del Rio Cisneros , 2 Bde., Madrid 1975, Bd. 2, S. XIX. Zum Antikommunismus vgl. auch Akten zur auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1963. Band I: 1. Januar bis 31. Mai 1963, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amtes vom Institut für Zeitgeschichte, München 1994, Gespräch Francos mit dem deutschen Botschafter in Madrid von Welck am 29. Mai 1963 in Madrid, S. 600f. 9

Die gehaltvollsten Übersichten bieten: La guerra civil espaftola 50 afios después, Hrsg. Manuel Tunôn de Lara, Barcelona 1985. Deutsch, Der spanische Bürgerkrieg: Eine Bestandsaufnahme, Frankfurt/M. 1987, und Walther L. Bernecker, Krieg in Spanien 1936-1939, Darmstadt 1991. 10 Ramön Tamames, La republica: La era de Franco, Madrid 1983 (Historia de Espana Alfaguara VII), S. 230f.

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jeweils kommandierende General weitgehend selbständig. Mola herrschte im Norden, Queipo de Llano in Andalusien und Franco in Marokko. Von hier aus gingen auch über Rundfunk Francos Aufrufe an das spanische Heer und die spanische Nation heraus. Offensichtlich ist dabei die Ähnlichkeit mit den klassischen pronunciamientos, die das öffentliche Leben Spaniens im 19. Jahrhundert bestimmt hatten. Seinen ersten Aufruf beginnt Franco mit den Worten „Einmal mehr" (una vez mâs) hätten sich die Streitkräfte zur Rettung Spaniens erhoben. Hier ging es also nicht um etwas politisch Neues, sondern der Verfasser sieht sich ganz in der Tradition spanischer Heeresführer. Die anschließende Warnung vor dem Kommunismus und das Bekenntnis zum sozialen Ausgleich der Arbeitsbeziehungen zum Wohle Spaniens werden sich immer wieder in Francos Reden finden. 11 Auch Francos Ansprache vom 18. Juli 1936 bleibt ideologisch blaß. Er richtet sich hier an die Streitkräfte, wenn er jene Spanier anspricht, die in den Reihen des Heeres und der Marine den Dienst am Vaterland vollzogen hätten. Auch hier evoziert Franco Anarchie und kommunistische Gefahr, denen die Streitkräfte entgegenträten, um Frieden, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit zu bringen.12 Franco konnte den Spanieren zunächst keine Ideologie oder zumindest eine zündende gesellschaftspolitische Vision anbieten. Von Anfang an setzte er auf die Streitkräfte und die Macht der Waffen. Lediglich Mola hatte sich in einem Abkommen mit dem Führer der Traditionalisten,13 Fal Conde, der Unterstützung der vor allem in Navarra starken karlistischen Verbände versichert. 14 Dieses ideologische Defizit hatte zur Folge, daß nur ein geringer Teil der spanischen Zivilbevölkerung mit den Aufständischen sympathisierte.15 Zusätzlich galt von Anfang an die Aufmerksamkeit der Generäle der direkten Unterdrükkung politischer Gegner. Am 13. September 1936 unterzeichnete der Altersvorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates das Dekret zum Verbot sämtli-

11 Partes oficiales de guerra 1936-1939, Hrsg. Servicio Histörico Militär, 2 Bde. Bd. 1, Ejército Nacional, Madrid 1977/78, S. 1. 12

Partes de guerra, Bd. 1, S. 2f.

13

Siehe Fußnote 19.

14

Tamames, S. 219.

15

Vgl. die Einschätzung des Gesandtschaftsrates Schwendemann an der deutschen Botschaft Madrid vom 23. Juli 1936. Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918-1945, Aus dem Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D: Deutschland und der spanische Bürgerkrieg 1936-1939, Baden Baden 1951, S. 6-8, bes. S. 7. 29 Timmermann / Gruner

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cher Volksfrontorganisationen, 16 so prägte die massive Unterdrückung bis in die 40er Jahre hinein die frankistische Innenpolitik. Zwischen 1936 und 1944 fielen der politischen Repression der Nationalen 300.000 bis 400.000 Menschen zum Opfer. Weitere 400.000 brachten sich durch Flucht ins Ausland vor den siegreichen Nationalen Truppen in Sicherheit.17 Auch das 1939 erlassene Gesetz Ley de Responsabilidades Politicas (Gesetz über politische Verantwortlichkeiten) war kein Instrument der Versöhnung. Es stellte nachträglich alle Aktivitäten für die Volksfront unter Strafe. Ebenso mangelhaft wie die ideologische war die militärische Vorbereitung der Aufständischen. Die Verschwörer waren nicht von einer längeren militärischen Auseinandersetzung ausgegangen. Franco selbst hatte keinerlei Vorbereitungen getroffen, um die in Marokko stationierten Truppen ins Mutterland befördern zu können. Als sich der größte Teil der Marine loyal zur Regierung erklärte, blieb Franco keine Wahl, als sich in einer überstürzten Aktion an Hitler mit der Bitte um Transportflugzeuge zu wenden. Glück für Franco, daß Hitler nach einer Aufführung im Rahmen der Wagnerfestspiele in Bayreuth den Emissär des Caudillo empfing, das verlangte Material versprach und auch prompt lieferte. Die Marokkanischen Truppen hätten sonst die Meerenge Gibraltars nicht überwinden können. Im Spätsommer 1936 standen die Aufständischen vor zwei schweren Herausforderungen: den Aufbau einer Kriegswirtschaft und die ideologische Ausgestaltung des Putsches. Mit dem Verteidigungsrat (Junta de Defensa) schufen die Aufständischen zunächst ein Provisorium. Mitglied waren alle maßgeblichen Generale, den Vorsitz hatte der Dienstälteste Miguel Cabanellas. Erst am 29. September wählten die Generale Cabanellas, Mola, Queipo de Llano, Yuste, Orgaz, Kindelan, Salinquet und Davila Franco zum Generalissimus. Zwei Tage zuvor hatte Franco einen erheblichen Prestigegewinn erzielt, der seine Wahl positiv beeinflußt haben dürfte. Francos Truppen hatten die seit Ausbruch des

16 Abgedruckt und ins Deutsche übersetzt bei Walther Bernecker, Gewerkschaftsbewegung und Staatssyndikalismus in Spanien, Frankfurt/M. 1985, S. 32f. Siehe dort auch die Ausführungsbestimmungen mit der Liste der verbotenen Organisationen. 17 Walther L. Bernecker, Der Spanische Bürgerkrieg: Materialien und Quellen, Frankfurt 1986, S. 9. Für die Republikaner nennt Bernecker 20.000 politisch motivierte Morde. Bei den Kampfhandlungen starben 100.000 bis 150.000 Soldaten. Die amdichen Zahlen über politische Gefangene lauteten: 1945: 250.719, 1943: 46.661, 1945: 20.016. Keesing's Archiv der Gegenwart, 1945, S. 549 C. Siehe auch Alberto Reig Tapia, Ideologia e historia: Sobre la represiôn franquista y la guerra civil, Madrid 1986.

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Bürgerkrieges eingeschlossene Garnison des Alcazar von Toledo entsetzt.18 Franco übetrug sich am 1. Oktober alle Gewalten des neuen Staates und stellte sich die Junta Técnica del Estado mit beratender und unterstützender Funktion zur Seite. Von Anfang an schnitt Franco den Staatsaufbau auf seine Person zu. Über ihn liefen alle Gesetze und Verordnungen, die seiner Unterschrift bedurften. Eine Regierung mit Kabinett und Ministern bildete Franco erst am 1. Februar 1938. Bis dahin ließ er zögernd vieles in der Schwebe. Ideologisch blieb Franco kaum eine Wahl. Er konnte sich nur mit jenen Kräften alliieren, die dem republikanischen Spanien feindlich oder skeptisch gegenüberstanden, denn mit zunehmender Dauer des Krieges mußte ein möglichst breiter Teil der Bevölkerung für die Sache der Aufständischen gewonnen werden. Außer Molas Annäherung an die Karlisten war aber wenig geschehen. Franco hatte schon vor dem Sommer 1936 den Führer der Falange, Jose Antonio Primo de Rivera, kennengelernt, auch ist ein Brief Primo de Riveras an Franco überliefert. Die Beziehungen beider blieben aber formell und vor 1936 kann nicht nachgewiesen werden, daß Franco besondere Sympathien für diese Splitterpartei hegte.19 Interessant wurde für ihn die Falange erst, als sie sich den Aufständischen unaufgefordert als Trägerin nationaler Ideologie empfahl. Ein weiterer Vorzug dürfte aus Francos Sicht darin gelegen haben, daß Primo de Rivera in der republikanischen Zone als Staatsfeind inhaftiert und später erschossen worden war. Damit entbehrte die Falange ihres Gründers und Kopfes. Sie war folglich leicht im Sinne des aufständischen Generals zu instrumentalisieren. Die 15 Monate zwischen der Berufung der Junta Técnica und der Bildung der ersten Regierung nutzte Franco dazu, „seinen" Aufstand mit einer Ideologie zu versehen. Dazu wandte er sich an verschiedene gesellschaftliche Gruppen, die durch die Volksfrontpolitik zum Teil ihre politische und soziale Stellung gefährdet sahen. Zur Disposition standen die Karlisten,20 die Monarchi18 Belagerung und Befreiung der Besatzung des Alcazar wurde zu einem der zentralen Themen der frankistischen Propaganda. Zu den Widerständen in der Generalität bezüglich der Wahl Francos siehe Payne , S. 45ff. 19 1935 hatte die Falange 8.000 Mitglieder, davon zehn Prozent zahlende. Bernd Neilessen, Die verbotene Revolution: Aufstieg und Niedergang der Falange, Hamburg 1963, S. 100. Primo de Rivera verlor 1936 das einzige Mandat der Falange in den Cortes. Walther Bernecker gibt einen Überblick, warum sich der Faschismus in Spanien nicht etablieren konnte. „Spaniens "verspäteter' Faschismus und der autoritäre 'Neue Staat' Francos", in: Geschichte und Gesellschaft, 12 (1986), S. 183-211. 20

Anhänger des Thronprätendenten Carlos und seiner Nachfolger. Die absolutistisch orientierten Karlisten hatten im 19. Jahrhundert den Bürgerkrieg gegen die Isabelisten, Anhänger der Königin 29*

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sten,21 die Falange, die Rechtskonservativen (wie in der CEDA 22 organisiert) 23 und die katholische Kirche. Nach Sondierungen auf karlistischer Seite und auf Seiten der Falange, nutzte Franco die Schwäche beider Gruppierungen, um am 19. April 1937 die Einheitspartei zu schaffen. 24 Alle anderen Organisationen wurden verboten. Die neue Partei nannte sich Falange Espanola Tradicionalista y de las JONS (Juventudes Ofensivas Nacionalsindicalistas); allgemein nac wie vor Falange genannt. Franco ernannte sich zum Parteiführer und verwies den Falangeführer Manuel Hedilla in die zweite Reihe. Die Ideologie der neuen Partei setzte sich aus diffusen Bruchstücken zusammen. Die Vorstellungen der Karlisten, der Falange und der Monarchisten schlossen einander de facto aus, wurden aber insofern überspielt, als keine programmatische öffentliche Diskussion über die Ziele der neuen Einheitspartei geführt wurde. Den Widerstand des Sozialrevolutionären Flügels der Falange brach Franco mit massiver Gewalt. Manuel Hedilla wurde nach einer nicht bewiesenen Verschwörung zum Tode verurteilt, dann aber zu einer Gefängnisstrafe begnadigt. Mögliche Auseinandersetzungen zwischen Karlisten und Monarchisten umging Franco, indem er keine Aussage zur zukünftigen Staatsform und zu Personalfragen bezüglich des künftigen Staatsoberhauptes Spaniens machte. Auch einen Nachfolger benannte der Caudillo in seinem persönlichen Regiment zunächt nicht. Das Programm der Falange wurde als Programm der neuen Einheitspartei übernommen, hatte in der Praxis aber kaum Bedeutung, da es nicht als bindende Leitlinie für die praktische Politik diente. Beispielsweise verstaatlichte Franco weder das Bankwesen (14. Punkt des Programms), noch bemühte er sich um eine Landreform (Punkt 19).25 Hingegen ist es Francos persönlicher Initiative geschuldet, daß es zu einer engen Bindung des nationalen Staatswesens an die katholische Kirche kam. Der Isabel II. bzw. ihrer Mutter und Regentin Maria Cristina und der konstitutionellen liberalen Monarchie, verloren. Zum Programm vgl. Tamames S. 51 f. 21

Hier im Sinne jener Personen, die für die bourbonische Thronfolge und für Don Juan eintraten.

22 Confederation de Derechas Autonomas. Ihr Führer, Gil Robles, hatte im Oktober die Partei den Militärs formell unterstellt. 23 Erne direkte Allianz mit den Großgrundbesitzern und dem Großkapital fand nicht statt. Vielmehr wollte Franco den status quo erhalten, damit traf er die Interessen des Großgrundbesitzes. Im Fall des Großkapitals sind die Beziehungen sehr differenziert. Wie noch zu sehen sein wird, waren baskische und katalanische Industrielle z.B. mit Francos Politik durchaus unzufrieden. 24

Gesetz abgedruckt bei Neilessen, S. 153ff.

23

Programm abgedruckt bei Neilessen S. 163 in Spanisch.

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Caudillo nannte sich selbst einen strenggläubigen Katholiken.26 Die ideologische Allianz seines Regimes mit der katholischen Kirche wurde zu einem Pfeiler des nationalistischen Staates. Franco bezeichnete den Bürgerkrieg immer wieder als Kreuzzug (cruzada) der Rechtgläubigen gegen die Gottlosen.27 Am 29. Mai 1942 nannte er in einer Rede in Valladolid die drei „Wahrheiten" seiner Politik: die Prinzipien der Gesetze Gottes, der Dienst am Vaterland, das Gemeinwohl der Spanier.28 Das Angebot an die Kirche wurde von breiten Kreisen des Episkopats mit Freude aufgenommen. Die katholische Kirche stellte sich vorbehaltslos hinter Franco und verschaffte seinem Regime die gewünschte Legitimität. Bei allen Staatsfeiern waren hohe kirchliche Würdenträger anwesend und legitimierten durch ihre Anwesenheit den Akt. Großen Propagandaeffekt im In- und Ausland hatte das „Rundschreiben der spanischen Bischöfe an die Bischöfe der ganzen Welt über den Bürgerkrieg in Spanien". In der in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzten Broschüre nahm der spanische Episkopat für Franco Stellung und unterstützte dessen Politik. 29 1953 verhalf der Vatikan dem spanischen Regime zu einer weiteren Aufwertung. Dank massiver Zugeständnisse und Privilegien an den Heiligen Stuhl konnte Spanien den Abschluß eines Konkordates und damit die außenpolitische Anerkennung des Regimes feiern. Dies war auch für andere Staaten ein deutliches Signal, sich mit den bestehenden Verhältnissen in jenem Teil der Iberischen Halbinsel zu arrangieren. Die Einbindung - nicht deren Auflösung - sozialer und politischer Gruppierungen in das nationale Staatswesen hatte Konsequenzen für die Machtausübung. Alle Regierungen Francos gründeten auf einer fein abgestimmten ausbalancierten Machtverteilung zwischen den einzelnen Gruppen. In den Regierungen spiegelt sich jeweils die augenblickliche Machtkonstellation zwischen Falange, Monarchisten, Karlisten, Großkapital, Großgrundbesitz, Militärs und der Kirche. Ein homogener Parteiaufbau kann nicht nachgewiesen werden, da Franco im Gegensatz zu Hitler und Mussolini über keine eigens von ihm geformte Partei verfügte. Auch von seiner Persönlichkeit her war er kein Parteiführer, dem es hätte gelingen können, seine Anhänger mitzureißen. Schon wäh26

Bekanntestes Zeichen ist, daß er Münzen mit der Aufschrift por la Gracia de Dios Caudillo de Espana (von Gottes Gnaden Caudillo Spaniens, prägen ließ. 27

Vgl. dazu die Ansprache Francos aus Anlaß der Akkreditierung des Nuntius am 24. Juni 1938. Palabras del Caudillo 19 de abril de 1937 - 7 de diciembre de 1942, o. Hrsg., Madrid 1943, S. 5961. 23

Augustin del Rio Cisneros , Pensamiento politico de Franco: Antologia, Madrid 1964, S. 220.

29

Auch in Deutschland wegen seiner antikommunistischen Aussagen verbreitet.

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rend des Bürgerkrieges sind den Zeitgenossen das vorsichtige Lavieren des Caudillo und die „Defizite" in der ideologischen Ausrichtung des Regimes aufgefallen. Deutsche Botschafter, aber auch Journalisten, wunderten sich über die innenpolitischen Gegensätze und die mangelnde Ausrichtung der Wirtschaft auf die Kriegserfordernisse. Zusätzlich galt auf deutscher Seite die Kriegführung der Nationalen als übervorsichtig und unentschlossen.30 Unverständlich blieb vielen ausländischen Beobachtern, daß der vordergründig absolut regierende Diktator in ein komplexes Bündel von Abhängigkeiten einbezogen war. Das Grundgesetz der Arbeit (Fuero del Trabajo) vom 9. März 1938 ist vermutlich das wichtigste Gesetz des Bürgerkrieges. Über die täglichen Erfordernisse und die direkte Repressionsgesetzgebung hinaus, wies es in die Richtung, die Franco programmatisch einschlagen wollte. In einer ausführlichen Präambel werden die Gründe und Motive für die Inkraftsetzung des Gesetzeswerkes erläutert. Im ersten Satz heißt es: „In Erneuerung der katholischen Tradition" und als Reaktion auf den liberalen Kapitalismus und den marxistischen Materialismus sei dieses Gesetz erlassen worden. Franco schwebte wohl ein „dritter Weg" zur Organisation der Arbeitsbeziehungen vor, dabei wurde aber nicht direkt auf den Faschismus oder den Nationalsozialismus als Vorbilder verwiesen. Die Parallelen zur Arbeitsgesetzgebung in Deutschland oder Italien sind allerdings unübersehbar, wie auch schon in der zeitgenössischen deutschen Presse zu lesen war. 31 Als Ziele allen Handelns wurden im Gesetz Einheit, Freiheit, Größe, Vaterland, Brot und Gerechtigkeit angegeben. Die ganze Arbeitswelt sollte der Stärkung der Nation dienen. Unter den vielen nicht einklagbaren „weichen" Paragraphen, die letztlich nur schöne Absichtserklärungen waren, bleiben diese Aussagen übrig: 1. Der Lebensstandard der Arbeiter richtet sich nach den vorrangigen Interessen der Nation (111,3) 2. Die Einführung von Sozial- und Rentenversicherung sollen die Arbeiter umfassend finanziell absichern 3. Es werden vertikale Gewerkschaften (sindicatos) eingeführt, in denen alle Beschäftigten eines Dienstleistungs- oder Produktionszweiges organisiert sind. Diese Einheitsgewerkschaften stehen unter staatlicher Leitung; Führungspositionen können nur Mitglieder der Falange ausüben (XIII, 2,3,4).32 Damit hatte Franco das „Wohl" des Staates über alles gestellt und gleichzeitig sowohl die Interessenvertretungen der Arbeitgeber als auch die der Arbeitneh30 ADAP-D-m, S. 119f, 343ff. S. 557, Frankfurter Zeitung , 10. Juli 1937, S. lf. Die offizielle Version über die Ursachen des Bürgerkrieges lieferte für die Nationalsozialisten Joseph Goebbels, Die Wahrheit über Spanien: Rede auf dem Reichsparteitag 1937, München 1937. 31

Wiesbadener Tagblatt, 9. Juni 1939, S. 2. Frankfurter Zeitung, 24. Februar 1941, S. 2.

32 Deutsche Übersetzung bei Bernecker, Bürgerkrieg: Materialien und Quellen, Frankfurt/M. 1986, S. 162-171.

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mer aufgelöst. Zusätzlich kompensierte er den politischen Bedeutungsverlust der Falange, indem er ihr die Organisation und personelle Besetzung der Zwangsgewerkschaften übertrug, ohne daß der Staat die Kontrolle darüber aufgegeben hätte, denn Investitionen, Einstellungen, Entlassungen und der der Abschluß von Tarifverträgen bedurften der staatlichen Genehmigung. Mit Hilfe von 70.000 bis 80.000 Marokkanern, 40.000 Italienern, 5.000 Deutschen und großzügigen Materiallieferungen vor allem aus Italien und Deutschland gelang es Franco, den Krieg zu gewinnen. Die republikanische Regierung sah sich niemals in der Lage, die Schlagkraft ihrer Truppen schneller zu steigern als es bei den Nationalen geschah. Trotz aller qualitativen Verbesserungen im Ejército Popular waren die Nationalen immer besser ausgerüstet und besser geführt. Die Niederlage der republikanischen Regierung ergab sich aus der Unfähigkeit, eigene Ressourcen nicht optimal ausschöpfen zu können. Insgesamt war der Einfluß Italiens und Deutschlands in Spanien recht groß. Die Sympathien auf nationaler Seite ergaben sich aus der Intervention der deutschen Legion Condor und der italienischen CTV (Corpo di Truppe Volontarie). 33 Als Franco am 1. April 1939 in seinem letzten Heeresbericht lapidar verbreiten ließ la guerra ha terminado (der Krieg ist zu Ende),34 hatte sich Spanien gegenüber den Achsenmächten sowohl in eine außenpolitische als auch in eine wirtschaftliche Abhängigkeit begeben. Die siegreichen Nationalen waren durch den deutsch-spanischen Geheimvertrag zur gegenseitigen Konsultation vom 20. März 1937, durch das Kulturabkommen vom 24. Januar 1939, durch Spaniens Beitritt zum Antikominternpakt vom 27. März 1939 und durch den deutsch-spanischen Freundschaftsvertrag vom 31. März 1939 an das Reich gebunden.35 Darüber hinaus hatte die Regierung Franco Verbindlichkeiten in der Größenordnung von knapp 500 Millionen RM, die aus dem Kauf deutscher Waffen und dem Einsatz der Legion Condor herrührten. 36 Die Italiener stellten den Spaniern 5.000 Millionen Lire (250 Millionen US-Dollar) in Rechnung, die bis in die 60er Jahre abbezahlt wurden. Sie erwarteten darüber hinaus Entge33 Hans-Henning Abendroth, Hitler in der Spanischen Arena: Die deutsch-spanischen Beziehungen im Spannungsfeld der europäischen Interessenpolitik vom Ausbruch des Bürgerkrieges bis zum Ausbruch des Weltkrieges 1936-1939. Paderborn 1973. John F . Cover dale, Italian Intervention in Spanish Civil War, Princeton, Ν. J. 1975. 34

Partes de guerra, Bd. 1, S. 412.

35

ADAP-D-III, S. 219, S. 697ff, S. 750, S. 752ff.

36 ADAP-D-III, S. 763ff. Angel Viflas [u.a.], Politica comercial exterior en Espafla (1931-1972), 2 Bde, Madrid 1979, Bd. 1, S. 224.

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genkommen in der Frage der Beherrschung des Mittelmeeres.37 Zeitweise wurde sogar überlegt, auf den Balearen einen italienischen Stützpunkt einzurichten oder die Inseln an Italien abzutreten. Die Nähe des spanischen Staatswesens zu Faschismus und Nationalsozialismus zeigte sich auch äußerlich. Am 24. April 1937 hatte Franco den Gruß der Falange (erhobene rechte Hand bei ausgestreckten Arm) zum offiziellen Gruß des nationalen Staates erhoben. Er mußte bei offiziellen Anlässen und beim Spielen der Nationalhymne gezeigt werden.38 Die Falange organisierte Massenaufmärsche, die in Aufmachung und Regie den deutschen oder italienischen ähnelten. Aber trotz aller Sympathie gestalteten sich die deutsch-spanischen, spanisch-italienischen Beziehungen nicht immer harmonisch. Zum Beispiel sagte man Francos Schwager, Ramon Serrano Suner, von 1938 bis 1941 Innenbzw. auch Außenminister, immer wieder große Sympathien für die Achsenmächte nach. Doch Serrano Suner ein Vertreter der camisas nuevas (neue Hemden), die für einen kooperativistisches katholisches Staatswesen eintraten, störte der deutsche Antiklerikalismus. Der italienische Außenminister Graf Ciano schrieb in seinem Tagebuch, daß Serrano Suner über den mangelden deutschen „Takt" ungehalten gewesen sei.39 Andererseits ärgerten sich die Italiener über die unverholene Freude, die in breiten Kreisen des nationalen Spaniens ausbrach, als die republikanischen Truppen und Internationalen Brigaden dem italienischen Expeditionskorps im März 1937 bei Guadalajara eine empfindliche Niederlage beibrachten.40 Zu einem deutsch-spanischen Eklat war es ebenfalls während des Bürgerkrieges gekommen. Der deutsche Botschafter Wilhelm Faupel mußte nach massiver Einmischung in die Kriegführung und wegen der Unterstützung des Sozialrevolutionären Flügels der Falange auf Verlangen Francos abgelöst werden. Auch hatten mehrere deutsche Wirtschaftskommissionen durch harte Verhandlungsführung zur Sicherung ihrer Interessen in Spanien das probritische Lager in der Regierung Franco gestärkt. Zudem fürchteten viele Spanier den Ausverkauf ihres Landes an die Deutschen.41 Die spanische Regierung wurde zusätzlich durch die dilettantischen Vorbereitungen zum Besuch

37

Tamames, S. 250.

38

Neufassung am 25. Juli 1942. Keesing's Archiv der Gegenwart, 1942, S. 5587 c.

39

Galeazzo GrafCiano, Tagebücher 1939-1943, 2 Aufl. Bern 1947, S. 276.

40

John F. Coverdale, The Batde of Guadalajara, 8-22 March 1937, in: Journal of contemporary History, 9 (1974), S. 53-76. 41

Vgl. Abendroth, S. 11 Iff, 237ff. ADAP-D-III, S. 236.

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Görings in Spanien brüskiert. Dabei ging die deutsche Seite die Sache so ungeschickt an, daß der Besuch nicht zustande kam.42 Zunächst überdeckten aber der Kriegsausbruch und der für Deutschland anfänglich erfolgreiche Kriegsverlauf alle Zwistigkeiten. Die Niederlage Frankreichs und die daraus entstandene deutsch-spanische Grenze gäbe den Sympathisanten der Achse im Regime Franco neuen Auftrieb. Am 12. Juni 1940 ging die spanische Regierung sogar vom Status der Neutralität zur „Nichtkriegführung" über. Was darunter zu verstehen war, erläuterte Serrano Suner am 22. April 1942 dem Skandinavischen Telegrammbüro: „Es wäre für Spanien unmöglich gewesen, eine Neutralität in einem Kriege aufrechtzuerhalten, in dem auf der einen Seite die Länder kämpfen, die unsere Freunde sind, und auf der anderen Seite diejenigen Staaten, die sich als unsere Feinde gezeigt haben."43 Spanier und Deutsche dachten sogar an einen Kriegseintritt Spaniens auf Seiten der Achse, denn nach Beendigung des Frankreichfeldzuges und vor dem Überfall auf die Sowjetunion trachtete Hitler Großbritannien zu besiegen. Die Einnahme Gibraltars hätte ihm einen bedeutenden Achtungserfolg beschert. Obwohl die Planungen für eine Eroberung des Felsens vom spanischen Festland aus bereits fertig waren, und Serrano Suner in Berlin mehrfach Details für einen Kriegseintritt besprochen hatte, kam es nicht dazu.44 Dafür gab es verschiedene Gründe. Spanien kam der Weltkrieg denkbar ungelegen, da das Land durch den Bürgerkrieg wirtschaftlich weit zurückgeworfen worden war. 45 Es hätte massiver deutscher Unterstützung in allen Bereichen bedurft. Die Deutschen waren nicht bereit, Hilfe in dem von Spanien geforderten und wohl auch benötigten Umfang zu geben. Hinzu kam, daß Francos Forderung nach weiterem Kolonialbesitz in Nordafrika die deutsche Seite vor ein Dilemma stellte. Hitler befürchtete, daß im Falle einer Abtretung der nordafrikanischen französischen Kolonien an Spanien, diese sich vom Mutterland lossagen und geschlossen zu De Gaulle übergehen könnten. Britischer Kolonialbesitz stand aber nicht

42

ADAP-D-III, S. 780f. Klaus-Jörg Ruhl, Spanien im Zweiten Weltkrieg: Franco, die Falange und das „Dritte Reich", Hamburg 1975, S. 49ff. 43

Keesing's Archiv der Gegenwart, 1942, S. 5470 B.

44 Ausführlicher bei Donald S. Detwiler, Hitler, Franco und Gibraltar: Die Frage des spanischen Eintritts in den Zweiten Weltkrieg, Wiesbaden 1962. 45 1931 betrug das Bruttosozialprodukt 8000 Ptas pro Einwohner, 1940-46 nur noch 6000 Ptas. David Ruiz , La dictadura franquista, Oviedo 1978.

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als Kompensation zur Verfügung, so daß Francos Wunsch nicht entsprochen werden konnte.46 Mit Rücksicht auf die starke monarchistische Fraktion in der Regierung und vor allem in der Generalität, die mit Großbritannien sympathisierte, wollte sich Franco nicht zu einer Kriegserklärung an England entschließen. Zumal er wußte, daß die Wirtschaft fast vollständig auf die Lieferung von Erdölprodukten angewiesen war, die aus den USA oder über Großbritannien kamen. Auch das Gipfelgespräch zwischen Franco und Hitler am 23. Oktober 1940 brachte keine Wende in den deutsch-spanischen Beziehungen. Im Gegenteil, der deutsche Chefdolmetscher berichtet in seinen Memoiren, die beiden Diktatoren hätten sich gründlich mißverstanden. Ein Eklat sei nur mit Mühe verhindert worden.47 Enthusiasmus kam auf Spanischer Seite erst mit dem deutschen Überfall auf die UdSSR auf, denn das antikommunistische Spanien tat sich schwer, den Hitler-Stalin Pakt einzuordnen. Schon am 24. Juni 1941 meldete der Korrespondent des Völkischen Beobachters, daß für Spanien nun endlich die „Fronten geklärt" seien. Ähnlich berichtete Samuel Hoare, der britische Gesandte bei der Regierung Franco, von spontanen Sympathiekundgebungen für Deutschland unmittelbar nach dem Überfall. 48 Viele Spanier glaubten, daß der Krieg in der UdSSR sie direkt etwas angehe. Aus dem ganzen Land meldeten sich auf einen Aufruf hin Freiwillige, die als Soldaten der Division Azul (Blaue Division = Inf. Reg. 250) in den Krieg ziehen wollten. Dieser 18.000 Mann starke Verband kämpfte dann im Norden der deutschen Front unter anderem bei Leningrad. 49 Der Einfluß der Achse nahm aber in dem Maße ab, wie eine deutsche Niederlage wahrscheinlicher wurde. Im Herbst 1943 sah sich die spanische Regierung veranlaßt, einen neuen Kurs einzuschlagen. Einerseits nahmen die Pressionen der Alliierten auf Madrid zu, sich von der Achse zu trennen und die Blaue Division aus der UdSSR zurückzuholen. Andererseits gewann die probritische Fraktion in Spanien immer mehr an Bedeutung. Am 8. September 46

Akten zur deutschen Auswärtigen Politik 1918-45, Serie D 1937-1945, Bd. 11, Bonn 1964., siehe dort die wichtigsten Protokolle, Berichte und Vertragsentwürfe. 47

Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne 1923-1945: Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas, Bonn 1949, S. 500-503. 48

Völkischer Beobachter, 24. Juni 1941, S. 2. Samuel Hoare, Gesandter in besonderer Mission, Hamburg 1949, S. 180f. 49

Emilio Estaban-Inf antes, Blaue Division: Spaniens Freiwillige an der Ostfront, Leoni 1977; Raymond L. Proctor , Agony of a Neutral: Spanish-German Wartime Relations and the „Blue Division", Moscow, Idaho 1971.

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1943 verlangten die Generäle Orgaz, Kindelân, Dâvila, Solchaga, Moscardo, Salinquet und Varela schriftlich von Franco die Wiedereinführung der Monarchie.50 Auch wenn der Vorstoß ohne Erfolg blieb, so zeigte sich doch, daß die Zeit der mit Deutschland und damit mit einer totalitären Staatsform Sympathisierenden ablief. Diese Entwicklung hatte sich schon im Spätsommer 1942 angekündigt. Nach dem Attentat eines Falangisten auf die Feierlichkeiten der Karlisten am 16. August 1942 kam es zur Krise und Umstrukturierung in der Regierung Franco. Der bei der Feier anwesende, aber nicht verletzte Heeresminister Varela forderte massive Vergeltung. Diesem Druck beugte sich Franco und löste Serrano Sufier ab. Innenminister wurde der Karlist Blas Perez und Außenminister der dem Militär entstammende Conde de Jordana. Am 3. Oktober 1943 ging Spanien nun auch offiziell wieder zur Neutralität über und begann im Dezember mit dem Rückzug der Blauen Division. Nach der Niederlage Deutschlands und Italiens nahm Franco eine absolut opportunistische Position ein. Er leugenete rundheraus, jemals mit einem der beiden Staaten verbündet gewesen zu sein. In einem am 16. Juni 1945 veröffentlichten Interview mit einem Vertreter von United Press stellte Franco außerdem fest, daß sich die Falange niemals die Ziele des Nationalsozialismus oder des Faschismus zu eigen gemacht hätte.51 Alle Ausflüchte halfen aber letztlich wenig. Das Regime Franco wurde geächtet, obwohl sich einige Staaten - z. B. Großbritannien - intern gegen eine solche Ächtung ausgesprochen hatten.52 Nachdem sich alle Hoffnungen der Exilspanier auf eine Invasion von Frankreich aus, sei es mit französischen Truppen oder einer Guerillaarmee, nicht erfüllten hatten, kam es zu einer Isolierung des Regimes. Diese Entwicklung zeichnete sich schon auf der Potsdamer Konferenz ab. Die drei Mächte53 erklärten in ihrem Schlußdokument vom 2. August 1945, daß die spanische Regierung wegen ihrer Verwicklung mit der Achse nicht „die notwendigen Qualifikationen" zur Aufnahme in die Vereinten Nationen besäße.54 Diese Ver50 Abdruck bei Fernando Diaz-Plaja, La Espafla franquista en sus documentes, Barcelona 1976, S. 134f. 51

Keesing's Archiv der Gegenwart, 1945, S. 273 B.

32 Der britische Premierminister Atdee stand auf dem Standpunkt, daß es in Spanien keine Alternative zu Franco gebe und der Abbruch der Beziehungen „premature and unwise" wäre. Documents on British Policy Overseas, Serie I, Bd. 5, 11.8 - 31.12. 1945, London 1990, S. 485, Schreiben vom 21.12.1945. 53 34

Großbritannien, USA, UdSSR

Mitteilung über die Potsdamer Konferenz der drei Mächte, Dokumente zur Deutschlandpolitik, Hrsg. Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen, 2. Reihe, Bd. 1, Die Konferenz von Potsdam, Kriftel 1992, S. 2146.

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urteilung wurde in der Vollversammlung der Vereinten Nationen bestätigt. In einer Resolution vom 12. Dezember 1946 hieß es, daß das Franco-Regime gemäß „Ursprung, Natur, Struktur und allgemeinem Verhalten" ein „faschistisches Regime" sei. Alle Nationen sollten umgehend ihre Botschafter aus Spanien abberufen, was auch weitgehend geschah.55 Franco blieb keine andere Wahl, als auf die Monarchie als Staatsform und weiter auf den Katholizismus als ideologische Stütze zu setzen. Denn sein grundlegendes Problem war seine fehlende demokratische Legitimation, wie auch in dem Urteil der Vereinten Nationen angesprochen. Allerdings geschah das mit der Franco eigenen Vorsicht. Schon 1942 hatte er per Gesetz die neuen Cortes geschaffen, die nun den Hintergrund für die anstehenden Proklamationen abgaben. Das Einkammernparlament hatte die Funktion, Gesetze zu verabschieden, die allerdings vom Staatschef bestätigt werden mußten, um Gültigkeit zu erlangen. Die Mitglieder der Cortes waren vom Caudillo ernannt oder erhielten ihren Sitz dank einer anderweitigen Funktion, z. B. die Rektoren aller Universitäten waren Cortesmitglieder, wie auch die Bürgermeister der 50 wichtigsten spanischen Städte. In den Cortes wurde auch das Fuero de los Espanoles vorbereitet und von Franco im Juli 1945 dort verkündet. Es sollte das Grundgesetz aller Spanier werden und dem Regime die erhoffte Legitimation verschaffen. Die gesetzlichen Inhalte orientierten sich aber nach wie vor an autoritären Vorstellungen. So wurden alle Spanier gegenüber Vaterland und Staatschef zur Loyalität verpflichtet (Art. 2). Zwar durfte jeder Spanier seine Meinung frei äußern, aber nur solange er nicht die Fundamente des Staates in Frage stellte (Art. 12). Explizit bekannte sich hier der Gesetzgeber zum Katholizismus und ließ nur diesen Ritus, als den in der Öffentlichkeit erlaubten zu (Art. 6). 56 Eine unmittelbare Rückkehr zur Monarchie als Staatsform wurde insofern erschwert, als der legitime Thronfolger, Don Juan Graf von Barcelona, Sohn Alfons XIII, die direkte Konfrontation mit Franco suchte. In einem am 21. März 1945 veröffentlichten Brief an alle Spanier, der Aufsehen in ganz Europa erregte, wies Don Juan auf den totalitären Charakter des Regimes hin. Immer wieder habe er die Außen- und Innenpolitik Francos mißbilligt. Don Juan fuhr fort „Einzig die traditionelle Monarchie ist imstande, die Spanier wieder zu versöhnen und Frieden und Eintracht wiederherzustellen. Sie allein vermag auf der Grundlage eines wirklichen Rechtsstaates die Achtung der Welt zu gewin55 56

Keesing's Archiv der Gegenwart, 1946, S. 948 K.

Diaz-Plaja, S. 170. Übersetzung bei Walther L. Bernecker, Gewerkschaftsbewegung und Staatssyndikalismus in Spanien: Quellen und Materialien zu den Arbeitsbeziehungen 1936-1980, Frankfurt 1985.

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nen und eine harmonische Synthese zwischen Ordnung und Freiheit (...) herbeizuführen." 57 Erst am 31. März 1947 entschloß sich Franco, ein Gesetz über seine Nachfolge vorzulegen. Auch diesmal versah er das Dokument mit einer ausführlichen Präambel, die über die Motive des Gesetzgebers Auskunft gibt. Franco nennt einerseits die Gründe, die zur Verzögerung der Nachfolgeregelung geführt hätten: Krieg und Einmischungsversuche des Auslandes. Erst jetzt (1947) sei die Zeit für eine weitere institutionelle Vervollkomnung des Regimes gekommen. Aber auch dann hielt sich Franco alle Möglichkeiten offen, und vor allem gab er nichts von seiner Macht ab. Zwar hieß es im ersten Artikel des Gesetzes vielsagend, daß Spanien ein katholischer, sozialer Staat sei, der sich gemäß seiner Tradition als Königreich konstituiere. Direkte Auswirkungen hatte dies aber nicht, denn Franco behielt sich weiterhin die Funktion des Staatschefs vor. Ein König oder Nachfolger wurden nicht bestimmt. Franco fand sich lediglich dazu bereit, einen Reichsrat (Consejo del Reino) zu schaffen, der bei Ableben des Staatschefs, einen geeigneten Nachfolger „königlichen Geblüts" finden und den Cortes zur Bestätigung vorschlagen sollte. Auch hier blieb - wie im Fall der Cortes - die neugeschaffene Institution ohne direkte Machtbefugnis. Die Voraussetzungen für den späteren König oder Regenten wurden hingegen genau spezifiziert. Er mußte männlichen Geschlechts, mindestens 30 Jahre alt, Spanier und katholisch sein. Darüber hinaus war er gezwungen, auf die Grundgesetze des Staates zu schwören!58 In seinem ständigen Streben nach plebiszitärer Legitimierung ließ sich Franco dieses Gesetz per Volksabstimmung (87% Ja-Stimmen) bestätigen. Dabei wurde die Öffentlichkeit auch die ausländische - geschickt getäuscht. Denn es ging nicht - wie z. B. von United Press angenommen - um die Beibehaltung des bestehenden Regimes oder Errichtung einer Monarchie, sondern es blieb unabhängig vom Wahlausgang alles beim alten.59 Aber 1950 nahm die UNO ihre Sanktionen gegen Spanien zurück und das Land konnte 1951 der FAO und später der UNESCO beitreten.

57

Keesing's Archiv der Gegenwart, 1945, S. 148 B.

58 Diaz Plaja, S. 205-208, bes. 207. Übersetzung des Gesetzes bei Keesing's Archiv der Gegenwart, 1947, 1054 c. Zu den Grundgesetzen zählten: El Fuero de los Espafioles, El Fuero del Trabajo, La Ley Constitutiva de las Cortes, La Ley del Referendum Nacional, La Ley de Sucesion. Weiter verschärft durch die 12 Prinzipien der nationalen Bewegung zu denen sich Francos Nachfolger bekennen mußte. Aranzadi, Repetitorio Cronologico de Legislation, 1958, Pamplona 1958, S. 916. 59

Keesing's Archiv der Gegenwart, 1947, S. 111B.

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Um Franco außenpolitisch aufzuwerten, war diese vorgetäuschte Wandlung des Regimes aber bei weitem nicht so wichtig wie die Verschärfung des Kalten Krieges. Der Koreakrieg (1950-53) hatte gezeigt, daß die Rivalität beider Supermächte weiter an Schärfe zunehmen würde. Die Regierungen beider Blöcke glaubten, auf die Gewinnung von weiteren Verbündeten angewiesen zu sein. Und das Franco Regime empfahl sich durch seinen militanten Antikommunismus den USA. 60 Den Anfang einer dezidierten außenpolitischen Aufwertung machte der Vatikan. Wie schon erwähnt, kam es am 27. August 1953 zum Abschluß eines Konkordates zwischen Madrid und dem heiligen Stuhl. Im Grundsatz schrieb das Konkordat die Privilegien der katholischen Kirche (z.B. durfte nur der katholische Ritus öffentlich gezeigt werden) fest. Der eigentliche Wert des Konkordates lag im außenpolitischen Bereich. So konnte Franco die ablehnende Haltung vieler Staaten seinem Regime gegenüber weiter aufweichen. Etwas über einen Monat später erreichte er den Durchbruch. Mit den Vereinigten Staaten wurden „Angesichts der Gefahr, die die westliche Welt bedroht", wie es in der Präambel über den Bau und die Verwendung militärischer US-Stützpunkte in Spanien hieß, drei Verträge geschlossen. Die Regierung Franco verpflichtete sich, Militärstützpunkte gemeinsam mit dem Amerikanern zu betreiben. Dafür erhielt Spanien gemäß zwei weiteren Abkommen Wirtschafts- und Militärhilfe. 61 De facto hatte Franco mit den Verträgen vom 29. September 1953 und den später geschaffenen Basen (Torrejön bei Madrid, Morön bei Sevilla, Rota bei Cadiz, Sanjurjo-Valenzuela bei Zaragoza) exterritoriale Enklaven geschaffen. Die US-Truppen agierten weitgehend souverän auf den Militärgeländen. Selbst die Sationierung von Atomwaffen und deren Transport war den Amerikanern weitgehend freigestellt. 62 Franco hatte sich wieder einmal für eine pragmatische Politik entschieden und die von ihm immer wieder betonte Souveränität Spaniens außenpolitischer Ziele wegen geopfert. Der Fall zeigt aber auch, wie anerkennungsbedürftig das Franco-Regime war. Um fast jeden

60 Ζ. Β. das 1940 erlassene Gesetz Ley de Represiôn de la Masoneria y el Comunismo (Gesetz zur Unterdrückung des Freimaurertums und des Kommunismus) vom 1. März 1940. 61

Zahlen über die Höhe der Hilfeleistungen in Foreign Relations of the United States 1958-60, Bd. 7, 2 Western Europe, Washington 1993, Intelligence Report vom 7. August 1958, S. 715ff. 62

Am 17. Januar 1966 stürzte ein mit Kernwaffen bestücktes Flugzeug vom Typ B-52 bei Palomares in Südspanien ab. Atomare Sprengkörper platzten dabei auf. Keesing's Archiv der Gegenwart, 1966, 12361 A.

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Preis benötigte es außenpolitische Erfolge, 63 denn innenpolitisch hatte es wenig zu bieten. Die internationale Isolierung trug zunächst zu einer weiteren Verschärfung der Wirtschaftskrise bei. Die spanische Regierung versuchte, internationalen Boykottmaßnahmen und die Verknappung gewisser Wirtschaftsgüter durch inländische Produkte zu ersetzen. Mittels der 1941 gegründeten staatlichen Holding INI (Institute Nacional de Industriel) sollte Spanien industrialisiert und vom Weltmarkt unabhängiger werden. Das INI arbeitete unter anderem auf dem Gebiet der Düngemittelindustrie, der Schwerindustrie und des Fahrzeugbaus. Zwar nahm die Produktion auf diesen Gebieten zu, erkauft wurde dies aber mit hohen Investitionen, die über Schuldverschreibungen aufgebracht wurden und durch Produktionsmethoden, die nur bedingt dem Weltmarktniveau entsprachen. Das System der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft wurde durch die cambios multiples ergänzt. Der Staat bewirtschaftete alle Devisen und legte den Umtauschkurs in Pesetas je nach Art der importierten bzw. exportierten Waren fest. Dieses System erleichtete zwar die staatliche Kontrolle, minderte das unternehmerische Risiko, es nahm aber Händlern und Industriellen jeglichen Spielraum zur Erschließung neuer Märkte. Hinzu kam, daß Franco auf jeden Fall einen - wenn auch prekären Arbeitsfrieden - zu erhalten wünschte. Dazu sicherte sich der Staat, wie bereits erwähnt, das Monopol bei der Festsetzung der Arbeitslöhne. 1944 wurde den Arbeitgebern verordnet, Arbeiter nur bei „schweren Verfehlungen" kündigen zu dürfen. In der Praxis kam das einer Arbeitsplatzgarantie gleich. Im Ergebnis stand, daß die Unternehmen mit einer unterbezahlten Belegschaft überbesetzt waren. Dies hatte wiederum negative Auswirkungen auf Produktivität und Innovationsfreude. Zwar wurden sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer Risiken ausgeschlossen, dies wurde aber mit einem fortschreitenden Verlust an Produktivität bezahlt. Mit diesen dirigistischen Maßnahmen hatte sich der Staat Francos übernommen. Nach ansehnlichen Steigerungsraten des Bruttosozialproduktes der Jahre 1950 bis 52 (6, 18, 5 Prozent) kam es 1953 zum Einbruch (-2,1 Prozent). Die spanische Volkswirtschaft war nicht in der Lage, das notwendige Kapital für eine forcierte Industrialisierung bereitzustellen. Inflation und eine galoppierende negative Handelsbilanz waren die Folge. Für das Regime war die Situation insofern bedrohlich, als eine immer größere Zahl von Spaniern nicht mehr bereit war, sich mit der unzureichenden Wirtschaftsentwicklung abzufinden. Im Gegensatz zu den sprichwörtlichen afios de la hambre (Jahre des Hungers) in 63 Als endgültige Anerkennung Francos gilt die 1955 erfolgte Aufnahme Spaniens in die Vereinten Nationen.

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den 40er Jahren gingen viele Menschen in den 50ern auf die Straße und streikten. Eine Welle der Unzufriedenheit erreichte das Land, der Franco nur schwer Herr wurde. Schon im März 1951 äußerte sich die soziale Unzufriedenheit in einem Boykott öffentlicher Verkehrsmittel Barcelonas, der die Behörden zwang, die Anhebungen der Fahrpreise zurückzunehmen. Immer wieder kam es in den Folgejahren zu massiven Streiks, die auch nicht durch die Militärgerichte und ab 1963 durch das Tribunal de Orden Publico restlos zu unterbinden waren. Mitte der 50er Jahre zeichnete sich ab, daß Spaniens Wirtschaftssystem in der bestehenden Form nicht zu halten war, ohne die Herrschaft Francos langfristig zu gefährden. Zunächst war es schwer, Franco diese Einsicht zu vermitteln, da seine volkswirtschaftlichen Kenntnisse gering waren und ein neuer Kurs althergebrachte Vorstellungen, die sich am Wirtschafts- und Sozialprogramm der Falange aus den 30er Jahren orientierten, obsolet hätte werden lassen.64 Zwischen 1957 und 1959 vollzog sich aber ungeachtet aller Vorbehalte eine radikale Wende.65 Moderne volkswirtschaftliche Modelle wurden in Spanien zunächst an den Universitäten und in den volkswirtschaftlichen Abteilungen der Großbanken gelehrt und erörtert. Dabei galt der umfassende Wirtschaftsaufschwung in Westeuropa vielen Spezialisten als Vorbild, dem es nachzueifern galt. An die Spitze einer Erneuerungsbewegung traten jüngere Wirtschaftswissenschaftler. In einigen Fällen fühlten sie sich dem Opus Dei verpflichtet, waren Mitglieder oder standen dieser kirchlichen Laienorganisation nahe. Sie verband der Gedanke, gemäß den Vorgaben des Ordensgründers Josemaria Escriva de Balaguer, ein gutes, fleißiges und vorbildhaftes Werkzeug Gottes zu sein. Diese „Werkzeuge" sollten als „Hefeteig" die gesamte Gesellschaft befruchten. 66 In Spanien hatte das Opus etwa 24.000 Mitglieder, die sich jedoch stark auf akademisch gebildete Schichten konzentrierten. Der politische Durchbruch für das Opus Dei kündigte sich 1956 mit der Berufung Laureano Lopez Rodos zur Durchführung einer Verwaltungsreform in die Secretaria General Técnica de la Presidencia del Gobierno an. Neben einer Reform des öffentlichen Dienstes konnte 64 Programm übersetzt und abgedruckt bei Walther L. Bernecker, Gewerkschaftsbewegung und Staatssyndikalismus in Spanien, Frankfurt 1985, S. 35ff. 65 Für das folgende vgl. ausführlicher Ulrich Zelinsty, Spaniens wirtschaftspolitische Wende von 1959: Vorgeschichte, Determinanten, Durchsetzungsstrategie, in: Sozialer Wandel und Herrschaft im Spanien Francos, Hrsg. Peter Waldmann u.a., Paderborn 1984, S. 279-303. Siehe dort auch weiterführende Literatur. 66

Josemaria Escrivâ de Balaguer, Der Weg, Köln 1982, Aphorismus 76, 484, 62.

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Rodô auch personalpolitisch den Boden vorbereiten. In der Kabinettsumbildung vom Februar 1957 wurden zwei Minister ernannt, die Opus-Mitglieder waren. Alberto Ullares Calvo zeichnete für das Handelsministerium verantwortlich, Mariano Navarro Rubio wurde Finanzminister. Zu diesem Zeitpunkt waren die spanischen Devisenreserven auf ein historisches Tief gefallen, das Land stand kurz vor der Zahlungsunfähigkeit. Reformen taten also Not. In dieser Situation flammten die Differenzen zwischen Monarchisten und Falangisten um die zukünftige Wirtschaftspolitik wieder auf. Jetzt konnte sich aber die Opus-Lobby durchsetzen. Als Hilfe dienten das westeuropäische Modell, sowie Expertisen, die Weltbank, IWF und OEEC vorlegten. Alle Empfehlungen liefen auf eine Verringerung der direkten staatlichen Kontroll- und Lenkungsmechanismen und auf die Öffnung des spanischen Marktes hinaus. Dazu wurden die klassischen Rezepte liberaler Ökonomie angewandt. Gemäß dem Plan de Estabilizaciôn (Stabilisierungsplan) wurden Im- und Exporte liberalisiert, die Regierung hob die festen Umtauschkurse fur die Peseta auf und wertete die Währung ab. 1958 gab die Regierung in der Ley de Convenios Colectivos den Abschluß von Tarifverträgen frei. 67 Auch wenn die Reformen von 1958/59 das Land auf ökonomischem Gebiet nicht vollständig liberalisierten, so wurde doch die spanische Volkswirtschaft den europäischen Vorgaben angepaßt und entsprechend modernisiert. Dazu gehörte auch, daß es für die Arbeitgeber wieder deutlich einfacher wurde, Entlassungen vorzunehmen. Die Erfolge des Stabilisierungsplanes waren unverkennbar. Zwischen 1960 und 1972 wuchs die Wirtschaft um das 13fache. Hinter Japan und Brasilien verzeichnete Spanien die weltweit höchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten. Der Volkswirtschaft kam zugute, daß viele Europäer das Land als Urlaubsort entdeckten. Der Tourismus begann, erheblich zur Ausgleichung der spanischen Handelsbilanz beizutragen. Während 1955 1,5 Millionen Ausländer Spanien besuchten, waren es 1978 40 Millionen. 1974 betrugen die Einnahmen aus dem Tourismus 3 Milliarden US-Dollar. Eine weitere Erleichterung des Arbeitsmarktes verschaffte sich die Regierung Franco durch den Export von Arbeitskräften nach Europa. Zwischen 1960 und 1969 verließen 1,5 Millionen Menschen das Land. Die Überweisung ihrer Ersparnisse in die Heimat füllte zusätzlich die Devisenkasse der Regierung. Im Ergebnis heißt das, daß der Wirtschaftsaufschwung zu erheblichen Teilen vom Ausland finanziert wurde. Trotz des Booms gelang es der Regierung aber nicht, die krassen sozialen Unterschiede im Sozialgefüge Spaniens zu nivellieren. Im Gegenteil, die Schere zwischen dem unterentwickelten agrarisch geprägten Süden sowie Südwesten 67

Aranzadi, 1958, S. 543-546.

30 Timmermann / Gruner

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und dem industrialisierten Norden sowie Nordosten öffnete sich weiter. Eine enorme Binnenmigration war die Folge. Städte wie Barcelona, Madrid oder Bilbao wurden von Tagelöhnern aus dem Süden regelrecht überflutet. Die Neuankömmlinge wurden in billigen Wohnungen bei hoher Bevölkerungsverdichtung untergebracht. Die so in den 60er und 70er Jahren entstandenen Viertel und Trabantenstädte sind oft noch heute soziale Brennpunkte.68 Da eine direkte politische Auseiandersetzung mit dem Regime nicht möglich war, lassen sich die massiven Streiks der 60er Jahre neben finanziell motivierten Verteilungskämpfen auch auf die politische Unzufriedenheit vieler Spanier zurückführen. 69 Diesem Druck beugte sich das Regime und entschloß sich, die gesetzlichen Vorgaben im Bereich der Arbeitsbeziehungen zu reformieren. Die Wahlen zur Gewerkschaftsvertretung wurden liberalisiert und ab Mitte der 60er Jahre nach gleichem, freien und geheimen Wahlrecht durchgeführt. Die diskreditierten Kandidaten der Einheitsgewerkschaft erhielten entsprechend massive Niederlagen. Sogar einige Ausführungen im Strafgesetzbuch wurden modernisiert. So wurden 1965 „Arbeitskonflikte" legalisiert und nicht mehr als sedition (Aufstand) angesehen.70 Trotzdem schlug das Regime unerbittlich zu, wenn es seine Interessen in Gefahr sah. Beispielhaft läßt sich das an der Geschichte der Comisiones Obreras (CCOO) zeigen. Die ursprünglich Ende der 50er Jahre entstanden lockeren Kreise zur Erreichung bestimmter Ziele innerhalb eines Unternehmens verfestigten sich mit der Zeit, und aus einer tolerierten informellen Vereinigung entwickelte sich eine dauerhafte Interessenvertretung der Arbeiter, die kommunistischem Gedankengut nahestand. Als die CCOO 1967 den Sprung zu einer landesweiten Organisation machten, merkten die Vertreter des Regimes, daß sie sich verschätzt hätten. Die CCOO wurden verboten und ihre Mitglieder verfolgt. 71 Obwohl sich in den 60er Jahren Franco endgültig von faschistischen oder nationalsozialistischen Gesellschaftsmodellen abwandte, zeigt das Beispiel CCOO, daß die repressive Energie des Staates nach wie vor ungebrochen war. 1966 entschloß sich Franco, die Gesetzesgrundlagen seines Staates umfassend zu modernisieren. Die Ley Orgânica del Estado ließ sich Franco in einem Plebiszit mit 95,8% der abgegebenen Stimmen bestätigen. Am 10. Januar 1967 68 Vgl. John Nay on, Politisches Handeln und Stadtentwicklung in Franco-Spanien, in: Sozialer Wandel und Herrschaft im Spanien Francos, Hrsg. Peter Waldmann u.a., Paderborn 1984. 69 Zahlen bei Walther L. Bernecker, Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1993, S. 129f. 70

Bernecker, Arbeitsbewegung und Sozialkonflikte, S. 136.

71

Siehe Bernecker, Arbeiterbewegung und Sozialkonflikte.

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setzte er das Gesetz in Kraft. 72 Zur Erläuterung des neuen Gesetzesvorhabens argumentierte Franco diesmal nicht ideologisch. Er stellte weder die Gefahren des Kommunismus noch der Freimaurerei für Spanien heraus - beide blieben nach wie vor ein zentraler Bestandteil seines Denkens -, sondern er konzentrierte sich auf ein Thema, das bis zu seinem Tod das neue zentrale Argument bleiben sollte: der Frieden. Franco wurde nicht müde, hervorzuheben, daß er Spanien die längste Friedensphase seit langem beschert habe. Disziplin und Gerechtigkeit hätten die wirtschaftliche und soziale Entwicklung erst ermöglicht, hieß es weiterhin. Damit war er zu den ideologischen Ursprüngen seines Putsches zurückgekommen. Franco gab hier ein Bekenntnis einer klassischen, autoritär geführten Entwicklungsdiktatur ab. Er stand für die „Disziplinierung" der Spanier und damit für die Grundlagen des Wirtschaftswunders. 73 Entsprechend wurden als Annex zur Ley Orgânica auch andere Grundgesetze geändert und von ideologischem Ballast befreit. Z.B. wurde aus dem Fuero de los Espaüoles der Satz gestrichen, der Staat sei ein „totalitäres Instrument". Ebenso fiel die Passage weg, daß der nationalsyndikalistische Staat Kapitalismus und Kommunismus eine Absage erteile und nach einem weiteren Weg suche. Dabei achtete Franco aber peinlich genau darauf, daß ihm nichts von seiner umfassenden Macht verlustig ging. Auch wenn er in seinen Reden immer wieder die Schwere des Amtes beklagte und seine persönlichen Opfer herausstellte, so war er doch absolut davon überzeugt, daß nur er die Voraussetzungen für ein effizientes, funktionierendes Spanien böte. Daher auch sein Bestreben, alle wichtigen Angelegenheiten möglichst fest und unumstößlich geordnet zu hinterlassen. Franco benutzte 1969 den Ausdruck „festgezurrt" (atado y bien atado). 74 Aber erst in seinem 77. Lebensjahr - 1969 - entschied sich der Caudillo, einen Nachfolger zu benennen. Seine Wahl fiel auf den damals 31jährigen Juan Carlos, der aber schon von langer Hand zum „Thronfolger" aufgebaut worden war. Zwischen Don Juan und Franco wurde ein Abkommen getroffen, das vorsah, Juan Carlos in Spanien zu erziehen. So verbrachte der zukünftige König einen großen Teil seiner Jugend in Spanien und durchlief eine Ausbildung bei allen drei Waffengattungen der Streitkräfte. Franco konnte sich ausführlich von den Qualitäten seines möglichen Nachfolgers überzeugen und hoffte, ihn in 72

Text Gaceta de Madrid:

73

Keesing's Archiv der Gegenwart, 1966, Rede vom 14. Dezember, 1281 B.

Boletin Oficial del Estado, 9, 11 de enero de 1967, S. 466-477.

74 Mensaje al pleno extraordinario de las Cortes Espafiolas, 22 de julio de 1969, La sucesiôn Espanola: Proclamation del Principe de Espana, o. Hrsg. Madrid 1975, S. 23f.

30*

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seinem Sinne beeinflussen zu können.75 In seiner Rede vom 23. Juli 1969, in der er seine Ernennung zum nunmehr offiziellen Thronfolger akzeptierte, verwies Juan Carlos auf jene Themen, die auch für Franco immer wichtiger wurden. Juan Carlos versprach, die Grundgesetze des Staates zu befolgen und garantierte den Erhalt des Friedens, um weiterhin wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen.76 Mit Juan Carlos hatte sich Franco für die bourbonische Thronfolge entschieden, aber auch die Karlisten waren bereit, diesen Kandidaten zu akzeptieren. Wichtig für Spanien war eine internationale Anerkennung oder zumindest Tolerierung des Regimes, weil dadurch die wichtigen Wirtschaftsbeziehungen erleichtert wurden. Nach dem Abschluß des Abkommens mit den USA gestalteten sich die Beziehungen zu der einen Supermacht recht unkompliziert. Zu Lateinamerika herrschten traditionell gute Kontakte, mit Ausnahme Mexikos, das in der Franco-Regierung nach wie vor die Militärdiktatur eines Putschistengenerals sah. Franco bemühte sich um gute Beziehungen zu den Ländern der arabischen Welt. Dazu verwies er gern auf jahrhundertelange arabische Anwesenheit in Spanien.77 Ernsthafte außenpolitische Probleme gab es lediglich in der Gibraltar-Frage und im Beitritt Spaniens zur EWG. Die EWG lehnte alle Anträge Spaniens auf Mitgliedschaft mit Hinweis auf die fehlende demokratische Legitimierung Francos ab. Unabhängig davon versuchte Franco, Großbritannien zur Abtretung Gibraltars zu bewegen. Sogar die spanische Grenze nach Gibraltar wurde zeitweise hermetisch geschlossen und die Lieferung von Wasser und Strom eingestellt. Alle Bemühungen blieben ohne Erfolg. Allerdings ist zu vermuten, daß Franco seine Forderungen wohl wegen des inennpolitischen Propagandaeffektes initiiert haben dürfte, denn bei der Kolonialfrage in Afrika zeigte er sich äußerst pragmatisch. Erstaunlich ist, wie schnell die Regierung Franco Kolonialbesitz in Afrika aufgab. Schließlich hatte ja Franco einen bedeutenden Teil seines Lebens im Kampf um die Erhaltung dieses Kolonialbesitzes verbracht. 1956 schloß sich Spanien dem französischen Vorbild an und entließ seinen Teil Marokkos ebenfalls in die Unabhängigkeit. 1967 folgten Ifni und 68 Guinea Ecuatorial. Zwar kam es zu Spannungen, aber in keinem Fall zu einem Krieg. Spanien versuchte zwar, sich gewissen Einfluß in den neugegrün-

75

Jose Luis de Villalonga,

El Rey: Conversaciones con Don Juan Carlos I de Espana, Barcelona

1993. 76

La Sucesion Espafiola, S. 42.

77

Vom 8. bis zum 15. Jahrhundert.

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469

deten Staaten zu erhalten, als dies aber scheiterte, zog sich die Diplomatie des „Mutterlandes" zurück. 78 Mitte der 60er Jahre hatte sich die Reformbereitschaft des Regimes weitgehend erschöpft. Franco war es gelungen, die Legitimierung seines Staates neu zu begründen. Weitere Reformen waren kaum mehr möglich, ohne Francos Machtvollkommenheit zu gefährden. Einer wie auch immer gearteten Einschränkung dieser Macht stimmte Franco nicht zu. Damit ist das zentrale Problem der letzten Regierungsdekade angesprochen: Franco wollte nach wie vor selbst und umfassend regieren. Die positiven Wirtschaftsdaten bestärkten ihn in seiner Meinung, nur er sei der Garant weiteren Fortschritts. Tatsächlich milderte die positive Wirtschaftsentwicklung die sozialen Gegensätze, löste sie aber nicht auf. Nach wie vor waren die Agrarfrage und die Regionalfrage offen. Während es dem Regime gelang, auf dem Land dank der Landflucht das Potential der unterbeschäftigten Tagelöhner zu entschärfen, so versagte die Politik in der Regional- und der damit verbundenen Autonomiefrage vollständig. Katalanen und Basken hatten schon in den 30er Jahren Sonderrechte zur Wahrung ihrer Identität erhalten, die Franco noch während des Bürgerkrieges aufhob. Eine Fülle von Maßnahmen sollten in den 40er bis 60er Jahren jedes regionale Bewußtsein löschen. Als markantestes Beispiel gilt das Verbot der katalanischen und der baskischen Sprachen in Schulen und der Öffentlichkeit. Der katalanische Nationalismus brach sich zwar keinen so gewalttätigen Weg wie der baskische, es reichte aber aus, um eine breite Opposition gegen Franco zu mobilisieren. Dazu zählten in Katalonien auch jene Schichten, die als Gewinner des spanischen Wirtschaftswunders galten. Während die erste Generation dieser sozialen Aufsteiger sich oft mit Franco identifizieren konnte, so waren es vor allem die jungen, gut ausgebildeten Nachkommen, die Anfang der 70er Jahre gegen Franco aufbegehrten. An den Universitäten wurde zum Aufstand gegen den Dikatator aufgerufen. Der greise Caudillo verhärtete zudem die Fronten, indem er massiv die Opposition unterdrücken ließ. Die zaghafte Liberalisierung wurde Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre zurückgedrängt. Mit den Attentaten der im Baskenland gebildeten ETA (Euzkadi ta Azkatasuna - Baskenland und Freiheit) gewann auch die Opposition erstmals eine neue Dimension. Carrero Blanco, langjähriger Mitarbeiter Francos und sein Vertrauter, wurde am 20. Dezember 1973 prominentestes Opfer eines

78

Die Aufgabe der Sahara fällt 1975 in die Zeit der Agonie und des Tode Francos und stellt daher eine der ersten außenpolitischen Entscheidungen des Königs dar. Vgl. zur Außenpolitik auch Tamames S. 537ff.

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ET A-Attentates.79 Auch die Kirche zeigte sich unzufrieden mit ihrer engen Bindung an das Regime. In Teilen des Klerus glaubte man, daß die innere Erosion an Gläubigen auch auf die Identifikation der Kirche mit dem Franco Regime zurückzuführen sei. Mehr Distanz schien angebracht. Dieser Meinung war auch der heilige Stuhl, der sich darum bemühte, das Konkordat zu revidieren. 80 Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre nahm die Zahl der Arbeitskonflikte sprunghaft zu. Daß sich die Regierung nicht in der Lage sah, die damit verbundene Unruhe zu unterbinden, interpretierten viele Spanier als Schwäche. Franco war immer wieder bemüht, einen harten Kurs zu fahren. Im Dezember 1973 ließ er zehn Angeklagte der verbotenen CCOO wegen Streikvorbereitung zu Gefängnisstrafen von insgesamt 162 Jahren verurteilen. 81 Am 27. September 1975 ließ er fünf des Terrorismus angeklagte Personen erschießen. Franco weigerte sich trotz Interventionen aus ganz Europa, die Angeklagten zu Gefängnisstrafen zu begnadigen. Eine Welle der Empörung im europäischen Ausland war die Folge. Verschiedene Botschafter wurden „zu Konsultationen" aus Madrid abberufen. Am 1. Oktober holte sich Franco ein letzes Mal durch eine Massenveranstaltung akklamatorische Unterstützung. Vor vielen tausend Zuhörern hielt er seine letzte große öffentliche Rede, in der er die Einmischung des Auslandes verurteilte und seinen Kurs verteidigte. Den meisten Anwesenden dürfte klar gewesen sein, daß sich die Herrschaft des Caudillo seinem biologischen Ende näherte. Ein Anzeichen war, daß die Auseinandersetzungen innerhalb des Regimes wieder zunahmen. Es kam sogar zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Ministerpräsident Arias Navarro, dem Nachfolger Carrero Blancos, und orthodoxen falangistischen Kreisen. Arias trat öffentlich für eine moderate politische Öffnung ein und wurde deshalb in Arriba , der Zeitung der Falange, angegriffen. Er mußte daraufhin seinen Vorstoß wieder zurücknehmen. Ungeachtet dessen begannen sich, politische Parteien zu bilden, die offiziell zwar noch illegal waren, aber den Tag nach Francos Tod erwarteten. 82 Die Auflösung des Regimes wurde insofern noch beschleunigt, als Franco nach einem längeren Klinikaufenthalt und der Machtübergabe an Juan Carlos 79 Golpe mortal: Asesinato de Carrero Blanco y agonia del franquismo, Equipo de Investigation de El Pais, Madrid 1983. Juan Pablo Fusi, La reapariciôn de la conflictividad en la Espafia de los sesenta, in: Espafta bajo el Franquismo, Hrsg. Josep Fontana, Barcelona 1986, S. 160-169. 80

Tamames, S. 573ff.

81 Am 22. Mai 1975 wurden Streiks legalisiert. Der Wortlaut des Gesetzes spiegelt, wie schwer sich das Regime mit dieser Entscheidung tat. Gaceta de Madrid: Boletin oficial del estado, 1975, S. 11320-11322. 82

Tamames, S. 580ff.

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nochmals an die Spitze der Regierung zurückkehrte. Bald darauf mußte Franco aber wieder in die Klinik eingeliefert werden. Am 30. Oktober 1975 übernahm Juan Carlos wiederum die Regierungsgeschäfte. Franco starb am 20. November 1975 in Madrid. Sein Nachfolger sollte Francos Vorgaben bald ignorieren und Spanien auf den Weg in die Demokratie führen. 83 Betrachtet man die fast vier Jahrzehnte währende Herrschaft Francos, so fällt auf, daß er politisch wenig bewirkt hat. Als seine Leistung gilt, Spanien Wohlstand und Frieden gebracht zu haben. Dabei muß aber bedacht werden, daß Franco an die Macht zu bringen, mehreren 100.000 Menschen das Leben gekostet hat. Die Probleme des Landes (Landreform, Regionalfragen) wurden nicht gelöst. Die spanische Gesellschaft hatte lediglich eine - sie allerdings auch lähmende - Bedenkzeit erhalten, um zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Die Annäherung Francos an Faschismus oder Nationalsozialismus ging über eine gewisse Sympathie nicht hinaus.84 Während seiner Herrschaft blieb er weitgehend seiner Überlegung aus dem Bürgerkrieg treu, nämlich eine traditionelle Militärdiktatur auszuüben. Dabei mußte Franco immer auf die Interessen der wichtigsten „nationalen" Machtgruppen Rücksicht nehmen. Franco war kein Parteiführer, seine Macht gründete sich nicht auf politischen, sondern auf militärischen Rückhalt. Auch die totalitäre Ausrichtung des Regimes bewegte sich in engen Grenzen. Franco schränkte die politischen Freiheiten der Spanier stark ein. Die Ansätze der 40er Jahre durch Ideologie und Massenbewegung einen totalitären Staat zu errichten, wurden in den 50ern schnell wieder aufgegeben. Während Franco in den 40er Jahren eindeutig die Kontrolle über die Kommunikation und die Massenmedien sowie die der Exekutive hatte, so verzichtete er ab Ende den 50er Jahre auf die Kontrolle der Wirtschaft. Eine Ideologie mit umfassendem Anspruch zu entwickeln, war dem frankistischen Staat niemals gelungen, ebensowenig, wie eine zentralisierte, straff organisierte Massenbewegung aufzubauen. Das Franco-Regime kann daher wohl eher unter der Bezeichnung Diktatur als unter dem Begriff totalitärer Staat klassifiziert werden.

83 Siehe dazu Michael Antoni, Spanien auf dem Weg zur parlamentarischen Demokratie: Parteien, Wahlen, Verfassung und politische Entwicklung 1975 bis 1980, Frankfurt/M 1981. 84

C.

Vgl auch Francos Rede vom 8. Dezember 1942, Keesing's Archiv der Gegenwart, 1942, 5749

Das Regime von Vichy Ein europäischer Sonderfall autoritärer Herrschaft?

Von Roland Höhne

Das Regime von Vichy oder der „Etat Français", wie es von seinen Repräsentanten im Gegensatz zur „République française" offiziell genannt wurde, unterschied sich in vielerlei Hinsicht von den faschistischen und traditionalistischen Diktaturen Europas des 20. Jahrhunderts. Es entstand nicht durch die Machtergreifung einer antidemokratischen Massenbewegung wie das faschistische Regime Italiens oder den Sieg einer antirepublikanischen Bürgerkriegskoalition wie das frankistische Regime Spaniens, sondern durch eine legale Machtübertragung im Rahmen der republikanischen Ordnung. Sein Chef, Philippe Pétain, war kein Parteiführer wie Mussolini oder Putschist wie Franco, sondern ein pensionierter Marschall, der zeitlebens der Republik loyal gedient hatte und keiner Partei oder politischen Gruppierung angehörte. Er stützte sich nicht auf eine faschistische Massenbewegung oder einen antirepublikanischen Herrschaftsblock aus Armee, Kirche und Staatspartei, sondern auf eine parteiübergreifende Koalition politischer Kräfte, die von der antirepublikanischen Rechten bis weit in die republikanische Linke hinein reichte. Diese strebte die Errichtung eines autoritären Herrschaftssystems an, das auf einer Synthese antiliberaler, antidemokratischer und antikapitalistischer Vorstellungen beruhen und so eine Alternative sowohl zur parlamentarischen Demokratie der III. Republik als auch zur totalitären Diktatur des Dritten Reiches bilden sollte. Sie schuf jedoch ein Regime, das sich rasch radikalisierte und in Teilbereichen in seiner Schlußphase 1943/44 faschisierte. Allerdings entwickelte es sich nicht zu einem totalitären System wie das NS-Regime in Deutschland. In vergleichernder Sichtweise stellt sich daher die Frage, wie sich diese Entwicklung erklären und wie sich das Regime herrschaftstypologisch einordnen läßt. Bei der Suche nach einer Antwort auf diese doppelte Fragestellung gilt es, die wichtigsten Faktoren zu analysieren, welche die Entstehung und Entwicklung des Regimes bestimmten. Als am 10. Juli 1940 Marschall Pétain und seine

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Anhänger die Staatsführung übernahmen, war Frankreich infolge seiner militärischen Niederlage durch Waffenstillstandsverträge an Deutschland und Italien gebunden und zu gut drei Fünfteln von deutschen Truppen besetzt. Was wollte die französische Staatsführung unter diesen Umständen und wie frei war sie in ihren Entscheidungen? Welcher Zusammenhang bestand zwischen der Option für den Waffenstillstand und der Option für den Autoritarismus? Aufgrund des Waffenstillstandsvertrages mit Deutschland besaß der französische Staat zwar weiterhin die Regierungs- und Verwaltungshoheit über das gesamte französische Staatsterritorium, aber in den besetzten Gebieten war die französische Souveränität erheblich eingeschränkt und die französischen Behörden zur Zusammenarbeit mit der deutschen Militärverwaltung verpflichtet. Welche Auswirkungen hatte diese Abhängigkeit auf Struktur und Entwicklung des Regimes? Diese Frage stellt sich ebenfalls hinsichtlich der politischen, wirtschaftlichen, polizeilichen und militärischen Kollaboration mit dem Deutschen Reich. Wurde das Regime durch diese gleichgeschaltet, d.h. seine Herrschaftsstrukturen und seine Herrschaftspraxis denen der Besatzungsmacht angepaßt oder konnte der französische Staat im Gegenteil durch diese seine Souveränität in der unbesetzten Zone festigen und in der besetzten Zone erneuern? Da sich die Kollaboration während der zweiten Amtszeit Lavais (August 1942-August 1944) kontinuierlich verstärkte, gleichzeitig aber auch das Regime radikalisierte, unterscheiden einige Autoren zwischen einen gemäßigten „Vichy Pétains" und einem radikalen „Vichy Lavais".1 Ist diese Unterscheidung haltbar oder bildete das Regime vom Anfang bis zum Ende eine Einheit? Damit stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen internen und externen Faktoren, d.h. ergab sich die Radikalisierung des Regimes primär aus der inneren Dynamik des autoritären Herrschaftssystems oder primär aus der Kollaboration mit Deutschland, also aus externen Zwängen? Um diese Frage beantworten zu können, soll zunächst ein Überblick der Entstehung und Entwicklung des Regimes gegeben und dann seine Herrschaftsstrukturen, d.h. seine Institutionen und Organisationen untersucht werden. Zum Schluß erfolgt dann eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse sowie ein Versuch der herrschaftstypologischen Einordnung des Regimes.

1 Cf. Robert Aron, Histoire de Vichy, Paris 1954, ferner François-Georges Dreyfus , Histoire de Vichy, Paris 1990.

Das Regime von Vichy

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I . Genese des Regimes

Das Regime von Vichy entstand im Gefolge der militärischen Niederlage Frankreichs im Mai/Juni 1940. Diese löste eine akute politische Krise aus, die zum Zusammenbruch der III. Republik und zur Machtübertragung auf Marschall Pétain führte. Die Krise war die Folge eines schleichenden Erosionsprozesses der parlamentarischen Demokratie und ihrer gesellschaftlichen Grundlagen, der bereits während des Ersten Weltkrieges einsetzte, aber erst in den 30er Jahren seine unheilvolle Dynamik erlangte. Er führte zur Auflösung der „republikanischen Synthese" aus Republikanismus, Kapitalismus und Patriotismus, auf der die III. Republik beruhte.2 Träger dieser republikanischen Synthese war ein Herrschaftsbündnis zwischen den konservativen Liberalen und den liberalen Demokraten (Radicaux), das sich auf die bürgerlich-bäuerlichen Mittelschichten und die liberale Bourgeoisie stützte. Sein Zerfall bewirkte Mitte der 30er Jahre eine Polarisierung der politischen und sozialen Kräfte, die Frankreich in zwei Blöcke teilte. Auf der Linken schlossen sich die Kommunisten, Sozialisten und liberalen Demokraten in der Volksfront zusammen, auf der Rechten bildeten die Nationalisten, die Konservativen und die Liberalen ein Wahlkartell. Der liberal-demokratischen Mitte gelang zwar in den Jahren 1938-1940 unter der Führung von Edouard Daladier noch einmal kurzfristig die Stabilisierung des parlamentarischen Systems,3 aber im Sommer 1940 brach dieses unter dem Schock der Niederlage endgültig zusammen. Dadurch entstand ein Machtvakuum, das zunächst durch eine breite Koalition aus Vertretern fast aller politischen Lager gefüllt wurde, die den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes und die Schaffung einer neuen Verfassung anstrebten. Ausgeschlossen von dieser Koalition waren lediglich die erklärten Gegner eines Waffenstillstandes unter der Führung des Rechtsliberalen Georges Mandel, die Repräsentanten der beiden letzten Regierungen der III. Republik (Edouard Daladier, Paul Raynaud) und der Volksfront (Léon Blum, Jean Zay), die unmittelbar für den Krieg und die Niederlage verantwortlich gemacht wurden, sowie die Kommunisten, die bereits am 26. September 1939 durch die Regierung Daladier wegen ihrer Verurteilung des Krieges verboten worden waren. Die Befürworter eines Waffenstillstandes erzwangen am 16. Juni 1940 die Berufung vom Marschall Pétain zum Regierungschef. Dieser war weder ein Revolutionär wie Mussolini noch ein Parteiführer wie Hitler, sondern ein Soldat wie Franco. Er stammte aus einem bürgerlich-bäuerlichen Milieu und verbrachte sein gesamtes Berufsleben 2

Cf. Stanley Hoffmann,

A la recherche de la France, Paris 1963.

3 Cf. René RémondlJanine Bourdin (Hrsg.), Edouard Daladier, Chef de gouvernement, Paris 1977.

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in der Armee. Seinen militärischen Ruhm, auf dem seine moralische Autorität beruhte, gewann er im Ersten Weltkrieg als Befehlshaber der französischen Truppen in der Schlacht von Verdun. Trotz seines großen Prestiges engagierte er sich nach dem Kriege nicht in der Politik. Er war zwar Mitglied des Nationalen Verteidigungsrates, gehörte aber lediglich im Frühjahr 1934 der kurzlebigen nationalen Unionsregierung von Gaston Doumergue als Kriegsminister an und vertrat Frankreich 1939 nach dem Ende des spanischen Bürgerkrieges als Botschafter in Spanien. In den Augen der Öffentlichkeit war er daher auch nicht mit dem politischen Ränkespiel der III. Republik belastet und trug so keine Mitverantwortung für den französischen Machtverlust. Nach dem Beginn der deutschen Westoffensive am 10. Mai 1940 berief ihn Paul Reynaud als Verteidigungsminister in seine Regierung, um so deren Rückhalt in der Bevölkerung zu stärken. Pétain gelangte unter dem Eindruck der militärischen Rückschläge jedoch rasch zu der Überzeugung, daß der Krieg verloren sei und daher schnell beendet werden müsse. Zwei Tage nach seiner Ernennung zum Regierungschef ersuchte er Deutschland am 18. Juni um einen Waffenstillstand, der am 22. Juni in Rethondes geschlossen wurde und am 25. Juni in Kraft trat, nachdem Frankreich am 24. Juni auch einen Waffenstillstand mit Italien unterzeichnet hatte. 1. Die Option ßr den Waffenstillstand Der Entschluß für den Abschluß des Waffenstillstandes erfolgte sowohl aus militärischen als auch aus politischen Gründen. Die neue Staatsführung sowie die große Mehrheit der Parlamentarier und Militärs waren überzeugt, daß eine Fortführung des Krieges von Nordafrika aus nicht möglich sei, weil dort dafür die nötigen wirtschaftlichen und militärischen Voraussetzungen fehlten, wie etwa starke Streitkräfte und eine Rüstungsindustrie. Auf britische oder gar auf amerikanische Hilfe sei in absehbarer Zeit nicht zu hoffen. Es sei daher für Deutschland ein leichtes, Nordafrika zu besetzen.4 Im Gegensatz zu zahlreichen Parlamentariern wollten Pétain und seine Anhänger den Waffenstillstand aber auch aus politischen Gründen. Da sie für die Niederlage nicht militärische, sondern politische und moralische Faktoren verantwortlich machten, waren sie fest davon überzeugt, daß die innere Erneuerung Frankreichs die unabdingbare Voraussetzung für seinen äußeren Wiederaufstieg, ja für sein Überleben als Staat und Nation bildete. Eine innere, d.h. politische, soziale und moralische Erneuerung könne aber nur durch einen starken, d.h. autoritären Staat erfol4 Cf. François-Georges Dreyfus , op. cit., S. 16Iff.; Yves Durand , La France dans la Deuxième guerre mondiale 1939-1945, Paris 1993, S. 25ff.

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gen. Dessen Aufbau war daher für sie vorrangig. Die Bedingung für eine grundlegende Staatsreform bildete jedoch die Handlungsfähigkeit des Staates. Unter den gegebenen Umständen, d.h. der militärischen Niederlage und der Besetzung von etwa drei Fünfteln des nationalen Territoriums, könne diese nur durch einen Waffenstillstand, d.h. durch eine Vereinbarung zwischen dem französischen und deutschen Staat, gewahrt werden. Eine Kapitulation der französischen Streitkräfte im Mutterland, wie sie Georges Mandel und eine Minderheit der Parlamentarier forderte, würde dagegen zu ihrem Verlust führen, da sie die Besetzung des gesamten Landes durch deutsche (und italienische) Truppen zur Folge hätte. Sie sei daher nicht nur militärisch, sondern auch politisch ein schwerer Fehler.5 Der Waffenstillstandsvertrag wurde zur rechtlichen Grundlage der deutschfranzösischen Beziehungen in den kommenden vier Jahren. Er verpflichtete Frankreich, aus dem Krieg auszuscheiden und abzurüsten. Es mußte seine Streitkräfte demobilisieren, erhielt jedoch das Recht, eine Berufsarmee von 100 000 Mann aufzubauen. Ferner behielt es die Kontrolle über seine Flotte und seine Kolonien. In den Kolonien durfte es Streitkräfte zur Wahrung der inneren Ordnung unterhalten. Drei Fünftel des Mutterlandes wurden von deutschen Truppen „zur Sicherung der Interessen des Reiches" besetzt. Dadurch wurde Frankreich in eine besetzte Nordzone und eine unbesetzte Südzone geteilt. Die Demarkationslinie zwischen beiden Zonen folgte im allgemeinen den Grenzen der Departements, durchschnitt jedoch einige von ihnen, was zu erheblichen administrativen und wirtschaftlichen Problemen führte, da Deutschland die Demarkationslinie zu einer innerstaatlichen Grenze ausbaute. Frankreich behielt die Regierungs- und Verwaltungssouveränität über sein gesamtes Territorium, diese wurde jedoch durch die deutschen (und italienischen) Besatzungsrechte erheblich eingeschränkt.6 So war die französische Regierung verpflichtet, die Anordnungen der deutschen Militärbehörden zu unterstützen und mit Hilfe der französischen Verwaltung durchzuführen. Deutschland benutzte das besetzte Gebiet, insbesondere die Kanal- und Atlantikküste sowie ihr Hinterland, als Basis für die Kriegsführung gegen England. Frankreich blieb damit Kriegsschauplatz, was u.a. zur Bombardierung französischer Hafen- und Industrieanlagen, teilweise aber auch französischer Wohngebiete durch alliierte Flugzeuge führen sollte. Der Waffenstillstands vertrag galt für das Mutterland und das gesamte Kolonialreich. Er sollte bis zum Abschluß des Friedensver5 Cf. Marco Ferro, Pétain, Paris 1987, S. 7ff.; Jean-Baptiste Duroselle, L'abîme, Paris 1983, S. 159ff. 6 Cf. Marc Olivier Baruch , Servir l'Etat Français. L'administration en France de 1940 à 1944, Paris 1997, S. 65ff.

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träges in Kraft bleiben, konnte jedoch von Deutschland jederzeit mit sofortiger Wirkung einseitig aufgekündigt werden, wenn die französische Regierung die von ihr vertraglich übernommenen Verpflichtungen nicht erfüllen sollte. In diesem Falle würde der Kriegszustand sofort wieder eintreten. Frankreich wäre dann jedoch zur Kriegsführung kaum in der Lage gewesen, weil es nur noch über 100 000 Mann im Mutterland sowie über die Kolonialtruppen in Nordafrika verfügte, die sich gegen Deutschland nicht einsetzen ließen. Die französische Regierung konnte ihrerseits den Vertrag nicht kündigen. Dieser begründete somit sowohl militärisch als auch rechtlich ungleiche Verhältnisse zwischen beiden Ländern.7 Deutschland erhielt durch den Waffenstillstandsvertrag starke Druckmittel gegenüber der französischen Regierung. Es kontrollierte den größten und reichsten Teil Frankreichs und konnte durch eine Sperrung der Demarkationslinie die unbesetzte Zone von den Ressourcen der besetzten Zone abschneiden, auf die diese zum Überleben angewiesen war. Ebenso konnten deutsche Truppen nach einer möglichen Aufkündigung des Waffenstillstands das restliche Frankreich besetzen und so seine Souveränität völlig beseitigen. Ferner hielt Deutschland rund 1,8 Millionen Kriegsgefangene als Geiseln in Gewahrsam, die erst nach Abschluß eines Friedensvertrags in ihre Heimat zurückkehren durften. Hitler benutzte diese Druckmittel jedoch zunächst nicht, um direkt in innerfranzösische Angelegenheiten zu intervenieren. Er war vor allem an einer handlungsfähigen französischen Regierung interessiert, die die Durchführung des Waffenstillstands Vertrages garantieren konnte. Die Staats- und Regierungsform Frankreichs interessierte ihn nicht. Die staatliche Neuordnung Frankreichs erfolgte so ohne direkte deutsche Intervention.8 2. Die Option für den Autoritarismus Unter dem Schock der Niederlage übertrug am 10. Juli 1940 das französische Parlament im unbesetzten Vichy, wohin es über Bordeaux geflüchtet war, mit überwältigender Mehrheit von 589 zu 80 Stimmen bei 17 Enthaltungen auf die Regierung Pétain alle Vollmachten, durch Verfassungsakte eine neue Verfas-

7 Cf. Hermann Böhme, Der deutsch-französische Waffenstillstand im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 1966, S. 48ff. 8 Cf. Eberhard Jäckel, Frankreich in Hiders Europa, Stuttgart 1966, S. 85ff.; Hermann Böhme, op. cit., S. 24Iff.

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sung zu schaffen. 9 Pétain nutzte diese Vollmachten, um durch mehrere Verfassungsakte seine Herrschaft rechtlich abzusichern. Die Verfassungsakte sollten solange in Kraft bleiben, bis sie durch eine neue Verfassung abgelöst würden. Das Regime ließ auch eine neue Verfassung ausarbeiten,10 aber diese trat nie in Kraft. Es besaß daher keine eigene Verfassungsordnung, die von der Nation oder einer parlamentarischen Versammlung ratifiziert worden wäre. Wohl aber verliehen ihm die Verfassungsakte eine Scheinlegalität, die seine Akzeptanz durch die Bevölkerung, insbesondere durch die Staatsdiener, wesentlich erleichterte. Die Verfassungsakte vom 11. Juli 1940 schufen ein autoritäres Herrschaftssystem ohne Gewaltenteilung, in dem sich die gesamte Staatsmacht an der Staatsspitze konzentrierte. Pétain wurde sowohl Staats- als auch Regierungschef mit dem Recht, die Minister zu ernennen und zu entlassen, Gesetze im Ministerrat zu verabschieden und auch für ihre Ausführung zu sorgen sowie alle höheren zivilen und militärischen Beamten zu ernennen und abzuberufen. Lediglich für die Kriegserklärung bedurfte er der Zustimmung des Parlaments. Aber diese verfassungsrechtliche Beschränkung seiner Kompetenzen war ohne große Bedeutung, da das Parlament sine die vertagt wurde und damit nicht handlungsfähig war. 11 Einige Zeit später erhielt er auch das Recht, Minister, Würdenträger und hohe Beamte wegen Verletzung ihrer Dienstpflichten rückwirkend ohne Gerichtsurteil mit Festungshaft zu bestrafen. Er besaß damit mehr verfassungsrechtliche Macht als die Könige der absoluten Monarchie. Pétain stützte sich im Sommer 1940 auf eine breite Koalition politischer Kräfte, der Repräsentanten fast aller Parteien und Gruppierungen mit Ausnahme der Kommunisten angehörten. Zusammengehalten wurde diese heterogene Koalition lediglich durch ihre Ablehnung des Parlamentarismus und des Kommunismus sowie ihren Willen, unter der Führung des Marschalls die Folgen der Niederlage zu überwinden und eine neue Ordnung aufzubauen. Sie besaß jedoch keine gemeinsamen Vorstellungen über Form und Inhalt der zu schaffenden Ordnung sowie über den Kurs der künftigen Außenpolitik. Es kam daher schon in der Gründungsphase zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der neuen Herrschaftskoalition.

9

Cf. den Text des Verfassungsgesetzes im Journal Officiel, 11. Juli 1940, S. 4513, abgedruckt in: René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement de Vichy 1940-1942, Paris 1972, Annexes, S. 313. 10

Cf. François-Georges Dreyfus , op. cit., Annexe, S. 738ff.

11 Cf. Acte constitutionnel Nr. 1, 2 und 3 vom 11. Juli 1940, in: Journal Officiel, 12. Juli 1940, S. 4517/18, abgedruckt in: René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement.., op. cit., S. 313ff.

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In ihr dominierten im Sommer 1940 die Traditionalisten und Konservativen. Die Traditionalisten standen in der Zwischenkriegszeit außerhalb des parlamentarischen Systems und waren deshalb auch von der Macht ausgeschlossen, die Konservativen hatten sich dagegen in das parlamentarische System integriert und sich an Regierungen der rechten Mitte beteiligt. Erst nach dem Wahlsieg der Volksfront im Sommer 1936 verbündete sich ein Teil der Konservativen mit den Traditionalisten, wahrte jedoch seine Eigenständigkeit. Auch der Rechtsblock innerhalb der neuen Herrschaftskoalition bildete somit weder weltanschaulich noch politisch eine Einheit. Die Traditionalisten vertraten antidemokratische und antiliberale Ideen, die als Reaktion auf die Aufklärung, die Französische Revolution, die Liberalisierung, Säkularisierung, Urbanisierung und Industrialisierung der französischen Gesellschaft entstanden waren. Sie machten den Intellektualismus, Individualismus, Egalitarismus, Hedonismus, Liberalismus, Parlamentarismus, Zentralismus und Kapitalismus für den moralischen, sozialen und politischen Niedergang Frankreichs und damit für die Niederlage von 1940 verantwortlich und wollten diese durch eine Rückbesinnung auf traditionelle Werte überwinden. Sie wollten ein neues Frankreich nach dem Modell des vorrevolutionären, vorindustriellen Frankreichs schaffen, d.h. einer hierarchisch strukturierten, katholisch fundierten Agrargesellschaft mit vordemokratischen Strukturen, deren Grundlage die „natürlichen Gemeinschaften" - Familie, Beruf, Gemeinde, Region - bilden sollten. Den sozialen Frieden und den wirtschaftlichen Wohlstand wollten sie durch berufsständische Organisationen, die Korporationen, sichern, in denen die einzelnen Berufsgruppen ihre Interessengegensätze konsensuell überwinden sollten. Ein starker Staat sollte über das Gemeinwohl wachen, sich jedoch nicht in die inneren Angelegenheiten der Korporationen bzw. der „natürlichen Gemeinschaften" einmischen. Die Traditionalisten waren somit antidemokratisch und antiliberal, aber nicht etatistisch oder gar totalitär. Den organisatorischen Kern der Traditionalisten bildete die Liga „Action française". Ihr Gründer und Leiter, Charles Maurras, betrachtete die Niederlage von 1940 als eine „göttliche Überraschung", 12 welche die einmalige Chance bot, die Folgen der Aufklärung und der Französischen Revolution zu überwinden. Er unterstützte deshalb Pétain, spielte aber im Regime kaum eine Rolle. Sein geistiger Einfluß auf das neue Führungspersonal in Regierung, Armee, Diplomatie, Verwaltung war jedoch besonders in der Anfangsphase des Regimes beträchtlich und prägte in hohem Maße den öffentlichen Diskurs. So las z.B. Pétain regelmäßig die Tageszeitung der Action Française und berief im 12

Cf. Eugen Weber, L'Action française, Paris 1964, S. 490.

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Juli 1940 Traditionalisten in Führungspositionen, so seinen Mentor Raphaël Alibert zum Justizminister, Henri de Moulin de Labarthète zum Leiter seines Zivilkabinetts und René Gillouin zu seinem persönlichen Berater. Die verschiedenen konservativ-katholischen und national-konservativen Gruppierungen teilten weitgehend die Grundüberzeugungen der Traditionalisten, zogen aus ihnen jedoch nicht die gleichen politischen Konsequenzen. Das galt ganz besonders für die Katholiken. Sie hatten auf Drängen der Kurie im ausgehenden 19. Jahrhundert die Republik akzeptiert {ralliement) und einen Ausgleich mit dem laizistischen Staat angestrebt, um innerhalb der etablierten Ordnung die katholischen Interessen mit parlamentarischen Mitteln vertreten zu können. Sie bekämpften zwar weiterhin den republikanischen Laizismus, unterstützten in der Zwischenkriegszeit jedoch die liberal-demokratische Mitte. Im Sommer 1940 begrüßten sie den Regimewechsel in der Hoffnung, daß Pétain und seine Anhänger die katholischen Werte restaurieren würden, verteidigten aber auch gegenüber dem neuen Staat den Primat des Geistigen gegenüber dem Weltlichen, so vor allem in der Erziehungs- und Jugendpolitik. Die daraus resultierenden Konflikte mit den Etatisten verhinderten eine ähnliche Synthese zwischen Staat und Kirche wie im Nationalkatholizismus des Frankismus. Eine Sonderstellung im konservativ-traditionalistischen Lager nahmen die autoritären Nationalisten und neokonservative Intellektuelle, die sogenannten „Non-Konformisten der dreißiger Jahre", ein. Die autoritären Nationalisten teilten weitgehend das konservativ-christliche Wertesystem der Traditionalisten, orientierten sich in ihren Staatsvorstellungen jedoch an der Armee sowie am napoleonischen Etatismus. Im Gegensatz zu den Traditionalisten wollten sie Frankreich modernisieren und befürworteten eine aktive Rolle des Staates im Modernisierungsprozeß. Ihre wichtigste Organisation, die Parti Social Français, die 1936 aus der nationalistischen Liga Croix de Feu hervorgegangen war, begrüßte im Sommer 1940 den Regimewechsel und nannte sich in Progrès Social Français um, um ihre Distanz gegenüber den politischen Parteien zu demonstrieren. Der Vorsitzende der PSF, Oberst de La Rocque, unterstützte Pétain und trat auch 1941 dessen Zivilkabinett als Sonderbeauftragter bei, lehnte aber eine Fusion der PSF mit der Legion, der politischen Massenorganisation des Regimes, ab.13 Die autoritären Nationalisten spielten daher innerhalb des Regimes nur als Individuen bzw. als politisch-weltanschauliche Gruppe, nicht als organisierte Kraft eine Rolle.

13

Cf. Jacques Nobécourt , Le colonel de la Rocque ou les Pièges du nationalisme chrétien, Paris

1996. 31 Timmermann / Gruner

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Die nichtkonformistischen Rechtsintellektuellen bemühten sich seit den 30er Jahren um eine Erneuerung des traditionellen Gedankengutes der konservativen Rechten. Ähnlich wie die „konservativen Revolutionäre" in Deutschland suchten sie einen „dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Kommunismus durch die Verbindung konservativer, nationaler, sozialer und technokratischer Vorstellungen. Sie übten einen beachtlichen intellektuellen Einfluß aus, besaßen jedoch keine eigenen politischen Organisationen.14 Trotz ihrer zahlreichen ideologischen, weltanschaulichen, politischen und personellen Gegensätze bildeten die Traditionalisten, Nationalisten, Konservativen und Non-Konformisten im Sommer 1940 einen Block, der sich deutlich von den übrigen Gruppen und Grüppchen der neuen Herrschaftskoalition unterschied. Innerhalb dieses Blockes besaßen bis zum Frühjahr 1941 die Traditionalisten die ideologische Hegemonie, weshalb sie den offiziellen Diskurs des Regimes, insbesondere den Pétains, stark beeinflußten. Die eigentliche Macht lag jedoch in den Händen der Nationalisten und Konservativen, teilweise auch in den Händen von Liberalen und Sozialisten. Von einer Herrschaft der Traditionalisten während der ersten Phase des Vichy-Regimes (Juli - Dezember 1940) läßt sich daher nicht sprechen.15 Die wichtigsten Verbündeten des konservativen Blocks bildeten Liberale und Technokraten. Die Liberalen waren zwar im Führungspersonal des Regimes nur schwach vertreten (P.E. Flandin kurzzeitig als Außenminister, Joseph Barthélémy als Justizminister 1941-1943, Lucien Romier als Staatsminister und persönlicher Berater Pétains 1941-1943), aber sie spielten trotzdem eine wichtige Rolle, da sie über gute Verbindungen zu Wirtschaft, Universität, Presse, Bürokratie und lokalen Eliten verfügten. Sie unterstützten das Regime, weil sie sich von ihm einen Schutz der bürgerlichen Ordnung vor Anarchie und Kommunismus erhofften. Wie einst die Orleanisten der Juli-Monarchie bejahten sie einen starken, autoritären Staat, wenn er von bürgerlichen Eliten regiert und von parlamentarischen Versammlungen kontrolliert würde, lehnten jedoch eine staatliche Kontrolle der Wirtschaft sowie eine Beseitigung der Rechtsstaatlichkeit ab. Sie gerieten daher bald in Konflikt mit den Technokraten sowie später mit der Miliz. Ihre wichtigsten Vertreter zogen sich ab 1943 aus dem Regime zurück bzw. wurden aus diesem herausgedrängt.16

14

Cf. Jean-Louis Loubet del Bay le, Les non-conformistes des années 30, Paris 1969.

15

Cf. François-Georges Dreyfus , op. cit., S. 201ff.

16

Cf. Joseph Barthélémy , Ministre de la Justice, Vichy 1941-1943, Mémoires, Paris 1989.

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Die Gruppe der Technokraten bestand aus hohen Beamten, Wirtschaftsmanagern und Absolventen der Eliteschulen (vor allem der Ecole Polytechnique). Sie standen weltanschaulich den Konservativen und Liberalen, teilweise den Nationalisten nahe, unterschieden sich jedoch grundlegend von diesen durch ihren Modernismus. Sie schlossen sich dem Regime an, weil sie hofften, mit seiner Hilfe die von der alten politischen Klassen blockierte Modernisierung der französischen Wirtschaft und Infrastruktur vorantreiben zu können. Einige von ihnen, wie der Industrieminister der Jahre 1942-1944, Jean Bichelonne, waren von den technischen und wirtschaftlichen Erfolgen Deutschlands so fasziniert, daß sie eine Integration Frankreichs in einen von Deutschland beherrschten europäischen Wirtschaftsraum befürworteten. Andere wollten das afrikanische Kolonialreich mit dem Mutterland zu einer Wirtschaftseinheit verschmelzen, um Frankreich so wieder zu einer führenden Wirtschaftsmacht zu machen. Der Einfluß der Technokraten beruhte vor allem auf ihrer Sachkompetenz und ihren Verbindungen zur Wirtschafts- und Finanzwelt.17 Der Herrschaftskoalition schlossen sich auch einige Vertreter der Linken an, die sich entweder bereits in der Zwischenkriegszeit von ihren Parteien getrennt hatten, wie der Ex-Kommunist Paul Marion oder der Ex-Demokrat (Radical) Paul Creyssel, oder erst nach der Auflösung der III. Republik mit ihnen brachen, wie die Sozialisten Paul Faure und Charles Spinasse oder der Gewerkschafter René Belin. Sie repräsentierten zwar jeweils nur Minderheiten ihrer Parteien und bildeten auch nur eine Minderheit im neuen Führungspersonal, aber sie besaßen strategisch eine starke Stellung im Regime, da sie als Vermittler zwischen Regierung und dem Arbeiter- und Angestelltenmilieu bzw. den Gewerkschaften dringend gebraucht wurden.18 Wichtigster Repräsentant der Linken in der neuen Herrschaftskoalition war der Gewerkschafter René Belin, ein Postangestellter, der in den 30er Jahren in den Vorstand der Confédération Générale du Travail (CGT) aufgestiegen war. Dort sammelte er ab Oktober 1936 um die Zeitschrift „Syndicats" Antikommunisten und Pazifisten, die sich dem kommunistischen Einfluß in der CGT widersetzten und die Aufrüstung Frankreichs durch die Volksfront bekämpften. Der Zusammenbruch der Nachkriegsordnung 1939 und die Niederlage Frankreichs 1940 bestätigten ihn in seiner Auffassung, daß sich der Sozialismus nur im nationalen Rahmen in Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten verwirklichen lasse. Er akzeptierte daher im Juli 1940 das Angebot Pétains, das 17

Daraus resultierte die problematische These der „Synarchie". Cf. Renaud de Rochebrunei JeanClaude Hazera, Les patrons sous l'Occupation, Bd. 2, Paris 1997, S.185ff. 18

3

Cf. Marc Sadoun , Les socialistes sous l'Occupation. Résistance et Collaboration, Paris 1982.

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Industrie- und Arbeitsministerium zu übernehmen. Das Industrieministerium mußte er zwar im Februar 1941 wieder abgeben, aber das Arbeitsministerium behielt er bis zum April 1942. Er hat daher die Arbeitsgesetzgebung des Regimes, insbesondere die Charte du Travail vom Oktober 1941, stark beeinflußt. Pétain wurde im Sommer 1940 auch von drei rechtsextremen Randgruppen, den Frontisten (Parti Frontiste PF), den Neo-Sozialisten (Parti Socialiste de France PSF) und den National-Populisten (Parti Populaire Français PPF) unterstützt, die sich bereits in den 30er Jahren von den etablierten Linksparteien abgespalten und faschistischen Positionen angenähert hatten.19 Sie waren im Parteiensystem isoliert und besaßen mit Ausnahme der National-Populisten keine Massenbasis. Ihre einzige Chance, an der Macht beteiligt zu werden, bestand daher in einem Bündnis mit den Konservativen und den Traditionalisten. Der Neo-Sozialist Marcel Déat, Chefredakteur des „ Œuvre", schlug deshalb im Juli 1940 die Gründung einer nationalen Einheitspartei vor, die an Stelle der entmachteten Parlamentsparteien die Verbindung zwischen Regierung und Volk herstellen sollte. Ihr Programm sah eine grundlegende Reform der Verwaltung und des Erziehungswesens, die Schaffung einer korporativen Wirtschafts- und Sozialordnung unter staatlicher Kontrolle sowie die Integration Frankreichs in einen von Deutschland geführten kontinentaleuropäischen Wirtschaftsraum vor. 20 Das Projekt wurde von dem Führer der Frontisten, Gaston Bergery, unterstützt, stieß jedoch auf den heftigen Widerstand nicht nur der Traditionalisten und Konservativen, sondern auch der autoritären Nationalisten (PSF) und der National-Populisten (PPF). Da Pétain es ebenfalls ablehnte, scheiterte es. Déat zog sich daraufhin mit seinen Anhängern nach Paris zurück und bildete eine systeminterne Oppositionsgruppe, aus der 1941 das nationalsozialistische Rassemblement National Populaire (RNP) hervorging. 21 Die mit ihm auf der extremen Rechten konkurrierenden National-Populisten (PPF) unter Jacques Doriot unterstützten dagegen aus taktischen Gründen weiterhin Pétain und versuchten, in die Institutionen und Organisationen des Regimes einzudringen. Gleichzeitig bekämpften sie jedoch seine „reaktionäre" Politik und forderten eine enge Kollaboration mit Deutschland. Sie entwickelten sich so zu einer systeminternen Opposition gegen die in Vichy dominierenden konservati19

Die Frontisten von dem liberal-demokratischen Parti Radical, die Neo-Sozialisten von der Sozialistischen Partei SFIO, die National-Populisten von der Kommunistischen Partei (PCF). Cf. Philippe Burrin, La dérive fasciste, Doriot, Déat, Bergery 1933-1945, Paris 1986. 20 Cf. Marcel Déat, Mémoires politiques, Paris 1989, S. 539ff.; Reinhold Brender, Kollaboration in Frankreich im Zweiten Weltkrieg, München 1992, S. 94ff. 21

Cf. R. Brender, op. cit., S. 117ff.

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ven Kräfte. 22 Dieser schlossen sich die Mehrheit der Frontisten an. Nur ihr Führer, Gas ton Bergery, sowie einige Getreue unterstützten weiterhin Pétain und integrierten sich in das Regime. Da ihre Machtbasis jedoch gering blieb, spielten sie als organisierte Gruppe keine große Rolle.23 Die Ablehnung von Déats Projekt einer Einheitspartei durch die traditionalistischen, nationalistischen und konservativen Kräfte der neuen Herrschaftskoalition bildete eine klare Absage an das faschistische Herrschaftsmodell mit seinen Implikationen: Funktionärsherrschaft, Massenmobilisation, Staatsallmacht. Es kam daher im Sommer 1940 in Frankreich nicht zur Bildung eines konservativfaschistischen Herrschaftsbündnisses wie 1921/22 in Italien oder 1933 in Deutschland. Dies sicherte den konservativen Kräften in Vichy die Hegemonie, zwang sie jedoch zu einem Herrschaftskompromiß mit den gesellschaftlichen Eliten, da sie ohne die Zwangsmittel eines totalitären Herrschaftsapparats auf deren Mitarbeit angewiesen waren. So entstand im Sommer 1940 ein autoritäres Herrschaftssystem mit einem begrenzten Eliten- und Organisationspluralismus, das eher den iberischen Diktaturen,24 insbesondere Salazars in Portugal, als dem faschistischen System Italiens oder dem nationalsozialistischen System Deutschlands glich. Die wichtigsten Konfliktlinien innerhalb der Herrschaftskoalition verliefen zwischen Traditionalisten und Modernisten, Korporatisten und Etatisten, Nationalisten und „Europäern", d.h. Anhängern und Gegnern einer Integration Frankreichs in das „neue Europa" der Achsenmächte. Die Traditionalisten und Korporatisten wollten Staat und Gesellschaft nach dem Modell des vorrevolutionären Frankreichs reformieren, die Modernisten und Etatisten das Land nach amerikanischem oder deutschen Vorbild modernisieren. Gemeinsam war ihnen nur die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie und des liberalen Kapitalismus, des Sozialismus und des Faschismus bzw. Nationalsozialismus. Die Nationalisten wollten die Unabhängigkeit und Großmachtposition Frankreichs durch die staatliche Zusammenarbeit mit Deutschland, der „collaboration d'Etat", erneuern, die Europäer wollten Frankreich in das „neue Europa" der Achsenmächte durch die „politische Kollaboration" integrieren. Beide Gruppierungen waren anglophob und antikommunistisch, besaßen aber sonst kaum außenpolitische Gemeinsamkeiten. Die innen- und außenpolitischen Konfliktlinien 22

Cf. Dieter Wolf,, Die Doriot-Bewegung, Stuttgart 1967, S. 231ff.; Jean-Paul Brunei, Jacques Doriot, Paris 1986, S. 309ff. 23

Cf. Philippe Burrin, op. cit., S. 360ff.

24 Cf. Charles F. Delzell (Hrsg.), Mediterranean Fascism 1919-1945, New York/London 1970, S. 257ff.

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überschnitten sich, so daß sich je nach Problemlage bzw. Konfliktsituation unterschiedliche Lager bildeten. Außen- und innenpolitische Gruppenbildung waren daher keineswegs identisch. Kompliziert wurde die Gruppenbildung noch durch die bereits dargelegten weltanschaulichen, politischen und persönlichen Gegensätze. Die Herrschaftskoalition war daher in sich vielfach gespalten, wesentlich stärker als vorher die liberal-demokratische Herrschaftskoalition der III. Republik. Π . Der Aufbau der neuen Ordnung

Die Traditionalisten und Konservativen, die 1940 in der neuen Herrschaftskoalition den Ton angaben, wollten durch eine „Nationale Revolution" eine neue Ordnung schaffen, welche die innere Erneuerung und den äußeren Wiederaufstieg Frankreichs ermöglichen sollte. Sie konnten weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen handeln, da sich Deutschland zu diesem Zeitpunkt kaum in innerfranzösische Angelegenheiten einmischte. Hitler war im Sommer und Herbst 1940 vor allem an einem handlungsfähigen französischen Staat interessiert, der die Erfüllung des Waffenstillstandsvertrages garantieren konnte. Er kooperierte deshalb mit der neuen französischen Staatsführung in Vichy. Zwar ließ er auch durch die deutsche Botschaft in Paris faschistische sowie nazistische Gruppierungen unterstützen, die eine enge Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Deutschland befürworteten, lehnte jedoch eine faschistische oder nazistische Machtergreifung in Frankreich ab, weil er zu Recht fürchtete, diese werde die Funktionsfähigkeit des französischen Staates gefährden und zum Abfall der Kolonien, insbesondere Nordafrikas, führen und so den deutschen Interessen schaden.25 1. Die Nationale Revolution: Ideologie und Programmatik Die „Nationale Revolution" orientierte sich ideologisch vor allem am Traditionalismus, d.h. dem durch Charles Maurras mit Hilfe des Positivismus modernisierten Denken der Gegenrevolution des frühen 19. Jahrhunderts, übernahm aber auch Ideen und Vorstellungen des Konservatismus, des sozialen Katholizismus, des konservativen Nationalismus und des „Non-Konformismus". Die Programmatik der „Nationalen Revolution" bildete daher inhaltlich eine Mischung aus Elementen verschiedener Strömungen der Rechten.26 Durch 23 26

Cf. Eberhard Jäcke, op. cit., S. 85ff.

Cf. Jean-Marie Guillon , La philosophie politique de la Révolution nationale, in: Jean-Pierre Azéma/François Bédarida (Hrsg.), Vichy et les Français, Paris 1992, S. 167-183.

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die Wiederbesinnung auf die traditionellen Werte Frankreichs, durch Autoritarismus, Elitenpluralismus und Regionalismus, durch Kommunitarismus, Korporatismus und Meritokratie wollte sie den Individualismus, Liberalismus, Parlamentarismus und Kapitalismus, aber auch den Egalitarismus, Laizismus und Zentralismus der III. Republik überwinden.27 Grundlage der neuen Ordnung sollten die „natürlichen Gemeinschaften" - Familie, Beruf, Region -, die Arbeit sowie das Vaterland bilden. Die Propagandisten der „Nationalen Revolution" verherrlichten deshalb die Familie als Keimzelle der nationalen Gemeinschaft, die Arbeit als Quelle von Wohlstand und Glück, die historischen Provinzen als Heimat, das Vaterland als Hort aller Franzosen und predigten die Rückkehr zur Scholle als Alternative zu Industrialisierung und Urbanisierung. Leitbild der neuen Ordnung bildete die agrarische Gesellschaft, soziales Vorbild der Bauer und Handwerker, nicht der Industriearbeiter oder der Bourgeois. Die „Nationale Revolution" war inhaltlich eine Antithese zur Französischen Revolution und ihren geistigen Grundlagen, eine moderne Variante der Gegenrevolution des frühen 19. Jahrhunderts. Sie war weder faschistisch noch nationalistisch, sondern reaktionär im wörtlichen Sinne: eine Reaktion auf Aufklärung, Liberalismus und Individualismus, auf Industrialisierung, Säkularisierung und Urbanisierung, kurz auf die geistige, soziale und politische Entwicklung Frankreichs seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. 28 Die Ideen, Vorstellungen und Zielsetzungen der „Nationalen Revolution" wurden nicht von allen Regimegruppen geteilt. Die Liberalen, Demokraten (Radicaux), Sozialisten und Gewerkschafter , aber auch die Nationalisten und Technokraten lehnten sie entweder offen ab (wie etwa den Regionalismus oder den Agrarismus) oder akzeptierten sie nur in stark modifizierter Form (wie etwa den Korporatismus). Ihre Verwirklichung stieß daher schon innerhalb des Regimes auf erhebliche Widerstände. Verstärkt wurden diese durch die Interessen der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen, die zwar nicht direkt in die Herrschaftskoalition integriert waren, wie die Kirchen, die Unternehmer, die Bauern etc., die aber direkt von ihnen betroffen waren, sowie durch die Vorstellungen und Interessen deutscher Machtgruppen, wie z.B. der Rüstungswirtschaft, welche die deutsche Frankreichpolitik beeinflußten. Die Programmatik der „Nationalen Revolution" bestimmte daher nur teilweise die Politik des Regimes.

27 Cf. Botschaft von Philippe Pétain vom 10. Oktober 1940, in: Philippe Pétain , Discours aux Français 17 juin 1940 - 20 août 1944, hrsg. von Jean-Claude Barbas , Paris 1989, S. 86ff. 28

Cf. René Rémond , La droite en France, Paris 1968, 2. Aufl., Band II, 1940-1968, S. 248ff.

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2. Die Kollaboration Zur außenpolitischen Absicherung der „Nationalen Revolution" suchte die französische Staatsführung die politische Zusammenarbeit mit Deutschland. Sie wollte dadurch einerseits eine Lockerung der Waffenstillstandsbedingungen und damit vor allem eine Erleichterung des Besatzungsregimes, andererseits günstige Friedensbedingungen erreichen, um Frankreich eine gesicherte Existenz im künftigen Nachkriegseuropa zu sichern. Sie handelte dabei in der Annahme, Deutschland werde den Krieg bald gewinnen und dann die Friedensbedingungen diktieren können. Es schien ihr daher ein Gebot der politischen Klugheit, sich mit Deutschland zu verständigen, solange dieses noch ein Interesse an einer französischen Unterstützung seiner Kriegsführung gegen England haben konnte. Hitler zeigte zunächst wenig Interesse an dem französischen Kollaborationsangebot, akzeptierte dies aber im Herbst 1940, nachdem er seine Landungspläne in Großbritannien hatte aufgeben müssen. Ihm lag nun an einer logistischen Unterstützung der deutsch-italienischen Kriegsführung im Mittelmeerraum sowie an einer Aufrechterhaltung der französischen Herrschaft über Nordafrika, um dessen operative Nutzung durch die Briten zu verhindern. So kam es zum Treffen zunächst mit Laval, dann mit Pétain am 24. Oktober 1940 in Montoire. Dieser erklärte Frankreichs Entschlossenheit, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, und Hitler lockerte dafür die militärischen Klauseln des Waffenstillstandsvertrages für Nord- und Schwarzafrika, um den französischen Truppen eine wirksame Verteidigung dieser Gebiete zu erlauben.29 Treibende Kraft der Kollaboration wurde Pierre Laval. Dieser hatte seine politische Karriere vor dem 1. Weltkrieg als Sozialist und Pazifist begonnen, 1919 gegen den Versailler Vertrag gestimmt und in den 20er Jahren die Verständigungspolitik Briands unterstützt. Er gehörte in der Zwischenkriegszeiten mehreren MitteRechts-Regierungen an, vier davon als Premierminister. In den Jahren 1934/1936 bemühte er sich als Außen- und Premierminister um eine Allianz mit Italien und eine Verständigung mit Deutschland, um so die französische Großmachtposition und den europäischen Frieden zu retten. Die NS-Herrschaft in Deutschland betrachtete er nicht als ein unüberwindliches Hindernis für eine deutsch-französische Verständigung, weil sie nach seiner Auffassung nicht die geopolitischen Determinanten der deutsch-französischen Beziehungen ändere. Nach dem Wahlsieg der Volksfront im Mai/Juni 1936 verlor er Macht und Einfluß, aber nicht seine außenpolitische Grundorientierung. Er unterstützte die Appeasementpolitik Großbritanniens und wandte sich im September 1939 gegen 29 Cf. Robert O. Paxton, La France de Vichy. 1940-1944, 2. Überarb. Auflage, Paris 1977, S. 91ff. Vgl. die abweichende Interpretation bei François-Georges Dreyfus, op. cit., S. 306ff.

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eine Kriegserklärung an Deutschland. Nach der Niederlage vom Mai/Juni 1940 erschien ihm eine deutsch-französische Verständigung notwendiger denn je. Am 27. Juni 1940 berief ihn Pétain als stellvertretender Premierminister in sein Kabinett und beauftragte ihn mit seiner Vertretung im Parlament. Dort gelang es ihm, eine große Mehrheit für die Machtübertragung auf Pétain zu gewinnen. Dieser ernannte ihn am 12. Juli zu seinem Stellvertreter und potentiellen Nachfolger. Er war damit rechtlich der zweite Mann im Staat.30 Durch die Kollaboration wollte er nicht nur eine Erleichterung des Besatzungsregimes sowie günstige Friedensbedingungen, sondern auch eine dauerhafte Verständigung mit Deutschland erreichen. 31 Obwohl Pétain diese weitergehende Zielsetzung Lavais nicht teilte, unterstützte er dessen Politik und ernannte ihn am 28. Oktober auch zum Außenminister, um so dessen Verhandlungsposition gegenüber den Deutschen zu stärken. Er entließ ihn jedoch unter dem Vorwand einer Kabinettsumbildung am 13. Dezember, weil er fürchtete, die Kontrolle über die deutsch-französischen Beziehungen zu verlieren. 32 Lavais Entlassung stärkte den Einfluß der Militärs, Bürokraten und Technokraten im Herrschaftssystem. Bereits am 6. September 1940 hatte Pétain alle übrigen Parlamentarier aus der Regierung entlassen und sie durch hohe Beamte ersetzt. Nach einem kurzen Zwischenspiel eines Dreierdirektoriums aus PierreEtienne Flandin (Äußeres), General Huntziger (Krieg) und Admirai Darlan (Marine) ernannte er letzteren am 10. Februar 1941 zum neuen Regierungschef sowie zu seinem presumptiven Nachfolger. Damit wurde ein Marineoffizier zum zweiten Mann im Staat. Admirai Darlan bildete am 23. Februar 1941 eine Regierung aus jungen Technokraten, hohen Beamten und konservativen Honoratioren, der keine Parlamentarier mehr angehörten. Er selbst übernahm in ihr auch das Innen-, Außen- und Marineministerium. Seine Machtfülle war daher wesentlich größer als die Lavais. Mit Rücksicht auf die konservativen Kräfte der Herrschaftskoalition hielt er an der Grundorientierung der bisherigen Politik fest, verfolgte jedoch zielstrebig die Modernisierung der Wirtschaft und der Infrastruktur, um die materiellen Voraussetzungen für den machtpolitischen Wiederaufstieg Frankreichs zu schaffen, und intensivierte die Kollaboration mit Deutschland. Durch seine technokratische Modernisierungspolitik verstärkte er den Etatismus und Autoritarismus des Regimes, veränderte jedoch nicht we30

Cf. Jean-Paul Cointet, Pierre Laval, Paris 1993, S. 27ff.; Fred Kupfer man, Laval 1883-1945, Paris 1988. 31 Cf. René de Chambrun, Pierre Laval devant l'histoire, Paris 1983, S. 115ff.; Jean-Paul Cointet, op. cit., S. 25 Iff.; Fred Kupfer man, op. cit., S. 237ff. 32

Cf. Robert O. Paxton, op. cit., S. 107ff.

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sentlich dessen institutionelle Strukturen. Die konservativen Kräfte konnten sich daher in Staat und Gesellschaft behaupten. Darlan strebte im Gegensatz zu Laval auch eine militärische Kollaboration mit Deutschland an, um mit dessen Hilfe das französische Kolonialreich gegen die Briten und die mit ihnen verbündeten Kräfte des Freien Frankreichs (Gaullisten) verteidigen zu können. Hitler, der zunächst eine militärische Kollaboration strikt ablehnte, zeigte im Frühjahr 1941 unter dem Eindruck des antibritischen Aufstandes im Irak ein gewisses Interesse an ihr, um die französischen Besitzungen in Afrika und im Mittleren Osten (Syrien) für die deutsche Kriegsführung im Mittelmeerraum und im Atlantik nutzen zu können. Er nahm daher mit der französischen Regierung Verhandlungen auf, die im Mai 1941 zur Unterzeichnung von drei Abkommen, den sogenannten „Pariser Protokollen", führten. In ihnen gestattete Frankreich den deutschen Truppen die Nutzung französischer Militäranlagen in Syrien, Nordafrika und Schwarzafrika; Deutschland erlaubte im Gegenzug eine Verstärkung der französischen Kolonialtruppen sowie der französischen Kriegsmarine. 33 Die Pariser Protokolle stießen innerhalb der Regierung auf heftigen Widerstand. Insbesondere General Weygand, der französische Generalbevollmächtigte in Nordafrika, sprach sich gegen eine militärische Zusammenarbeit mit den Achsenmächten aus, weil er einen britischen Gegenschlag fürchtete, der zum Verlust des gesamten afrikanischen Imperiums führen könnte. Die französische Regierung verhärtete daraufhin ihre Haltung und forderte von Deutschland zusätzliche Konzessionen, so die Garantie der territorialen Integrität des Landes, eine erhebliche Reduzierung der Besatzungskosten und die schrittweise Freilassung der Kriegsgefangenen. Hitler lehnte diese Forderung ab, da er die französische Abhängigkeit von Deutschland nicht verringern wollte. Die Pläne für eine deutsch-französische Militärkooperation im Mittelmeerraum wurden daher auf Eis gelegt. Statt dessen erfolgte nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion eine Intensivierung der politischen und wirtschaftlichen Kollaboration.34 Die in Vichy herrschenden Kräfte mußten ihre Herrschaft sowohl gegen die systeminterne Opposition der faschistischen Kollaborateure als auch die systemexterne Opposition der Widerstandsgruppen verteidigen. Die faschistischen Kollaborateure strebten die Errichtung eines faschistischen bzw. nationalsozialistischen Regimes sowie die Integration Frankreichs in ein von Deutschland beherrschtes Europa an. Sie repräsentierten zahlenmäßig zwar nur eine kleine 33

Cf. ebda., S. 157ff.; François-Georges Dreyfus, op. cit., S. 415ff. Cf. ebda. S.

3ff.

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Minderheit der französischen Bevölkerung, übten jedoch einen erheblichen Einfluß aus, da sie von der deutschen Botschaft unterstützt wurden und in der besetzten Zone über ein politisches Organisations- und Aktionsmonopol verfügten.35 Die Regimekoalition mußte daher ständig fürchten, eines Tages durch die faschistischen Kollaborateure verdrängt zu werden. Gefährlicher als die systeminterne Opposition der faschistischen Kollaborateure wurde jedoch für die Herrschaft der Regimekoalition die regimeexterne Opposition der Widerstandsgruppen.36 Diese bildete sich schon Ende Sommer 1940, richtete sich jedoch zunächst nur gegen die Deutschen. Erst unter dem Eindruck der Kollaboration wandte sie sich auch gegen das Vichy-Regime. Ihre Mitglieder kamen aus allen politischen und weltanschaulichen Lagern sowie allen sozialen Schichten, unter ihnen dominierten aber zunächst Angehörige des linkskatholischen und nationalistischen Milieus. Dies änderte sich im Sommer 1941. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion schlossen sich ihr auch die Kommunisten an, die zwar das Vichy-Regime von Anfang an bekämpften, aber zunächst eine Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzungsbehörden im Zeichen des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts gesucht hatten.37 Im Gegensatz zu den übrigen Widerstandsgruppen beschränkten sie sich nicht auf politische Aktionen, sondern verübten auch Attentate auf Wehrmachtsangehörige sowie auf deutsche Militäreinrichtungen. 38 Auf diese reagierten die deutschen Besatzungstruppen mit massiven Repressalien gegen die französische Zivilbevölkerung und zwangen so das Regime, seine Verfolgung der Kommunisten zu intensivieren. Dadurch gewannen die radikalen Kräfte innerhalb des Regimes an Einfluß. Admiral Darlan übernahm im August auch die Leitung des Kriegsministeriums, ernannte den autoritären Nationalisten und Antikommunisten Pierre Pucheu zum Innenminister, den pro-deutschen Publizisten Jacques Bénoit-Méchin zum Staatssekretär und erweiterte beträchtlich die Kompetenzen des Leiters der Propagandaabteilung Paul Marion, eines Ex-Kommunisten und früheren Faschisten. Er baute den Repressionsapparat aus und intensivierte den Autoritarismus. So wurden die Polizeikräfte verdoppelt, die Verwaltung erneut von Regimegegnern gesäubert, den Parteien alle politischen Aktivitäten verbo35 Cf. Gerhard Hirschfeld/Patrick Marsh (Hrsg.), Kollaboration in Frankreich. Politik, Wirtschaft und Kultur während der nationalsozialistischen Besatzung 1940-1944, Frankfurt/M. 1991; Pascal Ory, Les collaborateurs 1940-1945, Paris 1976. 36 Da es immer noch keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Gesamtdarstellung der Widerstandsbewegung gibt, cf. Jean-Pierre Azéma, De Munich à la Libération 1938-1944, Paris 1979, S. 119ff. 37

Cf. Stéphane Courtois , Le PCF dans la guerre, Paris 1980, S. 123ff.

38

Cf. ebda., S. 203ff.

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ten und die Kontrolle der Massenmedien verstärkt. Das Regime wandelte sich so schon im Laufe des Jahres 1941 von einer pluralistischen Autokratie zu einer etatistischen Diktatur. 3. Die Radikalisierung

des Regimes - April 1942 - November 1943

Darlan gelang es durch diese Verstärkung der Repression und des Autoritarismus seine Modernisierungs- und Kollaborationspolitik innenpolitisch abzusichern. Er scheiterte jedoch in seinem Bemühen, das Verhältnis zu Deutschland durch eine militärische Kollaboration nachhaltig zu verbessern. Nach dem Beginn des Krieges im Osten hatte Hitler das Interesse an dieser verloren und war nun vor allem an einer Mobilisierung der wirtschaftlichen Ressourcen Frankreichs für die deutsche Kriegsführung interessiert. Für diese erschien ihm Darlan nicht als der geeignete Mann, da er als Exponent der national-konservativen Kräfte zu nachdrücklich die französischen Interessen vertrat. Hitler wollte dagegen einen Erfüllungsgehilfen seiner Ausbeutungspolitik, der die deutschen Forderungen erfüllte, aber über genügend Rückhalt im französischen Staatsapparat verfügte. Er untersagte daher alle Kontakte zwischen deutschen Regierungsstellen und Darlan, wodurch dieser zum Rücktritt gezwungen wurde. Pétain wählte unter deutschem Druck Pierre Laval zu dessen Nachfolger, weil dieser das Vertrauen der Deutschen genoß, aber auf seine Weise ebenfalls die französischen Interessen vertrat und als ehemaliger Parlamentarier und mehrmaliger Minister der III. Republik (noch) ein gewisses Prestige bei den gesellschaftlichen Eliten besaß. Laval akzeptierte die Berufung zum Regierungschef, bestand jedoch auf der Übertragung umfangreicher Kompetenzen, um seine Kollaborationspolitik diesmal durchführen zu können. So erhielt er nun auch offiziell den Titel eines Regierungschefs sowie das Recht, die Innen- und Außenpolitik des Landes selbständig zu leiten sowie seine Minister selbst auszuwählen.39 Er übernahm außerdem noch das Außen-, Innen- und Propagandaministerium und berief den ehemaligen Abgeordneten der liberal-demokratischen Mitte, Pierre Cathala, zum Finanzminister, den jungen Präfekten René Bousquet zum Polizeichef und den Ex-Kommunisten Paul Marion zum Staatssekretär für Propaganda. Auf diese Weise versuchte er, seine Machtposition sowohl gegenüber den Pétainisten als auch gegenüber den Faschisten abzusichern. Er versuchte ebenfalls, die konservativen Pétainisten in den Departements- und Gemeindeverwaltungen durch Angehörige des liberal-demokratischen Milieus zu ersetzen. Dies gelang ihm jedoch nur in Einzelfällen, da die große Mehrheit der liberal-demokratischen Politiker zu diesem Zeitpunkt 39

Verfassungsakt Nr. 11 vom 18. April 1942.

Das Regime von Vichy

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nicht mehr bereit waren, das Regime zu unterstützen. Der Regierungswechsel vom April 1942 bedeutete daher zwar das Ende der pétainistischen Dominanz, aber nicht die Rückkehr der Republikaner. Vielmehr leitete er eine Regimephase ein, in der Angehörige des liberal-demokratischen Milieus der III. Republik Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft einnahmen, aber für die Durchsetzung ihrer Politik in wachsendem Maße auf die Unterstützung radikaler Kräfte angewiesen waren, die so ihren Einfluß im Herrschaftssystem verstärken konnten. Im Gegensatz zu Darlan legte Laval das Schwergewicht der Kollaboration auf den politischen und wirtschaftlichen Bereich. Am 22. Juni 1942, dem ersten Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, erklärte er in einer Radioansprache, er wünsche einen Sieg Deutschlands, weil ohne diesen ganz Europa bolschewistisch werde. Als konkreten Beitrag zum Kampf gegen den Bolschewismus unterstützte er die Rekrutierung französischer Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft. Allerdings verlangte er von den Deutschen als Gegenleistung die Freilassung von französischen Kriegsgefangenen (La Relève). Da sich nicht genügend Freiwillige zum Arbeitseinsatz in Deutschland meldeten und die deutschen Forderungen nach Arbeitskräften immer dringlicher wurden, führte er im Februar 1943 den obligatorischen Arbeitsdienst (Service du travail obligatoire STO) für die Angehörigen der Jahrgänge 1920-1924 ein, der in Frankreich oder in Deutschland abgeleistet werden mußte. Viele Arbeitspflichtige entzogen sich dem Arbeitsdienst durch Untertauchen und schlossen sich häufig der Widerstandsbewegung (Maquis) an. Die Einführung des obligatorischen Arbeitsdienstes hat so erheblich zur Polarisierung der innerfranzösischen Verhältnisse und zum weiteren Akzeptanzverlust des Regimes beigetragen. Laval war wie sein Vorgänger Darlan überzeugt, daß die Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Verwaltungshoheit über das gesamte nationale Territorium die unerläßliche Voraussetzung für den Erfolg der Kollaboration bilde. Mit seiner Billigung kooperierte daher die französische Polizei unter der Leitung von René Bousquet im Juli 1942 mit der deutschen SS bei der Deportation der in Frankreich lebenden ausländischen Juden in der besetzten Zone und lieferte außerdem noch etwa 10 000 ausländische Juden aus der unbesetzten Zone aus, deren Rettung durchaus möglich gewesen wäre, da die SS zu diesem Zeitpunkt noch keinen direkten Zugriff auf diese Zone hatte.40 Die Aktion wurde von den Präfekten in ganz Frankreich überwacht. Sie wurde von der Bevölkerung und der Kirche mißbilligt und verstärkte den Akzeptanzverlust des Regi40

Cf. Serge Klarsfeld, 1942, Paris 1983.

Vichy-Auschwitz: le rôle de Vichy dans la solution finale. Bd. 1, 1940-

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mes. Trotzdem hielt Laval nicht nur an der zwischenstaatlichen, sondern auch an der innerstaatlichen Kollaboration fest und wurde dabei auch von Pétain zunächst unterstützt. Die internationalen Grundlagen der Kollaboration veränderten sich wesentlich zum Jahresende 1942. Am 23. Oktober 1942 begann die britische Offensive bei El-Alamain in Ägypten und am 7. November landeten die britisch-amerikanischen Truppen in Nordafrika. Die deutsch-italienischen Truppen gerieten dadurch in einen Zweifrontenkrieg und mußten im Mai 1943 kapitulieren. Auch im Osten wendete sich mit Stalingrad das Kriegsgeschehen. Während dieses Zeitraums verlor Frankreich seine letzten Machtmittel. Als Reaktion auf die alliierte Landung in Nordafrika besetzten deutsche und italienische Truppen am 11. November 1942 die Südzone und entwaffneten die Waffenstillstandsarmee. Als sie am 27. November auch in den Hafen von Toulon eindrangen, versenkten sich die dort stationierten französischen Kriegsschiffe. Das Regime besaß nun weder Armee, Flotte noch Kolonialreich. Der Waffenstillstandsvertrag blieb zwar in Kraft und die Souveränität des französischen Staates damit bestehen, aber de facto wurde dieser zu einem deutsch-italienischen Protektorat. Trotz der grundlegenden Veränderungen der machtpolitischen Grundlagen der deutsch-französischen Beziehungen hielt das Regime an der Kollaboration fest. Es konnte sich dabei auch weiterhin auf sein politisches und administratives Personal stützen, da nur einige hohe Beamte und einige politische Aktivisten sich den Alliierten in Nordafrika anschlossen oder im Mutterland Kontakt mit der Résistance aufnahmen. Bestimmend für das Verhalten der politischen und sozialen Träger des Regimes war ihre außenpolitische Einschätzung der Kriegslage bzw. des Kriegsverlaufs, ihre Furcht vor den innergesellschaftlichen Folgen einer alliierten Landung in Frankreich und ihr Antikommunismus. Die Führungsschicht des Regimes glaubte mehrheitlich 1942/43 zwar nicht mehr an einen deutschen Sieg wie im Sommer 1940, aber auch (noch) nicht an eine deutsche Niederlage. Vielmehr hielt sie ein Patt im Westen für möglich, wonach Deutschland die dominierende Macht des europäischen Kontinents bliebe. Nach dem Kriege stünde Frankreich dann vor der gleichen Alternative wie vorher: entweder ein Bündnis mit Großbritannien gegen Deutschland und damit das Risiko eines neuen Krieges oder aber eine Verständigung mit Deutschland und damit die Chance eines dauerhaften Friedens. Laval zog aus dieser Überlegung die Folgerung, daß eine Fortsetzung der Kollaboration trotz der veränderten internationalen Bedingungen notwendig und richtig sei. Er strebte daher auch nach der Besetzung der Südzone weiterhin ein deutsch-französisches Ge-

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neralabkommen an, das an Stelle des Waffenstillstandsvertrages treten sollte, und bot Deutschland als Gegenleistung eine militärische Zusammenarbeit bei der Verteidigung Frankreichs und beim Kampf gegen den Bolschewismus an.41 Auch Pétain befürwortete im November 1942 eine Fortsetzung der Kollaboration, lehnte jedoch im Gegensatz zu Laval ihre Ausdehnung auf den militärischen Bereich ab, weil er den Neutralitätsstatus wahren wollte, um zwischen Deutschland und den Alliierten vermitteln zu können. Er war 1942/43 überzeugt, daß nur ein Kompromißfrieden im Westen Europa vor dem Bolschewismus retten und ein Übergreifen des Krieges auf Frankreich verhindern könne. Eine Fortsetzung des Krieges führe dagegen zu einem Sieg der Sowjetunion im Osten und zu einem Bürgerkrieg in Frankreich, der das Land verwüsten und die soziale Ordnung zerstören würde. Beides liege nicht im französischen Interesse. Ein alliierter Sieg im Westen führe nicht zu einer Erneuerung der nationalen Unabhängigkeit und Größe, sondern lediglich zu einem Wechsel der ausländischen Abhängigkeit, denn die Voraussetzung für Unabhängigkeit und Größe bilde nach wie vor die innere Erneuerung, wie sie das Regime im Sommer 1940 eingeleitet habe. Eine Fortsetzung der inneren Erneuerung sei unter alliierter Herrschaft nicht möglich, wie die Entwicklung in Nordafrika zeige, wo die Anhänger des Regimes von Gaullisten und Kommunisten verdrängt wurden. Auch in Frankreich werde eine alliierte Besetzung zu einer kommunistischgaullistischen Machtergreifung und damit zum Ende des Erneuerungsprozesses führen. Pétain hielt somit im Gegensatz zu Laval primär aus innenpolitischen Gründen an der Kollaboration fest. Ihm und seinen Anhängern ging es in erster Linie um die Rettung ihres innenpolitischen Projektes, nicht um eine dauerhafte deutsch-französische Verständigung wie für Laval.42 Zur innenpolitischen Absicherung seiner außenpolitischen Zielsetzung ließ sich Laval am 17. November 1942 von Pétain per Verfassungsakt das Recht übertragen, einfache Gesetze und Verordnungen zu erlassen,43 wodurch er auch legislative Gewalt erhielt. Pétain blieb Staatschef, der allein das Recht besaß, Verfassungsgesetze zu erlassen, aber Laval bildete nun das eigentliche Machtzentrum des Regimes. Er benutzte seine Macht, um die Träger der „Nationalen Revolution" soweit wie möglich zu entmachten. Der mit seiner Rückkehr an die Macht im April 1942 eingeleitete Regimewechsel beschleunigte sich nun beträchtlich. 41

Cf. Fred Kupfermann, op. cit., S. 373ff.; Jean-Paul Cointet, op. cit., S. 407ff.

42

Cf. Robert Ο. Paxton , op. cit., S. 321ff.

43

Verfassungsakt Nr. 12 vom 17. November 1942.

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Während Laval sich somit innenpolitisch durchsetzen konnte, scheiterte er außenpolitisch. Hitler lehnte die von ihm angestrebte Gesamtregelung ab und erhöhte statt dessen seine wirtschaftlichen Forderungen. Das Regime wurde so im Laufe des Jahres 1943 immer mehr zum Erfüllungsgehilfen der deutschen Besatzungsmacht. Dadurch verlor es nicht nur weiter an Rückhalt in der Bevölkerung, sondern nun auch im Staatsapparat und in den gesellschaftlichen Organisationen. Die Kollaboration gefährdete so die Existenz des Regimes. Pétain beabsichtigte daher, Laval erneut zu entmachten. Da er ihn mit Rücksicht auf die Deutschen nicht erneut entlassen konnte, wollte er ihm die rechtliche Grundlage seiner Macht entziehen. Er entwarf daher ein Verfassungsgesetz (Acte constitutionnel), das bestimmte, daß im Falle seines Todes die verfassungsgebende Gewalt, die ihm die Nationalversammlung im Juli 1940 übertragen hatte, an diese zurückfallen sollte.44 Als er den Verfassungsakt am 11. November 1943 über das Radio verkünden wollte, wurde er daran auf Initiative der Anhänger Lavais durch die Deutschen gehindert. Aus Protest gegen das deutsche Verbot stellte er seine Amtstätigkeit zunächst ein, nahm jedoch auf Drängen seiner Ratgeber diese nach einigen Tagen wieder auf. Hitler ließ ihn nun von einen deutschem Diplomaten, Cécil Renthe-Fink, überwachen, dem er alle Gesetzesprojekte zur Genehmigung vorlegen mußte. Dadurch verlor er den letzten Rest an Eigenständigkeit.45 4. Das Ende des Regimes Die Staatskrise vom November 1943 zerstörte das prekäre Gleichgewicht zwischen gemäßigten und radikalen Kräften, auf denen die Machtstellung Lavais beruhte. Auf deutschen Druck mußte Laval vierundvierzig Pétainisten aus dem Staatsapparat entfernen und sie durch bedingungslose Parteigänger der Kollaboration ersetzen. So wurde der konservative Nationalist und militante Antikommunist Philippe Henriot zum Leiter des Propagandaapparates und der Generalsekretär der Miliz und Sturmbannführer der SS Joseph Darnand zum Leiter der Sicherheitskräfte (Polizei, Gendarmerie, Strafvollzug) berufen. Laval blieb zwar Informations- und Innenminister, um beide kontrollieren zu können, sah sich jedoch unter dem Druck der Ereignisse gezwungen, ihnen immer mehr Einfluß zuzugestehen. Beide konnten so die Führungspositionen ihrer Behörden mit Vertrauten besetzen und sie so zu eigenen Herrschaftsdomänen ausbauen. Obwohl die Miliz lediglich etwa 30 000 Mitglieder besaß (s.u.), wurde sie zum entscheidenden Ordnungsfaktor des Regimes in dessen Endphase. In der Regie44

Cf. François-Georges Dreyfus , op. cit., Annexe, S. 793. Cf. ebda., S. 7 f f .

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rung konnte sie sich außer auf Laval auch auf Abel Bonnard, den Erziehungsminister, sowie ab März 1944 zusätzlich auf Marcel Déat, den Arbeits- und Sozialminister, stützen. Die übrigen Ressorts blieben jedoch in den Händen gemäßigter Kräfte: Justiz - Maurice Gabold, Wirtschaft/ Finanzen/ Landwirtschaft - Pierre Cathala, Industrieproduktion - Jean Bichelonne, Krieg - General Bridoux. 46 Das Außenministerium leitete neben dem Innen- und Propagandaministerium weiterhin der Regierungschef, Pierre Laval, selbst. Es ist daher fraglich, ob man ab Januar 1944 von einem Wandel des „Etat Français" in einen „Etat milicien" sprechen kann, wie es zahlreiche Autoren tun.47 Das Regime glich sich zwar in seinen Herrschaftsmethoden sowie in einigen Teilbereichen (Erziehung/Jugend, Propaganda, Arbeit/Soziales) dem deutschen NS-Regime an, ohne jedoch in allen Bereichen faschistisch zu werden. So behauptete sich neben den gemäßigten Ministern weiterhin Pétain an der Staatsspitze und garantierte so die Kontinuität der Staatsführung. Seine Macht war zwar beträchtlich geschrumpft, seine Popularität dagegen ungebrochen, wie die Haltung der Bevölkerung bei seinen Reisen durch die Provinz zeigte. So jubelten ihm etwa 500 000 Menschen bei seinem letzten Besuch in der Hauptstadt am 26. April 1944 zu.48 Er verkörpert somit in den Augen der Bevölkerung weiterhin die Legalität und Legitimität des Regimes und blieb daher für dessen Existenzsicherung unentbehrlich. Laval, sein Regierungschef, war zwar unbeliebt und für die Herrschaftssicherung immer mehr auf die radikalen Kräfte, insbesondere die Miliz, angewiesen, behauptete jedoch seine zentrale Stellung im Herrschaftssystem. Er hatte zwar inzwischen alle Hoffnungen auf eine deutschfranzösische Verständigung verloren, hielt jedoch an der Kollaboration fest, weil er in ihr die einzige Möglichkeit sah, die Existenz des Regimes zu sichern und so die Basis für seinen politischen Einfluß zu erhalten. Er nutzte diesen, um die Funktionsfähigkeit des Staates und der Wirtschaft aufrechtzuerhalten, 49 und um eine soziale Revolution zu verhindern, welche die Gefahr einer kommunistischen Machtergreifung nach einem alliierten Sieg in sich barg. Sein Festhalten an der Kollaboration zwang das Regime, immer enger mit den deutschen Sicherheitskräften bei der Bekämpfung der Widerstandsbewegung zusammenzuarbeiten. So entwickelte sich mitten im Staatenkrieg als Folge von

46

Cf. ebda., S. 753.

47

Cf. u.a. Michèle Cointet-Labrousse , Vichy et le fascisme, Bruxelles 1987, S. 226ff.

48

Zu den Gründen cf. Pierre Laboirie, L'opinion française sous Vichy, Paris 1990, S. 282ff.

49

Cf. Fred Kupferman , op. cit. S. 440.

32 Timmermann / Gruner

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Kollaboration und Résistance ein franko-französischer Bürgerkrieg, der auf beiden Seiten mit wachsender Erbitterung geführt wurde. 50 Nach der alliierten Landung in der Normandie am 6. Juni 1944 erklärten Pétain und Laval die Neutralität des französischen Staates, Joseph Darnand verkündete dagegen die Generalmobilmachung der Miliz gegen die Widerstandsbewegung und vier Regierungsmitglieder, A. Bonnard, M. Déat, J. Bichelonne und F. de Brinon bekräftigten gemeinsam mit etwa 30 führenden Vertretern der Kollaboration die Zusammenarbeit mit Deutschland.51 Das Zweckbündnis zwischen Pétainisten, Lavalisten und Faschisten, auf denen die Regierung seit Januar 1944 beruhte, brach so in der Endphase des Regimes auseinander. Am 20. August wurden Pétain, Laval und ihre Mitarbeiter von den Deutschen gezwungen, Vichy zu verlassen und sich in Sigmaringen (Süddeutschland) niederzulassen. Aus Protest gegen ihr erzwungenes Exil stellten sie ihre Amtstätigkeit ein und beendeten damit de facto das Regime. Dessen Nachlaßverwaltung übernahm unter der Leitung des Generalbevollmächtigten der französischen Regierung beim deutschen Militärbefehlshaber Frankreichs, Ferdinand de Brinon, eine „französische Regierungsdelegation" aus faschistischen Kollaborateuren und radikalen Pétainisten. Sie war theoretisch die Interessenvertretung der sich noch im deutschen Machtbereich befindlichen Franzosen (Kriegsgefangene, Zivil- und Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, Mitglieder der Waffen-SS), politischen Einfluß besaß sie jedoch kaum. Die deutsche Kapitulation vom 8. Mai 1945 bedeutete auch ihr definitives Ende.52 Ι Π . Das Herrschaftssystem - Institutionen und Organisationen

Die neue Staatsführung unter Pétain wollte das liberale Herrschaftssystem der III. Republik durch ein autoritäres ersetzen.53 Mit Rücksicht auf die politischen und gesellschaftlichen Eliten, auf deren Unterstützung sie beim Aufbau der neuen Ordnung angewiesen war, beseitigte sie jedoch nicht radikal die bestehenden Institutionen und Organisationen, sondern entmachtete sie lediglich. So wurde das Parlament nicht aufgelöst, sondern nur sine die vertagt, die Parteien nicht verboten, sondern in ihren Handlungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, 50

Cf. Henri Amouroux, L'Impitoyable guerre civile, Paris 1983.

31

Cf. Marc Olivier Baruch, op. cit., S. 569.

52

Cf. Henri Rous so, Pétain et la fin de la collaboration, Sigmaringen, 1944-1945, Bruxelles

1984. 53

Cf. Philippe Pétain , Botschaft vom 10. Oktober 1940, in: Philippe Pétain, op. cit., S. 86ff.

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die Gewerkschaften und Verbände zwar aufgelöst, aber in neue Strukturen integriert. Gleichzeitig schuf sie neue Institutionen und Organisationen, die den Platz der alten einnahmen, jedoch mit diesen inhaltlich und funktional nicht identisch waren. Sie beruhten nicht auf Partizipation und Repräsentation, sondern auf Nomination und Kooperation. So entstand ein autoritäres Herrschaftssystem, das innerhalb gewisser Grenzen pluralistisch war und eine gewisse Mitwirkung gesellschaftlicher Kräfte ermöglichte, aber bereits den Keim seiner späteren Radikalisierung enthielt. 1. Die Institutionen Die Entparlamentarisierung und Entdemokratisierung des politischen Systems vollzog sich auf allen staatlichen Ebenen. So wurden nicht nur die beiden Kammern des nationalen Parlaments, Abgeordnetenhaus und Senat, sondern auch die Departementsversammlungen und die Gemeindevertretungen von Gemeinden mit über 2000 Einwohnern „suspendiert" bzw. aufgelöst. An ihre Stelle traten beratende Gremien, deren Mitglieder nicht von der Bevölkerung gewählt, sondern vom Staat ernannt wurden: auf der nationalen Ebene der Nationalrat, auf der departementalen Ebene die Verwaltungskommissionen und auf der Gemeindeebene die Gemeinderäte. Sie sollten die Regierung bzw. die Präfekten über die Probleme der Bevölkerung unterrichten und Vorschläge zu ihrer Lösung unterbreiten, nicht jedoch gesellschaftliche Interessen vertreten und an staatlichen Entscheidungsprozessen partizipieren. Sie besaßen deshalb einen geringen Einfluß und vermochten daher auch nicht, die gesellschaftlichen Eliten in das Regime zu integrieren. Die Suspendierung des Parlaments stärkte die Handlungsfähigkeit der Regierung, isolierte sie jedoch gleichzeitig von der Bevölkerung, weil sie die Vermittlertätigkeit der Parlamentarier aufhob. Die negativen Folgen dieser Isolation zeigten sich besonders in den besetzten Gebieten, wo die Presse infolge der deutschen Zensur nicht die Vermittlerfunktion der Parlamentarier übernehmen konnte. Pierre-Etienne Flandin, Repräsentant der konservativen Liberalen des Herrschaftsbündnisses und Außenminister des Regimes zwischen der Vizepräsidentschaft Lavais und der Darlans (13. Dezember 1941 bis 9. Februar 1942), schlug deshalb die Einberufung einer Notabeinversammlung vor, welche die Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft, Regierung und Bevölkerung durch die Einbindung der gesellschaftlichen Eliten in das Regime stärken sollte. Er erhoffte sich dadurch nicht nur eine Stärkung der staatlichen Autorität, insbesondere in den besetzten Gebieten, sondern auch seiner eigenen Position innerhalb der Regierung. Die konservativen Kräfte der Regimekoalition unter32*

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stützten seinen Vorschlag, da auch sie eine Institutionalisierung der Kommunikation zwischen Regime und den Eliten für erforderlich hielten.54 Pétain schuf daher am 22. Januar 1941 den „Nationalrat" (Conseil national).55 Diesem sollten sowohl Parlamentarier und Generalräte als auch Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften, der Universitäten, der Medien, der Kultur etc. angehören. Sie sollten alle Schichten und Gruppen der französischen Gesellschaft repräsentieren und den Staatschef bei der Gesetzgebung beraten.56 Sie sollten jedoch keine legislativen Kompetenzen erhalten. Trotz der Beschränkung des Conseil national auf eine rein konsultative Funktion fürchteten jedoch die Etatisten, daß durch ihn die traditionellen Eliten einen zu großen Einfluß auf den gouvernementalen Entscheidungsprozeß gewinnen könnten. Auf ihr Drängen wurde mit Gesetz vom 22. März 1941 der Nationalrat direkt dem Regierungschef unterstellt, seine Beratungsmöglichkeiten beträchtlich eingeschränkt und die Stellung seiner nichtparlamentarischen Mitglieder gestärkt. Die Entparlamentarisierung des politischen Systems erfolgte auch auf der departementalen Ebene. Durch Gesetz vom 12. Oktober 1940 wurden die gewählten Versammlungen der Departements aufgelöst und ihre Rechte auf die Präfekten übertragen. Gleichzeitig wurden Verwaltungskommissionen geschaffen, welche die Präfekten bei ihrer Arbeit beraten sollten. Sie bestanden jeweils aus 9 Mitgliedern, die die verschiedenen Berufs- und Interessengruppen des Departements repräsentieren sollten und vom Innenminister auf Vorschlag der Präfekten ernannt wurden. Entscheidend für ihre Ernennung war ihre politische Gesinnung, d.h. ihre Regimenähe und nicht ihre Fachkompetenz. Dies führte dazu, daß die Verwaltungskommissionen zu Domänen der Pétainisten wurden. Um zu verhindern, daß die politischen Eliten der III. Republik die Verwaltungskommissionen unterwanderten, durften maximal ein Drittel ihrer Mitglieder ehemalige Parlamentarier sein, zwei Drittel mußten dagegen aus Personen bestehen, die noch kein öffentliches Amt oder politisches Mandat ausgeübt hatten. Die restriktive Auslegung dieser Bestimmung durch das Innenministerium führte dazu, daß lediglich 10% der Kommissionsmitglieder ehemalige Abgeordnete der Generalräte waren.57 Unter diesen dominierten Angehörige der 34 Cf. u.a. René Gillouin, Souveraineté et représentation, in: Revue universelle, 25. November 1941, S. 617f. 35

Cf. Michèle Cointet-Labrousse , Le Conseil national de Vichy. Vie politique et réforme de l'Etat en régime autoritaire, 1940-1944, Paris 1989. 36

Cf. Gesetz über die Schaffung des Nationalrates vom 22.01.1941, in: René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement.., op. cit.., Annexe, S. 319f. 37

Cf. James Steel et al., Les commissions administratives départementales, in: René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement.., op. cit., S. 57.

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Rechtsparteien. Sie spiegelten somit keineswegs das politische Kräfteverhältnis der aufgelösten Departements Versammlungen wider. Die Verwaltungskommissionen erfüllten in den meisten Fällen nicht die in sie gesetzten Erwartungen. Da ihre Mitglieder in der Regel nicht wie vorher die Abgeordneten der Departementsversammlungen in Verbands- oder Parteistrukturen eingebunden waren, konnten sie auch nicht die ihnen zugedachte Informations- und Beratungsfunktion befriedigend erfüllen. Viele Präfekten zogen es daher vor, ihre Arbeit ohne die Hilfe der Verwaltungskommissionen zu erledigen. Diese vermochten somit nicht das Vakuum zu füllen, das durch die Auflösung der gewählten Departementsversammlungen entstanden war. Laval ersetzte sie daher im August 1942 durch Departementsräte. Diese besaßen zwar auch nur eine beratende Funktion, sie sollten jedoch repräsentativer als die Verwaltungskommissionen sein. Laval bemühte sich daher, ehemalige Abgeordnete der Generalräte, insbesondere der liberal-demokratischen Mitte, der er selbst einst angehörte, für die Mitarbeit in den Departementsräten zu gewinnen. Nur wenige waren jedoch zur Mitarbeit bereit, weil das Regime zu diesem Zeitpunkt bereits zu unpopulär geworden war. Lavais Bemühungen, die Departementsräte zu funktionsfähigen Beratungs- und Vermittlungsorganen des Regimes auf departementaler Ebene zu machen, scheiterten. Wohl aber ist es ihm gelungen, mit ihrer Hilfe den Einfluß der Pétainisten auf die Departementsverwaltung zu verringern, indem er die Departementsräte überwiegend mit seinen Anhängern besetzte. Auf der kommunalen Ebene beschränkte sich die Entparlamentarisierung auf Gemeinden mit über 2000 Einwohnern, in denen jedoch die Mehrheit der französischen Bevölkerung lebte. Deren Bürgermeister und Gemeinderäte wurden nicht mehr von den Einwohnern gewählt, sondern vom Staat ernannt.58 Das Regime nutzte hier auch seine Personalhoheit, um unliebsame Bürgermeister zu ersetzen.59 Allerdings stieß es dabei noch weit stärker als bei der Besetzung der Vewaltungskommissionen an seine personellen Grenzen. Ohne die Personalreserven einer Staatspartei hatte es große Schwierigkeiten, geeignetes, d.h. regimetreues bzw. staatsnahes Personal für die Besetzung kommunaler Ämter zu finden. In den Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern ließ es daher die demokratisch gewählten Bürgermeister und Gemeinderäte im Amt. Allerdings unterlagen diese einer verstärkten staatlichen Aufsicht. Außerdem hatte der Staat aufgrund des Gesetzes vom 16. November 1940 die Möglichkeit, unliebsame Gemeindeverwaltungen abzusetzen. Seine Kontrolle erstreckte sich somit 58

Gesetz vom 16. November 1940. Cf. Marc Oliver Baruch , op. cit., S. 2 f f .

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auch auf die kleinen Landgemeinden. Infolge des Fehlens eines totalitären Apparats blieb die politische Durchdringung der kommunalen Ebene jedoch unvollkommen und erreichte nie die gleiche Intensität wie etwa im nationalsozialistischen Deutschland. Die Gemeindeverwaltungen konnten daher eine gewisse Eigenständigkeit bewahren, was ihre Durchdringung durch die Widerstandsbewegung ab November 1942 erleichterte. Die vom Regime neu geschaffenen Institutionen sollten vor allem die Autorität des Staates und die politische Stabilität garantieren. Sie erfüllten jedoch nicht diese Aufgaben. Die Autorität des Staates zerfiel seit Sommer 1941 kontinuierlich und die Instabilität der Institutionen blieb sehr groß. So wurde die Regierung in den Jahren 1940-1942 sechsmal grundlegend umgebildet und die Chefs der Schlüsselministerien mehrmals ausgewechselt: die des Außenministeriums viermal, die des Innen- und Erziehungsministeriums fünfmal und die des Industrieministeriums sechsmal. Eine solche Regierungsinstabilität hatte die vielgescholtene III. Republik lediglich in den Jahren 1932-1936 erlebt. Schuld an dieser Instabilität besaßen vor allem der wachsende interne und externe Problemdruck, die Heterogenität der Regimekoalition und das Fehlen von effizienten Konfliktlösungsmechanismen. Da es weder ein Parlament noch eine freie Meinungs- und Willensbildung gab, konnten Konflikte auch nicht offen ausgetragen werden, sondern verlagerten sich in den Staatsapparat sowie in die Regierung. Theoretisch sollte sie hier Pétain als oberster Schiedsrichter lösen, in der Praxis aber war er gegenüber den unzähligen Hofintrigen weitgehend machtlos, da er weder die Begabung noch die Erfahrung eines Staatsmannes besaß und auch über kein homogenes Beratergremium verfügte, das einen effizienten Entscheidungsprozeß hätte organisieren können. Der Autoritarismus und Personalismus des Regimes erwiesen sich daher als kontraproduktiv. 2. Parteien und Organisationen Die neue Staatsführung betrachtete Parteien und politische Organisationen als „Faktoren der nationalen Zwietracht" sowie als „Ausdruck partikularer Interessen", welche die nationale Einheit gefährdeten und damit Frankreich schwächten.60 Es löste die bereits vor Juni 1940 gegründeten Parteien jedoch zunächst nicht auf, sondern entmachtete sie lediglich. So verloren sie durch die Entparlamentarisierung des politischen Systems ihre zentralen Funktionen, nämlich die Elitenrekrutierung sowie die Organisation von Wahlkämpfen und durch die Pressezensur die Möglichkeit, die Öffentlichkeit politisch zu beein60

Cf. Philippe Pétain , Botschaft vom 10. Oktober 1940, in: Philippe Pétain , op. cit., S. 86ff.

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Aussen. Sie blieben jedoch in der unbesetzten Zone als Organisationen bestehen. In der besetzten Zone wurden sie dagegen von den Deutschen mit Ausnahme der faschistischen und der nazistischen Gruppierungen aufgelöst. Außerdem blieb das bereits durch die Regierung Daladier im September 1939 ausgesprochene Verbot der kommunistischen Partei (PCF) bestehen. Die Haltung des Regimes gegenüber den Parteien wurde in hohem Maße von opportunistischen Überlegungen bestimmt. Die Parteien bildeten im Sommer und Herbst 1940 keine Gefahr für das Regime, da sie durch ihre enge Bindung an die III. Republik diskreditiert und durch ihre internen Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern Pétains geschwächt waren. Sie besaßen jedoch als Ansprechpartner beim Aufbau der neuen Institutionen und Organisationen noch eine gewisse Nützlichkeit. Das galt ganz besonders für die nationalistische Parti Social Français des Obristen de La Rocque, die dem Regime, insbesondere Pétain, positiv gegenüberstand. In dem Maße, wie sich die politische Klasse vom Schock der Niederlage erholte und in der Bevölkerung die Unzufriedenheit mit dem Regime wuchs, drohten die demokratischen Parteien zu Kristallisationskernen einer systeminternen Semiopposition zu werden. Das Regime „suspendierte" sie daher im Zuge seiner Repressionsmaßnahmen im August 1941 und verbot ihnen alle politischen Aktivitäten. Sie durften keine Versammlungen mehr abhalten, keine Öffentlichkeitsarbeit mehr betreiben, keine Mitglieder werben. Bei Zuwiderhandlung drohte ihnen die Auflösung. Das Regime schreckte jedoch vor einem direkten Verbot zurück, weil es aus taktischen Gründen den Kontakt zur alten politischen Klasse nicht völlig abbrechen wollte. Dies war aber auch nicht nötig, weil die offiziellen Parteivorstände die staatlichen Anordnungen befolgten. Gegenüber den Oppositionskräften innerhalb der Parteien wäre es wirkungslos gewesen, da diese im Untergrund operierten. 61 Das Regime entmachtete jedoch nicht nur die demokratischen Parteien und Organisationen in seinem unmittelbaren Herrschaftsbereich, sondern es untersagte auch den in der besetzten Zone zugelassenen faschistischen und nazistischen Parteien sowie ihren Nebenorganisationen und Milizen jegliche Aktivität in der unbesetzten Zone, und es widersetzte sich energisch allen Bestrebungen zur Gründung einer Einheitspartei. Es wollte dadurch nicht nur eine Ausdehnung des faschistischen bzw. nazistischen Einflusses auf die unbesetzte Zone verhindern, sondern auch sein eigenes Organsationsmonopol wahren. Es nutzte dieses zur Gründung zahlreicher „staatsbürgerlicher" (civique), d.h. staatstragender Organisationen für spezifische Sozialgruppen - Kriegsveteranen, Kriegs61

Cf. für die Sozialisten Marc Sadoun, op. cit.

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gefangene, Wehrpflichtige, Arbeitslose, Jugendliche - oder für spezifische Aufgaben - Propaganda, soziale Dienste, Katastrophen- und Bombenschutz-, um die Bevölkerung für seine eigenen Ziele zu mobilisieren. So entstand ein systeminterner Organisationspluralismus, insbesondere im Jugendbereich, durch den sich das Regime signifikant von den totalitären Regime unterschied.62 3. Die Legion Als Alternative zu den Parlamentsparteien gründete das Regime keine Einheitspartei nach faschistischem Vorbild, wie es der Neo-Sozialist Marcel Déat im Juli 1940 vorschlug (s.o.), sondern eine Massenorganisation, die Légion française des Combattants, um mit Hilfe der Kriegs Veteranen die Verbindung zwischen Staatsführung und Bevölkerung zu erneuern, die durch die Entmachtung der alten politischen Klasse zerstört worden war. Die Legion sollte einerseits die Ideen der „Nationalen Revolution" propagieren, andererseits die Staatsführung über die Stimmung in der Bevölkerung informieren. Sie sollte jedoch nicht die Funktion einer politischen Partei ausüben, d.h. sich am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozeß sowie an der politischen Führungsauslese bzw. der Kaderbildung beteiligen. Die neuen Machthaber wollten ein zuverlässiges Instrument politischer Einflußnahme und Kontrolle, keine autonome politische Kraft. 63 Die Legion sollte alle Kriegsveteranen unabhängig von ihren politischen, religiösen oder ideologischen Überzeugungen erfassen, so wie die Armeen von 1914-1918 und 1939/40 alle Wehrpflichtigen unabhängig von ihren individuellen Überzeugungen erfaßt hatten. Die Mitgliedschaft in der Legion war freiwillig, Mitglied in ihr durften jedoch nur ehemalige Frontkämpfer werden, die von zwei staatstreuen Paten präsentiert wurden, um politisch unliebsame Personen fernhalten zu können. Die politisch-weltanschaulich orientierten Veteranenverbände wurden daher aufgelöst, ihr Vermögen an die Legion übertragen. Auf diese Weise wurden die alten Verbandsführungen entmachtet und die Kriegsveteranen gezwungen, der Legion beizutreten, wenn sie sich weiterhin für ihre Interessen und Ideale engagieren wollten. Die Legion war hierarchisch und zentralistisch wie eine militärische Einheit strukturiert, so daß sie leicht von der Führung kontrolliert werden konnte. Die62 Cf. Pierre Philippe Lambert/Gérard Français. Vichy 1940-1944, Paris 1992.

Le Marec, Organisations, Mouvements et Unités de l'Etat

63 Cf. Jean-Paul Cointet, La Légion française des combattants. La tentation du fascisme, Paris 1995, S. 25ff.

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se wurde vom Staat durch den Staatssekretär für die ehemaligen Frontkämpfer, Xavier Vallat, einem Abgeordneten der nationalistischen Rechten, ernannt. Das Führungspersonal der mittleren Ebene (Departements und Regionen) wurde zwar von den jeweils untergeordneten Organisationseinheiten designiert, mußte jedoch von der Verbandsführung bestätigt werden. Diese konnte daher seine personelle Zusammensetzung bestimmen. Lediglich die Führer der unteren Ebene (Ortsverbände) wurden von den Mitgliedern direkt gewählt. Ihre Kompetenzen waren jedoch gering. Auf diese Weise sicherte sich der Staat die Kontrolle über die Legion, gewährte ihren Mitgliedern jedoch auf deren unteren Ebenen gewisse Mitbestimmungsrechte, um sie besser in den Verband integrieren zu können. An den Spitze der Legion stand ein Direktorium aus 20 Personen. Dessen Präsident war Philippe Pétain in seiner Eigenschaft als Marschall von Frankreich, nicht als Staatschef, da die Legion als persönliche Gefolgschaft des „Siegers von Verdun", des „höchstdekorierten Offiziers des 1. Weltkrieges" erscheinen sollte, nicht als staatliche Organisation.64 Die drei Vizepräsidenten, der Generalsekretär sowie die übrigen Direktoriumsmitglieder kamen alle aus der nationalistischen bzw. national-konservativen Rechten. Die Traditionalisten der Action française waren ebensowenig wie die Liberalen und Linken im Direktorium vertreten. 65 Auch das Führungspersonal der mittleren Ebene kam überwiegend aus dem nationalistischen bzw. dem national-konservativen Lager, seine Mitglieder hatten jedoch weder einer Partei angehört noch in den aufgelösten Veteranenverbänden leitende Funktionen ausgeübt. Es schien so geeignet zu sein, die weltanschaulichen und politischen Gegensätze zwischen den Mitgliedern der alten Veteranenverbände überbrücken zu können.66 Die Legion entwickelte sich dank des Prestiges Pétains und ihres Organisationsmonopols in der unbesetzten Zone bis zum Frühjahr 1941 zu einer Massenorganisation mit etwa 600 000 Mitgliedern. 67 Sie bekannte sich zu den Ideen der „Nationalen Revolution", unterstützte auch Pétain, blieb jedoch im wesentlichen eine Veteranenvereinigung, deren Aktivitäten sich in Traditionspflege, Totenkult, Kameradschaftsdienst und soziale Fürsorge für Angehörige von 64

Cf. die Denkschrift von Xavier Vallat, des Ministers der ehemaligen Frontkämpfer, an den Staatschef vom 26. August 1940, abgedruckt in: Jean-Paul Cointet, La Légion..., op. cit. Annexe, S. 389ff. sowie den Bericht über die Motive des Gesetzes vom 29. Äugst 1940 über die Gründung der Legion, ebda. S. 393ff. 65

Cf. ebda., S. 61ff.

66

Cf. ebda., S. 74ff. Cf. ebda., S. 2 f f .

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Kriegsgefangenen erschöpfte. Gelegentlich versuchten sich einige ihrer Mitglieder auf lokaler Ebene in staatliche Angelegenheiten einzumischen, stießen jedoch auf den entschiedenen Widerstand der Präfekten. Der politische Einfluß der Legion auf Staat und Verwaltung blieb daher gering. Admiral Darlan, der für die innenpolitische Absicherung seiner Kollaborations- und Modernisierungspolitik die Unterstützung einer dynamischen Organisation benötigte, wollte die Legion in eine politische Bewegung umwandeln. Er plante deshalb ihre Fusion mit der „Parti Social Français", die 1936 aus der nationalistischen Liga „Croix de feu" hervorgegangen war. Der Vorsitzende der PSF, Oberst de La Rocque, lehnte jedoch eine Fusion ab, weil sie das Ende seiner Partei und damit seiner eigenen Machtstellung im Herrschaftssystem bedeutet hätte. Darlans Anhänger bemühten sich deshalb um die interne Transformation der Legion durch eine Reorganisation ihrer Führungsstrukturen, eine Ausarbeitung einer eigenen Progammatik und ihre Öffnung für Nichtkombattanten. Infolge des heftigen Widerstandes der Konservativen erzielten sie jedoch nur einen Teilerfolg. Im November 1941 wurde die Legion in „Légion Française des Combattants et des Volontaires de la Révolution Nationale" umbenannt, ihre Führungsstruktur neu geordnet und ihre Reihen Nichtkombattanten geöffnet. Pétain blieb ihr Präsident, aber der Regierungschef Darlan wurde ihr eigentlicher Führer. Er veranlaßte und kontrollierte die Durchführung der Anweisungen des Präsidenten und beherrschte damit ihre Aktivitäten. An die Stelle des Direktoriums trat ein „Bureau civique" als neues Führungsorgan, dem auch radikale Pétainisten wie Paul Marion angehörten, und es wurde ein Nationalrat geschaffen, der die Mitglieder auf der nationalen Ebene repräsentierte. Damit erhielt die Legion de facto die Struktur einer Staatspartei. Interne Regelungen sorgten jedoch dafür, daß die Gefolgsleute des Marschalls, die „Maréchalisten", weiterhin die Organisation beherrschten. Die Legion blieb daher trotz ihrer Reorganisation eine nationalkonservative Organisation.68 Eine Intensivierung der staatlichen Kontrolle sorgte jedoch dafür, daß sich die Legion nicht zu einer autonomen politischen Kraft entwickelte. Durch die staatlichen Instruktionen vom 26. Februar 1942 wurden die organisatorischen Leitungen der nationalen, departementalen und lokalen Ebene in den Staat bzw. seine Verwaltung integriert, ohne jedoch ein Mitbestimmungsrecht an staatlichen Entscheidungen zu erhalten. So wurde z.B. der Generaldirektor der Legion, der für organisatorische Fragen zuständig war, direkt dem Staats- sowie dem Regierungschef unterstellt und damit dem direkten Einfluß der Führungsgremien der Legion (bureau civique und Nationalrat) entzogen. Er durfte jederCf. ebda., S. 7ff.

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zeit den Staats- und den Regierungschef über die internen Angelegenheiten der Legion informieren, aber nicht zu politischen Fragen Stellung nehmen. Analog zu dieser Regelung erfolgte die Verzahnung von Staat und Legion auf gouvernementaler, departementaler und lokaler Ebene. Der Staat, d.h. konkret die Regierung und die Präfekten, konnte so ihre Kontrolle der Legion verstärken, diese hingegen aber nur in Ausnahmefällen staatliche Entscheidungsprozesses beeinflussen. 69 Da die konservativen Kräfte auch nach der Reorganisation vom November 1941 weiterhin die Legion intern beherrschten, sammelten sich ihre radikalen Kräfte in einer Unterorganisation, dem Ordnungsdienst (Service d'Ordre Légionnaireson), der sich mit der deutschen SA vergleichen läßt. Seine Mitglieder trugen Uniformen, waren jedoch nicht bewaffnet. Sie sollten vor allem der Verwaltung, der Polizei und der Justiz bei der Bekämpfung des Schwarzmarktes sowie der Kleinkriminalität helfen. Gegründet wurde der Ordnungsdienst von Joseph Darnand, dem Chef der Legion im Departement Alpes-Maritimes. Er war aktiver Soldat im 1. Weltkrieg gewesen und hatte in der Zwischenkriegszeit verschiedenen nationalistischen Organisationen angehört, unter anderem auch der Action Française. Im August 1940 trat er der Legion bei und baute ab November 1941 mit aktiver Unterstützung Darlans sowie des Innenministers Pucheu den Ordnungsdienst auf. Am 12. Januar 1942 wurde dieser als Unterorganisation der Legion anerkannt und erhielt damit einen offiziellen Status.70 Laval betrachtete die Legion als Bollwerk der Pétainisten und suchte daher ihren Einfluß zu begrenzen. Wie sein Vorgänger Darlan wollte er sie aber auch als staatliches Herrschaftsinstrument nutzen und suchte sie daher im Sommer 1942 durch personalpolitische Maßnahmen und rechtliche Verfügungen unter seine Kontrolle zu bringen. Am 4. Juni 1942 ernannte er einen engen Vertrauten aus der Zeit der III. Republik, den liberal-demokratischen Parlamentarier Raymond Lachal, zum neuen Generaldirektor und den Chef des Ordnungsdienstes der Legion (SOL), Joseph Darnand, zu seinem persönlichen Verbindungsmann. Mit Hilfe Darnands hoffte er, die Kontrolle über den Ordnungsdienst zu gewinnen und diesen auf diese Weise zu seiner Hausmacht zu machen. Darnand gehörte nicht dem gleichen politisch-sozialen Milieu an wie Laval und Lachal und teilte auch nicht deren Zielsetzung, war jedoch aus taktischen Gründen zu einer Zusammenarbeit mit ihnen bereit, da er durch den Regierungswechsel vom April 1942 seinen Rückhalt im Regierungsapparat verloren hatte und da69

Cf. ebda.

70

Cf. ebda.

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her dringend neue Verbündete für den Aufbau des SOL brauchte. Die Zusammenarbeit zwischen Laval und Darnand war somit ein reines Zweckbündnis. Laval sicherte sich jedoch die Kontrolle über die Legion nicht nur durch die Besetzung von Führungspositionen mit seinen Vertrauten bzw. Verbündeten, sondern auch rechtlich durch ihre Unterstellung unter das Staatssekretariat für die Kriegs Veteranen (Anciens Combattants), das er als Innenminister kontrollierte. 71 Die Legion verlor unter Laval rasch an Bedeutung und innerem Zusammenhalt. Da sie die unpopuläre Politik des Regierungschefs unterstützte, wurde sie von der Bevölkerung auch mit dieser identifiziert und büßte so weiter beträchtlich an Ansehen ein. Aber auch in ihren eigenen Reihen wuchs der Unmut über die Unterstützung der Regierungspolitik, insbesondere des Obligatorischen Arbeistsdienstes (STO), der von der Legionsführung als „patriotische Pflicht" (Lachal) bezeichnet wurde. Viele Mitglieder der Legion traten daher aus dieser aus oder beteiligten sich nicht mehr an ihren Aktivitäten. Ihre Führung versuchte zunächst, den Niedergang der Legion durch ein Treuebekenntnis zu Pétain und den Idealen der „Nationalen Revolution" aufzuhalten. 72 Da die Reaktion innerhalb und außerhalb des Verbandes jedoch eher negativ war, erklärte die Legion in einem neuen Manifest vom 13. Oktober 1943 ihre Autonomie im Herrschaftssystem sowie ihre Unabhängigkeit von der Regierung.73 Laval verlangte daraufhin von Pétain ihre Auflösung. Da dieser seine Forderung ablehnte, kürzte Laval der Legion drastisch die Subventionen und schränkte außerdem ihre Aktionsmöglichkeiten ein. Dadurch ging deren Einfluß weiter zurück. Entscheidend für ihren Niedergang war jedoch die Entmachtung Pétains im November 1943. Durch diese verlor sie ihren Rückhalt in der Staatsspitze und hörte damit auf, ein Machtfaktor zu sein. Bis zum Ende des Regimes im August 1944 existierte sie zwar noch als Veteranenverband weiter, besaß jedoch keine politische Bedeutung mehr. Die Entmachtung Pétains bedeutete somit auch ihr politisches Ende.74

71

Cf. ebda., S. 217.

72

Cf. das Manifest vom 29. August 1943, abgedruckt, in: ebda., Annexe VII, S. 405ff.

73

Cf. den Text des Manifests vom 13. Oktober 1943, in: ebda., Annexe VII, S. 409f.

7

C f . ebda., S.

7ff.

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4. Jugendorganisationen Das Schwanken des Regimes zwischen Paternalismus und Autoritarismus, Pluralismus und Faschismus zeigt sich ebenfalls deutlich an seiner Jugend- und Erziehungspolitik. Es wollte auch die Jugend im Geiste der „Nationalen Revolution" erziehen und schuf daher bereits am 12. Juli 1940 neben dem Erziehungsministerium ein Ministerium für Jugend, Familie und Sport unter der Leitung des autoritären Nationalisten Jean Ybarnégary (PSF). Im September 1940 wurde das Ministerium in ein Generalsekretariat für allgemeine Erziehung und Sport unter der Leitung von Jean Borotra und ein Generalsekretariat für Jugendfragen unter der Leitung von Georges Lamirand geteilt. Jean Borotra war ein Absolvent der Elitehochschule Polytechnique und bekannter Sportler, der die Jugend durch den Sport ertüchtigen wollte, um ein Gegengewicht zur intellektuellen Erziehung zu schaffen. Er stand den autoritären Nationalisten nahe, gehörte jedoch keiner Partei oder Bewegung an.75 Georges Lamirand war Ingenieur, der aus der katholischen Jugendbewegung kam und unter dem Einfluß der politischen Ideen von Marschall Lyautey, einem konservativ-katholischen Nationalisten, stand.76 Er blieb an der Spitze des Jugendsekretariats bis zum Februar 1943.77 Wie im politischen System so entschied sich aber auch das Regime im Jugendbereich gegen die Gründung einer staatlichen Einheitsorganisation, einer „Einheitsjugend" (Jeunesse unique), sondern suchte statt dessen die Kooperation mit den konfessionellen, konservativen und apolitischen Jugendverbänden. Durch ihre Einbindung in staatliche Strukturen wollte es eine „geeinte Jugend" (Jeunesse unie) schaffen, die sich zum neuen Staat und der „Nationalen Revolution" bekannte, aber ihre organisatorische Eigenständigkeit und weltanschauliche Vielfalt behielt. Entscheidend für die Ablehnung einer einheitlichen staatlichen Jugendorganisation nach faschistischem oder nach nationalsozialistischem Vorbild waren die pluralistischen Vorstellungen der gemäßigten Pétainisten, die 1940 die Jugendpolitik beherrschten, sowie die enge Bindung an die katholische Kirche. Die gemäßigten Pétainisten, insbesondere Georges Lamirand, bejahten grundsätzlich den Verbändepluralismus innerhalb der Jugendbewegung, schlossen von diesem jedoch die linken sowie laizistischen Jugendverbände aus. Deshalb wurden auch nur diese aufgelöst. Außerdem standen sie der katholischen Jugendbewegung, aus der sie kamen, nahe und wollten unter 75

Cf. Pierre Giolitto, Histoire de la Jeunesse sous Vichy, Paris 1991, S. 186ff.

76

Cf. Georges Lamirand, Le rôle social de l'ingénieur, Paris 1932.

77

Cf. Pierre Giolitto, op. cit., S. 438ff.

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allen Umständen einen Konflikt mit der katholischen Kirche vermeiden, der den Aufbau und die Konsolidierung des Regimes, insbesondere im Jugendbereich, erheblich erschwert hätte, da die katholische Kirche die Selbständigkeit ihrer Jugendorganisationen hartnäckig verteidigte. Das Projekt einer „Einheitsjugend", das von den radikalen Pétainisten propagiert wurde, scheiterte daher an ihrem Widerstand. Der Verbandspluralismus blieb so innerhalb des konservativ-katholischen Spektrums erhalten.78 Die radikalen Kräfte des Regimes, die sich mit ihrer Forderung nach Gründung einer Einheitsjugend im Sommer 1940 nicht hatten durchsetzen können, versuchten nun die Jugendverbände mit Hilfe der Propaganda politisch gleichzuschalten. So erklärte der Propagandachef des Jugendsekretariats, Georges Pélorson, im März 1941 vor Jugendvertretern: „Wenn ich von Einheit spreche, dann meine ich nicht nur Gemeinsamkeit, sondern absolute Glaubensgemeinschaft unter der gleichen Fahne, unter den gleichen Befehlen des gleichen Chefs". 79 Die Jugendverbände wehrten sich mit Hilfe der gemäßigten Pétainisten und der katholischen Kirche erfolgreich gegen diese Gleichschaltungsbestrebungen und konnten so ihre Eigenständigkeit wahren. Die Auseinandersetzungen zwischen Anhängern und Gegnern des Verbandspluralismus erreichten einen neuen Höhepunkt im März 1942. Einige radikale Pétainisten, unter ihnen der Innenminister Pierre Pucheu, der zukünftige Erziehungsminister Lavais, Abel Bonnard, sowie der stellvertretende Generalsekretär für Jugendfragen, Georges Pélorson, forderten im Conseil national erneut die Gründung eines Einheitsverbandes. Dank der Rückendeckung durch Pétain und der katholischen Kirche konnten die gemäßigten Pétainisten diese erneute Offensive jedoch abermals abwehren.80 Der Verbandspluralismus wurde jedoch ab Januar 1943 durch den neuen Erziehungsminister, den nationalistischen Intellektuellen und Kollaborateur Abel Bonnard, inhaltlich ausgehölt. Dieser entließ am 21. März 1943 Georges Lamirand und entmachtete Georges Pélorson, indem er den Posten des stellvertretenden Generalsekretärs abschaffte. Neuer Generalsekretär wurde ein enger Vertrauter des Erziehungsministers, Felix Olivier-Martin, ein autoritärer Nationalist, der politisch der Parti Social Français von de La Rocque nahe gestan78

Cf. ebda.

79 Zit. nach Aline Coutrot , Quelques aspects de la politique de la jeunesse, in: René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement, op. cit., S. 272. 80 Cf. Michèle Coinîet-Lab rousse, op. cit., S. 198ff.; Winfried Vichy, Paris 1988.

Halls , Les jeunes et la politique de

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den hatte. Dieser hielt zwar formal am organisatorischen Verbandspluralismus fest, verstärkte jedoch die staatlichen Eingriffe, um die Verbände politisch gleichzuschalten. So wurden z.B. nicht nur Jugendfuhrer der „Compagnons" abgelöst, sondern auch kritische Jugendzeitschriften verboten. Im Zuge der Regierungsumbildung vom Dezember 1943 wurde das Jugendsekretariat aufgelöst und durch ein Generalkommissariat ersetzt, das unmittelbar dem Erziehungsminister unterstellt wurde. Generalkommissar wurde ein enger Mitarbeiter von Abel Bonnard, der Philosophielehrer und ehemaliger Leiter der Kaderschule von Mayet-de-Montagne, Maurice Gai't. Unter seiner Führung verstärkte sich der staatliche Einfluß weiter. Das Jugendsekretariat folgte somit in seiner Entwicklung der allgemeinen Entwicklung des Regimes. Aus einer Bastion des Verbandspluralismus wurde innerhalb von knapp vier Jahren ein Instrument staatlicher Gleichschaltungspolitik. Da dem Regime jedoch auch in der Jugendpolitik die eigenen Kader fehlten, vermochte es die Jugendverbände nicht völlig seiner Kontrolle zu unterwerfen. Diese konnten daher bis zum Schluß eine gewisse interne Autornomie bewahren.81 Die Stellung der kirchlichen und edukativen Jugendverbände wurde jedoch nicht nur durch staatliche Gleichschaltungsbestrebungen und Einheitsjugendpläne, sondern ebenfalls durch die Gründung neuer Jugendverbände bedroht. Deren Spannbreite reichte von den regimenahen „Compagnons de France" über die nationalistische „Jeunesse de France et d'Outre-mer" und die „Jeunes du Maréchal" bis hin zu den national-sozialistischen „Jeunes de l'Europe nouvelle" des „Rassemblement National Populaire" von Marcel Déat. Diese neuen Jugendverbände bemühten sich besonders um die Gewinnung der nichtorganisierten Jugendlichen, die etwa 85% der Jugend ausmachten und bedrohten so die Vormachtstellung der etablierten Jugend verbände. Die gemäßigten Pétainisten des Jugendsekretariats behinderten deshalb ihre Arbeit so gut sie konnten, währen die radikalen Pétainisten sie unterstützten (s.o.). Zur Bewältigung spezifischer Jugendprobleme, die sich aus dem Krieg, der Flucht und der Niederlage ergaben, wie z.B. die Entwurzelung zahlreicher Jugendlicher, die Demobilisierung der jungen Wehrpflichtigen und die Jugendarbeitslosigkeit, gründete das Regime aber auch eigene Jugendorganisationen. Dabei bediente es sich auch privater Initiativen, da es für diese spezifischen Jugendprobleme über keine eigenen Lösungskonzepte verfügte. So entstanden die „Jugendarbeitslager" (Chantiers de la Jeunesse) und die Jugendbewegung „Compagnons de France". Die Idee der „Chantiers de la Jeunesse" stammte von General de la Porte du Theil, einem ehemaligen Pfadfinderführer. Dieser 81

Cf. Pierre Giolitto, op. cit., S. 455ff.

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wollte die demobilisierten jungen Wehrpflichtigen unter der Anleitung von demobilisierten Offizieren physisch und moralisch im Geiste der „Nationalen Revolution" erziehen, um sie so auf einen späteren Wehrdienst vorzubereiten. Die Armeeführung unterstützte sein Projekt, weil sie in ihm eine Möglichkeit sah, die wehrfähigen Jugendlichen trotz der Suspendierung des Wehrdienstes unter Kontrolle zu halten. Pétain beauftragte jedoch das Jugendsekretariat mit der Durchführung des Projekts, um einen Konflikt mit der Waffenstillstandskommission zu vermeiden. Ab Januar 1941 mußten alle wehrpflichtigen Jugendlichen der unbesetzten Zone und Algeriens neun Monate in den „Jugendarbeitslagern" verbringen. Sie wurden dort vor allem mit gemeinnützigen Arbeiten beschäftigt. In der besetzten Zone wurden die „Jugendarbeitslager" von den deutschen Militärbehörden nicht zugelassen, weil diese in ihnen paramilitärische Ausbildungszentren sahen.82 Im Gegensatz zu den deutschen Befürchtungen und wohl auch zu den geheimen Hoffhungen ihrer militärischen Förderer entwickelten sich jedoch die „Jugendarbeitslager" zu einer Art Arbeitsdienst, der bis zum Frühjahr 1943 gut funktionierte. Als sie jedoch in den obligatorischen Arbeitsdienst STO einbezogen wurden, begannen sie sich aufzulösen, weil viele Jugendliche sie verließen, um nicht von ihnen aus direkt zum „Reichseinsatz" nach Deutschland zwangsverschickt zu werden. Die Jugendorganisation „Compagnons de France" wurde von Henri Dhavenas, einem jungen Finanzinspektor, gegründet, der in seiner Jugend den Pfadfindern angehört hatte und sich nach seiner Demobilisierung im Sommer 1940 dem Regime anschloß, ohne einer bestimmten Gruppe der Herrschaftskoalition anzugehören. Er wollte vor allem junge Arbeitslose in Strukturen einbinden, um sie vor Müßiggang und Verwahrlosung zu schützen. Den „Compagnons" gehörten deshalb vor allem Arbeitslose im Alter zwischen 15 und 20 Jahren an. Sie sollten durch gemeinnützige Arbeiten dem Vaterland dienen und zu Vorkämpfern der „Nationalen Revolution" werden.83 Die Organisation gliederte sich in „Kompanien", die spezifische Aufgaben besaßen: Landkompanien, deren Mitglieder in der Landwirtschaft arbeiteten; Stadtkompanien, deren Mitglieder gemeinnützige Arbeiten verrichteten; Handwerkskompanien, deren Mitglieder wie Wanderburschen durch die Lande zogen, und eine Theaterkompanie, die ebenfalls von Ort zu Ort wanderte. Die Kommunikationsformen und Rituale der „Compagnons" waren stark von der Pfadfinderromantik geprägt, weshalb sie besonders für die Pfadfinder eine Konkurrenz bildeten. Die Mitgliedschaft in ihr war freiwillig. Nach offiziellen Angaben gehörten ihr 25 000 82 83

Cf. ebda., S. 202ff.; Jean Hervet, Les Chantiers de la jeunesse, Paris 1962.

So Pétain in einer Ansprache an die Compagnons im September 1941, cf. La France militaire, 10.09.1941, zit. nach Robert O. Paxton, op. cit., S. 205.

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Jugendliche an, nach deutschen Schätzungen aber im März 1941 lediglich 8 000, von denen sich im Juni 1942 nur 3 350 in Lagern befanden. 84 Ihr Einfluß auf die Jugendlichen wird daher gering gewesen sein. Das Regime beschränkte sich in der Jugendpolitik jedoch nicht auf die Kooperation mit den Jugendverbänden und die Schaffung eigener Einrichtungen wie die „Chantiers" und die „Compagnons", sondern kümmerte sich auch um die Erziehung des künftigen Führungspersonals durch die Gründung von Kaderschulen in ganz Frankreich. An der Spitze dieses Kaderausbildungssystems standen drei nationale Ausbildungsstätten, zwei in der unbesetzten Zone, in Ecully für Mädchen und in Uriage für Jungen, sowie eine in der besetzten Zone, in La Chapelle-en-Serval. Die bekannteste von ihnen wurde Uriage in der Nähe von Grenoble. Ihr Gründer und Leiter, Pierre Dunoyer de Segonzac, orientierte sich an den Ideen des sozialen Katholizismus, des Personalismus von Mounier und des mystischen Nationalismus von Péguy. Er unterstützte innenpolitisch das Regime, lehnte jedoch die Kollaboration ab. Er geriet dadurch in Konflikt mit dem Jugendsekretariat bzw. dem Erziehungsministerium, der zur Schließung der Schule und zu seiner Verhaftung zu führen drohte. Er schloß sich daher am 1. Januar 1943 mit der Schulleitung und einem Teil der Lehrgangsteilnehmer dem Maquis an.85 IV. Der Staatsapparat Die Institutionen und Organisationen, die das Regime an Stelle der aufgelösten, suspendierten oder entmachteten Institutionen und Organisationen der III. Republik schuf, sollten die Bevölkerung, insbesondere die gesellschaftlichen Eliten, in das Regime integrieren und so dieses stabilisieren. Sie erfüllten die ihnen zugedachte Aufgabe jedoch nur unvollkommen. Das Regime war daher zur Sicherung seiner Herrschaft und zur Durchsetzung seiner Politik weit mehr als die III. Republik auf den Staatsapparat angewiesen. Dieser diente aber nicht nur zur Absicherung der Herrschaft, sondern auch zur Durchsetzung der Ziele des Regimes, d.h. der Ideen der „Nationalen Revolution", der Kollaboration und ab Februar 1941 außerdem noch der Modernisierung der Wirtschaft. Seine Aufgaben waren somit wesentlich umfangreicher als während der III. Republik. Das Regime erweiterte deshalb beträchtlich seine Kompetenzen und erhöhte die Zahl seiner Bediensteten. Der „Etat Fran84

Cf. ebda., S. 205.

85 Cf. Bernard Compte , Une utopie combattante. L' école des cadres d'Uriage 1940-1942, Paris 1991; Pierre Giolitto , op. cit., S. 613ff.

33 Timmermann / Gruner

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çais" bildete nicht nur die Antithese zum „Etat républicain", sondern auch zum „Etat minimum", den die Traditionalisten und Konservativen propagierten. 86 Zur Sicherung der Kontrolle über den Staatsapparat säuberte das Regime diesen von unliebsamen Personen - Demokraten, Gewerkschaftern, Juden, Freimaurern, Einwanderern der zweiten Generation - und besetzte Führungspositionen mit seinen Anhängern. Da es jedoch infolge des Fehlens einer Staatspartei über keine eigenen Kaderreserven verfugte, waren seiner Personalpolitik enge Grenzen gesetzt. Das Regime mußte daher im wesentlichen das Personal der III. Republik übernehmen. Dessen große Mehrheit unterstützte zunächst den neuen Staat, da sie dessen Legitimität akzeptierte. Erst nach der Besetzung der Südzone und der wachsenden Abhängigkeit des Regimes von Deutschland ließ ihre Loyalität nach.87 Das Regime wollte sich die Kontrolle über die Angehörigen des Staatsapparates jedoch nicht nur arbeits- und dienstrechtlich, sondern auch politisch und organisatorisch sichern. Es gründete daher durch Gesetz vom 15. Oktober 1940 eine staatlich kontrollierte Berufsorganisation des Öffentlichen Dienstes, die „Associations professionelles de fonctionnaires", die an Stelle der freien Gewerkschaften die Angehörigen des Staatsapparates nicht nach politischen oder sozialen, sondern nach berufsständischen Kriterien organisieren sollte. Entsprechend der korporatistischen Konzeption des Regimes erfaßten die Vereinigungen die Staatsangestellten jeweils nach Berufskategorien bzw. Tätigkeitsbereichen (Lehrer, Post, Finanzen etc.). Ihr Führungspersonal wurde von den Mitgliedern für maximal fünf Jahre gewählt, mußte jedoch von den jeweils für einen Tätigkeitsbereich zuständigen Minister bestätigt werden. Der Staat sicherte sich so die Kontrolle über die Vereinigungen. Für jede Berufskategorie gab es jeweils nur eine Vereinigung, um einen weltanschaulichen oder politischen Vereinspluralismus zu verhindern. Die Mitgliedschaft in ihnen war jedoch freiwillig. Die Vereinigungen besaßen zwar vereinsrechtlich die gleichen Zuständigkeiten wie die freien Gewerkschaften, aber nicht die gleichen Handlungsmöglichkeiten. So durften sie keine Forderungen aufstellen und streiken, sondern nur Wünsche äußern bzw. Stellungnahmen abgeben. Die Entscheidungskompetenz blieb bei den zuständigen Ministern. Ihre organisatorische Struktur und ihr rechtlicher Status banden sie eng an den Staat, ihre geringen Rechte beschränkten jedoch erheblich ihre Handlungsmöglichkeiten. Im Gegensatz zu den freien Gewerkschaften waren sie daher Kontrollinstrumente des Staates, keine eigenständigen Interessenvertretungen der Staatsbediensteten. 86

Cf. Marc Olivier Baruch, op. cit., S. 47ff.

87

Cf. ebda., S. 115ff.

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Ihre Anziehungskraft auf die Staatsangestellten war daher gering. Sie konnten deshalb die ihnen zugedachte Integrations- und Kontrollfunktion des Öffentlichen Dienstes nur sehr unvollkommen erfüllen. Es ist somit dem Regime nicht gelungen, mit ihrer Hilfe die Angehörigen des Staatsapparates auch politisch und organisatorisch eng an sich zu binden. Durch die Auflösung der freien Gewerkschaften vermochte es jedoch eine effiziente Interessenvertretung des Öffentlichen Dienstes sowie eine eventuelle legale Opposition der Staatsbediensteten zu verhindern. 88 1. Die Verwaltung Der wichtigste Bereich des Staatsapparates bildete die Präfektorialverwaltung. Infolge der beträchtlichen Ausdehnung der Staatstätigkeit mußte sie zusätzlich Aufgaben übernehmen, und infolge der Teilbesetzung des Landes sowie der Entparlamentarisierung des politischen Systems sah sie sich mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Sie wurde deshalb reorganisiert und ihre Kompetenzen erweitert. So wurden z.B. in jedem Ministerium der Posten eines Staatssekretärs geschaffen, der dessen Verwaltungsapparat von Paris aus leitete, der Rechnungshof (Cour des comptes) mit der Kontrolle aller staatlichen Ausgaben beauftragt und der Staatsrat (Conseil d'Etat) an der Ausarbeitung von Gesetzesvorhaben beteiligt. Außerdem wurden neben der staatlichen Verwaltung zahlreiche neue Dienststellen und Behörden geschaffen, die sich mit Sonderaufgaben befaßten, denen das Regime politischen Vorrang einräumte. Dadurch vergrößerte sich der Umfang und die Komplexität der Verwaltung, die dadurch an Überschaubarkeit und Effizienz verlor. 89 Entscheidend für die Machterweiterung der Verwaltung war jedoch die Stärkung der präfektoralen Autorität. Die Präfekten wurden nicht nur protokollarisch aufgewertet, sondern wurden wie im II. Kaiserreich zu alleinigen Repräsentanten des Staates in den Departements, denen sämtliche staatlichen Behörden einschließlich der Polizei sowie die lokalen Außenstellen der technischen Ministerien unterstanden. Lediglich das Justizwesen unterlag nicht direkt ihrer Kontrolle. Ferner übernahmen sie die Kompetenz, die bisher die Departementsversammlungen, die Conseil Généraux, besaßen. Ihre Machtfülle war daher erheblich größer als während der III. Republik. Um seine Kontrolle über die Präfektorialverwaltung zu sichern, säuberte das Regime diese von echten oder vermeintlichen Gegnern und ersetzte sie durch

33'

88

Cf. ebda., S. 103ff.

89

Cf.ebda., S. 97ff.

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loyale Parteigänger. 90 Ferner verlangte es von allen Präfekten einen persönlichen Treueeid gegenüber dem Staatschef, Philippe Pétain. Dem Regime gelang es auf diese Weise, sich die Loyalität des Präfektenkorps zu sichern. Entscheidend für dessen Loyalität waren jedoch weniger die staatlichen Kontroll- und Disziplinarmaßnahmen als vielmehr das Pflichtgefühl und wohl auch das Karrierestreben der Präfekten, Unterpräfekten, Generalsekretäre etc. Dies erwies sich in den meisten Fällen stärker als ihr Patriotismus und Republikanismus.91 Trotz der Kompetenzerweiterung der Präfekten zeigte sich bald, daß die Departementsverwaltungen den neuen Aufgaben, die sich aus der Ausnahmesituation der Besatzung sowie der Blockade ergaben, nicht gewachsen waren. So vermochten sie z.B. häufig nicht für eine bedarfsgerechte Verteilung der Lebensmittel, der Arbeitskräfte, der Rohstoffe und der Fertigwaren zu sorgen, da jedes Departement danach trachtete, seine Ressourcen möglichst für sich zu behalten. Das Regime schuf daher am 19. April 1941 siebzehn Verwaltungsregionen mit Regionalpräfekten an der Spitze, um die Verwaltungsmöglichkeiten der Departementspräfekturen zu koordinieren. Dadurch verstärkte sich der Zentralismus des Verwaltungssystems.92 Aufgrund des Waffenstillstandsvertrages (Artikel 3) war die französische Verwaltung zur Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht in der besetzten Zone verpflichtet. Verstärkt wurde die sich daraus ergebende Abhängigkeit durch den Einfluß der Deutschen auf die Gesetzgebung und die Personalpolitik der französischen Regierung. So mußten alle Gesetze und Verordnungen, da sie in ganz Frankreich galten, von den deutschen Besatzungsbehörden genehmigt werden, ehe sie in Kraft treten konnten, und die Ernennung aller hohen Beamten einschließlich der Präfekten bedurfte der deutschen Zustimmung, auch wenn diese besatzungsrechtlich nicht zwingend vorgeschrieben war. Die Deutschen nutzten diese Verpflichtungen des französischen Staates, um direkt in die französische Verwaltung einzugreifen, indem sie etwa ihre Zustimmung zu Gesetzen oder zu Ernennungen verweigerten oder aber die Abberufung von Beamten erzwangen, so besonders intensiv im November 1943 im Sicherheitsbereich.93 Das Regime suchte sich vor diesen Eingriffen in seine 90 1940 wurden von 94 Präfekten 26 in den Ruhestand versetzt, 29 abberufen und 37 auf andere Posten versetzt, gleichzeitig wurden von 261 Unterpräfekten 34 pensioniert und 24 ihres Amtes enthoben. Cf. Marc Oliver BarucK op. cit., S. 225ff. 91

Cf. ebda., S. 577ff.

92

Cf. Pierre DoueiU L'administration locale à l'épreuve de la guerre 1939-1949, Paris 1950, S.

22ff. 93

Cf. Marc Olivier Baruch, op. cit., S. 365ff.

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Verwaltungshoheit durch Kooperationsabsprachen mit den deutschen Dienststellen zu schützen. Dies ist ihm auch bis Ende 1943 bis zu einem gewissen Grad gelungen, da die deutschen Dienststellen infolge des Kriegs Verlaufs, insbesondere im Osten, auf die Zusammenarbeit mit der französischen Verwaltung angewiesen waren. Gleichzeitig verstärkte sich jedoch auch durch diese Zusammenarbeit die Abhängigkeit von der Besatzungsmacht, denn diese war der stärkere Partner, der jederzeit seinen Willen durchsetzen konnte. 2. Die Sicherheitskräfte Infolge des Autoritarismus des Regimes besaßen seine Sicherheitskräfte Polizei, Gendarmerie, Informationsdienst, Sondereinheiten - von Anfang an eine andere Stellung im Herrschaftssystem als während der III. Republik. Sie dienten nicht nur zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, sondern mehr und mehr auch zur Repression des Widerstandes sowie der Durchsetzung der spezifischen Ziele des Regimes im Sicherheitsbereich, so vor allem der Wahrung bzw. Erneuerung der staatlichen Souveränität über das gesamte nationale Territorium. Sie wurden so von Ordnungs- zu Repressionskräften, die sich auch an den Deportationen der Juden, der Zwangsverschickung von Arbeitskräften sowie der Bekämpfung des bewaffneten Widerstandes beteiligten. Nach der Auflösung der Waffenstillstandsarmee im November 1942 bildeten sie die einzigen bewaffneten Organe des Regimes.94 Um sie zu einem effizienten und gefügigen Instrument des Staates zu machen, wurden sie reorganisiert, gesäubert und ausgebaut. So entstand ein Sicherheitsapparat, der in seiner Endphase etwa 123 000 Personen umfaßte, fast dreimal so viel wie die Sicherheitskräfte der III. Republik.95 a) Die Polizei Die Polizei bildete traditionell die wichtigste öffentliche Ordnungskraft in den Städten. Aufgrund der negativen Erfahrung mit der Staatspolizei des II. Kaiserreiches hatte die III. Republik die Polizei dezentralisiert, munizipalisiert und entmilitarisiert. Mit Ausnahme von Paris und Lyon unterstand daher die Polizei in den Städten den Bürgermeistern und nicht den Präfekten. Das Vichy-Regime machte diese Reforme rückgängig, indem es die Polizei etatisierte, zentralisier94 Als Ersatz für die Waffenstillstandsarmee begann zwar das Regime ab 15.7.1943 mit dem Aufbau einer neuen militärischen Einheit, dem 1. Regiment de France, aber dieses wurde niemals innerfranzösisch eingesetzt. Cf. Pierre Philippe Lambert/Gérard Le Marec, op. cit., S. 257ff.

Cf. ebda., S. 2ff.

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te, militarisierte und professionalisierte. So wurde die Gemeindepolizei in den Staatsdienst übernommen und den Präfekten unterstellt. An der Spitze der Polizei stand ab Juli 1940 ein Generalsekretariat für Polizei und Verwaltung. Im Feburar 1941 wurde ein eigenes Generalsekretariat für die Polizei eingerichtet und direkt dem Innenministerium zugeordnet. Im April 1941 wurden Regionalverbände der Staatspolizei geschaffen, die jeweils einem Regionalpräfekten unterstanden, der auch für ihren Einsatz verantwortlich war. Gleichzeitig wurde die Polizei in den Städten mit über 10 000 Einwohnern direkt dem Generalsekretariat unterstellt. Im Juni verfolgte dann eine Straffung der nationalen Führungsstrukturen. Die etatisierte Polizei wurde militärisch organisiert und mit Infanteriewaffen ausgerüstet. Für die Ausbildung ihrer zukünftigen Führungskorps wurde je eine Polizeischule in der Süd- und in der Nordzone gegründet. Personelle Säuberungen, Kontrollen und Umbesetzungen sollten für die Loyalität und Zuverlässigkeit der Polizeikräfte sorgen. Allerdings hatte das Regime Mühe, genügend zuverlässiges, qualifiziertes bzw. geeignetes Personal für den Polizeidienst, insbesondere in Führungspositionen, zu finden. Auch hier machte sich der Mangel an regimetreuen Kadern infolge des Fehlens eigener Eliterekrutierung durch eine Staatspartei oder regimetragende Massenbewegung bemerkbar. Das Regime mußte daher auch in der Polizei einen Teil des Führungspersonals, das bereits der III. Republik gedient hatte, weiterbeschäftigen.96 Die deutsche Militärverwaltung widersetzte sich zunächst der Reorganisation der französischen Polizei in der besetzten Zone, weil sie eine Minderung ihres Einflusses fürchtete. Unter dem Druck des kommunistischen Widerstandes und des Reichssicherheitshauptamtes änderte sie jedoch ab Herbst 1941 ihre Haltung. Nun war sie im Interesse einer effizienten Repression an einer Straffung des französischen Polizeiapparates interessiert. Sie erlaubte daher die Ernennung von regionalen Polizeipräfekten. Diese erhielten aber nur die Disziplingewalt über das Polizeipersonal. Die Verfügungsgewalt verblieb bei den Präfekten, da diese von den deutschen Feldkommandanturen besser überwacht werden konnten. Außerdem blieb die Gemeindepolizei bestehen und die Polizeipräfektur von Paris behielt ihre Autonomie. Der direkte Einfluß des Innenministeriums bzw. des Generalsekretariats der Polizei auf die Polizei der besetzten Zone war daher auch nach der Ernennung von regionalen Polizeipräfekten weiterhin stark begrenzt. Um ihn zu erhöhen, vereinbarte der Generalsekretär der französischen Polizei, René Bousquet, im Juli 1942 eine enge Zusammenarbeit mit dem deutschen Sicherheitschef SS-General Oberg bei der Verfolgung von Wi96

Cf. Maurice Rajsfus , La Police de Vichy. Les forces de l'ordre françaises au service de la Gestapo 1940-1944, Paris 1995, S. 25ff.

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derstandskämpfern. Im Gegenzug verzichtete die deutsche Seite auf Repressalien gegen die französische Zivilbevölkerung und erkannte die französische Polizei- und Gerichtshoheit in der besetzten Zone bei der Strafverfolgung von Taten an, die sich nicht direkt gegen deutsche Truppen und Einrichtungen richteten. Das Regime hoffte, durch diese Absprachen mit den deutschen Sicherheitskräften die Souveränität des französischen Staates im Polizei- und Justizbereich erneuern zu können. Dies ist ihm auch vorübergehend gelungen. Ab Mitte 1943 wuchs aber die Abhängigkeit von den Deutschen gerade aufgrund der Absprachen ständig. Bousquet widersetzte sich deshalb in wachsendem Maße deutschen Anweisungen und Eingriffen in den Sicherheitsbereich. Die Deutschen erzwangen daher im Dezember 1943 seine Entlassung. Sein Nachfolger Joseph Darnand arbeitete eng mit den deutschen Sicherheitskräften zusammen, verzichtete jedoch völlig auf die Wahrung der französischen Souveränität. Die französische Polizei wurde so im Jahre 1944 zu einem Erfüllungsgehilfen der Besatzungsmacht.97 b) Die Gendarmerie Für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung war traditionell die Gendarmerie zuständig. Obwohl sie überwiegend Polizeiaufgaben wahrnahm, unterstand sie dem Kriegsministerium. Nach dem Waffenstillstand wurde sie von den Deutschen in der besetzten Zone verboten, blieb jedoch in der unbesetzten Zone bestehen. Am 2. Juni 1942 wurde sie dem Regierungschef Pierre Laval persönlich unterstellt. Dieser setzte sie nun ebenfalls gegen bewaffnete Widerstandsgruppen ein. Ihre Mannschaftsstärke betrug im Juni 1944 etwa 36 600 Mann.98 Innerhalb bzw. neben der Gendarmerie existierten mehrere Sondereinheiten für spezifische Aufgaben. Die beiden wichtigsten von diesen waren die mobilen Gendarmerieeinheiten (Groupes mobiles de réserve) und die Garde (garde). Die mobilen Gendarmerieeinheiten dienten bereits in der III. Republik zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung bei Streiks, Unruhen, Revolten etc. Sie wurden im April/Juni 1941 grundlegend reorganisiert und in mobile Reservegruppen umbenannt. Das Regime setzte sie sowohl bei der Verfolgung von bewaffneten Widerstandsgruppen in der Südzone als auch bei Sreiks in der Nordzone ein. Im Mai 1943 wurden sie der nationalen Polizeidirektion unter97

Cf. Bernd Kasten, „Gute Franzosen". Die französische Polizei und die deutsche Besatzungsmacht im besetzten Frankreich 1940-1944, Sigmaringen 1993. 98

Cf. Pierre Philippe Lambert /GérardLe

Marec, op. cit., S. 6Iff.

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stellt, aber nicht in die Polizei integriert. Ihr Mannschaftsbestand stieg von 6 900 Mann im Jahre 1941 auf fast 12 000 im Juni 1944." Die Garde ging aus der republikanischen Mobilgarde hervor. Sie wurde am 17. November 1940 aus der Gendarmerie ausgegliedert und in die Armee überführt. Dort wurden ihre Einheiten auf die einzelnen Heeresdivisionen aufgeteilt. Nach der Auflösung der Waffenstillstandsarmee im November 1942 wurde sie erneut in die Gendarmerie übernommen. Am 15. April 1943 wurde sie jedoch auf deutschen Druck dem Innenministerium sowie dem Generalsekretariat der Polizei unterstellt. Sie wurde grundlegend reorganisiert und nun ebenfalls gegen die bewaffnete Widerstandsbewegung eingesetzt. Sie zählte im Juni 1944 5 840 Mann.100 3. Justiz Der repressive Charakter des Regimes erforderte auch eine Reorganisation des Justizwesens. Diese sollte einerseits dessen Zuverlässigkeit und Effizienz garantieren, andererseits es in der Lage versetzen, seine neuen Aufgaben bewältigen zu können. Es wurde daher wie die Verwaltung und die Sicherheitsorgane von echten oder vermeintlichen Gegnern des Regimes gesäubert, gleichzeitig wurden aber auch neue Einrichtungen bzw. Gerichte geschaffen. So schuf das Regime bereits im Juli 1940 einen Obersten Gerichtshof zur Aburteilung führender Repräsentanten der III. Republik (Léon Blum, Edouard Daladier, General Gamelin), die es für die militärische Niederlage vom Frühjahr 1940 verantwortlich machte.101 Es folgen dann die Einrichtung von Sonderabteilungen an den Militärtribunalen sowie die Gründung eines Staatstribunals in Lyon und Paris zur Aburteilung von Widerstandskämpfern und von Sondergerichten zum Kampf gegen den Schwarzhandel, die Wirtschaftskriminalität und kriminelle Organisationen. Die Mitglieder der Sondergerichtsbarkeit wurden von der Regierung bzw. vom Innen- und Justizministerium per Dekret ernannt. Bis auf wenige Ausnahmen erwiesen sie sich als gefügiges Werkzeuge des Regimes.102 Ihre Haltung wurde in hohem Maße von ihrem Rechtspositivismus bestimmt, der die Rechtmäßigkeit von Gesetzen lediglich nach formalen 99

Cf. ebda., S. 47ff.

100

Cf. ebda., S. 55ff.

101

Cf. Marc Olivier Baruch, op. cit., S. 54.

102 Cf. Jean-Pierre Royer , Histoire de la justice en France, Paris 1995; Joseph Barthélémy , op. cit., S. 21 Iff.

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Kriterien bestimmte.103 Dies galt auch für die meisten Mitglieder der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Trotz der rechtsstaatlichen Grundhaltung und überwiegend liberaler Gesinnung der meisten Juristen wurde daher auch die Justiz zu einem zuverlässigen Instrument des Regimes. 4. Die Miliz Die Reorganisation der Sicherheitskräfte und der Justiz stärkte 1941/42 vorübergehend die innenpolitische Handlungsfähigkeit des Regimes, vermochte jedoch nicht dauerhaft dessen Existenz zu sichern. Diese wurde nach der Besetzung der Südzone im November 1942 verstärkt durch den sich ausweitenden bewaffneten Widerstand bedroht. Im Interesse seiner Herrschaftssicherung bemühte sich daher Laval um eine Stärkung der staatlichen Autorität durch die Umwandlung des Ordnungsdienstes der Legion (SOL) in eine eigenständige Organisation, die Miliz. 104 Sie sollte die aktiven Anhänger des Regimes sammeln und die staatlichen Behörden bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung unterstützen. Sie war somit von Laval primär als politische Unterstützungsorganisation konzipiert. Sie war rechtlich nur eine private Vereinigung, erhielt jedoch einen offiziellen Status, indem per Gesetz ihre Gemeinnützigkeit anerkannt wurde. Im Gegensatz zur Legion unterstand sie allein dem Regierungschef, also Laval, der sich so die direkte staatliche Kontrolle über sie sichern wollte. Er kontrollierte sie aber formal auch verbandsintern als ihr „nationaler Führer" (Chef national), der ihren Generalsekretär, Joseph Darnand, ernannte.105 Letzterer war ihr eigentlicher Chef, da er den Apparat beherrschte, der von ehemaligen Kadern des Ordnungsdienstes der Legion gebildet wurde. Die Miliz war wie eine militärische Organisation hierarchisch gegliedert und auf den verschiedenen Verwaltungsebenen des Staates (Region, Departement) durch die Chefs der Regional- und Departements verbände vertreten. Dadurch sollten Staat und Miliz eng miteinander verzahnt werden. In der Praxis kam es jedoch häufig zu Konflikten zwischen staatlichen Stellen und Milizionären, da sich diese Polizeifunktionen anmaßten.106 In diesen Konflikten konnten sich meistens die staatlichen Stellen durchsetzen, da sie von Laval gedeckt wurden. 103

Cf. Danièle Lochk, Les mésaventures du positivisme ou la doctrine sous Vichy, in: CURAPP, Paris 1989, S. 252ff. 104

Cf. Pierre Giolitto , Histoire de la Milice, Paris 1997, S. 125ff.

105 Zur politischen Entwicklung von Joseph Darnand cf. Bertram Gordon, Un soldat du fascisme, Joseph Darnand, in: Revue d'Histoire de la Deuxième Guerre mondiale, Nr. 108, Oktober 1977, S. 43-70. 106

Cf. Marc Olivier Baruch , op. cit., S. 532ff.

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Trotzdem vermochte die Miliz im Laufe des Jahres 1943 ihren Einfluß kontinuierlich zu verstärken. Sie gab nun ihre Rolle einer politischen Unterstützungsorganisation auf, die ihr Laval zugedacht hatte, und strebte die Machtergreifung durch Regierungsbeteiligung und die personelle Durchdringung des Staates an. Gemeinsam mit Pariser Kollaborateuren, unter ihnen der Chef des faschistischen „Rassemblement national populaire", Marcel Déat, plante Darnand im Herbst die Bildung eines „Gouvernement de salut national", die unter der Leitung Lavais alle prodeutschen Kräfte beider Zonen vereinen und sich auf eine Einheitspartei und ihre Milizen stützten sollte. Alle Schlüsselposten des Staatsapparates sollten mit Angehörigen der Miliz unabhängig von ihrer fachlichen Qualifikation besetzt und alle Staatsangestellten sollten obligatorisch Mitglieder der Miliz werden. Auf diese Weise hätte die Miliz die Kontrolle über den gesamten Staatsapparat gewonnen. Dieser Plan ließ sich jedoch nur mit Hilfe der Deutschen durchsetzen. Diese wollten aber auch jetzt noch keine Umwandlung des „Etat Français" in einen „Etat milicien", weil sie zu Recht fürchteten, daß dieser nicht die Funktionsfähigkeit der französischen Verwaltung garantieren könne, die unerläßlich für die Mobilisation der französischen Ressourcen für die deutsche Kriegswirtschaft war. Erst nach der mißglückten Entmachtung Lavais im November 1943 änderten sie teilweise ihre Meinung. Nun verlangten sie die Ernennung Darnands zum Chef der französischen Sicherheitskräfte. Laval gab dem deutschen Drängen nach, ernannte Darnand allerdings nur zum Generalsekretär für Sicherheitsfragen, der dem Staatssekretär des Inneren, Lemoine, und damit ihm als Innenminister unterstand. Er wurde damit nicht nur als Regierungschef, sondern auch als Innenminister Darnands Vorgesetzter und konnte weiterhin mit Hilfe Lemoines den Verwaltungsapparat des Innenministeriums kontrollieren. Darnand erhielt jedoch wie vor ihm Bousquet die Befehlsgewalt über sämtliche Sicherheitskräfte - Polizei, Gendarmerie, mobile Sondereinheiten, Renseignements généraux - sowie über den Strafvollzug. Außerdem kontrollierte er noch die Miliz und konnte als Sturmbannführer mit der Unterstützung des deutschen Sicherheitschefs in Frankreich, SS-General Oberg, rechnen. Er benutzte seine Machtfülle, um die ihm unterstellten Sicherheitskräfte zu einer Domäne der Miliz auszubauen, indem er ihre Führungspositionen mit Milizangehörigen oder Sympathisanten der Miliz besetzte. Per Gesetz erhielt er ferner die direkte Befehlsgewalt über die Polizeiintendanten und damit über die Polizeikräfte der Departements, wodurch die Präfekten im Sicherheitsfragen entmachtet wurden. 107 Darnand dehnte seinen Einfluß auch auf das Justizwesen und die Verwaltung aus. So erzwang er die Ernennung von zwei Milizführern zu Präfekten sowie die Einrichtung von Standgerichten der 107

Cf. ebda., S. 537ff.

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Miliz in den Strafvollzugsanstalten zur Aburteilung von Regimegegnern. Gegen die Entscheidung der Standgerichte gab es keine Berufungsmöglichkeiten, ihre Urteile wurden sofort vollstreckt. Gegen die personelle Durchdringung des Sicherheitsapparates durch die Miliz regte sich im Innenministerium passiver Widerstand. So sabotierte z.B. dessen Personalabteilung die Ernennung von Milizionären zu Beamten, indem sie diese verschleppt oder mit verwaltungsrechtlichen Argumenten blockierte. Sie wurde dabei vom Staatssekretär des Inneren, Lemoine, gedeckt. Darnand erzwang daher am 13. Juni 1944 dessen Entlassung und seine eigene Ernennung zum Staatssekretär. In der Schlußphase des Regimes nahm er somit im Herrschaftssystem rechtlich eine ähnliche Stellung ein wie Heinrich Himmler im Herrschaftssystem des Dritten Reiches.108 Die Miliz kontrollierte jedoch nicht nur durch ihre Vertreter im Staatsdienst die staatlichen Sicherheitskräfte, sondern sie stellte auch eine eigene bewaffnete Einheit, die Franc-Garde, auf, die sich an der Bekämpfung der bewaffneten Widerstandsbewegung beteiligte. Ihre Mitglieder waren von der Teilnahme an Aufenthalten in den Jugendarbeitslagern (Chantiers de Jeunesse) sowie vom obligatorischen Arbeitsdienst befreit und wurden wie die Polizisten oder Gendarme besoldet. Je geringer die Einsatzbereitschaft der Polizei und der Gendarmerie wurde, um so größer wurde die Rolle der Franc-Garde bei der Repression. Sie zeichnete sich dabei besonders durch ihre Brutalität und Grausamkeit aus.109 Die Integration der Miliz in den staatlichen Sicherheitsapparat führte zu starken Spannungen mit der Polizei. Diese betrachtete die Miliz als Erfüllungsgehilfen der Deutschen und war daher nicht zu einer engen Zusammenarbeit mit ihr bereit. Sie war zwar zur Amtshilfe für die Miliz verpflichtet, kam dieser Verpflichtung jedoch häufig nur zögernd oder gar nicht nach. Darnand, aber auch die Polizeiführung, sah sich daher immer wieder gezwungen, die Polizei zur Zusammenarbeit mit der Miliz zu ermahnen.110 Die Miliz vermochte somit, im Laufe des Jahres 1944 ihren Einfluß kontinuierlich im Sicherheitsbereich auszudehnen und auch einen gewissen personellen Einfluß auf die Verwaltung zu gewinnen. Es gelang ihr jedoch in der Kürze der Zeit nicht, die gesamten Sicherheitskräfte des Landes - Polizei, Gendarmerie, Sondereinheiten - in gleicher Weise zu beherrschen wie es die SS in Deutschland vermochte. Dazu fehl108

Cf. ebda., S. 540ff.

109

Cf. Jacques Delperrié de Bayac, Histoire de la Milice 1918-1945, Paris 1969, S. 257ff.

1,0

Cf. Marc Olivier Baruch, op. cit., S. 548ff.

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ten ihr sowohl die Mittel als auch die Dynamik einer totalitären Massenbewegung. Sie hatte lediglich etwa 30 000 Mitglieder und war in der französischen Gesellschaft völlig isoliert. Ihre bewaffenten Einheiten, die Franc-Gardes, bestanden aus etwa 15 000 Mann, davon war jedoch nur etwa die Hälfte kaserniert. 111 Ihr Einfluß beruhte daher einzig und allein auf ihrer Stellung im Sicherheitsapparat sowie auf ihrer Rückendeckung durch die deutschen Repressionskräfte, denen ihr Chef Darnand als SS-Sturmbannführer angehörte. Sie war eine Hilfstruppe der deutschen Besatzungsmacht, keine autonome Kraft des französischen Staates. Sie konnte daher auch keine nationalen Loyalitäten und Energien mobilisieren. 112 5. Der passive Widerstand

im Staatsapparat

Gegen die Unterordnung der französischen Sicherheitskräfte unter die deutsche Besatzungsmacht, insbesondere gegen die Beteiligung an der Repression der bewaffneten Résistanceeinheiten, regte sich innerhalb der Polizei und der Gendarmerie Widerstand. Er äußerte sich vor allem in nachlassendem Diensteifer und wachsender Passivität gegenüber Regimegegnern, auch in der Verzögerung staatlicher Maßnahmen oder in der Verschleppung staatlicher Anordnungen. Er führte jedoch vor der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944 nicht zum kollektiven Anschluß an die Résistance. Erst als die alliierten Truppen das Land befreiten und sich die deutschen Truppen zurückzogen, desertierten ganze Gendarmerieeinheiten und versagte die Polizei allenthalben ihren Dienst. In Paris beteiligte sich die Polizei sogar am Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht kurz vor dem Einmarsch der regulären Truppen. 113 Passiver Widerstand gegen die Radikalisierung des Regimes regte sich jedoch nicht nur im Sicherheitsbereich, sondern auch im Arbeits- und Sozialministerium, das ab März 1944 der Führer des sozialfaschistischen „Rassemblement National Populaire" leitete. Dieser wollte durch die Durchsetzung der syndikalistischen Elemente des Arbeitsgesetzes von 1941 (Charte du Travail) (s.o.) sowie durch eine aktive Sozialpolitik die arbeitende Bevölkerung für das Regime mobilisieren. Seine Politik wurde jedoch nach Kräften von den Beamten

111

Cf. Pierre Philippe Lambert/Gérard

112

Cf. Jacques Delperrié de Bayac , op. cit., S. 257ff.

113

Cf. Maurice Rajsfus, op. cit., S. 217ff..

Le Marec, op. cit., S. 13If.

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und Angestellten seines Ministeriums sabotiert.114 Es gelang ihm daher nicht, diese durchzusetzen. Das Regime reagierte auf den wachsenden passiven Widerstand der Beamten und Staatsangestellten mit Disziplinarmaßnahmen sowie mit der Einrichtung von Disziplinargerichten zur raschen Aburteilung von Verstößen sowie ferner mit der Drohung, säumige oder widerspenstige Staatsbedienstete zum Arbeitseinsatz nach Deutschland abzuordnen. In der Polizei richtete Darnand sogar Standgerichte zur Bestrafung von „Terroristen" und „Verrätern" ein. Als Verrat galt nicht nur die aktive Unterstützung des Widerstandes oder die unerlaubte Entfernung vom Dienst, sondern auch die passive Begünstigung von Widerstandskämpfern durch Unterlassung, etwa bei der Verfolgung von Straftätern. Die Repression des Regimes innerhalb des Staatsapparates wurde ergänzt durch Maßnahmen der Besatzungsbehörden, wie etwa die Verhaftung und Deportation hoher Verwaltungsbeamter (Präfekten, Unterpräfekten, Generalsekretäre etc.) nach der Enttarnung einer Widerstandsorganisatioon in der Verwaltung im Mai 1944.115 Trotz der Zunahme des passiven Widerstandes funktionierte die Verwaltung im ganzen Land bis zum Ende des Regimes. Sie erledigte die laufenden Geschäfte und verfolgte auch weiterhin die Reformprojekte, welche das Regime initiierte hatte, so z.B. die Gründung einer nationalen Verwaltungshochschule, die im Herbst 1944 ihre Arbeit in Paris aufnehmen sollte. Nach der Befreiung Frankreichs konnte daher die Provisorische Regierung des Freien Frankreichs eine weitgehend intakte Verwaltung übernehmen. Die Kontinuität des Staatsapparates blieb auch 1944 gewahrt. 116 V. Die Gesellschaftsordnung: Der Korporatismus

Das Regime beschränkte sich jedoch keineswegs nur auf die Transformation des Herrschaftssystems, sondern strebte ebenfalls eine Transformation der Gesellschaftsordnung an. Es ließ sich dabei von den gleichen antiliberalen, antidemokratischen, aber auch antitotalitären Ideen leiten wie im politischen Bereich. Sein oberstes Ziel bildete dabei die Überwindung des Klassenkampfes und des liberalen Kapitalismus mit Hilfe des Korporatismus. An die Stelle der Konfrontation zwischen Arbeit und Kapital sowie der Konkurrenz zwischen den Produ114

Cf. Reinhold Brender, op. cit., S. 175ff.

115

Cf. Marc Olivier Baruch, op. cit., S. 560f.

116

Cf. ebda., S. 561ff.

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zenten sollte die Zusammenarbeit aller arbeitenden Menschen innerhalb berufsständischer Organisationen treten. Diese sollten sich selbst verwalten und ihre internen Probleme selbst lösen. Der Staat sollte lediglich die Rahmenbedingungen für ihre Tätigkeit schaffen und als unparteiischer Schiedsrichter über die Wahrung des Gemeinwohls wachen. Der „assoziative Korporatismus" des Vichy-Regimes unterschied sich somit konzeptionell grundlegend vom etatistischen Korporatismus des italienischen Faschismus.117 1. Die Organisationskomitees Entsprechend seinen antiliberalen Vorstellungen löste das Regime bereits am 16. August 1940 die Interessenvertretungen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, d.h. die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände, auf und verbot Arbeitskämpfe. Gleichzeitig schuf es in allen Zweigen der Industrie „Organisationskomitees", die für die Reorganisation und die Koordination der wirtschaftlichen Aktivitäten der jeweiligen Branche verantwortlich waren. In ihre Zuständigkeit fielen nicht nur die Erhebung von Wirtschaftsdaten und die Verteilung von Rohstoffen, sondern auch die Reglementierung der Produktion und die Gestaltung der Preise. Auf diese Weise sollten die knappen Ressourcen optimal im Interesse der Allgemeinheit genutzt und Preistreibereien verhindert werden. Um eine harmonische Abstimmung zwischen allgemeinen und partikularen Interessen zu ermöglichen, wurden die Mitglieder der Organisationskomitees auf Vorschlag der einzelnen Branchen vom Industrieministerium ernannt. Die Organisationskomitees waren somit zunächst wirtschaftliche Selbstverwaltungsorgane unter staatlicher Aufsicht. Zur Koordination ihrer Arbeit wurde im September 1940 das Zentralamt für die Verteilung der Industrieproduktion geschaffen, das vom Industrieministerium überwacht wurde. Der staatliche Einfluß hielt sich jedoch zunächst in engen Grenzen. Unter dem Druck der wirtschaftlichen Notlage und als Folge der Modernisierungspolitik Darlans verstärkte sich jedoch bald die staatliche Kontrolle. 118 Die Organisationskomitees wurden so aus Selbstverwaltungsorganen der Wirtschaft zu Lenkungsinstrumenten des Staates. Parallel zu diesem Funktionswandel vollzog sich eine grundlegende Veränderung ihrer personellen Zusammensetzung. Bis zum Februar 1941 waren in den Organisationskomitees alle Unternehmenskategorien etwa gleich117 Cf. zur zahlreichen Literatur zum Korporatismus u.a. François Perroux, Capitalisme et Communauté de travail, Paris 1938; Gaétan Pirou, Essai sur le corporatisme, Paris 1938; Matthew H. Elbow, French Corporatist Theory, 1789-1948, New York 1953. 1,8 Cf. Henri Rous so, L'économie: pénurie et modernisation, in: Jean-Pierre Azéma/François Bédarida (Hrsg.), La France des années noires, Paris 1993, Band I, S. 427ff.

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stark vertreten, danach dominierten dann eindeutig die Repräsentanten der Großunternehmen. So entwickelte sich eine enge Verzahnung von staatlicher Wirtschaftsbürokratie und privater Großindustrie, welche die Handlungs- und Entfaltungsmöglichkeiten der Mittel- und Kleinunternehmen stark einschränkte. 119 Durch die Auflösung der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände verloren sowohl die Arbeitnehmer als auch die Arbeitgeber ihre landesweiten Interessenvertretungen. Die Arbeitnehmer waren von diesem Verlust jedoch wesentlich stärker als die Unternehmer betroffen, da sie lediglich auf regionaler Ebene eigene Organisationen behielten. Das Regime hatte zwar die Gewerkschaftszentralen aufgelöst, jedoch die gewerkschaftlichen Organisationen auf regionaler und lokaler Ebene bestehen lassen, da es diese noch für den Aufbau der Korporationen brauchte. Allerdings hatte es ihre Handlungsfreiheit erheblich eingeschränkt, so daß sie nur noch in sehr begrenzten Umfang Arbeitnehmerinteressen vertreten konnten (s.u.). Die Unternehmer konnten dagegen ihre Interessen auch auf nationaler Ebene innerhalb der neugeschaffenen „Organisationskomitees" vertreten. Außerdem behielten sie ihre wirtschaftliche Macht. Diese wurde zwar durch die staatliche Wirtschaftsbürokratie und in wachsendem Maße von den Deutschen eingeschränkt, war jedoch immer noch erheblich größer als die der Arbeitnehmer nach der Auflösung der gewerkschaftlichen Dachverbände und dem Verbot von Streiks. Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse verschoben sich auf diese Weise beträchtlich zugunsten der Unternehmer. 120 Dadurch wurde der gesellschaftliche Rückhalt des Regimes beträchtlich gestärkt, da die große Mehrheit der Unternehmer ihm positiv gegenüberstand.121 2. Die Industriekorporationen Die sozialen Funktionen der Interessenverbände, insbesondere die der Lohnfindung und Konfliktschlichtung, sollten die Korporationen übernehmen. Ihre Gründung verzögerte sich jedoch, da sich die verschiedenen Fraktionen der Regimekoalition auf kein gemeinsames Organisationsmodell einigen konnten. Die Syndikalisten, allen voran der Arbeitsminister René Belin, forderten die Schaffung gemischter Kommissionen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern, deren Mitglieder von autonomen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen 119

Cf. Renaud de Rochebrune/Jean-Claude

120

Cf. Jacques Julliard,

121

Cf. Renaud de Rochebrune/Jean-Claude

Hazera, op. cit., S. 185ff.

La Charte du Travail, in: Le gouvernement de Vichy, op. cit., S. 157ff. Hazera, op. cit., S. 185ff.

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designiert und vom Staat bestätigt werden sollten. Diese Forderung lief auf eine Institutionalisierung der Sozialpartnerschaft unter Wahrung der Organisationsmacht der Sozialpartner hinaus. Die Korporatisten der verschiedenen Richtungen befürworteten zwar auch eine Institutionalisierung der Sozialpartnerschaft, lehnten jedoch getrennte Organisationen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer strikt ab. Statt dessen forderten sie die Integration aller sozialen Kategorien der Arbeitswelt in gemeinsamen Körperschaften bereits an der Basis, so daß sich der soziale Ausgleich auf allen Ebenen innerhalb der Korporationen vollziehen könne. Da Pétain auf die Unterstützung beider Gruppierungen angewiesen war, verfügte er einen Kompromiß. Das Arbeitsgesetz von 4. Oktober 1941, die Charte du Travail, sah die Gründung von gemischten „Sozialkommissionen" aus Unternehmern, Führungskräften (cadres) und Arbeitnehmern auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene innerhalb der einzelnen Wirtschafts- bzw. Berufszweige vor. Ihre wichtigste Aufgabe sollte die einvernehmliche Lösung beruflicher und sozialer Probleme bilden. Für den Fall, daß sie sich nicht einigen konnten, war ein obligatorisches staatliches Schlichtungsverfahren vorgesehen, dessen Ergebnis von allen Mitgliedern akzeptiert werden mußte. Sie beruhten somit wie die „Organisationskomitees" auf der Verzahnung gesellschaftlicher und staatlicher Strukturen. 122 Die Nominierung der Vertreter der einzelnen Statusgruppen in den gemischten Komitees sollte durch berufsständische Organisationen auf lokaler und regionaler Ebene erfolgen. Die Mitgliedschaft in diesen war für alle Beschäftigten der jeweiligen Branche bzw. Berufsgruppe obligatorisch. Die Organisationen der Arbeiter und einfachen Angestellten sollte durch den Zusammenschluß der noch auf regionaler und lokaler Ebene bestehenden gewerkschaftlichen Verbände erfolgen. Die so gebildeten Einheitssyndikate durften sich aber nur mit beruflichen und sozialen Fragen befassen, politische und konfessionelle Aktivitäten waren ihnen strikt untersagt. Dies bedeutete das Ende einer freien Gewerkschaftsbewegung mit gesamtgesellschaftlicher Zielsetzung, wie sie nach der Zulassung von sozialen Interessenverbänden 1884 entstanden war. Die Einheitsgewerkschaften besaßen kein kollektives Verhandlungsrecht und konnten deshalb auch keine Tarifverträge abschließen, sie durften nicht streiken und waren daher für die Durchsetzung ihrer Interessen ganz auf den guten Willen der Unternehmer und Führungskräfte bzw. im Konfliktfall auf den der staatlichen Schlichter angewiesen. Sie wurden daher von der Mehrheit der Arbeitnehmer nicht akzeptiert.

122 Cf. den Text des Gesetzes über die soziale Organisation der Berufe - Charte du Travail - vom 4. Oktober 1941, in: René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement.., op. cit., Annexes, S. 337ff.

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Neben den gemischten Sozialkomitees sah das Arbeitsgesetz noch die Einrichtung von Betriebskomitees in Betrieben mit über hundert Beschäftigten vor. In diesen sollten Betriebsleitung, also Unternehmer und Führungskräfte, gemeinsam mit den Betriebsangehörigen interne Probleme konsensuell lösen und die sozialen Betriebseinrichtungen gemeinsam verwalten. Die Betriebskomitees waren als selbständige Gremien konzipiert, gehörten also nicht unmittelbar zu den Korporationen, beruhten jedoch auf dem gleichen Prinzip wie diese, d.h. einvernehmliche Lösung von Konflikten durch die Sozialpartner im Rahmen „natürlicher Gemeinschaften", in diesem Fall der Betriebe. Der Aufbau der Korporationen vollzog sich nur schleppend. In den meisten Branchen wehrten sich sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer gegen die Bildung gemischter Kommissionen und sabotierten die Bemühungen des Arbeitsministeriums, wo immer sie konnten. Der Widerstand der Gewerkschafter nahm ab 1943 mehr und mehr politische Formen an. Drei Jahre nach dem Inkrafttreten des Arbeitsgesetzes existierten daher von den geplanten siebenundsiebzig Komitees lediglich vierundzwanzig und nur einige Branchensyndikate. Ihre Existenz stand jedoch meistens nur auf dem Papier, in der Praxis funktionierte kaum eines von ihnen. Lediglich einige Betriebskomitees, die nicht zum Kernbereich der geplanten Kooperationsordnung gehörten, tagten regelmäßig und erfüllten so die in sie gesetzten Erwartungen. Dem Regime war es somit trotz erheblicher Anstrengungen nicht gelungen, seine korporativen Vorstellungen in der Industrie durchzusetzen.123 3. Die Agrarkorporationen Die Korporationen der Landwirtschaft waren ähnlich wie die „Organisationskomitees" der Industrie als bäuerliche Selbstverwaltungsorgane zur Steuerung der Produktion und des Absatzes, nicht als berufsständische Organisation zur Lohnfindung und Konfliktschlichtung wie die Industriekorporationen geplant. Die Widerstände gegen ihre Gründung waren daher wesentlich geringer, zumal genossenschaftliche und korporatistische Vorstellungen bereits vorher unter der Landbevölkerung weit verbreitet waren. Bereits im Dezember 1940, also fast ein Jahr vor der Charte du Travail, wurde das Agrargesetz verabschiedet, welches die rechtliche Grundlage der Argrarkorporationen, der „corporation paysanne", bildete.124 Zwei Monate später, im Februar 1941, nahm ein Organisationskomitee aus Vertretern des Agrarministeriums und der aufgelö123

Cf. Jacques Julliard,

124

Cf. René Rémond (Hrsg.), Le gouvernement .., op. cit., Annexe VIII, S. 356ff.

34 Timmermann / Gruner

op. cit., S. 180ff.

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sten Bauernverbände seine Arbeit auf. Es wurde vor allem von konservativen Kräften beherrscht und schloß seine Arbeit im Winter 1942/43 ab. Ein zweites Agrargesetz vom Dezember 1942 legte die endgültigen Strukturen der Agrarkorporation fest und im März 1943 übernahm auf der Grundlage dieses Gesetzes ein gewählter Korporationsrat die Leitung der Korporation an Stelle des 1941 geschaffenen Organisationskomitees.125 Dem Regime ist es somit in der Landwirtschaft zunächst gelungen, den Korporatismus aufzubauen. Auch beim Aufbau der Agrarkorporation kam es zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Regimekoalition über Struktur und Funktion der zu schaffenden Organisation. Allerdings standen sich bei diesen nicht Korporatisten und Syndikalisten, sondern Korporatisten und Etatisten gegenüber. Kern der Auseinandersetzung bildete die Rolle des Staates. Die Korporatisten wollten diese möglichst auf die Gestaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen beschränken, die Etatisten wollten dagegen ein Leitungs- und Kontrollrecht über die Korporationen. Aufgrund der 1940/42 im Agrarbereich bestehenden Machtverhältnisse, insbesondere der finanziellen Abhängigkeit des Organisationskomitees vom Staat, konnten die Vertreter des Agrarministeriums ihre Vorstellungen in erheblichem Umfang durchsetzen. Allerdings mußten auch sie bäuerliche Interessen berücksichtigen, da sie auf die Mitwirkung der Funktionäre der aufgelösten Agrarverbände beim Aufbau der Korporationsstrukturen angewiesen waren. Auch im Agrarbereich zeigte sich die Abhängigkeit des Regimes von den traditionellen Eliten, obwohl die weltanschauliche Übereinstimmung mit ihnen gerade hier sehr groß war. Die Basis der Agrarkorporation bildeten lokale Korporationen, die sowohl die agrarischen Erwerbsgruppen als auch die Agrarunternehmen und Agrargenossenschaften einer Gemeinde vereinten. Ihre Leitungen wurden von den Mitgliedern direkt gewählt, mußten jedoch vom jeweils übergeordneten Leitungsgremium bestätigt werden. Sie waren somit in eine hierarchische Struktur eingebunden. Die lokalen Korporationen waren in Regional verbänden (Unions régionales corporatives) zusammengeschlossen, die bis zum Frühjahr 1943 die tragenden Elemente der Organisation bildeten. Sie waren juristische Personen des öffentlichen Rechts und konnten intern das staatliche Ordnungsrecht anwenden. Dadurch unterschieden sie sich grundlegend von den Agrarverbänden der III. Republik, die als private Organisationen dem Vereinsrecht unterlagen. Die Regionalverbände wählten aus ihrer Mitte die Mitglieder des nationalen Korporationsrates. Diese mußten jedoch in ihrer Funktion vom Staat bestätigt werden, so daß dieser die personelle Zusammensetzung des Korporationsrates erheblich 125

Cf. Hervé Budes de Guebriant, La coopération paysanne, in: ebda., S. 241 ff.

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beeinflussen konnte. Außerdem besaß er ein Kontroll- und Aufsichtsrecht über die Korporationen. Die Mitgliedschaft in den Korporationen war theoretisch freiwillig, praktisch jedoch obligatorisch, da nur sie den Zugang zu den landwirtschaftlichen Einrichtungen wie Kreditwesen, Genossenschaften, Versicherungen etc. ermöglichte. Wer nicht der Korporation angehörte, war praktisch vom Versorgungswesen ausgeschlossen, weshalb die meisten Agrarproduzenten der Agrarkorporation beitraten.126 Der erste Agrarminister des Regimes, Pierre Caziot, war ein überzeugter Korporatist und respektierte deshalb die Autonomie der Korporationen. Unter dem Druck der Nahrungsknappheit sah er sich jedoch gezwungen, den staatlichen Dirigismus zu verstärken. Es kam daher zum offenen Konflikt mit den bäuerlichen Interessenvertretern innerhalb des Organisationskomitees. In diesem vermochte sich der Minister durchzusetzen, verlor jedoch das Vertrauen der bäuerlichen Interessenvertreter. Laval ersetzte ihn daher im April 1942 durch Gabriel Le Roy Ladurie. Dieser bejahte ebenfalls grundsätzlich die Autonomie der Korporationen, sah sich jedoch wie sein Vorgänger durch die schwierige Versorgungslage im Nahrungsmittelbereich gezwungen, die staatlichen Kontroll- und Zwangsmaßnahmen in der Landwirtschaft zu verstärken. So nötigte er die Korporationen, die obligatorische Ablieferung von Agrarprodukten zu überwachen, und machte sie so zu Instrumenten des staatlichen Agrardirigismus. Der Konflikt zwischen Staat und Bauern flammte daher wieder auf. Im September 1942 trat Le Roy Ladurie aus Protest gegen die Requirierung von Agrarprodukten durch die deutschen Besatzungsbehörden zurück. Sein Nachfolger Max Bonnafous war vor allem an einer Steigerung der Agrarproduktion und einer Verbesserung des Ablieferungssystems interessiert, um die Nahrungsmittel Versorgung der Bevölkerung zu sichern. Er verstärkte daher die staatlichen Kontrollen und schränkte so die Autonomie der Korporationen noch weiter ein. Die Landbevölkerung, insbesondere die Klein- und Mittelbauern, stand dem Korporatismus zunächst mehrheitlich positiv gegenüber, da sie sich von ihm eine Lösung der Agrarprobleme, insbesondere eine Stabilisierung der Preise sowie eine Sicherung der Familienbetriebe, erwartete. Sie unterstützte daher mehrheitlich den Aufbau der Agrarkorporationen. In dem Maße jedoch, wie der staatliche Einfluß in diesen wuchs und die staatlichen Zwangsmaßnahmen zunahmen, wandelte sich ihre Haltung. Sie betrachtete nun mehr und mehr die Korporationen als staatliche Kontrollinstrumente und widersetzte sich ihren 126

34*

Cf. ebda., S. 53ff.

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Anweisungen, so z.B. bei der obligatorischen Ablieferung von Agrarprodukten. Die Bauern besaßen jedoch keine Möglichkeiten, ihren Unmut auch verbandsintern zu artikulieren, denn alle Proteste gegen staatliche Maßnahmen wurden von der staatlichen Zensur unterdrückt. Sie beschränkten daher ihre Mitarbeit in den Korporationen auf das unerläßliche Minimum. Infolge dieses passiven Widerstandes begannen sich die Korporationen im Laufe des Jahres 1944 aufzulösen. Auch in der Landwirtschaft war das Regime trotz zunächst günstiger Bedingungen mit seinen Reformvorstellungen gescheitert.127 V I . Die Dynamik autoritärer Herrschaft unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung

Das Regime von Vichy ähnelte bei seiner Entstehung im Sommer/Herbst 1940 eher der ersten Phase des Franco-Regimes (hierarchische, autoritäre Struktur des Staates, Konzentration der exekutiven, legislativen und konstitutiven Gewalt in der Hand des Staatschefs, Entparlamentarisierung und Entdemokratisierung des politischen Systems, Pressezensur ect.)128 als dem deutschen NS-Regime oder dem italienischen Faschismus. Im Gegensatz zum Franco-Regime aber entwickelte es sich nicht zu einem autoritären Obrigkeitsstaat, sondern zu einem terroristischen Herrschaftssystem, dessen Herrschaftsmethoden sich denen des deutschen NS-Regimes und dessen politische Inhalte sich in Teilbereichen denen des italienischen Faschismus anglichen. Diese unterschiedliche Entwicklung beider Diktaturen erklärt sich aus den Unterschieden ihrer Entstehung, ihren innergesellschaftlichen Grundlagen und ihren externen Existenzbedingungen. Das Vichy-Regime entstand nicht in einem Bürgerkrieg in einem Lande, das während des II. Weltkrieges neutral blieb, sondern nach einer militärischen Niederlage in einem weitgehend von ausländischen Truppen besetzten Land, das trotz seines offiziellen Ausscheidens aus dem Krieg weiterhin in diesen verwickelt blieb. Es konnte sich im Gegensatz zum Franco-Regime nicht auf eine Bürgerkriegskoalition aus Armee, Kirche, Oligarchie und Staatspartei (Falange) stützen, sondern nur auf eine heterogene Herrschaftskoalition, deren gesellschaftliche Verankerung schwach war. Für seine Herrschaftsübung und Herrschaftssicherung war es daher weitgehend auf den Staatsapparat angewiesen. Da es keine faschistische Massenbewegung schuf, war es nur in sehr begrenztem Umfang in der Lage, den Staatsapparat mit eigenen Parteigängern zu besetzen. Es blieb daher in hohem Maße vom administrativen 127 m

Cf. ebda., S. 235ff. Cf. u.a. Javier Tusell, La dictadura de Franco, Madrid 1987.

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Personal der III. Republik abhängig. In dem Maße, wie dessen Loyalität nachließ, war es zur Existenzsicherung auf die Miliz, die faschistischen Gruppierungen und die deutschen Sicherheitskräfte angewiesen. Daraus ergab sich in seiner Endphase eine Radikalisierung seiner Herrschaftsmethoden und bis zu einem gewissen Grad auch eine Faschisierung von politischen Teilbereichen (Erziehung, Propaganda, Arbeit/Soziales). Die Radikalisierung der Herrschaftsmethoden und die Faschisierung von Politikbereichen erfolgten als Reaktion auf den wachsenden Widerstand und den fortschreitenden Akzeptanzverlust. Diese waren aber ihrerseits Reaktionen auf den Autoritarismus, Antisemitismus und die Kollaboration des Regimes, d.h. dessen Radikalisierung und Faschisierung ergaben sich aus seiner Struktur und seiner Politik. Die Verbindung zwischen Autoritarismus, Antisemitismus und Kollaboration waren keine zwangsläufigen Folgen externen Bedingungen, d.h. des Krieges, der Niederlage und der Besatzung, sondern der politischen Überzeugungen und Zielsetzungen der Regimekoalition und ihrer Analyse der politisch-strategischen Situation. Pétain und seine Anhänger wollten Frankreich mit Hilfe eines „starken", d.h. autoritären Staates erneuern, weil sie fest davon überzeugt waren, daß die innere Erneuerung des Landes die unerläßliche Voraussetzung für seinen nationalen Wiederaufstieg bilde. Der französische Staat konnte die ihm zugedachte Erneuerungsfunktion jedoch nur erfüllen, wenn er handlungsfähig, d.h. souverän blieb. Pétain und seine Anhänger entschlossen sich daher im Sommer 1940 zum Abschluß eines Waffenstillstandes mit Deutschland, weil dieser im Gegensatz zu einer Kapitulation der französischen Streitkräfte die nationale Souveränität, wenn auch eingeschränkt, bestehen ließ. Diese Entscheidung vom Juni 1940 führte zum Aufbau des Regimes noch während des Krieges unter deutscher Besatzung und zwang es so zur Zusammenarbeit mit der deutschen Besatzungsmacht. Lediglich das Ausmaß der Zusammenarbeit ließ der Waffenstillstand noch offen. Die Option für den Waffenstillstand enthielt somit die Option für die Kollaboration. Das Regime entschloß sich schon im Herbst 1940 zur Ausweitung der Kollaboration über das durch den Waffenstillstandsvertrag erforderliche Maß hinaus, weil es seine Regierungs- und Verwaltungshoheit über das gesamte Staatsgebiet behaupten bzw. erneuern und Frankreich einen privilegierten Platz im künftigen Europa sichern wollte. Pétain und seine Anhänger gingen dabei von der Annahme aus, daß Deutschland den Krieg gewinnen und dann Kontinentaleuropa beherrschen werde. Die Option für den Waffenstillstand und für die Kollaboration beruhten somit auf einem politischen Willen sowie auf einer militärischen Analyse, nicht auf militärischen oder machtpolitischen Sachzwängen. Die französische Staatsfüh-

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rung hätte sich im Sommer und Herbst 1940 auch anders entscheiden können. Nachdem sie sich aber für den Waffenstillstand und für die Kollaboration entschieden hatte, mußte sie auch die staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen den daraus resultierenden Folgen anpassen. Es war eine Illusion zu glauben, Innen- und Außenpolitik, d.h. der Aufbau der neuen Ordnung und die Kollaboration mit der Besatzungsmacht, ließen sich voneinander trennen. Die spätere Radikalisierung des Regimes war daher von Anfang an in den Grundsatzentscheidungen vom Sommer und Herbst 1940 enthalten. Diese Radikalisierung der Herrschaftsmethoden führte jedoch nur in einigen Teilbereichen des Staates zur Faschisierung, weil die Existenz und die Funktionsfähigkeit des Regimes infolge des Fehlens einer Staatspartei sowie eines totalitären Herrschaftsappartes bis zuletzt von der Mitarbeit der gesellschaftlichen Eliten und der Loyalität der Staatsbediensteten angewiesen war. Diese aber blieben mehrheitlich einem traditionellen, republikanisch geprägten Staatsverständnis verhaftet, das staatlichem Handeln rechtliche und moralische Schranken setzt. Das Regime von Vichy entwickelte sich daher trotz des wachsenden inneren und äußeren Problemdrucks nicht zu einem faschistischen Herrschaftssystem, sondern zu einer typisch französischen Synthese aus Etatismus, Autoritarismus, Traditionalismus und Faschismus. Es bildete damit einen Sonderfall unter den europäischen Rechtsdiktaturen des 20. Jahrhunderts.

Die Sowjetunion 1917-1991 - Die rote Diktatur Zu den historischen Ursachen der Lenin-Stalin-Diktatur

Von Detlef Jena

Die Begriffe Stalin - Stalinismus - Diktatur des Proletariats - bolschewistische Diktatur - Sowjetimperium, zählen im 20. Jahrhundert zu den besonders hart diskutierten Themen der sozialen und politischen Geschichte. Sofern die Diskutanten nicht glühende Apologeten eines zum Byzantinismus neigenden LeninStalin-Kults waren und geblieben sind und allzugern das Menschenverachtende im Stalinschen Law-and-Order-Verständnis negieren bzw. den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg" als Geniestreich einer durch den „genialen Menschheitsführer" gelenkten Plejade ordensgeschmückter Marschälle ansehen, gibt es mehrheitlich keinen Zweifel, daß Stalin einer der unbarmherzigsten Diktatoren des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Bei den Fragen nach Herkunft, Wesen, Erscheinungen und Folgen der Stalin-Diktatur gehen die Meinungen indes weit auseinander. Sie differieren sich nicht nur danach, ob die Fragen macht- oder parteipolitisch journalistisch-polemisch, bzw. intellektuell-geistig gestellt werden. Allein der wissenschaftliche Diskurs über das Phänomen der Lenin-StalinDiktatur vereinnahmt die ganze Bandbreite des verfügbaren Methodenkatalogs mit den entsprechenden unterschiedlichen Resultaten. Die Debatte korrelliert mit den nach 1989 aufgeworfenen Fragen nach der Gültigkeit solcher Begriffe wie Revolution, Umbruch, Zeitenwende u.a. Um es vorweg mit den Worten des Osteuropahistorikers Dietrich Geyer zu sagen und in dessen Gedankengänge bewußt auch die Diskussionen um den „Totalitarismus" einzubeziehen, sei angemerkt: „Im intellektuellen Milieu des Westens kam mancherorts die Neigung auf, den Kollaps des kommunistischen Herrschaftssystems als globalen Sieg des liberalen Prinzips zu feiern und in späthegelianischer Attitüde das „Ende der Geschichte" als Philosophie postmoderner Diagnostik auszugeben. Andere...sprachen, wenn sie nach Osten blickten, nicht vom „Ende", sondern von der „Rückkehr" oder vom „Erwachen" der Geschichte. Gelernte Historiker, vom trainierten Wahrheitssinn der Zunft zur Nüchternheit verpflichtet, pflegen sich auf derlei blumige Metaphern nur selten einzulassen... Dem histo-

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riographischen Gewerbe liegt es im allgemeinen fern, rasch improvisierten Deutungsangeboten nachzugeben. Die eigene Berufserfahrung rät vielmehr dazu den Kopf über dem Nebel zu halten und dem sporadischen Drang nach holistischer Sinngebung zu widerstehen. Auch die Versuchung, Orientierungsnöte unserer Zeit in Chaostheorien, zirkulären Historiosophien oder poststruktualistischen Diskursen aufzuheben, hilft der Aufklärung nicht sonderlich voran. Um sich zu vergewissern, „wo wir stehen", mag die ungleich bescheidenere Bemühung weiterführen, vorab das zwanzigste Jahrhundert in den Blick zu nehmen, an dessen Ende das, was wir Geschichte nennen, sich „gewendet hat."1 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion überwiegt auf deren Territorium hinsichtlich einer Beurteilung des Diktators Stalin die emotional geprägte politische Polemik und läßt der wissenschaftlichen Analyse vorerst nur geringe Spielräume. Selbst Arbeiten mit seriösem Anspruch, wie die Stalin-Biographie Dmitri Wolkogonows, erschöpfen sich darin, den „Stalinismus" als „Synonym für die Pervertierung der Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus" zu charakterisieren. 2 Es wird nicht danach gefragt, ob die Pervertierung eine Folge aus dieser Theorie und Praxis gewesen ist, und so gerät das Urteil über den Stalinismus als besonders schwerwiegendes Exempel „bürokratischer und dogmatischer Umnachtung"3 eher plakativ vordergründig als definitorisch exakt. Nicht anders hat in den dreißiger Jahren der ausgebürgerte Leo Trotzki argumentiert.4 Diese Tatsache darf nicht verwundern, denn auch Wolkogonows Buch war lediglich ein politisch-ideologischer Ausfluß der Perestroika, zu deren wesentlichen Erscheinungen die politische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus gehörte. Die Perestroika wandelte ihren Charakter in nur wenigen Jahren: von dem Bemühen um eine Beschleunigung der materiellen Produktion, ohne an den Grundlagen der Ordnung zu rütteln, mündete sie in den Zerfall der Sowjetunion. Die Kritik am Stalinismus war ein Akt der geistigen Befreiung innerhalb der Sowjetunion und im Rahmen eines zu erneuernden Sozialismus. Sie unterschied sich prinzipiell von der durch Nikita Chruschtschow in den 1 Dietrich Geyer: Osteuropäische Geschichte und das Ende der kommunistischen Zeit, in: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Heidelberg 1996, Bericht 1, S. 9 f. 2 Dmitri Wolkogonow, S. 22. 3 4

Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Portrait, Düsseldorf 1989,

Ebenda, S. 23.

Vgl.: Leo Trotzki'. Schriften 1: Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Band 1.1 (1929 1936) und Band 1.2 (1936 - 1940), hrsg. v. Helmut Dahmer, Rudolf Segall und Reiner Tosstorff, Hamburg 1988.

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fünfziger Jahren betriebenen obrigkeitsstaatlichen „Entstalinisierung". Während die Debatte in den achtziger Jahren einen intellektuellen und geistigen Aufbruch der Öffentlichkeit im eigenen Lande implizierte bzw. durch diesen hervorgerufen wurde, war Chruschtschows „Rückkehr zu den Leninschen Normen des Parteilebens" lediglich eine Reaktion auf sich wandelnde internationale Veränderungen und als Versuch geeignet, den überkommenen Herrschaftsstrukturen einen neuen Kraftquell zu erschließen. Es war in gewisser Weise charakteristisch, daß das Ende von Perestroika und Sowjetunion zunächst einen Schlußstrich unter die Stalin-Debatte gezogen hat. Die Stalin-Debatte! Sie besaß vor 1989/90 in den westlichen Ländern einen anderen Charakter als in den zum sowjetischen Imperium gehörenden Staaten, und dort wiederum wurde sie unter anderen Gesichtspunkten geführt als in der UdSSR selbst. Dort - im „Lande Lenins" - geriet die Diskussion kaum über die Grenzen einer Aufdeckung der Verbrechen des Stalinismus hinaus. Das war sehr viel, denn die Auseinandersetzung konzentrierte sich nicht mehr allein auf die Person Stalins. Man begnügte sich nicht mehr mit der Aufzählung von Verbrechen, sondern stellte erste Periodisierungs- und Einschätzungsfragen. 5 Indes, die Diskussion ging nach wie vor von der Kritik an einzelnen Erscheinungen in der durch Lenin geschaffenen sozialistischen Gesellschaft aus, die erneuerbar erschien und - es war die eigene „vaterländische" Vergangenheit, mit der man sich auseinandersetzte. Bei aller kritischen Bilanz darf jedoch auch nicht übersehen werden, daß in Rußland dem Studium der Geschichte des Stalinismus auf der Grundlage neu erschlossener Quellen zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet wird und daß dabei in jüngster Zeit einige beachtliche Editionen mit wissenschaftlichem Neuheitswert herausgekommen sind, wie z.B. der Briefwechsel zwischen Stalin und Molotow in den Jahren 1925 bis 1936 oder die Dokumentensammlung über das Politbüro des ZK der KPdSU in den dreißiger Jahren. 6 Die sowjetische Diskussion zum Stalinismus unterschied sich weitgehend von den im Westen seit Jahrzehnten angestellten Überlegungen. Diese identifizierten die stalinistische Diktatur mit dem ihr zugrundeliegenden Sozialismus Leninscher Prägung. Totalitarismus, Modernisierung und Kontinuität waren beherr-

5 Vgl. dazu auch: Gabriele Gorzka, Revolutionszeit und Machterhalt: Die sozialen Träger des Stalinismus, in, Die Sowjetunion im Zeichen des Stalinismus, hrsg. v. Antonio Peter und Robert Maier, Köln 1991, S. 11. 6 Vgl. dazu den Literaturbericht: W.N. Kolodeshny: Stalin und der Stalinismus. Neuere russische Literatur, in: Osteuropa, 46/1996, H. 8, S. 820 - 823.

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sehende Schlagworte.7 Die westliche Politologie und Historiographie hat namentlich unter dem Einfluß der Sozialgeschichte theoretische Modellvorstellungen entwickelt, denen die historische Wirklichkeit nach politischen Wünschen mehr oder weniger zugeordnet worden ist. Die Manie, die Theorie über die Wirklichkeit zu stellen, ist - wenn auch ganz anders - nicht minder fruchtlos gewesen wie der Leninsche Historismus. Noch im Jahre 1990 wurde der Satz gedruckt: „Europa als Ganzes, Europa als handlungsfähige Gesellschaft ist im 20. Jahrhundert untergegangen, und man kann darüber streiten, wer ihm den Todesstoß versetzt hat, Hitler, Stalin oder schon die Autoren des Versailler Vertrags." 8 Es liegt keine Häme in der Feststellung: so wenig die marxistischleninistische Theorie die Probleme der russischen Wirklichkeit lösen konnte, so wenig waren die modernen sozialhistorischen Theorien in der Lage, die Perspektiven der sozialistisch-diktatorischen Gesellschaft zu erklären. Als der Sozialismus an sich selbst zu Grunde ging, hat das kein Sowjetologe vorhergesehen! Aus dieser Sicht ist es fraglich, ob die alten sozialhistorisch determinierten „Totalitarismus-Modelle" heute noch tauglich sind, die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Diktaturen im 20. Jahrhundert zu bestimmen. Diese Frage ist zumindest für Rußland erlaubt, denn die mit dem Ende der Perestroika abgebrochene Debatte über den Stalinismus erlebt im Jahre 1996 ihre Wiedergeburt, allerdings unter anderen Vorzeichen und Gesichtspunkten. Jetzt geht es nicht mehr um die Verbrechen eines einzelnen Diktators, der Millionen von Menschen in Tod, Lager und Verderben gestürzt hat. Es geht im aktuell politischen Sinne auch nicht mehr um den internationalen Diktaturenvergleich für das 20. Jahrhundert. Es geht um die mit „nachholender Modernisierung" wiederherzustellende Größe eines imperialen Rußlands, in dem die tonangebenden Reformnationalisten liberale Rechtsstaatsprinzipien als Zumutung empfinden. Rußland, so liest man im Juli 1996 in der deutschen Presse, habe mit der Wahl Boris Jelzins zum Präsidenten Rußlands endgültig die Abkehr vom Kommunismus vollzogen und die Hinwendung des Landes zur Demokratie besiegelt. Welche eine kurzschlüssige Behauptung angesichts des immer wieder aufflammenden Krieges in Tschetschenien! Welch ein Unverständnis gegenüber der russischen Geschichte!

7 Vgl. dazu die zusammenfassenden Bemerkungen und Literaturhinweise in: Ebenda, S. 12 und 28 f. 8 Hans Maier, Europa und sein Osten, in, Osteuropa und die Deutschen. Vorträge zum 75. Jubiläum der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin 1990, S. 20.

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Es ist offenbar ein Ausdruck politischer Ratlosigkeit, daß angesichts der sozialpolitischen Wandlungen in Rußland die Totalitarismus-Forschung der vergangenen Jahrzehnte aufgearbeitet und bilanziert wird. 9 Die neu entflammte Debatte ist nicht frei von abstrakter Rechthaberei, denn Befürworter wie Kritiker fühlen sich durch den Zusammenbruch des Sozialismus bestätigt. Dabei sind die Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung dieser Theorie in der Vergangenheit bereits durchaus abgesteckt worden. Ohne an dieser Stelle einen detaillierten historiographischen und theoretischen Exkurs über die Wandlungen der Totalitarismus-Theorie nachvollziehen zu wollen,10 ist hinsichtlich der Einordnung des Stalinismus in diese Theorie auf folgende Akzente zu verweisen: die Begriffe „Stalinismus" und „Totalitärismus" haben sich in den dreißiger Jahren parallel zueinander entwickelt und stießen dort zusammen, wo nach vergleichbaren Charakteristika diktatorischer oder autoritärer Herrschaftssysteme, die damals in weiten Teilen Europas über demokratisch-parlamentarische dominierten, gesucht wurde. Der ideologische Ausschließlichkeitsanspruch - bis hin zu seiner Funktion als „Begründung" für den parteipolitisch und staatlich gelenkten Terror gegen ganze Gruppen der Bevölkerung bzw. gegen ganze Nationen, Führerprinzip und Diktatur einer Partei, zentrale Planung und Überwachung der Wirtschaft, Gleichschaltung der Massenkommunikation und die scheinparlamentarische Legitimität galten als wichtige Urteilskriterien. Wie jedes verallgemeinernde theoretische Modell für Geschichte und Politik versprach auch dieses von Anfang an mehr als es hielt und brach sich vor allem an der Wirklichkeit. Die auf den Parteitagen der KPdSU und in den spitzfindigen Theoriediskussionen mit Trotzkisten und „Parteifeinden" jeglicher Couleur kathechisierte Leninistische Treue zum weisen Stalin galt den Theoretikern der Totalitarismus-Theorie ebenso bereits als alltägliche Praxis des durchschnittlichen Sowjetmenschen, wie sie Industrialisierung, Kollektivierung und Terror als Ausflüsse langfristiger politischer Strategien betrachteten. Die Vorstellungen über das wirkliche Leben in der Sowjetunion waren ebenso gering wie die theoretischen Gebäude stilisiert wurden. Idealtypische Konstrukte konnten niemals ein Abbild der gesellschaftlichen Wirklichkeit sein und besaßen überdies den fatalen Effekt, die Theorie selbst zu entwerten und den „Stalinismus" von seinen historischen und geistigen Wurzeln im Leninismus zu trennen.

9 Vgl.: Eckhard Jesse (Hrsg.): Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, Bonn 1996. 10 Vgl. dazu u.a.: Jörg Baberowski: Wandel und Terror: Die Sowjetunion unter Stalin 1928 1941. Ein Literaturbericht, in: Jahrbücher fur Geschichte Osteuropas 43 (1985), H. 1, S. 97 - 123.

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In den sechziger Jahren schalteten sich westliche neomarxistische Intellektuelle primär ablehnend in die Totalitarismus-Debatte ein und entwickelten eigene Erklärungsmodelle für den „Stalinismus", die nicht minder abstrakt waren. Nicht das terroristische Instrumentarium, sondern das emanzipatorische Ziel am Sozialismus sei entscheidend, lehrten sie. Nimmermüde Trotzkisten beklagten die bürokratischen Traditionen des Stalinismus, die angeblich durch die fortschreitende Vergesellschaftung der Eigentumsverhältnisse überwunden werden könnten. Insgesamt konzedierten die linken Sozialismusdebatten dem Stalinismus den Status einer unvermeidlichen Entwicklungsdiktatur und eines Übergangsphänomens auf dem Wege zum Sozialismus. Die Illusion, mit fortschreitender wirtschaftlicher Entwicklung stellten sich sozialistische Formen der Partizipation wie von selbst ein, nährte nicht nur Nikita Chruschtschow, als er mit dem Parteiprogramm von 1961 den Übergang zum Kommunismus innerhalb von zwanzig Jahren versprach, sondern sie war auch gängige Überzeugung hoffnungsvoller marxistischer Intellektueller. Die Zeit des Kalten Krieges und der ideologischen Konfrontation war wie geschaffen für theoretische Abstraktionen differenzierender Gesellschaftsentwicklungen. Neben den Totalitaristen und Entwicklungsdiktatoren erfreuten sich die „Modernisierer" weiter Popularität, aus dem leninistischen Lager argwöhnisch als Konvergenz-Revisionisten abgelehnt. Manche Modernisierungstheoretiker gelangten in den sechziger Jahren zu dem schnellen Schluß, das Stalinsche Experiment sei eine Form der Modernisierung, habe bedauerlicherweise zu zahlreichen Opfern geführt, insgesamt aber beachtliche Erfolge erarbeitet. Abgesehen davon, daß die Geschichte hinsichtlich des Erfolges den Gegenbeweis angetreten hat, hat es in der Sowjetunion selbst in den Jahren des Tauwetters weder eine signifikante Erweiterung politischer Partizipation, noch eine Individualisierung des gesellschaftlichen Lebens, noch eine institutionalisierte Verrechtlichung von Konflikten gegeben. Natürlich fehlte es auch nicht an Modell Vorstellungen, die Lenin-StalinDiktatur ausschließlich aus dem Kontext russischer Geschichte zu abstrahieren. Eine genuin russische Herrschaftstradition, hergeleitet aus den autokratisch-terroristischen Praktiken Iwans IV. (des „Schrecklichen") oder des großen Modernisierers Peter I. schärfte zwar den Blick für historische Kontinuitäten, überlagerte jedoch den für eine Theorienbildung im kalten ideologischen Krieg unabdingbare Bedeutung der marxistisch-leninistischen Ideologie als Impetus gewalttätiger Veränderungen und verwischte außerdem die gravierenden Unterschiede, die es zwischen zarischer und sowjetischer Herrschaft gegeben hat.

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Es ist vollkommen gleich, welche Theorie zur Deutung des „Stalinismus" herangezogen worden ist. Jede hat die Gesellschaft lediglich als Opfer von Beherrschung durch einen blindwütigen Diktator begriffen. Mangels hinreichender Informationen unterlag die Forschung und Theorienbildung letztlich der Selbststilisierung des Stalinismus und ging dadurch in die Irre, weil Herrschaft jedweder Art stets durch den gesellschaftlichen Kontext konditioniert wird, auf den sie stößt. Es ist ein harsches Urteil zu fällen. Der Marxismus-Leninismus verstellte die Geschichte im Interesse der Legitimierung diktatorischer Einparteien- und EinMann-Diktaturen. Der westliche gelehrte Diskurs über den Stalinismus erschöpfte sich bis hoch in die achtziger Jahre im Widerstreit abstrakter Hypothesen. Jede Theorie wurde ernst genommen, sofern sie im wissenschaftlichen Gewand aufgetreten ist. Die Realität stalinistischer Herrschaft, die Mechanismen des Terrorapparates und der tatsächlichen Wirtschaftslenkung blieb den Historikern ebenso verborgen wie die gesellschaftliche Praxis selbst. Ja, „eine Sozialgeschichte politischer Herrschaft stieß an Grenzen, wo Träger und Opfer der Stalinschen Revolution noch zu benennen waren." 11 Die Möglichkeit, die festgefahrenen theoretischen Abstraktionen zu lösen, ergaben sich erst aus der politischen Wende der Jahre 1989 - 1991 und vor allem aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion selbst. Es ist das alte Dilemma: Die historische Forschung kennt keine Kontinuität über Systemgrenzen hinweg, sondern wandelt sich mit den politisch-ideologischen Machtverhältnissen. Die Freund-Feind-Theorien haben versagt und nun besinnt sich der Historiker wieder auf die Traditionen eines Leopold von Ranke: Geschichte schreiben, so wie sie gewesen ist. Der Begriff des Stalinismus durfte nicht länger aus einer vorgefertigten Theorie definiert werden, sondern aus dem empirischen Befund, aus dem realistischen Verhältnissen zwischen Ansprüchen und Möglichkeiten. Mitte der achtziger Jahre erklang aus Amerika der Ruf, den Stalinismus an seinen konkreten historischen Platz zu stellen. Rigoros wurde nach einem Paradigmenwechsel gerufen. Fortan sollte dem Alltag des Stalinismus das Hauptinteresse gelten, um der sozialen Dynamik und den Träger schichten des stalinistischen Systems auf die Spur zu kommen. Derartige Losungen sind mit großer Skepsis zu betrachten. Sie tragen sofort den Makel der Einseitigkeit in sich. In den fünfziger Jahren ging von den USA der Aufruf zur Dominanz der Sozialgeschichte aus. Sie hat zumindest in der Rußlandforschung dazu geführt, daß ganze Bereiche des gesellschaftlichen Kontextes fortan ausgeklammert worden

11

Ebenda, S. 101.

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sind (namentlich der Geistesgeschichte, der Biographik und der Kulturgeschichte). Wohlmeinend darf für die letzten Jahre historischer Forschung über den Stalinismus resümiert werden, daß bei unverdrossenem Weiterbestehen überholter Theoriesucht beachtliche Einsichten in das Innenleben des stalinistischen Herrschaftssystems gelungen sind. Dankenswerter Weise überwiegt die Tendenz, die Komplexität gesellschaftlicher Entwicklungen zu betonen, Widersprüche auch als solche zu kennzeichnen und monokausale Erklärungsmodelle zu verwerfen. Ein Mangel besteht darin, daß sich der untersuchte geographische Raum primär auf die slawischen Zentralgebiete der Sowjetunion konzentriert. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß Detailuntersuchungen zur nationalen Problematik im Stalinismus noch immer zu den Desiderata der historischen Forschung zählen, obwohl der Zusammenhang zwischen ethnisch-kulturell begründeter Resistenz gegen sozialistische Formen der Entwicklung in Mittelasien und im Kaukasus und der Entfaltung stalinistischer Unterwerfungs- und Disziplinierungsstrategien bereits offenkundig geworden ist. Aus den zahlreichen konkret-historischen Problemen, die die neuere Forschung zum Phänomen des Stalinismus aufgeworfen hat, sollen an dieser Stelle zwei Fragen herausgegriffen werden: Welche Voraussetzungen haben die Entstehung des Stalinismus bedingt? Welche Erkenntnisse gibt es über die Person und Persönlichkeit Stalins selbst? Hinsichtlich des ersten Fragenkomplexes müssen verschiedene Untersuchungsebenen berücksichtigt werden. Sie sind in der Leninschen Theorie und Ideologie selbst, in den Traditionen und Zielen revolutionärer russischer Praxis, im parteipolitischen Streit russischer Sozialdemokraten vor der Revolution von 1917, in den konkret-historischen Voraussetzungen Rußlands für eine proletarische Revolution Marx-Leninscher Prägung, im Verlauf der bolschewistischen Aufstandsbewegung, in den Resultaten der Revolution selbst, in der Stellung der Gesellschaft zur Krise des Zarismus und zu den Revolutionen 1905 und 1917, im Niedergang des autokratischen Regimes sowie in den inneren parteipolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der KPdSU nach der Revolution von 1917 zu suchen. Lenins bolschewistische Partei schnitt die Marxsche Theorie nach eigenem Gutdünken zurecht und begründete die machtpolitische Umwertung einer idealtypischen sozialen Idee mit den russischen Traditionen, die sich bezüglich der revolutionären Bewegung bislang im theoretischen Meinungsstreit sozialutopischer Thesen, in elementaren Bauernrevolten und im verschwörerischen Kleinkrieg terroristischer Protagonisten erschöpft hatten. Die Bolschewiki konser-

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vierten von Beginn an die verschwörerischen Elemente, nicht etwa, weil sie das zarische Repressivsystem dazu zwang, sondern aus konzeptionellen Gründen. Im Jahre 1902 legte Lenin in „Was tun?" unter Ausklammerung der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit die Strukturen seiner künftigen Partei dar und trennte darin von vornherein zwischen einer Organisation der Arbeiter und der Organisation der Berufsrevolutionäre. Die radikale Intelligenz habe die Aufgabe, politische Überzeugungen in die Arbeiter hineinzutragen, da diese sich lediglich um ihre wirtschaftlichen Alltagssorgen kümmerten. Der berühmt, berüchtigte Satz aus dem Jahre 1902: „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Rußland aus den Angeln heben"12 beinhaltete in sehr präziser Weise das anzustrebende Herrschaftsmodell. Die Arbeit „Was tun?" steckte bereits die Leninsche Lehre von der Eroberung und Behauptung der politischen Macht ab. Sie bestimmte die exklusive berufsrevolutionäre Partei zum entscheidenden Hebel bei der Errichtung der künftigen Staatsgewalt. Marx und Engels hatten den Kommunisten in ihrem Manifest keine derartig exklusive Rolle zugedacht,13 und Lenins Parteitheorie, auf deren Grundlage die bolschewistische Partei geformt wurde, war eine ganz entscheidende Abweichung von den alten deutschen „Klassikern". 14 Die elitäre berufsrevolutionäre Partei bereitete sich vornehmlich mit konspirativen Mitteln auf die Machteroberung vor und stellte sich damit von Beginn an außerhalb des Lagers politischer Oppositionsparteien - bewußt Verfolgung und Repression auf sich ziehend. Es war selbstverständlich, daß die so „im Kampfe gestählte" Organisation professioneller Revolutionäre, die bis dahin trotz gelegentlicher taktischer Differenzen weitgehend den Leninschen Dogmen folgte, nach ihrem Sieg nicht gewillt war, die Macht an das erklärtermaßen theoretisch und politisch unerfahrene Proletariat abzugeben. Nahtlos erfolgte der Übergang aus der konspirativen Illegalität an die Spitze des Staates, wobei die Partei faktisch mit den staatlichen Strukturen verschmolz. Damit entstand eine neue Konfliktsituation zwischen den Massen und der Parteielite, die bereits im Februar 1917 begonnen hatte und nicht nur die Grundlagen der Leninschen Parteitheorie, sondern in gleicher Weise die einmal festgelegten und praktikabel zu vervollkommenden Prinzipien der Revolutionstheorie, der Theorie vom Aufbau des Sozialismus, über den Imperialismus und über die angeblich gesetzmäßige Abfolge historischer Gesellschaftsformationen 12

W.I. Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 483.

13

Vgl. Marx-Engels-Werke, Bd. 4, Berlin 1962, S. 474.

14 Vgl. dazu auch: Wolf gang Rüge: Stalinismus - eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte, Berlin 1991, S. 34 ff.

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berührte. Mehr als zwanzig Jahre hatten Lenin und die russischen Sozialdemokraten in der Illegalität und Emigration über die theoretischen Grundlagen der eigenen Machtergreifung gestritten, ein elitäres Gebäude erdacht, das ausschließlich den eigenen machtpolitischen Zielen diente und dennoch wurden sie im Februar 1917 von einer quasi demokratischen Volksrevolution überrascht, der sie zunächst hinterherliefen und in der sie, um an die Spitze zu gelangen, Forderungen aus dem Volk aufgreifen mußten, die gar nicht oder nur teilweise den eigenen Machtvorstellungen entsprachen. Die Losungen, die nach Frieden, Land und einer Gesetzgebenden Versammlung riefen, entsprachen keineswegs den bolschewistischen Machtansprüchen, ebensowenig wie die in der Revolution entstandenen Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Aber in dem siedenden Revolutionskessel Rußland erwies sich die bolschewistische Kaderpartei als die stabilste politische Kraft mit der klarsten politischen Vorstellung. Im Sinne der revolutionstheoretischen Konzeption, der flugs die bis dahin innerparteilich befehdete Theorie Leo Trozkis von der „Revolution in Permanenz"15 hinzugefügt wurde, eroberten die Bolschewiki Schritt für Schritt die Macht in den Sowjets, okkupierten sie die demokratischen Losungen und bereiteten sie über verschiedene Zwischenstufen, im Kampf gegen die demokratischen politischen Kräfte, die eigene Machtergreifung vor. Im Ablauf der Revolution bestand ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Regierungsbeschluß zur Durchführung freier Wahlen für eine Gesetzgebende Versammlung und dem Aufstand der Bolschewiki am 7. November, in dem sie den 2. Sowjetkongreß zum höchsten Machtorgan im Lande proklamierten. Die ersten Dekrete der neuen Macht reflektierten die Forderungen des Volkes, akzentuierten jedoch wesentlich schärfer den Appell an die Proletarier der fortgeschrittenen Länder, durch die Weltrevolution die noch schwankende Macht Lenins in Rußland zu unterstützen. Diese Hoffnung, die sich als Illusion erwies und dadurch den diktatorischen Kurs der Partei verstärkte, erschien aus mindestens zwei Gründen gewachsen zu sein. Mit dem Procedere um den Vertrag von Brest-Litowsk ging faktisch die gesamte Exekutivgewalt im Lande an das ZK der bolschewistischen Partei über. 16 Durch die destabile Lage Sowjetrußlands, die ständig schnelle und tiefgreifende Entscheidungen erforderte, wurde die Entmachtung von Regierung und Sowjetkongreß beschleunigt. Alle staatlichen Maßnahmen wurden durch das ZK festgelegt und kontrolliert. „Es kann folglich keinem Zweifel unterliegen, daß die Sowjets, deren Allmacht die Bolschewiki proklamiert hatten, keine entscheidenden Machtbefugnisse besa15

Vgl ..Leo Trozki: Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, hrsg.v. Isaak Deutscher, George Novack und Helmut Dahmer, Frankfurt am Main 1981, S. 65 ff. 16

Vgl.: W.I. Lenin: Werke, Bd. 27, Berlin 1960, S. 110.

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ßen. Der Staat, der als Diktatur des Proletariats ausgegeben wurde, war in Wirklichkeit eine Diktatur der Partei,17 nicht einmal der Partei als solcher, sondern eine Diktatur der Parteispitze."18 Markantester Zeuge für diese, den späteren Stalinismus präjudizierende Politik Lenins war Rosa Luxemburg, die Ende 1918 an Lenin schrieb:"Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert...Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker." 19 Bereits im März wurde ein Politbüro über das Zentralkomitee gesetzt, und von diesem Zeitpunkt ab erfolgte der Abbau der Parteitage als Kontrollinstitutionen für die Tätigkeit von Politbüro und Zentralkomitee. Von Anfang an distanzierte sich die enge politische Führung von den Massen, deren Interessen sie zu vertreten vorgab. Dadurch stand das ganze machtpolitische System auf instabilen Grundlagen und es war fraglich, wie lange es sich halten konnte. Ein zweiter Grund für den Ruf nach internationaler proletarischer Solidarität, der gleichzeitig zur Fundierung der Führungsdiktatur beitrug, bestand darin, daß die soziale Realität in der Sowjetrepublik keineswegs dem von Lenin ausgearbeiteten Programm einer baldigen sozialistischen Gesellschaft entsprach. Die Eroberung der politischen Macht verlangte nicht nur das Eingehen auf die Forderungen der Massen, sondern damit verbanden sich Zugeständnisse, die der postulierten proletarischen Diktatur widersprachen. Nur so ist der anfängliche Verzicht auf die Nationalisierung des Bodens, das Selbstbestimmungsrecht für die Völker (bis hin zur Gewährung des Rechts auf Lostrennung und Bildung selbständiger Staaten) und auch die Neue Ökonomische Politik ab 1921 erklärbar. Im Grunde genommen entbehrte die Revolution vom Oktober 1917, so wie 17 Viele führende Bolschewiki bestätigten das expressis verbis. So schrieb Sinowjew: „Die Diktatur der Partei erfüllt die Funktion der Diktatur des Proletariats." Georgi Sinowjew: Leninism, Moskau-Leningrad 1925, S. 324. 18

Wolf gang Rüge: Stalinismus, S. 42.

19

Rosa Luxemburg: Die russische Revolution, in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S.

362. 35 Timmermann / Gruner

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sie die Bolschewiki verstanden, weitgehend aller notwendigen sozialen, politischen und kulturellen Voraussetzungen20 und ihre Ergebnisse entsprachen unter den konkreten russisch-sowjetischen Bedingungen nicht dem Wunsch, zum Hort der proletarischen Weltrevolution zu werden. Aus der damit verbundenen Fülle konkret-historischer Probleme, die in ihrer Gesamtheit die theoretisch-ideologische Fundierung der Diktatur tendenziell vertieften, schälten sich als Kernpunkte heraus: Die Reagrarisierung Rußlands stärkte die bäuerlichen Mittelschichten auf der Grundlage der traditionellen Gemeinde Verfassung, widersetzte sich dem industriellen Aufbau, führte in den zwanziger Jahren zu erheblichen Wirtschaftskrisen und trennte die Stadt wieder stärker vom Land. Schritt um Schritt verlor die sozialistische Macht auf dem Lande an Einfluß, und sie empfand den Bauern als Bedrohung für die postulierte sozialistische Perspektive. Da die Partei den Bauern wirtschaftlich nicht helfen konnte, ihre Kraft jedoch für die Industrie benötigte und gleichzeitig deren Mentalität nicht verstand, griff sie zunächst zu propagandistischen Disziplinierungskampagnen. 1924 startete Bucharin die Bewegung „Das Gesicht zum Dorf" und hoffte, dadurch das ländliche Kapital für die beginnende Industrialisierung abschöpfen zu können, indem gemäßigte Elemente marktwirtschaftlicher Beziehungen entsprechend den Grundsätzen der Neuen Ökonomischen Politik gefördert werden sollten. Die Grundprinzipien der proletarischen Diktatur siegten jedoch über die wirtschaftliche Vernunft, und die Kampagne wurde abgebrochen. Am Ende stand in den Jahren ab 1929 die massenweise Zwangskollektivierung, die bereits das System der Stalin-Diktatur kennzeichnete. Problembehaftet blieb auch die Leninsche Nationalitätenpolitik. Nationale Emanzipation als Folge des Sturzes der zentralistischen Autokratie waren im Kaukasus ebenso willkommen wie in Zentralasien. Aber nationale Autonomie als Instrument sozialistischer Zentralisation stieß auf Widerstand.21 Im Grunde genommen entzog sich in den zwanziger Jahren das nationale Eigenleben namentlich in Mittelasien dem Zugriff der Moskauer Zentrale, der Prozeß der Bildung von Unionsrepubliken zog sich schleppend dahin und dort, wo wie z.B. in Kasachstan das Sowjetsystem eingeführt wurde, wurde es sehr schnell von den traditionellen Herrschaftsstrukturen der Nomadengesellschaft aufgeso20

Vgl. dazu u.a.: Manfred Hildermeier. Die russische Revolution 1905 - 1921, Frankfurt am Main 1989; Bernd Bonwetsch: Die russische Revolution 1917. Eine Sozialgeschichte von der Bauernbefreiung 1861 bis zum Oktoberumsturz, Darmstadt 1991. 21 Zu den Anfängen der „Leninschen Nationalitätenpolitik" existiert eine umfangreiche Literatur, deren wichtigste Arbeiten bei Jörg Baberowski: Wandel und Terror, S. 104, FN 30, aufgeführt sind.

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gen. Mit großem propagandistischem Aufwand gingen die Bolschewiki daran, die islamischen Familienbande anzugreifen und über die Emanzipation der Frauen zu zerstören, um auf diese Weise in den islamischen Gebieten Fuß zu fassen. Aber die Instrumentalisierung des religiösen Geschlechterkampfes für den Klassenkampf und Sieg der Sowjetmacht stand den islamischen Asiaten derartig fern, daß die machtpolitischen Ziele Moskaus nicht nur nicht erreicht, sondern der Nationalismus in den Regionen gestärkt wurde. Die Maßnahmen zur Sozialisierung der Landwirtschaft flössen so in den mehrheitlich agrarischen Gebieten nationaler Völker mit Aktionen zur stärkeren Anbindung an die Moskauer Herrschaft - an den Diktator Stalin - ineinander. Das zentrale Problem bestand für die Bolschewiki im Verhältnis der Arbeiterklasse zur Parteimacht. Die Arbeiter, zahlenmäßig ohnehin in der Minderheit, im Bürgerkrieg besonders dezimiert, gerieten mit den Wirtschaftskrisen der zwanziger Jahre zunehmend in den sozialen Konflikt zur politischen Macht. Außerdem kam diese politisch herrschende Partei in den Schlüsselpositionen von Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft nicht ohne die „bürgerlichen Spezialisten" aus. Noch im Jahre 1927 waren lediglich 18,2 % der Beamten des Finanzministeriums Parteimitglieder. 2 2 Wenn die Rekapitalisierung der Bauernschaft und der privaten Warenproduktion wie auch der Dienstleistungen ebenso wie der ansteigende Nationalismus in den Provinzen schon keinen Sieg der sozialistischen Gesellschaft Leninscher Prägung demonstrierten, dann war die schwindende soziale Führung der Arbeiter in der „Diktatur des Proletariats" erst recht ein Alarmsignal für die Bolschewiki. Sie behaupteten zwar die politische Macht, aber die Ziele der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution" rückten mehr und mehr in weite Ferne. Selbst das Ziel, bis zum 10. Jahrestag der Revolution das Analphabetentum als soziales Problem zu beseitigen, konnte nicht erreicht werden. Aber mit dem Fehlschlag des selbstgestellten Auftrags der sozialistischen Gesellschaft wurde der Führungsanspruch der Partei selbst immer fragwürdiger, zumal dieses Bewußtsein auch innerhalb der Führungselite Platz ergriff. Alles war in den Anfängen steckengeblieben und der beharrliche Ruf nach einer glänzenden Zukunft, sowie einzelne spektakuläre Bauten, Pionierleistungen oder Kampagnen, vermochten zwar Sympathisanten in aller Welt zu begeistern, lösten die inneren Probleme jedoch nicht. Diese Gesellschaft nannte sich in den zwanziger Jahren Diktatur des Proletariats, hatte jedoch, abgesehen von den grausamen Härten während des Bürgerkriegs mit einer Diktatur, noch dazu mit einer totalitären Diktatur wenig zu 22

35*

Vgl. Ebenda, S. 106.

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tun, ebensowenig wie mit den einstigen sozialistischen Zielen. Die um Stalin, Generalsekretär seit 1922, und ausgerüstet mit wenig sympathischen Persönlichkeitsmerkmalen, gruppierten Parteiführer waren nicht gewillt, die sozialistische Utopie mit der Macht aufzugeben oder gar die Politik auf eine Reaktion auf den sozialen Status quo zu beschränken. Die utopischen Ideale der Revolution sollten Wirklichkeit werden, in einem Lande, das auch zehn Jahre nach dieser Revolution darauf nicht vorbereitet war, abgesehen von der Tatsache, daß noch niemals zuvor in der Geschichte eine soziale Utopie eine reale Überlebenschance besessen hat, wenn sie in politische Macht gekleidet wurde. Stalins Anhänger betrachteten wie er selbst die Wirklichkeit durch das klassenkampfspezifische Brennglas eines unversöhnlichen Freund-Feind-Verhältnisses. Die soziale Utopie erschien ihnen nicht als Utopie, sondern als die „wissenschaftlich begründete" und einzig wahre Lehre Lenins vom Aufbau des Sozialismus, die in ihren einzelnen theoretischen Elementen zugleich das politische Instrumentarium ungeahnter zentraler Machtfülle enthielt: das Prinzip des demokratischen Zentralismus, einst in „Was tun?" für die Partei konzipiert, konnte nun auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft angewandt werden und garantierte die ganze Machtfülle in den Händen der Parteielite bzw. eines verschwindend kleinen Teils dieser Elite. Die erste große Machtprobe zur Durchsetzung des sozialistischen Ideals und der persönlichen Macht vollzog sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, in den Debatten und Maßnahmen um die Industrialisierung und um die Kollektivierung, in denen Stalin die differenzierten Ansichten Trotzkis und Bucharins nutzte, um diese Persönlichkeiten auszuschalten und seine eigenen Vorstellungen über den Sozialismus durchzusetzen. Keine der streitenden Fraktionen zweifelte an der Ausschließlichkeitsrolle von Leninismus, Partei und parteipolitischer Ideologie. Keine der beiden Seiten stellte den Primat der sozialistischen Schwerindustrie in Frage, und niemand zweifelte daran, daß die Bauern die Kosten für die Industrialisierung aufzubringen hatten. Der Unterschied war lediglich taktischer Natur. Während Bucharin den Rahm über ökonomische Hebel nach den Prinzipien der Neuen Ökonomischen Politik abschöpfen wollte und dabei in längeren zeitlichen Dimensionen dachte, propagierte Stalin die Politik der ideologisch motivierten Kampagnen zur zwangsweisen und sofortigen gewaltsamen Durchsetzung des sozialistischen Ideals, alles gesellschaftliche Eigentum zu nationalisieren, der zentralen Planung und Kontrolle zu unterwerfen und auf diesem Wege die persönliche Macht zu festigen. Die Konzeption Bucharins war keine Alternative zum Stalinismus, sie tendierte nicht einmal zu einem demokratisch reformierten Sozialismus, sondern wollte bis zu einem gewissen Grade die Wirtschaftspolitik an den sozialen Voraussetzungen orien-

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tieren. Stalin schnitt, wie einst Lenin, die Wirklichkeit nach seinem Bilde zurecht und besaß in einem zentralistischen System die Macht des Generalsekretärs der allmächtigen Partei, seinen Willen durchzusetzen - Menschen waren dabei ohne jegliches Interesse. Der Kampagnencharakter (Industriearbeiter aufs Land, Komsomolze aufs Pferd!, Die Kader entscheiden alles, Stachanowbewegungen uam.) jeglicher Wirtschafts- und Sozialpolitik unterstreicht gleichzeitig, daß Stalins Übergang von der Neuen Ökonomischen Politik zur persönlichen Diktatur weder einem langfristig und zentral ersonnenem, noch rational ausgeführtem und theoretisch fundiertem Konzept entsprach. Lenin hatte für den konkreten sozialistischen Aufbau ohnehin nur allgemeine Thesen hinterlassen. Die immer wieder bemühten Leninschen Leitsätze stammten aus der Zeit des konspirativen Kampfes um die Macht und waren gerade aus diesem Grunde für Stalin nützlich. Daher reagierten Stalin und die Parteiführung auf gesellschaftliche Krisen auch nicht mit durchdachten Konzeptionen, sondern die allgemeinen Leitsätze der Leninschen Lehre drapierten mehr oder weniger Ad-hoc-Entscheidungen gigantischen Ausmaßes.23 Allerdings: In den zwanziger Jahren wurden die parteipolitischen Kampagnen in den einzelnen Landesteilen durchaus noch nicht widerspruchsfrei hingenommen, so daß die immer wieder notwendige improvisierte Korrektur bürokratischer und wirtschaftlicher Fehlentscheidungen nach einer zunehmenden Radikalisierung der Innenpolitik verlangte.24 Im Grunde genommen regierten in den zwanziger Jahren die anhaltende Brutalität einer überkommenen Bürgerkriegsmentalität, die sich ebenso an ideologischen Leitsätzen Lenins orientieren konnte wie der per se despotische Herrschaftsstil Stalins. Beide Elemente zusammen entdemokratisierten und hierarchisierten die Parteistrukturen und die des Staates wie der Öffentlichkeit. Alles zusammen führte bis in die Jahre 1933/34 dazu, daß das Land faktisch unregierbar wurde und die Parteiführung nach einer Umkehr suchte. Die in Kampagnen und bilderstürmerischem Aktionismus erzielten Ergebnisse mußten institutionalisiert und das ganze Land auf eine stabilere Basis gestellt werden. Die Merkwürdigkeit der Geschichte besteht darin, daß die Herstellung dieser Stabilität mit der Zeit des schlimmsten Stalinschen Terrors verbunden gewesen ist. Er wurde in den zwanziger Jahren über die „revolutionäre Romantik" eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs vorbereitet. Stalin stand in diesen Jahren jedoch bereits an der Spitze der Partei und trug entscheidende Verantwortung für die menschenverzehrenden Kampagnen der Industrialisierung und Kol23

Vgl. dazu auch Ebenda, S. 107.

24

Vgl. Bernd Bonwetsch: Der Stalinismus in der Sowjetunion, S. 12.

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lektivierung. Gerade sie stärkten seine politische Macht, und er dirigierte dabei den Partei- und Staatsapparat so, daß ihn das erzeugte gesamtstaatliche Chaos in seiner Position stärkte, so daß er anschließend die Stabilisierung fuhren konnte. Die Person Stalins ist in vielen Büchern behandelt worden, eine wissenschaftlich exakte Biographie läßt auf sich warten, weil der Fundus an Originalquellen erst erschlossen wird und gleichzeitig damit gerechnet werden kann, daß sich zahlreiche Quellen auf ewig dem Zugriff des Forschers entzogen haben. Und drittens: Der persönliche Führungsstil Stalins schloß selbst in seinem bürokratischen System aus, daß über alle und jede Entscheidung ein schriftlicher Nachweis geführt worden ist. Es ist auch ohne Zweifel, daß die biographischen Arbeiten aus der Vergangenheit primär auf der Grundlage sekundärer Memoiren und aus politischen Motiven heraus geschrieben worden sind.25 Die Gewichte bei der Behandlung und Darstellung der einzelnen Etappen im Leben Stalins sind ungleichmäßig verteilt. Naturgemäß überwiegen im Hinblick auf den „Stalinismus" Darstellungen über die Jahre des politischen Aufstiegs (die zwanziger Jahre) und über die Zeit des schlimmsten Terrors (die dreißiger Jahre). Zur Lebensgeschichte Stalins in den vierziger Jahren stehen einzelne Ereignisse sehr punktuell im Zentrum, wie der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt, die Haltung Stalins zum deutschen Überfall im Jahre 1941 oder die Rolle auf den großen Kriegskonferenzen. Eine systematische Untersuchung der Rolle Stalins im Zweiten Weltkrieg, die wissenschaftlichen Kriterien standhielte, ist selbst zum fünfzigsten Jahrestag des Kriegsendes ausgeblieben. Noch geringer sind Arbeiten, die sich mit den letzten Lebensjahren Stalins beschäftigen. So stehen wir hinsichtlich der Beurteilung Stalins vor einem wissenschaftspolitischen Phänomen. Das historische Urteil aus der Sicht der Totalitarismustheorie ist heute zwar fragwürdig geworden, prägt jedoch nach wie vor das allgemeine Bild vom schrecklichen, machthungrigen und brutalen Diktator. Im Westen neu einsetzende empirische Analysen, frei von dem mit dem Ost-WestKonflikt geprägten Feindbild, bemühen sich um ein historisch gerechtes Urteil Sie gelangten bisher zu der Überzeugung, daß Stalin eines der konstitutiven Elemente des „Stalinismus" gewesen ist. Das mag paradox klingen, begründet sich aber darauf, daß sich Stalins Macht nicht auf einen straff organisierten Interventionsapparat begründete. Bürokratie besitzt die fatale Doppelfunktion, Allmacht zu ermöglichen und zugleich einzuengen. Das wußten bereits die rus25

Vgl. dazu auch die Übersicht: Christoph Mick: Frühe Stalin-Biographien 1928 - 1932, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 36/1988, S. 403 - 424.

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sischen Zaren. Stalin besaß einen sprunghaften und bisweilen unberechenbaren Führungsstil, der sich bürokratischer Koordination und Reglementierung gleichermaßen entzog. Das Führungszentrum im Lande verlagerte sich in den zwanziger und dreißiger Jahren schrittweise von den Parteigremien auf den engen Zirkel des Politbüros um Stalin. Er entwickelte sich zum einzigen Bezugspunkt für die einander widerstreitenden Gruppierungen und Ressorts. Gerade in diesem Punkt lag ein entscheidender Ansatz für die innenpolitische Radikalisierung in den dreißiger Jahren: „In dem Wissen, daß der Diktator gewalttätige, repressive Problemlösungen favorisierte, überboten die zentralen und lokalen Ressorts einander im Kampf gegen vermeintliche Volksfeinde. Stalin war stets darauf bedacht, Konflikte der um die Gunst des Diktators werbenden Parteien nicht endgültig zu entscheiden und die Instabilität der Verhältnisse zur Erhaltung der eigenen Macht zu nützen. Der von Stalin geforderte Ressortkonflikt, der sich in periodisch wiederkehrenden Terrorwellen entlud, destabilisierte das politische Gefüge der Sowjetunion und hemmte die Entwicklung rationaler Verwaltung. Wenngleich Stalin den Terror gegen die Bevölkerung weder programmatisch entwarf noch inszenierte, so ermöglichte ihn sein despotischer, rationale Dämme brechender Herrschaftsstil. Stalinsche und terroristische Herrschaft sind synonym."26 Als Beleg für diese These gilt, daß der Stalinsche Terrorapparat nach dem Tode des Diktators 1953 sofort zerfiel, und daß keiner seiner Nachfolger eine ähnliche Machtfülle erhielt bzw. ähnliche terroristische Repressionen entwickeln konnte. Vergleicht nun der wissenschaftliche Analytiker sein politisch-ideologisch typisiertes Terror-Bild über Stalin und den Stalinismus mit den ursprünglichen sozialistischen Zukunftsvisionen der Bolschewiki oder mit der Tatsache, daß die Sowjetunion namentlich in den dreißiger Jahren einen gewaltigen Modernisierungsschub vollzogen hat, gerät er in einen gewissen Erklärungsnotstand und greift in seiner Ratlosigkeit zu einer Definition, die allzu verschwommen wird: „Stalinismus ist... eine Form personalisierter terroristischer Herrschaft totalitären Anspruchs, die unter den Bedingungen sozio-ökonomischen Wandels, ethnisch-kultureller Konflikte, institutioneller Unterentwicklung und gesellschaftlicher Mobilisierung entstand."27 Da der Totalitarismusbegriff nicht nur eine normativ-wertende, sondern auch eine empirisch-analytische Komponente besitzt, wäre im vorliegenden Falle der Ruf nach stärkerer Empirie eher eine Betonung der empirischen Seite des Begriffs selbst, denn ein wissenschaftlicher Neuansatz. Es scheint tatsächlich, als bliebe von der ganzen Diskussion 26

Jörg Baberowski. Wandel und Terror, S. 128.

27

Ebenda, S. 129.

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nur noch der reine Gelehrtenstreit übrig. Ein Gelehrtenstreit, der seine Ziele aus moralisch-politischen Ansprüchen einer das ganze Volk angehenden Auseinandersetzung mit der Vergangenheit herleitet. Das scheint allerdings nur so, denn die neuesten wissenschaftlichen Resultate der Stalinismus-Forschung aus Rußland sprechen eher von einer Renaissance, denn einer schonungslosen Kritik. Adsorbiert man einmal die politischen Traktate und Pamphlete prokommunistischer Epigonen oder auch die emotionalen Memoiren der Opfer Stalins und der antisowjetischen Dissidenten, dann zeigt das tiefere Eindringen in die Originalquellen nicht nur ein differenzierteres Bild über Stalin und die Voraussetzungen und Erscheinungen des Stalinismus, sondern auch die bewußte oder unbewußte, aber unübersehbare Tendenz einer Rechtfertigung dieses Abschnitts vaterländischer Geschichte. Der bereits genannte Quellenband über das Politbüro28 bestätigt nicht die weitverbreitete Annahme, daß es in den dreißiger Jahren innerhalb dieses Gremiums zwei Fraktionen gegeben hätte, die einander feindlich gegenüberstanden und daß aus dieser Konstellation heraus der Mord an Kirow, wie auch die folgenden Terrorakte gegen höchste Funktionäre aus Politik, Wirtschaft, Militär oder Kultur zu erklären seien. In der Sowjetunion privilegierte Überzeugungen von einer „monolithischen Geschlossenheit" der Partei um Stalin oder von der ideologisch-politischen Identität zwischen den Ideen des Stalinismus und des Leninismus werden in gleicher Weise in Frage gestellt.29 In diesem Kontext erscheinen die „großen Säuberungen" der dreißiger Jahre als Reaktion auf das Anwachsen einer politischen Opposition in der Partei, im Lande und auch in der internationalen kommunistischen Bewegung. Erstaunlich erscheint auch, daß Publikationen darüber berichten, wie Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg ernsthaft darüber nachgedacht hat, die Wirksamkeit des etablierten administrativ-politischen Systems durch rekonstruierende Einschnitte mit einer höheren Effizienz auszustatten.30 Es bleibt vorläufig abzuwarten, welche Tendenz diese Forschungsliteratur verfolgen wird. Eines macht sie aber deutlich. Die Begriffe wie „Diktatur" oder „Totalitarismus" - auch angewandt auf den Stalinismus - gehören zu jenen Begriffen mit einer relativen Allgemeinheit, die, hergeleitet mehr aus dem Methodenkatalog der Sozialgeschichte als aus der wirklichen Vergangenheit, als Arbeitsmittel oder heuristische Prinzipien für den Historiker unentbehrlich sind. Sie werden zur Makulatur, wenn sie nicht stän28 Vgl. Stalinskoe Politbjuro ν 30-e gody. Sbornik dokumentov, hrsg. v. O.W. Chlwnjuk u.a., Moskau 1995. 29

Vgl. dazu u.a.: W.S. Rogowin: Stalinski neonep, o.O. 1995.

30

Vgl. N..W. Romanowski'.

Liki stalinisma, Moskau 1995.

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dig an der lebendigen Geschichte überprüft werden. Die europäische Geschichte hat zwischen 1989 und 1991 eine tiefgehende Zäsur erfahren, dem Historiker nicht nur den Zugang zu bisher verborgenen Quellen erschlossen, sondern den Blick auf die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts verändert. Die Oktoberrevolution in Rußland, das sozial-utopische und machtpolitisch pervertierte Experiment des Sozialismus, der Kampf zwischen Demokratie und Diktatur zwischen dem Ende des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die globale Konfrontation zwischen Demokratie und Diktatur zwischen den Jahren 1945 und 1991 - und damit auch der Stalinismus - das alles ist historische Vergangenheit und abgeschlossene Geschichte. Die Kriterien der Geschichtsbetrachtung, die für die Zeit der Konfrontation galten, haben sich überlebt und die Historiker stehen heute vor der schwierigen Aufgabe, für die Geschichte des 20. Jahrhunderts nach neuen empirischen Zugängen erst einmal zu suchen. Es zeigt sich bereits heute, daß jedes der den Sozialismus abgestreift habenden Völker einen höchst individuellen Blick auf die eigene Nationalgeschichte besitzt. In Ungarn wird man vergeblich nach einem rigorosen Verdikt der Horthy-Diktatur suchen. In Rußland wird man - abgesehen von den intellektuellen Opfern und deren Nachfahren - vergeblich nach einer endgültigen Verurteilung der Stalin-Diktatur suchen - in einem Land, in dem die autokratische Gewalt jahrhundertelange historische Wirklichkeit ist. Nichts wäre falscher, als die Maßstäbe des westeuropäischen Kampfes zwischen Demokratie und Diktatur pauschal auf Rußland zu übertragen. Die Krankheit des Begriffs „Totalitarismus" besteht eben gerade darin, ein theoretisches Modell westeuropäischer Prägung zu konstruieren, das für Rußland nur sehr relativ verwandt wird. Europa besitzt eine zweitausendjährige gemeinsame Geschichte, zu deren Merkmalen die relative westliche und östliche Selbständigkeit des historischen Prozesses gehört. Es wäre fatal für die europäische Zukunft, wenn der Gleichklang lediglich im Falle der Diktaturen Hitlers und Stalins herstellbar wäre.

Erste Risse im totalitären Weltbild Die internen Vorlagen und Denkansätze in den sowjetischen Partei- und Staatsgremien am Vorabend der Entstalinisierung, 1953-1956

Von Alexei Filitov

Zuerst möchte ich einige Worte zu Quellen- und Begriffsproblemen sagen. 1996 gab die Archivbehörde in Moskau die bisher geheimgehaltenen Akten, die die Parteikongresse und ZK-Plenarsitzungen betrafen, frei. Es handelte sich um die ursprünglich nicht edierten Protokolle sowie die verschiedenen Vorbereitungsmaterialien (Entwürfe der Referate und Reden, versehen mit Kommentaren, Eintragungen, Auslassungen und Korrekturen von verschiedenen individuellen und/oder kollektiven Begutachtern, sei es ein ZK-Sekretär oder eine ZK„Abteilung"). Zusammen mit den schon früher edierten Papieren, z.B. die des „Komitees für Information" beim Außenministerium, bieten diese Dokumente eine nützliche Ergänzung zur traditionellen Vorstellung über die Eigenschaften und Trends des Denkens auf der höchsten Ebene der sowjetischen Partei- und Staatsführung. Die Kombination dieser Eigenschaften und Trends produzierte ein „Weltbild" und seine Evolution, die als den Hauptgegenstand meines Beitrags schon in seinem Titel vorgezeichnet wurde. Selbstverständlich umschließt dieser Begriff auch Selbstverständnis und -rechtfertigung ein, d.h. das instrumentalisierte Bild von Land, Staat und Partei. Man kann sogar sagen, daß dieser „innere" Teil des „Weltbildes" eine entscheidende Rolle in Politik und Propaganda spielte. Meine Darstellung ist aber auf den anderen Aspekt reduziert: was hier gemeint ist, ist eben das Bild der Außenwelt, wie es aussah, und wie es sich änderte in den turbulenten Verhältnissen der post-stalinistischen Nachfolgekrise. Das Hauptmerkmal der sowjetischen Vorstellungen über das Ausland in der Stalin-Zeit war ein Feindbild. Paradoxerweise hat die Intensität dieses Bildes mit der Stärkung der internationalen Prestige der UdSSR nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entstehung eines „sozialistischen Lagers" nicht nachgelassen. Eher umgekehrt: die Gefahr wurde sowohl im postulierten Siegesrausch

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der eigenen Bevölkerung als auch in der eben als eine Selbstverständlichkeit empfundenen Unzuverlässigkeit der neuen Verbündeten gesehen. Interessant ist ein Nebenaspekt der Vorgeschichte der berühmten März-Note 1952 zur deutschen Frage: viel Zeit wurde dazu verwandt, um zu entscheiden, ob die „Volksdemokratien" mitberaten oder zumindestens im voraus darüber informiert werden sollten. Die zuständige Abteilung des Außenministeriums empfahl zunächst ein Prozedere der umfassenden Koordinierung, aber ein entsprechender Vorschlag wurde praktisch abgelehnt: man hatte offensichtlich ein „Leck" befürchtet. 1 Das Feindbild hatte eine unentbehrliche Funktion für die Regime erfüllt: es diente als Begründung und Rechtfertigung der materiellen Not und politischgeistigen Unfreiheit in der sowjetischen Gesellschaft. Der Feind sollte nicht als zu gefährlich dargestellt werden: eine akute Kriegserwartung konnte leicht in Panikstimmung umschlagen und zur ernsten inneren Krise führen. Das Gleichgewicht zwischen wachsamer Opferbereitschaft und optimistischer Zuversicht wurde durch das Zauberwort „Korrelation der Kräfte" gesichert: soweit diese zuungunsten des Feindes ausfalle, könne die Kriegsgefahr eingedämmt werden. In diesem Sinne war Détente auch unter dem Stalinismus denkbar - wenn es möglich wäre, die Schwäche und Widersprüche des „Imperialismus" bzw. die Stärke und Geschlossenheit des „Sozialismus" zu demonstrieren oder zumindestens zu simulieren. Es wäre recht anziehend, unter diesem Blickwinkel eine merkwürdige Mischung der Vorsicht und Abenteuerlichkeit in den außenpolitischen Aktionen Stalins zu verfolgen. Was aber seine Nachfolger und die der Situation betraf, mit der sie fertig werden sollten, so war die alte Lösung - entweder die internationale Spannung aus der Position der Schwäche oder die Entspannung aus der Schau der Stärke - ganz obsolet. Einerseits brauchten die neuen Sowjetführer die unmittelbaren Erfolge* in der Verbesserung der Beziehungen mit dem Westen, andererseits waren sie nicht imstande, Errungenschaften innerhalb ihres Herrschaftsbereichs vorzuweisen. Unter diesem Zugzwang hatten sie manche Schritte unternommen, die sich in den späteren Perestroika-Jahren im Grunde genommen wiederholten: wie unter Gorbatschow galt es auch damals, mit Hilfe eines Durchbruchs in den Ost-West-Beziehungen ein Maß von nationalem und internationalem Prestige zu erwerben, das die benötigte Zeitpause und Mittel zur Bewältigung der inneren Probleme ermöglichen würde. Das Suchen nach schnellen Fortschritten auf internationalen Ebenen wurde noch durch den Konkurrenzkampf innerhalb der „kollektiven Führung" intensi1

Archiv der Außenpolitik der Russischen Föderation (AARP), 07/25/144/13, S. 114, 124.

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viert und beschleunigt. Ich sage hier nichts über einen"Richtungskampf", da es eigentlich keine prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten in der Frage der akuten Notwendigkeit des Abkehrs von der sterilen „Nein"-Politik des Spätstalinismus gab. Es war nicht Beria allein, der für eine solche Wende plädiert hatte, sondern auch Molotow, der als der Exponent des „harten Kurses" traditionell apostrophiert wird. Auch einheitlich war das Abrücken der Kreml-Führung von dem „neuen Denken" unter dem Einfluß der Juni-Ereignisse in der DDR: ein destabilisierender Effekt der Störung in dem delikaten Gleichgewicht der verschiedenen Perzeptionen im Feindbild (Böse vs. Schwäche) wurde evident. Die Beria-Affäre bot eine glänzende Möglichkeit, einen Sündenbock sowohl für fehlerhafte Neuerungen als auch für alte Mißstände zu finden und zu entlarven. Es ist nicht verwunderlich, daß Chruschtschows Referat und Diskussionsreden auf dem Juni-Plenum des ZK der KPdSU relativ wenige Kommentare zur internationalen Situation und viele kritische (aber nicht selbstkritische!) Äußerungen zur inneren Lage enthielten.2 Die Jagd auf spektakuläre Erfolge in den Ost-WestBeziehungen schien von nun ab nicht so aktuelle und die Wiederherstellung des „alten Denkens" ein Gebot der Stunde zu sein, um so mehr als daß „der Feind" wieder seine Schwäche gezeigt hatte: zuerst, in den Juni-Ereignissen in Berlin, und dann während der Berliner Konferenz, als Dulles ein vertrauliches Angebot zur Eröffnung der bilateralen US-UdSSR Gespräche über Nuklearthematik dem sowjetischen Außenminister gemacht hatte.3 In beiden Fällen wurde die Gültigkeit der alten Verfahrensweise in den Beziehungen mit dem Westen anscheinend bestätigt: die Stärke oder die Demonstration der Stärke sei eine notwendige Voraussetzung des Wandels in der westlichen Politik. Auch bestätigt schien die traditionelle Perzeption der Intensität der „imperialistischen Gegensätze" als Hauptbeweggründe, die die Westmächte zur Ausweichung ihrer Position gegenüber der Sowjetunion zwingen und zur Verbesserung der Ost-West-Beziehungen führen könnten. 2 In der veröffentlichten Version der Protokolle vom Juni-Plenum werden die Aussagen von Chruschtchow in gemilderter Form wiedergegeben. Laut der stenographischen Notizen sagte er: „Es ist unmöglich, es weiter zu tolerieren: keine Milch, wenig Fleisch. Man deklarierte einen Übergang zum Kommunismus, das Mehr aber ist nicht verkauft. Und was für ein Kommunismus ist es, ohne heißen Kuchen, grob gesagt?". In dem veröffentlichten Text sieht es so auch: „Einige Branchen der Landwirtschaft befinden sich in ungepflegten Zuständen: wenig Milch, wenig Fleisch. Und was für ein Kommunismus ist es, wenn kein Kuchen und keine Butter vorhanden seien?" Zentrum für Aufbewahrung der zeitgeschichtlichen Dokumentation (ZAzD, früher Zentrales Parteiarchiv), 2/1/29, S. 26. 3

Diese aufsehenerregende Information wurde in Molotow-Bericht über die Ergebnisse der Berliner Konferenz den Teilnehmern der Plenarsitzung des ZK der KPdSU, die vom 23. Februar bis 2. März 1954 tagte, zur Kenntnis gebracht. ZAzD, 2/1/77, S.71-72.

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Es ist daher nur logisch, daß die verschiedenen Einstellungen der amerikanischen „Monopolgruppen" zu ihren europäischen „Rivalen" als ein Hauptkriterium für die Prognose über US-Politik gegenüber der UdSSR durch Analytiker aus dem „Komitee für Information" in ihrem Positionspapier zum bevorstehenden XX. Parteitag der KPdSU gewählt wurde. Die Analyse stellte fest, daß es in den USA zwei politische Hauptgruppen gebe: eine „Wall-StreetGruppe", die „bei der Durchführung der praktischen außenpolitischen Maßnahmen von der Notwendigkeit der Berücksichtigung der Positionen der USAVerbündeten ausgehen", und eine, „die das Interesse der während und nach dem Kriege verstärkten Monopole des Mittel- und Fernen Westens sowie des Südwestens in den USA vertritt". Wirtschaftsinteressen der letzteren „beschränken sich auf die Regionen des amerikanischen Kontinents und zum Teil des Fernen Ostens, und infolgedessen halten sie es nicht für notwendig, bei der Durchführung des aggressiven Kurses den Standpunkt der USA-Verbündeten in Europa zu berücksichtigen". Unter den Exponenten dieser zweiten Gruppe (namentlich sind solche Personen wie die Senatoren Knowland und McCarthy, Vize-Präsident Nixon - etwas mehr reserviert, Admiral Radford, die Generäle MacArthur, Clark, Van Fleet, Wedemeyer genannt) „gibt es auch die Befürworter des „Präventivkriegs" gegen die UdSSR und ChVR". Im Vergleich mit diesem Grundkonflikt seien die Differenzen zwischen den Anhängern der Politik der „Eindämmung" (die Namen der Demokraten Truman, Stevenson, Acheson, Harriman, Kennan sind hier angeführt) und der der „Befreiung" (Republikaner Eisenhower, Dulles, Stassen, Wilson) eher geringfügig und praktisch ohne Bedeutung. In der Anfangsphase der Eisenhower-Administration wäre die Linie der „rechten Republikaner" tonangebend (hier sind die Stärke von Dulles in der Pressekonferenz am 9. März 1953 über die „Wiedergeburt des Geistes der Freiheit" in Osteuropa zitiert), „sprachen aber Präsident Eisenhower, Verteidigungsminister Wilson, Finanzminister Humphrey und eine Reihe anderer verantwortlicher Personen in der Regierung für eine behutsame abwartende Position gegenüber der Friedensinitiative der Sowjetunion gegen provokative Schritte aus". Die Rede von Eisenhower am 16. April 1953 wird als widersprüchliches Dokument eingeschätzt, was durch innenpolitische Erwägungen (der Präsident wollte nicht „die Vertiefung der Differenzen in seiner eigenen Partei zulassen") zu erklären sei. Die Einflußnahme seitens der Demokraten und Churchills habe die positive Wende bewirkt. Die Propaganda eines „Präventivkrieges" habe sich zwar nach der Nachricht über den H-Bombentest in der UdSSR und nach der Berliner Konferenz der Außenminister verstärkt, aber auch diesmal traten Eisenhower, Wilson und Humphrey, von den Demokraten unterstützt, entschieden dagegen. Das Fazit lautete: „Der Erfolg der Demokratischen Partei in den Kongreßwahlen im November 1954 hat zur Stärkung der

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Positionen von Eisenhower und anderer Anhänger der behutsamen Linie in den Beziehungen mit der UdSSR unter neuen internationalen Verhältnissen beigetragen. Rechte Republikaner und Anhänger des „Präventivkrieges" wurden gezwungen, ihre Aktivität zu reduzieren". 4 Was hier interessant ist, ist nicht die Genauigkeit der Analyse und Stringenz der Argumente. Beide lassen viel zu wünschen übrig. Aufschlußreicher ist es aber, dieses Schriftstück unter folgenden Aspekten zu würdigen: 1. Das hier skizzierte Bild der amerikanischen Politik ist viel ausgewogener und „optimistischer" als es für die Stalin-Zeit und auch für die ersten Analysen nach Stalins Tod typisch war. So wurde die Eisenhower-Rede vom 16. April 1953 in einem früheren Gutachten, das von demselben „Komitee für Information" verfaßt wurde, in düsteren Tönen kommentiert; Eisenhower wurde dort als ein Vertreter einer „deutschen Gruppe des Wall-Street Monopolkapitals" bezeichnet, was ihre besondere Aggressivität unterstreichen sollte.5 2. Die „Zwei Gruppen"-Konstruktion, wie sie im o.g. Dokument vertreten wurde, mag auch recht künstlich erscheinen, aber sie revidierte Zumindestens die alte Imperialismustheorie, die besagte: je weltweiter die Wirtschaftsinteressen der „Monopole" sind, desto expansionistischer und friedensgefährdender seien diese. Die Logik der Beweisführung hat praktisch dieses Dogma auf den Kopf gestellt! 3. Das wichtigste war die Darstellung der Ereignisse der Jahre 1953-54 als die positiven Trends in der US-Politik in der direkten Verbindung mit der inneren Entwicklung im Westen, nicht, wie früher, mit der Schau der Stärke in Osten. Mehr noch: es wurde angedeutet, das eine solche Demonstration - wie die Propaganda um den H-Bomben-Test - zur Stärkung der aggressiv-extremistischen Kräfte im Westen und somit zu weniger Sicherheit in der Sowjetunion führen könnten. Es war wohl eine weitgehende Abkehr vom traditionellen Feindbild. Die Revision dieses Bildes in den partei-offiziellen Dokumenten der „Tauwetter"-Zeit war sehr begrenzt. Die These über die Abwesenheit der fatalen Unvermeidlichkeit der Kriege, die im Rechenschaftsbericht von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag zuerst formuliert wurde, war zwar wirklich neu, aber sie konnte nichts über deren Begründung sagen. Wie vorher erklärte man die postulierte Stärke der „Friedenskräfte" oder „Friedenszone" (mit Einschluß der 4

N. Solodownik an Gen. Ponomarew B.N., 7. Dezember 1955: „Über die Veränderungen in der Zusammensetzung und Korrelation der Kräfte in den bürgerlichen Kreisen der kapitalistischen Hauptländer in bezug auf Fragen des Krieges und Friedens" / ZAzD, 5/28/285, S. 76-83. 5 I. Tugarinow an Molotow W.M., 18. April 1953: „Über die Politik der Westmächte in der deutschen Frage"/AARF, 082/41/18/271, S. 13.

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blockfreien nichtsozialistischen Länder, was als eine große Neuentdeckung hochgespielt wurde) und Schwäche des Imperialismus für die alleinige Ursache des positiven Wandels in den Ost-West-Beziehungen. Entsprechend blieb das Bild von „drüben" düster und weitgehend fern von der Realität. Die inneren Zustände der kapitalistischen Länder wurden unter dem Blickwinkel der Statistik der Arbeitslosen und Streikenden, des enormen Zuwachses der Militärausgaben usw. geschildert. Die außenpolitische Sichtweise könnte durch Thesen über „die Eroberung der Weltherrschaft" als selbstanerkanntes Ziel der USAStrategie und den „englisch-amerikanischen Antagonismus" als „Hauptgegensatz" in der kapitalistischen Welt illustriert werden.6 Der Vergleich zwischen der Endfassung des Chruschtschow Berichtes und dessen Entwurf, der für lange Jahre im Parteiarchiv unter Verschluß gehalten wurde, berechtigt den Schluß, daß das „Endprodukt" als eine komplizierte Mischung der grundverschiedenen Vorstellungen über die Tiefe (und auch die Richtung selbst) der vorzuschlagenden Änderungen in dem Weltbild entstand. Der Prozeß der Bearbeitung des ursprünglichen Textes beschränkte sich keineswegs auf technisch-stylistische „Polierung". Leider bieten die vorliegenden Materialien keine Antworten auf die selbstverständlichen Fragen: wer waren die Verfasser des Textentwurfes, wer waren die Leute, die seine (ihre) Meinungen in den entsprechenden Textkorrekturen geäußert hatten? Doch lohnt es sich, diese anonymen Denkansätze zu verfolgen: m.E. wurde gerade hier die Geschichte gemacht - jedenfalls in viel größerem Maße, als in den DissidentenWerken (was nicht als Minderung menschlichen Muts und intellektueller Kraft der Regime-Kritiker gemeint ist). Der Entwurf unterscheidet sich von der Endfassung in zweierlei: er ist umfangreicher und polemischer. Die Kürzungen bezogen sich in erster Linie gerade auf diese polemischen Aspekte. Dazu können die zahlreichen Beispiele angeführt werden. Um die Ineffizienz der kapitalistischen Produktionsmethode zu unterstreichen, hat man im zweiten Abschnitt der „internationale Teil" des Entwurfes („Wirtschaftslage in den Ländern des Kapitalismus und weitere Verschärfung der Widersprüche des kapitalistischen Systems") - manche abschätzende Bemerkungen eingefügt, wie z.B. über England und Frankreich: nach dem Kriege wurden diese Länder zweimal durch Produktionsstürze betroffen". Oder über Westdeutschland, Italien und Japan: Das Produktionswachstum in diesen Staaten sei zwar eine Tatsache, „aber das hohe Niveau, das diese Länder in der 6 Der 20. Kongreß der kommunistischen Partei der Sowjetunion, 14.-25. Februar 1956. Stenographische Bericht. Bd. 1, 1956, S. 27, 18 (in Russisch).

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Kriegszeit erreichten, nicht überschritten". 7 Diese Formulierungen wurden weggelassen, und sie fehlen auch im Text, den Chruschtschow verlesen hat. Manche Entwurfsfragmente wurden der Zwei-Stufen-Bearbeitung unterzogen: in der Erstfassung wurden die „Monopolkreise" beschuldigt, „die Atomenergie ausschließlich zur Kriegsvorbereitung benutzt" zu haben. Im korrigierten Text ersetzte man „ausschließlich" mit „hauptsächlich",8 aber in der Endversion ist das ganze Thema des Mißbrauchs der Kernphysikleistungen durch den Westen verschwunden. Mag sein, daß die neue Formulierung deswegen für inopportun gehalten wurde, da sie den Leser zu unerwünschten Parallelen mit der Situation in der Sowjetunion verleiten könnte. Auch eine andere Interpretation ist plausibel: der ganze Komplex der neuen Probleme, die durch den Fortschritt in der Nukleartechnologie auf die Tagesordnung der Politik kam, wurde von der Sowjetführung noch nicht gründlich genug, zumindestens ideologisch-propagandistisch, aufgearbeitet. Während der Vorbereitung des XX. Parteitages hat das militärpolitische Denken im Westen neue theoretische Ansätze in bezug auf die Realitäten des Atomzeitalters entwickelt. Was später als die Konzeption der „gegenseitigen garantierten Zerstörung" (MAD-Mutual Assured Destruction) bekannt wurde, hatte in den fünfziger Jahren Vorläufer. Die erste sowjetische Reaktion, wie sie in dem o.g. Entwurf zum Vorschein kam, war eindeutig negativ. Nach der Feststellung, daß das „unvermeidliche Ende des Waffenwettlauf ein Krieg ist", hat man wie folgt fortgesetzt: „Nun ist es zur Mode geworden, zu sagen, als ob die Nuklearwaffe eine wesentliche Korrektur in diese Wahrheit hineingetragen habe. Da die Atom- und Wasserstoffbomben eine enorme Zerstörungskraft besitzen, werde niemand es angeblich riskieren, sie zu benutzen aus Furcht vor Vergeltung. So wurde eine der gefährlichsten Mythen, als ob die Kernwaffen der Friedensstärkung diene, geboren und mit allen Mitteln bekräftigt. Der Wettlauf in der Produktion der Kernwaffen schwächt nicht, sondern verstärkt die Gefahr des neuen Krieges. Was die Furcht vor Vergeltung betrifft, so fragt man sich, ob die Agressoren die multimillionen Opfer in seine Kalkül einbeziehen werden, wenn es um Profitbeschaffung geht". 9

Die letzte Phrase, die eigentlich besagte, daß es keine Mittel, die kriegslüsternen Instinkte der Kapitalisten zu bändigen, gäbe, war somit ein Schritt zu7 Bemerkungen der internationalen Abteilung und ZK-Sekretäre zum Entwurf des Rechenschaftsberichtes (ohne Datum, ohne Unterschriften)/ZAzD, 1/2/3, S. 208. 8

Ibid., S. 209.

9

Ibid., S. 222-223.

36 Timmermann / Gruner

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rück sogar hinter das Stalin-Dogma, nach dem die Kriegsgefahr seitens der kapitalistischen Welt durch ihre immanente Schwäche (und folglich ihre Unfähigkeit, den Vergeltungsschlag des Sozialismus zu riskieren) gemildert werde. Ein Gleichgewicht im Feindbild wurde damit gestört, und es sollte seine Mobilisations- und RechtfertigungsWirkung verlieren. Es ist daher nicht verwunderlich, daß der ganze Passus von den Bearbeitern gestrichen wurde. Keine Alternativlösung wurde vorgeschlagen. In der Endfassung des Rechenschaftsberichtes wurden die Probleme des Rüstungswettlaufs und des Atomkrieges in zwei getrennten Textabschnitten behandelt. Im ersten Fall hieß es: „Die Inspiratoren der „Politik der Stärke" behaupten, als ob diese Politik, indem sie die „Gleichgewicht der Kräfte" in der internationalen Arena gewährleiste, den neuen Krieg unmöglich mache. Dieser Standpunkt ist weit unter den westlichen Staatsmännern verbreitet. Um so wichtiger ist es, seinen wahren Sinn zu entdecken. Kann der Frieden mit Hilfe des Rüstungswettlaufs gestärkt werden? Diese Fragestellung selbst scheint absurd. Nichtdestoweniger präsentieren die Anhänger der „Politik der Stärke" den Rüstungswettlauf als Grundrezept zur Friedenserhaltung. Es ist absolut evident, daß soweit es die Konkurrenz der Staaten im Bereich des Heranwachsens der Militärmacht gibt, die Kriegsgefahr nicht vermindert, sondern wächst. " 10

Und zur Nuklearkriegsperspektive: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Arbeiterklasse und die breiten Massen der Werktätigen in den kapitalistischen Ländern, wenn die regierenden Kreise dieser Länder solchen Krieg zu entfesseln wagen, den Regimen eine Absage erteilen, die die Völker periodisch in Kriege hineinziehen. Es ist nicht von ungefähr, daß des öfteren offene Zugeständnisse von Persönlichkeiten der bürgerlichen Länder hörbar sind: es werde „keinen Sieger" im Atomkrieg geben. Diese Persönlichkeiten haben sich noch nicht dazu entschieden, zu erklären, daß der Kapitalismus sein Grab in einem neuen Weltkrieg, wenn er ihn entfesselt, finden wird; sie sind aber gezwungen, offen zu konzedieren, daß das sozialistische Lager unbesiegbar ist!" 11

Es ist nicht schwer zu sehen, daß Chruschtschow die neuen Probleme des Atomzeitalters weitgehend umgangen und zum alten Feindbild der Stalin-Zeit (mit starker Beimischung der noch älteren Kominternen Romantik) zurückkehrte. Die rigide Kausalbindung zwischen Profitgier und Kriegslust wurde zwar 10

Der XX. Kongreß, S. 21.

11

Ibid., S. 23.

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fallengelassen, aber auch jeder Versuch, rational (und nicht bloß emotionell) den Streit mit „angesehenen Figuren" der anderen Seite zu fuhren. Die Frage drängt sich auf: Wieso haben es die Sowjetführer für kompatibel gehalten; einerseits sich zu geheimen Kontakten mit der USA im Bereich der Nuklearrüstungskontrolle, offensichtlich auf der Grundlage des gegenseitig anerkannten „Atom-Gleichgewicht" (oder des „atomaren Patts"), bereitzuerklären, andererseits aber, selbst den Begriff des „Gleichgewichts der Kräfte" (mit eleganter Streichung der atomaren Dimension) in Abrede zu stellen? Die Antwort darf man in der späteren Geschichtsperiode finden: die offene Bekehrung der Sowjetführung zu Beginn der 70er Jahre zur These der Erreichung der „strategischen Parität" mit der USA (eigentlich ein Äquivalent des „Gleichgewichts der Kräfte") hat grundsätzlich den Weg zur entscheidenden Demontierung des Feindbildes, zum Ende des Kalten Krieges und dann zur Liberalisierung der sowjetischen Gesellschaft geöffnet. Es ist schwer zu beantworten, ob die Breschnew-Führung diesen Weg vorausgesehen habe, mit mehr Sicherheit könnte man aber vermuten, daß die Chruschtschow-Generation größere Verdächtigungen und Ängste in ihrer Mentalität innehatte und die Risiken des Feindbildverlustes höher eingeschätzt hatte. Dazu kommt noch der wichtigere Moment: objektiv gab es in der Chruschtschow-Zeit keine „Parität" und kein „Gleichgewicht der Kräfte" zwischen Ost und West, und auch die Mehrheit der „Meinungsführer", vor allem in den USA, sprach vom Sieg im Kalten Krieg auch von Anwendung von Pressionsmitteln gegenüber der UdSSR. In diesem Sinne war das Fehlen der sachlichen Argumente in den militärpolitischen Äußerungen von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag, seine demonstrative Unterbewertung der nuklearen Realitäten und auch sein Scheinoptimismus in der Frage der Folgen eines neuen Weltkrieges eine reine Taktik, die zur Verschleierung der eigenen „Position der Schwäche" dienen sollte. Um so interessanter ist es, daß auch damals manche Nuancen in der Einschätzung sowohl der „Feinde", als auch der „Freunde", die eine Abkehr von rigiden ideologischen Schemata signalisierten, in Erscheinung traten. Besonders stark ist dieser Trend in der Bearbeitung des vierten Entwurfsabschnittes (über den „Verfall des Kolonialsystems") zum Ausdruck gekommen. Die Erstfassung enthielt folgende Formulierungen: „Der größte und aggressivste Kolonialherr in unserer Zeit ist die USA. Amerikanischer Imperialismus sowie andere Kolonialherren unterdrücken auf grausame Weise die nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonien und Halbkolonien. Es genügt, sich an der Tragödie von Guatemala, an die bestialischen Greueltaten der britischen Kolonialherren gegenüber der Be-

36*

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völkerung von Malaysia und Kenia, an die franzöischen Algerien, Marokko und Tunis zu erinnern 12

Strafaktionen

In dem verlesenen und veröffentlichten Text blieb davon nur eine ziemlich blasse Phrase: „Um seine frühere Herrschaft zu bewahren und irgendwo wiederherzustellen, kommen die Kolonialmächte zur durch die Geschichte verurteilten Unterdrückung der Kolonialvölker mit Waffengewalt". Aus den konkreten Beispielen der imperialistischen Mißhandlungen waren es nur „Ereignisse in Guatemala", die eine Erwähnung (nicht im Hauptreferat, sondern in einer Diskussionsrede von Schepilow) fanden. Der Redner beschränkte sich auf einen Satz: „Die nordamerikanischen Monopole haben sich nicht vor direkten Interventionen gescheut".13 Bezeichnend war auch die Streichung des Satzes: „Wirtschaftsbeziehungen der imperialistischen Mächte mit den Kolonialländern werden immer ungleicher und räuberischer" und die Formulierung über den „Haß gegen die Imperialisten", die „breite Volksmassen" dieser Weltteile beseele.14 Die Bandung-Konferenz, die im Entwurf als übergroßes weltgeschichtliches Ereignis gelobt wurde („Ihre Beschlüsse spiegelten den Willen der überwältigenden Mehrheit der Menschheit wider"); sie „zeigte die Lebendigkeit der Idee der Gründung einer antiimperialistischen Weltfront", bekam eine bescheidenere Bewertung: aus „der überwältigenden Mehrheit der Menschheit" wurde „Hunderte von Millionen", und der zweite Satz verschwand völlig. 15 Etwas gedämpft wurden die Lobgesänge an die Volksrepublik China. Im Entwurf stand es ganz kategorisch: „Die Eroberung der nationalen Unabhängigkeit durch das chinesische Volk war der Beginn des Verfalls des Kolonialsystems".16 Die Bearbeiter haben diese Formel eliminiert. Im endgültigen Text wird der „Verfall" als vor allem eine Folge der Oktober-Revolution und „der Niederwerfung des faschistischen Deutschlands und imperialistischen Japans" interpretiert. Erst sozusagen im dritten Glied „hat der Sieg der Revolution in China den nächsten großen Schlag dem kolonialen System versetzt".17

12

Bemerkungen, S. 230, 231-232.

13

Der XX. Kongreß, S. 26, 200.

14

Bemerkungen, S. 234.

15

Ibid., S. 233.

16

Ibid., S. 227.

17

Der XX. Kongreß, S. 24.

in

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Auch im Entwurf wurden die höchst positiven Kommentare über China mit denen über Indien sorgfältig gepaart. Beide seien „in den Reihen der Großmächte vorgerückt". 18 Wenn aber der Entwurf einen Vorschlag zu einem Gipfeltreffen der Großmächte „unter der selbstverständlichen Teilnahme der Chinesischen Volksrepublik und Republik Indien" (zuerst „zur Lösung der fernöstlichen Probleme" und dann auch „zur Besprechung aller wichtigsten internationalen Probleme") enthielt,19 wurde diese Initiative schon in der Bearbeitungsphase für nicht opportun gehalten. Die Sowjetführer wollten offensichtlich nicht den Klub der Großen erweitern - auch nicht um der „antiimperialistischen Solidarität" willen. Auch die Grenzen der eigenen Einflußnahme auf die Entwicklungen in der Dritten Welt wurden tendenziell realistisch eingeschätzt: wenn man „die Tatsache der Existenz der Sowjetunion und ihre Bereitschaft, den ökonomisch unterentwickelten Ländern in ihrem industriellen Aufbau eine Hilfe auf der Grundlage der Gleichberechtigung und des gegenseitigen Nutzens zu leisten", im Entwurf als „unüberwindbares Hindernis für Kolonialpolitik der imperialistischen Mächte" hochspielte, steht im korrigierten Text nur „ernstes Hindernis", und die zwei letzten Wörter sind ausgelassen.20 Zusammenfassend darf man auf der Grundlage der hier angesprochenen Materialien zu folgenden Schlußfolgerungen kommen: In der Periode zwischen Stalins Tod und dem Beginn der Entstalinisierungskampagne auf dem XX. Parteitag der KPdSU fand nach kurzen Phasen eine „Flucht nach vorne" (die nicht von Beria allein eingeleitet wurde) und eine „Flucht zurück" (nach dem 17. Juni und der Beria-Verhaftung), ein echter Richtungskampf um das neue Weltbild, der sich im Prozeß der Ausarbeitung der Parteitagsdokumente entwickelte, statt. Die „Konservativen" plädierten für die grundsätzliche Rückkehr zum Feindbild der Stalin-Zeit, manchmal mit der Addierung der militanteren Rhetorik der komintern-trotzkistischen Färbung. Die „Fortgeschrittenen" bemühten sich, konfrontative Inhalte und aggressiven Stil möglichst zu beschränken oder zu mildern. Sie konnten (oder wollten) sich aber eine positive Alternativlösung in der Regel nicht vorstellen. Als Ausnahme können die Gedankengänge, die in einem Gutachten des „Komitees für Information" vom 7. Dezember 1955 ihren Ausdruck fanden, gewertet werden. Sie sahen die größten Abstriche an dem 18

Bemerkungen, S. 228, der XX. Kongreß, S. 24.

19

Bemerkungen, S. 236.

20

Ibid., S. 230.

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existierenden Feindbild, die zu dessen Zerstörung tendierten, vor. Auch hier aber blieben die Empfehlungen auf der Ebene der Andeutungen und Kunstgriffe, bei der praktischen Ausklammerung der neuen Welttrends, die durch ungeheuere Zerstörungskraft der Nuklearwaffen verursacht worden waren. Am kompliziertesten war die Position der Führung, die durch die Person Chruschtschow personalisiert wurde. Er hatte einerseits weitgehend die Korrekturen der „Fortgeschrittenen" angenommen. Andererseits hatte er sich selbst des öfteren der irrational-inkohärenten und z.T. militant-offensiven Rhetorik bedient, was in der Welt, im Westen und auch im Osten berechtigte Zweifel an seiner Kalkulierbarkeit und Vertrauenswürdigkeit hervorriefen. Die Gründe dieser Widersprüchlichkeit sind m.E. unter anderem darin zu sehen, daß er als Staatsoberhaupt dessen bewußt war, was den anderen - den „Alt"- und „Neudenkern", sowie der Außenwelt weitgehend verborgen war, und zwar der katastrophalen Unterlegenheit des „Sozialismus" gerade in rüstungstechnischer Hinsicht. Soweit diese Perzeption galt, blieb das Feindbild, abgesehen von den einzelnen Rissen, eine staatstragende Notwendigkeit. Erst nach der Erreichung der Parität und der offenen und allgemeinen Anerkennung des M AD-Zustandes konnte ein entscheidender Durchbruch in der Überwindung des Feindbildes und des Kalten Krieges erzielt werden.

Das Ende der Sowjetunion Voraussetzungen - Verlauf - Konsequenzen

Von Hans Wassmund

I . Einleitung

Ohne Zweifel ist die sowjetische Diktatur im 20. Jahrhundert diejenige gewesen, die am längsten gedauert, die umfassendste geographische Ausdehnung erreicht und unter der die größte Zahl von Menschen und Staaten gelitten hat. Mit einem völlig neuen Parteityp hatte Lenin einen Macht- und Unterdrückungsapparat geschaffen, der ohne jede Einschränkung Staat, Wirtschaft und Gesellschaft beherrschte und dem die Menschen in seinem Einflußbereich total ausgeliefert waren. Stalin hatte diese Gewalt- und Beherrschungsstrukturen noch perfektioniert, indem er ab Ende der 20er Jahre mit seiner Revolution von oben4 die zentral gelenkte Ökonomie und Industrie sowie die Zwangskollektivierung durchpeitschte und mit seinen * Großen Säuberungen4 ab Mitte der 30er Jahre überall Angst und Schrecken verbreitete. Die sowjetische Diktatur schien fest etabliert und in dynamischer Entwicklung begriffen, weil Moskau nicht nur dem nationalsozialistischen Angriffskrieg widerstanden und zu den wichtigen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges gehört hatte, sondern in dessen Gefolge seinen Macht- und Einflußbereich erheblich ausdehnen konnte. Die Sowjetunion entwickelte sich sowohl zur Führungsmacht des Sozialistischen Lagers' und stieg später sogar zur einzigen ernsthaft mit den USA rivalisierenden Supermacht auf. Weltweit wuchs kontinuierlich die Zahl der Staaten, die auf der Grundlage der marxistisch- leninistischen Ideologie den sowjetischen Diktaturtyp der absoluten Herrschaft der Partei, der zentralen Lenkung der Wirtschaft und der willkürlichen Steuerung der Gesellschaft nachahmte. Die Diktatur schien also nicht nur in der Sowjetunion fest etabliert, sondern in einer nicht geringen Zahl von Staaten weltweit zum geeigneten Organisationstypen zur Bewältigung schwieriger Wirtschafts- und Gesellschaftsprobleme avanciert.

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Hans Wassmund

Diejenigen Analytiker sowjetischer Verhältnisse, die 'Risse im System' ausmachten, auf Stagnation und Lernunfähigkeit des Regimes verwiesen und auf die Erstarrung der Apparate sowie die Unmöglichkeit, mit einer kanonisierten Ideologie den neuen Herausforderungen zu begegnen, aufmerksam machten, oder die gar prognostizierten, die Sowjetunion werde wegen ihrer Nationalitätenkonflikte 1984 nicht überleben (Andrej Amalrik), hatten einen schweren Stand in Wissenschaft und Politik. Die Vorstellung schien bis zum Schluß und allenthalben absurd, daß ein Staat mit einem lückenlosen Steuerungs-, Kontrollund Repressionsapparat, die Führungsmacht in einem staatenübergreifenden Blocksystem und eine von nur zwei Supermächten in der Weltpolitik in sich zusammenbrechen, sang- und klanglos untergehen und klammheimlich von der Bühne der Geschichte abtreten könnte. Trotz aller Stabilitätsvermutungen und Anpassungsannahmen waren die Stagnation und Krisenerscheinungen der Sowjetunion seit der Breschnjew-Zeit nicht mehr zu übersehen. Andropow und Tschernjenko waren nicht im entferntesten in der Lage, Reformmaßnahmen auch nur einzuleiten, und als dies dann ab 1985 durch Gorbatschow mit einer Politik der 'Öffnung' und des 'Umbaus' halbherzig versucht wurde, führte es zu einer Beschleunigung des Niedergangs, um schließlich 1991 - symbolträchtig mit der Auflösung des Warschauer Paktes, der Kommunistischen Partei und der UdSSR demonstriert sowie dem Einholen der roten Fahne mit Hammer und Sichel über dem Kreml - im 'freien Fall' zu enden. Damit war „ein Weltreich untergegangen. Ein Staat von gewaltiger Dimension hörte auf zu existieren, und mit ihm ein ganzes politisches, wirtschaftliches, militärisches und ideologisches System."1 Π . Hauptteil

1. Merkmale des Untergangs der Sowjetunion Vier Besonderheiten zeichnen das fast lautlose Ausscheiden einer der gewaltigsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts aus dem Geschichtsverlauf mindestens aus:

1

Hans Hecker: Untergang eines Weltreiches, S. 465- 481, in: Osteuropa, 42. Jg., Heft 6/1992, Zitat S. 465. Vgl. dazu generell auch: Alexander Demandt (Hg.): Das Ende der Weltreiche - Von der Persern bis zur Sowjetunion, München 1997.

Das Ende der Sowjetunion

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(1) Die Epochenwende trat ein, ohne daß ein Krieg der sie bewirkende Hebel gewesen wäre. „Der Untergang der UdSSR war nicht die Folge verlorener Kriege und überhaupt nicht die Konsequenz äußerer Einwirkungen."2 (2) Die zentralen Ursachen des Untergangs lagen in internen Widersprüchen und hausgemachtem Versagen. „Die innere Schwäche war Folge der Reformunwilligkeit und Reformunfähigkeit des politischen Systems. Eine extrem konservative Ordnung der Macht verhinderte.[...] die rechtzeitige Anpassung der politischen Macht an die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse [...] Mangelnde Fähigkeit, Forderungen aus der Gesellschaft aufzunehmen, führte zu einem stetigen Anwachsen des Problemstaus, der in einem in sich geschlossenen System nicht bearbeitet werden konnte."3 (3) Es erscheint als besonders bemerkenswert, daß bei der über sieben Jahrzehnte währenden sowjetischen Diktatur, die über lange Stecken durch Gewaltanwendung und Massenterror bestimmt gewesen ist, ihr Ende friedlich und weitgehend gewaltfrei kam. „Der Kommunismus hat, als es mit ihm zu Ende ging, nicht darauf bestanden, Millionen Menschen als Schlachtopfer in den Abgrund mitzuziehen. Er starb beim Versuch einer Selbsttherapie, als sich zeigte, daß er dem Anspruch der Begriffe nicht gewachsen war, die ihn hätten heilen sollen: Demokratie, Rechtsstaat, Humanität."4 (4) Das Ende der Sowjetmacht mit seinem von Moskau aus gesteuerten Doppelimperium - das 'Innere', die von Rußland dominierten Sowjetrepubliken und das 'Äußere', das von der Sowjetunion kontrollierte 'kommunistische Lager' - bedeutete keineswegs den Verzicht des neuen Rußlands auf politisch- weltanschauliche Großmachtansprüche und nationale Wiedergeburtsträume. Viele waren daran beteiligt, „unter der Flagge 'nationaler Souveränität' die bisherige Zentrale des Imperiums zu zerstören, die ihren Ambitionen im Wege stand."5 Die Sowjetunion wurde so erledigt, aber ihre Verhaltensweisen, Machtstrukturen und Wahrnehmungsarten stellen für den nationalen Neuanfang Rußlands eine schwerwiegende Hypothek dar.

2

Gerhard Simon: Das Ende der Sowjetunion. Ursachen und Zusammenhänge, S. 9-21, in: Außenpolitik, Jg. , Heft 1/1996, Zitat S. 10. 3

Ebda.

4 Dietrich Geyer. Das Ende des Sowjetimperiums. Eine historische Betrachtung, S. 295- 302, in: Osteuropa, 42. Jg., Heft 4/1992, Zitat S. 297. 5 Jochen Franzke: Imperium unter dem roten Banner. Überlegungen zum Ende der Sowjetunion, S. 55 - 75, in: WeltTrends: Zerfall von Imperien, Nr. 6, März 1995, Zitat S. 73.

Hans Wassmund

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2. Gründe für den Untergang der Sowjetunion

Woran die Sowjetunion zugrunde gegangen ist, wie es zum Scheitern des nach außen weitgehend stabil erscheinenden Imperiums gekommen ist, dazu haben Fachleute - im nachhinein - eine Fülle von Erklärungen geliefert. Es kann zwischen (A) langfristig wirkenden Ursachen und (B) kurzfristig wirkenden Faktoren unterschieden werden, die in der Schlußphase der Existenz der UdSSR zu einer Zuspitzung und Zusammenballung der politisch- ökonomisch-gesellschaftlichen Probleme führte, vor denen die Steuerungskapazität der kommunistischen Partei versagte und die die staatlichen Herrschaftsstrukturen überforderte, so daß Kapitulation und Auflösung des diktatorischen Herrschaftsverbandes als das geringste Übel empfunden wurden. Zu den (A) langfristig wirkenden Ursachen gehörten mindestens: a) Elemente aus der russisch-sowjetischen Geschichte, wie die Abwesenheit parlamentarisch-demokratisch-rechtsstaatlicher Traditionen, die strikte Zentralisation der Machtausübung und die Unterdrückung jeglicher Eigenverantwortung, sowie die kontinuierliche Erweiterung von Kontroll- und Unterdrückungs- statt von Sach- und Leitungskompetenz.6 b) Der sich beschleunigende Erosionsprozeß der marxistisch- leninistischen Ideologie. Das in sich geschlossene Lehr- und Kategoriensystem taugte immer weniger zur Erfassung und Bewältigung anstehender Probleme. Die Diskrepanz zwischen theoretisch-weltanschaulichem Anspruch und der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit wuchs beständig, „MobilisierungsWirkung und Überzeugungskraft der Sowjetideologie ließen immer weiter nach, sie wurde mehr und mehr zu einer Kulisse, hinter der sich der Untergang des Systems vorbereitete." 7 c) Im hierarchisch-zentralistisch organisierten Herrschaftssystem war es die Spitze der Partei gewohnt gewesen, daß ihre Entscheidungen uneingeschränkt und widerspruchslos 'vor Ort' umgesetzt wurden. Allerdings war der Realitätsverlust und die 4 Abgehobenheit' der Herrschaftseliten so weit gewachsen, daß sie unbewältigten Problemen und ungewohnten Herausforderungen weitgehend hilflos gegenüberstanden. Hinzu kam, daß in der Schlußphase des Sowjetregimes „die totalitären Kräfte in den Apparaten von Partei, Staat und 6 Vgl. dazu ausfuhrlich: Hannelore Horn: Der Kollaps des kommunistischen Herrschaftssystems in der Sowjetunion, S. 33ff, in: Osteuropa, Jg. 43, Heft 1/1993, S. 33 - 43. 7

Simon: Ende..., a.a.O., S. 14.

Das Ende der Sowjetunion

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Militär [...] nicht mehr zum Einsatz des Terrors gegen die eigene Bevölkerung bereit waren."8 d) Die Defizite der Zentralverwaltungswirtschaft traten bei wachsender Komplexität und zunehmender Isolation der sowjetischen Ökonomie immer deutlicher zutage. Die veralteten Steuerungsmechanismen versagten gegenüber einer zunehmend arbeitsteiligen und differenzierten Ökonomie, die Produktion stagnierte und fiel in der Schlußphase dramatisch ab. Jegliche Motivation der Arbeitskräfte mißlang, Korruption und Schlendrian blühten und alle Reformanstrengungen scheiterten an „einem riesigen, wegen der Angst um Privilegien zu allen Widerstandsarten entschlossenen Wirtschafts-, Planungsund Rüstungsbürokratie-Komplex." 9 Zu den (B) eher kurzfristig wirksam werdenden Anlässen, die den Untergang der Sowjetunion mit herbeigeführt haben, gehörten mindestens: a) Die 'imperiale Überdehnung' (Paul Kennedy) der Sowjetunion, die in einem weltpolitischen Überengagement und einer rüstungspolitischen Überanstrengung zum Ausdruck kam. Weil die Sowjetunion den Status einer Supermacht beanspruchte, glaubte sie, weltweite Projektionen ihres Macht- und Geltungsanspruchs vornehmen zu müssen. Es war klar, daß diese 'eindimensionale Supermacht', die ihren Weltmachtstatus fast ausschließlich auf ihr Militärpotential gründen konnte, überproportional viele Ressourcen für den Rüstungssektor aufwenden mußte. Dies wiederum verstärkte die ökonomischen Schwächen des Systems, behinderte die zivile Modernisierung und steigerte die Versorgungsmängel. Den der Sowjetunion nach ihrer Afghanistan-Intervention durch den Westen aufgezwungenen Rüstungswettlauf mußte sie verlieren, und dadurch wurde ihr 'weltpolitischer Inferioritätsstatus' (Bernd Bonwetsch) endgültig offensichtlich. b) Durch Gorbatschows Glasnost-Politik kam nach Jahrzehnten der Vertuschung und Tabuisierung das Ausmaß an gravierenden Problemen und krisenhaften Zuspitzungen in vielen Politikfeldern zutage. Dazu gehörten im sozialen Bereich zum Beispiel, daß mehrere Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebten, daß Wohnungsnot, Kinderarbeit, Kriminalität und Prostitution ein ungeheures Ausmaß angenommen hatten.10 Im ökologischen Bereich wurde 8 Helmut König: Das Erbe und die Erben. Zur Lage in der ehemaligen Sowjetunion, S. 858 875, in: Osteuropa, 42. Jg., Heft 10/1992, Zitat S. 859. 9 Hans Wassmund: Die gescheiterte Utopie. Aufstieg und Fall der UdSSR, München 1993, S. 126. 10

Horn: Kollaps..., a.a.O., S. 38.

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vielen zum ersten Mal die verheerenden Umweltzerstörungen klar, die der rücksichtslose Raubbau an der Natur (Austrocknung des Araalsees, Giftmüll in der Taiga, radioaktive Verseuchung riesiger Testgebiete) mit sich gebracht hatte. Hinzu kam, daß das Scheitern der jahrzehntelangen Versuche der Έίηschmelzung der Nationalitäten' klar zutage trat und sich stattdessen die einzelnen Nationalbewegungen immer weiter radikalisierten und zügig auf dem Weg zu staatlich-wirtschaftlicher Eigenständigkeit, kultureller Autonomie und - letztlich - zum Verlassen der UdSSR und der Begründung einer eigenen Staatlichkeit voranschritten. Schließlich kam es so weit, daß „ein unverbrauchter Nationalismus die verbrauchte Ideologie und deren diskreditierte Institutionen (besiegte)."11 c) Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich Stalin in Ostmittel- und Südosteuropa ein äußeres Imperium geschaffen und alle seine Nachfolger hatten es mit großem Aufwand und häufigen Interventionsmaßnahmen zusammengehalten. Als sich abzeichnete, daß Gorbatschow auf Gewaltanwendung beim Zusammenhalt jenes kommunistischen Blocksystems verzichten und stattdessen je eigene Wege der Staaten tolerieren würde, brach das Gebilde „in den Revolutionen von 1989 wie ein Kartenhaus in sich zusammen".12 Allerdings hatten die Völker und politischen Gruppierungen vorher längst „den Bazillus der Freiheit und der Bürgerrechte, der Westernisierung und der Delegitimation der sowjetischen Elite" im gesamten Imperium und in der Sowjetunion selbst weit verbreitet. 13 d) Gorbatschow kommt das historische Verdienst zu, die schweren Krisensymptome der Sowjetunion erkannt und konkretes Handeln daraus abgeleitet zu haben. Durch Anpassungen und Reformen wollte er ihr Überleben sichern. Allerdings betrieb er alle Veränderungen nur zögernd und halbherzig, ging früh Kompromisse mit rückwärtsgewandten Kräften ein und steigerte das Chaos im Lande dadurch, daß die alten Herrschaftspraktiken bald nicht mehr und die neuen noch nicht funktionierten. Er bemühte sich um die 'Vereinbarkeit des Unvereinbaren' in allen Politikbereichen, der Umbau mündete in einen Abbau, das Sowjetsystem erwies sich als nicht reformierbar und brach in sich zusammen. Gorbatschows „Anstöße in Richtung Demokratie hatten die Partei geschwächt und ihr Zusammenspiel mit dem Staatsapparat gestört, ohne allerdings den Schritt zur wirklichen rechtsstaatlich-parlamentarischen Erneuerung 11

Simon: Ende..., a.a.O., S.19.

12

Geyer: Sowjetimperium, a.a.O., S. 296.

13

Franzke: Imperium..., a.a.O., S.69.

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zu tun. [...] Er unternahm Reformanstrengungen, die die Sowjetunion retten sollten, aber ihren Untergang bewirkten." 14 3. Verlauf

von Ende und Neuanfang

In der umfangreichen Literatur zur Transformation politischer Regime vom Zustand der Diktatur zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Demokratie wird zumeist von dem 'Dreiphasenmodell': Liberalisierung, Demokratisierung, Konsolidierung ausgegangen.15 „Liberalisierung bedeutet noch keinen echten Wettbewerb, aber einen Abbau von Repression. [...] Die Demokratisierungsphase stellt diesen Wettbewerb her. [...]." Konsolidierung sei dann gegeben, wenn eine innere Akzeptierung der neuen demokratischen Spielregeln erfolgt sei.16 In einem etwas anderen theoretischen Zugriff wird „der Prozeß des Systemwechsels von autoritären/totalitären politischen Systemen zu etwas 'ungewissen Anderem' nach drei unterscheidbaren Perioden" differenziert: 17 „Der erste Schritt ist die Ablösung von einem vorangegangenen totalitären politischen System. Es stellt genau das Intervall zwischen der Öffnung des totalitären Systems für bestimmte politische Kräfte dar und endet mit der ersten frei gewählten demokratischen Regierung."18 „In der zweiten Phase wird der Aufbau aller wichtigen Institutionen des politischen Regimes abgeschlossen. [...] Diese Periode endet, sobald alle zentralen Institutionen der politischen Demokratie neu gegründet [...] wurden." 19 „Die dritte Phase, die eigentliche Konsolidierung, beginnt nach Abschluß der vorwiegend konstruktiven Phase. Die Konsolidierung der Demokratie ist identisch mit der Konsolidierung der sie strukturierenden politischen Institutionen. [...] Überspitzt formuliert: Systemwechsel sind diejenigen Perioden, in denen (noch) unsichere politische Verfahren mit unsicheren Ergebnissen kombiniert 14

Wassmund: Utopie..., a.a.O., S.124.

15

Klaus von Beyme: Ansätze zu einer Theorie der Transformation der ex- sozialistischen Länder Osteuropas, S. 141- 171, in: Wolfgang Merkel (Hg.): Systemwechsel 1: Theorien, Ansätze und Konzeptionen, Opladen 1994, ZitatS. 145. 16

Ebda.

17

Friedbert W. Rüb: Zur Funktion und Bedeutung politischer Institutionen in Systemwechselprozessen, S.37- 72, in: Wolfgang Merkel/Eberhard Sandschneider/Dieter Segert (Hg.): Systemwechsel 2: Die Institutionalisierung der Demokratie, Opladen 1996, Zitat S. 47. 18

Ebda.

19

Ebda.

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werden, also sowohl die Verfahren noch nicht institutionalisiert bzw. konsolidiert sind, aber dennoch mit Hilfe unsicherer Verfahren begonnen wird, erste unsichere Ergebnisse zu produzieren." 20 Übertragen auf die konkreten politisch- gesellschaftlichen Transformationsvorgänge am Ende der kommunistischen Sowjetunion und am Anfang des (halb-) demokratischen Rußlands können - neben anderen Unterteilungsvorschlägen - mit Michael Brie 21 die folgenden Phasen, Vorgänge und Veränderungen unterschieden werden: (1) Perestroika-Periode, die von der Wahl Gorbatschows im März 1985 zum Generalsekretär der KPdSU bis zum Putschversuch rückwärtsgewandter Kräfte im August 1991 reichte. Hierbei werden in einer ersten Phase schrittweise Transparenz/Öffentlichkeit in einer Fülle von Gesellschaftsbereichen hergestellt, politisch motivierte Verfolgungen aufgehoben, liberale Positionen praktisch umgesetzt und erste, allerdings noch 'regulierte Wahlen' durchgeführt. Ab dem Jahreswechsel 1988/89 etwa werden die Liberalisierungsmaßnahmen verstärkt, indem Vereinigungs-, Meinungs- und politische Betätigungsfreiheit durchgesetzt und - zunächst in Rußland - direkte demokratische Legitimation in Form offener Präsidentenwahlen, inklusive dem Angebot deutlicher Personalund Programmalternativen, verwirklicht werden. (2) Postperestroika-Periode, die von der Schlußphase der Existenz der Sowjetunion bis zum Sieg des russischen Präsidenten über antiliberale und antidemokratische Kräfte in Parlament und Gesellschaft und der Durchsetzung einer neuen Präsidialverfassung im Dezember 1993 reicht. In diese Phase fällt unter anderem die Durchsetzung liberaler Freiheitsrechte sowie des Rechts auf Privateigentum; auf allen Ebenen werden Reformen weiter vorangetrieben, Marktwirtschaftsregeln verstärkt praktiziert und liberale Gesetzesänderungen und Verfassungsanpassungen vorgenommen. Gegen diese Änderungen setzen sich insbesondere frei organisierte Parteien und Interessengruppen zur Wehr, so daß es zu heftigen Auseinandersetzungen im Parlament und in der Öffentlichkeit kommt, wobei sich nach gewaltsamen Auseinandersetzungen schließlich ein starkes Präsidialregime mit hoher Machtkonzentration an der Spitze durchsetzt.

20 21

Ebda., S. 48.

Michael Brie: Rußland: Das Entstehen einer 'delegierten Demokratie4, S. 143- 177, in: Merkel/Sandschneider/Segert (Hg.): Systemwechsel 2, a.a.O. Auf S. 148 legt Brie eine 'Phaseninterferenz der Transformation' Rußlands in Form einer Tabelle vor, die im weiteren Text weitgehend übernommen worden ist.

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(3) Durchsetzung und Aufrechterhaltung 'delegierter Demokratie', die ab 1994 erfolgt und in der zur Aufrechterhaltung der Präsidentenmacht Jelzins freiheitlich-liberale Errungenschaften relativiert, Kompromisse mit undemokratisch-autoritären Kräften eingegangen und weitere Reformanstrengungen auf ein Minimum beschränkt worden sind. Das Ergebnis ist eine prekäre politische Pattsituation, in der weitere Reformen - wenn sie denn vom Präsidenten überhaupt noch gewollt werden - nur unter größten Schwierigkeiten oder gar undemokratisch gegen eine starke kommunistisch-nationalistisch Opposition in der Duma durchgesetzt werden können und die Masse der Bevölkerung dieser Art der Politik längst entsetzt den Rücken gekehrt hat. Die andauernde Wirtschaftskrise und die extremen gesellschaftlichen Spannungen lassen die Fortsetzung einer begrenzt demokratischen und zivilisierten Herrschaftsform in Rußland zumindest als schwierig erscheinen. Als 'richtungslose Transformation', 'polyzentrisch versprengte Macht' und 'liederliche Demokratie' werden deshalb die gegenwärtigen russischen Übergangsverhältnisse charakterisiert und es ist davon die Rede, daß „die Fragmentierung des Staates und die Desorientierung der Gesellschaft die Hauptmerkmale der realen Verfassung Rußlands" seien.22 Ι Π . Schlußteil: Konsequenzen aus Untergang und Neuanfang

Das Ende der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion kam für alle überraschend. Zwar hatten sich Liberalisierungs- und Pluralisierungstendenzen im Lande kontinuierlich verstärkt und waren Widersprüche im kommunistischen Lager deutlicher hervorgetreten und die Moskauer Führung in der Welt mit größerer Zurückhaltung aufgetreten. Aber ein so klägliches Auslaufen eines der größten Politikexperimente der Menschheitsgeschichte hatte keiner vorhergesehen. Für die Nachfolgestaaten der Sowjetunion ergab sich nach 1991 die Chance neben der Erlangung voller Souveränität und nationaler Entscheidungsfreiheit - , das relativ erfolgreichste politisch-gesellschaftlich-ökonomische System der gegenwärtigen Welt bei sich zu verwirklichen. Demokratisch-rechtsstaatlichkonkurrenzwirtschaftliche Grundsätze und Praktiken wurden denn auch - gegen unterschiedlich virulente Widerstände und mit unterschiedlich ausgeprägtem Durchsetzungswillen - überall eingeführt. Sie lösten allenthalben schwere Turbulenzen aus, schufen für Menschen und Regierungen große Ungewißheiten und Unübersichtlichkeiten und waren in ihren Ergebnissen und Bilanzen in 22

Alle diese Charakterisierungen stammen aus dem Schlußkapitel von Margareta Mommsen: Wohin treibt Rußland? Eine Großmacht zwischen Anarchie und Demokratie, München 1996, Zitat S. 297.

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höchstem Maße zweideutig. Rußland als der mit Abstand größte, ressourcenreichste und vom Ausland am stärksten geförderte Nachfolgestaat der Sowjetunion begann schon bald nach deren Ende mit dem Versuch, die anderen zu dominieren, sie wieder wirtschaftlich an sich zu binden und auf ihr Verhalten bestimmenden Einfluß zu gewinnen. Für die Staaten des 'äußeren Imperiums' ergab sich durch das Ende der Blockführungsmacht vor allem die Bestimmung des eigenen nationalen Weges und die Wahl der Bündnisse und Orientierungen. Sie alle überwanden den Status 'in der Lüge zu leben' und wählten die 'Rückkehr nach Europa' (Vaclav Havel), ohne daß dadurch ihre jeweiligen gravierenden Gestaltungs- und Umsetzungsprobleme sehr erleichtert wurden. Für die westliche Welt stellte der Untergang der Sowjetunion und das Ende des kommunistischen Lagers den Sieg im jahrzehntelang und global erbittert geführten Wettkampf der Systeme dar. Der Triumph wurde allerdings dadurch beeinträchtigt, daß der Wegfall einer eindeutigen Herausforderung und Bedrohung eine erhebliche Identitäts- und Orientierungskrise der westlichen Bündnisse auslöste, sowie nationale Rivalitäten und überkommene Interessendifferenzen wieder aufleben ließ. Für die Welt als Ganzes stellte das Dahinsiechen der Diktatur, die den Verlauf des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hatte, eine große Herausforderung in mehrfacher Hinsicht dar: Politisch, weil sich herausstellen muß, ob das System parlamentarisch- pluralistischer Demokratie in je spezifischen Varianten durchsetzbar ist und sich seine Problemlösungskompetenz als hinreichend ausgeprägt erweist, oder ob ein anders geartetes politisches System für Rußland angemessener ist. Ökonomisch, weil das kapitalistische Wirtschaftsmodell zwar eine ungeheure Dynamik auslösen kann, die Frage aber noch nicht beantwortbar ist, wie die notwendigen Voraussetzungen bei dieser Art des Wirtschaftens geschaffen werden und es trotz seiner negativ-problematischen Seite - wie der hohen Arbeitslosigkeit für die Bevölkerung akzeptabel gemacht werden kann. Gesellschaftlich, weil die Übertragung eines offenen, auf freie Konfliktaustragung und Konsensbildung orientierten Modells nach allen Erkenntnissen an viele Voraussetzungen gebunden ist. Diese sind in den nach-kommunistischen Gesellschaften nur teilweise gegeben, so daß die erfolgreiche Einführung des Modells viel Fingerspitzengefühl und Geduld erfordern wird. Weltanschaulich, weil es nach der jahrzehntelangen Verwendung einer in sich geschlossenen Ideologie eindeutigen Inhalts jeglicher Pluralismus und Konkurrenzkampf der Weltsichten schwer haben wird, akzeptiert zu werden. Viele Menschen sind nach der Auflösung

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aller ihrer bisher das Leben bestimmenden Eindeutigkeiten entweder orientierungslos, oder haben sich in neue Bindungen religiös-weltanschaulicher Art begeben. Das Angebot ist unüberschaubar groß, der Bedarf an weltanschaulicher Orientierung ebenfalls, und wer den Wettkampf um die 'Herzen und Hirne' gewinnen wird noch völlig offen. Als eine Schlußbilanz gilt festzuhalten, daß eine der umfassendsten, langwierigsten und blutigsten Diktaturen des 20. Jahrhunderts sowjetische Vergangenheit ist. Die russische Gegenwart wird von den meisten in- und ausländischen Beobachtern mit großer Vorsicht und Zurückhaltung, aber im ganzen doch mit einem gewissen Optimismus in bezug auf die Etablierung einer moderaten Politik- und zivilen Gesellschaftsform beurteilt. Im kommenden Jahrhundert schließlich könnte Rußland wieder einen konstruktiven Beitrag zu den Entwicklungen in Europa und in der Welt leisten, der ihm nach Größe, Rang und Begabung seiner Menschen immer zugekommen ist.

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Die Geburt des demokratischen Finnlands Von der Autokratie zur Demokratie

Von Erkki Kouri

In Finnland wird zur Zeit eine heftige Diskussion über die Frage geführt, ob die Machtbefugnisse des Präsidenten beschnitten und dafür die des Parlaments ausgeweitet werden sollten. Worum handelt es sich dabei? Ist im Bewußtsein der Finnen immer noch der altlutherische Glauben fest verankert, wonach die Bestimmungsgewalt einem und kraftvollen Herrrscher zu überlassen sei; wenn nicht, verzehre sich die Gemeinschaft in vernichtenden gegenseitigen Streitereien. Oder geht es einfach darum, daß man in Finnland noch nicht mit dem modernen Parlamentarismus umzugehen weiß, dessen Rolle nicht nur darin besteht, den Machtgebrauch zu kontrollieren, sondern auch Antrieb für eine beschleunigte Entwicklung zu sein? Das Problem ist vielschichtiger als es auf den ersten Blick erscheint. Die Sehnsucht der Finnen nach einer starken Führung ist nämlich kein Produkt der heutigen Zeit. Die Wurzeln liegen tief in der Vergangenheit. Das politische Verhalten der Finnen ist schon seit dem 17. Jahrhundert durch eine starke monarchische Gesinnung geprägt gewesen. Dies zeigte sich in den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts, als in Schweden - zu dem ja Finnland damals gehörte - der Absolutismus eingeführt wurde: aktive Unterstützung erfuhr der König im Adels- und Bauernstand gerade von Seiten der finnischen Mitglieder. Sie waren nicht nur für die Reduktion, d.h. die Rückgabe der großzügig unter Königin Christina verschenkten Lehnsgüter, sie unterstützten die königliche Selbstherrschaft als solche. Dasselbe Bild zeigt sich während der sogenannten Freiheitszeit im 18. Jahrhundert, als König Adolf Friedrich (17551756) seine durch die Stände eingeschränkte Macht auszuweiten versuchte, und vor allem im Jahr 1772, als Gustav III. durch einen Staatsstreich die Stände entmachtete und einen aufgeklärten Absolutismus einführte. In beiden Fällen

37*

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erwiesen sich die Finnen, vor allem die Bauern, als treue Monarchieanhänger (Royalisten). Was erklärt nun dieses offensichtlich seit altersher bestehende Phänomen? Es bieten sich einerseits die staatsrechtliche Stellung und andererseits die Grundstruktur des finnischen Gesellschaft an. Innerhalb des Schwedischen Königreiches suchte nämlich der in Finnland ansässige Adel, dadurch daß er den Herrscher unterstützte, seine Stellung in Konkurrenz zum inner schwedischen Adel zu verbessern. Noch wichtiger war jedoch, daß die finnische Gesellschaft sehr deutlich zweigeteilt war, in Standespersonen und das Volk. Ein städtisches Bürgertum, das eine vermittelnde Funktion hätte einnehmen können, fehlte weitgehend. War doch das Städtewesen in Finnland nur schwach entwickelt, und auch die Hauptstadt befand sich außerhalb des Landes. Auch in der Autonomiezeit - d.h. in der Zeit von 1809 bis 1917, als Finnland ein autonomes Großfürstentum unter Rußland war - gibt es Zeugnisse derselben Haltung. Die Finnen waren dem neuen Herrscher, dem Kaiser und Großfürsten, treue und loyale Untertanen. In Finnland wurde nicht, wie in Polen, rebelliert, und die russischen Monarchen fühlten sich, ihren eigenen Worten nach, nirgends so sicher wie gerade in Finnland. Bei diesen Verhältnissen befürworteten die unteren Volksschichten eine starke Herrschergewalt, die ein Gegengewicht zu der mittleren Schicht der Standespersonen bildete. Dies waren die meist adligen Beamten, die vermittels einer effektiven staatlichen Administration das Land beherrschten. So gab in Finnland das Volk, wie auch anderswo, wo die kommunale Selbstverwaltung schwach ausgebildet war, einem starken Staatsoberhaupt seine Unterstützung. In dieses Bild fügen sich auch gut die Pläne aus dem Jahre 1918 ein, Finnland einen König zu beschaffen, auch wenn dahinter als stärkster Beweggrund die Angst nach dem Bürgerkrieg vor den Folgen einer unkontrollierten Volksherrschaft gesehen muß. Diese Befürchtungen standen dann auch bei der schließlich im Jahr 1919 verabschiedeten republikanischen Verfassung Pate. Hier wurde die Rolle des Monarchen an einen mit weiten Vollmachten ausgestatteten Präsidenten übertragen. Als Finnland im Jahr 1809 Teil des Russischen Imperiums geworden war, hatte das nicht nur glückliche Folgen für das Land, sondern bedeutete auch eine Bremsung des Fortschritts. Die Großfürsten von Finnland waren nicht unbedingt harmlose und zeremonielle Monarchen, keine das Wohl des Volkes und des Reiches gutwillig fördernde Symbolfiguren, wie in Schweden und England, sondern jeder von ihnen war der Zar Rußlands, der ohne hemmende Einschränkungen allein über große und kleine Angelegenheiten seines Reiches entschied.

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Vor allem die erste Hälfte der Autonomiezeit herrschte in Finland ein absolutistisches politisches System. Der Landtag wurde ein halbes Jahrhundert lang nicht einberufen und auch danach hatte er nur eine beratende Funktion. Die Meinungsbildung wurde durch eine besonders rigorose Zensur geknebelt. Der Beamtenstaat beeinträchtigte die freie Entfaltung des Gewerbelebens. Prestigegesichtspunkte des Russischen Imperiums waren für die Entwicklung Finnlands maßgebend, genau wie zur schwedischen Großmachtzeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte sich das staatliche Leben Finnlands beleben. Die Zaren, sowohl der erste Herrscher über Finnland, Alexander I., als auch sein Enkel Alexander II. wurden als Garanten der Autonomie Finnlands verherrlicht. Bezweckt wurde, daß dadurch den Nachfolgern die Beseitigung der inzwischen gefestigten finnischen Selbstverwaltung erschwert werden sollte. Dieser Weg der Anpassung war jedoch bald abgeschritten, als man um die Jahrhundertwende von Petersburg aus eine neue Politik der Russifizierung und Vereinheitlichung des Reiches durchsetzen wollte. Wenn wir die politische Entwicklung Finnlands von 1809 bis 1917 mit derjenigen Schwedens oder Norwegens - Norwegen wurde 1814 als selbständiges Königreich in einer Union mit Schweden vereint - vergleichen, ist der Unterschied groß. Während in Finnland das staatliche Leben nach dem Borgàer Landtag 1809, auf dem der russische Zar versprochen hatte, die überkommenen Gesetze in Finnland zu achten, unter der kaiserlichen Autokratie stagnierte, wurde in Schweden der Absolutismus mit der neuen Verfassung von 1809 beseitigt. Die schwedische konstitutionelle Monarchie befolgte fortan das Grundprinzip der Gewaltenteilung; Legislative, Exekutive und Gerichtswesen wurden voneinander getrennt. Dennoch behielt auch dort die aristokratisch-bürokratische Führungsschicht ihre Positionen. Während in Finnland die Zensur das freie Geistesleben erstickte, wurde in Schweden die Pressefreiheit erweitert, die Presse erholte sich, die politische Opposition konnte sich hörbar machen, und das gesamte geistige Leben erlebte einen Aufschwung. Die liberale Opposition konnte auf dem Reichstag von 1840 bis 1841 Fortschritte erzielen, ihr Vorschlag eines Zweikammerreichstages wurde jedoch vertagt. Als in Finnland endlich in den sechziger Jahren die Ständelandtage wieder regelmäßig einberufen wurden, wurde in Schweden der Zweikammerreichstag eingeführt. Als seit Beginn des neuen Jahrhunderts in Finnland die Kräfte gegen die russische Vereinheitlichungspolitik mobilisiert wurden, bestand schon in Schweden eine moderne Großindustrie. Mit einem Wort: die politisch-gesellschaftlichen Reformen in der Autonomiezeit waren höchstens vom russischen

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Kaiser geduldete Repliken der entsprechenden Errungenschaften in Schweden und Westeuropa. In Finnland galt dann auch in der Autonomiezeit als höchste Form der Staatsklugheit, abschätzen zu können, was zum jeweiligen Zeitpunkt für den Kaiser gerade noch erträglich und nicht etwa, was das Beste für Land und Volk sei. Die hier zu behandelnde Frage hat noch eine andere Seite; die innere Entwicklung Finnlands von einer Provinz zu einem Land, einer rein territorialen Größe zu einem Staat. Nachdem Finnland von einem auswärtigen Eroberer besetzt worden war, hatte zwar Alexander I. Finnland 1809 verkündet, daß Finnland in die Reihe der Nationen aufgenommen sei, es als Nation bezeichnet, die staatlich mit Rußland verbunden sei. Dies geschah aber auf der Grundlage der schwedischen Konstitution von 1772, und ihr Leitgedanke war die Alleinherrschaft des Monarchen. Noch im Jahre 1916, als Nikolaus II. die finnische Volksvertretung auflöste, handelte er im autokratischen Geiste der Verfassung von 1772. Dies ungeachtet dessen, daß in Finnland schon 1906 eine einzigartige parlamentarische Reform durchgeführt worden war, mit der das allgemeine und gleiche Stimmrecht verwirklicht wurde, und auch die finnischen Frauen als erste in Europa - Vertreter (und Vertreterinnen) in das Einkammerparlament wählen durften. Die Regierung war jedoch keine eigentliche Regierung im parlamentarischen Sinne. Der Senat, wie er noch immer hieß, wurde vom Kaiser ernannt, er war nicht dieser Volksvertretung, sondern dem Zaren verantwortlich. Formell war der vom Zar eingesetzte Generalgouverneur Finnlands immer noch Vorsitzender des Senats. Die äußeren juristischen und staatsrechtlichen Rahmenbedingungen vermögen jedoch nicht allein die Entwicklung Finnlands zur Demokratie erklären. Das nordische Erbe aus schwedischer Zeit bestand in einer archaisch versteiften Ständegesellschaft, die ihren Kristallisationspunkt im absoluten Herrscher hatte. Dennoch entwickelte sich gerade in der Autonomiezeit unter dem Schutzschirm der Autokratie erstaunlich rasch eine Nation, die die Ständegesellschaft zugunsten einer demokratischen Gesellschaft überwunden hatte. Die in geschichtliche Stammesprovinzen zersplitterte Bevölkerung wurde in einer neuartigen finnischen Gesellschaft homogenisiert. Der bedeutendste finnische Staatsmann und Philosoph des 19. Jahrhunderts, Johan Vilhelm Snellman, der in Deutschland geforscht hatte, stellte schon 1861 fest: „Finnland wurde nach seiner Angliederung an Rußland ein Staat und infolge dieser Angliederung war der Schritt, den Finnland tat, von einer Pro-

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vinz zu einem Staat, und unser Land hat diesen Schritt aus eigenem Vermögen getan. "

Was meinte Snellman mit „eigenem Vermögen"? Entscheidend war für diese Entwicklung nicht der Zar, nicht die Wirtschaft, sondern ein geistiger Aufbruch, bei dem mehrere Massenbewegungen, sowohl weltliche als auch geistliche, eine Rolle spielten. Am besten erschließt sich die große Organisierungsphase der Autonomiezeit aus dem Blickwinkel der sog. Bürgergesellschaft. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aber vor allem in seiner letzten Phase begann innerhalb der Ständegesellschaft eine neue Gesellschaft von sich selbst aus existierender Individuen heranzuwachsen. Nationalität und Klasse machten sich bemerkbar in Gemeinschaften, die nach entsprechenden Ideen und Ansichten organisiert waren. Hier konnten sich die Menschen immer freier ohne Rücksicht auf den sozialen Hintergrund als formal gleichwertige Bürger assoziieren. Eine gleichberechtigte Gemeinschaftlichkeit vertrug sich schlecht mit dem tradierten Weltbild der Ständegesellschaft. Ein Wandel war erst möglich, als die totalen Subordinations Verhältnisse erschüttert worden waren. In Finnland geschah dies hauptsächlich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In der von der Bildungsschicht gehegten nationalen Ideologie wurde das Leben des finnischen Bauern idealisiert. Dies war die Grundlage, auf der die Zugehörigkeit zur gleichen Nation bewußt gemacht wurde. Desgleichen gelang es vielen weit verbreiteten religiösen Bewegungen, denen sowohl Standespersonen als auch Männer und Frauen aus dem Volk, angehörten, die Gesellschaftsklassen einander näher zu bringen. In die gleiche Richtung wirkten auch viele weltliche Massenbewegungen wie Volksbildungsvereine, Landvolkvereine, die Abstinenzbewegung, Jugendverbände, Genossenschaftsbewegung, Sportvereine, die freiwillige Feuerwehr, Studentenorganisationen und nicht zuletzt die immer stärker werdende Arbeiterbewegung. Das autokratische Rußland hatte denfinnischen Ständelandtag bis in die Anfangsjahre des 20. Jahrhunderts konservieren können. Der Generalstreik 1905 und die Unruhen, die daraufhin ausbrachen, beseitigten die alten politischen Strukturen und brachten die Massen auf die Bühne des politischen Geschehens. Beide Revolutionen des Jahres 1917 in Rußland hatten ihre unmittelbaren Auswirkungen auf Finnland. Die Februarrevolution beseitigte den Zaren, damit auch den Landesherrn Finnlands. In diesem Machtvakuum erklärte sich bald darauf das finnische Parlament zum Inhaber der höchsten Gewalt, was allerdings von der russischen Regierung nicht anerkannt wurde. Nach der Oktoberrevolution und der danach entstandenen rechtlich und militärisch offenen Situa-

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tion ergab sich schließlich für Finnland die Chance, sich vollständig vom Russischen Reich zu lösen. Die Grundlagen für den Übergang Finnlands aus der Autokratie zur Demokratie wurden hauptsächlich in der Autonomiezeit gelegt. Ein demokratisches Finnland im eigentlichen Sinn entstand jedoch erst mit der Unabhängigkeit des Landes 1917 und der Verfassung von 1919. Die Parlamentsreform von 1906 konnte jetzt voll zur Geltung kommen und den Weg ebnen für eines der Modellfälle nordischer Demokratie. Diese Demokratie hat sich auch in Krisenzeiten bewährt und hat schließlich in freier Entscheidung zur Mitgliedschaft des Landes in der Europäischen Union ab 1995 geführt. Wenn Finnland 1999 nach Deutschland - zum ersten Mal den EU-Vorsitz innehaben wird, wird man das Land als vollwertiges Mitglied des sich vereinigenden demokratischen Europa bestätigt sehen.

,Die älteste Demokratie der Welt 4 : Immer noch vorbildlich? Gedanken zum politischen System Großbritanniens

Von Stuart Parkes

Im Jahre 1976 prägte der langjährige konservative Politiker und spätere Lord Chancellor während der Regierung Thatcher, Lord Hailsham, im Rahmen einer Fernsehansprache das Wort von der gewählten Diktatur 4, um das britische Regierungssystem zu beschreiben.1 Damit meinte er die angeblich mehr oder weniger unbeschränkte Macht der Exekutive innerhalb dieses Systems. Obwohl Hailsham seine Kritik als Oppositionspolitiker äußerte und nicht mehr darauf zurückkam, als seine Partei 1979 wieder an die Macht gelangte, lohnt es sich, bei einer Betrachtung der britischen Demokratie seine Bemerkungen als Ausgangspunkt zu nehmen. Er verwies u.a. auf den zunehmenden Fraktionszwang innerhalb des Unterhauses, den nachlassenden Einfluß des Oberhauses und die ausufernde Gesetzgebung, die immer größere Bereiche des Lebens erfasse. Der erste Einwand gegen die These von Hailsham dürfte wohl sein, daß der Begriff »gewählte Diktatur4 ein Widerspruch in sich sei, nicht zuletzt wenn auch berücksichtigt wird, daß allgemeine, geheime Wahlen mindestens alle fünf Jahre im Vereinigten Königreich stattfinden. 2 Andererseits liegt die Frage nahe, inwieweit eine britische Regierung tatsächlich gewählt wird. Am Rande ist darauf hinzuweisen, daß Kabinettsmitglieder, die keinen Sitz im Unterhaus haben und ihr parlamentarisches Dasein im Oberhaus fristen, sich überhaupt nicht zur 1 Hailsham nannte seine Ansprache ,Die gewählte Diktatur* (The Elective Dictatorship). Darin hieß es: , Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß unsere Verfassung verbraucht ist. Die Kernmängel fangen allmählich an, die Verdienste zu überwiegen, und die Kernmängel bestehen darin, daß wir unserem souveränen Parlament absolute Vollmachten übertragen, die sich dann in der durch eine einzige Partei gebildeten Regierung konzentrieren, wobei diese Partei den Willen des Volkes nicht unbedingt vertritt.' zit nach: Bogdanor, Vernon Power and the People London, 1997, S. 12. 2 Obwohl Parlamentswahlen alle fünf Jahre stattfinden müssen, wird der genaue Zeitpunkt von dem amtierenden Premierminister festgelegt. Deswegen dauerten die Legislaturperiode der ersten beiden Thatcherregierung jeweils nur vier Jahre. Obwohl die Konservativen über eine regierungsfähige Mehrheit verfugten, schrieb die Premierministerin schon 1983 und 1987 Wahlen aus, da sie (mit Recht!) glaubte, daß die Aussichten auf einen weiteren Wahlerfolg günstig waren.

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Wahl gestellt haben. Der Kabinettsposten des Lord Chancellor, den Lord Hailsham innehatte und dessen Name die Rolle als obersten Gerichtsherrn nur unzulänglich widerspiegelt, geht, wie der Name schon sagt, an ein Mitglied des Oberhauses, auf dessen Zusammensetzung ich später eingehen werde. In der Ära Thatcher dienten aber auch u.a. Lord Carrington als Außenminister und Lord Young als Handelsminister und unterlagen deswegen keiner unmittelbaren Kontrolle im Unterhaus durch die gewählten Vertreter des Volks.3 Sobald von Vertretern des Volkes geredet wird, stellt sich die Hauptfrage, wenn es um Wahlen in Großbritannien geht: das Mißverhältnis zwischen dem von einer Partei erreichten Stimmenanteil und der Zahl der Mandate. Nach der Wahl am 1. Mai 1997 bekam die Labour Party eine absolute Mehrheit von 179 Sitzen, obwohl sie nur 44% aller Stimmen bekam. Wenn man auch bedenkt, daß die Wahlbeteiligung bei 72% lag, dann sieht der Sieg von Tony Blair nicht ganz so glänzend aus. Interessant ist es auch, die Ergebnisse der Liberalen, neuerdings Liberaldemokraten, unter dem gleichen Aspekt unter die Lupe zu nehmen. Das Wahljahr 1955 stellte den absoluten Tiefpunkt für die Liberale Partei dar. Sie gewann ganze 2,6% der Stimmen (wobei festzuhalten ist, daß sie Kandidaten in weit weniger als der Hälfte der Wahlkreise aufstellte), konnte aber sechs Abgeordnete ins Parlament schicken, nicht zuletzt, weil sie Vereinbarungen vor der Wahl mit den Konservativen in gewissen Wahlkreisen eingegangen war. Knapp dreißig Jahre später im Jahre 1983 gewann die Allianz aus Liberalen und Sozialdemokraten, deren Partei SDP im Jahre 1981 von ehemaligen Mitgliedern der Labour Party gegründet worden war, 25,4% der Stimmen, aber nur 23 Mandate. Neun Jahre später gewannen die Liberaldemokraten 18,3% Prozent der Stimmen und 20 d.h. 3% der Mandate.4 Dann aber im Jahre 1997 mit einem kleineren Stimmenanteil (ein Prozent weniger) gewannen sie 46 Mandate. 3

Der spätere NATO-Generalsekretär Lord Carrington, der seinen Adelstitel geerbt hatte, diente als Außenminister von 1979 bis zum Ausbruch der Falklandkrise im Jahre 1982. Er übernahm die Verantwortung für die ursprüngliche Niederlage und trat von seinem Amt zurück. Der Geschäftsmann David Young (später Lord Young of Graffham) wurde 1984 geadelt und zum Minister ohne Geschäftsbereich ernannt. Von 1985 bis 1987 war er Arbeitsminister und von 1987 bis 1989 Minister für Handel und Industrie. Nach dem Ende seiner politischen Karriere wurde er zum Vorstandsvorsitzenden der Telekommunikationsfirma Cable und Wireless, die die Thatcher-Regierung, zu der er selber gehörte, privatisiert hatte. 4 Nach der Niederlage der Wahlallianz zwischen Liberalen und Sozialdemokraten bei der 1987er Wahl, forderte der Führer der Liberalen, Steel, den Zusammenschluß der beiden Parteien. Die Neugründung heißt offiziell .Social and Liberal Democrats'; gesprochen wird aber immer von den .Liberal Democrats'. Einige Sozialdemokraten, einschließlich der frühere Außenminister und spätere Unterhändler in Bosnien, Owen, akzeptierten diese Entwicklung nicht und führten die Sozialdemokratische Partei (SDP) bis 1990 weiter, bis völlig klar wurde, daß sie keine Aussichten auf Erfolg hatte. Eine selbständige Liberale Partei existiert immer noch am Rande des politischen Geschehens.

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Wie kann man eine solche Situation erklären? Das britische Mehrheitswahlrecht hat immer die Parteien belohnt, die Schwerpunkte in gewissen Wahlkreisen haben. Es versteht sich von selbst, daß das auf die schottischen und walisischen Nationalisten zutrifft. Das war auch immer ein Vorteil für die alte Labour Party, die ihre Hochburgen in Industrierevieren hatte, gleichzeitig in ländlichen Wahlkreisen kaum Wähler hatte. Das zeigte sich besonders im Jahre 1983. Obwohl die Wahlniederlage in diesem Jahr eine große Katastrophe für die Partei war, konnte sie immerhin mit 27,6% (d.h. 2,1 % mehr als die Allianz der Liberalen und Sozialdemokraten) der Stimmen 209 Wahlkreise erobern (aus 650 einschließlich Nordirlands, wo das Parteiensystem völlig anders ist). Die Verlierer bei diesem System sind diejenigen, die überall Wähler haben, aber wenige Hochburgen. Das waren immer die Liberalen und jetzt zum Teil die Konservativen, die z.B. 1997 in Schottland 500 000 Stimmen (4.5% mehr als die Liberaldemokraten, die 10 Wahlkreise gewannen), aber keinen einzigen Wahlkreis gewannen. Freilich haben viele Wählerinnen und Wähler die Tücken des Systems erkannt. Im Jahre 1997 haben sie oft aus taktischen Gründen den Kandidaten in einem gewissen Wahlkreis gewählt, der die besten Aussichten hatte, die Konservativen zu schlagen; d.h. Labour-Anhänger haben die Liberaldemokraten gewählt und auch umgekehrt.5 Dann kommt man auf mehr als 60% aller Wähler, die eine Wende wollten. Was also nicht auf das Wahlrecht zurückzuführen wäre, ist die verheerende Niederlage der Konservativen. Dieser Aufsatz soll kein Plädoyer für ein neues Wahlrecht werden. Meine Ausführungen zeigen aber die wahltechnischen Voraussetzungen für die Erreichung einer absoluten Mehrheit im Unterhaus durch eine einzige Partei, die dann die Regierung stellt. Das führt dann zum schon angeschnittenen Hauptthema: darf sich eine auf diese Art und Weise an die Macht gekommene Regierung wie eine Diktatur aufführen, wie Hailsham das unterstellte, oder wird die Macht der Exekutive durch irgendeine Art von Gewaltenteilung oder durch sonstige Faktoren beeinträchtigt? Wenn man sich die politischen Strukturen ansieht, sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob der Handlungsspielraum einer britischen Regierung kaum 5 Wahlentscheidungen aus taktischen Gründen sind nicht neu in der britischen Politik. Besonders bei Nachwahlen, wo es den Wählern darum geht, der regierenden Partei einen Denkzettel zu verpassen, ist es üblich, daß Protestwähler den Kandidaten von den Oppositionsparteien wählen, der die besten Aussichten hat. 1997 war aber vermutlich das erste Mal, daß taktische Wahlentscheidungen die Ergebnisse einer allgemeinen Wahl maßgeblich beeinflußt haben. Ein Beispiel wäre der Wahlkreis Sheffield Hallam, wo die Liberaldemokraten erfolgreich waren, indem sie im Vergleich zu 1992 knapp 6.000 Stimmen hinzugewannen, während die sonst so erfolgreiche Labourpartei 2.000 Stimmen verlor. Es dürfte kein Zufall sein, daß sehr viele Hochschulabsolventen in diesem Wahlkreis leben.

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beeinträchtigt ist. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß es keine geschriebene Verfassung im Sinne des deutschen Grundgesetzes gibt. Das wurde in den letzten zwanzig Jahren zunehmend als Mangel empfunden. In diesem Zusammenhang ist die Bewegung Charter 88 besonders erwähnenswert, deren Name nicht nur an die tschechoslowakische Menschenrechtsbewegung Charta 77, sondern auch an die für radikale Reformen kämpfenden britischen »Chartists' des neunzehnten Jahrhunderts erinnern soll. Zu den Hauptforderungen der Charter 88Bewegung, zu der sich bis Juli 1995 59 000 Bürger durch ihre Unterschrift bekannt hatten, gehörten eine geschriebene Verfassung und eine Reform des Wahlrechts. Es versteht sich fast von selbst, daß sehr viele Mitglieder akademische Berufe ausüben und eher postmaterielle Werte pflegen. Das zweite Merkmal erklärt vielleicht die zunächst eher ablehnende Haltung von führenden Mitgliedern beider großer politischer Parteien. Obwohl man bis jetzt kaum von großen Erfolgen der Charter 88-Bewegung sprechen kann, ist es teilweise auch ihr Verdienst, daß eine Reform des politischen Systems in Großbritannien zunehmend auf der Tagesordnung steht.6 Solange es keine geschriebene Verfassung gibt, werden eher gewisse Traditionen und die Auswirkungen einzelner Gesetze gemeint, wenn in Großbritannien von der Verfassung die Rede ist. Zu diesen Gesetzen gehören die „Representation of the People Acts" (Gesetze über die Vertretung des Volkes), die im Laufe der Jahre das Wahlrecht festgelegt haben. Zu den Traditionen gehört die Gewohnheit, daß der Premierminister sofort zurücktritt, wenn er bei einem Vertrauensvotum unterliegt. Das war 1979 der Fall und führte zum ersten Wahlsieg von Margaret Thatcher. Ein gutes Beispiel des britischen Verfassungsverständnisses bietet auch die Kontroverse in den letzten Monaten der Regierung Major um den schließlich vereitelten Plan des konservativen Innenministers Michael Howard, Lauschangriffe durch die Polizei erst nachträglich sanktionieren zu lassen. Diese Gesetzesvorlage rief die konservative Zeitung Daily Telegraph auf die Barrikaden. Ein Leitartikel sah in dem Gesetz einen Verstoß gegen die ungeschriebene britische Verfassung; es verstieß gegen das Prinzip, daß ,Staatsdiener keine zusätzlichen Rechte haben, wenn es um die Unverletzbarkeit des Privateigentums geht/ 7 Es ging der Zeitung also darum, Traditionen des britischen Rechts aufrechtzuerhalten. Bei dem Wort Tradition im Zusammenhang mit Großbritannien fällt einem sofort die Institution der Monarchie ein. Der Monarch ist sowohl Souverän (die 6

Zu Charter 88 s. Evans , Mark Charter 88. A Successful Challenge to the British Political Tradition, Aldershot 1995. 7

Daily Telegraph, 14. Januar 1997, S. 19.

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Staatsgewalt geht also nicht vom Volke aus) als auch Staatsoberhaupt. Es gehört also zu den Gepflogenheiten des britischen Systems, daß die Königin (oder der König) jedes von dem Parlament verabschiedete Gesetz unterschreibt. Alle theoretisch bei der Königin liegenden Rechte werden allerdings in der Praxis dem Parlament oder besser gesagt dem Premierminister übergeben. Wieweit diese Vollmachten reichen, zeigt ein Beispiel aus der Kirchenwelt. Da die Königin auch Oberhaupt der anglikanischen Kirche ist, hat sie das Recht, den Kirchenprimus, nämlich den Erzbischof von Canterbury, zu ernennen. Auch hier hat aber der Premierminister das letzte Wort. Er bekommt von der Kirche die Namen von zwei Kandidaten, die als geeignet gesehen werden, und trifft seine Wahl. Ähnlich bekommt die Königin zweimal im Jahr von der Downing Street die Liste derer, die geadelt oder irgendwie geehrt werden sollen. Es heißt aber in diesem Fall, daß sie manchmal Namen streicht, z.B. den Medienzaren Rupert Murdoch, dessen durch Aufdeckung sogenannter Sexskandale innerhalb der gehobenen Schichten gekennzeichnete Massenblätter, die inzwischen einer eher antimonarchischen Linie folgen, dem königlichen Geschmack wohl kaum entsprechen. Meistens aber, wenn es sowohl um den Willen des Parlaments als auch um die Wünsche des Premierministers geht, z.B. bei der Auflösung des Parlaments, hat sie kein Wort mitzureden. Die Grenzen der königlichen Macht zeigen sich auch, wenn es um die Ernennung des Premierministers nach einer Wahl geht. Laut Tradition bittet sie den Führer der stärksten Partei, eine Regierung zu bilden. Wegen des MehrheitsWahlrechts verfügt dieser fast immer über die absolute Mehrheit. (Die einzige Ausnahme seit dem Krieg bot die Wahl im Frühjahr 1974, als Labour die Konservativen unter Edward Heath überrundete, aber keine absolute Mehrheit gewann.) Wenn das Verhältniswahlrecht eingeführt werden sollte und Regierungskoalitionen zur Regel würden, hätten das bestimmt Folgen für die königliche Rolle. Es wäre aber kaum zu erwarten, daß der Monarch aktiv an der Regierungsbildung teilnähme. Da es keine Verfassung im deutschen oder amerikanischen Sinn gibt, versteht es sich von selbst, daß es auch kein Verfassungsgericht gibt. Britische Richter sind also nicht in der Lage, Gesetze als nichtverfassungskonform zu verwerfen. Sie haben sich immer auf die Interpretation der bestehenden Gesetze beschränkt, wie Jones und Kavanagh 1990 in einem Handbuch zur britischen Politik feststellten: »Richter entscheiden nicht über die Gültigkeit von Gesetzen, sondern darüber, ob ein Gesetz richtig angewandt wurde 4.8 Das kann durchaus zu Niederlagen für einzelne Minister führen. Ein Beispiel aus dem Jahr 1996 war der Fall des saudiarabischen Dissidenten Mohammed al Mass'ari. Da dieser im Londoner Exil lebende Gegner der saudiarabischen Regierung angeblich 8

Jones, Bill und Kavanagh, David British Politics Today, Manchester, 3. Auflage 1990, S. 57.

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die Beziehungen zwischen England und Saudiarabien bedrohte, man dachte wohl in erster Linie an die Bedeutung des saudiarabischen Marktes für die britische Exportwirtschaft, sollte er des Landes verwiesen werden, und zwar in die Karibik, wo Großbritannien noch Einfluß hat. Dieses Vorhaben des Innenministers Howard wurde aber durch die Gerichte vereitelt. In einer solchen Situation wird das Urteil des Gerichts akzeptiert; es steht aber der Regierung grundsätzlich frei, ein neues Gesetz vorzulegen. Es ist ohnehin unmöglich, von einer Trennung zwischen Exekutive und Judikative im Sinne der klassischen Gewaltenteilung zu reden. Fast alle Richter werden vom Lordkanzler berufen; die obersten Richter sitzen im Oberhaus. Daraus folgt nicht, wie schon gezeigt wurde, daß die Richter immer im Sinne der Regierung entscheiden. Bedenklich ist aber für manche die Tatsache, daß sie fast ausschließlich Männer und Absolventen von Eliteschulen und -hochschulen sind.9 Wenn die Judikative sich nicht als Gegenmacht zur Exekutive betrachtet, wie sieht es mit der Legislative aus? Hier ähnelt das britische Regierungssystem eher dem deutschen als dem amerikanischen. Die Regierung wird von der Partei gebildet, die die Mehrheit im Unterhaus hat, die Minister kommen auch ausschließlich aus dieser Partei, und, was wohl am wichtigsten ist, es wird erwartet, daß die ganze Fraktion der Regierungspartei die Gesetzesvorlagen der Regierung verabschiedet. Es versteht sich von selbst, daß die meisten Gesetzesinitiativen von der Regierung kommen. Der einzelne Parlamentarier hat große Schwierigkeiten, Gesetzesinitiativen erfolgreich durch das Parlament zu bringen, es sei denn, er hat die Unterstützung der Regierung. Viele Gesetzesinitiativen von Hinterbänklern scheitern aus Zeitgründen. Da die Debatten meistens am Freitag stattfinden, und die Traditionen des Parlaments besagen, daß ein bis 14 30 Uhr nachmittags nicht verabschiedetes Gesetz praktisch unter den Tisch fällt, ist es für die Exekutive meistens ein leichtes, unliebsame Gesetzesvorlagen durch Verschleppungstaktik zu verhindern. Wenn mindestens hundert Abgeordnete zugegen sind, was am Freitag selten ist, weil die meisten diesen Tag in ihrem Wahlkreis verbringen, kann eine Abstimmung erzwungen werden; sonst kann die Exekutive dafür sorgen, daß die Debatte kein Ende nimmt. Für diese Aufgabe stehen oft karrieresüchtige Hinterbänkler der Regierungspartei zur Verfügung. Die Arbeit des Hinterbänklers besteht also laut Kritikern darin, seiner Partei treu zu dienen, insbesondere wenn er hofft, eines Tages als Minister Karriere zu machen.10 Freilich gibt es freie Geister, die bereit sind, gegen 9

Eine umfassende Richterschelte bietet: Griffith

10

J. Α., The Politics of the Judiciary, London 1985.

Jones und Kavanagh (a.a.O S.127) weisen auf Forschungsergebnisse hin, die die relative Durchsetzungskraft gewisser Gruppen innerhalb des Parlaments zeigen. In den siebziger Jahren

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die Politik der eigenen Partei aufzumucken und gegen die Fraktionsdisziplin zu verstoßen; es gibt auch institutionelle Möglichkeiten, die Arbeit der Exekutive unter die Lupe zu nehmen. Dazu gehören Fragestunden, insbesondere die wöchentlichen Auftritte des Premierministers vor dem Unterhaus, die oft zum heftigen Schlagaustausch zwischen diesem und dem Oppositionsführer führen. Man darf aber in diesem Fall eher von politischem Theater als von effektiver Kontrolle sprechen.11 Wichtiger ist wohl die Arbeit extra zu diesem Zweck eingerichteter Ausschüsse (select committees). Diese haben das Recht, innerhalb eines Politikbereichs, der sich oft mit dem Arbeitsgebiet eines Ministeriums, z.B. Landwirtschaft oder Innenpolitik deckt, Aspekte der Regierungspolitik zu untersuchen und Anhörungen zu veranstalten. In einer Bestandsaufnahme aus dem Jahr 1993 sprechen Ian Budge und David McKay im Zusammenhang mit der Arbeit der ,select committees' von einem »unabhängigen Standpunkt innerhalb des Parlaments4 und von einer »ziemlich kritischen Einstellung gegenüber der Regierung4.12 Sie weisen aber auch daraufhin, daß die parlamentarischen Geschäftsführer oft bei Personalentscheidungen ihre Finger im Spiel haben. Wenn es zu Streitigkeiten innerhalb eines solchen Ausschusses kommt, trennen sich meistens auch die Meinungen nach Fraktionszugehörigkeit. Die Frage nach der wirklichen Unabhängigkeit liegt also nahe. Im großen und ganzen läßt sich sagen, daß die Funktion der Legislative bzw. deren Mehrheit eher darin besteht, die Exekutive zu legitimieren als zu kontrollieren. Wieweit dabei der Zynismus der Exekutive manchmal geht, zeigt ein von dem Labour-Premierminister Wilson in den sechziger Jahren verwendetes Bild. Als einige linke Hinterbänkler nicht bereit waren, seine Verteidigungspolitik in einer parlamentarischen Abstimmung zu unterstützen, verglich er sie mit Hunden, die nur einmal beißen dürfen. Dieser abschätzige Vergleich sollte daran erinnern, daß laut britischer Volksweisheit bissige Hunde beim zweiten Delikt eingeschläfert werden. Eine solche Situation hat klare Folgen. Einerseits kann die Regierung ihre Wünsche durchsetzen, solange sie über eine ausreichende Mehrheit im Unterhaus verfügt; wichtig dabei ist auch, daß mehr als konnte die Regierung 99,9% der von ihr gewünschten Gesetzesnovellen durchsetzen, Hinterbänkler der Regierungspartei dagegen nur 10% und die Opposition bloß 5%. 11 Seit den sechziger Jahren war es bis 1997 Tradition, daß der Premierminister zweimal in der Woche 15 Minuten lang Rede und Antwort stehen mußte. Da die Atmosphäre immer mehr der eines Fußballstadion glichs, entschied sich Premierminister Blair gleich nach seinem Amtsantritt, die Zahl seiner Auftritte zu reduzieren. Die wöchentliche Fragestunde dauert jetzt aber 30 Minuten, was sachlichere Diskussion ermöglichen soll. 12 Budge , Ian und McKay , David The Developing British Political System: the 1990s, London and New York, 3. Auflage, 1993.

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hundert Abgeordnete der Regierungspartei einen Posten innerhalb der Regierung haben und deswegen zu Treue verpflichtet sind. Andererseits kann von einem Funktionsverlust des Parlaments geredet werden. Dieser Einwand gegen den britischen und den deutschen Parlamentarismus ist nicht gerade neu. In den letzten Jahren scheint sich die Lage besonders in Großbritannien verschlechtert zu haben. Der einzelne Hinterbänkler fühlt sich überflüssig und unbeliebt. Vorbei die Zeiten, als der Schriftsteller und Staatsbeamte Anthony Trollope sagte, jeder Gentleman sollte den Wunsch hegen, Mitglied des Parlaments zu werden, das übrigens einmal als der beste Klub des ganzen Landes bezeichnet wurde. Vielleicht hat die Malaise der letzten Jahre etwas mit den ehrwürdigen Traditionen des britischen Parlaments zu tun. Meistens wird die Arbeit immer noch erst am Nachmittag aufgenommen; daß dann bis in die Nacht debattiert wird, zeigt u.a., wie frauenfeindlich die Arbeitsweise immer war. In diesem Kontext ist es aber wichtiger, auf die Tradition des Honorationenparlaments hinzuweisen. Die Rolle des Abgeordneten wurde früher immer als Teilzeitbeschäftigung angesehen; vormittags wurde der Lebensunterhalt bestritten; erst am Nachmittag wurde man Parlamentarier. 13 Die zeitliche Einteilung ist aber nicht der wichtige Punkt; hervorzuheben ist eher die Tatsache, daß viele Hinterbänkler es immer noch für völlig normal halten, Nebeneinkünfte in Form von Beraterverträgen usw. zu haben. Da die konservative Regierung in den Jahren 1979 bis 1997 das Geldverdienen zum alles bestimmenden Daseinszweck erhob, ist es nicht verwunderlich, daß mancher Abgeordnete nicht mehr zwischen seiner Pflicht als Volksvertreter und persönlicher Bereicherung unterscheiden konnte. Zu den schlimmsten Skandalen gehörte die Bereitschaft einiger konservativer Abgeordneter, sich für parlamentarische Anfragen von Lobbyisten bezahlen zu lassen. Besonderes Aufsehen erregte der Fall Neil Hamilton, der sich u.a. von dem Besitzer des Pariser Luxushotels Ritz Mohammed al Fayed kostenlos bewirten ließ. Der gebürtige Ägypter hatte das renommierte Kaufhaus Harrods erstanden und lag im Clinch mit seinem Rivalen, dem gebürtigen Deutschen ,Tiny' Rowland, der auch gern in Besitz des Londoner Einkaufsparadieses gekommen wäre. Dieser warf al-Fayed unlautere Methoden vor und wollte Regierung und Parlament auf seine Seite bringen. Hamilton war bereit, gegen Entlohnung (er holte Bargeld aus al Fayeds Londoner Büro) die Sache des Ägypters im Parlament zu vertreten. Er setzte sich 13 Der Vorstand der Supermarktkette Asda und jetzige Abgeordnete der Konservativen Sir Archie Norman sagte noch 1997 während des Wahlkampfes, er denke gar nicht daran, seine geschäftlichen Interessen aufzugeben, weil Abgeordneter zu sein nur ,eine Teilzeitbeschäftigung4 sei. Verteidiger einer solchen Haltung weisen darauf hin, daß es bedenklich wäre, falls alle Parlamentarier keine Kontakte mehr mit der Außenwelt hätten. Sie weisen auf das folgende negative Muster hin: Hochschulabschluß, Forschungsassistent bei einer Partei, Abgeordneter, Minister usw.

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auch erfolglos für die Zulassung von krebserregendem Kautabak ein. Diese Karriere wurde aber 1997 auf merkwürdige Weise beendet. Sowohl Labour als auch die Liberaldemokraten verzichteten auf eigene Kandidaten in Hamiltons bis dahin sicherem Wahlkreis. Stattdessen wurde ein unabhängiger Antikorruptionskandidat, der Fernsehjournalist Martin Bell, aufgestellt, der den Wahlkreis mit einer Mehrheit von 11.000 Stimmen gewann. Dagegen verlor der frühere Kabinettsminister Jonathan Aitken 1997 seinen Wahlkreis auf ,ganz normale4 Weise an den Labour-Kandidaten. Er hatte seinen Ministerposten aufgegeben, um sich auf eine Verleumdungsklage gegen die Zeitung The Guardian und die private Fernsehanstalt Granada zu konzentrieren. Es ging um seine angeblichen Beziehungen zu saudiarabischen Geschäftsleuten, genauer gesagt Waffenhändlern. Dabei sprach er vom »schlichten Schwert der Wahrheit und dem treuen Schwert des britischen Fair play4. Es stellte sich aber während des Prozesses im Juni 1997 heraus, daß er nicht nur das Gericht belog, sondern auch seine Frau und siebzehnjährige Tochter dazu bringen wollte, das Gericht zu belügen. Auch hier spielte übrigens ein bezahlter Aufenthalt im Pariser Ritz eine wichtige Rolle. Wegen solcher Skandale ist ein neues Wort in die politische Sprache in Großbritannien gekommen: sleaze. Es bedeutet eine besondere Art von Korruption, die den politischen Prozeß auf sehr heimtückische Art und Weise zersetzt. Zwar ist Korruption im politischen Leben der Insel nicht gerade neu: Anfang des Jahrhunderts hatte der liberale Premierminister Lloyd George Auszeichnungen verkauft und war damit reich geworden.14 Wegen der neuesten Vorfälle hat aber das Unterhaus eine langjährige Tradition aufgegeben; nicht die Parlamentarier selber, sondern Außenseiter bestimmen jetzt, wer gegen die Regeln des Parlaments verstoßen hat. Damit geht ein wichtiger Teil der immer mit besonderer Akribie verteidigten parlamentarischen Privilegien verloren. 15 Die MajorRegierung setzte nicht nur eine Enquetekommission gegen Korruption im öffentlichen Leben unter dem Richter Lord Nolan ein; im Anschluß daran soll der frühere Staatsbeamte Sir Gordon Downe als parliamentary Commissioner for Standards4 (Parlamentarischer Beauftragter für richtiges Verhalten) ein Auge auf die Parlamentarier halten, damit sie den Anforderungen ihres Berufs nach-

14 Es wird geschätzt, daß Lloyd George ein Vermögen von 1,5 Millionen Pfund durch solche Praktiken erwarb. Auf die Geschichte der Korruption in der britischen Politik wird in einem Band eingegangen, der sich speziell mit dem Fall Hamilton auseinandersetzt: Leigh, David und Vulliamy Ed Sleaze. The Corruption of Parliament, London 1997. 15 Zu den Privilegien der Parlamentarier gehört u.a. die Redefreiheit im Unterhaus, die sie vor Verleumdungsklagen schützt.

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kommen. Vielleicht wäre es übertrieben zu behaupten, daß das Unterhaus weder die Exekutive noch sich selbst kontrollieren kann; das Wort Vertrauensverlust ist auf alle Fälle berechtigt. Genau wie in Deutschland besteht das britische Parlament aus zwei Kammern. Wie der Bundesrat hat das House of Lords die Aufgabe, die Gesetzes vorlagen der Regierung unter die Lupe zu nehmen. Seit 1911 hat es aber kein Vetorecht gegen von dem Unterhaus verabschiedete Gesetze. Eventuelle Einsprüche sollen die Regierung zum Nachdenken bringen, indem ein von dem Oberhaus abgelehntes Gesetz im Unterhaus neu debattiert und darüber erneut abgestimmt werden muß. Das kann dazu führen, daß die Regierung Novellierungen durch das Oberhaus akzeptiert, insbesondere wenn sie nur über eine kleine Mehrheit verfügt und sich das Ende der Legislaturperiode nähert. Auf diese Weise war das Oberhaus in den letzten Jahren eine weitaus effektivere Opposition als die Labour Party. Selbst die Thatcher-Regierung mußte im Laufe der achtziger Jahre einige Niederlagen hinnehmen, zum Beispiel 1981 im Bereich der Umweltpolitik, und als sich die Regierung ansetzte, die akademische Freiheit der Hochschulen zu begrenzen. Es war damals möglich, das Oberhaus als kleines liberales Korrektiv zu betrachten. Dabei darf aber auf keinen Fall übersehen werden, daß das Oberhaus, das aus Adligen, die ihren Rang geerbt haben, und von der Regierung ernannten Adligen auf Lebenszeit besteht, völlig undemokratisch ist. Wenn es um erstere geht, weisen Kritiker daraufhin, daß Nachkommen der unehelichen Kinder des Königs Karl des Zweiten (1660-1685) nicht unbedingt das Recht haben sollten, ein Wort bei der Gesetzgebung des Landes mit zu reden. Bei letzteren hat politisches Können auch nicht unbedingt zur Verleihung des Adelstitels beigetragen. Zu den von John Major ernannten Adligen gehören der Musicalkomponist Andrew Lloyd-Webber und der frühere Cricketspieler Colin Cowdrey. Wenn man einen genaueren Blick auf die Mitglieder des Oberhauses wirft, sind folgende Unterscheidungen wichtig. Es wird zum Beispiel zwischen »arbeitenden4 Adligen und denjenigen, die kaum auftauchen, unterschieden. Damit verwirken letztere keinesfalls ihre Rechte. In diesem Zusammenhang wird abschätzig von Hinterwäldlern gesprochen, die nur kommen, wenn sie von der konservativen Partei gerufen werden. Das weist auf die MehrheitsVerhältnisse im Oberhaus hin. Von den ungefähr 800 Adligen, die ihren Titel geerbt haben, bekennen sich ca.5 Prozent zur Labourpartei. Das heißt nicht, daß alle anderen sich als Konservative bezeichnen. Die drei wichtigsten Parteien haben zwar ihre Oberhausfraktionen, es gibt aber auch die Unabhängigen (cross benchers) und die Geistlichen Lords: Bischöfe und Erzbischöfe der anglikanischen Kirche. 16

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Bei den auf Lebenszeit ernannten Adligen sind die Mehrheitsverhältnisse nicht so kraß. Die Konservativen verfugen aber immer über eine satte Mehrheit. Es versteht sich also von selbst, daß die Reform des Oberhauses ein aktuelles Thema ist.17 Das bis jetzt vertagte Reformvorhaben der neuen Labourregierung ist die Abschaffung des Stimmrechtes für die vererbte Mitgliedschaft. Das heißt aber noch lange nicht demokratische Legitimität, wenn man bedenkt, daß Adlige auf Lebenszeit ernannt und nicht gewählt werden. Eine britische Regierung braucht also im großen und ganzen nur bedingt Angst zu haben, wenn es um die Durchsetzung ihres Programms geht, solange sie über eine Mehrheit im Unterhaus verfügt. Neben der Zentralregierung bestehen bis jetzt nur Gemeinderäte, deren Rolle von den Konservativen zwischen 1979 und 1997 maßgeblich geändert wurde. Das Hauptziel der konservativen Regierung war, die Ausgabepolitik der angeblich verschwenderischen Kommunen einzudämmen. Das ging in den neunziger Jahren so weit, daß sie nicht mehr ihren eigenen Haushalt bestimmen konnten; die Zentralregierung legte fest, wieviel sie ausgeben durften. Außerdem wurde das System der kommunalen Steuern zweimal geändert. 1990 (1989 in Schottland) wurde die höchst unbeliebte Kopfsteuer (Poll Tax) eingefühlt, die aber drei Jahre später von der Council Tax (Kommunalsteuer) ersetzt wurde. Die Kommunen verloren auch an Einfluß in vielen Bereichen, z.B. im öffentlichen Nahverkehr, wo alle kommunalen Busbetriebe privatisiert wurden, und im Büdungsbereich, wo die Schulen inzwischen ihren Haushalt selber verwalten. Zwischen den Jahren 1979 und 1990 wurden die Vollmachten der Kommunen durch insgesamt fünfzig Maßnahmen drastisch beschränkt.18 Dabei ist zu beachten, daß die kommunalpolitische Ebene überhaupt nur existiert, weil die Zentralregierung ihr gewisse Vollmachten überträgt. 19 Die wahren Machtverhältnisse kamen in den achtziger Jahren in London zum Vorschein. Als der Greater London Council eine der

16 Genauere Informationen über die Zusammensetzung des Oberhauses finden sich bei: Kastendiek, Hans, Rohe, Karl, Volle, Angelika (Hrsg.) Länderbericht Großbritannien, Bonn 1994, S. 197. Dieser Band bietet eine gute Einführung für deutschsprachige Leser. 17 Ein Plan zur Reform des Oberhauses, der auch mit den Konservativen abgestimmt wurde, scheiterte 1970 wegen der Niederlage der Labourregierung. Danach hat die Konservative Partei wenig Neigung gezeigt, sich mit diesem Vorhaben auseinanderzusetzen. Auch der neue Parteiführer William Hague zeigte sich während des 1997er Wahlkampfes wenig bereit, Reformen gutzuheißen. 18 19

S. Cocker, P.J., Contemporary British Politics and Government, Sevenoaks 1993, S. 279.

Mehrere Gebietsreformen seit 1973 und die zur allgemeinen Unübersichtlichkeit beitragende Einführung und Abschaffung verschiedener kommunalpolitischer Regierungsformen zeigen auch, wieweit sich die Zentralregierung in die Kommunalpolitik eingemischt hat.

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Zentralregierung mißliebige Politik verfolgte, wurde er 1986 einfach abgeschafft. Eine weitere Entwicklung im Lauf der letzten zwanzig Jahre war die Übernahme vieler früher von den Kommunen ausgeübter Funktionen durch Agenturen. Ein Beispiel bietet die Berufsberatung für Jugendliche, die jetzt in den Händen von Ausbildungsagenturen liegt. Nicht nur die Kommunen wurden von dieser Entwicklung betroffen. Viele Reformen der konservativen Regierung in den achtziger und neunziger Jahren führten dazu, daß neue Agenturen geschaffen wurden, zum Beispiel im Gesundheitsbereich.20 Dabei verlor neben den Kommunen das Staatsbeamtentum (civil service) an Einfluß. Was früher oft direkt von Beamten verwaltet wurde, kam in die Hände einer Agentur. Die möglichen Folgen einer solchen Politik lassen sich am Beispiel des Gefängniswesens, dessen Verwaltung jetzt in den Händen der »Prisons Agency' liegt, besonders gut zeigen. Als gefährliche Insassen aus dem Gefängnis Parkhurst auf der Insel Wight ausbrachen, mußte der Chef der Prisons Agency Derek Lewis, der aus der Privatindustrie auf diesen Posten berufen wurde, seinen Hut nehmen. Der Innenminister Michael Howard, der wegen des Vorfalls scharf kritisiert wurde, schob die ganze Verantwortung auf Lewis. Er behauptete, er selber sei nur für die Richtlinien der Innenpolitik zuständig; deren Ausführung sei Sache der Agentur. Deswegen denke er gar nicht an Rücktritt. Damit war für viele Kritiker eine Tradition der britischen Demokratie gebrochen, nämlich die Verantwortung des Ministers für alles, was in seinem Zuständigkeitsbereich passiert.21 Auf alle Fälle bedeutete diese ,Howard-Doktrin 4 einen Gewinn für die Exekutive, die jetzt Macht ohne Verantwortung zu genießen schien. Wenn die Exekutive über sehr weite Machtbefugnisse verfügt, dann hat der Premierminister als Oberhaupt dieser Exekutive eine besondere Rolle, wenn er (oder sie) sich durchzusetzen versteht. Wenn man die Position des britischen Premierministers mit der des deutschen Bundeskanzlers vergleicht, ist es schwer zu entscheiden, wer die mächtigere Stellung hat. Es steht zwar nirgends in Großbritannien geschrieben, daß der Premierminister die Richtlinien der Politik bestimmt; die innerparteilichen Vorschriften der Konservativen ließen auch zu, daß Frau Thatcher nicht zuletzt wegen der oben erwähnten Kopfsteuer mitten in der Legislaturperiode ohne parlamentarisches Mißtrauensvotum ihres 20 Es wird im Zusammenhang mit Agenturen von 63 000 Posten gesprochen, die alle über die Ämterpatronage der Regierung vergeben werden. S. Foot, Paul ,1 will embarrass you now by saying that I always thought you should be Chancellor of the Exchequer', London Review of Books, Bd. 18 (1996), Nr. 20, 11. 21 Das Verhalten Howards unterschied sich völlig von dem Carringtons am Anfang der Falklandkrise. (s. Anm. 3).

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Amts enthoben wurde. Andererseits muß der Premierminister bei der Wahl seines Kabinetts nicht auf die Wünsche der Koalitionspartner achten, obwohl er sich in Gefahr begibt, wenn er potentielle Nachfolger aus den verschiedenen Flügeln seiner Partei nicht in die Kabinettsdisziplin einbindet. Kabinettsumbildungen, wobei der Premierminister fast unbeschränkten Spielraum genießt, gehören aber zum politischen Alltag in England. Besonderes Aufsehen erregte der konservative Premierminister Macmillan, als er mehr als die Hälfte des Kabinetts entließ und dadurch den Spitznamen ,Mackie Messer4 (Mac the Knife) bekam. Das zeigte zwar das Ausmaß seiner Macht, andererseits scheint es im Rückblick kein Zufall zu sein, daß er selber im folgenden Jahr abgelöst wurde. Entlassene frühere Kollegen sind potentielle Feinde. Einige der vielen Posten, die der Premierminister zu vergeben hat, wurden schon erwähnt. Wenn es um eine solche Angelegenheit ging, z.B. die Ernennung des Chefs einer Agentur, pflegte Frau Thatcher angeblich zu fragen: »Einer von uns?4 Was das System der Ehrungen usw. angeht, haben konservative Premierminister treue Hinterbänkler immer zunächst durch den Ritterschlag und danach fürs Altenteil durch Ernennung zum Adligen auf Lebenszeit ausgezeichnet.22 Der Premierminister und die ganze Exekutive profitieren auch von der britischen Tradition der Geheimniskrämerei. Seit Jahren spricht man in Großbritannien von der Notwendigkeit eines Gesetzes, das Informationsfreiheit garantiert. Zwar war die Major-Regierung bereit, Teile des kurz vor dem Ersten Weltkrieg verabschiedeten Official Secrets Act (Gesetz über offizielle Geheimnisse) rückgängig zu machen (es wurde zum ersten Mal zugegeben, daß der Abwehrdienst MI5 überhaupt existiert, und wir wissen den Namen der Leiterin); man darf aber vermuten, daß diese Änderungen der Versuch war, Forderungen nach einer weitreichenden Reform den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wie grotesk die Geheimniskrämerei manchmal wirkt, läßt sich am Beispiel des sogenannten ,Lobby System4 zeigen. Dieses System funktionierte immer nach gewissen ritualisierten Spielregeln; ein Regierungssprecher oder ein Politiker verkündete eine neue Politik oder sonstige politische Neuigkeit vor Journalisten (Lobby-Korrespondenten). Diese durften die Nachricht verbreiten, aber ohne genaue Quellenangaben. Es hieß dann immer ,Whitehall-Quellen4 oder »Quellen in Downing Street4. Wichtig war aber auch, daß die Journalisten keinen Zugang zu anderen Informationsquellen hatten und daher auf die Darstellung der Regierung angewiesen waren.

22

Premierminister Blair hat versprochen, diese Gepflogenheit abzuschaffen.

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Als die großen Befürworter der Geheimniskrämerei gelten (oder galten) im mer die Staatsbeamten.23 Dabei ist zu beachten, daß sie politisch neutrale Berater der Regierung sein sollen, deren Zusammenarbeit mit Ministern auf gegenseitiger Vertraulichkeit beruhen soll. Während der Ära Thatcher stellte sich aber die Frage, ob die Premierministerin eher engagierte Befürworter ihrer eigenen Politik als sachliche Berater wollte und ob gewisse Beamte bereit waren, ihre Neutralität aufzugeben. Ihr Pressesprecher Bernard Ingham, der vom Energieministerium in die Downing Street überwechselte, sowie ihr außenpolitischer Berater Sir Charles Powell machten immer den Eindruck, daß sie von den Thatcherschen Visionen begeistert waren. Andererseits waren gewisse Beamte mit den Anforderungen der Thatcher-Regierung höchst unzufrieden. Besonders erwähnenswert ist die Affäre Clive Ponting. Dieser Beamte gab einige die Darstellungen der Regierung in Zweifel ziehende Einzelheiten über die Versenkung des argentinischen Kriegsschiffes General Belgrano während des Falklandkrieges an den Labour-Abgeordneten Dalyell weiter und wurde unter den Vorschriften des .Official Secrets Act4 angeklagt. 1985 wurde er aber freigesprochen; die Geschworenen ließen sich wohl durch die moralischen Aspekte des Falles beeinflussen. Bis jetzt war fast ausschließlich von der Situation vor dem Wahlsieg der Labour Party am 1. Mai 1997 die Rede. Vor der Wahl hatte diese Partei ihr Interesse an verfassungspolitischen Veränderungen verkündet. Es soll jetzt mehrfach der Versuch gemacht werden, auf das Ausmaß dieser Veränderungen zu spekulieren. Dazu gehören die Parlamente für Schottland und Wales, die anderswo in diesem Band besprochen werden und eine erste Priorität für die neu gewählte Regierung darstellen. Im Zusammenhang mit diesem Beitrag ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß für diese Parlamente das Verhältniswahlrecht eingeführt werden soll. Es wird auch damit gerechnet, daß das Mehrheitswahlrecht bei Europawahlen abgeschafft wird. 24 Es ist schwer vorstellbar, daß dieser Bruch mit dem traditionellen Wahlsystem keine Folgen für die Parlamentswahlen haben wird. Die neue Regierung hat auch versprochen, den europäischen Kodex der Menschenrechte in die britische Gesetzgebung aufzunehmen. Diese Entscheidung hat bestimmt mit den vielen Fällen zu tun, in denen die vorherige konservative 23 Die politische Satire über das britische Regierungssystem Yes Minister wurde auch im deutschen Fernsehen gezeigt. Die Geheimnissucht des leitenden Beamten Sir Humphrey Appleby geht so weit, daß er auch alle möglichen Informationen vom Minister, dem er angeblich zu dienen hat, fernhalten möchte. 24 Bei Europawahlen 1994 werden die Abgeordneten aus Nordirland schon durch eine Art Verhältniswahlrecht gewählt: das einzige Beispiel eines solchen Verfahrens im Vereinigten Königreich.

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Regierung Urteile der europäischen Gerichte akzeptieren mußte, die nicht in ihrem Sinn waren. Das Urteil des Menschenrechtsgerichts führte z.B. dazu, daß die Prügelstrafe in britischen Schulen abgeschafft wurde. Der Europäische Gerichtshof brachte die Regierung Major durch seine Entscheidung in Rage, daß niemand gegen seinen Willen zu einer Arbeitswoche von mehr als 48 Stunden gezwungen werden könnte. Wenn man also eine Instanz nennen will, die die Macht der britischen Exekutive in den letzten zwanzig Jahren im Zaum gehalten hat, dann sind zunächst die verschiedenen europäischen Einrichtungen, zu erwähnen. Das heißt noch lange nicht, daß keine anderen Faktoren zu berücksichtigen sind. Das System der Nachwahlen, die allgemeine politische Kultur und die freie Presse sind alle wichtig, wenn man über Einschränkungen der politischen Macht der Exekutive in Großbritannien sprechen will. Aus Platzgründen sei hier nur auf die besonders interessante Rolle der Nachwahlen hingewiesen. Nachwahlen (by-elections) finden seit jeher statt, wenn ein Abgeordneter stirbt oder aus anderen Gründen das Parlament verläßt. Sie haben aber erst in den letzten ungefähr fünfzig Jahren an Bedeutung gewonnen. Im Jahre 1944 gewann der Kandidat der Labour Party White eine Nachwahl in einem ländlichen Teil der Grafschaft Derbyshire. Obwohl die Bedeutung dieses Sieges damals nicht anerkannt wurde, wird das Ergebnis jetzt als Vorbote des unerwarteten Triumphs von Labour im Jahre 1945 betrachtet. Ähnlich war der Sieg der Liberalen im Jahr 1962 im Londoner Vorort Orpington ein Zeichen, daß die Regierung von Harold Macmillan in große Schwierigkeiten geraten war. Danach wurden Nachwahlen immer mehr zu einem Medienereignis. Journalisten verließen ihre Londoner Büros und wollten sensationelle Wahlergebnisse selber ,vor Ort* erleben. Die Wähler, die sich durch die ihnen gewidmete Aufmerksamkeit vermutlich geschmeichelt fühlten, belohnten die angereisten Experten mit immer größeren Schlappen für die jeweilige Regierungspartei. Bis Anfang der neunziger Jahre hatte sich ein gewisses Muster etabliert; die Konservativen verloren (fast) jede Nachwahl, gewannen aber die verlorenen Nachwahlen bei der nächsten allgemeinen Wahl zurück. Das änderte sich aber nach 1992, als die Niederlagen bei Nachwahlen mit nur einer Ausnahme bei der 1997er Wahl bestätigt wurden. In diesem Fall erwiesen sich die Nachwahlen als mehr als politische »Eintagsfliegen4, die kurzfristig für Schlagzeilen zeugten. Auch vorher hatten Nachwahlergebnisse für Umschwünge gesorgt; Frau Thatcher wurde nach einer Niederlage in der früheren Hochburg Ribble Valley abgelöst. Es bleibt ziemlich schwer, die Bedeutung von Nachwahlen einzuschätzen. Auf alle Fälle stellen sie einen Schuß vor dem Bug einer überheblich gewordenen Exekutive dar. Wenn es aber um die permanente Einschränkung der Macht

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der Exekutive geht, sind Reformen der in diesem Beitrag dargestellten Strukturen viel wichtiger als Zufallsereignisse wie Nachwahlen. An den Ergebnissen solcher Reformen wird die Regierung Blair sicherlich im verfassungspolitischen Bereich gemessen werden. Auf einige geplante Veränderungen wurde schon hingewiesen. Die Reform des Oberhauses wurde, wie oben angedeutet, vertagt; bis jetzt wurde auch kein Informationsfreiheit garantierendes Gesetz vorgelegt, obwohl ein Weißbuch zu diesem Thema versprochen wurde. Es darf aber nicht vergessen werden, daß eine Wahlperiode in Großbritannien fünf Jahre beträgt. Andererseits bleibt festzuhalten, daß die bisherigen Strukturen des britischen Regierungssystems die Exekutive in einem sehr hohen Maße begünstigen. Selbst wenn europäische Instanzen oder politische Ereignisse manchmal die Regierung daran gehindert haben, alle ihre Wünsche durchzusetzen, zeigten die Jahre 1979 bis 1997 im großen und ganzen, wie sich eine machtbewußte Exekutive (man muß nur den Namen Thatcher erwähnen) durchzusetzen vermag. Die Oppositionsparteien haben dieses System kritisiert, genau wie Lord Hailsham seinerzeit. Wenn aber eine Partei selber an die Macht kommt, liegt die Versuchung nahe, von den Machtbefugnissen Gebrauch zu machen.25 In den ersten Wochen ihrer Amtszeit erweckte die Blair-Regierung schon erste Zweifel bei einigen Beobachtern. Die Berufung vieler politischer Berater, um der Regierung bei ihrer Arbeit zu helfen, wurde als Unterwanderung des Beamtenapparates kritisiert. Die Freiheit des einzelnen Abgeordneten, seinem Gewissen zu folgen, schien auch in Frage gestellt, als immer wieder betont wurde, daß Abgeordnete aufgrund des Wahlprogramms der Labourpartei gewählt wurden und deswegen verpflichtet sind, die Regierung zu unterstützen.26 Solche Vorkommnisse zeigen schon, daß die Attraktionen der durch das bisherige System ermöglichten Machtausübung nicht zu unterschätzen sind.

25 Man muß nicht so zynisch wie der Bruder des Premierministers Lloyd George sein, um zu einem solchen Schluß zu kommen. Dieser hatte behauptet, Politiker seien wie Affen. Je höher sie steigen, desto wahrscheinlicher komme etwas Widerliches zum Vorschein. 26

Besonderes Aufsehen erregte der Fall des walisischen Abgeordneten Llew Smith. Er behauptete mit Ausschluß aus der Parteifraktion bedroht worden zu sein, als er seine Absicht erklärte, eine Kampagne gegen das geplante Parlament in seinem Heimatland zu fuhren.

Das geteilte Königreich? Probleme der Demokratie im schottisch-englischen Verhältnis

Von Ian King

Zweiundsiebzig Stunden bleiben noch, um das Vereinigte Königreich zu retten, beschwor der leidgeprüfte Premierminister seine Landsleute. Schützen Sie die britische Nation vor dem Auseinanderfallen, appellierte John Major an englische, schottische und walisische Wähler am 28. April 1997. Sollten sie sich für nationale Parlamente in Schottland und Wales entscheiden, wie von der oppositionellen Labourpartei und den Liberaldemokraten empfohlen, sei das die Vorstufe zur unabwendbaren Trennung von England, zum Zusammenbruch Britanniens. 1992 hatte das Wahlvolk Majors These noch akzeptiert, aber fünf Jahre später ließ es sich von den düsteren Prophezeiungen nicht mehr schrekken. Im Gegenteil: am 1. Mai wurde die konservative Regierung von einem Feuersturm verschlungen. In England verlor die Major-Partei 152 Mandate. In Wales und in der schottischen Heimat des Verfassers kam es für sie noch schlimmer: von den sechs walisischen und elf schottischen Abgeordneten der Konservativen konnte kein einziger sein Mandat behalten. Zwei Nationen des Königreiches erklärten sich zu Tory-freien Zonen. Im folgenden wird untersucht, wie es zu einer derart radikalen Wende kommen und was sie über den gegenwärtigen Zustand der britischen Demokratie aussagt. Zum Schluß wird eine Prognose gewagt, ob es wirklich, wie vom ehemaligen Regierungschef befürchtet, demnächst zum geteilten Königreich kommt. Dazu sind jedoch sowohl eine Klärung der Begriffe als auch ein kleiner historischer Exkurs notwendig. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland besteht offiziell erst seit der Unabhängigkeit der Republik Irland 1922. Auf der britischen Insel gibt es erst seit 1707 die gemeinsame „Mutter der Parlamente" in London, vorher hatten die Schotten ein eigenes Parlament in ihrer Hauptstadt Edinburgh. Das Wort Britannien gilt den meisten (außer der Mehrheit der protestantischen Nordiren, die den Anschluß an den Süden ablehnen und beim Mutterland verbleiben wollen ) nicht als Identifikationsbegriff,

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sondern eher als verwaltungstechnisches Etikett. Schotten und Waliser fühlen sich im Herzen eben als Schotten und Waliser, erst in zweiter Linie als Briten, und überhaupt nicht als Engländer. Ein Beispiel aus dem Sportbereich: Als bei der Fußballeuropameisterschaft 1996 im Wembley-Stadion der englische Spieler Gareth Southgate im Halbfinale den entscheidenden Elfmeter verschoß, stöhnte ganz England, außer den dort wohnenden Schotten und Walisern, die in Freudentränen ausbrachen, dem deutschen Torwart Denkmäler in Glasgow oder Swansea versprachen und die Niederlage der Engländer mit reichlichem Whiskygenuß feierten. Ein kurzer Rückblick auf die schottische Geschichte belegt die Tatsache, daß das Volk zwar seit fast dreihundert Jahren keinen unabhängigen Staat besitzt, aber nichtsdestotrotz eine eigenständige Nation geblieben ist mit dem „Gefühl und Bewußtsein der Besonderheit, Eigenwertigkeit und politischer Zugehörigkeit, die auf gemeinsamer Abstammung, Lebensraum, Traditionen, Sprache und Kultur zurückgehen". (Die Definition stammt vom Politologen Reinhard Beck.)1 Es gibt bei den meisten Schotten einen gemeinsamen historischen Fundus, der zwar nicht die gesamte Geschichte des Landes ausmacht, wohl aber das Verhältnis zum englischen Nachbarvolk verdeutlicht. Wenn ich auszugsweise und vereinfacht daraus zitiere, ist damit kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden, sondern es geht hier um den Versuch, das manchmal auch irrende und selektive, aber trotzdem wichtige Volksgedächtnis aufzuzeigen. Mit Stolz erinnern sich die Schotten an den jahrhundertelangen Kampf gegen England. An den ersten Nationalhelden William Wallace, der im Unabhängigkeitskrieg 1297 die Engländer an der Stirling Bridge bezwang, aber acht Jahre später an den Feind verraten und im Namen der englischen Zivilisation gehängt, gerädert und sicherheitshalber gevierteilt wurde. (An sein Leben erinnert auch der Hollywood-Film „Braveheart", der mit einem australischen Star in Irland verfilmt wurde.) Die Schotten wissen ebenfalls Bescheid über Wallaces Nachfolger Robert Bruce, der sich nach ersten Niederlagen vor den Engländern in einer Höhle verstecken mußte und dabei laut Legende zusah, wie eine Spinne immer wieder versuchte, ihr Netz zuzuknüpfen, bis es ihr beim siebten Mal gelang. Von diesem Beharrungsvermögen inspiriert, kämpfte Bruce weiter und gewann 1314 den berühmtesten Sieg der schottischen Geschichte, indem er und seine Soldaten eine mehr als viermal stärkere englische Armee bei Bannockburn vernichtete und damit für fast vierhundert Jahre die Unabhängigkeit Schottlands durchsetzte. Im Mittelalter verbündeten sich Schotten und Franzosen gegen England, bis Mitte des 16. Jahrhunderts die Mehrheit meiner Lands1

Reinhart Beck, „Nation", in: „Sachwörterbuch der Politik", 2. erweiterte Auflage 1986, S. 617.

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leute zum Protestantismus kalvinistischer Prägung übertrat. Die katholische Königin Maria Stuart floh ins Nachbarland und wurde von ihrer Kusine Elizabeth als Zeichen der Fortschritte der englischen Zivilisation weder gerädert noch gevierteilt, sondern nur geköpft, was Schiller zu einem seiner Meisterwerke inspirierte. Im Volksgedächtnis bleibt auch haften, wie es 1603 zur Vereinigung der schottischen und englischen Königshäuser kam, indem die Schotten ihren König James VI. auch zum englischen Monarchen krönen ließen, nicht umgekehrt, und wie 1707 das Edinburgher Parlament sich für englisches Geld auflösen und abschaffen ließ. (Die Geschichte von parlamentarischem „Sleaze", dem Kaufen von Abgeordneten mit gebrauchten Banknoten in braunen Kuverts, wurde nicht erst von John Majors Hinterbänklern und Ministern erfunden!) Als nächstes wissen die Schotten von Bonnie Prince Charlie zu erzählen, einem Enkel des letzten katholischen Königs; Charles war ein romantischer Abenteurer, der eine Armee von Hochländern zusammenrief, monatelang in Edinburgh regierte, südlich bis nach dem mittelenglischen Derby marschierte und das Königshaus der Hannoveraner in London erzittern ließ. Am Ende wurde dieser letzte Stuart-Sproß 1746 bei Culloden geschlagen, seine Hochländer wurden von den Eroberern erschossen und ihre Häuser angezündet: die ethnische Säuberung in Reinkultur. Daraus ist zu ersehen, daß es bei dem Mißtrauen der Schotten gegenüber den Engländern um etwas mehr ging als um Freuds verharmlosenden Begriff des „Narzißmus der kleinen Differenzen", der ähnliche Feindschaften zwischen kleineren und größeren Nachbarn erklären soll.2 Hier handelt es sich um erlittene und unvergessene Unbill, um Jahrhunderte der Rivalität, der Kriege und der Unterdrückung. Zum Unrechtskatalog gehören auch die „Highland Clearances", als Ende des neunzehnten Jahrhunderts arme Pächter aus dem Hochland von Haus und Hof vertrieben wurden, um für die profitablere Schafzucht Platz zu machen. Proletarier im Glasgower Industriegebiet wurden von englischen Kapitalisten ausgebeutet, das Sündenregister ließe sich beliebig verlängern. Aber gegen die einseitige Verteufelung der Engländer muß Einspruch erhoben werden. Die Ausbeutung ging nicht nur von Engländern aus, wie von allzu nationalistisch gesinnten Geschichtsklitterern behauptet. Auch Schotten zählten selbstverständlich zu den Fabrik- und Großgrundbesitzern, drangsalierten das eigene Volk. Etliche der nationalen Säulenheiligen haben in den Augen von halbwegs objektiven Historikern ebenfalls einiges auf dem Gewissen. Robert 2 Sigmund Freud, „Abriß der Psychoanalyse und das Unbehagen in der Kultur41, Frankfurt 1972, S. 104.

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Bruce kämpfte nicht nur an der Seite von Wallace, sondern auch für die englischen Besatzer gegen ihn und erstach einen anderen Rivalen, John Corny η, ausgerechnet am Hochaltar der Franziskanerkirche von Dumfries. Charles Edward Stuart, während seiner Regentschaft von den meisten Landsleuten aufgrund seines Katholizismus abgelehnt, verriet nach seiner Niederlage sowohl seine Religion als auch seine Getreuen und ergab sich am französischen Hof dem sehr unromantischen Suff. Und Schotten profitierten mit von der Ausbeutung des britischen Kolonialreiches, dienten ihm als Entdecker und Verwaltungsbeamte, Missionare und Soldaten. Wer beim schottisch-englischen Verhältnis Schwarzweißmalerei betreibt, vereinfacht unsere gemeinsame Geschichte; aber wer die Zusammenarbeit idealisiert und die Konflikte außer acht läßt, wie John Major beim mißverstandenen Appell an die angebliche „britische Nation", trifft den Kern auch nicht. Es wurde also aufgezeigt, wie trotz des fast dreihundert Jahre bestehenden gemeinsamen Staates Schotten und Engländer einander in herzlicher Feindschaft verbunden sind. Ganz abgesehen von den vielen Kriegen der Vergangenheit beruht der britische Staat auf einem gefährlichen Ungleichgewicht: Fünfeinhalb Millionen Schotten stehen einer zehnfachen Überzahl von Engländern gegenüber. Welches Volk in Britannien das Sagen hat und wer zu ohnmächtigen Ressentiments neigt, ist leicht zu ersehen. Doch solange es dem britischen Weltreich gutging, gab es kaum Unabhängigkeitsbestrebungen im Norden. Im viktorianischem Zeitalter bezeichnete man Schottland als „Nordbritannien", eine wichtige Eisenbahngesellschaft trug bis 1923 den gleichen Namen. Das scheinbare Aufgehen Schottlands in die britische Identität änderte sich jedoch mit dem Untergang des Empire und dem langsamen Abstieg der traditionellen schottischen Schwerindustrie in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Zuerst dachte eine Mehrheit, die altmodischen Konservativen vom Schlage eines Sir Alec Douglas-Home, der von der Moorhuhnjagd mehr verstand als von der Volkswirtschaft, seien an dem Niedergang schuld, sie wählten die Tories ab und brachten Harold Wilsons Labourpartei an die Macht, die angeblich an die „weißglühende Hitze der Technologie" glaubte (So Wilson auf dem Labour-Parteitag von 1963.). Man hoffte, Labour würde den schwierigen Umstellungsprozeß, wenn nicht aufhalten, so doch wenigstens durch die Ansiedlung neuer Industrien weniger schmerzlich gestalten können. Als dies trotz einer haushohen Unterhausmehrheit nicht gelang, besann sich eine vorerst kleine, mit den Londonern Großparteien unzufriedene Minderheit auf das alte Streben von Wallace und Bruce nach nationaler Unabhängigkeit. Ein Großteil des früheren Kolonialreiches hatte sich mittlerweile von England losgesagt. Die frohe Kunde von riesigen Ölvorräten in der Nordsee beflügelte die kühnsten Phan-

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tasien der bisher bedeutungslosen Schottischen Nationalisten Partei (SNP), die den Erlös aus dem Ölvorkommen für die fünf Millionen Schotten statt für alle Briten beanspruchte. „Es ist unser Öl", plakatierte die Partei Anfang der siebziger Jahre und hoffte auf eine Umkehrung des traditionellen Verhältnisses zu den Nachbarn: „Arme Engländer und reiche Schotten". Von nur einem Mandat 1970 stieg die SNP im Oktober 1974 auf elf der 71 schottischen Parlamentssitze und gewann fast dreißig Prozent aller dort abgegebenen Stimmen. Die Forderung nach Unabhängigkeit konnte nicht mehr einfach ignoriert werden. Damit sind wir nach der schnellen Darstellung von siebenhundert Jahren schottischer Geschichte beim Hauptthema. Sollten die parlamentarischen Institutionen Britanniens im Status Quo verharren, wie von den Konservativenführern Thatcher und Major gefordert? Sollte sich Schottland von London vollständig lösen, ein unabhängiges Mitglied der EG und der EU werden, wie es die Nationalisten verlangten? Oder gab es eine praktikable Zwischenlösung mit einem autonomen schottischen Parlament in Edinburgh, aber auch mit schottischen Abgeordneten in Westminster: „Devolution", also die Autonomie-Option, die von Labour und den Liberaldemokraten befürwortet, von Tories und Nationalisten aus entgegengesetzten Gründen abgelehnt wurde? Der konservative Glaube an den Status Quo ließ sich mit dem Argument einer langjährigen Tradition verteidigen. Wenn etwas nicht gebrochen ist, soll man es nicht reparieren, hieß es bei den Rechten. Aber bei den radikalen Reformern der Thatcherregierungen klangen solche Worte merklich verzagt, und auch die allermeisten Schotten akzeptierten nicht, daß sie in der besten aller möglichen Welten lebten. Von den Übrigen fühlte sich eine Minderheit angesichts der englischen Bevormundung so frustriert, daß sie die Unabhängigkeit anstrebten. Aber noch empfanden die Meisten Abscheu gegenüber dem primitiven Englandhaß der Nationalisten, zweifelten auch an deren Fähigkeit, eine freundschaftliche Trennung von England auszuhandeln. Ein nach innen gekehrtes Land wie das Irland de Valeras wirkte eher als abschreckendes Beispiel; die Schotten mußten mit den Engländern die gleiche Insel bewohnen, wollten sich nicht vollständig von ihnen loslösen. Als schottische Mehrheitspartei seit 1964 hatte Labour durch einen Sieg der Nationalisten das Meiste zu verlieren. Bei drei von vier Wahltriumphen zwischen 1964 und 1974 war sie in England zweiter Sieger und wäre ohne ihre stattliche schottische Landesgruppe in der Opposition geblieben. Trotz des Widerstands einiger Traditionslinken, denen die nationale Frage zweitrangig schien, arbeitete die Partei 1978 den Plan eines halbautonomen Parlaments in Edinburgh aus. Kompetenzen im Bildungs- und Gerichtswesen, die Verwaltung

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des Gesundheitssystems und der Gefängnisse lagen ohnehin schon beim Sonderminister für Schottland im Londoner Kabinett: Was wäre logischer und demokratischer, als diese Zuständigkeiten einem gewählten schottischen Parlament zu übertragen? Nach Meinung der Reformfreunde um John Smith und Donald Dewar war dies eine gerechte Lösung, die obendrein einen weiteren Abmarsch der Wähler zu den Nationalisten verhindern könnte. Aber dieser erste Versuch, die Kluft zwischen den Wählern und ihren schottischen Repräsentanten zu überbrücken, schlug fehl. Für die Nationalisten besaß die geplante Versammlung bei weitem nicht genug Kompetenzen, zumal sie keine zusätzlichen Steuern erheben durfte. Für die Konservativen unter der eingefleischten Zentralistin Thatcher gingen die Labourvorschläge dagegen viel zu weit. Und die Skeptiker in den Labour-Reihen setzten die Autonomie-Anhänger gehörig unter Druck. So mußte das Autonomiegesetz nicht nur vom Parlament verabschiedet, sondern auch den Wählern in einer Volksabstimmung vorgelegt werden, bei der nicht nur fünfzig Prozent der abgegebenen Stimmen erforderlich waren, sondern auch die Unterstützung von mindestens vierzig Prozent aller Wahlberechtigten. Obwohl im Frühjahr 1979 52 Prozent der tatsächlich Wählenden für die Autonomievorlage stimmten, reichte die Zahl angesichts der zusätzlichen Wahlberechtigtenklausel nicht. Damit war nicht nur der erste Autonomie-Plan, sondern auch die Labour-Regierung gescheitert. Enttäuschte Liberale und Nationalisten boten der Tory-Opposition ihre Unterstützung an, das Kabinett Callaghan verlor ein parlamentarisches Mißtrauensvotum und die vorgezogenen Neuwahlen von April 1979. Es begannen achtzehn Jahre konservativer Herrschaft. Nun war das Geburtsland des Ökonomen Adam Smith und des Unternehmers Andrew Carnegie kein von vornherein den Tories feindlicher Landstrich. 1955 hatten sie gar mehr als 50 Prozent der in Schottland abgegebenen Stimmen bekommen. Konservative Offiziere a. D. und Landwirte vertraten die spärlich besiedelten Hochland Wahlkreise mit ihrer gälisch sprechenden Bevölkerung; Rechtsanwälte oder rechte Populisten wie der Glasgower Europafeind Teddy Taylor hielten die wohlhabenden Vororte fest in der Hand. Aber unter dem Aristokraten Douglas-Home hatte die Partei das Image eines altmodischen Großgrundbesitzervereins bekommen, Labour und die Nationalisten schienen jünger und dynamischer. Ein weiteres Problem für die Konservativen lag in dem in allen Umfragen bestätigten Glauben der meisten Schotten an Werte wie Zusammenarbeit, Solidarität, Hilfe für die Schwachen durch den Sozialstaat. Als Margaret Thatcher an die Macht kam, bestand sie hingegen darauf, daß es die Gesellschaft als solche gar nicht gab, sondern nur Einzelne und ihre Fa-

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milien.3 Eine derartige Verherrlichung des engsten Egoismus mag in den Ohren des gutverdienenden südenglischen Bürgertums verführerisch geklungen haben; die meisten Schotten dachten anders. Später verstieg sich die Premierministerin vor der Generalversammlung der schottischen Kirche zu einer Neuinterpretation der Parabel vom barmherzigen Samariter: Dieser habe dem Verletzten helfen können, weil er Geld gehabt habe.4 Das klang sogar in nichtreligiösen Ohren wie Blasphemie. Thatchers Freund-Feind-Sicht, ihre übertriebene Selbstsicherheit waren für die große Mehrheit der Schotten wie ein rotes Tuch. Dazu kamen direkte und verhängnisvolle Folgen ihrer Wirtschaftspolitik, die das Land in seinen Grundfesten erschütterten. Die traditionelle Schwerindustrie, meinte sie, sei nicht mehr zu retten, dafür werde der Dienstleistungssektor die Entlassenen wieder in Lohn und Brot setzen. In der Rezession von 1980-81 brach die schottische Stahlindustrie zusammen, die meisten Werften am Clyde gingen in Konkurs, das einzige Autowerk Linwood machte ebenfalls pleite. Nach einem verzweifelten Abwehrkampf im Bergarbeiterstreik 1984-85 wurden auch fast alle Zechen dichtgemacht. Trotz dem Thatcher-Versprechen boten jedoch weder neue Computer-Fabriken noch McDonalds-Filialen genügend neue Arbeitsplätze. Es kam noch schlimmer. Die anderen wirtschaftlichen Reformen ihrer Regierungen (Privatisierungen, Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich, Steuerreduzierungen für Reiche, sinnloses Vergeuden von mehr als 100 Milliarden Pfund aus dem Erlös des Nordseeöls) ließen die meisten Schotten schaudern. Von 22 Abgeordneten im Jahre 1979 sanken die schottischen Tories acht Jahre später auf zehn; Labour gewann nördlich des Tweed fünfzig Sitze. Eine immer gefährlichere Dissonanz entstand zwischen dem Wählerverhalten in beiden Landesteilen. Während Labour immer mehr zu einer Partei des „keltischen Randes", also von Schottland und Wales, geriet, regierten die Konservativen dank der Ünterstützung von „middle England", der Mehrheit des gutverdienenden Bürgertums, unangefochten weiter. Das demokratische Defizit Britanniens weitete sich aus: fünf Millionen Schotten wurden von einer Partei regiert, die bei ihnen kaum mehr als zwanzig Prozent der Stimmen bekam. Nun könnten Deutsche hier einwenden, es sei in der Demokratiie normal, daß einige Regionen anders abstimmen als die Mehrheit und daher unter einer ungeliebten Zentralregierung leben müssen. Bayern wählte nie SPD, mußte sich aber mit der sozialliberalen Koalition unter Brandt, Schmidt und ab 1998 mit 3 So Thatcher in einem Interview in der Frauenzeitschrift „Woman's Own", 31. Oktober 1987, zitiert in Hugo Young , „One of Us. A Biography of Margaret Thatcher", London 1990, S. 490. 4

425.

Rede auf der Generalversammlung der schottischen Kirche, Mai 1988. Vgl. Young , a.a.O. S.

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Schröder in Bonn abfinden. In Nordrhein-Westfalen hat die CDU seit 1966 nicht viel zu melden, aber das hinderte Helmut Kohl nicht daran, auch im Namen der Dortmunder zu sprechen: Mehrheit ist Mehrheit. Diese Sicht der Dinge läßt jedoch nicht nur das zumindest umstrittene britische Wahlrechtssystem außer Betracht, das einer Vierzigprozentpartei mit einer satten Mehrheit von sechzig Prozent der Mandate ausstattet. Sie vergißt ebenfalls, daß Bayern und Nordrhein-Westfalen eigene Parlamente und Landesregierungen besitzen. In Britannien gibt's nichts dergleichen: Die Briten leben in den Worten des früheren Lordkanzlers Hailsham in einer „gewählten Diktatur". 5 Als beispielsweise die sieben gewählten Regionalräte für die englischen Ballungsgebiete (Metropolitan Councils) Thatchers Politik kritisierten, schaffte die Premierministerin sie 1986 kraft ihrer erdrückenden Unterhausmehrheit kurzerhand ab. Seitdem war London lange Zeit die einzige westeuropäische Hauptstadt ohne gewählte Selbstverwaltung. In dieser Hinsicht hatten die Schotten nichts zu verlieren, wohl aber bekamen sie als erste das Vergnügen, die Kopfsteuer (poll tax) zahlen zu dürfen. Unter dieser besonders sozialen Maßnahme zahlte jeder, ob Herzog oder Küchenmädchen, genau die gleiche Kommunalsteuer am gleichen Ort. (Es soll auf Neuguinea eine ähnlich progressive Steuer existieren, aber das ist wahrscheinlich eine Beleidigung der Südseeinsulaner.) 1989 führte Thatcher die Kopfsteuer probeweise in Schottland ein, erst ein Jahr später in England. Kopfsteuer statt Parlament; das würde den halsstarrigen Schotten zeigen, daß man nicht unbestraft Labour wählte. Es kam, wie es kommen mußte. Wegen der verhaßten neuen Steuer und ihrer rabiaten Europapolitik wurde Thatcher von der Tory-Fraktion im Unterhaus gestürzt. Auch die neue Steuer wurde von ihrem Nachfolger abgeschafft. Doch war John Major keineswegs bereit, Schotten oder Waliser mit der Schaffung neuer Parlamente zu beglücken, sondern beharrte starr auf Ablehnungskurs. Wie anfangs angedeutet, gewann er zunächst durch diese Härte: englische Wähler bewunderten sein kompromißloses Eintreten für den Weiterbestand des Königreiches, und sogar in Schottland stieg der konservative Wähleranteil auf 25 Prozent. Majors elf Abgeordnete regierten weiter das Land. Labour hatte 49 Mandate, war aber wegen der konservativen Mehrheit in England noch einmal machtlos. Würden die ungeduldigen Schotten jetzt mit fliegenden Fahnen zu den Nationalisten überlaufen? Daß dies nicht geschah, verdankte Labour in erster Linie ihrem neugewählten Vorsitzenden John Smith. Dem schottischen Rechtsanwalt gelang es, eine breite Koalition für die Schaffung des Parlaments als Mittelweg zwischen Unabhän5

Vgl. die Ausführungen von Stuart Parks in diesem Band.

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gigkeit und Machtlosigkeit herzustellen. Labour und Liberaldemokraten, Gewerkschaftler und Kirchenvertreter gründeten den schottischen Verfassungskonvent, tagten unter dem Vorsitz des parteipolitisch neutralen Pfarrers Kenyon Wright, entschieden sich einstimmig für ein durch Verhältniswahlrecht gewähltes Parlament, das nicht nur die Bildungspolitik verwalten, sondern auch einen Zusatzbetrag zur Lohnsteuer erheben dürfen sollte, um damit beispielsweise die Industrieansiedlung zu fördern oder mehr Mittel für den Bildungs- oder Gesundheitsbereich zu bekommen. Smith, Liberaldemokratenchef Ashdown und Gewerkschaftsführer Campbell Christie gaben ihren Segen. Nationalistenführer Alex Salmond hingegen verwarf die geplante Institution als schwach und zahnlos, und der konservative Schottenminister Forsyth lehnte das Edinburgher Parlament in Bausch und Bogen ab, weil es angeblich Steuererhöhungen unter Labour-Herrschaft beschließen würde: er sprach dabei von einer „Tartansteuer", die allen Schotten angeblich bevorstand. Aber fürs erste schien das Volk bereit, dem Konsensurteil ihres Konvents zu folgen. Angesichts des großen Labour-Vorsprungs in allen Meinungsfragen schien der Widerstand der nationalistischen und konservativen Minderheiten ohne Chance. Im Mai 1994 starb John Smith an einem Herzinfarkt. Nachfolger wurde Tony Blair, ebenfalls gebürtiger Schotte, aber diesmal kein grundsätzlich überzeugter Anhänger der Autonomie. Stattdessen wollte Blair vor allem die Wechselwähler von Middle England, nicht die Stammwähler von Glasgow für seine Partei gewinnen. Die Tories drohten damit, das von Labour eventuell errichtete Parlament nach ihrer Rückkehr zur Macht wieder abzuschaffen. Also konzedierte Blair den Schotten eine erste Volksabstimmung vor Gründung des Parlaments, um ihm mehr Legitimität zu verleihen und ihre Abschaffung zu verhindern. Das schien den meisten Schotten akzeptabel. Aber weil er den Engländern versprochen hatte, ihre Steuern keineswegs zu erhöhen, bot er den Schotten eine zweite Abstimmung über die schon längst entschieden geglaubte Frage, ob das neue Parlament die Lohnsteuer in Schottland erhöhen dürfe. Ein Parlament ohne diese Befugnis wäre den meisten nur als Schwatzbude vorgekommen. Labours Partner im Konvent, die Liberaldemokraten, Gewerkschaftler und Kirchenvertreter befürchteten, daß der mühsam ausgehandelte Kompromiß verraten werden sollte. Als Blair die zweite Abstimmung als zu kompliziert strich, dafür aber ein einziges Referendum mit zwei Fragen vorschlug („Sind Sie für die Errichtung eines Parlaments? Soll dieses Parlament die Lohnsteuer in Schottland erhöhen dürfen?"), war die Verwirrung über Labours Politik vollständig. Wollte Blair durch bewußt-naives Taktieren das ganze Projekt sabotieren, fragten sich nicht wenige im Herbst 1996. Noch einmal stolperte Blair mitten im Wahlkampf über das Thema Parlament und Steuern, indem er das 39 Timmermann / Gruner

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Steuererhöhungsrecht befürwortete, aber gleich einschränkte, schließlich dürfe auch der kleinste englische Gemeinderat kommunale Steuern erheben. Der Vergleich beleidigte Blairs eigene Anhänger und die schottische Presse, die ihn daran erinnerte, ein Parlament sei mehr wert als ein popeliger Gemeinderat. Statt sich für den mißglückten Vergleich zu entschuldigen, setzte er auf den groben Klotz einen noch gröberen Keil. Natürlich würde er bei der Volksabstimmung für das Steuererhöhungsrecht plädieren, erzählte Blair der Edinburgher Tageszeitung „The Scotsman";6 aber die neue Labour-Fraktion würde von der angestrebten Kompetenz keinen Gebrauch machen. Ja zur Möglichkeit, nein zur Absicht, die Steuern zu erhöhen: treue Labour-Anhänger zerbrachen sich den Kopf, wie diese Zickzacklinie den Wählern zu vermitteln sei. Forsyth und Salmond dagegen frohlockten: Labour schien sich in die Schottland-Falle hineinmanövriert zu haben. Zu allem Überfluß brandmarkte Major die Autonomiepläne als verhängnisvolle Vorboten der bevorstehenden Teilung Britanniens; morgen würde es nationale Parlamente geben, übermorgen Enttäuschungen und Streit zwischen den Vertretern der drei Völker, nächste Woche die unvermeidlichen Siege der Nationalisten und nächsten Monat, ο Graus, drei völlig unabhängige Staaten. Der Druck auf Blair stieg: war die widersprüchliche Labourposition noch zu retten? In den frühen Morgenstunden des 2. Mai kam eine Antwort, die an Deutlichkeit nicht zu überbieten war. Labour triumphierte, begrub die Konservativen unter einen politischen Erdrutsch. Erstmals seit 1966 gewann die gleiche Partei die Mehrheit in England, Wales und Schottland. Das Alptraumszenario von den beiden keltischen Völkern, die sich wegen der englischen Übermacht wieder unters Tory-Joch beugen mußten, verschwand. Im Vergleich zu 1992 gewann Labour im ganzen Land 146 Sitze hinzu; bei ihrem letzten Wahlsieg 1974 hatte sie sich um mickerige 18 Sitze verbessert. Die Konservativen verloren 178 Mandate. In Südengland, den wohlhabenden Vororten Londons, in Mittelengland, Lancashire und Yorkshire brach der konservative Wähleranteil zusammen. Vorreiter blieben jedoch wieder die Waliser und die Schotten. Die hellblauen Flecke auf der politischen Landkarte, die einen konservativen Wahlkreis symbolisiert hatten, färbten sich rot für Labour, gelb für die Liberaldemokraten oder grau für die Nationalisten. Weder der Bekanntheitsgrad der Kandidaten noch der bisherige Tory-Vorsprung schützte sie vor der Lawine; prominente Kabinettsmitglieder wie Außenminister Malcolm Rifkind, Handelsminister Ian Lang und Schottenminister Forsyth blieben auf der Strecke. Fürs erste hatte für Schottland die Autonomieoption gewonnen. Wie war das gekommen? 6

„The Scotsman", April 1997.

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Als erstes muß gesagt werden, daß Regierungen mehr Wahlen verlieren, als sie Oppositionsparteien gewinnen. Majors konservative Riege wirkte nach achtzehn Jahren verbraucht, ohne zukunftsträchtige Ideen, in der Europa-Frage zutiefst gespalten, im Wahlkampf selbstgefällig und negativ. Keine Partei regiert von Gottes, sondern nur von Volkes Gnaden. Blair hingegen konnte sich von dem unseligen Gemeinderat-Vergleich erholen, sprach beim nächsten Schottland-Besuch lieber vom gefährdeten Gesundheitsdienst und anderen Tory-Defiziten im sozialpolitischen Bereich, vermied über das umstrittene Autonomie-Thema jedes Wort. Paradoxerweise gewann Labour in Schottland vor allem deswegen, weil sie sich in den letzten Wochen vor der Wahl auf britische, nicht auf schottische Fragen konzentrierte. Mit siebzehn Prozent und null Abgeordneten nördlich des Tweed wird es den Tories im Westminster-Parlament nicht gelingen, das von Labour und Liberaldemokraten unterstützte Gesetz zur Errichtung des Edinburgher Parlaments zu verhindern. Die neue Regierung zögerte nicht, ihre Versprechungen einzuhalten. Schottenminister Dewar, Autonomie-Anhänger seit dreißig Jahren, brachte Ende Juli 1997 das Weißbuch „Scotland's Parliament" heraus und kündigte die Volksabstimmung für den 11. September an. Darin sollten seine Landsleute befragt werden, ob sie ein Parlament schaffen wollten, das für das Bildungswesen, für Justiz-, Wohnungsbau-, Verkehrs- und Landwirtschaftpolitik sowie für Fragen der regionalen Wirtschaftsentwicklung zuständig sein sollte. Sie sollten auch darüber befinden, ob das Parlament die Lohnsteuer in Schottland um bis zu drei Prozent im Vergleich zu England erhöhen dürfe. Dagegen sollten alle übrigen Wirtschafts- und Währungsfragen, die Außen- und Verteidigungspolitik und weitere Verfassungsfragen noch von Westminster entschieden werden. Die Zahl der schottischen Abgeordneten in London sollte bis zur übernächsten Wahl im Jahre 2007 von 72 auf ca. 60 reduziert werden. Dafür sollte das Land sowohl ihren Sonderminister im Londoner Kabinett behalten als auch einen neuen, vom Edinburgher Parlament gewählten „Ersten Minister" erhalten. Abgesehen von den Konservativen, die De wars Vorschläge wütend ablehnten, lobten Vertreter der übrigen Unterhausparteien das Weißbuch. Allgemein wird damit gerechnet, daß die Volksabstimmung (wenn auch möglicherweise bei relativ geringer Wahlbeteiligung) klar zugunsten des neuen Parlaments und ihres Steuererhöhungsrechtes ausgeht. Kurzfristig liegen die meisten Probleme bei der SNP, die sich vor der Volksabstimmung entschied, daß sie die von ihren Gegnern ausgearbeitete Autonomie gutheißen wollte. Wahrscheinlich hoffen ihre Führer, daß das komplizierte Verhältnis zwischen dem Edinburgher und dem Londoner Parlament und die Kompromisse, die von einer durch Verhältniswahlrecht gewählten LabourJ9*

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Fraktion in Schottland eingegangen werden müssen, die Wähler verunsichern und die SNP stärken werden. Wenn aber eine britische Regierung 56 von 72 Sitzen in Schottland und 419 in ganz Britannien gewinnt, dürfte sie auf absehbare Zeit die politische Initiative behalten. Die Oppositionshunde kläffen, aber die Autonomie-Karawane geht weiter. Könnte John Major jedoch mit seinen Warnungen am Ende recht behalten? Von den ursprünglichen Plänen, in den englischen Regionen ebenfalls Versammlungen einzurichten, rückt Labour vorsichtig ab, einen Bundesstaat Britannien wird es nicht geben. Damit gewinnen konstitutionelle Themen wie die berüchtigte „West Lothian-Frage" neue Nahrung: Warum dürfte nach Einrichtung des schottischen Parlaments ein Glasgower Abgeordneter über englische Schulpolitik in Westminster abstimmen, ein Abgeordneter aus Surrey über schottische Schulpolitik nicht? (Die Antwort: „Weil die schottischen Schulen weniger reformbedürftig sind", dürfte auf Dauer nicht ausreichen.) Und was ist, wenn das schottische Parlament und die viel schwächere walisische Versammlung in Cardiff mehr Kompetenzen beanspruchen als vorgesehen, weil der Appetit bekanntlich beim Essen kommt? Oder wenn die neuen Volksvertretungen, von denen Schotten und Waliser sich so viel erhoffen, ihre wirtschaftliche Lage nicht so schnell verbessern können? Weil bisher niemand mit einem so eindeutigen Labour-Sieg gerechnet hat, sind solche Fragen im Wahlkampf kaum gestellt worden; das könnte sich jedoch bald ändern. Andererseits wäre es falsch, das neue Parlament schon vor dessen Errichtung abzuschreiben. Als bürgernahe Vertretung könnte es der im Maastrichter Vertrag erhobenen Forderung nach größerer Subsidiarität Ausdruck verleihen. Es hätte auch die Chance, den Kontakt zwischen Schottland und den EU-Institutionen in Brüssel enger zu knüpfen, ein Vorteil, der von den Ländervertretern und -lobbyisten der Bundesrepublik bisher viel besser ausgenutzt wurde. Wenn das Edinburgher Parlament das Vertrauen der schottischen Bevölkerung gewinnt und vor allem die Industrieansiedlung erfolgreich betreibt, könnte es gar etliche englische Regionen zur Nachahmung reizen: So hat Labour den Londonern bereits eine Volksabstimmung über die Errichtung eines Stadtparlaments samt direkt gewähltem Oberbürgermeister versprochen und damit mehr Eigenverantwortung als die Metropole durch Thatchers Eingriff 1986 verlor. Yorkshire und Nordostengland, die eine eigenständige regionale Kultur haben, könnten folgen. Auch wenn man einem anderen Land den Föderalismus nach deutschem Muster nicht wie eine Käseglocke überstülpen kann, könnte der übertriebene britische Zentralismus durch die stärkere Betonung regionaler Interessen aufgeweicht und erträglicher gestaltet werden. Da knapp die Hälfte der Edinburgher Abgeordneten durch eine Variante des Verhältnis Wahlrechts gewählt wird, mei-

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nen Anhänger dieses in Britannien noch unüblichen Wahlrechts, daß es sich nördlich des Tweed bewähren und eines Tages auch das Westminster-Parlament demokratischer machen könnte: Ob Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht vorzuziehen sei, liegt jedoch außerhalb dem Themenbereich dieses Aufsatzes. Paradoxerweise bietet die Autonomie auch den aus Westminster, Straßburg und den schottischen Rathäusern vertriebenen Konservativen die Chance, durch das zu schaffende Parlament zu profitieren, sofern sie ihr Neinsagen aufgeben. Ihre Ausgangslage mit nur 17 Prozent der Stimmen ist schwach, und der neue Parteivorsitzende William Hague will fürs erste an der alten, unfruchtbaren Politik festhalten: Nein zum Parlament, nein zu Steuererhöhungen. Aber schottische Parteireformer wie Whisky-Brenner Arthur Bell und der Fraktionschef im Edinburgher Rathaus Brian Meek haben auf Dauer die besseren Argumente. Wenn sich die Wähler für die Schaffung des Parlaments entscheiden, will Hague selbstverständlich dafür Kandidaten ins Rennen schicken.7 Die erste Wahl zur neuen Volksvertretung fällt 1999 oder 2000: mitten in der Legislaturperiode, also zum ungünstigsten Zeitpunkt für Labour. Das Verhältniswahlrecht, das die Teilnahme von Abgeordneten der Minderheitsparteien garantiert, würde diesmal den Tories zugutekommen. Die damit verbundene Regenerierungsmöglichkeit für die Konservativen könnte zur größten Ironie der ganzen Autonomiedebatte werden. Auf alle Fälle kann John Majors apokalyptische Vision fürs erste als erledigt gelten: Unter seinem Nachfolger Blair wird Britannien gerade durch die Überwindung des allzu starren Zentralismus nicht zum geteilten, sondern zum wiedervereinigten Königreich.

7

So Hague in einem Radio-Interview, „The World This Weekend", 27. Juli 1997.

Demokratischer Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland Konzeptionen und Probleme aus britischer Sicht

Von Marianne Howarth

I. Einleitung und Problematik

In den letzten Jahren sind die Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland auf staatlicher Ebene durch eine Verschlechterung gekennzeichnet, von der sie sich nur langsam und mühsam erholen. Beispiele für diese Verschlechterung sind in jeder Menge vorhanden: Thatcher und die deutsche Widervereinigung, der Fall Ridley, der Austritt Großbritanniens aus dem Europäischen Wechselkurssytem am sogenannten „schwarzen Mittwoch" am 16. September 1992, der Streit um den Euro, um die Rinderverseuchung, sogar um das umstrittene Tor im Endspiel bei der Fußballweltmeisterschaft vom Jahre 1966. Sind diese Ereignisse auf eine grundsätzliche Problematik im deutschenglischen Verhältnis zurück zu führen? Sind sie vielleicht eher mit der Persönlichkeit und dem europafeindlichen Standpunkt Margaret Thatchers verbunden? Bietet die Regierungsübernahme durch Premierminister Tony Blair und die Labour-Partei Aussichten auf eine Verbesserung? Um diese letzte Frage näher zu beantworten, ist ein Vergleich mit der unmittelbaren Nachkriegszeit vom Interesse. Der Wahlsieg Tony Blairs am 1. Mai 1997 war das Ergebnis eines politischen Erdrutsches, der sich mit dem LabourWahlsieg vom Juli 1945 vergleichen läßt. Für die damalige Labour-Regierung war die Frage der Beziehungen zu Deutschland eng mit der Rolle Großbritanniens als Sieger- und Besatzungsmacht verbunden. In diesem Sinne sah sich die britische Regierung mit viel größeren Problemen konfrontiert als im heutigen deutsch-britischen Verhältnis zu lösen sind. Im Vordergrund stand die Aufgabe, die Demokratie in Deutschland auf gesunder Basis wiederaufzubauen. Bei dem Versuch, aus britischer Sicht den Prozeß des demokratischen Wiederaufbaus im Nachkriegsdeutschland zu verstehen und kritisch zu bewerten, spielen der internationale Kontext und die zeithistorische Situation eine außer-

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ordentlich große Rolle. Zu den verschiedenen Faktoren, die für die britische Politik in Betracht gezogen und interpretiert werden müssen, zählen die internationale Situation und deren Auswirkungen für Deutschland und Berlin, der innenpolitische Kontext in Großbritannien und die allmähliche und teilweise sehr schmerzhafte Anpassung an die neue Rolle als Weltmacht sekundären Ranges, und schließlich die kulturgeschichtliche Grundlage der Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland. Innnerhalb Großbritanniens nahm die internationale Dimension der Problematik der deutschen Besatzung im öffentlichen Bewußtsein am besten wenig Platz ein. In der öffentlichen Meinung wurden Deutschland und die Deutschen mit verständlicher Feindseligkeit, mit einem gewissen Gefühl der moralischen Überlegenheit und mit einer Verdacht der Kampflustigkeit betrachtet. Die Bedeutung und die Komplexität der neuen internationalen Situation für Großbritannien und deren Einfluß auf ihre Rolle als Besatzungsmacht in Deutschland standen auch für die Deutschen in der britischen Zone und im britischen Sektor Berlins nicht im Vordergrund. Fest steht, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen in der britischen Besatzungszone und Berlin ihr tägliches Leben in einem ganz anderen Sinn erlebten : nämlich als Kampf um das Überleben in schrecklichen Umständen, als Kampf gegen den Hunger und die Kälte, als Konfrontation sowie mit bitteren persönlichen Erlebnissen wie auch mit einem in Frage gestellten Nationalbewußtsein und als Versuch, gegen diesen Hintergrund eine sehr unsichere Zukunft zu meistern. Die Beziehungen zur britischen Besatzungsmacht wurden auf der Basis der Distanz, oft in Form des Befehls oder der Verordnung, erlebt. So ist wenigsten aus Memoiren der Eindruck zu bekommen. Gegen diesen Hintergrund dürfte es nicht wundern, daß die Implementierung der britischen Besatzungspolitik auf Zonen- und auf Sektorenbasis1 an konsequenter Harmonisierung mangelte. In ihrer neuen Rolle als Besatzungsmacht mußte viel und oft improvisiert werden. Unter diesen Bedingungen ist die Frage nach historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den damaligen wie auch in den heutigen Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland von Wichtigkeit. In dieser Untersuchung wird kein Überblick über den Prozeß des demokratischen Wiederaufbaus im Nachkriegsdeutschland aus britischer Sicht angeboten. Sie versteht sich eher als Beitrag zur Stunde-Null-Diskussion im Sinne einer 1 Noel Annan, Changing Enemies, The Defeat and Regeneration of Germany, London 1995, S. 139-166.

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»englischen4 Rolle bei der Bildung bzw. bei der Rekonstruierung des demokratischen Bewußtseins und des Demokratie-Verständnisses im Nachkriegsdeutschland. Vom Interesse scheinen Fragen wie der Beitrag der britischen zum demokratischen Selbstbewußtsein der Deutschen in dieser Aufbauphase sowohl als die Art und Weise, auf die die Erfahrungen in zwei Weltkriegen diese Verständigung erschwert haben. Um diesen Themenkomplex etwas klarer zu verstehen, gliedert sich dieser Beitrag in drei Teile. Erstens wird der Ausgangspunkt für den Wiederaufbau der Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland näher untersucht. Dabei ist zu bemerken, daß in der geschichtlich bestimmten Situation der Nachkriegszeit sowohl das Wort Beziehungen wie auch das Wort Deutschland im sehr lockeren Sinne benutzt werden. Zwangsläufig wird hier oft von persönlichen Kontakten und Eindrücken und selten von offiziellem, bilateralem Austausch die Rede sein. Als zweites Ziel steht die Analyse des britischen Demokratiekonzepts und dessen Rolle beim Wideraufbau der deutsch-britischen Verständigung. In diesem Kontext ist es klar, daß die Re-education, die Umerziehung zur Demokratie, eine besondere Rolle gespielt hat. Drittens werden einige Thesen etwas näher erläutert, um diesen Prozeß besser zu analysieren und zu erklären. Π . Ausgangspunkt und Bestandsaufnahme

Die britische Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit setzte vier Hauptfaktoren aus, die alle angesichts der Veränderungen in der internationalen Situation und des immer schlechter werdenden Klimas der Beziehungen zur Sowjet-Union modifiziert bzw. neugeordnet werden mußten. Als dominierender Faktor soll die Reparationsfrage betrachtet werden; deren Lösung hatte den Vorrang vor allen anderen Fragen, erst an zweiter Stelle und als der Reparationsfrage nachgeordnetes Ziel kam für die Briten das Wiederbeleben der Demokratie. Zu den Gegebenheiten für die britische Deutschlandpolitik zählte an erster Stelle die Planung auf makropolitischer Ebene, wobei die Beschlüsse von Jalta und Potsdam als verbindliche Richtlinien und als Rahmen für die Fortsetzung der alliierten Zusammenarbeit galten. Für Großbritannien ging es darum, die Beschlüsse von Potsdam zu akzeptieren und die gemeinsamen Beschlüsse der Alliierten Kommandatura zu implementieren. Diese Haltung bedeutete selber eine Modifikation der früheren britischen Position in Jalta, die eine Zerstückelung Deutschlands bevorzugte. Das Konzept der Zerstückelung hatte als Hauptziel, Deutschland wirtschaftlich zu lähmen

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und politisch zu neutralisieren. Als langfristige Lösung des Problems Deutschland genügte dieses Konzept nicht. Churchill sah schon vor Kriegsende ein, daß die amerikanische Mitwirkung am Wiederaufbau Europas unentbehrlich sei, um die sowjetischen Bestrebungen nach Hegemonie einzudämmen, und er versuchte, sowohl Roosevelt wie auch Truman, davon zu überzeugen.2 Graml3 analysiert den Wandel in der britischen Deutschlandkonzeption von einer ersten Unterstützung für Aspekte der sowjetischen Expansionspolitik zurück zur 'guten alten Gleichgewichtspolitik'. Vieles spricht dafür. Doch war es den Briten auch klar, daß dieses Gleichgewicht mit den Amerikanern zu teilen sei: Wer das Machtgleichgewicht auf dem europäischen Kontinent behaupten wollte, mußte auch das amerikanische Engagement in Europa wollen. Die anglo-amerikanische Zusammenarbeit wurde also zum Kernstück der alliierten Besatzungspolitik in den Augen der Briten. Tatsächlich nahm diese Politik ab Januar 1947, mit der Schaffung der Bizone, immer konkretere Formen an. Als zweiter Hauptfaktor ging die Regierung davon aus, daß die Kosten der deutschen Besatzung dem britischen Steuerzahler nicht zu Last fallen dürften. Diese Einstellung sollte an Wichtigkeit gewinnen, als in Großbritannien selber die Kosten des wirtschaflichen Wiederaufbaus eskalierten und in Deutschland die Produktionsbeschränkungen in den Ruhrindustrien die Kosten der Reparationspolitik erhöhten, und diese aus britischen Goldreserven subventioniert werden mußten. Das bedeutete eine doppelte finanzielle Belastung für Großbritannien, welche durch eine weitere Belastung ergänzt wurde. In einer Situation, wo zum Beispiel Brot, welches während dem Krieg in Großbritannien nicht rationiert wurde, ab 1946 nur auf Lebensmittelkarten zu bekommen war, hielt es die britische Regierung für politisch unakzeptabel, von der britischen Bevölkerung weitere Opfer für Deutschland zu fordern Als dritter Faktor, und mit der Argumentation in bezug auf die Besatzungskosten als Belastung für den britischen Steuerzahler verbunden, war in der öffentlichen Meinung in Großbritannien erwartungsgemäß ein weit verbreiteter und tief eingebetteter Anti-Nazismus, der teilweise in obersten Regierungskrei2

Telegramm von Churchill an Präsidenten Truman, 12. Mai 1945, Public Record Office, PREM 495/1.

3 Hermann Graml, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands, Konflikte und Entscheidungen 1941 - 48, Frankftirt-am-Main, 1985, S. 36-40.

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sen auch zu finden war. 4 Bei Kriegsende stand in der Meinung des Foreign Office die Gefahr eines neuen deutschen Nationalismus in den Vordergrund, und die britische Deutschlandpolitik hatte als vorrangiges Ziel, dieses zu verhindern. Obwohl auch sehr schnell eingesehen wurde, daß diese Gefahr überschätzt wurde5, blieb noch eine deutschlandfeindliche Haltung, die die Akzeptanz einer pro-aktiven britischen Deutschlandpolitik erschwerte. Als zum Beispiel das Unterhaus die Fulton-Rede Churchills debattierte, in der er für eine stärkere amerikanische Unterstützung für West-Europa und die West-Zonen Deutschlands als Gegenkraft zur sowjetischen Expansionspolitik plädoyierte, enthielten 130 Labour-Abgeordneten ihre Stimme - ein deutliches Zeichen für ihre mangelnde Bereitschaft, sich weiter für die Deutschen zu engagieren.6 Denis Healey7 ist zu dieser Frage der Meinung, daß der damalige Außenminister Ernest Bevin, der zwar nicht als Freund Deutschlands galt, doch die Veranwortlichkeiten Großbritanniens in dieser Frage anerkannte, sein Vertrauen in die sich damals entwickelnde Organisation der Vereinten Nationen setzte und daher bereit war, auf eine internationale Lösung der deutschen Frage zu warten. Diese Einschätzung, verbunden mit einer Widerwilligkeit seitens der Labour-Parteimitglieder, die Brüderlichkeit mit der KPdSU auf Parteiebene in Frage zu stellen, mag auch eine Rolle bei der Labour-Fraktion gespielt haben. Die Bedeutung der Deutschfeindlichkeit für den politischen Standpunkt einiger britischen Parlamentsabgeordeneten der Nachkriegszeit stellt einen weiteren Faktor dar, der in der historischen Bewertung der Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland seit 1945 oft unterschätzt wird. Komponente dieser Haltung im Jahre 1945 waren die Kriegserfahrungen und deren Bedeutung für die politische Stimmung im Wahlkreis, der Antifaschismus als Anstoß zum persönlichen politischen Handeln und ein durch die Medienreportage der Schrecken der Konzentrationslager und den Sieg im Zweiten Weltkrieg erhöhtes Gefühl der moralischen Überlegenheit. Sowohl Clement Attlee, britischer Premierminister ab Juli 1945, wie auch sein Außenminister Ernest Bevin, der Zuständigkeit für die britische Besatzungspolitik hatte, waren Deutschland nicht freundlich gegenüber gestellt, ließen aber ihre persönlichen Meinungen selten in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen. Im breiteren Kontext der Bezie4

Beispiele waren Ernest Bevin, Clement Atlee und weite Teile der Labour-Fraktion.

5

Peter Alter , Nationalism and German Politics after 1945, in John Breuilly (ed), The State of Germany, The National Idea in the making, unmaking and remaking of a modern nation-state, London 1992, S. 166-167. 6

Annan, op.cit. S. 219.

7

Denis Healey , Interview mit der BBC, Radio 4, Mai 1997.

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hungen zwischen Großbritannien und Deutschland scheinen britischerseits Aspekte der Deutschfeindlichkeit besonders dauerhaftig gewesen zu sein. In den 70er Jahren, zum Beispiel, vertrat eine kleine Zahl sowohl Labour - wie auch konservativer Abgeordneter die Meinung, die permanente Teilung Deutschlands sei ein gemessener Preis für die deutsche Schuld an beiden Weltkriegen.8 Die Reaktionen Frau Thatchers auf die Möglichkeiten einer deutschen Wiedervereinigung zur Zeit der Wende 1989/90 und die fast groben Äußerungen ihres Industrieministers Nicholas Ridley zur Rolle der Bundesrepublik innerhalb des europäischen Währungssystems im Juli 19909 deuten beide darauf, daß solche Gefühle auch langfristig eine Wirkung haben können.10 Schließlich betrachtete die britische Regierung die Besatzungszeit als langfristiges Unternehmen. Die Erwartung einer auf die Dauer gesetzte Besatzungszeit - möglicherweise bis zu vierzig Jahren - brachte auch langfristiges Denken mit sich. Am Anfang der Besatzungszeit hatten es die Briten nicht eilig, und sie rechneten mit genügend Zeit, um demokratische Institutionen auf gesunder Basis zu etablieren. Maßgebend dafür war Montgomery s Konzept des Wiederaufbaus der Verwaltung von unten auf . n Diese Strategie sah eine strikte Trennung zwischen Verwaltung und Politik, der britischen politischen Ordnung entsprechend. Folglich räumte sie der SPD, deren Exilführung ihren Sitz in London gehabt hatte und die mit großen politischen Erfolgen in der demokratischen Ordnung der Nachkriegszeit rechnete, die erwartete Sonderstellung bei der britischen Besatzungsmacht nicht ein. Π Ι . Das britische Demokratiekonzept

Fest steht, daß für Großbritannien der Prozeß der Demokratisierung ein relativ kleiner Teil eines viel größeren Aufgabenkomplexes darstellte. Daher fehlt es auf britischer Regierungsebene beispielsweise an Thesendokumenten, die

8 Siehe Marianne Bell [jetzt Marianne Howarth], Britain and the GDR - the Politics of Non-Recognition, M.Phil., University of Nottingham, 1978. 9

„Saying the unsayable", Interview mit Nicholas Ridley, Spectator, 14. Juli 1990, S. 8.

10 Die Deutschlandfeindlichkeit Margaret Thatchers ist eng mit dem Bild der Deutschen verbunden, welches sie sich während des Krieges als Schülerin in der mittlenglischen Provinzstadt, Grantham, machte. 11

„My policy has been to start from the bottom and work upwards". Field Marshall Montgomery, The Build-up of the German Administration, Notiz fur das Foreign Office, Juni 1945, Public Record Office, F0371/46868.

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etwa das Modell einer gesunden Demokratie in Deutschland erläutern, die dann in ein europäisches System eingegliedert werden sollte. Die britische Besatzungspolitik unternahm den Demokratisierungsprozeß auf eine ganz pragmatische Art und Weise; das Wesen der Demokratie wurde viel von einzelnen Persönlichkeiten in der britischen Besatzungsmacht geprägt. An dieser Stelle ist vielleicht ein Wort über das Besatzungspersonal angebracht. Im Grunde genommen ging es um drei Hauptgruppen, und zwar, Militär- und Exmilitärpersonal, Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, die ab 1947, als das britische Imperium in Indien zu Ende ging, durch Personal aus dem Kolonialdienst abgelöst wurden, und kurzfristig Beauftragte, die in den Dienst der Besatzungsmacht delegiert wurden, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen. Zu dieser letzten Gruppe zählten Leute, die Deutschland aus der Vorkriegszeit kannten und die ein umfangreicheres und differenzierteres Bild der Deutschen hatten. Ein sehr wichtiges Beispiel ist Robert, später Sir Robert Birley ehemaliger Direktor der Charterhouse Schule, einer der führenden englischen Internatsschulen - und als großer liberaler Reformerzieher bekannt. Sein Tätigkeitsgebiet waren das Bildungswesen und der Wiederaufbau der deutsch-britischen Verständigung durch Treffen, Tagungen, Austauschprogramme und Gespräche. Birley und einige andere, die ähnlich gesinnt waren, waren aber Ausnahmen. Im allgemeinen ging es bei der britischen Besatzungsmacht um Leute, die entweder die Gewohnheit hatten, Deutschland als Feind zu betrachten, oder die an der Zukunft Deutschlands desinteressiert waren. Die Schwerpunkte der Tätigkeit im Bereich der Demokratisierung sind durch ihren institutionellen Focus charakterisiert und sind sowohl auf Montgomerys Konzept der Trennung der Verwaltung von der Politik wie auch auf das Vertrauen der Besatzungsmacht in die englischen Institutionen als Modell zurückzuführen. So richtete sich die Demokratisierungspolitik auf das Bildungswesen und die Hochschulreform, auf die Gesetzgebung und die Polizei, auf die Kommunalpolitik und das Wahlsystem, auf das Pressewesen und den Rundfunk und auf das Gewerkschaftssystem. Aus der heutigen Sicht lassen sich einige dieser Institutionen trotz der Improvisation der Nachkriegszeit als gesund, stabil und teilweise auch modellhaft bezeichnen. Im britischen Kontext der oft gespannten Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer wird beispielsweise das deutsche Gewerkschaftssystem und vor allem seine Struktur oft als erstrebenswertes organisato-

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risches Vorbild zitiert. 12 Auch die Organisation und Stuktur der Massenmedien hat sich als dauerhaft und flexibel erwiesen. Doch gab es auch gute Ideen, die nicht verwirklicht wurden. Die Vorschläge zur Hochschulreform 13 scheiterten am Widerstand der Ordinarien; der sicher notwendige Modernisierungsprozeß der deutschen Universitäten ging daher nur sehr langsam voran. Auch ist interessant, daß die politischen Parteien am Anfang fast außer acht gelassen wurden, trotz der Tatsache, daß Adenauer und Schumacher, die zwei führenden Persönlichkeiten in der deutschen Nachkriegspolitik, beide in der britischen Besatzungszone politisch zu Hause waren. Erst nachdem zunächst in der SBZ und danach in den beiden anderen westlichen Zonen politische Parteien wieder zugelassen wurden, lizenzierte die britische Besatzungsmacht die Gründung bzw. die Neugründung von politischen Parteien in ihrer Zone. Die Folgen dieser Revision für die westalliierte Zusammenarbeit sind interessant. Klar ist, daß die britische Besatzungsmacht sowohl die Grenzen wie auch die Möglichkeiten der Rolle der politischen Parteien bei der Erreichung westallierter politischer Ziele klar verstand. Die Schwierigkeiten im Verhältnis mit Adenauer sind gut bekannt14 und wurden weder leicht noch langsam überwunden. Weniger bekannt ist die Rolle, die die britische Militärregierung in Berlin bei der Festellung der Meinung der SPD-Mitglieder in den westlichen Sektoren spielte,15 als 1946 die SM AD die (Zwangs)vereinigung der KPD und SPD in der SBZ unterstützte. Die britische Besatzungsmacht lehnte es ab, parteipolitische Zeitungen zu lizensieren, auch wenn schon im Sommer 1945 über sowjetische Versuche, ihren Rundfunksender in Berlin als Instrument für die Verbreitung von sowjetischer Propaganda gegen die Westmächte zu benutzen, an London besorgt berichtet wurde. Angesichts der Zuspitzung in dieser Situation mußte die Politik der freien Meinungsäußerung modifiziert werden, um parteipolitische Meinungen zum Ausdruck kommen zu lassen. Im britischen Sektor Berlins bedeutete das nicht nur ein engeres Verhältnis zwischen Besatzungsmacht und Presse 12 Erst in den 90er Jahren wird in der britischen Fachpresse wegen angeblicher mangelnder Flexibilität Kritik an den deutschen Gewerkschaften geäußert. 13 Annan, op.cit., S. 161; Christoph Führ, Deutsches Bildungswesen seit 1945, Bonn 1996, S. 202-203. 14 Konrad Adenauer, Erinnerungen (1945 - 53), Stuttgart 1965, S. 33 - 38; Annan, op.cit., S. 167-173. 15 Kurt Koszyk , The Press in the British Zone of Germany, in The Political Re-education of Germany and her Allies after World War II, eds., Nicolas Pronay and Keith Wilson , Beckenham Kent, 1985 S. 118 - 122; Annan, op. cit., S. 195-200.

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sondern auch zwischen Besatzungsmacht und SPD. Dadurch wurde das britische Vertrauen in der SPD gestärkt. Die Zulassung der politischen Parteien markierte einen Schritt für die britische Besatzungsmacht, der zwar widerwillig genommen wurde, um die britische Besatzungspolitik mit der der Verbündeten zu harmonisieren. Als solcher dient er als klares Beispiel der Art und Weise, auf die der Kalte Krieg zu einer Modifikation der bisherigen Praxis der Besatzung führte. Mit der wachsenden Integration der britischen mit der amerikanischen Politik, vor allem im Bereich der Wirtschaft, wurden die Gelegenheiten für eine spezifisch britische Besatzungspolitik ab 1947 immer weniger. IV. Analyse und Thesen 1. Der Kolonialreflex

und seine Grenzen

Diese These geht davon aus, daß der britischen Besatzung in Deutschland ein klares Leitkonzept fehlte. Wie hätte es anders sein können? Dieser Mangel wurde aber durch die unbestrittene Suprematie Englands als Kolonialmacht kompensiert, und die Erfahrung als Kolonialmacht prägte die Haltung wenigstens eines Teiles des Personals in der britischen Besatzungsmacht. (Harold Ingrams, britischer Beamter und ehemaliger Mitarbeiter im Kolonialdienst soll die Deutschen wie 'ein besonders intelligenter Bedouinerstamm,16 behandelt haben.) Die Vorliebe dafür, die Verwaltung von der Politik zu trennen, die Verwaltung 4von unten auf aufzubauen und politische Parteien nur sehr zögernd zuzulassen - deutsche Politiker wurden bekanntlich als Störfaktor betrachtet - sowie die Nicht-Fraternisierungspolitik stellen alle Aspekte der britischen Besatzungspolitik dar, die auch für die britische Kolonialherrschaft außerhalb Europas charakteristisch waren. Insofern ist es vielleicht berechtigt, die britische Besatzung in Deutschland als Art koloniales Experiment zu beschreiben. Hier soll erwähnt werden, daß der Beitrag der Kolonien zur britischen Kriegsoperation im Sinne des Kampfpersonals sehr groß war und auch als großer Erfolg eingestuft wurde. Das koloniale Modell bot in der Meinung von vielen deutliche positive Aspekte. Ohne ein anderes klares Konzept griffen einige Mitarbeiter in der britischen Besatzungsmacht automatisch zu alt bewährten Methoden, die im Kolonialismus üblich waren.

Iid

17.

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Der Kolonialreflex erklärt die empfundene Distanz zwischen Engländern und Deutschen. Er erklärt auch die enthusiastische Unterstützung der britischen Besatzungsmacht für die Demokratisierung im Sinne der Re-education, der Umerziehung zur Demokratie. In diesem Sinne verstanden die Briten ihre Mission in Deutschland selbstverständlich als Zivilisationsprozeß mit dem Ziel, den 'wilden Deutschen' die demokratischen Werte einer freien Presse und einer liberalen Erziehung unter anderem beizubringen. Nach diesem Modell wird die Besatzung als Art Erlösung von den Fehlern und Schrecken der jüngsten Vergangenheit mittels der Auferlegung britischer demokratischer Werte konzipiert. Das Problem liegt aber darin, daß im Gegensatz zu den Kolonien Deutschland schon ein entwickeltes Land war. Diesen Punkt versuchten deutsche Politiker ihrer britischen Besatzungsmacht klarzumachen: „Wir sind kein Negervolk", so Kurt Schumacher im Jahre 1946.17 Deutschland und England teilten eine gemeinsame Kulturtradition und waren seit mindestens 150 Jahren in vielen Bereichen der Wissenschaft, der Technik und der Kultur im breitesten Sinne eng verwandt. Unter diesen Umständen waren die hausgemachten Rezepte aus Großbritanniens kolonialer Küche nicht ausreichend; doch nur wenige alternative Konzepte waren vorhanden. 2. Politiker in London, Persönlichkeiten

in Deutschland

Diese These geht davon aus, daß der Mangel an klaren Konzepten einerseits auf Strukturschwächen im Organisations- und Kommunikationssystem zwischen London und der britischen Besatzungsmacht zurückzuführen sei und andererseits einen Spielraum für Einzelinitiativen in Deutschland geschaffen habe, welche manchmal (nicht immer) zu sehr erfolgreichen Ergebnissen geführt haben. Die Strukturschwächen im Organisations- und Kommunikationssystem lassen sich auf die Unsicherheit in London über den richtigen Platz für Deutschland unter den Ministerial Verantwortungen in der Nachkriegszeit zurückführen. May und Paterson beschreiben diese Situation wie folgt: Die Militäregierung begann in London als eine militärische Angelegenheit unter dem Kriegsminister und war der Zivilabteilung des Kriegsministeriums zugeordnet. Diese enge Verbindung mit dem militärischen Zweig der britischen Regierung galt bald als unangemessen. Doch das Außenministerium war nicht willens, sich eine größere Verantwortung aufzuladen, wie sie die Verwaltung von Zehntausenden von Menschen mit sich gebracht hätte. Als Ausweg aus 17

Ibid.; Barbara Marshall, The Origins of Post-War Politics, London 1988, S. 90 - 104.

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diesem Dilemma beschloß die Regierung im Oktober 1945, die Verantwortung für die Kontrollkommission für Deutschland dem Kanzler für die Duchy of Lancaster zu übergeben. Die unklaren Beziehungen zwischen der Duchy und den anderen Regierungsstellen, die mit Deutschland zu tun hatten, wurden im Parlament betont. Die Kontrollkommission, die 'teilweise ein militärisches Problem ist', habe sich 'schnell mit den Verantwortlichkeiten und der Politik des Außenministeriums ' verbunden. Der Kanzler der Duchy ... müsse 'den Ausgleich schaffen zwischen widerstreitenden Interessen in Whitehall*. Es gebe noch 'andere Ministerien, das Finanzministerium zumal, die zu einem frühen Zeitpunkt ins Bild kommenn müssen'. Und der geehrte Herr [gemeint war John Hynd, Chancellor of the Duchy of Lancaster] müsse sicher das Gefühl haben, als Ellritze unter den Walen zu schwimmen\18 Es wäre sicher übertrieben zu behaupten, daß die Besatzungsmacht ihre beste Arbeit in Deutschland geleistet hat, wenn sie bereit war, politische Richtlinien aus London zu ignorieren. Auch stimmt es, daß das Besatzungspersonal weder korrupt noch inkompetent war; es ist eher der Fall gewesen, daß es durch recht mittelmäßige Elemente charakterisiert wurde. Doch wäre es sicher berechtigt zu behaupten, daß zu verschiedenen Zeitpunkten von Männern wie Kit Steel, Robert Birley und Austen Albu eine Initiative ergriffen wurde, die für den demokratischen Wiederaufbau von bedeutsamer Wichtigkeit war. Beispiele wären der Einfluß Birleys auf das Erziehungswesen und sein Bestreben nach einem deutsch-britischen Dialog auf der Grundlage der Gleichheit und des gesegenseitigen Respekts. Austen Albu, ab 1946 in der Politischen Abteilung in Berlin tätig, und Kit Steele, Leiter der Politischen Abteilung, spielten eine sehr große Rolle 'hinter den Kulissen' bei der Mitgliederbefragung der SPD-Mitglieder zur Frage der Vereinigung mit der KPD. 3. Die Stunde-Null-Mentalität

bei den britischen Besatzungsbehörden

Diese These geht davon aus, daß auch bei der britischen Besatzungsmacht eine Stunde-Null-Mentalität herrschte, die einen sinnvollen Wiederaufbau im Sinne einer Fortsetzung positiver Eigenschaften oder der Integration alter und neuer Institutionen und Arbeitsweisen erschwerte. Das britische Konzept des demokratischen Wiederaufbaus geht von einem Bruch mit der jüngsten Vergangenheit aus. Die Erinnerung an das Deutschland der Vergangenheit war nur für wenige Ausnahmen mit positiven Eigenschaften identifiziert. Als Konsequenz 18

James P. May und William E. Paterson, Die Deutschlandkonzeptionen der britischen Labour Party 145-149, in Claus Scharf und Hans-Jürgen Schröder (Hrsg.), Politische und Ökonomische Stabilisierung Westdeutschlands 1945-49, Wiesbaden 1977, S. 83. imera

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Marianne Howarth

wurden auf beiden Seiten wichtige Gelegenheiten für eine dauerhafte deutschbritische Verständigung verpaßt. Die Probleme im heutigen deutsch-britischen Verhältnis finden nach dieser These ihren Ursprung darin, daß in der Nachkriegszeit unzureichend gemeinsamer Boden gefunden werden konnte. V. Schlußbemerkungen

Trotz vieler dauerhafter Errungenschaften wie zum Beispiel die Gründung einer wirkungsvollen Gewerkschaftsstruktur, die Schaffung eines gesunden Wahlsystems und der erfolgreichen Neugründung der Länder in der britischen Besatzungszone, kann die britische Besatzungspolitik in vieler Hinsicht kritisiert werden. Typisch für diese Kritik von deutscher Seite ist der Vorwurf, die Briten legten zu viel Wert auf Reform nach britischem Muster und zu wenig auf Respekt oder Verständnis für deutsche Traditionen und Konventionen. Die Kritik ist vielleicht berechtigt, übersieht jedoch die Stunde-Null-Mentalität als wesentlichen Bestandteil eines langfristigen Denkens. Die Nachkriegssituation in Deutschland erforderte schnelle Reaktionen; Strategien, die für eine ferne Zukunft konzipiert waren, erwiesen sich als nicht flexibel genug, die aktuelle Situation im Nachkriegs-Deutschland zu bewältigen. Es ist auch fragwürdig, ob sie auch langfristig relevant gewesen wären. Damit verbunden ist ein immer engeres Anlehnen seitens sowohl der Briten wie auch der Deutschen an die Amerikaner als Garant des Machtgleichgewichts in Europa. In dieser Beziehung nahmen die Briten selbstverständlich den Platz des Juniorpartners ein. Die Auswirkungen dieser veränderten Machtbeziehung für die deutsch-britische Verständigung sind allgemein negativ zu interpretieren. Es besteht aber kein Zweifel, daß die gemeinsamen Erfahrungen während dieser Zeit einen Wendepunkt in der deutschen Nachkriegsgeschichte markierten. Danach bekannten sich die Deutschen im Westen zu amerikanischen Demokratiekonzepten und zu einer Politik der West-Integration. Dieses wird klar durch die Erfahrungen der Berliner während der Blockade im Jahre 1948/49 exemplifiziert: Die britische Beteiligung an der Luftbrücke wurde von den Berlinern nicht so hoch gewertet wie die der Amerikaner. Der Beitrag der Briten wird heute fast außer acht gelassen und dem britischen Demokratiemuster im zukünftigen demokratischen Selbstverständnis der Deutschen wenig Platz eingeräumt. Tatsächlich hatte die Solidarität, die sich unter den Bedingungen der Berliner Blockade mit den West-Berlinern langsam etablierte, wenig mit einem wachsenden gegenseitigem Respekt aber viel mit einem gemeinsamen AntiKommunismus zu tun.

Demokratischer Wiederaufbau im Nachkriegsdeutschland

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Die Rolle Frankreichs bei der Sicherung West-Berlins während dieser Zeit bietet hier interessante Parallele, denn der französische Beitrag am demokratischen Wiederaufbau steht auch im Schatten des amerikanischen. Frankreich hat aber viel besser als Großbritannien verstanden, daß die deutsch-französische Aussöhnung das Kernstück der friedlichen Zusammenarbeit in Europa darstellt und hat sich energisch dafür eingesetzt. Großbritannien hat die Frage der Aussöhnung mit Deutschland fast immer im Kontext der Beziehungen mit den USA lösen wollen. Was schließen wir hier für die Frage nach historischen Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den heutigen Beziehungen zwischen Großbritannien und Deutschland? Die Erfahrungen aus der Besatzungszeit sind lehrreich; trotz Mißverständnissen, Fehlschätzungen und anfänglicher Distanz haben sich Engländer und Deutsche zu einer Zusammenarbeit gefunden, von der beide Seiten gelernt und profitiert haben. Diese gemeinsame Erfahrung hat den Boden für eine dauerhafte Partnerschaft gelegt, die heute insbesondere in vielen Bereichen der Wirtschaft zu einer wichtigen und einflußreichen Realität geworden ist. Im Vergleich zu damals sind die Schwierigkeiten im heutigen deutsch-britischen Verhältnis zwar als Hindernis doch im Grunde als unbedeutend zu bewerten. Zur Zeit der Jahrhundertwende steht für beide Länder ihre Mitgliedschaft und ihre Rolle innerhalb der europäischen Union im Mittelpunkt ihrer internationalen Politik. Für beide Länder müßte innerhalb des europäischen Rahmens ihre Zusammenarbeit an der Entwicklung und der Stärkung ihrer Beziehungen als Hauptziel gelten.

40*

Demokratieprinzipiell im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Von Heiner Timmermann

Vorbemerkungen

In Deutschland, vor allem in Preußen, entwickelte sich in der Zeit des Absolutismus ein starkes Beamtenregime heraus, das in Preußen außerordentlich erfolgreich war. Lange bevor es im 19. Jahrhundert zur Bildung von Parlamenten kam, gab es in Deutschland eine hierarchisch organisierte, korruptionsfreie, fachlich ausgebildete, lebenslänglich angestellte und mit einzigartig weitgehendem disziplinarischem Schutz ausgestattete Bürokratie. Während England ein parlamentarisches Regime ausbildete und die Verwaltungsbürokratie erst im 19. Jahrhundert in dieses System eingebaut wurde, sind in deutschen Staaten über eine ausgebildetes Beamtenregime im 19. Jahrhundert Parlamente gestülpt worden. Die Schwäche der Demokratie in Deutschland im 19. Jahrhundert war, daß die politischen Parteien wenig zu sagen hatten und daß die Parlamente verhältnismäßig einflußlos waren. Sie hatten nicht die Möglichkeit, die Ausführungen der von ihnen beschlossenen Gesetze zu kontrollieren. - So konnte sich die Demokratie im 19. Jahrhundert in Deutschland nicht gegen den bürokratischen Militärstaat durchsetzen. Die Einigung zum Deutschen Reich erfolgte nicht auf demokratischer Weise, sondern mit den Machtmitteln des Staates. - Es gab keine politische Verantwortung der Parteien und der Parlamente. Sie waren in Rechten beschränkt. Das Fehlen praktischer Verantwortung führte zu ideologischer Verhärtung, die nach 1918 lebensnotwendige Kompromißfähigkeit ausschloß. - Nation und Demokratie entwickelten sich in Deutschland als Gegensätze. Der deutsche Nationalgedanke, der ursprünglich in enger Verbindung mit liberalen und demokratischen Emanzipationsbewegungen gestanden hatte, entwik-

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Heiner Timmermann

kelte sich im 19. und 20. Jahrhundert zu einem Sonderbegrifff der Nation, der zugleich antidemokratisch und unpolitisch begründet wurde. - Staatsbegriff und Demokratie standen in einem Gegensatz zueinander, weil Staat und staatliche Bürokratie als überparteiliche und einigende Instanzen politisch und ethisch überhöht wurden. Die Demokratie wurde erst spät einem effizienten bürokratischen System beigestellt, das sich jedoch in der politischen Auseinandersetzung als stärker erwies. So hat sich die Demokratie in Deutschland später durchgesetzt als in vergleichbaren anderen Industrieländern. Erst in der letzten Phase des Kaiserreiches wurde der Versuch auf Druck der Amerikaner (Lansing-Noten) unternommen, das Deutsche Reich in eine parlamentarisch-demokratische Monarchie umzugestalten. Als Staatsform mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 schien die neue Ordnung eine mit weitgehenden Partizipationsrechten zu sein. Nach der NS-Diktatur entstanden erst in den Ländern der westlichen Besatzungszonen, dann ab 1949 in der Bundesrepublik Deutschland demokratische Ordnungen. Am Anfang beider demokratischer Ordnungen stand jeweils ein verlorener Krieg, jedoch reichen die Wurzeln weit in die deutsche und europäische Geschichte. Die zweite deutsche Diktatur, die sich Demokratie nannte, brach wie ein Kartenhaus zusammen. Der Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus hat langfristige Ursachen, die in ihrem Zusammenwirken keineswegs erforscht sind. Einführung

Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949 entstanden zum ersten Male in der deutschen Geschichte zwei deutsche Staaten mit unterschiedlicher politischer, wirtschaftlicher, sozialer, gesellschaftlicher und rechtlicher Ordnung, die zudem außen-, sicherheits- und wirtschaftspolitisch zwei gegensätzlichen Bündnissystemen angehörten. Die Frage nach der Legitimation beantworteten beide Staaten unterschiedlich. Die verschwundene Diktatur bemühte einen wissenschaftlichen Marxismus-Leninismus, die Bundesrepublik Deutschland ging/geht von vorstaatlichen Werten aus. Grundlegend für die politische Ordnung der Bundesrepublik Deutschland ist die in Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) zum Ausdruck gebrachte Bindung an einen vorstaatlichen Wert , der mit dem Begriff „Würde des Menschen" um-

Demokratieprinzipien im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

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schrieben ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt". Die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte, zu denen sich das deutsche Volk in Art. 1.2 GG bekennt, und die in den Art. 2-19 genannten Grundrechte sind als Gestaltungsnormen der gesamten politischen Ordnung zu verstehen. Daher zielt die durch das Grundgesetz konstituierte demokratische, rechts-, sozial- und bundesstaatliche Gesamtordnung auf reale Freiheit der Bürger um der Menschenwürde willen hin. Obwohl das Grundgesetz die Verfassungstradition von 1849, 1867/71 und 1919 fortsetzt und die klassischen Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates auf bundesstaatlicher Basis festschreibt, normiert es gerade durch die Menschenwürde als tragende Idee des Staates eine Neuerung in der deutschen Verfassungsgeschichte. Art. 20, der ebenso wie Art. 1 gemäß Art. 79.3 GG nicht geändert werden darf, nennt die Rahmenbedingungen und wird daher auch als „Verfassungskern" oder als „Verfassung in Kurzform" bezeichnet. Verfassungsrechtliche Grundprinzipien wurden auch durch das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zum Verbot der rechtsextremistischen Sozialistischen Reichspartei (1952) und der linksextremistischen Kommunistischen Partei Deutschlands (1956) aufgestellt: Bindung des Mehrheitsprinzips an die Werte Freiheit und Gleichheit, Vorrang der Grundrechte, Volkssouveränität und Repräsentativsystem, Mehrparteiensystem als Ausdruck pluralistischer Willensbildung. Wichtig für den Umfang der verfassungsrechtlichen Grundprinzipien ist auch Art. 28.1 GG, der die gleichen Grundsätze für die innere Ordnung der Bundesländer vorsieht: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muß den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen". Der zwingende republikanische Verfassungsgrundsatz spielte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher keine umstrittene Rolle. Demokratie

Aus grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Sicht bedeutet der Begriff Demokratie eine Vielfalt von Meinungen und Auffassungen, die sich sogar gegenseitig ausschließen können. Die maßgebliche Bedeutung des Begriffes kann daher nur aus der Verfassung - dem Grundgesetz - gewonnen werden. Daher wird im folgenden die verfassungsrechtliche Normierung des Demokratiebegriffes dargelegt.

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Heiner Timmermann

Das Prinzip der Demokratie wird im GG normiert durch: - ein vom Volk in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewähltes Parlament (Art. 20.2 und 38.1), - die Sicherung der Möglichkeit, daß die Minderheit zur Mehrheit werden kann (Art. 38 und 39), - die Verantwortung der Regierung gegenüber dem Parlament (Art. 63, 67,

68),

- die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3), - die Meinungs- und Pressefreiheit (Art. 5). Art. 20 Abs. 2 Satz 1 („Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus") weist das Volk als Träger der Staatsgewalt aus, die es durch Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausübt. Das Grundgesetz hat damit gegen jene Demokratievorstellung entschieden, die annimmt, die Identität von Regierenden und Regierten zu verwirklichen. Die Annahme einer solchen Identität bedeutete in der unmittelbaren Demokratie die Gleichsetzung von Mehrheitssherrschaft mit Volksherrschaft. In einem großflächigen und dichtbevölkerten Staat, in dem die Demokratie notwendigerweise eine mittelbare sein muß, ließe sich die Identität zwischen Regierenden und Regierten nur auf der Annahme einer weiteren Identifikation behaupten, nämlich der Organe mit der des Volkes. Demokratie nach der Identifikationstheorie ist somit die Verwirklichung des einheitlichen Gemeinwillens, der sich empirisch bis auf die heutige Zeit nicht bestätigen läßt. Darüber hinaus muß diese Demokratievorstellung das Vorhandensein von Konflikten leugnen. Da Konflikte mit der substantiell vorhandenen politischen Einheit unvereinbar sind, müssen diese unterdrückt werden. Dagegen hat das Grundgesetz für eine Demokratiekonzeption entschieden, die nicht für von einem einheitlichen Gesamtwillen ausgeht, sondern von Unterschieden, Gegensätzen und von der Vielfalt der Meinungen und Interessen (Konkurrenztheorie der Demokratie) und damit auch von Konflikten innerhalb eines Volkes. Im politischen Prozeß, in dem dieses stattfindet, sollen Angehörige des Volkes gleichberechtigt in organisiertem (z. B. Parteien, Verbände, Interessengruppen) und nichtorganisiertem Zusammenwirken nach den Regeln der Verfassung in Parlament und Regierung staatliche gewalt ausüben, sofern ihnen gelingt, bei Wahlen den hierfür erforderlichen Auftrag zu erhalten. Daher wird zeitlich und sachlich begrenzte Macht, die der Kritik und Kontrolle unterliegt, im Rahmen des Grundgesetzes von Menschen über Menschen ausgeübt. Die Demokratienorm des Grundgesetzes ist somit eine Form der Begrenzung staatlicher Macht. Eine Änderung dieser Form ist nur mit zwei Drit-

Demokratieprinzipien im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

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teln der Mitglieder des Bundestages und des Bundesrates möglich, wobei die Art. 1 und 20 (Verfassungskern) grundsätzlich nicht verändert werden (Art. 79.3 GG) können. Auf Grund negativer Erfahrungen mit der Weimarer Verfassung sieht das Grundgesetz Bestimmungen zur Abwehr der Gegner seines Demokratieverständnisses vor: - Möglichkeit des Parteiverbots durch das Bundesverfassungsgericht (Art. 21.2.),

- Möglichkeit des Verbots verfassungswidriger Vereinigungen (Art. 9.2.) durch Verwaltungsbehörden, - Möglichkeit der Verwirkung von Grundrechten durch das Bundesverfassungsgericht (Art. 18). Nach Art. 21.2. GG wurden bisher die Sozialistische Reichspartei (1952) und die Kommmunistische Partei Deutschlands (1956) verboten. Eine Verwirkung der Grundrechte nach Art. 18 GG wurde bisher nicht ausgesprochen. Verfassungswidrige Vereinigungen wurde des öfteren von Verwaltungsbehörden gem. Art. 9.2. GG verboten. Seit fast 30 Jahren gibt es eine vor allem von der Neuen Linken initiierte Diskussion um das Stichwort „Demokratisierung", die eine vermehrte Mitwirkung der Bürger an der politischen Willensbildung und eine Ausdehnung des demokratischen Prinzips auf andere gesellschaftliche Bereiche (z.B. Wirtshaft, Wissenschaft, Universitäten, Presse, Medien, Betriebe, Schulen) zum Ziele hat. Diese Diskussion wird kontrovers geführt und ist nicht abgeschlossen.Das zeigt, daß das GG nur den Rahmen steckt, den Inhalt der Demokratie überläßt es der freien politischen Auseinandersetzung. Rechtsstaat

Art. 20.3 GG enthält das „Rechtsstaatsprinzip": Die Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung, der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt an Gesetz und Recht. Daß die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland die eines sozialen Rechtsstaates sein soll, ist für die Ordnung in den Ländern ausdrücklich in Art. 28.1. GG normiert, für den Bund aus den Grundrechtsbestimmungen allerdings nur herleitbar. „Der Rechtsstaat" stellt eine für den deutschen Rechtskreis typische Begriffsprägung dar. Bestimmte Elemente sind Teil der rechtsstaatlichen Ordnung,

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Heiner Timmermann

wobei Inhalte in der Wissenschaft unterschiedlich interpretiert werden: Grundrechte, Gesetzmäßigkeiten von Eingriffen, Rechtssicherheit, Unabhängigkeit der Gerichte, Rechtsgleichheit, Verfassungsgerichtsbarkeit, Gewaltenteilung, Widerstandsrecht. Das Prinzip des Rechtsstaates wird im Grundgesetz garantiert durch: - Garantie der Grundrechte (Art. 1.3), - Gewaltenteilung (Art. 20.2.), - gesicherte Institutionen der Rechtsprechung mit richterlicher Unabhängigkeit (Art. 92-104), - Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung und Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung (Art. 20.3), - umfassenden Rechtsschutz (Art. 19.4.), - Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3), - Verfassungsgerichtsbarkeit (Art. 93), - Recht zum Widerstand (Art. 20.4.). Die Menschen- und Bürgerrechte, ihr Schutz und ihre Garantie normiert das Grundgesetz in den Art. 1-19. Darüberhinaus hat sich die Bundesrepublik Deutschland auch völkerrechtlich zur Beachtung dieser Rechte verpflichtet. Die Grundrechte binden die Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung gem. Art. 1.3 GG als unmittelbar geltendes Recht. Kein Grundrecht darf in seinem Wesensgehalt angetastet werden. Die Grundsätze der Gesetzmäßigkeit von staatlichen Eingriffen und der Rechtssicherheit haben einen inneren Zusammenhang. Staatliche Eingriffe müssen nach Inhalt, Gegenstand, Zweck und Ausmaß hinreichend definiert und in einem geissen Umfang der Vorausberechenbarkeit und Meßbarkeit unterliegen. Willkürliche Verhaftungen oder rückwirkende Gesetze sind daher ausgeschlossen. Die Ermächtigugn des Staates zu Eingriffen in die Privatsphäre des einzelnen kann daher nur auf Grund eines Gesetzes erfolgen. Das Prinzip der Rechtssicherheit schließt die Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen ein. Die Formel „Gesetz und Recht" (Art. 20.3 GG) bringt zum Ausdruck, daß nicht jedes Gesetz ohne Rücksicht auf seinen Gehalt an Gerechtigkeit für Verwaltung und Rechtsprechung bindend ist (= Abkehr des GG vom Rechtspositivismus!). Das bedeutet, daß auch überpositive, d.h. nichtgeschriebene Normen Bindungen hervorrufen können. Treten Gerechtigkeit als überpositive Norm und Gesetz als positive Norm im Einzelfall in Widerspruch zueinander, so ist

Demokratieprinzipien im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

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von Verwaltung, Regierung und/oder Rechtsprechung abzuwägen und zu entscheiden. Rechtsgleichheit bedeutet, daß es bei Anwendung des Gesetzes keine Unterschiede geben darf. Das Gleichheitsprinzip ist Teil eines Wertesystems, das Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend seiner Eigenart verschieden behandelt. Art. 3.2 GG konkretisiert den Gleichheitsgrundsatz, indem eine verschiedene Behandlung von Mann und Frau in der Rechtsordnung grundsätzlich nicht erlaubt ist. Eine Antwort auf die Verbrechen und Rechtsverletzungen des NS-Staates stellt Art. 3.3. GG dar, nach dem niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden darf. Durch diese Norm sollte auch verhindert werden, daß die durch Flucht und Vertreibung in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einströmenden Deutschen benachteiligt werden würden. Insgesamt wird durch Art. 3.3. GG festgestellt, daß Unterschiede zwischen den Menschen keine Unterschiede in der rechtlichen Behandlung durch den Staat zur Folge haben dürfen. Die Aufteilung der staatlichen Macht auf verschiedene Träger ist ein weiteres rechtsstaatliches Merkmal, das das Grundgesetz gesetzt hat. Gesetzgebung, Vollziehung (Verwaltung und Regierung) und Rechtsprechung sind Organe der staatlichen Gewalt, die formal organisatorsich und personell getrennt sind, materiell aber durch weitgehende Kontroll-, Prüfungs- und Ernennungsrechte miteinander verschränkt sind. Das Grundgesetz enthält zahlreiche Gewalten- verschränkungen und -balancierungen. So hat bei der Gesetzgebung der Bundesrat gegenüber dem Bundestag eine gewissen Kontrollfunktion, die Bundesregierung besitzt bei finanzwirksamen Gesetzen ein Vetorecht (Art. 113 GG). Darüberhinaus hat sie das Recht zur Gesetzesinitiative, was ihr einen großen Einfluß auf die Gesetzgebung gestattet. Auch in der bundesstaatlichen Ordnung befindet sich eine Element der Gewaltenteilung, da hier ebenfalls eine Teilung staatlicher Funktionen mit vielfältigen gegenseitigen Kontrollen vorliegt. Die grundsätzliche Bedeutung des Prinzips der Gewaltenteilung, -verschränkung und/oder -balancierung liegt in der politischen Machtverteilung. Das Grundgesetz hat die Prinzipien der Demokratie, des Rechts-, Sozial- und Bundesstaates neben Art. 18 (Verwirklichung der Grundrechte) und Art. 21.2. (Parteienverbot) einem weiteren besonderen Schutz unterstellt: Nach Art. 20.4 GG haben alle Deutschen das Recht, gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, Widerstand zu leisten, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Solange die legitime Staatsgewalt funk-

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tionsfâhig ist, ist sie berufen, gegen Umsturzbewegungen vorzugehen. Abgesehen von dem Fall des Art. 20.4 GG steht dem Bürger ein Widerstandsrecht gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht hat als „Hüter der Verfassung" die Normen des Grundgesetzes verbindlich auszulegen und anzuwenden. Die Entscheidungszuständigkeit umfaßt folgende Bereiche: - Verfassungsrechtliche Streitigkeiten ziwschen den obersten Bundesorganen, zwischen Bund und Ländern und zwischen Ländern, - Normenkontrollverfahren, d.h. Feststellung, ob Gesetze mit der Verfassung vereinbar sind, - Verfassungsbeschwerden, die jedermann erheben kann, falls er sich durch die öffentliche Gewalt in seinen grundgesetzlich garantierten Rechten verletzt fühlt, - Verfassungsbeschwerden von Gemeinden und Gemeindeverbänden wegen Verletzung des Rechts auf Selbstverwaltung, - Schutz der Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaates, des Sozial- und Bundessaates. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insofern auch von großer Bedeutung, als durch sie die Verfassungswirklichkeit umfassend geformt wird. Damit Freiheit und Gleichheit für viele Menschen nicht nur auf dem Papier stehen, muß als Ergänzung zum Rechtsstaatsprinzip das Sozialstaatsprinzip hinzutreten. Sozialstaat

Das Grundgesetz erkennt das Sozialstaatsprinzip in Art. 20.1 und 28.1. ausdrücklich an. Der Sozialgestaltungsauftrag ist nach dem Grundgesetz mehr als eine allgemeine Richtlinie und mehr als ein Auslegungssatz. Die Ausgestaltung des Prinzips obliegt zwar dem Gesetzgeber, dennoch enhtält das Grundgesetz zahlreiche Artikel, die den Postulatscharakter neben Art. 20.1. und 28.1. GG begründen. Das Bekenntnis zum Sozialstaat bedeutet allerdings keine Festlegung auf eine bestmimte Sozialordnung. Die Norm vom sozialen Bundesstaat impliziert, daß der Staat die Pflicht zum Ausgleich von sozialen Gegensätzen hat. Zahlreiche Gesetze des Bundes und der Länder haben den Sozialgestaltungsauftrag auf den Gebieten der Arbeitswelt, Sozialversicherung und des sozialen Ausgleichs bei sinnvoller Ergänzung von Arbeitgeberleistungen ver-

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wirklicht. Verwaltungsbehörden und Gerichte haben daher die gesetzlichen Vorschriften im Sinne der Sozialstaatlichkeit auszulegen. Die Prinzipien des Rechts- und Sozialstaats begrenzen andere und werden von anderen begrenzt. Das Grundgesetz enthält daher ein SpannungsVerhältnis zwischen Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Während der Rechtsstaat auf Freiheit angelegt ist, schließen sozialstaatliche Maßnahmen häufig den Eingriff in die Freiheit ein. Dennoch gibt es kein Primat eines Prinzips. Bundesstaat

In der Staatsformbestimmung des Grundgesetzartikels 20 liegt die Entscheidung für den Bundesstaat. Das Prinzip des Bundesstaates gehört nach Art. 79.3 GG zu den nicht veränderbaren Merkmalen der Bundesrepublik Deutschland. In den „Frankfurter Dokumenten", mit denen die Verfassungsgebung für die Bundesrepublik Deutschland eingeleitet wurde, war der Föderalismus als Strukturprinzip des neuen Staates vogeschrieben. Der Grund für die Wiederherstellung eines deutschen Bundesstaates liegt in der bewußten Abkehr vom Einheitsstaat der NS-Zeit. Inhaltlich bedeutet das Prinzip, daß die Bundesrepublik Deutschland aus dem Bund und Gliedstaaten (Länder) bestehen muß. Eine Beseitigung der Länder ist verfassungswidrig. Die Bestandsgarantie der Länder erfordert eigene, wenn auch beschränkte Staatsgewalt der Länder. Daher sind in den Ländern Regierung und Verwaltung, Parlament und Gerichtsbarkeit vorhanden, deren Amtsträger über eigene Kompetenzen verfügen und keine dem Bund nachgeordnete Verwaltungseinheiten darstellen. Politisch bedeutet das Bundesstaatsprinzip eine weitere Gewaltenteilung zwischen dem Gesamtstaat und den Ländern neben der formalen Gewaltenunterscheidung im Grundgesetz und der praktischen Aufgabenverteilung zwischen Gemeinden und Staat. Rechtlich gesehen, umschließt das Prinzip andere Rechtskreise, und zwar den Verfassungsrechtskreis zwischen den Organen des Bundes, den Kreis zwischen Bund und Ländern und den Kreis zwischen den Ländern. Zur substantiellen Selbständigkeit der Länder gehört u.a., daß die Länder eigene Steuerbefugnisse haben, Steuern erheben, verwalten und über deren Ausgaben entscheiden können. Das Grundgesetz garantiert den Ländern ferner eine grundsätzliche Mitwirkung bei der Gesetzgebung. Schließlich gehört zur bundesstaatlichen Bestandsgarantie, daß Bund und Länder zur Wahrnehmung

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staatlicher Aufgaben zusammenwirken. Die einerseits die Interessen der Länder vertretende Institution, andererseits das Mittler- und Verbindungsorgan zwischen Bund und Ländern heißt Bundesrat, der aus Mitgliedern der Landesregierungen besteht. Die vertikale Gewaltenteilung durch das Bundesstaatsprinzip läßt die Gefahr des Machtmißbrauchs schwinden. Kontroll- und Gegensteuerungsmechanismen, z.B. über den Bundesrat, haben sich bewährt. Als die SPD im Bund in der Opposition war (1949-1966 und ab 1982), konnte bzw. kann sie in den Ländern ihre Regierungsfähigkeit beweisen. Dasselbe kann man von der CDU/CSU von 1969-1982 (und ab 1998) sagen. Das föderalistische System ermöglicht dem Bürger mehr Betätigungsmöglichkeiten, mehr Beteiligung, mehr Verantwortung und läßt gleichzeitig den bewährten Typus der repräsentativen Demokratie unangetastet. Die Rolle der politischen Parteien

Das Grundgesetz normiert in Art. 21 die rechtliche Stellung, die Aufgaben, den innerdemokratischen Aufbau, das Finanzgebaren und das Verbot von politischen Parteien. Einleitend heißt es: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit". Was gemeint ist, verdeutlicht § 1 des erst 1967 vom Gesetzgeber erfüllten Verfassungsauftrags, das Parteiengesetz: „Die Parteien sind ein verfassungsrechtlich notwendiger Bestandteil der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Sie erfüllen mit ihrer freien, dauernden Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes eine ihnen nach dem Grundgesetz obliegende und von ihm verbürgte öffentliche Aufgabe". Die Frage, was eine politische Partei sei, beantwortet ebenfalls das Parteiengesetz. Sie sind „Vereinigungen von Bürgern, die dauernd oder für längere Zeit für den Bereich des Bundes oder eines Landes auf die politische Willensbildung Einfluß nehmen und an der Vertretung des deutschen Volkes im Deutschen Bundestag oder einem Landtag mitwirken wollen, wenn sie eine ausreichende Gewähr für die Ernsthaftigkeit dieser Ziele bieten" (§ 2 Abs. 1 Parteiengesetz). Folgende Kriterien heben die politischen Parteien von politischen Organisationen, Vereinigungen, Verbänden, Institutionen usw. ab: - Mitgestaltung des politischen Willens auf einen längeren Zeitraum und auf einen größeren Bereich (keine „Rathausparteien"),

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- regelmäßige Teilnahme an der politischen Repräsentation des Volkes, ohne Mandate erringen zu müssen; Verlust des Rechtsstatus, wenn sechs Jahre keine Beteiligung an Bundestags- oder Landtagswahlen, - eigenständige Organisation, - Prinzip der Einzelmitgliedshaft, - öffentliche Tätigkeit. Eine politische Vereinigung, die den Parteinstatut besitzt, kann nur durch das BudnesVerfassungsgericht verboten werden („Parteienprivileg"). Somit bilden die Parteien ein wesentliches Element der Demokratie. Die Aufgaben der Parteien bestehen in der Wissensvermittlung und Meinungsbildung durch Publikationen, politische Bildungsveranstaltungen, öffentliche Veranstaltungen, um die aktive Teilnahme der Bürger am politischen Leben zu fördern, zur Übernahme öffentlicher Verantwortung Bürger heranzubilden. Eine der Hauptaufgaben im demokratischen Prozeß wird durch die Aufstellung von Bewerbern für Wahlen in Bund, Ländern und Gemeinden wahrgenommen. Weitere vom Gesetz genannten Aufgabenfelder lauten: Einflußnahme auf die politischen Entwicklungen in Parlament und Regierung, Einführung der von ihnen erarbeiteten Ziele in den Prozeß der staatlichen Willensbildung. Aus diesem Katalog, der keine abschließende Aufzählung der Aufgaben politischer Parteien enthält, wird deutlich, daß sie nicht nur Wahlvorbereitungsorganisationen sind. Die freie Gründung der Parteien verbürgt die Existenz eines Mehrparteiensystems. Es gibt keine Staats- oder Lizenzpartei. Um eine Zersplitterung in den Parlamenten zu vermeiden, sieht das Bundeswahlgesetz vor, daß eine Partei nur dann in den Bundestag einzieht, wenn sie mindestens 5 % der Zweitstimmen im Wahlgebiet oder drei Direktmandate in Wahlkreisen errungen hat. Ähnliche Vorschriften gelten auch für die Bundesländer und Landtage. Seit 1961 haben nur noch CDU/CSU, SPD, FDP und PDS den Einzug in den Bundestag geschafft. In Durchführung des Art. 21.1 Satz 3 GG, wonach die innere Ordnung politischer Parteien demokratischen Grundsätzen entsprechen muß, hat das Parteiengesetz Mindestanforderungen aufgestellt. Die Parteien müssen Satzungen und Programme besitzen, sich in Gebietsverbände gliedern und regelmäßige Wahlen durchführen. Das Parteiengesetz betont die Mitwirkung der Mitglieder an der Willensbildung der Partei. Parteiausschlüsse sind nur wirksam, wenn ein Mitglied vorsätzlich gegen die Satzung oder erheblich gegen die Grundsätze der Ordnung der Partei verstößt und damit ihr einen schweren Schaden zufügt. Damit wird jeder autoritär strukturierten Partei („Führerprinzip") eine Absage erteilt.

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Die öffentliche Rechenschaft über die Finanzen einer Partei soll der Kontrolle über etwaige Abhängigkeiten von finanzstarken Geldgebern dienen. Erst seit dem Parteiengesetz ist es ansatzweise möglich, eine solche Kontrolle auszuüben. Hauptsächlich finanzieren sich die Parteien aus Eigenmitteln, Spenden und staatlichen Geldern (Wahlen). Die Durchsichtigkeit der Rechenschaftsberichte kann allerdings durch Verschleierung unmöglich gemacht werden. Für die Reform der Finanzierung werden in Wissenschaft und Politik immer wieder Vorschläge unterbreitet. Die Möglichkeit des Parteienverbots (Art. 21.2. GG) ist ein Kernstück der streitbaren oder abwehrbereiten Demokratie. Ein Verbot kann nur vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden. Entscheidend für die Verfqassungswidrigkeit einer Partei ist ihr Verhalten (z.B. Umsturzversuch) und sind ihre Ziele (z.B. Beseitigung der Grundrechte, der Gewaltenteilung, der föderalistischen Struktur nach einer evgtl. Machtübernahme). Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung müssen nicht, sondern können ein Verbot beim Bundesverfassungsgericht beantragen (Opportunitätsprinzip). Verfassungswandel

1989/1990 wurde die SED-Diktatur in der DDR zur Aufgabe gezwungen. Im März 1990 wurde die Volkskammer, das Parlament der DDR, zum ersten Male frei gewählt. Mit Beschluß der Volkskammer vom 23. August 1990 erklärte die DDR ihren Beitritt zur Bundesrepublik Detuschland gem. Art. 23 GG. Am 31. August 1990 kam es zum Einigungsvertrag zwsichen der Bundesrepublik und der DDR. Er ist Ausdruck des Wunsches der Menschen in beiden Teilen Deutschlands, gemeinsam in einem Staat in Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu leben (Denkschrift zum Einigungsvertrag). Im Einigungsvertrag wird den gesetzgebenden Körperschaften des vereinten Deutschland empfohlen, sich innnerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenahng mit der Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung und Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen. Diese Empfehlung führte dazu, daß Bundesrat und Bundestag eine Gemeinsame Verfassungskommission einsetzten, die ihre Arbeit 1993 abschloß. Handlungsbedarf sah die Kommission vor allem bei der Gleichberechtigung von Frauen, dem Behindertenschutz, den Staatszielen Umwelt-, Minderheitenund Tierschutz, bei den Fragen der Länderneugliederung, der Stärkung der Kommunen, der Neuverteilung der Gesetzgebungskompetenzen zugunsten der Länder und der landesspezifischen Sozialpolitik. Im Gesetzgebungsverfahren scheiterten die Staatsziele Minderheitenschutz und Tierschutz. Die von der Op-

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position geforderten Staatsziele Recht auf Arbeit und Recht auf Wohnen fanden ebenfalls keine Mehrheit. Die insgesamt auf Stabilität angelegte Ordnung des Grundgesetzes war und ist einem Wandel in der Tendenz und einer Änderung in grundgesetzlichen Bestimmungen unterlegen. Der Politikwissenschaftler Ell wein stellte folgende Grundgesetzveränderungstendenzen seit 1949 fest: - Machtverschiebung im Verhältnis von Bund und Ländern zugunsten des Bundes, - Abhängigkeit des Bundestages von der Regierung bei der Gesetzgebungsarbeit, - Machtverschiebung im Verhältnis Regierung und Parlament zugunsten der Regierung, - Machtverlust des Parlaments bei der Regierungsbildung, - Machtzuwachs des Bundesrates, was eine teilweise Kompensierung der Machtverschiebung zugunsten des Bundes bedeutet, - Stärkung der politischen Stellung des Kanzlers gegenüber anderen Organen, - Machtverlagerung von der politischen Führung zur Verwaltung. Das Grundgesetz selbst kann gem. Art. 79.1 GG nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt. Eine Ausnahme gilt für völkerrechtliche Verträge, die einer Friedensregelung oder der Verteidigung dienen. Grundgesetzändernde Gesetze bedürfen der Zweidrittelmehrheit des Bundestages und der Zustimmung von zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates. Schranken legt Art. 79.3 GG auf. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gab es bisher 42 Gesetze, die das Grundgesetz änderten, wobei in Erinnerung gerufen werden muß, daß das Grundgesetz für ein Provisorium gedacht war. Zu den wichtigsten Grundgsetzänderungen gehörten: -

Wehrverfassung ( 1956) Notstandsgesetze (1968), Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern (1969), Senkung des Wahlalters (1970), Zustimmung zum Einigungsvertrag (1990), Zustimmung zum Maastrichter Vertrag (1992).

41 Timmermann / Gruner

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Heiner Timmermann

Insgesamt hat sich das Grundgesetz als ein brauchbares, stabiles und flexibles Instrument zur Regelung des rechtlichen, politischen, sozialen und gesellschaftlichen Zusammenlebens der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Menschen erwiesen. Literaturhinweis Benda, E.: Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel: Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Berlin-New York 1994, S. 719-798. Grube, F. / Richter, G.: Demokratietheorien. Hamburg 1975 Hesselberger, Dieter: Das Grundgesetz. Kommentar für die politische Bildung. 9. Aufl., Bonn 1995. Low, Konrad: Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat. Verständnis in beiden Teilen Deutschlands. München 1980. Lauf er, H.: Das föderalistische System der Bundesrepublik Deutschland. 6. Aufl., München 1991. Mintzel, A. / Oberreuter, H. (Hg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl., Bonn 1992. Stern, K. : Das rechtssaatliche Prinzip, in: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, Müchen 1984, S. 759-871.

Autorenverzeichnis

Dr. Christopher Beckmann

Universität Leipzig

Prof. Dr. Ivan Bernik

Universität Ljubljana

Dr. Eva Brocklovâ

Universität Prag

Dr. Nina Fabjanèiè

Universität Ljubljana

Prof. Dr. Alexei Filitov

Akademie der Wissenschaften, Moskau

Dr. Angelica Gernert

Darmstadt

Dr. Sybille Gerstengarbe

Universität Halle

Prof. Dr. Dr. WolfD.

Universität Rostock

Gruner

Prof. Dr. Wolf gang Häusler

Universität Wien

Prof. Dr. Günther Heydemann

Universität Leipzig

Prof. Dr. Roland Höhne

Universität Gesamthochschule Kassel

Prof. Dr. Hannelore Horn

FU Berlin

Prof. Dr. Marianne Howarth

Universität Nottingham

Prof. Dr. Detlef Jena

Rockau/Thüringen

Dr. Ralf Kessler

Universität Halle

Dr. Ian King

Universität London

Prof. Dr. Erkki Kouri

Universität Helsinki

Prof. Dr. Karl-Egon Lonne

Universität Düsseldorf

Prof. Dr. Ernst Nolte

FU Berlin

Dr. Stuart Parkes

Universität Sunderland

Dr. Antonio Peter

Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt

Prof. Dr. Wolfgang Dr. Lainovâ Radka

41*

Pfeiler

Meckenheim Universität Prag

644

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Helmut Reinalter

Universität Innsbruck

Bernd Rill

Hanns-Seidel-Stiftung, München

Prof. Dr. Ralf Rytlewski

FU Berlin

Prof. Dr. Michael Salewski

Universität Kiel

Prof. Dr. Gerhard Schulz

Universität Tübingen

Dr. Hans Wassmund

Universität Kaiserslautern

Prof. Dr. Dr. Heiner Timmermann

Sozialwissenschaftliches Forschungsinstitut der Europäischen Akademie Otzenhausen und Universität Jena

Prof. Dr. Marian Zgôrniak

Universität Krakau