Das schönste Gut: Der menschliche Wille bei Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa 9783666551963, 3525551967, 9783525551967

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Das schönste Gut: Der menschliche Wille bei Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa
 9783666551963, 3525551967, 9783525551967

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Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Herausgegeben von Adolf Martin Ritter und Thomas Kaufmann

Band 88

Vandenhoeck & Ruprecht

Martin Streck

Das schönste Gut Der menschliche Wille bei Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-55196-7 © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zu gelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu §52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Die gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: OLD-Media OHG, Neckarsteinach. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort

Das vorliegende Buch wurde unter dem Titel „Dynamis prohairetike – Untersuchungen zur Lehre vom menschlichen Willen bei Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa“ als Dissertation zur Erlangung des Grades des Doktors der Theologie vom Fachbereich 02 Evangelische Theologie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz angenommen. Am 17. Februar 2003 fand die mündliche Prüfung statt. Heute lege ich die Arbeit unter neuem Titel und leicht erweitert (Kapitel IV) einer weiteren Öffentlichkeit vor. Den neuen Titel – „Das schönste Gut“ – verdanke ich Gregor von Nyssa. Diese Wendung zeigt, dass Gregor, wenn er auch keine festgefügte Lehre des menschlichen Willens entwickelt – eine solche findet sich im ganzen Bereich der griechischen Patristik nicht –, dem menschlichen Willen doch eine hohe Bedeutung beimisst. Es erscheint gewagt, mit Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa zwei einander so verschiedene Schriftsteller miteinander zu vergleichen und zu beschreiben, wie sie die Frage nach dem menschlichen Willen angehen. Doch obwohl sie sich auf ganz unterschiedliche philosophische Traditionen (bei Nemesius ist es die Nikomachische Ethik des Aristoteles!) stützen, lassen sich bei beiden gleichlaufende Tendenzen feststellen. Gerne danke ich allen denen, die durch ihren Rat und ihre Unterstützung mich während der Entstehungszeit dieser Arbeit begleitet haben: Herrn Prof. Dr. Gerhard May (Mainz), der die Arbeit betreute, Herrn Prof. Dr. Klaus Koschorke (München und Bern), der mir als Vorgesetzter am Institut für Kirchengeschichte der Ludwigs-Maximilians-Universität München ein guter und beharrlicher Gesprächspartner war, Herrn Prof. Dr. Reinhard Schwarz (München), meinem damaligen Kollegen Prof. Dr. Dr. Frieder Ludwig (St. Paul-Minnesota) und allen Mitarbeitern zu meiner Zeit am Institut. Ferner danke ich Frau Prof. Dr. Irene Dingel (Mainz), die das Zweitgutachten erstellte, Herrn Prof. Dr. Adolf Martin Ritter (Heidelberg) und Herrn Prof. Dr. Thomas Kaufmann (Göttingen), die diese Arbeit in die Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte aufgenommen haben, und Pfr. Dr. Georg Kuhaupt (Marburg), der beim Korrekturlesen behilflich war. Frau Dekanin Claudia Brinkmann-Weiß (Hanau) danke ich für ihr Verständnis und meine Freistellung zum Rigorosum und der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck für einen großzügigen Druckkostenzuschuss.

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Vorwort

Ganz besonders danke ich meiner Frau Ulrike Streck-Plath: sie hat mich immer wieder ermutigt und oft auf mich verzichtet. So sei ihr und unseren Kindern Anna, Helene, Klara und Georg dieses Buch gewidmet und ihnen ihr Stolz auf ihren „Doktor Pfarrer“ – so erklären sich die Kinder, dass ich immer noch keinen Arztkoffer habe – herzlich gegönnt. Maintal-Dörnigheim, 19. Januar 2005

Inhalt

Einleitung: Der Streit um Pelagius und die Kirche im Osten . . . . . . I.

9

Der Wille des Menschen in der Anthropologie des Nemesius von Emesa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

18

1.

Person und Werk des Nemesius von Emesa . . . . . . . . . . . . . . . .

18

2.

Der Aufbau von De natura hominis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

3.

Die Psychologie des Nemesius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30

4.

Der Wille des Menschen in De natura hominis . . . . . . . . . . . . . .

39

5.

Der Ansatz beim menschlichen Handeln: Freiwilliges und Unfreiwilliges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

44

Exkurs: Von Nemesius möglicherweise benutzte Aristoteleskommentare . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Exkurs: Das Martyrium als Entscheidungssituation . . . . . . . . . .

53

Die Wahlentscheidung des Menschen zwischen Vernunft und Streben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Die Selbstmächtigkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Exkurs: Nemesius’ Kritik an Lehren über das Schicksal . . . . . .

85

Das Wahlvermögen des Menschen zwischen Wandel und Beständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

II. Der Wille des Menschen in der Anthropologie des Gregor von Nyssa. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

1.

Person und Werk Gregors von Nyssa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122

2.

Die Selbstmächtigkeit des Menschen als Spitze seiner Gottebenbildlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

127

6. 7. 8.

8

Inhalt

3.

Die positive Rolle der niederen Seelenvermögen . . . . . . . . . . . . .

135

4.

Das Verhältnis von Wille und Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

5.

Der Mensch als Ursache seiner Willensschwäche . . . . . . . . . . . .

151

6.

Der menschliche Wille zwischen Fall und Vollendung . . . . . . . .

155

6.1. Die Verkehrung der Selbstmächtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

157

6.2. Das Herrengebet als Ausdruck bleibenden Angewiesenseins auf Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

6.3. Die Vollendung der menschlichen Freiheit als eschatologische Gabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

7.

Gregors dynamisches Verständnis des menschlichen Willens . .

173

8.

Der menschliche Wille als Gnade Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

180

III. Optimistische Anthropologie – Nemesius und Gregor im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

183

IV. Die altkirchliche Aristotelesrezeption und der Aristotelismus des Nemesius – Zum Beschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

211

Einleitung: Der Streit um Pelagius und die Kirche im Osten

Im Jahr 410 traf der britische Asket und Laientheologe Pelagius1 in Jerusalem ein. Viele Jahre hat er in Rom als angesehener Asket, Seelsorger und Theologe gewirkt und eine beträchtliche Anhängerschaft gewonnen. Um den Hunnen, die nach Italien eindrangen, zu entgehen, hatte er Rom verlassen und war zunächst nach Nordafrika gekommen. Doch Pelagius blieb nicht lange dort, sondern zog weiter in den Osten. Anders sein Schüler Caelestius, der etwas länger in Nordafrika blieb und eine intensive Gegenreaktion auslöste, da die Lehre des Pelagius, die er vertrat und weiterbildete, mit dem in Nordafrika vertretenen Dogma der Erbsünde – Augustin hatte diese Lehre gegen die Donatisten stark gemacht – in krassem Widerspruch stand. Pelagius hielt die menschliche Natur für wesenhaft gut und auch durch den Sündenfall nicht wesentlich beeinträchtigt. In Palästina fand Pelagius freundliche Aufnahme durch Johannes, den Bischof von Jerusalem. Der Streit, der in Nordafrika und in Italien immer größere Ausmaße annahm, schlug bis in den Osten des Römischen Reiches Wellen. Pelagius blieb seinerseits auch nicht untätig, sondern verfasste auch in Palästina weitere theologische Schriften und nahm einen älteren Disput mit Hieronymus über die Bewertung der Ehe wieder auf, der noch aus ihrer gemeinsamen Zeit in Rom herrührte. Augustin schickte im Jahr 415 den spanischen Priester Orosius nach Jerusalem, um im Osten vor der Lehre des Pelagius und seiner Schüler zu warnen. Johannes von Jerusalem berief darum auf den 28. Juli eine Synode ein, um den Gegenstand des Streites zwischen Hieronymus und Pelagius zu behandeln. Die Teilnehmer dieser Synode waren vermutlich vorwiegend lateinische Kleriker, die sich im Heiligen Land aufhielten. Obwohl sie auf der Seite des Hieronymus standen, nahm Johannes Pelagius in Schutz, wohl durch Orosius, der in ungeschickter Weise beanspruchte, Augustinus zu vertreten, dazu provoziert. Orosius konnte gerade mal erreichen, dass man die Angelegenheit an den römischen Bischof überwies.2 1 Zu ihm und den Auseinandersetzungen um seine Person in Palästina vgl. Helmut Hoping: Art. Pelagius. BBKL 7 (1994) 168–173, Gerald Bonner: Art. Pelagius/Pelagianischer Streit. TRE 26 (1996) 176–185, Otto Wermelinger: Art. Pelagius, Pelagios. I. Leben und Werke. LThK3 8 (1999) 5–8, und ausführlich Ders.: Rom und Pelagius. Die theologische Position der römischen Bischöfe im pelagianischen Streit in den Jahren 411–432. Päpste und Papsttum 7. Stuttgart 1975.

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Einleitung

Noch im selben Jahr berief der zuständige Metropolit, Eulogius von Caesarea, eine Synode nach Diospolis. Zwei aus Gallien verbannte Bischöfe, Heros von Arles und Lazarus von Aix, hatten gegen Pelagius Klage erhoben, nahmen aber an der Synode dann Ende Dezember nicht teil. Pelagius konnte sich verteidigen, indem er einige Lehren seines Schülers Caelestius ablehnte und ein wohlwollendes Schreiben Augustins an seine Person vorwies. Dabei ging er möglicherweise nicht ganz aufrichtig vor. Er erreichte, dass die Synode ihn entlastete und die Gemeinschaft mit ihm nicht aufkündigte.3 Die afrikanischen Theologen hat der Entscheid von Diospolis in ihrem Eifer zur Bekämpfung der Lehren des Pelagius und seiner Anhänger nur bestärkt. Die Auseinandersetzungen um Pelagius im Osten des Römischen Reiches sind dadurch geprägt, dass es zumindest bis zu Beginn des Nestorianischen Streites vorwiegend Christen westlicher Herkunft und lateinischer Zunge waren, die in der Person und Lehre des Pelagius eine ernstzunehmende Gefahr für Leben und Lehre der Kirche erkannten und darum die Initiative ergriffen. Die meisten östlichen Theologen der Zeit, die mit der causa Pelagii befasst waren, haben sich neutral verhalten. Einige zeigen in ihrer Theologie sogar Berührungspunkte mit der Lehre des Pelagius. Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass Pelagius in seiner Theologie auch Traditionen aus dem orientalischen Bereich aufgenommen hat. Er hat Rufin den Syrer in Rom getroffen und zeigt sich von dessen Werk De fide beeinflusst.4 Auch einige seiner Anhänger haben im Osten Aufnahme gefunden. So ließ sich Caelestius in Ephesus zum Priester weihen und konnte sich einige Zeit in Konstantinopel aufhalten. Julian von Aeclanum fand 420 bei Theodor von Mopsuestia Zuflucht. Von daher wird eine besondere Nähe zwischen der theologischen Tradition der antiochenischen Schule und den Pelagianern behauptet.5 Auch wenn das wohl differenziert zu beurteilen ist, so gab doch die Tatsache, dass Anhänger der antiochenischen Schule wie beispielsweise Nestorius zwar von ihrer Lehre her mit den Pelagianern nicht übereinstimmten, sie aber dennoch duldeten, Anlass, ihnen später im nestorianischen Streit zusätzlich zu den inkriminierten christologischen Irrtümern auch noch Pelagianismus anzuhängen.

Vgl. Wermelinger, Rom und Pelagius, 57–68. Den lateinischen Text der Anklageschrift von Heros und Lazarus sowie das Protokoll der Synode von Diospolis bietet Wermelinger mit Nachweisen (Rom und Pelagius, 295– 299) und in Übersetzung (71–75). 4 Dieses Werk ist nach Wermelinger, Rom und Pelagius, 14, „Zeuge einer theologischen Richtung, die die Sterblichkeit der ersten Menschen nicht mit ihrer Sünde in Zusammenhang bringen will, und steht in der Nachfolge jener apologetischen Theologie, die jeden Verdacht eines Fatalismus oder einer manichäischen Ursündenlehre ausräumen will.“ 5 Vgl. Jules Gross: Theodor von Mopsuestia, ein Gegner der Erbsündenlehre. ZKG 76 (1965) 1–15. 2 3

Einleitung

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Johannes von Jesusalem hat dies nicht mehr erlebt, doch die Überlieferung seiner Schriften zeigt, dass auch er offensichtlich innerhalb der Orthodoxie der Reichskirche der Häresie verdächtigt wurde und vorwiegend in nonchalcedonensischen Kreisen gelesen wurde. Dies gilt auch von dem wohl wichtigsten Text, der von ihm überkommen ist. Es handelt sich um das Bekenntnis, das er der Synode von Diospolis vorlegte, die seine Entscheidung vom Juli 415 im selben Jahr noch überprüfte.6 Danach bekannte Johannes vor der Synode,7 „dass er denselben [sc. Gott den Menschen, M.S.], als er ihn mit freiem Willen erschuf, als Einen erschuf, der die Kraft hat die Tugend auszuüben durch Anstrengung und Mühe mittelst des Beistandes Gottes und mittelst der Gnade.8 Er war aber nicht ein Solcher, der die Sünde nicht aufnimmt, nicht indem ihn die Natur zwingt, sondern indem der Wille nachlässig ist. Wenn aber kein Mensch ohne Sünde gefunden wird, weil die Natur nicht unveränderlich ist noch unafficirbar, wie oben gesagt worden, so ist darum doch die Sünde nicht der Natur, sondern dem Willen zuzuschreiben.9 Denn es ist unmöglich für den Menschen dem Gedanken insbesondere das abzugewinnen, dass er von der Geburt bis zum Ende ohne Sünde sein sollte (?), indem er (ja) veränderlich ist; denn das bezeugt die göttliche Schrift allein unserem Herrn Jesus Christus, indem sie sagt: ‚Welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden‘ (1 Petr. 2,22). Aber das ist möglich, durch Sorgsamkeit und Fleiss und Mühe mittelst des Beistandes Gottes und mittelst der Gnade die Tugend auszuüben.“10

Das Bekenntnis des Johannes von Jerusalem habe ich als ein Beispiel dafür angeführt, wie nahe sich orientalische Theologie und Pelagius theologisch kommen konnten. Johannes zufolge ist die menschliche Natur prinzipiell fähig zur Tugend, und mittels göttlicher Hilfe und der Gnade kann der Mensch sie ausüben. Johannes führt die Sünde auf den Willen und seine 6 Text der syrischen Übersetzung und deutsche Übersetzung mit Kommentar in: Carl Paul Caspari: Ungedruckte, unbeachtete und wenig beachtete Quellen zur Geschichte des Taufsymbols und der Glaubensregel. Bd. 1. Christiania, 1866, 161–212. Es ist nicht nur für die Frage des menschlichen Willens von Interesse, sondern auch für die seinerzeit noch unstrittige Christologie. Zu diesem Bekenntnis umfassend: Michael Kohlbacher: Vom Enkel des Origenes zum Vater der Chalcedongegner. Einleitungsfragen zum Lehrbekenntnis des Johannes von Jerusalem (CPG 3621), in: Origeniana septima. Origenes in den Auseinandersetzungen des vierten Jahrhunderts. Hg. von Wolfgang A. Bienert/Ulrich Kühneweg. BEThL 137. Leuven 1999, 655–672. 7 Ich gebe im folgenden die Übersetzung von Caspari (Quellen, 189 f) wieder; in den Anmerkungen gebe ich den griechischen Text wieder, den Michael Kohlbacher seiner Beschreibung des Lehrbekenntnisses in den Anmerkungen beigegeben hat (Enkel, 661–663). Andrea B. Schmidt und Michael Kohlbacher bereiten eine kritische Edition des Lehrbekenntnisses und eine überlieferungsgeschichtliche Untersuchung dazu vor. 8 ατεξοσιον ε ς πντα ν δυνµει χειν ατν ποησεν, ρετν κατορον σπουδ κα π!ν"ω, εο βοηε%α κα χριτι. (Kohlbacher, Enkel, 662 Anm. 37) 9 ο τ φσει περιγραπτ(ον τν )µαρταν, λλ+ τ προαιρ(σει. (Kohlbacher, Enkel, 662 Anm. 36) 10 ∆υνατν δ. προσοχ κα πιµελε%α κα π!νοις, εο βοηε%α κα χριτι κατορον τν ρετν. (Kohlbacher, Enkel, 662 Anm. 37)

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Einleitung

Nachlässigkeit zurück. Er hatte für diese Passage seines Bekenntnisses, die sich durch eine hohe Zahl von Bibelzitaten von den Passagen zu Trinität und Auferstehung abhebt, keine traditionellen Vorgaben; das lässt erkennen, wie sehr Johannes sich theologisch bemühte.11 Eine andere wichtige Gestalt unter den griechischen Theologen zur Zeit des pelagianischen Streits zeigt sich zunächst auffällig indifferent, greift aber, nachdem die Kirche im Westen des Römischen Reichs zu einer Entscheidung gegen Pelagius gekommen ist, diese Verurteilung als ein Mittel in den kirchenpolitischen Streitigkeiten auf: Cyrill von Alexandrien. Er und Augustin haben in Zusammenhang mit den Synoden von Jerusalem und Diospolis Briefe und Schriften gewechselt. Ein Beleg dafür hat sich in dem augustinischen Briefkorpus gefunden, das vor einigen Jahren in der Stadtbibliothek Mainz entdeckt wurde. Es enthält unter anderem einen Brief an Cyrill (ep. 4*).12 Zuvor schon hatte ein Exzerpt aus den von Julian von Aeclanum verfassten Libri VIII ad Florum in Augustins Opus imperfectum contra Iulianum auf einen Brief Augustins nach Alexandrien hingewiesen.13 Nach ep. 4* hat Cyrill die Synodalakten von Diospolis (gesta ecclesiastica) an Augustin geschickt,14 aufgrund dieses Materials, schreibt Augustin, habe er das Buch an Aurelian von Karthago (De gestis Pelagii) verfasst, weil wegen der Synode viele Pelagius und seine Lehre als rechtgläubig ansehen würden. Der Kleriker Justus, der Überbringer des Briefes, hatte zuvor ein Werk Augustins an Cyrill überbracht, war aber in Alexandrien der Fälschung bezichtigt worden und deswegen mit dem inkriminierten Codex nach Hippo zurückgekehrt. Augustin bestätigt die Echtheit des fraglichen Satzes. Er besagte, dass nicht alle Sünder mit dem ewigen Feuer bestraft werden. Augustin erklärt dazu, dass die Kirche für sich um Sündenvergebung bittet, denn die Heiligen könnten kein sterbliches Leben ohne Sünde haben. Augustin und Cyrill von Alexandrien haben also aus Anlass der Streitigkeiten um Pelagius in Palästina miteinander Briefe gewechselt. Vermutlich versuchte Augustin, sich das Archiv der Kirche von Alexandrien in dieser Angelegenheit nutzbar zu machen. Umso mehr fällt aber auf, dass in dem Werk Cyrills selbst sich keine Spuren augustinischen Denkens zeigen.15 Und auch nachdem Papst Innocens I. im Jahr 417 die Lehre des Pelagius anathematisiert hatte, kündigt der Alexandriner die kirchliche Gemeinschaft mit den Pelagianern nicht auf.16 Auch ein Theologe von Rang Vgl. Kohlbacher, Enkel, 663. Ed. Divjak, CSEL 88, 26–29. 13 Aug. c. Iul. imp. IV 88 (PL 45, 1389); darauf weist hin Berthold Altaner: Augustinus in der griechischen Kirche bis auf Photius. HJ 71 (1952) 37–76, wiederabgedruckt in: Ders.: Kleine patristische Schriften. Hg. von Günter Glockmann. Darmstadt 1967, 57–98, 64 f. 14 Aug. ep. 4* 2,1 (Divjak 26,13). 15 Vgl. Altaner, Augustinus, 69 f. 16 Vgl. den Brief eines Bischofs Eusebius an Cyrill in der Collectio Avellanea ep. 49 (GUENTHER, CSEL 35,1, 113–115, bes. 114,11f). 11 12

Einleitung

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wie Cyrill, der von dem Streit um Pelagius und seinem Gegenstand zumindest durch Akten und Briefe erfahren hatte, fühlte sich dadurch zunächst weder zu einer Stellungnahme noch zu entsprechenden kirchenpolitischen Maßnahmen gedrängt. Einige Jahre später aber – Pelagius ist inzwischen als Irrlehrer verurteilt worden und hat dadurch seine Basis in Palästina verloren, so dass er sich nach Ägypten zurückziehen musste, wo er vermutlich vor dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 verstorben ist – greift Cyrill die Verurteilung des Pelagius als eine Waffe in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen um die Christologie des Nestorius auf. Es ist anzunehmen, dass Cyrill für die Konzilsverhandlungen Argumentationsmaterial gesammelt hat. Möglicherweise geht die griechische Übersetzung von De gestis Pelagii, die Photius als des Augustinus „Ausführungen an Aurelius, den Papst von Karthago“ erwähnt und selber in griechischer Sprache gelesen hat,17 auf eine Initiative Cyrills zurück. Photius referiert an dieser Stelle auch eine Schrift namens „Gegen die pelagianische und caelestianische Häresie – Niederschrift der Akten der westlichen Bischöfe gegen die nestorianischen Lehren“. Darin sei als Zeuge Cyrill angeführt, der an Kaiser Theodosius geschrieben habe, dass die Häresie des Nestorius und die des Caelestius dieselbe seien. Nach dem Zitat, das Photius bietet, ist für Cyrill die Identität der beiden Lehren darin begründet, dass sie die menschliche Natur für fähig halten, durch ihren Willen das Heil zu erlangen.18 Nach den Akten des Ökumenischen Konzils von Ephesus hat dieses im Jahr 431 die Lehren des Pelagius und Caelestius verworfen.19 Damit war die Hoffnung der Gegner der pelagianischen Lehren im Westen erfüllt, dass das Konzil das Urteil von Papst Zosimus gegen Pelagius und seine Schüler bekräftigt. Cyrill schloss sich der römischen Linie an, sicher auch, um Rom auf seine eigene Seite zu ziehen. Aber die Nachrichten über die Verhandlungen auf dem Konzil lassen meines Erachtens nicht den Schluss zu, dass es mit dem Pelagianismus einen zweiten ebenbürtigen thematischen Schwerpunkt neben der Christologie des Nestorius in den Verhandlungen gegeben habe.20 17 Ο0τως Αγουστ2νος ν το2ς πρς Αρ(λιον τν Καρταγ(νης ππαν δι(ξεισι (Phot. cod., 54 [Henry 1, 44,1–3]). 18 Henry 1, 42,32–43,22; in dem von Jacques Schamp erstellten Register in Band 9 zu der Ausgabe von Henry bemerkt Schamp, dass er dieses Werk nicht hat finden können. Im Werk Cyrills von Alexandrien findet dieses Zitat sich meines Wissens nicht. Im Apologeticum ad Theodosium imperatorem sind Nestorianer und Kelestianer zusammen genannt, ohne dass dies durch einen Hinweis auf den Inhalt der beiden Lehrmeinungen begründet wäre (Pusey 7, [425–456] 442,20–23; Eduard Schwartz bietet diese Lesart in seiner kritischen Ausgabe nur für einige Handschriften [ACO 1,1,3 84,6–9], in seinem Text heißt es: καηρηµ(νοι κα ο5 τς Νεστορου φρενολαβεας 7πασπιστα). 19 Nachweise bei Jakob Speigl: Der Pelagianismus auf dem Konzil von Ephesus. AHC 1 (1969) 1–14, 9–13. 20 Gegen Speigl, Pelagianismus, 12.14.

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Einleitung

Der Gegenstand des pelagianischen Streits hat die griechischen Theologen also kaum bewegt. Dies passt zu dem Bild der zunehmenden Entfremdung zwischen dem von der griechischen Kultur geprägten östlichen und dem lateinisch sprechenden westlichen Reichsteil. Nur wenige Werke lateinischer Theologen sind in der Spätantike in das Griechische übersetzt worden. Die griechisch-hellenistische Kultur sah sich selbst als überlegen an und mühte sich nur in geringem Ausmaß darum, andere Kulturen zu verstehen. Im vierten und fünften Jahrhundert begann die Entfremdung der Kirchen des lateinischen Westens und des griechischen Ostens. Auch das allgemeine Urteil, dass westliche Theologen mehr einen Sinn für praktisch-ethische Fragen hatten und die griechischen eher für theoretisch-metaphysische, enthält bei aller Vergröberung einen wahren Kern. Die Lateiner in Palästina haben schon zur Zeit des Hieronymus und des Johannes von Jerusalem eine Enklave gebildet, auch wenn vieles sie mit den einheimischen Christen verband, beispielsweise das Interesse an der Askese als der höchsten Form christlichen Lebens. Pelagius war ein angesehener Asket, der ein friedliches Leben führen wollte und die Führerschaft in den theologischen Auseinandersetzungen bereitwillig seinem Schüler Caelestius überließ.21 Sein asketischer Ehrgeiz entsprach seiner Lehre über den Menschen.22 Sie ist ausgesprochen optimistisch. Pelagius lehnt die Vorstellung einer Erbsünde durchweg ab. Möglicherweise geht die Ablehnung der Erbsündenvorstellung auf Rufin den Syrer zurück. Der Mensch gilt Pelagius als wesenhaft gut; der menschliche Wille kann allein aufgrund seiner natürlichen Fähigkeiten den göttlichen Geboten folgen. Gisbert Greshake hat als zentralen Gedanken der Theologie des Pelagius den traditionellen griechischen Begriff der Paideia in einer verchristlichten Form bestimmt: Danach ist Erlösung als ein zum Heil führender pädagogischer Prozess in der Geschichte zu verstehen. Greshake spricht von einer „universalen göttl[ichen]. Heilspädagogie“ als Angelpunkt des Denkens des Pelagius.23 Diese Geschichte beginnt mit der Schöpfung, in der Gott den Menschen als Gnade Gewissen, Gesetz und Willensfreiheit gegeben hat. Die Sünde Adams hat den Menschen ein schlechtes Vorbild gegeben, ihre Fähigkeiten aber nicht geschwächt oder gar zerstört. Die Sünde ist als Akzidens verstanden, das zum Wesen des Menschen hinzutritt, es aber nicht vollkommen verändert. Nur durch die eigene Sünde, für die der Vgl. Bonner, Pelagius, 177. Zur Lehre des Pelagius vgl. Ekkehard Mühlenberg: Dogma und Lehre im Abendland. 1. Abschnitt: Von Augustin bis Anselm von Canterbury. In: Carl Andresen [u. a.]: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität. Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 1. Göttingen 1982, 406–566, 447–450; Charles Piétri (Wilhelm Geerlings): Die Schwierigkeiten des neuen Systems (395–431). Die führende Häresie des Westens: Pelagius. In: Das Entstehen der einen Christenheit (250–430). Hg. von Charles und Luce Piétri. Deutsche Ausgabe bearb. von Thomas Böhm [u. a.]. GCh 2. Freiburg/Basel/ Wien 1996, 525–551, 528–532. 23 Gisbert Greshake: Art. Pelagius, Pelagios. II. Pelagianismus. LThK 3 8 (1999) 8. 21 22

Einleitung

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Mensch, der das Gesetz Gottes übertritt, selbst verantwortlich ist, wird die Fähigkeit zum gottgefälligen Leben geschwächt. Doch durch die Gottebenbildlichkeit des Menschen und die ihm damit gegebenen Fähigkeiten kann der Mensch mittels des Naturgesetzes, des mosaischen Gesetzes und schließlich des Evangeliums, erkennen, was Gott als Recht von ihm verlangt, und das in freier Entscheidung befolgen. So gelangt der Mensch zum Heil und vollendet die Gottebenbildlichkeit in sich. Die Sünde des Menschen kann zur Gewohnheit, gleichsam ein habitus werden, so dass es annähernd unmöglich werden kann, sich von der Sünde zu lösen. Dagegen bietet die göttliche Gnade in Gesetz und Evangelium Hilfe an. Doch es ist Pelagius wichtig, dass sie den Menschen nicht determiniert, sondern eine Hilfe anbietet, die der Mensch ergreifen und sich zu Nutze machen muss. Ein Christ muss darum die Taufgnade festhalten und durch ein sittlich korrektes Leben verbessern. Das als Meditation der Schriftlesung und nicht als Bittruf und Eingeständnis eigener Schwäche verstandene Gebet geben ihm dazu die nötige Orientierung und Unterstützung. Von einem direkten Wirken des Heiligen Geistes im Menschen redet Pelagius hingegen kaum. Pelagius war Asket. Christsein entscheidet sich für ihn vornehmlich im Bereich des moralischen Lebens. Mit seinen strengen sittlichen Maßstäben steuert er gegen einen moralischen Indifferentismus, der in einer Zeit drohte, da das Christentum die Religion der ganzen Gesellschaft wurde. Im Blick auf die Zwänge, die innerhalb der römischen Familien den Einzelnen an die überkommenen Sitten banden, zog die Theologie des Pelagius weitreichende Konsequenzen nach sich, indem sie zum Bruch des Einzelnen mit seiner Familie und ihren üblichen Ansprüchen nötigte.24 In seiner optimistischen, bei dem Menschen als einem guten Geschöpf Gottes ansetzenden Anthropologie verwendet Pelagius auch aristotelische Begriffe, um die Eigenverantwortlichkeit des Menschen mit seiner Angewiesenheit auf den Beistand Gottes in Ausgleich zu bringen. Nach dem Referat seiner Schrift De libero arbitrio in Augustins De gratia Christi et de peccato originale unterscheidet Pelagius drei Kräfte im Menschen: das Können, das Wollen und das Sein (posse, velle, esse), die auf der Natur, der Entscheidungskraft und dem Vollbringen des Menschen beruhen (natura, arbitrium, effectus). Nur das Können verdankt der Mensch, da es zu seiner Natur gehört, allein dem Schöpfer; daher ist er für dieses Können nicht zu loben. Nur dafür, dass er sich entscheidet und handelt, ist der Mensch zu loben, wenn auch nicht allein, sondern zusammen mit Gott.25 Die Sünde des Menschen bewirkt nun, dass er sich einen habitus, eine Gewohnheit anlegt, die sein Können einschränkt, ohne es aber völlig in eine Richtung festzulegen. Denn durch die göttliche Gnadenhilfe kann der Mensch den 24 Vgl. Peter Brown: Augustinus. Eine Biographie. Übers., bearb. und hg. v. Johannes Bernard. Leipzig 1972, 303–306. 25 Aug. gr. et pecc. or. 4,5 (CSEL 42 [Urba/Zycha] 127,29–128,15).

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habitus verlieren und sich entscheiden, seine Fähigkeit in guter Weise ins Werk zu setzen. Pelagius und seinen Schülern wurde im Osten von den griechischen Theologen nur wenig Kritik entgegengebracht. Die Position Augustins, der gegenüber der die Tradition vertretenden Lehre des Pelagius seine Gnadenlehre entwickelte, ist hingegen im Osten kaum aufgenommen und verstanden worden. Hier setzt die Fragestellung dieser Arbeit an: Lassen sich in der theologischen Tradition der griechischen Väter Voraussetzungen für diesen auffälligen Befund ausmachen? Dazu soll die Lehre des menschlichen Willens bei zwei griechischen Theologen dargestellt werden, nämlich bei Gregor von Nyssa und bei Nemesius von Emesa. Die Auswahl dieser beiden Vertreter aus der Schar der griechischen Theologen sei kurz begründet. Zunächst einmal stehen Gregor und Nemesius in einer zeitlichen Nähe zu den pelagianischen Streitigkeiten. Gregor galt damals als eine der maßgeblichen theologischen Autoritäten. Durch seine eigenen Werke und vermittelt durch spätere Theologen wie beispielsweise Cyrill von Alexandrien, der ihm theologisch oftmals folgt, hat er weiter gewirkt. Nemesius von Emesa, dessen breitere Wirksamkeit sich erst für spätere Zeit nachweisen lässt, hat immerhin im engeren Umkreis Palästinas gelebt. Einzig Gregor und Nemesius haben bis dahin neben dem um einiges früheren Methodius von Olympus26 Werke verfasst, die sich ausschließlich oder vornehmlich der Willensthematik widmen. Diese Thematik ist zwar auch in den trinitätstheologischen Auseinandersetzungen aufgegriffen worden, veranlasst durch die Bezeichnung des Gottlogos als Willen des Vaters. Doch in anthropologischer Hinsicht wird der Wille allenfalls noch in den verschiedenen Schriften De fato behandelt. Selbst in den christologischen Auseinandersetzungen dauert es noch bis ins siebte Jahrhundert, bis der Wille Jesu im monotheletischen Streit zum Gegenstand der Reflexion wird. Vorher begegnet die Willensthematik in den Debatten um die Christologie nur in vereinzelten Anätzen, die aber nicht weiterführend aufgegriffen wurden.27 Von Nemesius hat sich einzig ein Werk erhalten, die erste der Anthropologie ausschließlich gewidmete Schrift der altkirchlichen Literatur. Es gibt keine Nachrichten oder Hinweise dafür, dass er darüberhinaus noch 26 Zu ihm vgl. Katharina Bracht: Vollkommenheit und Vollendung. Zur Anthropologie des Methodius von Olympus. Studien und Texte zur Antike und Christentum 2. Tübingen 1999. 27 Cyrill von Alexandrien hat beispielsweise in seinem Brief an die Mönche, einer seiner ersten Stellungnahmen zur Christologie des Nestorius, es als eine Konsequenz derselben bezeichnet, dass der Mensch Jesus als ein Werkzeug ohne Willen angesehen werden müsse; als solcher kann er nicht mit dem Gottlogos, der wie der Vater frei ist, geeint sein, womit der Erlösung der Menschen die Grundlage entzogen sei; vgl. Cyr. ep. 1, 19–21.23.26 (Schwartz ACO 1,1,1 19,9–11.28 f; 20,12 f; 21,20–22.29; 22,25–32); das Stichwort 8ργανον hatte Nestorius selbst vorgegeben, vgl. Nest. hom. 8: Μ(γα τ Χριστοτ!κ"ω παρ(ν"ω τ τ(κειν νρωπ!τητα τς το εο λ!γου 8ργανον (Loofs 247,5 f).

Einleitung

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andere Schriften verfasst hat. Gregor hingegen hat eine Vielzahl von unterschiedlich geprägten Werken hinterlassen. Zwar schreibt er nie monographisch über den Menschen wie Nemesius, doch er hat eine eigene Theologie in eigenständiger Auseinandersetzung mit anderen philosophischen und theologischen Traditionen entwickelt, während Nemesius kaum erkennen lässt, wo er theologisch steht. Beider Werk ist dermaßen unterschiedlich, dass zu erwarten ist, dass ein Vergleich zwischen Gregor und Nemesius lohnt und möglicherweise zur genaueren Erkenntnis der Anthropologie beider und ihrer Lehre vom menschlichen Willen beiträgt. Gregor von Nyssa benennt die philosophischen Traditionen, die er aufnimmt, nicht und formt sie stark um, wenn er sie in sein eigenes Denken integriert. Nemesius hingegen lässt seine Entlehnungen aus der spätantiken Philosophie besser erkennen, nicht zuletzt, weil er sie in weitaus geringerem Maß umformt. Aus diesem Grund behandle ich Nemesius, obwohl er wahrscheinlich jünger ist als Gregor, vor diesem. Das Schwergewicht dieser Arbeit liegt auf Nemesius von Emesa. Ich werde im wesentlichen dem Aufbau seiner Schrift folgen. Dabei gebe ich einen knappen Überblick über seine Anthropologie im ganzen und konzentriere mich dann auf die Passagen seines Werkes, die sich mit dem freien Willen des Menschen befassen. Hier sollen die Quellen, die Nemesius verwendet oder zu denen eine traditionsgeschichtliche Beziehung besteht – vor allem die Nikomachische Ethik des Aristoteles und die antiken Kommentare dieses Werkes – zum Vergleich herangezogen werden, um die Willenslehre des Nemesius und ihre Intentionen zu erheben. Der Abschnitt über Gregor von Nyssa ist erheblich knapper gehalten. Ich habe darauf verzichtet, die ganze Fülle der Werke des Nysseners heranzuziehen, und mich auf einige wenige konzentriert. Auch die Literatur ist bewusst nicht vollständig herangezogen. Die Willenslehre Gregors soll zum Vergleich mit Nemesius dienen. Da Nemesius so wenig christliches Profil zeigt, empfiehlt es sich, ihn neben Gregor zu stellen, dessen Werk sein Christentum deutlich erkennen lässt und der seine Anthropologie innerhalb einer durchdachten und breit entfalteten christlichen Theologie entwickelt hat.

I. Der Wille des Menschen in der Anthropologie des Nemesius von Emesa

1. Person und Werk des Nemesius von Emesa Über Nemesius von Emesa1 liegen außer seinem Werk „Über die Natur des Menschen“ (Περ φσεως νρκατ(ρου [sc. des Gottlogos und des Leibes] δυνµειςµ geschehen sei; danach hätten sich die göttlichen Kräfte nur mit den Kräften des Leibes, d. h. den Sinnen, und den Kräften der Seele vermischt. 7 Nemes. nat. hom. 3 (Morani 44,19–21) und 30 (Morani 95,18f). Ohne den Alexandriner zu nennen, lehnt Nemesius es ab, die christliche Auferstehungshoffnung auf die stoische Lehre der immer neu erfolgenden Wiederherstellung (ποκατστασις) der Welt zurückzuführen; die christliche Vorstellung von Tod und Auferstehung beruhe vielmehr auf der Verkündigung Christi (Nemes. nat. hom. 38 [Morani 112,3–6]).

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Nemesius von Emesa

wollen zurückgeführt werden kann, der dem Leib geeinte Gottlogos jedoch unvermischt bleibt infolge der eigenen Natur Gottes.8 Der eigentliche Gegenstand des nestorianischen Streites, die Art und Weise der christologischen Einung, ist offensichtlich nicht das Thema, sondern für Nemesius scheint strittig zu sein, welche Größe die Art der christologischen Einung bestimmt: der Wille oder die Natur Gottes.9 Dass die göttliche Natur unkörperlich ist, ermöglicht die Einung und bestimmt ihre Art, aber es ist das Wohlwollen Gottes, das sie bewirkt. Dass Nemesius hier zeitgenössische Theologen antiochenischer Prägung wie Theodor von Mopsuestia (gest. 428) im Sinn hat, ist trotz allem wahrscheinlich. Denn Nestorius sprach von einer Einigung κατ’ εδοκαν, und schon im antiochenischen Symbol von 341 wird das Wohlwollen als Grund der Inkarnation angeführt.10 8 Zuvor hat Nemesius festgestellt, dass die göttliche Natur als eine unkörperliche bei der Einung mit niedrigeren Naturen unvermischt bleibt, „so dass sie dadurch, dass sie durch alles dringt, mit sich eint und dadurch, dass nichts durch sie [dringt], unvermengt und unvermischt bleibt. Folglich ist nicht Wohlwollen die Art der Einung, wie es einigen berühmten Männern dünkt, sondern die Natur ist der Grund [sc. der Einung]. Denn man kann zu Recht sagen, dass es aus Wohlwollen geschehen ist, dass er [sc. der Gottlogos] einen Leib angenommen hat; dass aber das geeinte nicht vermischt wird, das geschieht aufgrund der eigenen Natur Gottes und nicht aus Wohlgefallen.“ – ?στε τ"@ µ.ν χωρε2ν ατν δι+ πντων Aν@αι, τ"@ δ. µηδ.ν δι’ ατς µ(νειν =µικτον κα σγχυτον. οκ εδοκα τονυν C τρ!πος τς >ννοµενον µ συγχυναι κατ+ τν ο κεαν το εο φσιν ο κατ’ εδοκαν γνεται (Nemes. nat. hom. 3 [Morani 44,13–18]). Burgundius von Pisa übersetzt εδοκα bei Nemesius an der ersten Stelle mit acceptio und an der folgenden mit acceptatio, offensichtlich versteht er es als Zustimmung (Verbeke/Moncho 55,48–52). 9 Bardenhewer greift mit seiner Darstellung, wonach die berühmten Männer meinten, „die Vereinigung des Logos mit dem Sohne der Jungfrau sei nur eine moralische, keine hypostatische gewesen“ (Geschichte der altkirchlichen Literatur. Bd. 4: Das fünfte Jahrhundert mit Einschluß der syrischen Literatur des vierten Jahrhunderts. Freiburg 21924, 278), dem Fortgang der Dogmengeschichte voraus. Ähnlich Dománski, Psychologie, 69–73. Dietrich Bender (Untersuchungen zu Nemesius von Emesa. Diss. phil. Heidelberg. Leipzig 1898, 22– 30) hat die Argumente für eine Datierung des Nemesius ins fünfte Jahrhundert hinein eingehend behandelt und für nicht zwingend erkannt. Auch Alois Grillmeier (Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Bd. 1: Von der Apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451). Freiburg [u. a.] 31979, 576) überzieht die Intention des Nemesius, wenn er A φσις α τα mit „Mitteilung der Natur selbst“ übersetzt; vgl. dazu meine Übersetzung der Stelle in der vorhergehenden Anm. und Alberto Siclari: L’antropologia di Nemesio di Emesa. Filosofia e religione 9. Padova 1974, 125 f und 21 f, der zudem in der terminologischen Ungenauigkeit des Nemesius ein Anzeichen dafür sieht, dass er noch nicht lange Christ ist. Auch Ferdinand Gahbauer (Das anthropologische Modell. Ein Beitrag zur Christologie der frühen Kirche bis Chalcedon. ÖC NF 35. Würzburg 1984, 259) verzeichnet die Intention des Nemesius. Harry Wolfson (The Philosophy of the Church Fathers. Vol. 1: Faith, Trinity, Incarnation. Cambridge, Mass., 1956, 400) sieht deutlich, dass Nemesius einen tiefen Unterschied zwischen der Einung von Leib und Seele und der christologischen Einung ausmacht. 10 τν κα π’ σχτων Aµ(ρων κατ’ εδοκαν το πατρς κατ(λοντα (bei Athanasius von Alexandrien de syn. 22–25 [Athanasius Werke. Bd. 2,1. Die Apologien. Hg. von HansGeorg Opitz. Berlin 1935–1941, S. 249,3 f]).

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Aufgrund der Verweise und Anspielungen auf häretische Schriftsteller kann man folglich annehmen, dass De natura hominis wahrscheinlich Ende des vierten, Anfang des fünften Jahrhunderts entstanden ist. Dies ist auch die opinio communis der Forschung. Das Buch selbst bietet eine umfangreiche Anthropologie, wobei der Verfasser in einem hohen Maß nicht nur auf Lehren der antiken Philosophie und Medizin zurückgreift, sondern diese auch ausführlich referiert und zitiert; dadurch ist das Buch eine wertvolle Quelle für die Geschichte der spätantiken Philosophie und Medizin.11 Eine Besonderheit des Nemesius ist sein intensiver Rückgriff auf Aristoteles. Denn den meisten der später als orthodox anerkannten Theologen der alten Kirche war die Lehre des Aristoteles verdächtig, gerade in der Zeit um 400. Er dachte die Seele als Entelechie des Leibes. Die Kirchenväter hielten dagegen, dass nach dieser Lehre die Selbständigkeit der Seele gegenüber dem Leib aufgehoben wäre. In ihren Augen lehrte Aristoteles die Ewigkeit der Welt. Dass die Eunomianer ihre Lehre auf die Logik des Aristoteles gründeten, stellte diesen in ein noch schlechteres Licht. Daher haben die Kirchenväter die Metaphysik und die Ethik des Stagiriten fast nie benutzt; einzig auf dessen Logik haben sie zurückgegriffen, um ihre eigenen Argumentationen stringenter zu gestalten. Diese Einstellung hatten die Kirchenväter mit dem Neuplatonismus gemeinsam.12 Nemesius teilte die Vorbehalte der großkirchlichen Theologen seiner Zeit gegen Aristoteles. Darum hat er, wenn er auf aristotelisches Denken zurückgriff und es zustimmend benutzte, zumeist nicht die Herkunft der entlehnten Gedanken angegeben. Vor allem wenn er ihn kritisiert, nennt er seinen Namen. Es überwiegen aber die stillen Anleihen bei Aristoteles.13 Die kritische Ausgabe von Morani bietet zahlreiche Verweise, die sich allerdings noch vermehren lassen.14 Nemesius versucht, durch eine kritische Sichtung anthropologischer Lehren aus der philosophischen Tradition eine christliche Lehre vom Menschen zusammenzustellen. Ihm wird gerne Eklektizismus vorgeworfen, auch wenn das Christentum ihm dabei als Wahrheitskriterium dient.15 11 Nemesius Schrift ist als Quelle zur Rekonstruktion einiger der von ihm benutzten philosophischen Werke eingehend untersucht worden von Werner Wilhelm Jaeger, Nemesios, und von Heinrich Dörrie: Porphyrios’ „Symmikta Zetemata“. Zetemata 20. München, 1959. Kritisch sieht diesen Ansatz, der das Denken des Nemesius selbst aus dem Blick zu verlieren droht, Anastasios Kallis: Der Mensch im Kosmos. Das Weltbild Nemesios’ von Emesa. MBTh 43. Münster 1978. 1–6; vgl. auch Frances M. Young, Nemesius, 258. 12 Vgl. Olof Gigon: Art. Aristoteles/Aristotelismus I. Aristoteles. TRE 3 (1978) 726– 768, hier 760 f und Heinrich Dörrie: Art. Aristoteles/Aristotelismus II. Antiker Aristotelismus. TRE 3 (1978) 768–776, hier 775 f, der allerdings Nemesius nicht erwähnt. 13 S.u. S. 40. 14 S.u. S. 81 f und 95. 15 Vgl. Vladimir Valdenberg, der von einem „syncrétisme sans principe“ spricht. Sein Christentum bedinge, dass Nemesius die Seele nicht metaphysisch, sondern auf einer psychologischen Ebene betrachtet; er gehe ebenso wie in seiner Kosmologie von einem „réalisme

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Nemesius von Emesa

Allerdings setzt Nemesius bei den Vorgaben der Philosophie seiner Zeit an und entwickelt seine Anthropologie nicht von der Heiligen Schrift her. Diese wird von ihm nur zuweilen benutzt, um bestehende Lehrmeinungen verschiedener philosophischer Provenienz zu prüfen.16 Die Heilige Schrift gilt ihm als göttlich inspiriert und eine auf ihr beruhende Argumentation als hinreichend.17 Er zieht sie jedoch selten zur Beweisführung heran. Vorwiegend werden von ihm Argumente aus der philosophischen Tradition aufeinander bezogen oder gegeneinander gestellt, ohne dass ein Bezug auf Worte der Heiligen Schrift oder christlich-theologische Lehren hergestellt wird. Zu manchen theologischen Themen seiner Zeit findet sich in dem Buch des Nemesius keine Stellungnahme: Nie äußert er sich über die Trinitätstheologie oder die Pneumatologie; einmal reflektiert er über die Einung von Gott und Mensch in Jesus Christus: Sie dient ihm als Beispiel für die anthropologische Einung von Seele und Leib, das ist offenbar sein ganzes Interesse daran.18 Dieser nur schwach christliche Charakter seines Werkes führte zu der Vermutung, dass Nemesius in der hellenistischen Bildung als Heide aufgewachsen ist und erst relativ spät zum Christentum gefunden hat.19 Ja, der manchmal unausgewogene und unfertige Charakter des Wer16 chrétien“ aus. (La philosophie byzantine aux IVe–Ve siècles. III. Némésius d’Émèse. Byz. 4 [1927–1928/29] 236–268, 257). 16 Vgl. Siclari, L’antropologia, 19, und vor allem Verbeke, Foi et culture, 513 und 530 f: Nemesius interpretiert die christliche Anschauung vom Menschen von der griechischen Philosophie, vor allem ihrer neuplatonischen Ausrichtung her und die griechische Philosophie vom christlichen Glauben her und verbindet beide zu einer harmonischen Synthese; dabei wählt Nemesius aus der Vielzahl der Ansichten über den Menschen, die ihm die philosophische Tradition zu bietet, das aus, was ihm hilfreich erscheint, die christliche Botschaft zu erhellen. Auch seine Bewertung häretischer Autoren wie Eunomius und Apollinarius orientiere sich an einer neuplatonischen Interpretation der Schrift (518 f). In seinem früheren Akademiebeitrag (Filosofie en christendom in het mensbeeld van Nemsios van Emesa. Mededekingen an de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Kunsten van Belgie, Kl. d. Letteren 33 [1971] Nr. 1. Bruxelles, 1971, 34) spricht Verbeke nur von einer christlich geprägten Rezeption der neuplatonischen Philosophie. Vgl. auch Frances M. Young, die (Adam and anthropos. A study of the interaction of science and the Bible in two anthropological treatises of the fourth century. VigChr 37 [1983] 110–140, 131) noch stärker einschränkt: Die Schrift bestätige des Nemesius „preference for one set of conclusions“; 135– 137 bietet sie eine Liste (fast) aller biblischen Zitate und Anspielungen bei Nemesius. 17 Vgl. Nemes. nat. hom. 2 (Morani 38,5–9). 18 S.o. Anm. 9; vgl. hierzu Young, Adam and anthropos, 133. 19 Vgl. Telfer, Cyril, 207–211, und Siclari, L’antropologia, 13 f, die die Hypothese, der Verfasser von De natura hominis sei mit dem von Gregor von Nazianz mehrfach erwähnten Praeses Nemesius der Provinz Kappadokia Secunda (epp. 189, 199–201), an den er sein carm. hist. II 2, 7 gerichtet hat (PG 37, 1551–1577; vgl. auch Arnold M.H. Jones/John Robert Martindale: The prosopography of the Later Roman Empire. Vol. 1. A.D. 260–395. Cambridge 1971. 622), identisch, diskutieren und in Zweifel ziehen: Es fehlt jedes Interesse an juristischen Fragen bei ihm (ähnlich Bender, Untersuchungen, 3–5). Leslie W. Barnard (The Father of Christian Anthropology. ZNW 63 [1972] 254–270, hier 257) möchte wegen der nur schwachen christlichen Prägung von De natura hominis lieber Athenagoras an den Anfang der Geschichte der christlichen Anthropologie setzen.

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kes wird darauf zurückgeführt, dass Nemesius das Werk vor seiner Bekehrung zum Christentum konzipiert und niedergeschrieben und dann als Bischof begonnen habe, es zu überarbeiten, aber nicht mehr ganz habe abschließen können.20 An dieser Hypothese zeigt sich, wie wenig Anhalt die Schrift des Nemesius bietet, ihn einer theologischen Tradition seiner Zeit zuzuordnen. Für Heinrich A. Koch ist er durch die antiochenische Schule gegangen und teilt ihren Pelagianismus21; doch da die pelagianischen Streitigkeiten den Osten kaum bewegten und dort zu keiner Ausbildung theologischer Positionen diesbezüglich führten und Nemesius an christologischen Aussagen kein besonderes Interesse hat, reichen die Gründe für Kochs Hypothese nicht aus. Im vierten und fünften Jahrhundert haben mehrfach führende Männer aus den Oberschichten ihre politische Karriere mit einem plötzlichen Wechsel in das Amt eines Bischofs der christlichen Kirche fortsetzt und sind dabei durchaus den ihnen vertrauten Weltanschauungen treu blieben (wie zum Beispiel Synesius von Kyrene).22 Der Charakter von De natura hominis passt gut zu einem Vertreter dieser im Übergang zum Christentum begriffenen Gruppe. Darüber hinausgehende Folgerungen bleiben aber Spekulation. Als Adressaten seines Werkes nennt Nemesius einmal die Heiden.23 Dies entspricht dem apologetischen Charakter der Schrift, die sich an einen weiteren Kreis gebildeter Leser, nicht bloß an die wenigen Philosophen wendet. Sie entspricht der Grundstimmung des Christentums im römischen Reich um 400, das sich als Erbe und Überbietung der griechischen Kultur verstand.24

20 Vgl. Bardenhewer, Geschichte, Bd. 4, 276, und Telfer, Cyril, 209 f. Das Werk bricht in Kapitel 43 mit einem erklärenden Beispiel unvermittelt ab; in Kapitel 3 (Morani 44,6 f) verweist Nemesius zurück auf die Behandlung der Sinne, obwohl er auf dieses Thema noch nicht zu sprechen kam; was unter Idee zu verstehen ist, wird entgegen seiner Ankündigung in Kapitel 13 (Morani 69,15 f) nirgendwo in seinem Werk erklärt. 21 Heinrich A. Koch, Quellenuntersuchungen zu Nemesius von Emesa. Berlin 1921, 50 f. Vgl. auch Benedict Einarson (Studies in Nemesius. Abstract of Theses. Humanistic series. Vol. 9. […] submitted to the faculties […] of the University of Chicago […], August 1930–June 1932. Chicago, 1934. 363–366, hier 364 f und 366), nach dem zwei Parallelen zur antiochenischen Theologie den Anschein erwecken, „that Nemesius was greatly influenced by the Antiochene school“ (365). Da seine Dissertation selbst (Studies in Nemesius. Ungedr. Diss. phil. University Chicago 1932) mir leider nicht zugänglich war, kann ich nicht diskutieren, wie Einarson diese These näherhin begründet. 22 Vgl. auch Winfried Daut: Die „halben Christen“ unter den Konvertiten und Gebildeten des 4. und 5. Jahrhunderts. ZMRW 55 (1971) 171–188. 23 Nemes. nat. hom. 42 (Morani 120,22). 24 Vgl. Verbeke, Foi et culture, 511f. Eine interessante Hypothese vertritt Egil A. Wyller (Die Anthropologie des Nemesius von Emesa und die Alkibiades-I-Tradition. SO 44 [1969] 126–145): Nemesius habe in einer Zeit, in der sich die platonische Philosophie intensiver mit dem Dialog Alkibiades I befasste und Anthropologie als Thema verfolgte, auf Kaiser Julians Herausforderung an die Christen geantwortet und eine christliche Anthropologie verfasst.

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Dass Nemesius als historische Gestalt kaum greifbar ist, hat nicht verhindert, dass er breit gewirkt hat. So schmal sein Werk ist und so wenig originell es moderner Forschung erscheint, es wurde im Orient wie im Abendland intensiv rezipiert. Dass es teilweise unter dem Namen Gregors von Nyssa überliefert wurde,25 hat dazu beigetragen. Maximus Confessor und wenig später vor allem Johannes von Damaskus, der weite Passagen unverändert in seine Schriften übernahm, haben De natura hominis benutzt. So wirkte Nemesius durch prominente Schrifen hindurch unerkannt weiter und prägte die Anthropologie der Orthodoxen Kirchen. Übersetzungen in die Sprachen des christlichen Orients und die beiden hochmittelalterlichen lateinischen Übersetzungen kamen hinzu.26 So beruft sich Thomas von Aquin, als er, um seine Benutzung aristotelischer Philosophie zu rechtfertigen, auf Gregor von Nyssa und Johannes von Damaskus verwies, im Grunde auf Nemesius von Emesa.27

2. Der Aufbau von De natura hominis Wenn ich im folgenden der Frage nachgehe, wie Nemesius über den Willen des Menschen schreibt, so ist immer zwischen den aus der philosophischen Tradition angeführten Meinungen und den Bewertungen dieser Meinungen durch Nemesius zu unterscheiden. Die eigene Ansicht des Nemesius zeigt sich vor allem im Aufbau und den verbindenden Passagen seiner Schrift, in seiner Kritik an den Positionen anderer Philosophen und S.o. S. 18. Ausführlich informiert über die Übersetzungen bis in das 20. Jahrhundert Verbeke, Filosofie, 6–14. Die des Burgundius von Pisa wurde von Verbeke/Moncho ediert, die des Alfanus liegt vor in: Nemesii Episcopi Premnon Physicon sive Περ φσεως νρκοσιον auch in einem engeren Sinn verstehen, so dass es eine Vernunftbegabung voraussetzt. Angesichts der zahlreichen anderen Ausdrücke für das Begehren, 8ρεξις (Verlangen), CρµQ (Streben), πιυµα (Begehren) und SοπQ (Drang), gebe ich >κοσιος und κοσιος mit „freiwillig“ und „unfreiwillig“ wieder, auch wenn dies beim Leser möglicherweise irreführende Konnotationen weckt. τ ατεξοσιον gebe ich als „Selbstmächtigkeit“ wieder,128 und τ φ’ Aµ2ν werde ich, wenn möglich, mit dem ungelenken, aber neutralen „was bei uns liegt“ oder „was in unserer Macht liegt“ wiedergeben. In der Überschrift zu Kapitel 39 (112,7) werden beide Begriffe gleichgesetzt, während τ φ’ Aµ2ν in der Überschrift von Kapitel 40 (114,12) und ατεξοσιος in der Überschrift zu Kapitel 41 (117,6) jeweils allein begegnen. Nur mit der neutralen, substantivierten Form von ατεξοσιος wird τ φ’ Aµ2ν identifiziert. Es meint dann mehr den Bereich freiwilligen Handelns, ατεξοσιος in maskuliner Form beschreibt eher eine Eigenschaft der menschlichen Natur. τ >κοσιον und τ +κοσιον (mit den ihnen zugrundeliegenden >κκοσιον) zuweilen mit der die Vernunft voraussetzenden Wahlentscheidung identifiziert (προαρεσις) und daneben oft einen weiteren Begriff von dem Freiwilligen zu haben scheint, der zum Begriff des Spontanen hinneigt, nicht überbewertet werden.134 In Kapitel 30 wird das Unfreiwillige weiter unterschieden in das, was man unter Zwang, und das, was man in Unwissenheit unfreiwillig tut (94,15). Nemesius gibt dann die Definition des durch Zwang Unfreiwilligen wieder, die sich bei Aristoteles findet, allerdings in der Gestalt, die sie erst in 1110b15–17, am Ende von III,1 hat: ]ρος τονυν το κατ+ βαν κουσου στν, οX A ρχ ξωεν µηδ.ν συµβαλλοµ(νου κατ’ ο κεαν Cρµν το βιασ(ντος (94,17f). Er hat sie zudem mit einem Zusatz (κατ’ ο κεαν Cρµν) erweitert, der durchaus die Intention des Aristoteles trifft. Nun bringt er Beispiele für solche Handlungen, wo Menschen in einer Notsituation oder unter Zwang etwas tun, was sie sonst nicht täten. Es sind Sonderfälle, die, wie sich zeigt, durch die eng gefasste Definition eingegrenzt werden. Man wählt sie, um ein größeres Übel zu verhindern oder um ein größeres Gut zu erreichen. Sie sind aus Unfreiwilligem und Freiwilligem gemischt und würden ohne den jeweiligen Umstand nicht vollzogen. Nun bringt Nemesius das christliche Martyrium als Beispiel dafür vor, dass die Entscheidung in solchen Zwangssituationen schwierig ist. Noch schwieriger sei es, die getroffene Entscheidung dann durchzuhalten. Zum Schluss weist es Nemesius – er will den Bereich des Unfreiwilligen eng fassen – zurück, Handlungen als unfreiwillig zu qualifizieren, wenn man durch Zorn oder Begierde dazu verleitet wurde: Man benutzt seine eigenen Glieder als Werkzeug zum Handeln, wird dafür getadelt und freut sich am Ausgang der Handlung, darum gelten sie als freiwillig. Nun soll Kapitel 30 mit dem entsprechenden Abschnitt der Nikomachischen Ethik verglichen werden. Es folgt im wesentlichen der Gliederung von Buch III,1. Nach der Unterscheidung und der Definition des durch Zwang Unfreiwilligen fehlt bei Nemesius der Satz: _`σα δ. δι+ φ!βον µειζ!νων κακ@ν πρττεται L δι+ καλ!ν τι (1110a4 f, er wird ihn später verwenden). Nemesius geht sofort zu den erläuternden Beispielen (1110a4–11) über, die diesen Satz bei Aristoteles erläutern sollen; er kehrt dabei die Reihenfolge der beiden Beispiele um (94,19–22). Von dem bei Aristoteles folgenden Satz (Μικτα µ.ν οFν ε σν α5 τοιαται πρξεις, οκασι δ. µIλλον >κοσιοις) führt er die zweite Hälfte an (die erste Hälfte wird er später aufgreifen) und lässt den Genitivus absolutus der Definition folgen. Er springt wieder im Text des Aristoteles weiter und schließt mit 134 Auch Aristoteles ist hier schon nicht ganz eindeutig in diesen Begriffen (vgl. Ursula Wolf: Aristoteles’ ‚Nikomachische Ethik‘. Darmstadt 2002, 117).

Der Ansatz beim menschlichen Handeln

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diesem von der Tatsache, dass die Handelnden ihre eigenen Glieder gebrauchen, auf die Freiwilligkeit ihres Handelns (1110b15–17/94,24–95,1). Bei Nemesius finden sich dann zwei Beispiele, die bei Aristoteles keine Parallele haben und die ich noch besprechen werde; sie erläutern den von Nemesius zunächst übergangenen Satz (1110a4f/95,2–6). Den nächsten Satz bildet Nemesius, indem er auf drei Sätze aus der Nikomachischen Ethik zurückgreift. Auch Wendungen, die aus zwei verschiedenen Kommentaren zu diesem Werk, den Commentaria in ethica nicomachea des Aspasius135 und In ethica nicomachea paraphrasis des PseudoHeliodorus136 stammen, haben hier Spuren hinterlassen. Nemesius steht also in Abhängigkeit von anderen Kommentaren der Aristotelischen Ethik oder der von diesen benutzten Tradition. Da sich in diesem Kapitel auch noch Parallelen zu den MΗικ+ προβλQµατα des Alexander von Aphrodisias137 und den Kommentaren eines Anonymus über das zweite bis fünfte Buch der Nikomachischen Ethik138 finden, will ich dazu diesen Spuren hier nachgehen und die Schriften oder ihre Autoren in der vermutlichen chronologischen Reihenfolge ihrer Entstehung kurz beschreiben und danach die einzelnen Parallelen beschreiben. Exkurs: Von Nemesius möglicherweise benutzte Aristoteleskommentare Aspasius lebte in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Er kommentierte mehrere Schriften des Aristoteles, von denen sich aber nur die Scholien zur Nikomachischen Ethik zur Hälfte erhalten haben. Dieses Werk ist der älteste nicht nur in Fragmenten erhaltene Kommentar zu einer Schrift des Aristoteles. Er versucht darin, Aristoteles aus sich heraus zu verstehen, doch zeigt er sich dabei mehr von den ethischen Anschauungen seiner Zeit als von dem Stagiriten beeinflusst. Plotin hat die Schriften des Aspasius in seinen Vorlesungen benutzt.139 Alexander von Aphrodisias wirkte Ende des zweiten, Anfang des dritten nachchristlichen Jahrhunderts. Zwischen 198 und 209 n.Chr. wurde er als Lehrer der Philosophie des Aristoteles wohl nach Athen berufen. Er hielt sich eng an die Leh135 Aspasii in ethica Nicomachea quae supersunt commentaria. Ed. Gustav Heylbut. CAG 19,1. Berlin 1889. 136 Heliodori in ethica Nicomachea paraphrasis. Ed. Gustav Heylbut. CAG 19,2. Berlin 1889. 137 Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora. Ed. Ivo Bruns. CAG Suppl. 2,2. Berlin 1892, 117–163. 138 Anonymi in ethica Nicomachea ii–v commentaria, in: Eustratii et Michaelis et anonyma in ethica nicomachea commentaria. Anonymi in ethica Nicomachea ii–v commentaria. Ed. Gustav Heylbut. CAG 20. Berlin 1892, 122–255. 139 Porph. vit. Plot. 14,13 f (Harder 30); zu Aspasius allgemein vgl. Alfred Gercke: Art. Aspasios 2. PRE 22 (1896) 1722 f, Heinrich Dörrie: Art. Aspasios. KP 1 (1964) 650, Paul Moraux: Art. Aspasios. LAW 350, und auführlich ders.: Der Aristotelismus der Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias. Bd. 2: Der Aristotelismus im 1. und 2. Jhd. n.Chr. Peripatoi 6. Berlin/New York 1984, 226–293; zuletzt: Robert Sharples: Art. Aspasios [1], NP 2 (1997) 104 f.

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Nemesius von Emesa

ren des Stagiriten und legte dessen Schriften mit stark antiplatonistischer Tendenz aus. Er hat auch eigene Werke verfasst. Plotin hat ebenfalls Alexanders Schriften zu dem Kanon der philosophischen Werke gezählt, die er seinem Unterricht zugrundelegte.140 Die In ethica Nicomachea ii–v commentaria sind in einem Codex aus dem 12. Jahrhundert erhalten, der Werke verschiedener Herkunft in sich vereint. Der Kommentar des Anonymus bietet Scholien aus verschiedenen Quellen, die zu einem großen Teil wahrscheinlich auf Adrastus von Aphrodisias zurückgehen, dessen paraphrasierende Exegesen eine große philologische Kunst zeigen, aber kein Interesse an der Geschichte der philosophischen Lehren. Adrastus selbst hat in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts gewirkt.141 Zitate und Entlehnungen in den Commentaria machen eine Datierung des Werkes in seiner endgültigen Form auf den Anfang des 3. Jahrhunderts wahrscheinlich.142 Eine Datierung in das sechste Jahrhundert, wie sie verschiedentlich erwogen wird, hält Moraux für nicht zwingend.143 Auch dass Nemesius, wie sich unten zeigen wird,144 diese Scholien benutzt hat oder von ihnen abhängig ist, spricht gegen eine solche Spätdatierung. Zeitlich kaum einzuordnen ist das Werk In ethica nicomachea paraphrasis. Der Kopist Palaiokappa, der für verschiedene Fälschungen bekannt ist, hat es wohl bis 1366 einem ansonsten unbekannten Heliodorus von Prusa zugeschriebenen. Karl Praechter hat es in seiner großen Rezension über die Gesamtedition der Commentaria in Aristotelem graeca bei der zeitlichen Einordnung aller in dieser Reihe enthaltenen Schriften diesen Kommentar ausgespart.145 Ich führe dieses Werk im folgenden unter Pseudo-Heliodorus an.

Nun soll zunächst die Stelle, die den Anlass gegeben hat, nach den Quellen, die Nemesius hier möglicherweise benutzt hat, zu fragen, betrachtet werden. Eine synoptische Darstellung soll die Bezüge deutlich machen; 140 Vgl. Alfred Gercke: Art. Alexandros 94) A. von Aphrodisias. PRE 1,2 (1894) 1453– 1455, Walther Sontheimer: Art. Alexandros 21. A. von Aphrodisias. KP 1 (1964) 253, Paul Moraux: Art. Alexander von Aphrodisias. LAW 109 f und Robert Sharples: Art. Alexandros 26, von Aphrodisias. NP 1 (1996) 480–482. Nach Sharples ist die Alexander zugeschriebene Schrift MΗικ+ προβλQµατα möglicherweise in seinem Schülerkreis entstanden, vgl. ders.: The school of Alexander. In: Richard Sorabji (Ed.): Aristotle transformed. The ancient commentators and their influence. London 1990, 83–111. 141 Vgl. Hans Gottschalk: Art. Adrastos, 3 aus Aphrodisias. NP 1 (1996) 131. 142 Vgl. H.P.F. Mercken: The greek commentators on Aristotle’s Ethics. In: Sorabji, Aristotle, 407–443, bes. 407 und 419–429, sowie: Richard Sorabji: The ancient commentators on Aristotle, ebd. 1–30, 16, und Moraux, Aristotelismus Bd. 2, 324–330. Einarson, Studies, 364, hält es in seiner mir leider nicht zugänglichen Dissertation für möglich, dass hinter dem Anonymus Aristokles von Messene steht, der Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus lebte und Lehrer des Alexander von Aphrodisias war (vgl. Heinrich Dörrie: Art. Aristokles 1. von Messene. KP 1 [1964] 567 f). 143 Moraux, Aristotelismus Bd. 2, 324 Anm. 115. 144 S.u. S. 52. 145 Karl Praechter, Die großen Aristoteleskommentare. ByZ 18 (1909) 516–538, wiederabgedruckt in: Ders.: Kleine Schriften. Hildesheim 1973, 282–304, hier 522 bzw. 288. Zur Überlieferung des Kommentars und seiner Zuschreibung zu Heliodorus vgl. Paul Moraux: Der Aristotelismus der Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias. Bd. 1: Die Renaissance des Aristotelismus im 1. Jh. v.Chr. Peripatoi 6. Berlin/New York 1973, 137 mit Anm. 11.

Der Ansatz beim menschlichen Handeln

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hierbei sind wörtliche Übereinstimmungen mit Nemesius bei Aristoteles, Aspasius und Pseudo-Heliodorus unterstrichen und leichte Abweichungen kursiv gesetzt. (Arist. eth. Nic. 1110a12f:) α5ρετα γρ ε σ τ!τε, ]τε πρττονται, […] (1110a11f) Μικτα µ.ν οFν ε σν α5 τοιαται πρξεις, οκασι δ. µIλλον >κοσιοις. (1110a18f) >κοσια δ τ+ τοιατα, πλς δ’ Dσως κοσιαR οδε2ς γρ ν Pλοιτο κα’ α τ τ@ν τοιοτων οδ(ν.

(Aspasius comm. in eth. Nic. 61,5 f:)

µικτ+ς µ.ν οFν εJνα φησι τ+ς τοιατας πρξεις ξ >κουσου κα κουσου. (Ps.-Heliod. in eth. Nic. paraphr. 42,18) στι τονυν >κοσιον µ.ν ατ A πρIξις, δηλον!τι µετ+ τ@ν περιστατικ@ν, πλς δ. κα χωρς προσQκης κοσιονR χωρς γ+ρ περιστεως οδες ν Pλοιτο τοιατα ποιεν.

(Nemes. nat. hom. 95,10–13:) κα τ!τε ε σν α5ρετα, ]ταν πρττωνται, κα’ >αυτ+ς οκ οFσαι α ρετα. ε σν οFν µικτα ξ >κουσου κα κουσου, κουσου µ.ν κα’ >αυτ+ς, >κουσου δ. ττε δι+ περστασινR =νευ γ+ρ περιστσεως οδε2ς ν Pλοιτο τατα πρIξαι,

Die Abweichungen gegenüber dem Text des Aristoteles, die Nemesius an dieser Stelle aufweist und teilweise mit anderern Kommenatoren gemeinsam hat, verändern nicht die Grundaussage des Stagiriten. Diese zielt darauf ab, Handlungen, die Züge des Unfreiwilligen und des Freiwilligen aufweisen, als freiwillige herauszustellen. Bei Nemesius und den antiken Kommentatoren werden allenfalls die Akzente etwas anders gesetzt. Aristoteles hat zwischen 1110a11 und 18 die Unterscheidung zwischen der Handlung im Moment des Vollzugs (]τε πρττονται) und dem Ziel der Handlung aufgegriffen und darauf insistiert, die Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit der Handlung bezüglich der Handlung im Vollzug zu bestimmen; dass die dabei Handelnden ihre eigenen Glieder bewegen, erweist ihr Handeln als freiwillig. Nemesius hatte dieses Argument bereits zweimal gebracht, er konzentriert sich hier nun auf die Unterscheidung der Handlung im Moment des Vollzugs und der Handlung an sich. Mit Aspasius erläutert er das µικτα des Aristoteles durch den Zusatz ξ >κουσου κα κουσου. Wie PseudoHeliodorus bringt er bereits an dieser Stelle die Umstände (περιστσεις) der Handlung gegenüber der Handlung an sich ins Spiel. Diese Gegenüberstellung ist innerhalb von De natura hominis ein Vorgriff auf Kapitel 31, entsprechend Buch III,2 der Nikomachischen Ethik. Auch dort ist Pseudo-

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Nemesius von Emesa

Heliodorus mit Nemesius zu vergleichen.146 Die synoptische Übersicht macht deutlich, dass Nemesius den Text des Pseudo-Heliodorus nur geringfügig modifiziert: Er vertauscht die beiden ersten Sätze und variiert in der Wortwahl. Es zeigt sich, dass Nemesius in zwei Wendungen zusammen mit einem der beiden angeführten Kommentatoren von dem Text der Nikomachischen Ethik abweicht; doch die Abweichungen stellen verdeutlichende Weiterungen dar. Sie tragen keine neuen Aussagen ein, noch verzeichnen sie die des Aristoteles. Welche Ähnlichkeiten zwischen Alexander von Aphrodisias und Nemesius finden sich in diesem Kapitel insgesamt?147 Der Kommentar des Alexander hat an drei Stellen seine Spuren bei Nemesius hinterlassen. Zunächst hat auch er seinen Ausführungen über Buch III,1 der Nikomachischen Ethik die Definition in derselben Form vorangestellt wie Nemesius (94,17f), nämlich in der, die Aristoteles erst am Schluss des Kapitels bietet.148 Weiter findet sich der bereits genannte Zusatz zu der Definition der unter Zwang unfreiwilligen Handlung (κατ’ ο κεαν Cρµν [94,18]) auch bei Alexander. Aristoteles hatte (1110a15–17) gefolgert, dass der Handelnde Prinzip seiner Handlung ist, wenn er seine Glieder als Werkzeuge dazu bewegt. Dies erklärt Alexander dahingehend, dass der Handelnde nur dann als derjenige gelten kann, der die Handlung vollzieht, wenn die Bewegung der Glieder „aus eigenem Streben und Vorsatz geschehen ist“, nicht aber, wenn sie „auf eine gewohnte und natürliche Reaktion von Gliedern“ zurückzuführen ist.149 Schließlich dürfte Nemesius auch die Wendung A ποιητικ ρχQ (94,16) Alexander verdanken.150 In 95,3–6 hat Nemesius zwei grausame Beispiele aufgegriffen, die in der heidnisch-hellenistischen Kultur weit verbreitet gewesen sind; sie handeln von Zenon und Anaxarchos. Von Zenon erzählt Nemesius, dass er seine Zunge abgebissen habe, um nicht seine Freunde zu verraten, und von Anaxarchos, dass er sich aus dem gleichen Beweggrund zerstampfen ließ. Bei Aristoteles finden sich diese Beispiele nicht. Und in der Kommentarliteratur zu der Nikomachischen Ethik begegnen sie einzig in den auf Adrastus von Aphrodisias zurückgehenden anonymen Commentaria in ethica Nicomachea ii–v. Die Fassung dort ähnelt der des Nemesius sehr. Die Commentaria erwähnen die beiden später noch einmal kurz. Darum seien sie zur Verdeutlichung nebeneinander gestellt (wörtliche Übereinstimmung ist durch Unterstreichung hervorgehoben).

S.u. S. 57. Die in der synoptischen Übersicht ausgewiesene Parallele zwischen Aspas. comm. in eth. Nic. 61,5f und Nemes. nat. hom. 30 (Morani 95,11) muss nicht eigens diskutiert werden. 148 Vgl. Alex. Aphr. eth. probl. 132,19 f mit Arist. eth. Nic. 1110b16 f. 149 λλ’ ε µ.ν κατ+ τν ο κεαν Cρµν κα πρ!εσιν ποιQσαι τοτο, εDη ν συντελ@νR ε δ. κατ+ συνQη τιν+ κα φυσικν µεταφορ+ν τ@ν σκελ@ν κινηεη, οκ(τι. (Alex. Aphr. eth. probl. 133,9–11) 150 vgl. Alex. Aphr. eth. probl. 133,1. 146 147

Der Ansatz beim menschlichen Handeln

(Nemes. nat. hom. 95,3–6:)

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(Anon. in eth. Nic. ii–v comm. 143,1–3:)

(Anon. in eth. Nic. ii–v comm. 177,29f:)

Cµοως MΑναξρχ"ω πτισσοµ(ν"ω κα 7ποµ(νοντι τ+ τιµκοσιον Pχει τν πιυµαν κα τν υµ!ν (98,25–99,1) folgendermaßen übersetzt: „die Begierde und der Zorn enthalten eine freiwillige Handlung“; Nemesius will vielmehr sagen, dass das Freiwillige auch Begierde und Zorn umfasst und eine Handlung nicht unfreiwillig genannt werden kann, wenn sie aus Zorn und Begierde geschieht. 194 ν τις τ+ δι+ υµν κα πιυµαν >κοσια µ λ(γη, ναρει τ+ς Vικ+ς ρετςR ν µεσ!τητι γ+ρ αXται τ@ν πα@ν ε σινR ε δ. κοσια τ+ πη, κοσιαι κα α5 πρξεις α5 κατ+ τ+ς ρετςR κα γ+ρ αXται κατ+ πος γνονται. (99,2–5) 195 ν τε το2ς πεσι κα ν τα2ς πρξεσι, τν δ’ ρετν τ µ(σον κα ε7ρσκειν κα α5ρε2σαι. (eth. Nic. II,6 [1107a4–6], vgl. auch eth. Nic. II,5 [1106b16–22]) 196 S.o. S. 38f.

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Nemesius von Emesa

kann er die Tugend gut als Mitte zwischen den Affekten auffassen. Sie ist daher durch die Affekte bestimmt. Der Schluss des Nemesius von den Affekten auf die Handlungen hat im zugrundeliegenden Abschnitt der Nikomachischen Ethik eine Parallele, die ihn möglicherweise zu seinem Schluss veranlasst hat. Sie findet sich am Ende von Kapitel III,2: „Die Handlungen des Menschen beruhen auf Zorn und Begierde“.197 Aristoteles sieht hier die Affekte als Voraussetzung und Ursprung der Handlungen allgemein an, nicht bloß der tugendhaften. Aristoteles hat aber schon in seinem vierten Argument die Affekte mit positivem Handeln verbunden: „Es ist ebenso unvernünftig, das, wonach man verlangen muss, als unfreiwillig zu bezeichnen. Über manche Dinge ist man verpflichtet, zornig zu sein, manches muss man begehren, wie Gesundheit und Unterricht“.198 Nemesius setzt in seinem Argument, das er hier entwickelt, voraus, dass die Affekte freiwillig sind (99,3f). Er selbst hat in den bisher behandelten Kapiteln aber immer nur davon gesprochen, dass die auf Affekten beruhenden Handlungen freiwillige sind. Es ist natürlich zu bedenken, dass „freiwillig“ als Übersetzung von >κοσιον möglicherweise Bedeutungen einträgt, die dieses Wort im Griechischen nicht hat.199 So wird >κοσιον gerne mit „spontan“ wiedergegeben. Wie dem auch sei: Dass Nemesius voraussetzt, die Affekte seien freiwillig, passt gut zu seiner Tendenz, die Verantwortung für die Affekte, denen der Mensch dann ausgeliefert ist, bei diesem selbst zu sehen. Zum Schluss von Kapitel 32 fasst Nemesius zusammen: „Niemand wird das, was man aufgrund von Überlegung und Wahlentscheidung und aus eigenem Streben und Hang, nachdem man die einzelnen Umstände erkannt hat, tut, unfreiwillig nennen, es wurde ja gezeigt, dass das Prinzip in diesen Handlungen liegt: Folglich sind sie freiwillig.“200 Hier klingen die Themen der nächsten beiden Kapitel bereits an: Kapitel 33 ist der Wahlentscheidung (προαρεσις) gewidmet, Kapitel 34 der Überlegung (βολευσις). Die Reihenfolge von λογισµ!ν und προαρεσις entspricht dem Verhältnis, in dem die kognitive und die volitive Komponente der Wahlentscheidung, nämlich die Überlegung und die Wahlentscheidung, zueinander stehen: Nemesius hält die Überlegung für die Voraussetzung der Wahlentscheidung. Dies zeigt seine Argumentation in Kapitel 34. So ist die Wahlentscheidung das eigentliche Ziel im Zusammenhang der Kapitel 29–34, auch wenn sie bereits als Thema von Kapitel 33 erscheint. Auch Aristoteles macht die Überlegung zum Thema, weil es ihm darum geht, die Wahlentscheidung als Voraussetzung der Tugend zu behandeln. Er behandelt die Wahlentscheidung zwar wie Nemesius vor der Überleα5 πρξεις το νραυτν οfτε βουλ µ!νη, λλ’ κ τοτων τι συγκεµενον. (2) Kς γ+ρ λ(γοµεν τ ζ"@ον κ ψυχς κα σαυτν οfτε βουλ µ!νη, λλ’ κ τοτων τι συγκεµενον.

nΟντος δ. το προαιρετο βουλευτο gρεκτο τ@ν φ’ Aµ2ν,

214 δ. σ@µα εJναι κα+ >αυτ τ ζ"@ον µQτε ψυχν µ!νην, λλ+ κα τ συναµφ!τερον, µQτε ο0τω κα τν προαρεσιν. (3) ]τι µ.ν οFν βουλQ τς στι κα βολευσις µετ’ πικρσεως, ε κα µ ατοβουλQ, φανερν κα κ τς τυµολογαςR προαιρετν γ+ρ στι τ Pτερον πρ το >τ(ρου α5ρετ!νR οδες δ. προκρνει τι µ βουλευσµενος οδ. α5ρε2ται µ κρνας. (4) πειδ δ. ο πντα τ+ δ!ξαντα Aµ2ν εF χειν ε ς ργον γαγε2ν προυµοµεα, τ!τε προαρεσις κα προαιρετν γνεται τ προκρι.ν κ τς βουλς, ]ταν προσλβη τν 8ρεξινR ναγκαως οFν A προαρεσις περ τατ στι περ c κα A βουλQ. (5) συνγεται δ. κ τοτων προαρεσιν εJναι 8ρεξιν βουλευτικν τ@ν φ’ Aµ2ν L βολευσιν gρεκτικν τ@ν φ’ Aµ2νR το γ+ρ προκρι(ντος κ τς βουλς φι(µεα προαιροµενοι. (Nemes. nat. hom. 33 [Morani 101,3–17]) Die Ziffern habe ich zur Gliederung beigegeben. 214 Dobler, Nemesius, 106, attestiert Nemesius hier eine Tendenz zum Intellektualismus, weil sich im Vorsatz dieses Arguments kognitive Vorgänge häufen; er berücksichtigt nicht, worauf das Argument zielt. 215 Auch die andere Stelle, an der Aristoteles die Wahlentscheidung als überlegendes Verlangen bezeichnet, erklärt diese Abweichungen nicht: ?στ’ πειδ A ικ ρετ Pξις προαιρετικQ, A δ. προαρεσις 8ρεξις βουλευτικQ, δε2 δι+ τατα [scil. das Verfolgen oder Fliehen einer Sache] τ!ν τε λ!γον λη εJναι κα τν 8ρεξιν gρQν. (Arist. eth. Nic. 1139a22–24)

Die Wahlentscheidung des Menschen

(Nemes. nat. hom. 101,15–17:)

(Arist. eth. Nic. 1113a10–12:)

συνγεται δ. κ τοτων προαρεσιν εJναι 8ρεξιν βουλευτικν τ@ν φ’ Aµ2ν L βολευσιν gρεκτικν τ@ν φ’ Aµ2νR το γ+ρ προκρι(ντος κ τς βουλς φι(µεα προαιροµενοι.

κα A προαιρεσις ν εDη βουλευτικ 8ρεξις τ@ν φ’ Aµ2νR

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κ το βουλεσασαι κρναντες gρεγ!µεα κατ+ τν βολευσιν.

Nemesius bezeichnet die Wahlentscheidung als etwas Gemischtes. Er nennt drei Glieder, was auch noch genauer zu betrachten ist,216 und trifft eine Aussage darüber, was die Wahlentscheidung ist. Aristoteles hingegen hat die Wahlentscheidung nicht direkt beschrieben, sondern von dem Gegenstand der Wahlentscheidung gesagt, dass auch Überlegung und Verlangen sich damit befassen,217 um dann die Behauptung zu wagen, dass „die Wahlentscheidung ein überlegtes Verlangen der Dinge, die bei uns liegen, sein könne.“ Er spricht sich also über das Wesen der Wahlentscheidung mit Vorsicht aus. Nemesius formuliert ohne Vorbehalt, dass die Wahlentscheidung „ein überlegendes Verlangen […] oder ein verlangendes Überlegen ist.“ Bei dem Stagiriten folgt dann noch ein Satz, der seine Aussage untermauern soll und mit Überlegen, Urteilen und Verlangen die drei Glieder aufführt, die Nemesius in seiner These nennt. Dazu ist noch eine andere Stelle aus Buch III der Nikomachischen Ethik zu nennen, die Vorbild für das zweite, das etymologische Argument des Nemesius gewesen sein dürfte; sie findet sich am Ende von Kapitel 4.218 Es dient auch dort dazu, nachzuweisen, dass die Wahlentscheidung stets mit Verstand und Vernunft erfolgt, diese also voraussetzt. Dass Nemesius die Wahlentscheidung als ein Gemischtes (µικτ!ν) aus Rat, Urteil und Verlangen bezeichnet, mag als ein Widerspruch zu den bisherigen Ausführungen in Kapitel 33 erscheinen. Nemesius suchte dort zu erweisen, dass die Wahlentscheidung mit keiner der drei Arten des Verlangens noch mit der Überlegung identisch ist. Doch es liegt kein Widerspruch vor. Denn die Elemente, aus denen etwas Gemischtes besteht, dürfen mit diesem eben nicht identisch sein, damit die Rede von Zusammensetzung und Mischung sinnvoll ist. Die Mischung, die Zusammensetzung und die Verbindung hat die Philosophie der Spätantike intensiv beschäftigt. Die altkirchliche Theologie hat dies vor allem in christologischem Interesse aufgenommen. Nemesius hat in Kapitel 3 verschiedene Denkmodelle der Mischung behandelt; im Blick auf die Einheit des Menschen aus Seele und Leib bevorzugt er ein S.u. S. 72f. Vgl. auch Arist. mot. animal. 700b23: ?στε κινε2 πρ@τον τ gρεκτν κα τ διανοητ!ν. 218 A γ+ρ προαρεσις µετ+ λ!γου κα διανοας. 7ποσηµανειν δ’ οικε κα τοfνοµα Kς oν πρ >τ(ρων α5ρετ!ν. (Arist. eth. Nic. 1112a15–17) 216 217

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Nemesius von Emesa

Modell, das der Seele, so eng die Verbindung auch sein mag, die Vorherrschaft über den Leib belässt.219 Auch der knappe Rückgriff des Nemesius auf die Thematik der Mischung in Bezug auf die Wahlentscheidung lässt hier die Probleme dieser Thematik erkennen. Er insistiert darauf, dass beide Komponenten vorhanden sein müssen.220 In der doppelten Beschreibung der Wahlentscheidung als „überlegendes Verlangen“ oder „verlangendes Überlegen“ scheint die schwierige Frage nach der Über- oder Unterordnung beider Komponenten durch. Nemesius schreibt allerdings von Mischung und Zusammensetzung, ohne diese beiden Begriffe zu differenzieren, wie es die spätantike Philosophie teilweise tat. Nicht nur Nemesius hat die Vorstellung der Mischung zu dieser Stelle der Nikomachischen Ethik ins Spiel gebracht. Auch der wohl auf Adrastus zurückgehende anonyme Kommentar sieht die Wahlentscheidung als etwas Gemischtes und auf Nus und Verlangen Beruhendes an.221 Auch Aspasius spricht davon, dass die Wahlentscheidung zusammengesetzt ist, bezeichnet sie aber nicht als etwas Gemischtes; er betont in seinem Kommentar, dass Aristoteles mit seiner Bezeichnung der Wahlentscheidung als überlegendes Verlangen keine Definition geben wollte, da Verlangen und Überlegung nicht Arten der Wahlentscheidung sind, sondern diese Bezeichnung „meint etwas aus beidem gleichsam Zusammengesetztes“.222 Er nimmt also wahr, dass Aristoteles die Wahlentscheidung nur mit Vorsicht als „überlegendes Verlangen“ bezeichnet. Vielleicht deswegen führt er wie Nemesius den Vergleich mit den Lebewesen an, die aus Leib und Seele zusammengesetzt sind.223 Dieser Vergleich ist in seiner Struktur mit dem sogenannten anthropologischen Modell identisch,224 doch Aspasius und Nemesius verweisen hier nicht auf den Menschen, sondern auf das Lebewesen allgemein. Zu Recht verwahrt sich Dobler hier dagegen, von einer Zuordnung der Seele zum Leib nach Vgl. Wolfson, Philosophy, 399–407. Vielleicht hat Nemesius dies der Gliederung seines Werkes zugrundegelegt: Zunächst hat er die vernünftigen Seelenvermögen beschrieben (Kapitel 5–14), darunter das Denkvermögen, dann die unvernünftigen (Kapitel 15–28), darunter Begehren und Verlangen; danach kommt er zum Phänomen des menschlichen Willens (Kapitel 29ff). 221 Vgl. Anon. in eth. Nic. ii–v (Heylbut 153,15–17): δε2 δ. ε δ(ναι ]τι προαιρ(σεως γ(νος ν εDη νος gρεκτικ!ς, οχ cπλως δ. νος L 8ρεξις λλ+ τ δι’ µφο2ν κα µικτ!ν. 222 δλοι δ. π@ς λαµβνει [scil. Aristoteles] τν λ!γον τοτον τς προαιρ(σεωςR ο γ+ρ Kς κριβ Cρισµ!νR ο γρ στι γ(νος τς προαιρ(σεως A βολευσις οδ’ A 8ρεξις, λλ+ τ ξ µφο2ν ?σπερ σνετονR (Aspas. comm. in eth. Nic. [Heylbut 75,7–9]) Der Anonymus hingegen nennt den verlangenden Nus ein Genus (γ(νος) der Wahlentscheidung und setzt dem Begriff γ(νος nicht die Vorstellung der Mischung entgegen (siehe vorhergehende Anmerkung). 223 οικε δ τ"@ τοιοτ"ω λ!γ"ω ζ"@!ν στι σ@µα µψυχονR κα γ+ρ κε2 οκ στι τ σ@µα γ(νος το ζ"κοσιον) die Wahlentscheidung (προαρεσις) in sich fasst. Aspasius geht ganz ähnlich vor.248 Danach weist Nemesius auf den Ausdruck σκ(πτοµαι hin, der sowohl für das Überlegen wie das Denken (κατανοε2ν) verwendet wird. Damit will er belegen, dass manche Ausdrücke verwirrend gebraucht werden.249 Entsprechend geht es Nemesius nun darum, zu zeigen, wann man korrekt von Überlegung spricht, was der Gegenstand der Überlegung ist. Nemesius geht wieder in der Weise mit dem Text der Nikomachischen Ethik um, wie es sich schon öfter beobachten ließ: Er stellt die These voran und erläutert und begründet sie in der Folge, während Aristoteles die These im Verlauf seiner Argumentation entwickelt. So übergeht Nemesius die einleitenden Sätze, in denen Aristoteles seine Aufgabenstellung formuliert hatte.250 Die These, die Nemesius voranstellt, zeigt, dass er verglichen mit seiner Vorlage stärker systematisiert. Entsprechend ist dann die anschließende Erläuterung der These gegliedert. Die These benennt drei Kriterien für die Überlegung. Sie sind alle am Gegenstand der Überlegung gewonnen. Die These lautet: „Wir überlegen nun über das, was bei uns liegt und durch uns geschehen kann und einen ungewissen Ausgang hat, das heißt: was so oder anders geschehen kann.“251 In einem ersten Argumentationsgang (102,10–20) zeigt Nemesius nun auf, dass die Überlegung sich auf Handlungen bezieht; das ist in seiner These durch „das, was bei uns liegt“ angezeigt. Wie Aristoteles argumentiert er in einem Ausschlussverfahren: Er zählt alles auf, was nicht Gegenstand der Überlegung sein kann. Aristoteles gegenüber erweitert er den Umfang des Textes erheblich, aber die Abweichungen sind von Inhalt her geringfügig, sie verändern die Grundaussage kaum. Wo der Stagirite die ewigen Dinge (qδια) als nicht zu den Gegenstand der Überlegung gehörend ausschließt, nennt Nemesius die „sogenannte theoretische Philosophie“ und Gott. Auch die anonymen Commentaria nennen hier Gott als die247ersten beiden Jahrzehnte des zweiten Jahrhunderts datiert und platonischen Kreisen zuordnet, die sich aber aristotelischer Lehrmeinungen zur Widerlegung der stoischen Schicksalslehre bedienen. Ähnlich Hani (11f), der sich gegen Alfred Gerckes Annahme einer literarischen Verbindung (Eine platonische Quelle des Neuplatonismus. RhM 41 [1886] 266– 291, hier 279) eher für traditionsgeschichtliche Verbindungen ausspricht. 247 Vgl. Nemes. nat. hom. 34 (Morani 101,21–102,3) mit Arist. eth. Nic. 1112b21–24. 248 Aspas. comm. in eth. Nic. (Heylbut 73,27–33); vgl. hierzu Koch, Quellenuntersuchungen, 34. 249 Nemes. nat. hom. 34 (Morani 102,3–7). 250 Vgl. Arist. eth. Nic. 1112a18–21. 251 βουλευ!µεα οFν περ τ@ν φ’ Aµ2ν κα δι’ Aµ@ν δυναµ(νων γεν(σαι κα =δηλον χ!ντων τ τ(λος, τουτ(στι δυναµ(νων κα ο0τω κα =λλως γεν(σαι (Morani 102,8–10).

Die Wahlentscheidung des Menschen

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einen Gegenstand, der nicht zur Überlegung gehört.252 Eine weitere Eigenart des Nemesius ist, dass er hier bereits die Terminologie benutzt, die sich in dem von ihm im letzten Drittel des Kapitels benutzten Werk de fato des Pseudo-Plutarch findet.253 Das Beispiel des unerwartet gefundenen Schatzes wird durch eine ganz allgemeine Beschreibung mit Hilfe dieser Terminologie ersetzt. Der nächste Argumentationsgang (102,20–25) erläutert, dass die Überlegung sich auf Dinge bezieht, die durch die Menschen geschehen. Für Nemesius sind die Dinge, die beim Menschen liegen, (τ+ φ’ Aµ2ν) und die Dinge, die durch den Menschen geschehen, (τ+ δι’ Aµ@ν) deutlich unterschieden. Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass sie durch den Menschen direkt ausgeführt werden. Aristoteles setzt in der Nikomachischen Ethik zu dieser Unterscheidung an, aber er zieht sie nicht stringent durch.254 Der dritte Argumentationsgang (102,25–103,5) führt das letzte Kriterium für die Definition der Überlegung aus. So wird der Gegenstand der Überlegung weiter eingeengt auf das, was sich so oder anders verhält. Wenn der Ausgang einer Handlung offensichtlich und anerkannt ist, wird nicht überlegt. Nemesius übernimmt hier die Argumente des Aristoteles; am meisten verändert er in dem einleitenden Satz, der diesen Argumentationsgang mit den anderen in Zusammenhang bringt. Die Eingriffe des Nemesius dienen also der Systematisierung. Nachdem Nemesius, wie schon erwähnt, die These wiederholt hat, bringt er noch einen knappen Gedanken, über den er schon im vorhergehenden Kapitel gehandelt hat: Die Überlegung widmet sich den Mitteln, ein Ziel zu erreichen, nicht aber den erstrebten Zielen selbst.255 Mit dem dritten Kriterium seiner Definition der Überlegung ist Nemesius sachlich das Thema vorgegeben, dem er im letzten Drittel des Kapitels folgt. Das betreffende Stichwort ist τ δνατον (das Vermochte) und findet sich auch bei Aristoteles in dem Abschnitt, den Nemesius hier in Kapi252 Vgl. Anon. in eth. Nic. ii–v (Heylbut 149,12–14); dass aus der Erwähnung Gottes hier bei Nemesius „unbedenklich“ zu schließen ist, „daß Nemesius ein christlicher Kommentar vorlag“, wird von Koch, Quellenuntersuchungen, 34, behauptet; dies wäre aber noch weiter zu begründen. 253 Vgl. γιν!µενον […] π τ πλε2στον und τ@ν π’ λαττον νδεχοµ(νων (Morani 102,16.20) mit 104,1f und Ps.-Plut. de fato 6 (Hani 25,8f). 254 Vgl. Arist. eth. Nic. 1112a28–34; darum hat Nemesius hier auch die Folge der Gedanken des Aristoteles umgestellt. Das Beispiel, dass die Lakedämonier über die Verfassung der Skythen keine Überlegung anstellen, hat Nemesius verallgemeinert. Die Aufzählung der möglichen Ursachen bei Aristoteles (1112a31–33: φσις – νγκη – τχη – νος – πIν τ δι’ νρκοσιον für das, was dem menschlichen Streben unterworfen ist, verwendet werden. Er grenzt beide voneinander ab: τ φ’ Aµ2ν ist die übergreifende Größe, während nur ein Teilbereich dessen, was in der Macht des Menschen liegt, der Wahlentscheidung (προαρεσις) unterworfen ist. Nemesius hat diese Unterscheidung nicht übernommen. Er hat überhaupt nur zwei der Differenzierungen des Vermochten bei Pseudo-Plutarch übernommen. Dieser geht in der Unterscheidung des Vermochten noch zwei Schritte weiter.266 261 στι δ. πσης νδεχ!µενον C ατ! τε δυνµεα γ+ρ τ ντικεµενον ατ"@. (Nemes. nat. hom. 34 [104,6f]) 262 Vgl. Nemes. nat. hom. 34 (Morani 103,18–21); dem entspricht bei Pseudo-Plutarch de fato 6 (Hani 25,20–25), wobei Nemesius aber das von Pseudo-Plutarch schon kurz zuvor (25,17.19) begegnende κωλυναι mitverwendet. 263 Vgl. Ps.-Plut. de fato 6 (Hani 25,3f), vgl. dort auch 25,4f.8f. 264 Nemes. nat. hom. 34 (Morani 103,11–14). 265 Vgl. zu Pseudo-Plutarch Moraux, Aristotelismus Bd. 2, 502. 266 Ps.-Plut. de fato 6 (Hani 26,7–17).

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Nemesius von Emesa

Er bringt noch zwei weitere Differenzierungen im Blick auf das, was nach beiden Seiten möglich ist, ein: Was selten geschieht, ist dem, das zumeist geschieht, entgegengesetzt; was nach beiden Seiten möglich ist, hat in sich selbst den Gegensatz.267 Dies wird von Pseudo-Plutarch auf den unterschiedlichen Grund des Möglichen zurückgeführt: Dass etwas selten oder zumeist möglich ist, ist auf die Natur zurückzuführen, was nach beiden Seiten möglich ist, liegt bei uns (φ’ Aµ2ν) und unterliegt dem menschlichen Streben (τ νρωπνη Cρµ). Die zweite Differenzierung betrifft die Veranlassung im Menschen; was auf das menschlichen Streben zurückzuführen ist, teilt sich wiederum in zwei Arten: Manches beruht auf Leidenschaft und Zorn oder Begierde, anderes auf Überdenken oder Nachsinnen; dies geschieht gemäß einer Wahlentscheidung (κατ+ προαρεσιν). Die gesamte Abfolge der Unterscheidungen, die Pseudo-Plutarch vornimmt, sei noch einmal schematisch zusammengestellt; dabei sind die Übereinstimmungen mit Nemesius unterstrichen: τ δ4νατον τ+ ναγκα2α τ+ νδεχ!µενα τ φσει 7ποτ(τακται τ+ π πολT νδεχ!µενα τ+ π’ λλατον νδεχ!µενα τ νρωπνη Cρµ 7ποτ(τακται / φ’ Aµ2ν τ+ πσης νδεχ!µενα κ πους κα υµο L πιυµας ξ πιλογισµο L διανοας / κατ+ προαρεσιν 267 Vgl. Ps.-Plut. de fato 6 (Hani 26,7f). Die Beispiele, die Nemesius für die drei Arten des Möglichen anführt, spiegeln diese Struktur wider: π πολT µ.ν Kς τν >ξηκοντοτην πολιοσαι, π’ λαττον δ. ?ς τινα >ξηκοντοτην µ πολιοσαι, πσης δ. τ περιπατσαι κα µ περιπατσαι κα )πλ@ς πρIξα τι κα µ πρIξαι (Nemes. nat. hom. 34 [Morani 104,2– 5]). Dass der Mensch in der Regel im Alter ergraut, hat auch Ammonius in Arist. de interpret. als Beispiel angeführt, wo er die drei Arten des Möglichen anführt (Ammonius. In Aristotelis librum de interpretatione commentarius. Ed. Adolf Busse. CAG 4.5. Berlin 1897, 1–272, hier: 141,31–143,26), nicht aber Pseudo-Plutarch de fato; die Parallele bei Ammonius lautet: οXπερ ε ς τρα διηρηµ(νου τ µ.ν λ(γεται Kς π τ πολ, οhον τ γεν(σαι =νρωπον πενταδκτυλον L ν γQρ%α πολιοσαι (σπνια γ+ρ τ+ µ ο0τως χοντα), τ δ. Kς π’ λαττον, οhον τ τν σκπτοντα ησαυρ"@ περιτυχε2ν, τ δ. π’ Dσης, οhον τ λοσασαι κα µ λοσασαι L βαδσαι κα µ βαδσαι (142,1–5). Ammonius hat als Neuplatoniker und Leiter der alexandrinischen Schule aristotelische Werke kommentiert und Anfang bis Mitte des sechsten Jahrhunderts gewirkt, vgl. Philip Merlan: Art. Ammonios Hermeiu. LAW 139, und Heinrich Dörrie: Art. Ammonios 9. Sohn des Hermeias. KP 1 (1964) 306.

Die Wahlentscheidung des Menschen

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Hier interessiert vor allem die letzte Unterscheidung, die Pseudo-Plutarch durchführt, Nemesius aber nicht übernimmt. Bei Pseudo-Plutarch wird die Wahlentscheidung (προαρεσις) durch diese Unterscheidung den vernünftigen Seelenvermögen des Menschen zugeordnet und dem Begehren des Menschen gegenübergestellt. Das volitive Element der Wahlentscheidung erscheint zurückgedrängt, das kognitive betont. Nemesius hingegen hatte, wie ich gezeigt habe, in Kapitel 33 eine reziproke Definition der Wahlentscheidung gegeben, die mich vermuten ließ, dass er dahin tendiert, beide Elemente eher gleich zu gewichten. Zwei weitere Gründe können Nemesius davon abgehalten haben, diese Unterscheidung zu übernehmen. Zum einen hat Nemesius ja bereits in Kapitel 33 die Behandlung und Definition der Wahlentscheidung zu einem Abschluss gebracht. Hinzu kommt, dass die Gegenüberstellung der unvernünftigen und vernünftigen Seelenvermögen in der letzten Unterscheidung bei Pseudo-Plutarch diese als einander ausschließende Gründe von Handlungen erscheinen lässt. Nemesius sieht beide nicht als prinzipiell ausschließende Größen an, sie bestimmen nicht einander ausschließende Bereiche menschlichen Handelns, sondern sie konkurrieren und können im selben Bereich menschlichen Handelns zusammenwirken. Ich fasse zusammen, was sich bei der Behandlung der Kapitel 29–34 ergeben hat. Dabei werde ich zuerst auf die Quellen des Nemesius zu sprechen kommen, sodann auf die Art, wie er die Gedanken des Aristoteles paraphrasiert. Dann soll festgehalten werden, was sich über die Lehre vom menschlichen Willen bei Nemesius bisher ergeben hat. Nemesius scheint in seiner Rezeption der Nikomachischen Ethik von mehreren Kommentaren über dieses Werk und Schriften anderer Art, die aus ihr schöpfen, abhängig. Wegen der wörtlichen Übereinstimmungen mit dem Text der Nikomachischen Ethik gegen einen oder mehrere Kommentare ist anzunehmen, dass sie ihm direkt vorgelegen hat. De natura hominis weist Ähnlichkeiten mit folgenden, im einem weiteren oder engeren Sinn als Aristoteleskommentare zu bezeichnenden Schriften auf: Commentaria in ethica nicomachea des Aspasius, In ethica nicomachea paraphrasis des Pseudo-Heliodorus, MΗικ+ προβλQµατα des Alexander von Aphrodisias, In ethica Nicomachea ii–v commentaria eines Anonymus, die zu einem großen Teil auf Adrastus zurückgehen, und das als Grundlage für die Plutarch fälschlich zugeschriebene Schrift De fato anzunehmende Werk. Die Parallelen zu dem anonymen Kommentar, zu Aspasius und zu den MΗικ+ προβλQµατα des Alexander von Aphrodisias und zu Pseudo-Heliodorus sind in der Ausgabe von Morani nicht ausgewiesen. Ich stelle die Parallelen hier tabellarisch zusammen:

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Nemesius von Emesa

Nemes. nat. hom.

Vorlage

30

94,16 94,17f 94,18

Alex. Aphr. eth. probl. 133,1 ebd. 132,19f ebd. 133,9–11

95,3–6

Anon. in eth. Nic. ii–v comm. 143,1–3 ebd. 177,29f

95,10–13

Aspas. comm. in eth. Nic. 61,5f Ps.-Heliod. in eth. Nic. paraphr. 42,18

31

97,15–17

Ps.-Heliod. in eth. Nic. paraphr. 44,4–8

32

98,5f

Aspas. comm. in eth. Nic. 65,33–66,3

33

99,21–23 101,4f 101,6–8

Aspas. comm. in eth. Nic. 67,20–22 ebd. 72,5 Arist. eth. Eud. 1223a27f Anon. in eth. Nic. ii–v comm. 153,15–17 Aspas. comm. in eth. Nic. 75,13–15

103,9–104,5

Ps.-Plut. de fato 6 (24,16–27,6)

34

Da Nemesius keinem der Kommentare durchgängig folgt, nehme ich an, dass er (oder der Verfasser einer Schrift, die er seinem Werk zugrundegelegt oder in sein Werk integriert hat) diesen Schriften im philosophischen Lehrbetrieb begegnet ist. Alle diese Werke sind weit vor der Zeit verfasst worden, in der De natura hominis vermutlich entstanden ist. Nur für die Paraphrasis des Pseudo-Heliodorus lässt sich die Entstehungszeit nicht genau festlegen. Dass Nemesius bereits eine Schrift vorgelegen hat, die er in sein Werk übernahm, ist prinzipiell möglich, so wie er in Kapitel 3 ein Zetema des Porphyrius ausgeschrieben hat. Heinrich A. Koch erwägt sogar, dass diese mögliche Schrift wegen der Behandlung des Themas Martyrium eine christliche Paraphrase über den entsprechenden Abschnitt bei Aristoteles gewesen sei.268 Dass dieses Thema begegnet, ist mit Koch als ein sicherer Beleg dafür anzusehen, dass Nemesius oder der von ihm ausgeschriebene Verfasser mit den Vorgaben in der Nikomachischen Ethik und in den Kommentaren selbstständig umgeht. Neben den genannten Kommentaren wird innerhalb der Kapitel 29–34 auch auf die rhetorische Schulbildung und die Eudemische Ethik des Aristoteles zurückgegriffen. Nemesius oder der Verfasser seiner möglichen Vorlage bietet im Blick auf die Nikomachische Ethik mehr eine Paraphrase als einen Kommentar. 268

Koch, Quellenuntersuchungen, 7.

Die Wahlentscheidung des Menschen

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Dass er einen Text der philosophischen Tradition zugrundelegt und kommentiert, lässt er nirgends erkennen. Vielleicht hat er vorausgesetzt, dass seine Adressaten, gebildete Menschen seiner Zeit, die Vorlage seines Werks auch ohne Hinweise erkennen. Die für Kommentare spezifische Terminologie findet sich bei ihm nicht. Es begegnen auch keine Erklärungen einzelner Begriffe. Nemesius liebt es, das, was bei Aristoteles noch folgt, vorausgreifend zusammenzufassen. Mehrmals stellt er als These oder Definition voran, was Aristoteles erst noch induktiv entwickelt, und erläutert diese These dann in analytisch-deduktiver Weise. Dieses Verfahren praktiziert er auch, wo er Ähnlichkeiten zu Pseudo-Plutarch de fato aufweist. Dadurch äußert er sich entschiedener und weniger vorsichtig als der Stagirite. Er schreibt ohne Vorbehalt. Wie die angeführten Kommentare, bemüht er sich, zu systematisieren.269 Auch aus diesem Grund stellt er Gedanken gegenüber Aristoteles um. Dem groben Duktus des Aristoteles in Buch III,1–5 der Nikomachischen Ethik aber folgt Nemesius. Mal kürzt er, mal erweitert er, so dass der Textumfang seiner Ausführungen nur geringfügig größer ist als der seiner Vorlage. Er verändert nicht deren Grundaussage. Nur ist er appellativer und wird konkreter als der Stagirite. Seine Zusätze und die Beispiele, die er neu anführt, laufen der Intention der Vorlage nicht zuwider. Nemesius ersetzt nur wenige Beispiele des Aristoteles durch andere, vielleicht weil sie für einen christlichen Autor unpassend erscheinen. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass er eine Synthese von hellenistischer Philosophie und Kultur mit der christlichen Religion für möglich hält und anstrebt. Auch als er mit den Märtyrern ein christliches Exempel anführt, geschieht es in einer seltsam nüchternen Art ohne Bezüge zu einer transzendenten Wirklichkeit und ohne Spuren von Verehrung, als wollte Nemesius dem Phänomen Martyrium alles für gebildete Heiden Abschreckende nehmen, was es für die heidnischen Zeitgenossen neben aller Faszination auch hatte. Er fügt es eng in den von Aristoteles übernommenen Argumentationsgang ein. Wie stellt sich nun der menschliche Wille nach Nemesius in den Kapiteln 29–34 dar? Nemesius ist von der Absicht geleitet, die menschliche Freiheit zu behaupten. Darum konzentriert er sich auf den Bereich des menschlichen Handelns, innerhalb dessen sie als durch Fatalismus und Determinismus eingeschränkt erfahren wird. Nemesius will erreichen, dass der Freiraum des menschlichen Handelns sich als möglichst groß erweist. Die Tätigkeit der theoretischen Vernunft wurde von den Griechen weniger einge269 Nach Dobler, Nemesius, 75, hat Nemesius das Denken des Aristoteles weiterentwickelt, indem er das bei diesem implizite Denken explizit gemacht hat, und folgert (78): „Hat der Stagirite der Substanz nach dieselbe Lehre wie Nemesius, so finde ich sie bei ihm doch nicht so gut geordnet wie bei diesem.“ In Bezug auf andere Stellen (50f, 58) behauptet Dobler aber mehrfach das Gegenteil.

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schränkt erlebt. Das erklärt, weswegen sich Nemesius hier auf die Tätigkeit der praktischen Vernunft beschränkt. Die Konzentration auf den Bereich des menschlichen Handelns hat Nemesius mit dem von ihm paraphrasierten Werk, der Nikomachischen Ethik, gemein. Die sechs hier untersuchten Kapitel kommen allerdings anders als diese schon in der Bestimmung der Wahlentscheidung (προαρεσις) zu ihrem Ziel. Die Wahlentscheidung wird von den menschlichen Seelenvermögen unterschieden, und als die sie tragenden Vermögen werden das Verlangen und die überlegende Vernunft bestimmt (Kapitel 33); sodann grenzt Nemesius ihren Gegenstandsbereich ein, indem er von der auf dem vernünftigen Seelenvermögen beruhenden Überlegung ausgeht, die die Wahlentscheidung mit konstituiert (Kapitel 34). Während Aristoteles die Wahlentscheidung behandelt, um die Tugend zu bestimmen, geht Nemesius nicht so weit. Ihm geht es um den Nachweis, dass das menschliche Handeln frei ist. Der menschliche Wille270 wird von Nemesius nicht als ein eigenes Seelenvermögen gefasst, die Wahlentscheidung beruht auf einem Zusammenwirken von Verlangen und Vernunft, er bestimmt sie als „ein überlegendes Verlangen […] oder ein verlangendes Überlegen.“271 Da die Wahlentscheidung immer als eine Funktion von Vernunft und Verlangen verstanden wird, liegt kein Willensbegriff vor. Dass Nemesius von einem Wollen redet, ohne die Vernunft oder das Verlangen als sein Subjekt zu nennen, und volitive Elemente auch bei anderen, niedrigeren Seelenvermögen des Menschen (>κοσιον als spontanes, nicht überlegtes Wollen) beschreibt, genügt nicht, um von einem Willensbegriff zu sprechen; um von einem eigenen Willensbegriff sprechen zu können, müsste der Wille ausdrücklich den beiden die Wahlentscheidung konstituierenden Seelenvermögen gegenübergestellt werden. Auch wenn Nemesius die Wahlentscheidung als eine Funktion von Vernunft und Verlangen versteht, so steht sie doch dem vernünftigen Vermögen des Menschen besonders nahe. Trotz der eben zitierten reziproken Definition der Wahlentscheidung wird die kognitive Komponente der Wahlentscheidung gegenüber der volitiven stärker gewichtet. Nur an einer Stelle lässt Nemesius erkennen, dass die volitive Komponente die kognitive bestimmt, wo er nämlich das Begründungsverhältnis, nach dem die Schlechtigkeit in der Unwissenheit gründet, einfach umkehrt.272 Doch das stört nicht den Gesamteindruck, dass Begehren und Vernunft zusammenwirken, wobei die Vernunft eine bestimmende Funktion hat. Denn davon hängt die Harmonie zwischen beiden ab. 270 Ich weise darauf hin, dass Nemesius nicht von einem menschlichen Willen spricht. Es ist immer die Gefahr zu gewärtigen, mit diesem Ausdruck einen ihm fremden Begriff an ihn heranzutragen. 271 Nemes. nat. hom. 33 (Morani 101,15f). 272 S.o. S. 60.

Die Selbstmächtigkeit des Menschen

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Dadurch wäre die Vernunft für das Wirken der Affekte verantwortlich. Das bleibt hier noch Andeutung. In den Kapiteln 39–41 wird Nemesius das weiter ausführen. Doch es entspricht seiner Tendenz, die Möglichkeit auszuschließen, Gott für das Böse verantwortlich zu machen. Darum ist er bestrebt, den der menschlichen Verantwortung unterliegenden Bereich möglichst weit zu fassen – auch hinsichtlich des inneren Lebens des Menschen, sofern es Voraussetzung seines Handelns ist.

7. Die Selbstmächtigkeit des Menschen Die Kapitel 39–41 bilden eine Einheit. Nemesius behandelt hier die Selbstmächtigkeit (τ ατεξοσιον) des Menschen. Damit wird inhaltlich an die Kapitel 29–34 angeknüpft, wenn auch beide Blöcke sich in der Form unterscheiden und darum möglicherweise eine unterschiedliche Entstehungsgeschichte haben.273 Auch inhaltlich heben sich die drei Kapitel von den vorhergehenden ab: Sie setzen über die Nikomachische Ethik hinaus andere Lehrmeinungen voraus und gehen ausdrücklich auf diese ein.274 Dass Begriffe aufgenommen werden, die bereits in vorhergehenden Kapiteln behandelt wurden275, genügt nicht, um eine engere Verbindung zu behaupten. Zumal Nemesius in den Kapiteln 39–41 einen Begriff einbringt, der bisher nicht in Zusammenhang mit dem menschlichen Willen begegnete: habitus (Pξις).276 Warum Nemesius diesen Begriff, der in jedem der drei Kapitel jeweils zum Schluss hin begegnet, aufgreift und wie er ihn benutzt, werden wir hier noch genauer untersuchen. Zuvor sei jedoch ein kurzer Blick auf die vier Kapitel über das Schicksal geworfen, die die beiden Blöcke über den menschlichen Willen in De natura hominis voneindander trennen. Exkurs: Nemesius’ Kritik an Lehren über das Schicksal Die Kapitel 35–38 sind eine thematische Einheit.277 Sie handeln von dem Schicksal, der ε5µαρµ(νη. Im ersten Kapitel dieses Blocks argumentiert Nemesius gegen stoische Lehren, dass alles durch das Schicksal bestimmt sei. Wieder begegnet das S.o. S. 41f. Vgl. Nemes. nat. hom. 39 (Morani 112,9.13.19), 40 (115,15–17; 115,17–21 und 117,2–5). 275 Vgl. z. B. τ νδεχ!µενον (Nemes. nat. hom. 39 [Morani 113,4f]), τ+ πσης νδεχ!µενα (40 [114,21)] und βουλεω (39 [113,10.13]). 276 Zuvor hat Nemesius nur in dem Kapitel über die Lust diesen Begriff verwandt, vgl. Nemes. nat. hom. 18 (Morani 78,23–79,12); dort bezieht er ganz anders, als er das in Kapitel 41 tun wird, δναµις auf Pξις (s.u. Anm. 328). Zu bedenken ist allerdings, dass in den bislang von Nemesius besprochenen Passagen der Nikomachischen Ethik dieser Begriff nicht begegnet. 277 Diesen Textkomplex hat Nik.G. Politis (Πηγα κα περιεχ!µενον τ@ν περ ε5µαρµ(νης κεφαλαων το Νεµεσου MΕµ(σης. Diss. phil. Athen, 1979) eingehend untersucht und herausgearbeitet, dass Nemesius hier Schriften des Origenes und des Eusebius von Caesarea benutzt hat. 273 274

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Nemesius von Emesa

Argument, dass die Gesetze unsinnig wären, wenn alles durch das Schicksal bestimmt wäre. Hinzu kommt ein theologisches Argument: Das Gebet wäre ebenso unsinnig und Gott als Schöpfer der Sterne letzlich verantwortlich, wenn diese das Geschehen bestimmen. Der Mensch wäre nur Werkzeug der Gestirne. Nemesius radikalisiert die philosophische Schicksalslehre: Sie behauptet, dass den Menschen die Zustimmung (συγκατεσις) und das Streben (CρµIν) gegeben sind und das menschliche Handeln frei ist, sofern das Schicksal es nicht hindert. Nemesius aber erwidert: Wenn das Schicksal dem Menschen das Streben gegeben hat und es ihn bloß zuweilen handeln ließe, dann wäre der Mensch bloß Werkzeug des Schicksals. In Kapitel 36 argumentiert er analog gegen den ägyptischen Schicksalsglauben, der durch Mantik das Schicksal zu erforschen und durch Gebet zu beeinflussen suchte. Die Fähigkeit zum Beten und zur Mantik ist aber nicht allen Menschen gegeben, und zwar aufgrund des Schicksals oder einer höheren Macht. Dass diese zwischen den Menschen, die nichts aufgrund eigener Wahlentscheidung tun, Unterschiede macht, erweist sie als ungerecht. Die Überschrift zu Kapitel 37 lautet: „Über diejenigen, die behaupten, dass die Wahl der Handlungen bei uns liege“.278 Sie gibt die Pointe des Kapitels nicht wieder. Es geht hier um die Ansicht, dass die Handlung, aber nicht ihr Ausgang beim Menschen liegen; dass das Ziel erreicht wird, sei hingegen auf das Schicksal zurückzuführen. Nemesius gesteht den Vertretern dieser Lehre zu, dass sie in einer Hinsicht Recht haben: Die Menschen können sich zu einer Handlung entscheiden, aber ob sie ihr Ziel erreichen, steht nicht in ihrer Macht. Nemesius sieht aber, dass diese Ansicht die Macht des Schicksals beschneidet, wenn es der Voraussetzung menschlichen Handelns bedarf, um zu wirken. Außerdem möchte er nicht vom Schicksal reden, sondern von der Vorsehung, die den Ausgang der Handlungen ursächlich bestimmt. Ein weiterer Gedankengang passt hier inhaltlich gut hin, wendet sich aber wieder gegen die stoische Lehre vom Schicksal als eine geschlossene Reihe von Ursachen. Nemesius weist auf irrsinnige Menschen hin, die nicht zu Wahlentscheidungen in der Lage sind (προαρετον). Wenn das nicht auf das Schicksal zurückzuführen ist, so schließt er, dann unterliegen sie auch nicht dem Schicksal; wenn aber doch, dann unterliegt die menschliche Wahlentscheidung dem Schicksal. In Kapitel 38 schließlich geht Nemesius genauer auf die platonische Differenzierung von ε5µαρµ(νη κατ’ οσαν und ε5µαρµ(νη κατ’ ν(ργειαν ein. Er begrüßt es, dass durch diese Unterscheidung das Schicksal der Vorsehung und dem Willen Gottes unterworfen ist. Er will aber ausgeschlossen wissen, dass das Schicksal notwendig die Konsequenzen von menschlichen Handlungen eintreten lässt. Nemesius betont, dass die Vorsehung gemäß der Möglichkeit und nicht gemäß der Notwendigkeit wirkt. Das Gebet ist sinnvoll, weil Gott den Zwang geschaffen hat. Darum ist er frei und die Vorsehung als sein Wille nicht der Notwendigkeit unterworfen. Hier erscheint ein grundlegender Unterschied zwischen Mensch und Gott: Während im Blick auf das menschliche Handeln in Kapitel 34 das Vermochte in notwendiges und mögliches geschieden wurde, heißt es hier von Gott: „Alles ist

278 περ τ@ν λεγ!ντων τν αUρεσιν τ@ν πρακτ@ν φ’ Aµ2ν εDναι (Morani 108,1); Orths Übersetzung (95) ist durch den griechischen Text nicht gedeckt.

Die Selbstmächtigkeit des Menschen

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ihm möglich, auch das Notwendige.“279 Hier zeigt sich innerhalb des Abschnitts über das Schicksal, dass Nemesius in seinem Umgang mit den Lehren der philosophischen Tradition sich durchaus von religiösen Fragen leiten lässt.280

Mit Kapitel 39 macht Nemesius einen Einschnitt, auch wenn die im engeren Sinne theologische Dimension der Argumentation beiden Blöcken (den Kapiteln 35–38 und 39–41) gemeinsam ist und in den vorangegangenen Kapiteln fast völlig fehlt. Ich werde nun zunächst den Gedankengang der Kapitel 39–41 nachzeichnen. Erst danach gehe ich einigen der Parallen zu Aristoteles und den Kommentaren zu Aristoteles nach, bevor ich untersuchen werde, welchen Gebrauch Nemesius vom Begriff habitus macht. Zuerst will Nemesius in Kapitel 39 nachweisen, dass etwas in der Macht des Menschen liegt. Dabei will er sich auf Aussagen stützen, die seine Adressaten, gebildete Heiden, anerkennen (112,12f). Da sie alles auf Gott, die Notwendigkeit, das Schicksal, die Natur, Zufall (τχη) oder etwas aus sich selbst geschehendes (τ ατ!µατον) zurückführen, beschreibt er zunächst jeweils, wodurch die Tätigkeit dieser Subjekte gekennzeichnet ist (112,13–113,1). Wäre der Mensch nicht die Ursache oder der Ursprung seiner Handlungen, so müsste sich das menschliche Handeln einer dieser Tätigkeiten zuordnen lassen. Darum geht Nemesius die einzelnen Tätigkeiten noch einmal durch, wobei er aber feststellt, dass das menschliche Handeln sich von der Tätigkeit eines jeden der genannten Subjekte unterscheidet (113,1–8). „Da bleibt nur noch dies übrig: Der Mensch selbst, der handelt und wirkt, ist der Ursprung seiner eigenen Werke und ist selbstmächtig.“281 Nachdem Nemesius dies als Ergebnis formuliert hat, fügt er noch sechs andere Argumente an: a) Wenn nichts in der Macht des Menschen liegt, dann ist er überflüssigerweise mit Überlegung und Beratung begabt (113,9–14). b) Wenn die Wirksamkeiten (ν(ργειαι) zu etwas bei dem Menschen liegen, dann auch die entsprechenden Handlungen; dass diese Bedingung gegeben ist, belegt ein von Nemesius als solches ausgewiesenes Aristoteles-Zitat (14–20). Dieses Argument wiederholt er nun in einer anderen Form, und erweitert es um ein Bedingungsverhältnis: c) Üben liegt in der Macht des Menschen; da das Üben, wie Nemesius sich ausdrückt, „Herrin“ der Verfasstheit, des habitus ist, liegt auch diese in der Macht des Menschen; nun folgt der bereits bekannte Schluss: Liegt die Verfasstheit in der Macht des Menschen, dann auch das entsprechende Handeln (113,20–114,2). d) Aufforderungen und Ermahnungen sind nur sinnvoll, wenn die jeweiligen Handlungen in unserer Macht liegen (114,2–5). e) Das gilt auch von den Gesetzen (5–10) und f) von Tadel und Lob (10f). 279 πντα δ( στιν ατ"@ νδεχ!µενα κα τ+ ναγκα2α. (Nemes. nat. hom. 38 [Morani 111,4]) 280 Vgl. hierzu Verbeke, Foi et culture, 526f. 281 λεπεται δ ατν τν πρττοντα κα ποιοντα =νρωπον ρχν εDναι τ@ν δων ργων κα ατεξοσιον. (Nemes. nat. hom. 39 [Morani 113,8f])

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Nemesius von Emesa

Diese sechs Argumente lassen sich zusammenfassen: Dass bestimmtes menschliches Handeln normiert und bewertet wird und duch einen habitus, der durch Übung ausgebildet wird, bestimmt wird, setzt voraus, dass es in der Macht des Menschen liegt. Was nun in der Macht des Menschen liegt, erklärt Nemesius in Kapitel 40. Nemesius referiert noch einmal Gedanken, die er im vorangehenden Kapitel und zuvor bereits in Kapitel 32 vorgebracht hat: Alles, was man freiwillig (>κουσως) tut, also alles, wofür man gelobt oder getadelt wird, liegt in der Macht des Menschen (114,15–18). Diese allgemeine Feststellung wird nun weiter spezifiziert: Vornehmlich die psychischen Vorgänge und die Gegenstände der Überlegung liegen in der Macht des Menschen. Hier wird für die psychischen Vorgänge auf Kapitel 26282 und für die Überlegung auf Kapitel 34 zurückgegriffen. Im Blick auf die Überlegung werden Gedanken aus diesem Kapitel wiederholt, sie werden aber weiter ausgezogen bis zur Tugend und Schlechtigkeit (ρετQ und κακα) hin, die dort nicht begegneten. Von Handlungen, bei denen Werke der Tugend und Werke der Schlechtigkeit einander gegenüberstehen, die gleicherweise möglich sind, gilt: „In Bezug auf diese sind wir selbstmächtig“.283 Nemesius nimmt noch die Kunst (τ(χνη) hinzu: Durch sie entstandene Dinge sind so oder so möglich und beruhen nicht auf Notwendigkeit oder Natur, sondern der Künstler ist ihr Ursprung (115,3–13). Danach fasst Nemesius den Argumentationsgang, in dem das, was in der Macht der Menschen steht, immer mehr eingegrenzt wurde, kurz zusammen; dieses Vorgehen erklärt sich durch die Position derer, gegen die Nemesius argumentiert: Sie unterstellen, dass die Selbstmächtigkeit von jeder Handlung, jedem Erwerb und jedem Zufall ausgesagt werde und lehnen daher die Lehre vom freien Willen des Menschen ab (13–17). Nemesius berichtet nun von Gegnern, die sich auf Stellen aus der Bibel (Jer 10,23 und Ps 94,10 LXX) berufen, um den freien Willen zu bestreiten (17–22).284 Dagegen wendet er sich mit dem Hinweis, dass der Mensch über zufällige Güter und von der Vorsehung Bestimmtes keine Macht hat, und wiederholt die Aufzählung der Handlungen und Bewegungen, die dem Menschen unterworfen sind; dabei hebt er die Wahlentscheidung hervor, denn diese gehe jeder Handlung voraus (22–28). Schon der bloße Vorsatz sei strafbar, heißt es im Blick auf Mt 5,28 (115,28–116,4).285 282 Dort hat Nemesius festgestellt, dass die psychischen unter den Kräften, die ein Lebewesen organisieren, der Wahlentscheidung folgen; sie teilen sich in die dem Streben folgende Bewegung und die Wahrnehmung: s τε κα’ Cρµν κνησις κα A αDσησις. (Nemes. nat. hom. 26 [ Morani 87,16–20]) 283 τοτων γρ σµεν ατεξοσιοι. (Morani 115,3; der ganze Abschnitt: 114,18–115,3) 284 Diese beiden Stellen berücksichtigt Young, Adam and anthropos, 136, in ihrer Liste der biblischen Zitate und Anspielungen bei Nemesius leider nicht. 285 Auch Origenes (princ. III 1,6. [Görgemanns/Karpp 477]) führt diesen Vers an, ohne ihn aber auf den Vorsatz zu beziehen. Nach Friedrich Martin März (Anthropologische Grundlagen der christlichen Ethik bei Nemesios von Emesa. München 1959, 129f) will Nemesius betonen, dass es um ein reines Herz geht; Herz hat für die Psychologie des Nemesius keine Bedeutung, es begegnet bei ihm fast ausschließlich in physiologischen Zusammenhängen.

Die Selbstmächtigkeit des Menschen

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Bis zum Schluss des Kapitels befasst sich Nemesius dann mit dem Zusammenwirken des freien Willens des Menschen und der Vorsehung. Beide bestehen, daher muss, was geschieht, durch beide geschehen (116,4–9). Man kann sich darum nicht mit seiner schlechten Körpermischung für die eigenen Vergehen entschuldigen und behaupten, die Tugend läge nicht in des Menschen Macht; die schlechte Körpermischung resultiert aus dem allgemeinen Wirken der Vorsehung, beispielsweise durch trockene Luft, oder aus einer verkehrten Lebensweise der Eltern des betreffenden Menschen – und diese Lebensweise ist freiwillig; außerdem hat die Seele die Aufgabe, die seelische Disposition in eine gute Verfasstheit zu bringen (116,9–117,5). Nemesius hat hiermit in seiner Beantwortung der Frage, was in der Macht des Menschen liegt, einen wichtigen Schritt getan: Nachdem er die Handlungen, die in der Macht des Menschen liegen, in einem Ausschlussverfahren immer enger bestimmt hat, ist er somit auf die Verantwortung des Menschen für seine innere Disposition zu sprechen gekommen. Im anschließenden Kapitel 41 wird dieser Gedanke weitergeführt. Der Überschrift zu Kapitel 41 zufolge will Nemesius hier der Frage nachgehen, aus welchem Grund die Menschen als selbstmächtige entstanden sind. Dazu begründet er zunächst, dass der Mensch die Selbstmächtigkeit notwendig hat und veränderlich ist. Wandelbar ist der Mensch, weil er erschaffen ist und weil er aus Materie erschaffen ist (117,7–13). In einer von Nemesius als solcher deutlich gemachten Wiederholung wird die Selbstmächtigkeit des Menschen auf seine Vernunft zurückgeführt.286 Sie ist zu einem Teil theoretisch, zum anderen praktisch. Die praktische Vernunft dient dem Menschen zur Überlegung dessen, was er tun wird. Diese Überlegung zielt darauf, dass der Mensch wählt und seiner Wahl entsprechend handelt. Die Vernunft wäre eine überflüssige Gabe an den Menschen, wenn er sie nicht für sein selbstmächtiges Handeln gebrauchen könnte. Mit dem Denkvermögen ist also die Selbstmächtigkeit gegeben (117,13–118,1). Nemesius fasst die bisherigen Gedanken über den Menschen zusammen (118,1–4). Danach wehrt er den Vorwurf, der von einigen gegen Gott erhoben wird, dass dieser den Menschen mit der Selbstmächtigkeit ausgestattet hat und ihn so für die Schlechtigkeit empfänglich gemacht hat, ab: Dann müssten sie Gott auch beschuldigen, dass er den Menschen als vernünftiges Wesen erschaffen hat (118,4–8). Nun hebt Nemesius auf die beiden verschiedenen Gründe für die Wandelbarkeit ab: Jede vernünftige Natur ist in ihrer eigenen Natur, aufgrund ihres Gewordenseins, veränderlich; ist sie aus Materie geworden, so ist sie 286 Nach Koch, Quellenuntersuchungen, 43, begründet Nemesius die Willensfreiheit mit der Wandelbarkeit des Menschen von Geburt an. Koch verbindet voreilig die Willensfreiheit und die Wandelbarkeit, die zwar letztlich, wie alles am Menschen, in seiner Erschaffung gründen; doch Nemesius führt erstere zunächst auf die Begabung des Menschen mit der Vernunft und letztere auf die Schöpfung des Menschen zurück. Nemesius geht beiden Gedankengängen relativ lange nach, ohne sie zu verbinden.

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aufgrunddessen noch in einer zweiten Art wandelbar. Immaterielle vernünftige Naturen sind nur in einer Weise wandelbar, wenn sie aber mit den Lebewesen auf der Erde gemeinsam handeln, sind sie veränderlicher (8–15). Die vernünftigen Naturen, die sich der Schau Gottes ergeben und von der Materie und den Handlungen absondern, bleiben unverändert, haben aber die Selbstmächtigkeit. Das macht Nemesius plausibel durch den Hinweis darauf, dass Menschen, die so lebten, unveränderlich geblieben sind. Damit will Nemesius zeigen, dass alle vernünftigen Wesen sehr gut erschaffen worden sind; gemäß ihrer Wahlentscheidung (κατ+ προαρεσιν) gerieten sie in die Schlechtigkeit und haben so die Seligkeit verloren, weil sie nach Irdischem verlangten und die Ausrichtung auf das Höhere aufgegeben haben.287 Daraus folgert Nemesius und schreibt nun ausdrücklich in der ersten Person Plural über die Menschen: „Wir haben das Vermögen, mit dem wir eine Wahlentscheidung zustande bringen, als veränderliches, weil wir von Natur aus veränderlich sind.“288 Man darf aber Gott wegen der wandelbaren Vermögen des Menschen nicht für dessen Schlechtigkeit verantwortlich machen; denn nicht auf den Vermögen des Menschen, sondern auf seinen habitus, den Pξεις, beruht die Schlechtigkeit (119,5–9).289 Nemesius fasst das (unter Rückgriff auf Kapitel 34, wo er über das Vermochte gehandelt hatte) genauer: Jedes Vermögen des Menschen ermöglicht ihm die Ausführung gegensätzlicher Handlungen, ein habitus hingegen ist auf eine Seite des Gegensatzes festgelegt. Der Mensch kann lügen und die Wahrheit sagen. Durch eigenen Vorsatz eignet er sich entweder den habitus des Lügens oder den der Wahrhaftigkeit an. Die Schlechtigkeit ist somit nicht zu den Vermögen, sondern zu den habitus und der Wahlentscheidung zu rechnen (119,9–19). Außerdem wird ein habitus erlernt, während die Vermögen dem Menschen von Natur gegeben sind, da sie ja bei allen Menschen mit Ausnahme von Menschen mit Behinderung dieselben sind. Deswegen darf man die Verantwortung für die Schlechtigkeit des Menschen nicht der Natur des Menschen oder Gott als Schöpfer zuschieben (119,19–120,5). Damit hat der Gedankengang von Kapitel 41 sein Ziel erreicht. 287 118,15–119,3; die Ausführungen des Nemesius über den Willen des Menschen in Kapitel 29–34 haben sich wie ihre Vorlage in der Nikomachischen Ethik einzig mit dem Menschen befasst; dass hier nun der Mensch zusammen mit anderen geistigen Lebewesen betrachtet wird, ist ein Hinweis dafür, dass Nemesius nun einer anderen, nämlich der neuplatonischen Lehrtradition folgt. 288 Pνεκα µ.ν το φσει τρεπτοTς AµIς εJναι τ+ς δυνµεις τ+ς προαιρετικ+ς τρεπτ+ς χοµεν (Morani 119,4f). Wie schon zuvor in Zusammenhang mit Kapitel 34 gebe ich δναµις mit Vermögen wieder. 289 Vgl. Nemes. nat. hom. 34 (Morani 103,11f und 104,5–9). Koch, Quellenuntersuchungen, 44, greift zu kurz, wenn er in dem „Folgende[n …] nur eine ausführliche Erlärung des Unterschiedes zwischen δναµις und Pξις“ erblickt; der Rest des Kapitels hat, wie sich zeigen wird, eine bestimmte Funktion in der Argumentation des Nemesius und greift in einer auffälligen Art aristotelische Gedanken auf.

Die Selbstmächtigkeit des Menschen

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Auch in den Kapiteln 39–41 nimmt Nemesius aristotelische Gedanken auf. Aber anders als zuvor in den Kapiteln 29–34, wo Nemesius dem Gedankengang der Nikomachischen Ethik kontinuierlich und so eng folgte, dass man von einer Paraphrase sprechen kann, und sich nur einmal, nämlich am Ende von Kapitel 34, weiter von dem Gedankengang des Aristoteles löste, handelt es sich hier um einzelne Rückgriffe auf verschiedene Stellen aus der Nikomachischen Ethik.290 Sie sind eingebettet in größere Zusammenhänge, die ihren Charakter vor allem neuplatonischer Philosophie verdanken. Auch hier sind die Angaben Moranis nicht vollständig und noch weitere Parallelen zu der Literatur der Aristoteleskommentare zu berücksichtigen. Nemesius schließt von der Tatsache aus, dass ein Mensch Ursache, Ursprung und Herr einer Handlung ist, dass diese Handlung in seiner Macht liegt.291 Dies hat in der Eudemischen Ethik des Aristoteles ein Vorbild.292 Die anderen Berührungspunkte zu dieser Stelle (eth. Eud. 1223a15f mit Nemes. nat. hom. 113,8f, und 1223a9–15 mit. Nemes. 114,10f) sind nur gering und in ihrer Reihenfolge bei Nemesius gegenüber Aristoteles verändert, daher ist anzunehmen, dass die Berührung hier über einen längeren Weg durch den philosophischen Schulbetrieb vermittelt ist. Eher liegt letztlich wieder Buch III der Nikomachischen Ethik zugrunde. Doch die Hinweise darauf sind bei weitem nicht so deutlich wie in den Kapiteln 29–34. Nemesius beginnt Kapitel 39 mit einer Liste möglicher Ursachen von Vorgängen. Sie dürfte auf Buch III,5 der Nikomachischen Ethik (1112a31–33) zurückgehen. Dort bespricht Aristoteles den Gegenstand der Überlegung und listet in diesem Zusammenhang mehrere Ursachen von Vorgängen auf: „die Natur, die Notwendigkeit, den Zufall, den Nus und alles, was durch den Menschen geschieht.“ In den anonymen Commentaria zu den Büchern 2–5 der Nikomachischen Ethik begegnet die Liste zweimal, wenn auch jeweils leicht verändert. Am nächsten kommt die Liste des Nemesius der Liste, die Pseudo-Plutarch und Johannes Stobaeus293 in ihren Anthologien Anaxarchos und den Stoikern zuschreiben. Ich stelle die fünf verschiedenen Versionen synoptisch nebeneinander:294

Vgl. Koch, Quellenuntersuchungen, 38. Nemes. nat. hom. 39 (Morani 112,13f und 113,1f). 292 Arist. eth. Eud. 1223a4–9. 293 Joh. Stob. anth. (Wachsmuth/Hense I,2 92,14–17); Johannes Stobaeus wirkte vermutlich im frühen 5. Jahrhundert in Makedonien und verfasste von verschiedenen Materialsammlungen ausgehend eine wertvolle Anthologie vor allem philosophischer Sentenzen von über 500 Autoren (vgl. Hans Gärtner: Art. Stobaios. KP 5 [1975] 378). 294 Nur bei Aristoteles gebe ich den genauen Wortlaut wieder, bei den anderen lediglich die Stichworte, da hier die Reihenfolge innerhalb der Liste interessiert. 290 291

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(Arist. eth. (Ps.-Plut. plac. (Anon. in eth. Nic. 1112a32f) phil. I,29) Nic. ii–v 149,33–150,2) φσις κα νγκη κα τχη, τι δ. νος κα πIν τ δι’ νρκστου προαιρ(σεως κατ+ τν δικααν το εο κρσιν ναφυ!µενα. (Gr. Nyss. or. catech. 40,8 [Mühlenberg GNO 3,4 106,11–13]) 193 A δ(καστος το εο δκη πακολουοσα κατ’ ξαν τα2ς προαιρ(σεσι. (Gr. Nyss. v. mos. 2 [Musurillo GNO 7,1 58,22f]; vgl. auch 59,15f.) 194 Pκαστος >αυτ"@ τ@ν πληγ@ν γνεται δηµιουργς δι+ τς ο κεας προαιρ(σεως τν τ@ν λγειν@ν παρασκευν τοιµζων. (Gr. Nyss. v. mos. 2 [Musurillo GNO 7,1 59,3–5]) 195 Gr. Nyss. v. mos. 2 (Musurillo GNO 7,1 54,9–55,5). 196 Gr. Nyss. v. mos. 2 (Musurillo GNO 7,1 55,20–23). 197 οDκοεν χοµεν ν τ >αυτ@ν φσει τε κα προαιρ(σει τ+ς το φωτ!ς τε κα το σκ!τους α τας ο5 =νρωποι, πρς ]περ ν (λωµεν ν τοτ"ω γιν!µενοι. (Gr. Nyss. v. mos. 2 [Musurillo GNO 7,1 56,24–27])

Der menschliche Wille zwischen Fall und Vollendung

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schließen, dass Gott als der Schöpfer der menschlichen Natur für das Böse verantwortlich gedacht wird. Natur ist ja von Gregor eher dynamisch vorgestellt und nicht als ein unveränderlicher Wesenskern des Menschen. Durch die Verbindung der Natur mit der Wahlentscheidung trägt er dem dynamischen Charakter der menschlichen Natur Rechnung. Durch das menschliche Vermögen zur Wahlentscheidung, die προαιρετικ δναµις, die den Menschen zur freien Wahl befähigt, kann der Mensch auf seine eigene Natur verändernd einwirken. Gregor kann ja auch die menschliche Natur direkt als frei und selbstmächtig bezeichnen.198 Eine Wendung verdient noch weitere Beachtung, da sie auf eine scheinbare Analogie zwischen Gott und Mensch in der Theologie Gregors hindeutet. Gregor sagt zum Schluss des zuletzt aus De anima et resurrectione zitierten Satzes: πρς ]περ ν (λωµεν ν τοτ"ω γιν!µενοι. Im Blick auf Gott kann Gregor sagen, dass er „sein will, was er ist, und ist, was er sein will.“199 Sein und Willen Gottes fallen in eins. Dass der Mensch Schöpfer seines Seins ist, erscheint als analog dazu. Aber es handelt sich nur um eine scheinbare Analogie. Mehrere Unterschiede sprechen gegen eine Analogie: Im Blick auf Gott formuliert Gregor reziprok, im Blick auf den Menschen nicht; während es bei Gott um sein Sein geht, geht es bei dem Menschen erst um ein Entstehen und Werden – der Mensch ist Geschöpf; geht es in dem einen Fall um Gottes Sein, so geht es bei dem Menschen um das, in dem er wird. Als Verbindendes bleibt das Wollen. Hier lässt sich mit einem Vergleich begründet ansetzen. Und so ist die Wendung, dass wir Menschen „in das gelangen, zu dem wir wollen“, ein Hinweis auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die in der Selbstmächtigkeit des Menschen besteht – und auch dann noch in ihr besteht, wenn der Mensch im Gebrauch seines natürlichen Wahlvermögens sich gegen den Willen Gottes stellt.

6. Der menschliche Wille zwischen Fall und Vollendung Weil Gregor mehrfach behauptet, dass dem Menschen die Selbstmächtigkeit im wesentlichen unzerstört verblieben ist, ist ihm in der Forschung mehrfach vorgeworfen worden, dass er einen Synergismus von Mensch und Gott lehre. Zumal der Nyssener mehrfach von einem Mitwirken Gottes spricht, das dem Menschen auf dem Weg zum Heil zu Hilfe kommt.200 Doch hier ist Vorsicht angebracht. Denn schnell werden an den Nyssener falsche Maßstäbe angelegt. So wird Gregors Denken an Augustins Lehre

198 199 200

λευ(ρα […] κα υτεξοσιος. (Gr. Nyss. in eccl. 4 [Alexander GNO 5 335,6f]) C. Eun. 3,1,125 (Jaeger GNO 22 46,2f, griech. Text s.o. Anm. 128). Vgl. z. B. Gr. Nyss. v. mos. 2 (Musurillo GNO 7,1 45,13–15).

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von der göttlichen Gnade und dem Willen des Menschen gemessen.201 Statt dessen sollte gefragt werden, ob die positive Bewertung des menschlichen Wollens und Strebens in der Theologie des Nysseners das Zeugnis von der Erlösung des Menschen durch das Handeln Gottes in Jesus Christus verdunkelt. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass die Schriften des Nysseners jeweils ihrem Adressatenkreis angepasst sind. Schriften, die sich an ein philosophisch geprägtes Publikum richten, beziehen sich weniger explizit auf christliche Traditionen, müssen deswegen aber nicht dem christlichen Zeugnis widersprechen. Diese Schriften haben ja eine protreptische Funktion. Allgemein ist im Blick auf den Synergismusvorwurf gegen Gregor zu bedenken, dass Gnade bei ihm eine sehr weite Bedeutung hat. Sie umfängt eigentlich die gesamte Schöpfung. Der freie Wille des Menschen gilt Gregor als Gnade, die dem Menschen mit der Vernunft gegeben ist. Die Bedeutung von Gnade weitet sich so hin zu der von Geschenk und Gabe. Allan Sidney Dunstone hat χρις wegen seiner weiten und offenen Bedeutung bei Gregor von Nyssa als ein „umbrella-word“ bezeichnet.202 Der Verwendung dieses Wortes nachzugehen, trägt daher für die Frage nach dem Synergismus bei Gregor wenig bei. Gregor redet vornehmlich von einem Mitwirken Gottes und kaum von einem Mitwirken des Menschen.203 Und dieses göttliche Mitwirken geschieht verborgen. Die von Gott gegebene συµµαχα hilft dem Menschen, der sich um Tugend müht, erscheint aber erst dann, wenn der Mensch auf diesem Weg weiter fortgeschritten ist.204 Dahinter steht die asketische Erfahrung, dass mit der asketischen Anstrengung die Widerstände und damit das Angewiesensein auf göttlichen Beistand zunehmen. Gregor betont an dieser Stelle, dass diese συµµαχα der menschlichen Natur gegeben ist und zwar mit der Schöpfung des Menschen, aber erst dann erscheint und erkannt wird, wenn der Mensch in seinem Streben zu einem höheren Leben sich gegen Widerstände wappnet. Dennoch kann Gregors Rede vom Mitwirken Gottes nicht als Begründung für den Vorwurf des Synergismus dienen. Denn die Selbstmächtigkeit des Menschen, die die höchste Ehre des gottebenbildlichen Menschen darstellt, ist – wenn auch nicht verloren –, so doch einer Knechtschaft un201 Dabei kommt man zu unterschiedlichen Ergebnissen: Ernest McClear, S.J. (The Fall of Man and Original Sin in the Theology of Gregory of Nyssa. TS 9 [1948] 175–212, 191) sagt, dass Gregor die Lehre von der Erbsünde vertrete (vgl. auch 205); Donald C. Abel (The Doctrine of Synergism in Gegory of Nyssa’s De Institutio Christiano. Thom. 45 [1981] 430–448, 448) hingegen konstatiert (mehr von dem römisch-katholischen Dogma als von Augustin her), dass Gregor die Balance von Freiheit und Gnade nicht gelungen sei; zu Ritter s.o. S. 128f. 202 Allan Sidney Dunstone, The Meaning of Grace in the Writings of Gregory of Nyssa. SJTh 15 (1962) 235–244, 244; schon Abel, Doctrine, 436, hielt fest, dass χρις eine weite Bedeutung hat, aber dabei immer Geschenk meint. 203 Vgl. Mühlenberg, Synergism, 99–101. 204 Gr. Nyss. v. mos. 2 (Musurillo GNO 7,1 45,13–19).

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terworfen. Dies hat zur Folge, dass der Mensch erstens auf das Gebet zu Gott und zweitens auf die Person und das Werk Jesu Christi angewiesen ist und drittens die volle Freiheit wie auch die Tugend erst durch den Tod hindurch erreichen wird. Diesen drei Linien soll jetzt im Einzelnen nachgegangen werden. 6.1. Die Verkehrung der Selbstmächtigkeit Die Freiheit des Menschen ist auch für Gregor durch die Sünde eingeschränkt. Der Mensch ist der Knechtschaft unterworfen als Strafe dafür, dass er sich von dem Guten abgewendet hat; dabei gilt Gregor die Natur des Menschen weiterhin als frei und selbständig: „Knechtschaft verhängst du als Strafe über den Menschen, dessen Natur frei und selbstmächtig ist.“205 Bemerkenswert ist, dass das Urteilen Gottes über den Menschen präsentisch formuliert ist. Gregor will nicht rückwärtsgewandt eine Aussage über den Sündenfall als ein Ereignis der Vergangenheit machen, sondern die gegenwärtige Situation des Menschen deuten. So unterliegt der seiner Natur nach freie und dem dynamischen Begriff Gregors von φσις entsprechend nach Freiheit strebende Mensch zugleich der Knechtschaft. Die Selbstmächtigkeit, die Gregor als die hervorragendste Gabe Gottes an den Menschen bezeichnet hat, kann in ähnlicher Weise zu einem Übel werden. So wird sie „durch den verfehlten Gebrauch, den die Menschen von ihr machen, zu einem Werkzeug [, das] zur Sünde [führt]“.206 Dem Menschen wird aufgrund seiner schlechten Entscheidungen die eigene Natur hinderlich: „Denn der Mensch ist nicht dem Menschen feindlich, sondern die der Schlechtigkeit gemäße Bewegung der Wahlentscheidung versetzt das, was [ihm] durch die Natur verbunden ist, auf die Seite des Feindes.“207 Besonders weit geht Gregor an einer Stelle seines Kommentars über das Hohelied; demnach gerät die Selbstmächtigkeit des Menschen selbst zu einem Übel: „Unser selbstmächtiges Vermögen, das etwas Gutes ist, es wird, wenn es auf das Böse hin wirkt, zu einem der größten Übel.“208 So ist die menschliche Freiheit von ihrem Ursprung her für Gregor das höchste Gut des Menschen, aber je nach der Richtung, in der sie wirkt, 205 δουλε%α καταδικζεις τν =νρωπον, οX λευ(ρα A φσις κα υτεξοσιος. (Gr. Nyss. in eccl. 4 [Alexander GNO 5 335,6f]) 206 τ γαν το εο δ!µα, τοτο δ( στιν A ατεξοσιος κνησις τ διηµαρτηµ(νη τ@ν νρκατ(ραν Sοπς ε ς ρετQν τε κα κακαν 0λη γιν!µενος). 223 Balás, Plenitudo, 115–133, bes. 120f. 224 Vgl. Reinhard M. Hübner, Die Einheit des Leibes Christi bei Gregor von Nyssa. Untersuchungen zum Ursprung der ‚physischen‘ Erlösungslehre. PP 2. Leiden 1974, 67f. 225 Vgl. Kees, Lehre, 248. 220 221

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deliegt. Nach Kees versteht Gregor die Hinzuerschaffung der Geschlechtlichkeit des Menschen in einem übertragenen Sinn als Unterwerfung des Menschen unter seine Geschlechtlichkeit und die mit ihr verbundenen Affekte: Nun lenkt der Vollzug der Geschlechtlichkeit den Menschen von der Freude an Gott ab.226 Insgesamt hat Gregor die Schöpfung als eine simultane verstanden; das besagt, dass alles auf einmal geschaffen, oder genauer grundgelegt ist; dies ist von der Gotteslehre her gedacht, da für Gregor in Gott keine Vergangenheit oder Zukunft ist. Der Urzustand des Menschen ist darum nicht als ein geschichtlicher zu verstehen, sondern als der von Gott als Schöpfer für den Menschen intendierte Zustand.227 Gregor unterscheidet die Sterblichkeit des Menschen deutlich von seiner Natur, auch wenn diese als eine geschaffene veränderlich228 und beweglich ist. Die Sterblichkeit ist von der unvernünftigen Natur auf die zur Unsterblichkeit bestimmte vernünftige Natur des Menschen übertragen und verhüllt nur sein Äußeres, nicht aber das Innere: Die Gottebenbildlichkeit wird davon nicht belangt.229 Mit der Auferstehung wird der Mensch von all dem befreit werden, was ihm mit dem Chiton aus Fell gegeben ist.230 Der leibliche Tod hat nach Gregors Ansicht eine positive Funktion, indem er (wie er es in De anima et resurrectione beschrieben hat) das Böse, das der Mensch seiner Seele während seines Lebens angebunden hat, abtrennt.231 Dieser Vorgang ist umso schmerzhafter, je größer die Menge dieses Bösen ist; insofern gilt er Gregor als Strafe.232 In De anima et resurrectione lässt Gregor seine Schwester Macrina noch mehr über den Tod als heilende Strafe sagen.233 Da hier bei der Beschrei226 Kees, Lehre, 226f. 232f unter Verweis auf virg. 12,4 (Cavarnos GNO 8,1 302,6–20); vgl. auch Arthur H. Armstrong: Platonic elements in St. Gregory of Nyssa’s Doctrine of Man. Dominican Studies 1 (1948) 113–126, 121, der in der durch den Fall bedingten Gestaltlosigkeit (µορφα) ein Schlüsselwort der Theologie Gregors sieht. 227 Vgl. Kees, Lehre, 224, 226f, der darum auch Johann Bapt. Schoemann, Anthropologie, 38, zu recht kritisiert, der die Unterscheidung von Natur und Übernatur zur Erklärung von Gregors Theologie verwenden will. 228 Vgl. Jean Daniélou, Le probleme du changement chez Grégoire de Nysse. Archives de philosophie 29 (1966) 323–347, der darauf hinweist, dass nach Gregor der Mensch nicht zwischen Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit zu wählen hat, sondern zwischen zwei verschiedenen Arten von Veränderlichkeit (331). 229 Gr. Nyss. or. catech. 8,5 (Mühlenberg GNO 3,4 30,14–20). 230 Vgl. Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 148 C 7–13). 231 Vgl. hierzu Gregors Auslegung der Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus (Luk 16,17–31), s.o. S. 154. 232 Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 97–100). 233 Nach Kees hat Gregor die traditionelle Lehre vom Tod tiefgreifend umgestaltet, indem er ihn nicht mehr als Auflösung des Leibes aufgrund der Trennung der Seele vom Leib bestimmte, sondern als Reinigung von Seele und Leib, wobei die Seele auch im Tod die einzelnen Bestandteile des Menschen verbindet und so eine Voraussetzung für die Auferstehung auch des Leibes schafft (Kees, Lehre, 243–244.247); erst die Trennung im Tod ermöglicht die Reinigung von Seele und Leib, da sie bei beiden in unterschiedlicher Weise erfolgt (143f).

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bung des eschatologischen Ziels der ganzen Schöpfung verschiedene wichtige Begriffe der Anthropologie des Nysseners begegnen und das Verhältnis von Wahlentscheidung und Freiheit deutlich wird, lohnt es sich, diesen Abschnitt genauer zu betrachten. Das Ziel des göttlichen Gerichts ist, dass alles Böse aus dem Sein vertilgt wird. Dazu muss das Böse aus den menschlichen Seelen entfernt werden, denn dann ist ihm die zu seiner Existenz notwendige Grundlage in der menschlichen Wahlentscheidung entzogen: „Da nämlich außerhalb der Wahlentscheidung die Schlechtigkeit keine Natur hat, um zu sein, wird sie, wenn jede Wahlentscheidung in Gott geschieht, keinen Erfolg mehr haben und völlig verschwinden – weil nichts übrigbleibt, das sie aufnehmen könnte.“234

Das Böse hat nur Bestand durch vernunftbegabte Lebewesen, die sich ihm öffnen. Es hat also nur ein geliehenes Sein. Wenn dieses ihm genommen wird, indem alle Schlechtigkeit aus dem Sein entfernt wird, dann wird es zu dem gemacht, was es wirklich ist, nämlich zunichte. Die vernunftbegabten Lebewesen binden durch ihre Wahlentscheidungen das Böse an sich. Wenn nun „jede Wahlentscheidung in Gott geschieht“ und keine mehr in schlechter, von Gott wegführender Richtung, ist dem Bösen jede Seinsgrundlage genommen. In der Folge empfiehlt Macrina, wegen der zu erwartenden Strafe die Seele unvermischt von der Schlechtigkeit zu halten und keine Gemeinschaft mit ihr einzugehen,235 oder, wenn dies, weil die menschliche Natur den Affekten ausgesetzt ist, nicht möglich ist, soll man nur leichte Abweichungen von der Tugend zulassen.236 Macrina verweist zur Begründung vage auf verschiedene Gerichtsgleichnisse, um zu zeigen, dass Gott im Gericht auch die kleinste Schuld nicht übersieht.237 Der Textabschnitt zielt auf das Ergebnis der Strafe, die der Mensch im Gericht Gottes zu gewärtigen hat. Und dadurch erscheint die Bestrafung in einem positiven Licht, sofern sie den Menschen zurechtbringt: „Und so wird er, wenn er alles Fremde, das heißt die Sünde, von sich getan hat, und die auf den Schulden beruhende Schande abgelegt hat, in Freiheit und Zuversicht sein. Die Freiheit aber ist die Verähnlichung mit dem, was keinen Herrn über sich hat und sich selbst beherrscht, die uns zu Anfang zwar von Gott geschenkt worden ist, durch die Schande der Schulden aber gänzlich verhüllt worden ist. Alle Freiheit 234 επειδ γ+ρ ξω τς προαιρ(σεως A κακα εJναι φσιν οκ χει, ]ταν πIσα προαρεσις ν τ"@ ε"@ γ(νηται, ε ς παντελ φανισµν A κακα µ χωρQσει. τ"@ µηδ.ν ατς 7πολειφε2ναι δοχε2ον. (Gr. Nyss. anim. et res. [PG 46, 101 A 5–8]) Weitere Belege bei Alden A. Mosshammer: Non-Being and Evil in Gregory of Nyssa. VigChr 44 (1990) 136–167, 142– 144. 235 µιγ κα κοιναυτν ο κεωσις χει.240 Di Stefano übersetzt das folgendermaßen: „la libertà è veramente e realmente ‚l’identità con la propria natura e la conformità con essa‘“ – die Freiheit wäre demnach identisch mit ihrer eigenen Natur und mit sich übereinstimmend, also als authentische und radikale Subjektivität bestimmt.241 Nach diesem Konzept sei die Freiheit nicht auf 238 κα ο0τως, pπαν πο(µενος τ λλ!τριον >αυτο, ]περ στν A )µαρτα, κα τν κ τ@ν gφληµτων α σχνην ποδυσµενος, ν λευερ%α τε κα πα{Sησ%α γ(νηται. _Η δ. λευερα στν A πρς τ δ(σποτ!ν τε κα ατοκρατ.ς ξCµοωσις, A κατ ρχ+ς µ.ν Aµ2ν παρ+ εο δεδωρηµ(νη, συγκαλυφε2σα τ τ@ν gφληµτων α σχνη. ΠIσα δ. λευερα µα τς στι τ φσει κα πρς >αυτν ο κεωσις χει. MΑκολοως οFν πIν τ λεερον τ"@ Cµο"ω συναρµοσQσεταιR ρετ δ. δ(σποτον. Οκον ν τατη γενQσεται πIν τ λεερον, δ(σποτον γαρ τ λεερον. (Gr. Nyss. anim. et res. [PG 46, 101 C 10–104 A 2]) 239 Vgl. Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 84 B 2f), or. catech. 40,8 (Mühlenberg GNO 3,4 106,11–13), v. mos. 2 (Musurillo GNO 7,1 34,11–14, 58,22f, 59,3–5 und 56,24–27) und mort. (Heil GNO 9 55,19–23). In anim. et res. (PG 46, 120 C 12–121 A 3) ist die Wahlentscheidung zum Guten dem Anschlag des Feindes des Lebens gegenübergestellt, doch deswegen muss die Wahlentscheidung dort nicht als festgelegt auf das Gute verstanden sein. 240 Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 101 D 2f). 241 di Stefano, Dialetticà, 199f.

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das liberum arbitrium reduziert, sondern sie gründe in sich selbst. Dies sei ein wesentlicher Unterschied des griechischen Freiheitskonzepts gegenüber allen anderen.242 Abgesehen davon, dass di Stefanos Übersetzung den griechischen Wortlaut leicht zwingt, ist diesem Verständnis von Freiheit gegenüber zu bedenken, dass Gregor hier von der Freiheit geschaffener Wesen, erlöster Menschen nämlich, in einem eschatologischen Horizont spricht. Von der göttlichen Freiheit ließe sich eine solche Beschreibung geben, wie sie di Stefano vorlegt. Vom Menschen lässt sich nur bedingt so reden, sofern er die Freiheit nicht allein sich selbst verdankt, wenn auch sie seine Natur ist. „Seine Befreiung ist jetzt die durch Befreiung vermittelte Freiheit“.243 Gregor drückt das dadurch aus, dass er zu Beginn seiner Beschreibung der Freiheit diese hier als „Verähnlichung mit dem, was keinen Herrn über sich hat und sich selbst beherrscht,“ fasst. Auch wenn der Mensch erkennt, dass es ihm „zu Anfang zwar von Gott geschenkt worden ist“, ist doch die Subjektivität zumindest dadurch gebrochen, dass sie geschenkt ist. Der Prozess der Verähnlichung an die eine Freiheit beruht auf dem tugendhaften Leben des Menschen. Da die Tugend frei ist, findet durch sie die Angleichung an die höchste Freiheit statt. Da diese mit Gott wenn auch nicht ganz zu identifizieren, so doch sehr eng verbunden ist, ist die Vergöttlichung des Menschen von Gregor eben nicht allein physisch gedacht, sondern auch ethisch, da sie im Handeln des Menschen im universalen Horizont der universalen Menschheit geschieht, wie dies Reinhard M. Hübner herausgearbeitet hat.244 Wie steht es nun mit dem menschlichen Mitwirken bei diesem Prozess? Die urspünglich dem Menschen gegebene Freiheit ist „durch die Schande der Schulden gänzlich verhüllt worden“.245 Dies besagt nicht, dass die menschliche Wahlfreiheit zerstört wäre. Zuvor wurde ja von der Wahlentscheidung gesagt, dass sie „in Gott geschehen“ wird, und damit impliziert, dass sie auch außerhalb Gottes, das heißt in einer Gott nicht entsprechendi Stefano, libertà, 451. Apostolopoulou, Georgia: Das Problem der Willensfreiheit bei Gregor von Nyssa. In: L’homme et son univers au Moyen Âge. Actes du septième congrès international de philosophie médiévale (30 août – 4 septembre 1982). Éd. par Christian Wenin. Bd. 2. Louvainla-Neuve 1986, 719–725, 723. 244 Rainhard M. Hübner: Gregor von Nyssa und Markell von Ankyra. In: Écriture et culture philosophique dans la pensée de Grégoire de Nysse. Actes du colloque de Chevetogne (22–26 Septembre 1969). Ed. Marguerite Harl. Leiden 1971, 199–229, und vor allem Ders., Einheit, passim; vgl. aber bereits David L. Balás: ΜΕΤΟΥΣΙΑ ΘΕΟΥ. Man’s Participation in God’s Perfections according to St. Gregory of Nyssa. Studia Anselmiana 55. Rom 1966, 127 u.ö. 245 Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 101 D 1f); das Stichwort „Schulden“ (gφλQµατα), das ein paar Zeilen zuvor bereits begegnete (C 12f), das ja die Frage weckt, wem der Mensch etwas schuldig ist, wird von Gregor nicht weiter aufgegriffen; er redet von der „Schande der Schulden“ und deutet so die Zerstörung von Gemeinschaft an, sofern Schande denjenigen, der sie zu tragen hat, vereinzelt. 242 243

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den Weise wirksam sein kann. Macrina behauptet nur das Verhülltsein der Freiheit. Sie ist dem Menschen nicht vollständig entzogen. Nun führt Macrina 1 Kor 15,28 an und erklärt dieses Pauluswort ausführlich.246 Sie schließt an den Gedanken an, dass jedes Freie in der Tugend entstehen wird, und nimmt den Gegensatz der Tugend, die Schlechtigkeit (κακα), wieder auf: „Nun aber ist die göttliche Natur die Quelle jeder Tugend. Folglich werden die von der Schlechtigkeit Befreiten in ihr [sc. der göttlichen Natur] sein, damit, wie der Apostel sagt, Gott alles in allen sei.“247

Die anschließende Erklärung des Pauluswortes umfasst zwei Gedanken: Dass einerseits Gott „alles“ sein wird, versteht Macrina dahin, dass Gott sich selbst den Menschen für ihre verschiedenen Bedürfnisse zuteilt.248 Dass er andererseits „in allen“ sein wird, bedeutet, dass er durch seine Anwesenheit die Schlechtigkeit aus allen vertreiben wird, denn wo er ist, hat diese keinen Platz.249 Dieser Abschluss schließt nicht das Mitwirken des Menschen an seiner Verähnlichung an die Freiheit durch ein tugendhaftes Leben aus. Aber er macht deutlich, dass die Vollendung dieses Vorgangs als ein eschatologisches Handeln Gottes am Menschen durch Tod und Gericht hindurch gedacht ist. Es geht ja um das Gericht Gottes am Menschen und sein Ziel. 1 Kor 15,28 ist einem Kontext entnommen, wo es um das eschatologische Handeln Gottes an der ganzen Schöpfung geht. Es wäre nicht in Gregors Interesse, hier die Vollendung des Prozesses des Menschen zur Freiheit hin, die durch Gott vollzogen wird, gegen das vorangehende und nie abgeschlossene tugendhafte Leben des Menschen, das diese Freiheit befördert, auszuspielen. Denn die göttliche Natur gilt Gregor als Quelle der Tugend.250 Bereits das tugendhafte Leben des Menschen setzt eine göttliche Gabe an diesen voraus, die ihm allererst die Anähnlichung an die Freiheit ermöglicht: die Tugend, die selbst frei ist. Auch in der Auslegung der achten Seligpreisung (Mt 5,10) kommt Gregor auf die Freiheit (λευερα) zu sprechen. Hier verbindet er sie aber mit der Selbstmächtigkeit (τ ατεξοσιον). Dabei erscheint die Selbstmächtigkeit als eine eschatologische Gabe an die Menschen, die sich von der Knechtschaft der Sünde frei machen. So deutet Gregor den für die Verkündigung Jesu zentralen Begriff des Himmelreichs: Vgl. Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 104 A 7–105 A 2). MΑλλ+ µν A ε2α φσις A πηγ πσης στ τς ρετς. ν τατη =ρα ο5 τς κακας πηλλαγµ(νοι γενQσονται, Uνα, κα@ς φQσιν C MΑπ!στολος, C ες τ+ πντα ν πIσιν. (Gr. Nyss. anim. et res. [PG 46, 104 A 7–10]) 248 Vgl. Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 104 A 13–B 12). 249 Vgl. Gr. Nyss. anim. et res. (PG 46, 104 B 12–105 A 2). 250 Darum kann ich Abel, Doctrine, 439f, nicht zustimmen, der die menschliche Anstrengung für eine „neccesary precondition for the reception of grace“ hält. Da die Gnade erst menschliche Anstrengung ermöglicht, ist sie selbst zugleich Voraussetzung der Würdigkeit des Menschen für den Empfang der Gnade. 246 247

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„Die höchste Gestalt aber der Freiheit ist es, selbstmächtig zu werden. Die Würde des [Himmel-]Reiches hat keine Herrschaft, die ihr überlegen wäre. Wenn also derjenige, der der Sünde fremd ist, selbstmächtig ist, und es dem [Himmel-]Reich eigen ist, sich selbst zu regieren und keinen Herrn über sich zu haben, dann wird derjenige, der von dem Übel verfolgt wird, zu recht selig gepriesen, da die von da herrührende Verfolgung ihm die Würde des [Himmel-] Reiches gewährt.“251

Gregor will hier einsichtig machen, dass denen, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, das Himmelreich gehört. Dazu verbindet er zwei Gedanken: Verfolgung trifft denjenigen, der sich aus der Knechtschaft der Sünde befreit. Und: In der Freiheit besteht die Würde des Himmelreichs. Durch die Freiheit sind die Verfolgung um der Gerechtigkeit willen und die Würde des Himmelreichs miteinander verbunden. Dabei gilt Gregor die Selbstmächtigkeit als die höchste Gestalt der Freiheit, allerdings nicht als ein Zustand, sondern als ein Werden. Da sie zudem die höchste Gestalt der Freiheit ist, erscheint sie als eine eschatologische Größe, die außerdem nicht der Mensch sich selbst, sondern die Verfolgung ihm gibt. Es ist also wieder ein Prozess des Selbstmächtigwerdens vorgestellt, der zu der Würde des Himmelreichs hinführt und den Menschen von der Herrschaft der Sünde befreit, ein Prozess, der nicht allein in der Macht des Menschen steht. Während diese Deutung, die Gregor der achten Seligpreisung gibt, es nicht gänzlich ausschließt, dass die Befreiung aus der Herrschaft der Sünde auch als ein Werk des Menschen erscheint, so lässt eine Stelle in De oratione dominica die Möglichkeiten des Menschen, zu seinem eigenen Heil beizutragen, noch eingeschränkter erscheinen. Gregor fragt hier nach dem Grund der dritten Bitte des Herrengebets (Mt 6,10b): „Weswegen aber beten wir, dass von Gott her die bei uns liegende gute Wahlentscheidung geschieht?“252 Die Übersetzung von Fisch verdeckt hier wichtige Feinheiten; er gibt die Stelle folgendermaßen wieder: „Weshalb beten wir aber, dass der gute von Gott stammende Wille an uns geschehe?“253 Gerade im Zusammenhang mit der dritten Bitte lässt Fischs Übersetzung, wenn er προαρεσις mit „Wille“ wiedergibt, eher an (ληµα denken. Dieses aber bezeichnet das vom Willen intendierte Geschehen, also das von Gott gewollte Heil des Menschen.254 Dagegen bezeichnet das hier vorliegende Wort προαρεσιν den Vorgang der Wahlentscheidung, die von Gregor of251 τ δ. κρ!τατον τς λευερας εJδος τ ατεξοσι!ν στι γεν(σαι. A δ. τς βασιλεας ξα 7περκειµ(νην >αυτς τινα τυραννδα οκ χει. οκον ε ατεξοσι!ς στιν C τς )µαρτας λλ!τριοςR Dδιον δ. βασιλεας στ τ ατοκρατ(ς τε κα δ(σποτονR κολοως µακαρζεται C π το κακο διωκ!µενος, Kς τς κε2εν διαυτν τελειοσηςR ε δ. πρς τ κρε2ττον γ(νοιτο A Sοπ, το εο χρεα το τν πιυµαν ε ς ργον =γοντος. (Gr. Nyss. or. dom. 4 [Callahan GNO 7,2 272,19–23]) 258 πIν δ. ]σον κτς το γαο δι’ατς τς ναχωρQσεως ατο παρυπ(στη κακ!ν, περ τν κολην τατην ζων οh!ν τις τρυγα τε κα λTς συνε{Sη, i µολνεται τ νραυτ"@ τν τς προσευχς πα{Sησαν περιπιετω. (Gr. Nyss. or. dom. 5 [Callahan GNO 7,2 292,10–12]) 264 κα σµεν >αυτ@ν τρ!πον τιν+ πατ(ρες, >αυτοTς οUους ν (λωµεν τκτοντες κα π τς δας προαιρ(σεως ε ς ]περ cν (λωµεν εJδος L =ρρεν L λυ τ"@ τς ρετς L κακας λ!γ"ω διαπλασσ!µενοι. (Gr. Nyss. v. mos. 2 [Musurillo GNO 7,1 34,11–14]) 265 S.o. S. 154.

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hilfe durch das Gebet geziemend hinzugenommen wird.“266 Die Oratio catechetica ist eine Schrift, die Klerikern zur Vorbereitung der Taufkatechese dienen soll. Dementsprechend befasst sie sich stärker mit dem liturgischen Geschehen. Sie ist daran interessiert, dass die liturgischen Vollzüge in ihrer Wirklichkeit und Verbindlichkeit bewusst gemacht werden. De vita Moysis hingegen ist am philosophischen Lebenswandel des Menschen interessiert und wendet sich an ein philosophisch gebildetes Publikum. Darum lässt dieses Werk im Blick auf die geistige Geburt das einzelne Wirken Gottes nicht hervortreten. Das Göttliche wird in seiner Anziehungskraft beschrieben, die die Menschen zu einem tugendhaften Leben veranlasst, aber nicht in den punktuellen Ereignissen, die in einer religiösen Biographie begegnen. Dass darum von der Oratio catechetica her eigentlich nicht mehr davon gesprochen werden kann, dass der Mensch sich selbst geistlich gebiert, zeigt eine Stelle am Schluss der Katechese: „Wenn du nun Gott empfangen hast und ein Kind Gottes geworden bist, zeige auch durch die Wahlentscheidung (προαρεσις) den Gott, der in dir ist, zeige in dir selbst den, der dich gezeugt hat.“267 Hier klingt an, dass Gregor die Erlösung des Menschen in Tod und Auferstehung Christi nicht physisch versteht, sondern ein Leben in personaler Gemeinschaft meint, das an Stelle der Entfremdung zwischen Gott und Mensch im Tod tritt.268 Aber hier zeigt sich, wenn man die zuvor zitierte Stelle aus Oratio catechetica 34,4 daneben hält, eine logische Unausgewogenheit: Nach dieser Stelle ist der Drang der Wahlentscheidung eine Voraussetzung zur Wirksamkeit der Taufe, es ist also eine Verwandlung des menschlichen Willens nötig.269 Nach Oratio catechetica 40,5 zeigt der Mensch in seiner Wahlentscheidung, wer ihn gezeugt hat, sie folgt also der Taufe nach. Doch diese Unausgewogenheit erklärt sich, wenn man bedenkt, dass der Mensch für Gregor immer von dem Guten angezogen wird, ob er sich davon abwendet und entfernt oder nicht. Bildlich gesprochen: Der Mensch ist von der Gnade Gottes umgeben wie von einer starken Strömung. Er hat mit seinem eigenen Tun keinen Einfluss auf diese Strömung. Er kann gegen sie schwimmen oder sich ihr überlassen und mit ihr schwimmen und dadurch die Wirkung der Strömung verstärken. Entsprechend steht der Gnade Gottes im Denken Gregors kein entgegengesetztes Handeln Gottes gegenüber; Strafe und Gericht schafft der Mensch sich selbst und sie dienen als Reinigung letztlich seinem Heil. Angesichts logischer Unstimmigkei266 Vgl. Gr. Nyss. or. catech. 34,3 (Mühlenberg GNO 3,4 85,5–16), das Zitat 13–16: οFν τς Aµετ(ρας προαιρ(σεως πρς τ σπουδαζ!µενον τν Cρµν χοσης, ε συµπαραληφεη καηκ!ντως A δι+ τς εχς συµµαχα; vgl. auch de Boer, anthropologie, 473. 267 ε οFν λαβες εν κα τεκνν γ(νου εο, δε2ξον δι+ τς προαιρ(σεως κα τν ν σο 8ντα ε!ν, δε2ξον ν σεαυτ"@ τν γεννQσαντα. (Gr. Nyss. or. catech. 40,5 [Mühlenberg GNO 3,4 104,13–16]) 268 Vgl. Balás, Plenitudo, 127. 269 Vgl. Hübner, Einheit, 201.

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ten empfiehlt es sich, zu bedenken, dass Gregor nicht auf eine logisch schlüssige Darstellung der christlichen Lehre abzielt, sondern gerade in Fragen von Freiheit und Gnade Erfahrungen beschreibt, so dass Freiheit und Knechtschaft seelische Erfahrungen vertreten.270 Das Gute aber ist für den Menschen immer eine erworbene Gabe, während Gott das Gute wesentlich ist. Um diesen grundlegenden und bleibenden Unterschied zwischen Mensch und Gott auszudrücken, verwendet Gregor verschiedene Vorstellungen. Eine davon ist die der Cµοωσις (Anähnlichung271): Der Mensch wird auf dem Weg zur Schau Gottes Gott immer ähnlicher. Gregor denkt ja die Gottebenbildlichkeit des Menschen als einen Prozess. Wegen Gregors Begriff von Gott als Unendlichkeit kommt der Mensch dabei seiner Vorstellung nach nie zu einem Ziel. Schon Merki war deutlich, „daß die Gottähnlichkeit Anteilnahme an Gott ist.“272 Wenn er sie von daher als Gnade qualifiziert,273 ist zu berücksichtigen, dass dies im Sinn des weiten Gnadenverständnisses Gregors gesagt ist und nicht den prägnanten Gnadenbegriff Augustins meint. Sie ist Gnade, weil sie einzig in dem, der die Menschen geschaffen hat, ihren Grund hat. Außerdem ist Gregor eine gewisse Zurückhaltung bezüglich der Vergöttlichung des Menschen zu attestieren, denn nur die Eigenschaften der göttlichen Natur, nicht diese selbst empfängt der Mensch und er wird nicht zu dem, was er in der Schau erblickt, sondern er wird ihm gemäß.274 So sagt Gregor in seinem Kommentar zum Hohenlied hingegen, dass der Mensch, wenn er sich von Gott abwendet und Götzenbildern anhängt, dann „zu dem, was er betrachtet, verwandelt und zu Stein wird“.275 Hier scheint Gregor von einer wesentlichen Verwandlung zu sprechen. Eine andere Vorstellung, um die Gemeinschaft bei bleibender Verschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf auszudrücken, ist die der Teilhabe (µετουσα). Auch wenn in der Vernunft und der Selbstmächtigkeit des Menschen Gregor die Gottebenbildlichkeit des Menschen sieht, wendet er auf sie die Idee der Teilhabe nicht voll an; nach David L. Balás versteht Gregor sie als das Gefäß und Mittel, mit dem der Mensch an Gott teilha-

270 Vgl. Werner Jaeger: Two rediscovered Works of Ancient Christian Literature. Gregory of Nyssa and Macarius. Leyden 1954, 140: „Even assistance from above is not more dogma than psychological experience.“ 271 Diese Übersetzung wird von Böhm, Theoria, passim, bevorzugt. 272 Merki, _ΟΜΟΙ"ΩΣΙΣ, 103; vgl. Böhm, Theoria, 200; nach Böhm sind in Gregors Anthropologie Teilhabe, Bild und Anähnlichung miteinander verbunden und wesentlich aufeinander bezogen (205). 273 Merki, _ΟΜΟΙ"ΩΣΙΣ, 109. 274 Dies betont Hermann Dörries, Griechentum und Christentum bei Gregor von Nyssa: Zu H. Langerbecks Edition des Hohelied-Kommentars in der Leidener Gregor-Ausgabe. ThLZ 88 (1963) 569–582, 581, unter Hinweis auf zwei Stellen im Hoheliedkommentar Gregors (Gr. Nyss. cant. cant. 5 [Langerbeck GNO 6 147,11–14 und 150,17]). 275 µετεστοιχειοτο πρς τ βλεπ!µενον λος >ξ νρκτερον τοτων κατ+ τ ατεξοσιον τς προαιρ(σεως προκειµ(νης. (beat. 6 [Callahan GNO 7,2 148,14–16]) Vgl. auch virg. 12 (Cavarnos GNO 8,1 298,11f). 285 πIσα δ. πρς κε2νο ν(νευκεν A κτσις, δι+ τς κοινωνας το πρκστου Cρµς. (Gr. Nyss. c. Eun. 1,174 [Jaeger GNO 12 106,17–23]) Die Alternative, vor der die Wahlentscheidung steht, ist hier deutlich als ein mehr oder weniger in Bezug auf den einen positiven Wert, „dem ersten Gut der erhabenen Natur“, beschrieben; im vorhergehenden Zitat ist dies in der unterschiedlichen Bezeichnung der Alternativen als Schlechtigkeit und Leben gemäß der Tugend angedeutet. 286 Vgl. z. B. Gr. Nyss. or. catech. 30 (GNO 3,4 75,16f), or. dom. 4 (Callahan GNO 7,2 274,32f). 287 Vgl. Gr. Nyss. or. dom. 5 (Callahan GNO 7,2 296,28). 288 Vgl. Gr. Nyss. beat. 8 (Callahan GNO 7,2 169,10f). 282 283

Dynamisches Verständnis des menschlichen Willens

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entscheidung unversehrt erhalten bliebe. Auch von ihr kann er eine Schwächung behaupten, ohne dabei Selbstmächtigkeit oder Freiheit als ihre verlorenen Attribute ins Spiel zu bringen.289 Die Beweglichkeit in der Terminologie ist darauf zurückzuführen, dass Gregor in der Behandlung des menschlichen Willens nie durch Lehrauseinandersetzungen gezwungen war, Position zu beziehen und seine Begrifflichkeit festzulegen. Dadurch bleibt er in seiner Terminologie flexibel und offen. So begegnet bei ihm einmal der Ausdruck δναµις προαιρετικQ, den ich mit Wahlvermögen wiedergebe. Nemesius hatte ihn an einer prägnanten Stelle in De natura hominis verwendet. Gregor schreibt in De anima et resurrectione: „In eigener Vollmacht hat [die Seele] das, was ihr gefällt, aus eigenem Wahlvermögen ausgewählt, und was immer sie wollte, ist sie auch geworden.“290 Gregor beschreibt damit den Zustand der Seele im Ursprung; mit der Behauptung der menschlichen Freiheit im Ursprung begründet er, dass die Schlechtigkeit nicht vor dem vorfindlichen Leben da war, sondern das Leben von Gott gut geschaffen ist. Darum verbindet er die δναµις προαιρετικQ der Seele mit dem Gedanken, dass sie das wurde, was sie wollte. Reinhard Jakob Kees behauptet, dass Gregor nur bezüglich Gottes von einer δναµις προαιρετικQ spreche. Im Werk des Nysseners begegnet aber insgesamt achtmal δναµις προαιρετικ, darunter mehrfach auf den Menschen bezogen. Kees hat sich im wesentlichen auf die Oratio catechetica als Quellengrundlage beschränkt, so dass er nur auf einen Beleg stoßen konnte, der in der Tat von der δναµις προαιρετικQ zunächst im Blick auf den Gottlogos handelt. Dort begründet Gregor die δναµις προαιρετικQ des Gottlogos damit, dass der Logos Leben ist; als Begründung führt Gregor an, dass „nichts, was lebt, ohne Wahlentscheidung ist“.291 Deswegen ist der Schlussfolgerung von Kees zunächst mit Vorsicht zu begegnen, dass nur die göttliche προαρεσις mächtig ist und eine δναµις habe292, auch wenn Gregor selbst im Kontext der von Kees behandelten Stelle dann darauf abhebt, dass „die alles vermögende Wahlentscheidung des Logos zu keinem der Übel einen Drang hat“.293 Im folgenden

289 Vgl. Gr. Nyss. or. catech. 16,1 (Mühlenberg GNO 3,4 46,4–6) und or. dom. 3 (Callahan GNO 7,2 256,21–24): Das πος belangt die Wahlentscheidung. 290 κατ’ ξουσαν ατν α5ρε2σαι τ κατ+ γν