Ethik und christliche Identität bei Gregor von Nyssa [1. Aufl.] 9783161496776, 3161496779

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Ethik und christliche Identität bei Gregor von Nyssa [1. Aufl.]
 9783161496776, 3161496779

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die ethische Fragestellung
2. Methodischer Zugang, Forschungsüberblick und Aufbau der Arbeit
Teil I: Einführung in die christliche Lebenspraxis in den Gemeindepredigten
1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten
2. Christliche Wohltätigkeit in den Predigten über die Liebe zu den Armen
3. Irdische und himmlische Güter
4. Christliche Sozialpolitik?
5. Individualethische Fragen
6. Zusammenfassung: Ethische Argumentation in den Gemeindepredigten
Teil II: Christliche Bildung für Fortgeschrittene und Vervollkommnung in der Tugend
1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt
2. Vervollkommnung als Tugend
3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist
4. Die Erziehung der Affekte
5. Askese und Vervollkommnung
6. Zusammenfassung: Christliche Vollkommenheit als Erfüllung der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit
Schluss
Bibliographie
Quellen
Literatur
Register
Biblische Schriften
Antike Quellen
Personenverzeichnis
Sachverzeichnis

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Studien und Texte zu Antike und Christentum Studies and Texts in Antiquity and Christianity Herausgeber/Editor: Christoph Markschies (Berlin) Beirat/Advisory Board Hubert Cancik (Berlin) · Giovanni Casadio (Salerno) Susanna Elm (Berkeley) · Johannes Hahn (Münster) Jörg Rüpke (Erfurt)

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Sandra Leuenberger-Wenger

Ethik und christliche Identität bei Gregor von Nyssa

Mohr Siebeck

Sandra Leuenberger-Wenger, geboren 1976; Studium der Theologie in Zürich und Rom; 2007 Promotion; seit 2008 Oberassistentin am Lehrstuhl für die Geschichte der Alten Kirche und des Mittelalters der Universität Zürich.

e-ISBN PDF 978-3-16-151348- 0

ISBN 978-3-16-149677-6 ISSN 1436-3003 (Studien und Texte zu Antike und Christentum) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2008 Mohr Siebeck Tübingen. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Held in Rottenburg/N. gebunden.

Vorwort

Ethik als Reflexion über die Normen und Ziele, welche das Leben und Handeln leiten, war für die Theologen der Alten Kirche eine grundlegende Beschäftigung. Die vorliegende Untersuchung befragt die ethischen Reflexionen Gregors von Nyssa auf die Ideale christlichen Lebens, welche für die unterschiedlichen Adressatenkreise entworfen werden. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei auf dem vieldiskutierten asketisch-spirituellen Ideal Gregors, seiner Berechtigung wie auch seiner Relativierung und der Bedeutung ethischer Reflexion für das christliche Selbstverständnis. Die Arbeit ist im Herbstsemester 2007 von der Theologischen Fakultät der Universität Zürich auf Antrag von Frau Prof. Dr. Silke-Petra Bergjan als Dissertation angenommen worden. Für den Druck wurde sie leicht überarbeitet, wobei ich die Einarbeitung der seit der Abgabe im März 2007 erschienenen Literatur auf eine Auswahl beschränken musste. Die Arbeit an einer Dissertation ist auf zahlreiche Anregungen und Hilfestellungen angewiesen. Zuallererst ist in diesem Falle Frau Prof. Dr. Silke-Petra Bergjan zu danken. Sie hat den Anstoß zu dem Projekt gegeben und es als Doktormutter mit zahlreichen Anregungen begleitet. Insbesondere aber hat sie ihr Interesse für Geschichtstheorie und das Nachdenken darüber, was historische Arbeit bedeutet, geteilt und so nicht nur die vorliegende Arbeit inspiriert sondern meinen gesamten Zugang zur Kirchengeschichte. Damit hat mich die Arbeit zu Ethik und christlicher Identität vielleicht nicht zu einem besseren Menschen gemacht, sicher aber mein Verständnis dafür, wie ich Kirchengeschichte betreibe, reifen und fortschreiten lassen. Dafür möchte ich mich von Herzen bedanken. Weitere Anregungen für meine Arbeit im engeren Sinne und das historische Arbeiten im allgemeinen stammen von Herrn Prof. Dr. Emidio Campi, dem ich auch für sein Zweitgutachten danke, sowie dem Kreis der Zürcher Kirchengeschichtlichen Sozietät, insbesondere von Herrn Prof. Dr. em. Alfred Schindler und Herrn PD Dr. Peter Opitz. Die Drucklegung einer Arbeit ist eine eigene Herausforderung, hier bin ich den Mitarbeitenden vom Verlag Mohr Siebeck zu Dank verpflichtet, insbesondere Herrn Dr. Henning Ziebritzki und Herrn Matthias Spitzner. Für die Aufnahme der Arbeit in der Reihe STAC danke ich Herrn Prof. Dr. Christoph Markschies. Neben dem beruflichen Umfeld ist das familiäre von mindestens ebenso großer Bedeutung für das Gelingen einer solchen Arbeit. Mein Mann Mar-

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Vorwort

tin und seit Kurzem unsere Tochter Zora, sowie die weitere Familie, besonders meine Eltern, Schwiegereltern und Geschwister, haben meine Arbeit sowohl praktisch als auch moralisch unterstützt und durch ihr Dasein für die Balance zwischen Arbeit und Abwechslung gesorgt. Ihnen ist das Buch mit tiefem Dank gewidmet.

Zürich, im Mai 2008

Sandra Leuenberger-Wenger

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ...................................................................................... V

Einleitung .................................................................................. 1 1. Die ethische Fragestellung ....................................................................2 1.1. Ethik und Moral: eine begriffliche Bestimmung ............................2 1.2. Ethik als Bildung des Menschen zum wahren Selbst......................5 1.3. Identität und kulturelle Transformation .......................................10 2. Methodischer Zugang, Forschungsüberblick und Aufbau der Arbeit ........................................................................17

Teil I: Einführung in die christliche Lebenspraxis in den Gemeindepredigten ................................................................... 25 1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten ...........................................28 1.1. Die Predigten als Grundlage ethischer Erziehung ........................30 1.2. Gregor und seine Gemeinde im Horizont seiner Predigten ...........34 2. Christliche Wohltätigkeit in den Predigten über die Liebe zu den Armen ................................................................................................47 2.1. Die Wahrnehmung der Armen .....................................................48 2.2. Sorge für die Armen ....................................................................54 3. Irdische und himmlische Güter ...........................................................76 3.1. Die Stellung der Reichen innerhalb der christlichen Gemeinde ....................................................................................76 3.2. Der gerechte Umgang mit Reichtum ............................................79 3.3. Die Predigt gegen die Wucherer ..................................................86 4. Christliche Sozialpolitik?....................................................................93 4.1. Die Wahrnehmung des Staates in den Predigten Gregors .............95

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Inhaltsverzeichnis

4.2. Das Beispiel der Sklaverei.........................................................100 5. Individualethische Fragen .................................................................113 5.1. Sexualität, Ehe und Unzucht ......................................................113 5.2. Fragen der Ernährung ................................................................128 6. Zusammenfassung: Ethische Argumentation in den Gemeindepredigten...........................................................................138 6.1. Soziale Fragen als Themen der Gemeindepredigten ...................138 6.2. Aufbau und Argumentationsstil der Predigten ...........................140 6.3. Vulgärethik?..............................................................................143 6.4. Eine christliche Perspektive.......................................................147

Teil II: Christliche Bildung für Fortgeschrittene und Vervollkommnung in der Tugend ............................................ 151 1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt..........................................152 1.1. Die Charakterisierung der Adressaten........................................153 1.2. Das Konzept des ethischen Fortschritts......................................156 1.3. Fortschritt als Rückkehr zu Gott ................................................165 2. Vervollkommnung als Tugend ..........................................................171 2.1. Tugend als Verwirklichung der menschlichen Bestimmung .......174 2.2. Christliche Tugenden in der Auslegung der Seligpreisungen .....201 2.3. Ein christlicher Tugendkanon? ..................................................231 3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist ...................................234 3.1. Der Mensch als Mittler zwischen geistiger und materieller Dimension der Welt...................................................................235 3.2. Einheit aus Körper und Geist.....................................................242 3.3. Die Seele als Verbindung von Körper und Geist ........................257 3.4. Christen als Teil der biblischen Heilsgeschichte ........................273 4. Die Erziehung der Affekte ................................................................285 4.1. Entstehung und Funktion der Affekte ........................................286 4.2. Affekte und Leidenschaften.......................................................296

Inhaltsverzeichnis

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4.3. Heilung und Erziehung der Affekte ...........................................301 5. Askese und Vervollkommnung .........................................................316 5.1. Der Aufschwung der Askese im 4. Jahrhundert .........................317 5.2. Askese in De virginitate ............................................................324 5.3. Askesekritik und asketisches Ideal.............................................335 6. Zusammenfassung: Christliche Vollkommenheit als Erfüllung der Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit ...............................................352 6.1. Charakterisierung der Fortgeschrittenen und Argumentationsformen ..............................................................352 6.2. Christliche Ethik im Dialog mit der hellenistischen Gelehrsamkeit ...........................................................................356

Schluss.................................................................................... 364 Bibliographie ............................................................................ 367 Quellen ..................................................................................................367 Literatur.................................................................................................376 Register .................................................................................... 395 Biblische Schriften.................................................................................395 Antike Quellen.......................................................................................397 Personenverzeichnis...............................................................................417 Sachverzeichnis .....................................................................................420

Einleitung O Mensch, jeder der teilhat an der menschlichen Natur! Richte deine Aufmerksamkeit auf das Gebot des Moses und erkenne dich selbst genau, siehe wer Du bist. 1

Die Ethik als Reflexion der Frage, wie der Mensch handeln und leben soll, führt bei Gregor von Nyssa in Übereinstimmung mit antiken ethischen Ansätzen zu der grundlegenderen Frage danach, wer der Mensch ist und woran er sich orientieren kann. Die Frage nach dem guten Leben ist die Frage danach, was der Mensch ist und worin das Ziel und der Sinn seiner Existenz bestehen. Gemäß ihrem Begründer Aristoteles beschäftigt sich die Ethik mit dem Ziel und höchsten Gut des Menschen, welches auch sein Glück ausmache. Aristoteles bestimmte daher das gute Handeln und Leben als Konsequenz aus dem Wissen um die eigene Bestimmung2 Auch bei Gregor von Nyssa beschäftigt sich die Ethik in weitem Sinn mit der Frage nach dem Menschen und dem Sinn und Ziel seines Lebens. Aus dem Wissen um die menschliche Bestimmung soll ein gutes Leben verwirklicht werden.3 Die Frage nach der Selbsterkenntnis ist bei Gregor in der eingangs angeführten Stelle in Anlehnung an das Motto „Erkenne dich selbst“ der Inschrift über dem Apollo-Tempel in Delphi formuliert, sie ist für ihn aber eine Frage nach dem richtigen christlichen Leben.4 Als christlicher Autor 1 Mort. 8 (Kapiteleinteilung Lozza, (GNO IX, 40,1–4 HEIL):  νθρωπε, πς  μετέχων τς φύσεως, Πρόσεχε σεαυτ κατ τ Μωυσέως παράγγελμα κα γν θι σεαυτ ν κριβ ς τίς ε . Gregor nennt das Sprichwort weiter unten nochmals explizit GNO IX, 40,20–23 H.). 2 Arist., EN I,1 (1094a–b); EN I,6 (1097b). 3 Die normative Seite von Gregors Anthropologie hat etwa Ulrich Volp in seiner Untersuchung zur Würde des Menschen in der Alten Kirche hervorgehoben: „Das Hauptinteresse Gregors gilt meistens nicht dem, was der Mensch ist, sondern wozu seine φσις ihn befähigt beziehungsweise was der Mensch sein soll.” (Hervorhebung U. V.) U. VOLP, Die Würde des Menschen. Ein Beitrag zur Anthropologie in der Alten Kirche (SVigChr 81), Leiden 2006, 174. 4 Das Motto wird den sieben Weisen zugeschrieben. Vgl. Pl., Prt. (343a). Vgl. zur Bedeutung des Ausspruchs auch T. KOBUSCH, Metaphysik als Lebensform bei Gregor von Nyssa, in: Gregory of Nyssa: Homilies on the Beatitudes: an English Version with Commentary and Supporting Studies: Proceedings of the Eighth International Colloquium on Gregory of Nyssa, Paderborn, 14–18 September 1998 (SVigChr 52), hrsg. v. H. R. Drobner / A. Viciano, Paderborn 2000, 467–485; M.-B. VON STRITZKY, Zum Problem der Erkenntnis bei Gregor von Nyssa, Münster 1973, 51f.; zur Selbsterkenntnis im neuplatonischen Kontext vgl. W. B EIERWALTES, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit, Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen, Frankfurt a. M. 1991, 77–93. Gemäß J. DILLON, An Ethic for the Late Antique Sage, in: The Cambridge

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Einleitung

wollte Gregor die Frage nach dem Sinn und Ziel des Lebens mithilfe der biblischen Schriften im Sinne des christlichen Glaubens beantworten. Gregor ging davon aus, dass die Bibel den Menschen zur Selbsterkenntnis bringt und besagt, worin seine Bestimmung besteht. Damit stellt sich die Frage, inwiefern christliche Konzepte des guten Lebens sich als Adaptionen und Transformationen vorhandener Konzepte verstehen lassen, wo spezifisch christliche Akzente gesetzt wurden und inwiefern die Fragen und Antworten aufgrund des christlichen Glaubens umformuliert wurden. Die grundlegende Bedeutung der Selbsterkenntnis für die Frage nach dem guten Leben verweist auf einen weiteren Horizont der ethischen Fragestellung: die Frage nach dem geglückten Leben und der Erfüllung der menschlichen Bestimmung ist zugleich eine Frage nach der eigenen Identität und im Falle Gregors insbesondere die Frage nach einer christlichen Identität. Wer aus dem Wissen um die eigene Bestimmung heraus gut handeln will, muss zuerst herausfinden, wer er oder sie ist und was seine Bestimmung ist. Damit ist die Frage nach dem guten Leben untrennbar mit der Frage nach der Identität verknüpft, welche bei Gregor sowohl als Frage nach der kollektiven christlichen Identität gestellt wird als auch als Frage nach der je eigenen Bestimmung als Christ.

1. Die ethische Fragestellung In einem ersten Schritt soll aufgezeigt werden, innerhalb welches Rahmens und welcher Leitfragen die Ethik Gregors von Nyssa untersucht wird. Dazu soll vorab geklärt werden, in welchem Sinne man zur Zeit Gregors von Ethik sprechen kann, wo und wie sie betrieben wurde und welche Funktionen sie ausübte. 1.1. Ethik und Moral: eine begriffliche Bestimmung Für die Frage nach der christlichen Ethik im vierten Jahrhundert liegt es nahe, vorerst zu klären, inwiefern man für diese Zeit sinnvoll von Ethik sprechen kann und sich nicht besser auf allgemeinere Begriffe wie ‚Sittlichkeit‘ oder ‚Moral‘ beschränkt. Bezeichnend für die christliche Beschäftigung mit Ethik in der Zeit der Alten Kirche ist es, dass es keine abgetrennte und eigenständige Disziplin der Ethik gab. Die Beschäftigung mit ethischen Fragen umfasste in der Kirche alle Bereiche der Reflexion

Companion to Plotinus, hrsg. v. L. P. Gerson, Cambridge 1996, 326, war die Aufforderung zur Selbsterkenntnis der übliche Ausgangspunkt der platonischen Studien in der Spätantike. Vgl. auch Plot., Enn. I,1 zur Frage „Was ist das Leben und was ist der Mensch?“

Einleitung

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des Glaubens und des Handelns und stellte kein abgegrenztes Fach innerhalb einer klar definierten Disziplin Theologie dar wie dies bei den philosophischen Schulen der Fall war.5 Da weder die Ethik noch die Theologie im Sinne einer eigenen Disziplin existierten, daher kann man die Frage stellen, ob die Formen der Thematisierung ethischer Fragen, wie sie in der alten Kirche stattfanden, zu Recht als Ethik bezeichnet werden.6 Zunächst gilt es zu präzisieren, in welchem Kontext die Frage nach dem guten Leben und Handeln angesiedelt war. In der Spätantike wurde der Frauge nach dem guten Leben eine überragende Bedeutung zugemessen und sie war in unterschiedlichen Bereichen der Lebensgestaltung und der Bildung äußerst präsent, die Philosophie erhielt gar eine Zuspitzung als ars vitae, deren zentrales Anliegen die Sorge für die menschliche Seele war.7 Die Bedeutung der Ethik veranschaulichen Schriften wie das Handbuch zum Platonismus des Mittelplatonikers Alcinous, wo die ethischen Fragen über mehrere Kapitel hinweg behandelt werden und zusammen mit der Anthropologie die Hälfte der Schrift ausmachen, während andere philosophische Disziplinen wie die Logik sehr kurz in einem Kapitel behandelt werden. Die Philosophenschulen waren jedoch nicht der einzige Ort, wo in der antiken Gesellschaft ethische Reflexion stattfand. Mindestens ebenso bedeutungsvoll und gesamtgesellschaftlich einflussreicher waren die Lektionen und öffentlichen Reden von Rhetoren oder Sophisten, die ab dem zweiten nachchristlichen Jahrhundert in der sogenannten zweiten Sophistik eine neue Blütezeit erlebten. Bei den Sophisten war die ethische Reflexion Teil der moralischen und kulturellen Erziehung der Oberschicht. Ihre kri5

Vgl. W. MEEKS, The Origins of Christian Morality: The First Two Centuries, New Haven 1993, 110: „The Christian’s practices were not confined to sacred occasions and sacred locations – shrines, sacrifices, processions – but were integral to the formation of communities with a distinctive self-awareness.“ 6 Stanley Hauerwas und Samuel Wells vertreten die Meinung, dass erst ab der Aufklärung die Rede von christlicher Ethik gerechtfertigt sei, da zuvor die Ethik weder eine eigenständige Disziplin innerhalb der Theologie war, noch eine Unterscheidung zwischen Dogmatik, Glaubenspraxis und Ethik vollzogen wurde. Dieser Ansicht soll hier nicht gefolgt werden, die nachaufklärerische Gestalt christlicher Ethik wird auch von Hauerwas und Wells als defizitär eingestuft, da der christlichen Praxis in dieser universitären Form der Beschäftigung mit ethischen Fragen zu wenig Bedeutung beigemessen werde. Vgl. S. HAUERWAS / S. W ELLS, Why Christian Ethics Was Invented, in: The Blackwell Companion to Christian Ethics (Blackwell Companions to Religion 9), hrsg. v. S. Hauerwas / S. Wells, Malden u. a. 2004, 28–38. 7 Vgl. R. V ISCHER, Das einfache Leben. Wort- und motivgeschichtliche Untersuchungen zu einem Wertbegriff der antiken Literatur, Göttingen 1965, 60: „Der Hellenismus ist die Zeit des Ausgleichs. Bei allen philosophischen Systemen tritt die Ethik in den Vordergrund. Überall steht der Einzelne, sein Weg zum Glück im Mittelpunkt.“ Vgl. auch A. D IHLE, Fortschritt und Goldene Urzeit, in: J. Assmann / T. Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, 150–169.

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Einleitung

tischen politischen und sozialen Reflexionen fanden insbesondere anhand konkreter Anlässe wie Jubiläen, Gerichtsprozesse oder staatliche und kommunale Festlichkeiten statt. Dieser Form von ethischer Reflexion oder moralischer Belehrung war die Art und Weise, wie in der Kirche über ethische Fragen nachgedacht und gesprochen wurde, besonders nahe, da ethische Fragen für ein bestimmtes Publikum behandelt wurden und der Anspruch bestand, mit den Reden oder Texten das Verhalten der Adressaten zu ändern. Neben den Predigten war in der Kirche insbesondere der Katechismus-Unterricht das Forum für die Frage nach dem guten christlichen Leben. Die praktische Einbettung ethischer Fragen insbesondere in die Erziehung und in öffentliche Reden scheint der Bezeichnung Ethik im engeren Sinne nicht gerecht zu werden. Wenn dennoch von Ethik gesprochen wird und nicht von Moral, dann soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass es sich bei Gregor wie bei vielen anderen christlichen Autoren um bewusste Reflexionen handelt, welche das Handeln der Menschen und ihre Lebenspraxis auf die zugrunde liegenden Werte, Normen, Prinzipien oder die Ideale befragten. Wayne Meeks beschreibt in seiner Untersuchung zu den Anfängen christlicher Moral seine Unterscheidung zwischen Moral und Ethik so: „I take ‚ethics‘ in the sense of a reflective, second-order activity: it is morality rendered self-conscious“.8 Die Begriffe ‚Moral‘ und ‚Sittlichkeit‘ dagegen bezeichnen die Praxis und implizite Werte und Normen. Während Meeks für die ersten zwei Jahrhunderte den Begriff der Moral für sachgemäßer hält, wird hier dem Begriff Ethik den Vorzug gegeben, da sich bewusste ethische Reflexion praktisch in allen Schriften und Predigten Gregors zeigen lässt. Im weiteren Horizont der Ethik findet Reflexion zu ganz unterschiedlichen Fragen statt: Fragen zum Zusammenleben der Menschen, anthropologische Fragen im Hinblick auf den Menschen und seine Bestimmung9 und nicht zuletzt theologische Fragen.

8 MEEKS, Origins, 110. Vgl. auch die stärker sozialgeschichtliche Unterscheidung von K.-H. B RODBECK, Ethik und Moral. Eine kritische Einführung, Würzburg 2003, 19: „In diesem Sinn ist die Moral ein Begriff, um die tatsächlichen Verhaltensweisen zu bezeichnen, die einen sozialen Zusammenhalt stiften oder organisieren. Wenn man über diese sozialen Handlungsformen nachdenkt, sie reflektiert und somit bewusst macht, dann wird diese Tätigkeit zur ethischen Reflexion.“ Zu den beiden Begriffen vgl. auch G. FUNKE, Art. Ethisch II, HWP, Bd. 2, 809: „Die Termini ‚Ethik‘ und ‚Moral‘ werden dabei immer mehr entweder für die Theorie (Ethik) bzw. die Praxis (Moral) des Sittlichen gebraucht oder dienen zur Kennzeichnung der inner-sittlich guten Haltung (ethisch) bzw. der faktisch sittenkonformen Verhaltensweise (moralisch).“ 9 Zur sozialgeschichtlichen Fragestellung vgl. P. B URKE, History and Social Theory, Cambridge 22005.

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1.2. Ethik als Bildung des Menschen zum wahren Selbst Das eingangs zitierte Motto „Erkenne dich selbst“, welches Gregor in umgewandelter Form aufgriff, verweist auf den Kontext des griechischen Bildungsideals der Paideia. Das Ideal der antiken Bildung bestand darin, den Menschen zu dem zu machen, der er ist, ihn zu seiner wahren Menschheit oder humanitas zu bringen. Bildung sollte neben der Wissensvermittlung insbesondere den Charakter formen, wobei die Aufgabe der Bildungsinstitutionen in der Spätantike neben der Einführung in die hellenistische Kultur zunehmend auf die moralische Erziehung fokussiert wurde.10 Die für die hellenistische Bildung und Identität konstitutiven Erzählungen von Homer und anderen Autoren wurden im Hinblick darauf tradiert, dass sie den Menschen in eine Geschichte und eine Kultur hineinstellten, durch die der Mensch zu seiner wahren Menschlichkeit gebildet wird. Die Verwurzelung Gregors im antiken Bildungssystem und Bildungsideal zeigt sich in der Art und Weise, wie er die Frage nach dem guten Leben mit dem Ziel verband, seine Adressaten zu guten Menschen zu erziehen und in die christliche Kultur einzuführen.11 Was mit Ethik bezeichnet wird, war für Gregor die Bildung des Menschen zu seinem wahren Selbst: der Reflexion darüber, worin dieses besteht und welcher Weg dazu führt.12 Im klassischen Bildungswesen war die Erziehung sowohl theoretisch als auch praktisch angelegt, wie es der Begriff der Bildung noch andeutet. Der Mensch wurde in doppeltem Sinne zu seiner wahren Menschlichkeit gebildet: in dem Wissen um sich selbst unterrichtet und praktisch in seinen Anlagen und Verhaltensweisen geformt. Diese Doppelfunktion wird unter anderem ausgedrückt im Ideal der Erziehung, der Erlangung des Schönen und des Guten, Kalokagathia, der Bildung von Körper und Geist. In den Überlegungen zur Bildung wurde dabei im Anschluss an Plutarch von drei Aspekten ausgegangen: der menschlichen Natur (φσις) als der Anlage, die allerdings eine ideale Norm13 darstellte, dem Verstand als Mittel zur

10 MEEKS, Origins, 2. „New institutions and sanctions came into being, which undertook to direct the formation of character and to offer that “guidance of souls” that used to be the domain of the elite’s philosophy.” Vgl. auch ebd., 102. 11 Die Verankerung Gregors im hellenistischen Bildungsideal ist insbesondere von Werner Jaeger betont worden. Vgl. W. JAEGER, Early Christianity and Greek Paideia (The C. N. Jackson lecture fort he year 1960), Cambridge / Ma. 1961. 12 Die Bedeutung der Erziehung für die Kappadozier und ihre spezifische Prägung durch die Bildung der moralischen Subjekte wurde schon von Karl Weiss und Werner Jaeger in ausführlicher Weise herausgestellt. Vgl. K. W EISS, Die Erziehungslehre der drei Kappadozier. Ein Beitrag zur patristischen Pädagogik (StrThS 5), Freiburg im Breisgau 1903; J AEGER, Early Christianity and Greek Paideia, 73–77. 13 Vgl. J. ANNAS, The Morality of Happiness, Oxford u. a. 1993, 140.

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Erkenntnis des Guten (λγος / μαθήσις) und der Gewöhnung oder Einübung (θος / σκεσις) zwecks Umsetzung des theoretisch Erkannten.14 Dieses Ideal der Paideia mit ihrem Ziel, den Menschen zu dem zu machen, was er von seiner Anlagen her ist, war ein elitäres Ideal der höheren Bildung und wurde besonders von den Sophisten vermittelt.15 Die verbreitete Bezeichnung Popularphilosophie für die sophistischen Reden und Unterweisungen ist insofern trügerisch, als sich diese nicht an die breite Volksmasse wandte, sondern ein elitäres Ideal vertrat, das sich hauptsächlich an die Oberschicht richtete und die Aufgabe der Vermittlung höherer Bildung und Moral hatte.16 Auch wurde die Unterscheidung der Rhetoren von den Philosophen zur Zeit Gregors zunehmend schwierig, da etwa ein Mann wie Themistius sowohl als Redner am Hofe auftrat, als auch Kommentare zu den Schriften des Aristoteles verfasste.17 Gleichzeitig fanden die Philosophen selbst vor allem im Bezug auf ihre ethischen Ratschläge Gehör und weniger im Hinblick auf andere Forschungsgebiete wie die Logik, die Naturwissenschaft oder die Metaphysik. 18 In der Frage nach dem guten Leben kamen zudem die schulspezifischen Differenzen kaum mehr 14

Vgl. dazu die Ausführungen bei Plu., De liberis educandi 2A. Vgl. M. L. W. LAISTNER, Christianity and Pagan Culture in the Later Roman Empire. Together with an English Translation of John Chrysostom’s Adress on Vainglory and the Right Way for Parents to Bring Up Their Children, Ithaca / NY – London 1951, 10 und MEEKS, Origins, 102. Zur Sophistik vgl. G. ANDERSON, The Second Sophistic. A Cultural Phenomenon in the Roman Empire, London 1993; G. W. B OWERSOCK, Greek Sophists in the Roman Empire, Oxford 1969; A. CAMERON, Christianity and the Rhetoric of the Empire. The Development of Christian Discourse (Sather Classical Lectures 55), Berkeley – Los Angeles 1991; R. C. GREGG, Consolation Philosophy. Greek and Christian Paideia in Basil and the Two Gregories, (PatMS 3) Cambridge / Ma. 1975; G. A. KENNEDY, Classical Rhetoric and Its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times, Chapel Hill, London 21999; G. A. KENNEDY, A New History of Classical Rhetoric, vor allem Kapitel 11 und 12; H.-I. MARROU, Historie de l’éducation dans l’antiquité, Paris 1948; L. MÉRIDIER, L’influence de la seconde sophistique sur l’œvre de Grégoire de Nysse, Rennes 1906. 16 Vgl. KENNEDY, New History, 242. 17 Vgl. KENNEDY, New History, 251. 18 Vgl. P. BROWN, Power and Persuasion in Late Antiquity. Towards a Christian Empire (The Curti Lectures), Wisconsin 1992, 51: „Despite the rise of intensely metaphysical and otherworldly systems of thought associated with the Neoplatonic school, whose writings bulk so large in our surviving evidence, this recurrent ethical concern, with its insistence on self-mastery and its extreme scrupulosity on issues of deportment, continued unchanged in late antiquity. It formed the solid groundwork of all philosophical systems and was responsible for the continued production of manuals for nonphilosophical readers, manuals written, that is, by professional philosophers for men of paideia preoccupied with problems of correct behaviour. When late Roman persons spoke of ‘philosophy’ or turned for advice to philosophers, it was these issues, not the mystical ascent of a Plotinus, they wished to be told about.” 15

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zum Tragen, was dazu führte, dass die Philosophie für viele Menschen ein einheitliches Bild bot. „So konnte sich bei der breiteren Schicht der Gebildeten die Vorstellung einer mehr oder weniger einheitlichen Philosophie herausbilden, wie es auch der Professionalisierung der Philosophie, der Herausbildung des Berufsstandes der Philosophen entsprach.“19 Prägend war insbesondere die platonische Begrifflichkeit, welche die Ausdrucksweise der Gebildeten bestimmte und zu einem einheitlichen Bild beitrug. Wer gebildet war, drückte sich in platonischen Begriffen und Metaphern aus. Diese Ausdrucksweise, die sich auch bei Gregor zeigt, ist zuerst ein Anzeichen für die Breitenwirkung des Platonismus in der Spätantike und sagt für sich noch Nichts darüber aus, wie nahe ein Mensch, der wie Gregor von Nyssa die platonische Begrifflichkeit verwendete, dem Schulplatonismus seiner Zeit stand. Die höhere Erziehung umfasste neben einer vertieften Kenntnis der hellenistischen Kultur auch den selbständigen Umgang mit der literarischen und historischen Tradition und den rhetorischen Sprachformen. Die Einübung in die rhetorischen Stilmittel fand anhand von auswendig gelernten Texten statt, welche die Lernenden nicht nur in die Literatur und Kultur sondern auch in die Grundlagen der Philosophie einführten und die Grundgedanken der einzelnen Schulen so einem breiteren Publikum bekannt machten. Eine Illustration dieser Praxis findet sich in den Handbüchern der Rhetoren, etwa in den Progymnasmata von Aelius Theon, der zu jeder rhetorischen Figur geeignete Beispieltexte angab, welche die Schüler der Rhetorik lesen oder auswendig lernen sollten, um damit ihre von ihm beklagten, spärlichen Kenntnisse zu vertiefen. Unter seinen Vorschlägen sind Texte von Platon, Aristoteles oder den Stoikern.20 Auf diese Weise wurden philosophische Konzepte über den engen Kreis der philosophischen Schulen hinaus auch zum Bildungsgut der gebildeten Elite und damit zu einem schulunabhängigen Allgemeinwissen. Der Anschluss an das Bildungsanliegen der Sophisten zeigt sich bei Gregor insbesondere darin, dass er die Unterweisung in eine christliche Lebensführung mit einer Einführung in die christliche Kultur verband und seine Adressaten nicht nur dazu anleitete, das Richtige zu tun, sondern sich als Handelnde in einer christlichen Kultur und Geschichte zu verstehen 19

DIHLE, Fortschritt, 159. Vgl. Aelius Theon, Progymnasmata 2 (65,29–66,3 P ATILLON): „Zuerst sollte der Lehrer gute Beispiele von jeder Übung aus den alten Schriften sammeln und sie den Jungen zum Lernen anordnen. Ein Beispiel für eine Chreia findet sich bei Platon im ersten Buch der Politeia.“ In diesem Fall wird das intendierte Beispiel von Sophocles im Folgenden noch geschildert, meist nennt Aelius Theon allerdings nur die passenden Texte. Vgl. auch G. A. KENNEDY, Progymnasmata. Greek Textbooks of Prose Composition and Rhetoric, transl. with Introductions and Notes, Leiden, Boston 2003, 9. 20

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und ihr Leben anhand biblischer Geschichten zu deuten.21 Gregors ethische Überlegungen sind daher sowohl im Hinblick auf die Erziehung der Adressaten zu einem guten Leben als auch als Einführung in eine christliche Paideia oder Kultur zu verstehen. Die Adressaten von Gregors Überlegungen sollten in die neue christliche ‚Leitkultur’ hineingenommen werden. Dabei wandelten sich, wie schon oft festgestellt worden ist,22 weniger die verbindlichen Werte und Ideale, sondern die Einbindung derselben in eine bestimmte Geschichte und Weltsicht. So wurden bestimmte literarische Formen wie die bei Sophisten und Philosophen beliebten Viten herausragender Gestalten und Schulgründer zur Veranschaulichung einer vorbildhaften Lebensweise und bestimmter Tugenden im christlichen Kontext zu Heiligen- und Märtyrerviten,23 wobei die Erzählung dieser Viten an den jeweiligen Gedenkfeiern die Tradition der Erinnerungsfeiern an Heroen aufnahmen.24 21 Zu Gregors Verwurzelung in der zweiten Sophistik, seiner rhetorischen Prägung in Stil und Sprache sind schon einige Untersuchungen vorhanden, das Interesse dieser Arbeit liegt daher weniger auf dem Nachweis der rhetorischen Prägung Gregors sondern vielmehr auf den Auswirkungen für seine Konzeption der Ethik und der Theologie. Bezeichnend ist etwa der häufige Einsatz von Metaphern und Bildern aus dem Bereich der Natur, welcher große Bedeutung in der zweiten Sophistik hatte. Die zweite Sophistik verfügte über ein ganzes Repertoire von Topoi und Metaphern, die in unterschiedlichen Kontexten verwertbar waren und auch von den Christen aufgegriffen wurde. Vgl. Ch. K LOCK, Untersuchungen zu Stil und Rhythmus bei Gregor von Nyssa. Ein Beitrag zum Rhetorikverständnis der griechischen Väter (BKP 173), Frankfurt am Main 1987; J. LEEMANS, Style and Meaning in Gregory of Nyssa’s Panegyrics on Martyrs, EThL 81,1 (2005), 109–129; F. MANN, Gregor, „rhetor et pastor“. Interpretation des Proömiums der Schrift Gregors von Nyssa, „De infantibus praemature abreptis“, VigChr 31 (1977), 126–147; H. M. MEISSNER, Rhetorik und Theologie. Der Dialog Gregors von Nyssa Anim. et resurrectione, (Patrologia 1) Frankfurt am Main 1991; vgl. auch MÉRIDIER, L’influence de la seconde sophistique. 22 Vgl. MEEKS, Origins, 84. Im Bezug auf die Unterscheidbarkeit von christlicher und paganer Lebenspraxis und der Rede von Moral meint Meeks, ebd., 2: „The language of virtue that Christians spoke was adapted from older traditions of moral discourse, rather than being invented from scratch. The daily practice of most church members was doubtless indistinguishable in most respects from that of their unconverted neighbors.” 23 Vgl. dazu etwa die Stilisierung von Macrina als Socrates in dem Dialog über die Seele und als Odysseus (aber auch Thecla und andere) in der Vita Macrina. Vgl. dazu G. FRANK, Macrina’s Scar: Homeric Allusion and Heroic Identity in Gregory of Nyssa’s Life of Macrina, Journal of Early Christian Studies 8,4 (2000), 511–531; J. W. SMITH , A Just and Reasonable Grief: The Death and Function of a Holy Woman in Gregory of Nyssa’s Life of Macrina, Journal of Early Christian Studies, 12,1 (2004), 57–84; DERS., Macrina, Tamer of Horses and Healer of Souls: Grief and the Therapy of Hope in Gregory of Nyssa’s “De Anima et resurrectione”, JThS 52 (2001), 37–61. 24 Vgl. dazu etwa LEEMANS, Style and Meaning, 109f: „The influence of the Second Sophistic on Gregory’s work presents itself both on the level of the basic structure of his writings and on the level of his style. The first aspect is probably most visible in his so-

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Kennzeichnend für den ‚humanistischen‘ Hintergrund Gregors ist auch sein Verständnis der Rolle des Bischofs als Erzieher der Gemeinde. Reinhart Staats formuliert im Hinblick auf Gregor absolut: „Der Bischof ist Lehrer!“25 Das Forum für die Erziehungsaufgabe waren dabei in erster Linie die Gottesdienste mit den Predigten, spezifischer auch die katechetischen Unterweisungen und die beratende Korrespondenz oder Unterhaltung mit interessierten Christen. Im Gegensatz zu den Philosophen und teilweise auch den Rhetoren hatten Gregor und andere christliche Prediger jedoch nicht nur die gebildete Oberschicht vor sich, sondern ihr Adressatenkreis umfasste auch ein wenig gebildetes Publikum, das in der ländlichen Gegend um Nyssa in vielen Fällen nicht oder kaum lesen und schreiben konnte.26 Gregor diskutierte die ethischen Fragen der Gebildeten seiner Zeit und übersetzte sie in einen christlichen Kontext im Dialog mit der Bibel, oftmals für ein weit einfacheres Publikum. Das Ziel, christliche Paideia zu vermitteln und die moralische Erziehung voranzutreiben, erklärt die aufwändigen Transformationsprozesse27 auch dort, wo sich inhaltlich sehr wenig änderte und Wertvorstellungen und Lebensideale trotz neuer äußerer Gestalt praktisch unverändert übernommen wurden.28 Die ethischen Recalled hagiobiographical writings: writings that have as their subject the description of the life of a person, presenting him or her as a hagios, a man or woman of God.” (Kursiv J. L.). Ganz ähnlich formuliert D. KRUEGER, Writing and the Liturgy of Memory in Gregory of Nyssa’s “Life of Macrina“, Journal of Early Christian Studies 8,4 (2000), 483– 511 insbesondere im Hinblick auf die Vita Macrina, 484: „In presenting saints as models for emulation, hagiographers employed narrative to articulate Christian ideals and might even use hagiography as a tool to cultivate virtue in themselves, to develop humility and obedience.” 25 R. STAATS, Gregor von Nyssa und das Bischofsamt, ZKG 84 (1973), 149–173, hier 156. Staats diskutiert den für Gregors Amtsverständnis bedeutenden Brief 17 an die Presbyter in Nikomedia, wo Gregor das Idealbild des Bischofs im Vergleich mit einem Lehrer aufzeigte und betonte, dass der Bischof als Lehrer ein Vorbild seiner Gemeinde sein sollte. Vgl. Ep. 17 (GNO VIII,2, 51–58). 26 Vgl. CAMERON, Christianity and the Rhetoric of the Empire, 147: „One of the greatest advantages of Christian over pagan literature was precisely this, that it could and did break out of the mold of traditional elite culture and develop types of writing that could be diffused far more widely, and yet did not lose the essential appeal to the elite audience.“ 27 Vgl. dazu auch R. VAN DAM, Becoming Christian. The Conversion of Roman Cappadocia, Philadelphia 2003, 72–81. 28 Origenes hatte gegen den Vorwurf des Celsus, die Christen hätten keine neue Ethik gebracht, erklärt, es handle sich dabei um allen Menschen eingeborene Ideen. Or., Cels. I,5. Vgl. MEEKS, Origins, 102: „The Christian Letter writers and, presumably, the local prophets and teachers freely adapted the topics and methods that characterized a long tradition in the Greek and Latin worlds of psychagōgia, the guidance of souls. Philosophy was widely construed as a kind of therapy by which the ills of the soul were cured, and

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flexionen Gregors werden daher nicht bloß auf ihre inhaltlichen Bestimmungen hin untersucht, sondern darüber hinaus auf die Art und Weise, wie Gregor über die Reflexion des guten und gelungenen Lebens eine christliche Identität aufzeigt. 1.3. Identität und kulturelle Transformation Die Arbeit untersucht die ethischen Reflexionen Gregors mit besonderem Blick darauf, wie diese dazu beitragen, christliche Identität nach innen und außen zu vergewissern und auszubilden.29 Konstitutiv für die Frage nach der Identität ist ethische Reflexion, weil sie das Handeln in einem normativ geprägten Sinnhorizont versteht. Anhand unterschiedlicher Werte, Normen oder Ideale unterscheiden sich Menschen voneinander und fühlen sich einem bestimmten Berufsstand, einer sozialen Schicht, einer Nation, einer Ethnie oder einer Religion zugehörig.30 Der normative Rahmen ist zugleich ein identitässtiftender Rahmen. Die Bestimmung, was gutes Leben ist, ist eine Bestimmung dessen, wer der Mensch ist, der sich nach diesen Werten richtet; zu wem er gehört und was sein Ziel ist. Dieser Rahmen oder Deutungshorizont wird maßgeblich narrativ entfaltet, als Deutung von Handlungen im Rahmen einer bestimmten Geschichte.31 Im Falle Gregors werden die unterschiedlichen Verhaltensweisen innerhalb der christlichen Heilsgeschichte eingeordnet und bewertet. Die wichtigsten Punkte sind dabei die Schöpfung der Welt und des Menschen in Gottebenbildlichkeit als normatives Ideal, Sündenfall und Vertreibung aus dem Paradies als ÄtioloChristian writers and speakers made that tradition their own, as had Greek-speaking Jewish writers before them.“ 29 Zur Ausbildung christlicher Identität vor dem vierten Jahrhundert vgl. J. LIEU, Christian Identity in the Jewish and Graeco-Roman World, Oxford, New York 2004. 30 A. M ACINTYRE, After Virtue. A Study in Moral Theory, London 1981, 205: „Hence what is good for me has to be the good for one who inhabits these roles. As such, I inherit from the past of my family, my city, my tribe, my nation, a variety of debts, inheritances, rightful expectations and obligations. These constitute the given of my life, my moral starting point.” MacIntyre betont aber, ebd.,: „Notice also that the fact that the self has to find its moral identity in and through its membership in communities such as those of the family, the neighbourhood, the city and the tribe does not entail that the self has to accept the moral limitations of the particularity of those forms of community.” (Hervorhebung A. M.). 31 Die Bedeutung der gemeinsamen Geschichte, innerhalb derer ein Mensch sich uns sein Handeln versteht und deutet, wird in Studien über Identität immer wieder hervorgehoben und von Alasdair auch MacIntyre im Hinblick auf die Ethik betont. Vgl. MACINTYRE, After Virtue, 201: „I can only answer the question ‘What am I to do?’ if I can answer the prior question ‘Of what story or stories do I find myself a part?’”; L IEU, Christian Identity, 63: „Few would dispute the paradigmatic role that ‚remembering our story‘ has played in the Jewish and Christian traditions, in the maintenance of identity for the group and for those who claim membership of it, particularly within liturgy and theology.”

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gie für den momentanen Zustand des Menschen32 und die Inkarnation Gottes in Jesu als Eröffnung der Rückkehr in den ursprünglichen heilen Zustand.33 Von dieser für die Christen konstitutiven Geschichte her erhält das Handeln des Einzelnen wie der Kirche Sinn und kann als gelungen oder misslungen bewertet werden. Die Einordnung des menschlichen Lebens in einen solchen weiteren Sinnhorizont ergibt jedoch nicht nur einen normativen Rahmen, um Verhaltensweisen zu beurteilen, vielmehr wird das einzelne Subjekt dadurch Teil einer Gemeinschaft und einer Geschichte, gewinnt ein Stück Identität. Gleichzeitig hat die Selbstvergewisserung durch gemeinsame Normen, Werte und Ideale auch eine abgrenzende Funktion, indem durch die Bestimmung der eigenen Identität andere von dieser ausgeschlossen werden.34 Für Gregors ethischen Reflexionen sind sowohl die personale oder individuelle Identität einer Person als auch die kollektive der Kirche von Bedeutung. Personal konstituiert ein Subjekt seine Identität dadurch, dass es sich über seine Geschichte als Einheit versteht und seinen momentanen Zustand und mögliche künftige in Verbindung setzt mit dem, was gewesen ist und es zu dem gemacht haben, was er oder sie ist oder noch sein wird. Die Bedeutung dieser Fragestellung zeigt sich insbesondere in den anthropologischen Überlegungen und Ausführungen Gregors, welche von der Schöpfungsgeschichte zur eschatologischen Erlösung und Vollendung einen Bogen spannen, der das individuelle Leben in einen weiteren Horizont stellt. Das gegenwärtige ethisch reflektierte Handeln ist erst dann in seiner ganzen Bedeutung gesehen, wenn es im weiteren Horizont der Heilsgeschichte verstanden ist. Die Ausbildung der Fähigkeit, das eigene Handeln in diesem Horizont wahrzunehmen, ist eines der Hauptanliegen Gregors. Im Hinblick auf die kollektive Identität geht es um die Frage, wie 32 Zum ätiologischen Aspekt der Schöpfungsgeschichte bei Gregor vgl. J. B EHR, The Rational Animal: A Rereading of Gregory of Nyssa’s De hominis opificio, Journal of Early Christian Studies 7,2 (1999), 219–247. 33 Zu Gregors Konzeption der Welt und der Geschichte vgl. P. ZEMP, Die Grundlagen heilsgeschichtlichen Denkens bei Gregor von Nyssa (MThS Studien II, Band 38), München 1970. 34 Vgl. LIEU, Christian Identity, 15: „Yet similarity implies the possibility of difference, and therefore, no less significant has been the recognition that the description of the self demands the description of the other; ‘us’ implies ‘them’; the positive invites or presupposes the negative.” Auf die polemische und abgrenzende Seite der Ethik hat bereits Ronald Heine in seiner Untersuchung zur Ethik Gregors aufmerksam gemacht, indem er die Ausführungen Gregors zu De vita Moysis als Abgrenzung gegen Eunomius verstand, also als innerkirchliche Auseinandersetzung um die Orthodoxie. Vgl. R. HEINE, Perfection in the Virtuous Life. A Study in the Relationship Between Edification and Polemical Theology in Gregory of Nyssa’s De Vita Moysis (PatMS 2), Philadelphia 1975. Die innerkirchlichen Fragen haben bei Gregor tatsächlich ebenfalls große Bedeutung, allerdings stärker im Hinblick auf gewisse asketische Gruppierungen.

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das individuelle Handeln sich eingliedert in das Handeln der Kirche und einzelne Menschen durch ihre Lebensführung die kollektive Identität der Kirche mitbestimmen.35 Wenn man kollektive Identität nicht zu einer eigenen hypostatischen Größe erklären will, so ist die Identität einer Gruppe nur so stark, wie die Identifikation ihrer Mitglieder und deren Bereitschaft, sich für die Werte, für welche die kollektive Identität steht, einzusetzen und sie zu verwirklichen. In der Formulierung von Jan Assmann: Unter einer kollektiven oder Wir-Identität verstehen wir das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren. Kollektive Identität ist eine Frage der Identifikation seitens der beteiligten Individuen. Es gibt sie nicht ‚an sich’, sondern immer nur in dem Maße, wie sich bestimmte Individuen zu ihr bekennen. Sie ist so stark oder so schwach, wie sie im Bewußtsein der Gruppenmitglieder lebendig ist und deren Denken und Handeln zu motivieren vermag.36

Die Bedeutung der kollektiven Identität liegt bei den einzelnen Subjekten, welche sich als Teil einer Gruppe verstehen und bereit sind, ihr Handeln danach auszurichten. Dabei gilt es zuerst, sich darauf zu besinnen, was die Identiät einer Gruppe verbindlich bestimmen soll und sie von anderen unterscheidbar macht. Gregor gint in seinen Überlegungen davon aus, dass das, was die Christen ausmacht, durch ihren Namen, also ihre Benennung nach Jesus Christus, vorgegeben ist. Wenn genau festgestellt werden könnte, was durch diesen Namen 37 gezeigt wird, würden wir viel Mithilfe erhalten zu einem Leben gemäß der Tugend, indem wir uns durch eine erhabene Lebensweise bemühen würden, in Wahrheit zu sein, was wir genannt werden.38

Gregor bestimmte das gute christliche Leben als Verwirklichung der Bezeichnungen Christi, wobei die Christen den Christus, von dem sie ihre Bezeichnung haben, sichtbar machen. Wer einen Christen betrachtete, sollte in diesem Christus und die Güte des verehrten Gottes erkennen. Der Name Christ birgt eine Verpflichtung, der es gerecht zu werden gilt: 35 Für die kollektive Identität stellen sich spezielle Fragen und Probleme. Gibt es so etwas wie eine kollektive Identität überhaupt oder sind es höchstens einzelne Individuen, die sich mit einer Bewegung, einer Nation oder einer sonstigen Gruppe identifizieren? Neuere Untersuchungen weisen auch auf die Gefahr der Hypostasierung einer kollektiven Identität hin und damit auf ihre Ideologisierung und die Gefahr der Instrumentalisierung und Manipulation. Vgl. J. STRAUB, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Assmann / Friese, (Hg.), Identitäten, 73–104. Straub verweist dabei insbesondere auf R. KRECKEL, Soziale Integration und nationale Identität, Berliner Journal für Soziologie 4 (1994), 13–20. 36 J. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 21997, 132, (Hervorhebung J. A.). 37 Zur Bezeichnung als Christen, vgl. De prof. christ. (GNO VIII,1, 130,20 J AEGER). 38 De prof. christ. (GNO VIII,1, 130,22–131,1 J.): ε γρ κριβ ς ερεθείη τ δι το νόματος τούτου δηλούμενον, πολλν ν λάβοιμεν πρ ς τ ν κατ’ ρετν βίον συνεργίαν, ληθ ς περ νομαζόμεθα τοτο κα ε ναι δι τς ψηλς πολιτείας σπουδάζοντες.

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Nun gilt es für diejenigen, welche sich selbst nach Christus nennen, zuerst zu werden, was der Name besagt, um sich so der Benennung anzupassen. 39

Das Bild kollektiver Identität ist aber nicht einfach vorgegeben, vielmehr wird es von den einzelnen Mitgliedern bestimmt. Dessen war sich Gregor bewusst, wie die folgenden Worte zeigen: Diejenigen, welche noch nicht zum Glauben an das Wort der Wahrheit gekommen sind, schauen auf das Leben derjenigen, die den Glauben an das Geheimnis aufgenommen haben. Wenn nun einige dem Namen nach Christen sind, ihr Leben diesen Namen aber nicht wiederspiegelt, … dann geht bei den Ungläubigen gleich ein Gerede herum, nicht als Anklage gegen jene, welche sich aus freier Wahl einen schlechten Lebenswandel zugezogen haben, sondern als ob dies durch das Glaubensgeheimnis so gelehrt würde.40

Das Bild, welches eine Gruppe oder ein Individuum von sich hat und anderen zeigt, ist erstens nicht unbedingt dasselbe, welches bei den Rezipienten ankommt, es ist zudem einem steten Wandel unterworfen und mitbestimmt durch die Aktionen und Reaktionen der Umwelt. Identität entwickelt sich in einem Interaktions- und Kommunikationsprozess mit unterschiedlichen Gegenübern, die zur Abgrenzung beitragen oder dazu auffordern, sich des eigenen Profils bewusst zu werden.41 Die Ausbildung von Identität ist ein kommunikativer Prozess, welcher in der Auseinandersetzung mit einem Gegenüber und in Abgrenzung zu diesem das Bild dessen entstehen lässt, wie und als was jemand sich versteht und wie andere ihn, sie oder es wahrnehmen.42 Identiät lässt sich nicht als eine festgelegte Bestimmung dessen ansehen, was jemand oder eine Gruppe ist. Sie ist vielmehr einem ständigen Prozess unterworfen und wandelt sich in der Interaktion mit an-

39 De perf. (GNO VIII,1, 178,2f. J AEGER): Οκον τος π το Χριστο αυτος νομάζοντας πρ τον γενέσθαι χρ περ τ νομα βούλεται, ε θ’ οτως αυτος φαρμόσαι τν κλσιν. Vgl. auch De perf. (GNO VIII,1, 175,2–10 J.): Nun müssen diejenigen, die sich selbst nach Christus nennen, erst werden, was der Name will, so dass sie sich selbst in Übereinstimmung mit der Benennung bringen. 40 Or. dom. 3 (GNO VII,2, 35,9–12.15–18 CALLAHAN): ο μήπω πεπιστευκότες τ λόγ! τς ληθείας πρ ς τ ν βίον τ ν παραδεδεγμένων τν το μυστηρίου πίστιν ποσκοποσιν. ταν τοίνυν τ μ"ν νομα τς πίστεως #,  δ" βίος ντιφθέγγηται τ νόματι, … πρόχειρος εθς παρ τ ν πίστων  λόγος, οκ ες τν προαίρεσιν τ ν κακ ς τ βί! κεχρημένων τν κατηγορίαν τρέπων, λλ’ $ς τοιατα πράττειν το μυστηρίου διδάσκοντος. 41 Die Bedeutung von Interaktion und Kommunikation hat insbesondere Charles Taylor herausgestrichen. Vgl. C. T AYLOR, Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Übersetzt von J. Schulte (orig. Sources of the Self: The Making of the Modern Identity, Cambridge 1989), 69. 42 Vgl. etwa STRAUB, Personale und kollektive Identität, 94; „Identität setzt die Differenzierung und Bewahrung von Differenzen ebenso voraus wie die Synthetisierung oder Integration des Unterschiedenen.“ und LIEU, Christian Identity, 17: „As we have seen, identity is to do with change and encounter with others.”

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deren kontinuierlich.43 Das Bild, welches die Christen und die Kirche von sich aufgebaut haben, kann somit nicht als ein autonom konstruiertes Bild oder Konzept gelten, vielmehr ist es entscheidend geprägt durch die Bilder und Urteile aus der Umwelt, welche es zu verarbeiten galt, sei es durch Adaption oder Abgrenzung. Differenz und Gleichheit waren gemäß der Untersuchung von Judith Lieu grundlegend für die Ausbildung christlicher Identität in der jüdischen und griechisch-römischen Welt. Lieu nennt folgende Faktoren für das Bewusstsein von Identität: a) Begrenzung gegenüber anderen b) Gleichheit und Differenz c) Kontinuität d) manchmal Homogenität e) eigene und fremde Anerkennung dieser Identität.44 Die Betonung Gregors, dass Christen erkennbar sein müssten, ist insbesondere angesichts der neuen Situation der Kirche im vierten Jahrhundert mit ihrem steigenden Einfluss auf die Gesellschaft zu verstehen. Die Christen waren keine abgetrennte Gruppe mehr, sondern konnten und wollten sich verbindlich in die Gesellschaft einbringen. Damit wurden alte Bilder und Konzepte wie dasjenige, dass die Christen neben den Juden und den Heiden oder den Völkern eine dritte Ethnie oder Rasse bildeten, in Frage gestellt und mussten an die neuen Umstände angepasst werden.45 Dennoch bestand der Anspruch der Christen weiterhin darin, sich von den Nichtchristen nicht nur in ihrem Selbstverständnis sondern auch in ihrem Verhalten zu unterscheiden.46 Dazu brachte die Änderung des sozialen Status der Kirche im vierten Jahrhundert auch soziale Umwälzungen mit sich, indem die Kirche vermehrt für die Oberschicht attraktiv wurde und zunehmend die althergebrachte Führungsschicht die kirchlichen Ämter übernahm. Im Gegenzug wirkten deren traditionelle hellenistisch-pagane 43 Zur engen Verbindung von Identität und Geschichte, insbesondere der Erinnerung einer gemeinsamen Geschichte vgl. J. R. GILLIS, Introduction: Memory and Identity: the history of a relationship, in: DERS. (Hg.), Commemorations, 3: „The core meaning of any individual or group identity, namely, a sense of sameness over time and space, is sustained by remembering; and what is remembered is defined by the assumed identity.” Wie neue Ansätze zur Erforschung von Identität immer wieder betonen, ist Identität trotz der konstitutiven Bedeutung der Kontinuität keine unveränderliche Einheit, sondern muss immer neu aktualisiert und verhandelt werden. Vgl. HANDLER, Is ‚Identity‘ a Useful Concept?, 30: „There is no definitive way to specify ‘who we are,’ for ‘who we are’ is a communicative process.” 44 Vgl. LIEU, Christian Identity, 12.A 45 Zu diesem Anspruch vgl. R. MARKUS, Christianity in the Roman World (CHCI), London 1974, 24–47 und LIEU, Christian Identity, Kapitel 8: The Christian Race, 239– 268. 46 Die Bedeutung dieser Selbstunterscheidung hat Isabella Sandwell für Johannes Chrysostomus herausgearbeitet. Vgl. I. SANDWELL, Religious Identity in Late Antiquity: Greeks, Jews and Christians in Antioch, Cambridge 2007, 278. „Chrysostom focused on visibly identifiable markers of what it was to be Christian, Greek or Jewish and exhorted people to display their religious allegiance in every aspect of their behaviour.“

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Erziehung und die gesellschaftlichen Normen der spätantiken Gesellschaft vermehrt auf die Kirche und ihre Struktur zurück. Indem die Kirche immer mehr in die Öffentlichkeit vordrang, kam sie in einen vorgeprägten Raum, der wiederum auf die Kirche zurückwirkte. Gregor selbst, sein Bruder Basilius und Gregor von Nazianz sind Beispiele dieser Entwicklung. Sie stammten aus der althergebrachten kurialen Führungsschicht, die sich gewohnt war, in ‚ihren‘ Städte eine Vorrangstellung einzunehmen und kamen neu auch in die Bischofsämter. Die neuen Führungsmitglieder der Kirche waren aufgewachsen in der hellenistisch-römischen Kultur und teilten ihre Ideale, welche sie mit dem christlichen Glauben zu verbinden suchten. Gleichzeitig brachten sie ein althergebrachtes Standesbewusstsein mit, welches zunehmend die Hierarchien der Kirche mitbestimmte.47 Dabei ging ein Teil des Ideals, dass vor Christus alle gleich sind, zugunsten althergebrachter Machtstrukturen verloren. Im Gegenzug profitierte die Kirche von – in den meisten Fällen – Männern, welche die nötige Bildung und logistische Fähigkeit mitbrachten, um die grosse Ausbreitung der Kirche in einer sehr kurzen Zeitspanne zu bewältigen. Diese neue Situation mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Einfluss erlaubte es der Kirche einerseits, ihre Vorstellungen von der Gesellschaft und dem geglückten Leben einzubringen, stellte sie aber zugleich vor die Aufgabe, sich ihrer diesbezüglichen Vorstellungen bewusst zu machen und in den Diskurs einzubringen. Um die Menge neuer Mitglieder und neuer Einflüsse zu bewältigen und nicht von den äußeren Einflüssen überschwemmt zu werden, musste sich die Kirche verstärkt ihres eigenen Profils bewusst werden und es nach innen wie nach außen kommunizieren. Zu der Besinnung auf das eigene Profil und der Notwendigkeit, den vielen neuen Christen ein kohärentes Bild des christlichen Glaubens und Lebens präsentieren zu können, kam die Krise unter Kaiser Julian mit seinem Versuch, den Christen den Zutritt zur hellenistischen Kultur als eigentümlich paganer Kultur zu verweigern.48 Diese Situation machte eine Neubestimmung des Verhältnisses von Christentum und hellenistischer Kultur not-

47 Bei Gregor werden diese Änderungen greifbar in seinem Brief an die Presbyter von Nikomedien (Ep. 17), angesichts der Bischofswahl. Gregor warnte ausdrücklich davor, die Wahlkriterien nach weltlichen Maßstäben auszurichten und vielmehr auf innere Werte, den festen Glauben und die Führungsfähigkeiten zu achten. Mit dem Verweis auf die einfache Herkunft der Jünger Jesu wird das Ideal der Einfachheit heraufbeschworen, das jedoch nach längst vergangenen Zeiten klingt. Die Warnungen Gregors zeigen auf, dass zumindest die Gefahr bestand, dass die Bischofswahl nach rein äußeren Kriterien gefällt wurde. Trotzdem wollte Gregor die äußeren Qualitäten wie Macht, Reichtum und Ansehen, wenn sie denn zufällig dazu kämen, nicht verschmähen. 48 Vgl. G. A. KENNEDY, A New History of Classical Rhetoric, Princeton 1994, 244.

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wendig.49 Da die Abstützung auf die hellenistische Kultur von paganer wie zunehmend auch von christlicher Seite im Verdacht stand, Übernahme paganer Werte darzustellen, musste die Verankerung des christlichen Glaubens und der christlichen Weltsicht in der hellenistischen Kultur neu bestimmt und aus der Verschränkung all dessen gelöst werden, was den Beigeschmack heidnischer Religiosität hatte. In diesem Prozess wurde der Begriff ‚Hellenismus‘ – zuvor die umfassende Bezeichnung des kulturellen und geistigen Lebens – verengt auf den religiösen Aspekt und gleichbedeutend mit paganer Kultur und Religion, der die christliche entgegengestellt wurde.50 Bei Gregor von Nyssa und anderen gebildeten Christen entstand durch die Krise unter Kaiser Julian ein wichtiger Impuls, das Verhältnis von christlichem Glauben und hellenistisch-römischer Kultur neu zu bestimmen. Ihre Reaktion war nicht die Abgrenzung von diesem kulturellen Erbe, sondern das Bemühen, dem Christentum innerhalb dieser hellenistischen Kultur ein distinktes Profil zu verschaffen. Gregor bekundete in einem Brief an den berühmten antiochenischen Rhetor Libanius sein Bedauern über die Distanz vieler Christen gegenüber der traditionellen Bildung, und klagte, dass viele junge Leute keine rhetorische Bildung mehr anstrebten, weil sie das Gefühl hätten, sie brauchten diese heidnische Bildung nicht.51 Gregors Bemühen, den Christen einen eigenen Weg des guten Lebens in Auseinandersetzung mit traditionellen Konzepten aufzuzeigen, steht im Zentrum der Untersuchung. Die Mechanismen der Selbstbestimmung und der Abgrenzung gegenüber der „Lehre von denen draußen“ (% ξωθεν παίδευσις)52 sollen als grundlegende Kategorien für das Verständnis von Gregors ethischen Reflexionen und Argumentationen verwendet werden. In diesem Zusammenhang soll den Fragen nachgegangen werden, wie vorgegebene ethische Konzepte bei den Christen adaptiert wurden, wie sie durch ihre Integration in eine christliche Weltsicht verändert und neuen Fragen, Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst wurden, sowie welche Bedeutung neue Verhaltensweisen und neue Interpretationen der Welt oder der eigenen Verhaltenswesen in der Bestimmung der Identität aus der Innen49

Zur Stärkung christlicher Identität in Abgrenzung gegen Julian vgl. J. LEEMANS, Gregorius van Nyssa over hogepriesters, hazen en zeugen. Anti-heidense polemiek en christelijeke identiteit in een preek uit de oude kerk, Tijdschrift voor Theologie 44, 2004, 224–240. 50 Vgl. zu diesem Prozess G. W. B OWERSOCK, Hellenism in Late Antiquity (Thomas Spencer Jerome Lectures), Cambridge 1990, 9–13. Bowersock schildert die Entwicklung des Begriffs ‚Hellênismos’ im vierten Jahrhundert von dem umfassenden Begriff für die griechischsprachige Kultur zum Synonym für pagane Kultur, wie sie sich hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, in der christlichen Literatur zeigte. 51 Ep. 14 an den Rhetor Libanius. 52 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 62,9–63,9 MUSURILLO).

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wie aus der Außenperspektive hatten. Mit der Frage nach der Bedeutung der ethischen Reflexionen für die christliche Identität soll auch die Verbindung von Elementen aus der biblisch-christlichen Tradition und dem zeitgenössisch-hellenistischen Geistesleben, hauptsächlich der Philosophie und der antiken Bildungstradition, die Gregor durchwegs vornimmt, genauer eingeordnet werden. Anhand vieler Beispiele lässt sich bewusste Auseinandersetzung mit den lebensweltlichen Konzeptionen der nichtchristlichen Umwelt in einem Adaptions- und Transformationsprozess nachvollziehen.53

2. Methodischer Zugang, Forschungsüberblick und Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit ordnet die ethischen Fragen und Überlegungen Gregors in einen historischen Kontext ein und ist kultur- und sozialgeschichtlich ausgerichtet. Die theologischen und ethischen Überlegungen Gregors sollen in ihrem historischen Kontext wahrgenommen werden, um der Einsicht gerecht zu werden, dass theologische Reflexionen und Konzeptionen durch die Fragen der Zeit und der Adressaten mitbestimmt sind, auf die sie sich beziehen und einzuwirken versuchen. Dieser Ansatz ist im Hinblick auf die Ethik Gregors sinnvoll, da die Fragen der Lebensgestaltung eng verbunden sind mit den sozialen Missständen und Problemen einerseits, mit den Wertvorstellungen und Idealen der Adressaten andererseits. Ein Schwerpunkt der Arbeit besteht in der Differenzierung der unterschiedlichen Adressaten der jeweiligen Schriften und ihres sozialen Milieus54, um anhand dieser Unterscheidungen aufzuzeigen, wie die intendierten Adressaten Gregors Argumentation beeinflussten. Gleichzeitig entsteht ein genaueres Bild, welche Fragen und ethischen Probleme in welchen Gruppen oder Schichten innerhalb der Kirche ein Thema waren. Die Sensibilisierung für die unterschiedlichen Formen und Gestalten der 53 Vgl. auch J. PELIKAN, Christianity and Classical Culture. The Metamorphosis of Natural Theology in the Christian Encounter with Hellenism (Gifford Lectures at Aberdeen 1992–1993), New Haven, London 1993. 54 Zur Sozialgeschichte vgl. allgemein G. ALFÖLDY, Römische Sozialgeschichte, dritte, völlig überarbeitete Ausgabe, Wiesbaden 1984; A. MARCONE, Late Roman Social Relations, in: A. Cameron / P. Garnsey, (Hg.), The Cambridge Ancient History XIII. The Late Empire, A. D. 337–425, Cambridge 1998, 338–370; F. T INNEFELD, Die frühbyzantinische Gesellschaft. Struktur – Gegensätze – Spannungen, München 1977. Spezifisch zu Kappadozien und Gregor: R. V AN DAM , Kingdom of Snow. Roman Rule and Greek Culture in Cappadocia, Philadelphia 2002; DERS., Becoming Christian; DERS., Families and Friends in Late Roman Cappadocia, Philadelphia 2003; B. T REUCKER, Politische und sozialgeschichtliche Studien zu den Basilius-Briefen, Frankfurt am Main 1961.

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Schriften und ihres argumentativen Stils ermöglicht einen Blick auf die Vielfalt ethischer Fragen und Argumentationsformen: von simplen Aufforderungen bis zu den differenzierten philosophischen Diskussionen wie sie sich in den Abhandlungen über die Seele oder die Erschaffung des Menschen finden. Die Berücksichtigung von Texten, welche ethische Reflexionen für die breite Menge von Menschen ohne besondere Bildung und ohne asketische Ambitionen bieten, erweitert das Blickfeld von einer auf die Hochkultur55 konzentrierten philosophischen Ethik mit ihrem asketisch-spiritualistischen Schwerpunkt auf die Vielfalt von unterschiedlichen ethischen Fragestellungen.56 Damit wird gewährleistet, dass nicht nur Äußerungen untersucht werden, welche sich im Bereich literarischer Hochkultur oder elitärer asketischer Praxis einordnen lassen, sondern in ihrer Einfachheit die Menge der Christen erreichten und auch Formen christlicher Lebensgestaltung berücksichtigt werden, welche nicht nur für die Oberschicht oder elitäre asketische Gruppen galten. Diese Differenzierungen bringen – abhängig von Gregors Adressatenkreis – deutliche Unterschiede in der Argumentationsweise zu Tage. Auf der kulturgeschichtlichen Ebene der Fragestellung wird die Funktion der Ethik als Selbstvergewisserung christlicher Identität und Abgrenzung gegenüber der nichtchristlichen Umwelt bedeutsam. Dieser Deutungsansatz der moralischen Überlegungen als Selbstbestimmungen gegenüber der Umwelt und der Einbezug der Auswirkungen ethischer Reflexion auf das Selbstverständnis schließt an kulturgeschichtliche und ethnographische Fragestellungen im Bereich der christlichen Ethik an, wie sie etwa Wayne Meeks in seiner Untersuchung zu den Anfängen christlicher Moral gestellt hat.57 Meeks nennt seine Untersuchung ethnographisch um einen anthropologischen Zugang deutlich zu machen, der bei der Lektüre der christlichen Texte besonders darauf achtet, welche Bedeutung den Handlungen durch die Texte zugeschrieben werden. Für Meeks ist die Ver55

Mit Ausnahme weniger Gestalten waren Philosophen gebildete Menschen der Oberschicht, die sich eine lange Ausbildung bei einem Philosophen leisten konnten oder genügend Mittel hatten, sich nicht durch Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen zu müssen. Vgl. M. B ILLERBECK, Der Kyniker Demetrius. Ein Beitrag zur Geschichte der frühkaiserlichen Popularphilosophie (PhAnt 36), Leiden 1979. 56 Zur Problematik von Einteilungen wie Popularkultur vs. Hochkultur vgl. P. B URKE, What is Cultural History?, Cambridge 2004, 27–29. 57 Wayne Meeks untersuchte die Anfänge christlicher Moral im Hinblick auf die Abgrenzung gegenüber traditionellen paganen Moralvorstellungen und sah die Unterschiede vor allem in der Deutung und dem Selbstverständnis der Christen, sowie im Kontext, in welchen sie ihre moralischen Vorstellungen einordneten. Ethnographisch nennt Meeks seinen Ansatz, weil er die Anfänge christlicher Moralvorstellungen unter der Prämisse untersuchte, dass die Christen sich als eigenes Volk verstanden. Vgl. MEEKS, Origins, 9.

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ständigung über gemeinsame Normen konstitutiv für eine Gemeinschaft: „Making morals means making community.“58 Die kulturgeschichtliche Frage ist gleichzeitig auch eine theologische, da die relevante Frage diejenige nach der Erkennbarkeit der Christen in der Welt ist und damit nach der Bedeutung des christlichen Glaubens für Kultur und Gesellschaft. Gregors Anspruch geht dahin, dass die Christen als Christen in der Welt erkennbar sein müssen und ihr Handeln in einem christlichen Horizont begründen können. Der Dialog mit kulturellen und gesellschaftlichen Fragen und die aktive Mitgestaltung aus dem christlichen Glauben heraus erscheinen bei ihm genauso unabdingbar wie die Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen. Im Hinblick auf die philosophischen Implikationen der ethischen Argumentationen Gregors soll vor allem die Art und Weise aufgezeigt werden, wie Gregor vorhandene philosophische Konzepte aufgriff und sie in sein christliches Weltbild integrierte. Eine genaue Untersuchung der Aufnahme und Ablehnung philosophischer Konzepte durch Gregor soll hier nicht geboten werden. Zu diesem Thema gibt es schon eine Vielzahl von Untersuchungen,59 wenn auch hauptsächlich zum Platonismus Gregors.60 58

MEEKS, Origins, 5. Die Anzahl der hier im engeren oder weiteren Sinne zu nennenden Untersuchung ist fast grenzenlos. Genannt sei darum eine repräsentative Auswahl von Monographien: D. L. B ALAS, Μετουσια θεου. Man’s Participation in God’s Perfections According to Saint Gregory of Nyssa (StAns 55), Rom 1966; H. U. VON B ALTHASAR, Présence et pensée. Essai sur la philosophie religieuse de Grégoire de Nysse avec note préliminaire der J.-R. Armogathe, Paris 1988; T. BÖHM, Theoria – Unendlichkeit – Aufstieg. Philosophische Implikationen zu De Vita Moysis von Gregor von Nyssa, Leiden 1996; H. F. C HERNISS, The Platonism of Gregory of Nyssa (UCPCP 11,1), California 1930, 1–92; J. D ANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique. Doctrine spirituelle de Saint Grégoire de Nysse, nouvelle édition revue et augmentée Paris2 1954 ; DÉRS., L’être et le temps chez Grégoire de Nysse, Leiden 1970; E. VON IVANKA, Plato Christianus. Übernahme und Umgestaltung des Platonismus durch die Väter, Einsiedeln 1964, 149–185; H.-G. VAN LENGERICH, Pistis kai paideia kai morphōsis. Ein ideengeschichtlicher Beitrag zur Verschmelzung antiker Philosopheme und christlicher Spekulationen zur Zeit der Hochpatristik. Untersucht am Beispiel der Schriften De professione christiana, De perfectione und De virginitate des Kappadoziers Gregor von Nyssa, Münster 1994; S. R. C. LILLA, Neuplatonisches Gedankengut in den Homilien über die Seligpreisungen Gregors von Nyssa (SVigChr 68), hrsg. v. H. R. Drobner, Leiden – Boston 2004; H. MERKI &ΜΟΙΩΣΙΣ ΘΕ'. Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa, Beigabe zum 113. Jahresbericht der Stiftsschule Einsiedeln im Studienjahr 1951/2, Freiburg in der Schweiz 1952; E. MÜHLENBERG, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik, Göttingen 1966; E. PEROLI, Il Platonismo e l’antropologia filosofica di Gregorio di Nissa. Con particolare riferimento agli influssi di Platone, Plotino e Porfirio, Milano 1993; I. POCHOSHAJEW, Die Seele bei Plato, Plotin, Porphyr und Gregor von Nyssa. Erörterung des Verhältnisses von Platonismus und Christentum am Gegenstand der menschlichen Seele bei Gregor von Nyssa 59

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Das Ziel ist die Untersuchung der Art und Weise, wie Gregor mit diesem ihm vorgegebenen Bildungsgut umging und es für das christliche Weltverständnis fruchtbar machte. Die Deutung der ethischen Reflexionen Gregors im Dienste christlicher Selbstvergewisserung richtet sich gegen eine Interpretation Gregors, die aufgrund großer begrifflicher, teilweise auch konzeptioneller Übereinstimmung von einer weitestgehenden Übereinstimmung Gregors mit der platonischen oder neuplatonischen Philosophie ausgeht, wie sie vor längerer Zeit Harold Cherniss und Salvatore Lilla erst kürzlich wieder vertreten haben.61 Cherniss sah Gregor als Platoniker an, der sich selbst untreu wurde, um die christlichen Dogmen, insbesondere das der leiblichen Auferstehung nicht zu leugnen,62 und Lilla zeigte (Patrologia 12), Rostock 2002; J. ZACHHUBER, Human Nature in Gregory of Nyssa. Philosophical Background and Theological Significance (SVigChr 46), Leiden 2000. 60 Allerdings betreffen die Untersuchungen hauptsächlich den Platonismus, vereinzelt auch stoische Traditionen. Eine umfassende Darstellung zur Aristotelesrezeption Gregors steht noch aus und wäre aufschlussreich im Hinblick auf die Aristotelesrezeption der Zeit. Einige Hinweise finden sich in folgenden Untersuchungen: D. T. RUNIA, Festugière Revisited: Aristotle in the Greek Patres, VigChr 43 (1989), 1–34. Vgl. auch L. J. E LDERS, The Greek Christian Authors and Aristotle, in: Aristotle in Late Antiquity, hrsg. v. L. P. Schrenk (SPHP 27), Washington 1994, 111–142; M. STRECK, Das schönste Gut. Der menschliche Wille bei Nemesius von Emesa und Gregor von Nyssa, (FKDG 88), Göttingen 2005, 193–198. Besonders in den naturwissenschaftlichen Überlegungen und dem Bereich der Logik ließen sich bei Gregor größere Einflüsse von Aristoteles aufzeigen. Bei den metaphysischen Grundlagen hingegen ist die Prägung durch den Platonismus dominant. Im Bereich der Ethik finden sich bei Gregor immer wieder Anklänge an aristotelische Bestimmungen: die Tugend als Mitte zwischen Extremen, die Tugend als Haltung, die Unterscheidung in praktische und theoretische Tugenden, der distributive Gerechtigkeitsbegriff. Auch in der Seelenlehre werden aristotelische Bestimmungen aufgegriffen, wobei aber die Fragen und Argumentationen auf einen platonischen und nicht auf einen aristotelischen Hintergrund verweisen. Vielfach ist die Bezugnahme Gregors auf aristotelische Traditionen unspezifisch im Sinne des Verweises auf allgemein bekannte Definitionen. Solche Bezüge setzen noch keine genauere Kenntnis der aristotelischen Schriften voraus. Da Gregor sich in De anima aber lobend über die sorgfältige Arbeitsweise von Aristoteles äußerte, Anim. et res. 8 (PG 46, 49C–52A), gewinnt man dennoch den Eindruck, er habe mehr als nur ganz allgemeine Kenntnisse aus sekundären Quellen gehabt. 61 CHERNISS, Platonism, 1–92; LILLA, Neuplatonisches Gedankengut, 17–31. 62 Cherniss wertete die Abweichungen Gregors von dem platonischen Gedankengut insbesondere im Hinblick auf die leibliche Auferstehung als gedankliche Inkonsistenz, welche ihm sein Glaube und die Kirche aufgezwungen hätten. Vgl. CHERNISS, Platonism, 58–64, hier 62: „So that at the end it seems that, but for some orthodox dogmas which he could not circumvent, Gregory has merely applied Christian names to Plato’s doctrine and called it Christian theology. These few dogmas, however, make of his writings a sorry spectacle.” „He would be orthodox at any cost of intellectual integrity and surely, if the Church had branded the whole of his reasoning as heretical he would have assisted at the burning of his own works without a murmur. The fear of orthodoxy is always upon him … No, it fits together too nicely not to reveal the character of the man who had twice to be driven into the service of the Church, who grumbled but submitted to his episcopal

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anhand vieler sorgfältig gewählter Beispiele die Nähe Gregors zum Neuplatonismus auf und schloss daraus, es gebe keinen Widerspruch zwischen Gregor und den Neuplatonikern, seine Position sei neuplatonisch zu verstehen. Die Konzentration auf die Übereinstimmungen hat allerdings dazu geführt, dass die beachtlichen Differenzen aus dem Auge verloren wurden.63 Es ist vielmehr im Hinblick auf das Verhältnis Gregors zur antiken Philosophie der langen Reihe von Forschern zuzustimmen, die davon ausgingen, dass Gregor platonisches Gedankengut adaptierte, dabei jedoch ein spezifisch christliches Interesse vertrat.64 Interessant scheint vor allem die darüber hinausgehende Untersuchung, welche Bedeutung diese Bezugnahme für das christliche Selbstverständnis Gregors hatte und wie er selbst seine Aufnahme philosophischer Traditionen wahrnahm und deutete. Zu den ethischen Fragen bei Gregor sind einige Untersuchungen entstanden. Ein noch weit größerer Teil von Arbeiten bezieht die Frage nach der Tugend oder der Lebensgestaltung als einen Teilaspekt mit ein, oft mit dem Schwergewicht auf der spirituellen Vervollkommnung des Menschen. Im Vordergrund dieser Untersuchungen – etwa die oben genannten von Daniélou, Völker, Mühlenberg, Balas oder Böhm – stehen die spirituelle ordination, who walked constantly with Reason until Dogma turned aside and then sought to walk with both in the opposite directions.” Ebd., 63. Bei Cherniss sind viele Zuspitzungen allerdings auch auf dem Hintergrund seiner Polemik gegen Gronaus These von Poseidonius als wichtiger Quelle Gregors zu verstehen. Vgl. K. GRONAU, Poseidonius und die jüdisch-christliche Genesisexegese, Leipzig 1914. Die Beeinflussung durch das stoische Gedankengut betont auch R. M. H ÜBNER, Die Einheit des Leibes Christi bei Gregor von Nyssa. Untersuchungen zum Ursprung der ‚physischen‘ Erlösungslehre, Leiden 1974. 63 LILLA, Neuplatonisches Gedankengut, 168f.: „Da wie gesagt, die von Gregor übernommenen philosophischen Lehrsätze ihre Grundzüge und ihre Stärke unverändert bewahren, so kann ihre Christianisierung weder in ihrer ‚christlichen Umdeutung‘ oder ‚Umformung‘, noch in ihrer Überwindung durch spezifisch christliche oder biblische Ideen bestehen, wenn man auch zugeben muss, dass in einigen Fällen die Einschaltung solcher Ideen in der Behandlung neuplatonischer Motive tatsächlich stattfindet.“ 64 Vgl. etwa DANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, 314 resümiert: „Grégoire compose un type unique: la coloration la plus extérieure en est platonicienne, plus profondément le revêtement en est biblique, mais sous ces vetêments symboliques, c’est la figure de l’apôtre chrétien qui se dessine.“ Und ebd., 66 „Grégoire use librement de la langue philosophique pour exprimer des conceptions qui sont siennes.“ Daniélou hat sowohl die platonischen Quellen, welche Gregor verwendete, untersucht als auch in „L’être et le temps chez Grégoire de Nysse“ anhand einzelner Begriffe die genaue Verwendung und die damit verbundenen philosophischen Konzepte aufgezeigt. Es kann aber auf eine ganze Reihe anderer Untersuchungen verwiesen werden wie die schon genannten von B ÖHM, Theoria, 267–270, der bei Gregor viele philosophische Implikationen sieht, ohne ihm die christliche Eigenständigkeit abzusprechen; VON IVANKA, Plato Christianus 166f.; MERKI, &ΜΟΙΩΣΙΣ, 160; VON STRITZKY, 25; VÖLKER, Gregor von Nyssa, 234–242 im Hinblick auf die Tugend.

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Vervollkommnung des Menschen und seine Angleichung an das Göttliche, diesen Fragen werden die ethischen Themen untergeordnet.65 Gleichzeitig sind diese Untersuchungen durch ein starkes philosophisches Interesse geprägt und bemühen sich um den Aufweis von Gregors Rezeption philosophischer Konzeptionen. Wichtige monographische Forschungsbeiträge zur Ethik bei Gregor im engeren Sinne sind in den letzten etwas mehr als hundert Jahren hauptsächlich von Friedrich Preger, Evangelos Konstantinou und Ronald Heine, ansatzweise auch Warren Smith, gekommen. Daneben gibt es eine Anzahl von Aufsätzen wie etwa derjenige von Everett Ferguson.66 Die Untersuchung von Friedrich Preger „Die Grundlagen der Ethik bei Gregor von Nyssa“ aus dem vorletzten Jahrhundert legte das Schwergewicht der Untersuchung auf den Gegensatz von Körper und Geist, wo Preger das Hauptanliegen Gregors sah. Tatsächlich hat er damit einen wichtigen Punkt bei Gregor getroffen. Allerdings betonte Preger bei Gregor den Dualismus von Körper und Geist und war der Meinung, Gregor habe die platonische Abwertung der Materie noch gesteigert und die Materie mit dem Bösen identifiziert, eine durch viele Stellen widerlegbare Annahme.67 Letztlich sah Preger das von Gregor für die Christen angestrebte Lebensziel im asketischen Mönchsleben. Nicht zufällig bezog sich Preger in seiner Argumentation fast ausschließlich auf De virginitate, wobei er den spezifischen Adressatenkreis außer Acht ließ. Ähnliches gilt für die Untersuchung zur Jungfräulichkeit von Hans-Otto Knackstedt.68 Diese Konzentration auf das asketische Ideal ist überholt und Arbeiten wie die von Mark Hart69 haben gezeigt, dass Gregor dem Eheleben bei Weitem nicht so negativ gegenüberstand wie diese Untersuchungen es annahmen und gerade auch in De virginitate Kritik an gewissen Formen von asketischem Leben geäußert wird. Zwei neuere Arbeiten 65 Bezeichnend hierfür DANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, 46: „Nous avons dit que le terme de la première voie, de l’ θικ(, était la purification (κ)θαρσις) des passions (τ παθ() et la conquête de l’apatheia. Que signifient ces expressions? Nous nous trouvons ici en présence d’un des problèmes les plus difficiles de la théologie spirituelle orientale.“ Für Daniélou ist die Frage nach der Seele und den Leidenschaften und insgesamt die Ethik die unterste Stufe eines spirituellen Wegs. 66 E. FERGUSON, Some Aspects of Gregory of Nyssa’s Moral Theology in the Homilies on Ecclesiastes, in: S. G. HALL (Hg.), Gregory of Nyssa. Homilies on Ecclesiastes, Berlin – New York 1993, 319–336; DERS., Progress in Perfection: Gregory of Nyssa’s Vita Moysis, StPatr 14 (1976), 307–314. 67 Vgl. F. PREGER, Die Grundlagen der Ethik bei Gregor von Nyssa, Würzburg 1897, 18f.: „Aber wenn Gregor einerseits die Transcendenz des Göttlichen in dem Grade betont, dass er es über alles Denken, ja über das Gute hinaushebt, so verlässt er die Bahnen des reinen Platonismus damit ebenso, wie wenn er zum andern die Materie mit dem Bösen identifiziert.“ Das Zitat zeigt, dass auch bei Preger die Diskussion um den Einfluss der Philosophie schon von großer Bedeutung war. Vgl. auch ebd., 14: „Auf diese Weise gelangt Gregor dazu, das Böse und das Materielle gleichzusetzen.“ 68 H.-O. KNACKSTEDT, Die Theologie der Jungfräulichkeit beim heiligen Gregor von Nyssa, Rom 1940. 69 M. HART, Gregory of Nyssa’s Ironic Praise of the Celibate Life, HeyJ 33 (1992), 1– 19.

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zur Ethik Gregors sind spezifisch der Ausrichtung von Gregors Ethik als Tugendethik gewidmet: die Untersuchung von Evangelos Konstantinou „Die Tugendlehre Gregors von Nyssa im Verhältnis zu der Antik-Philosophischen und Jüdisch-Christlichen Tradition“70 und diejenige von Ronald Heine „Perfection in the Virtuous Life“. 71 Wie der Titel anzeigt, hat Konstantinou sich der Tugend-Konzeption Gregors traditionsgeschichtlich angenähert. Er untersuchte die philosophische Tradition der Griechen (Platon, Aristoteles, Stoa, Neuplatonismus) einerseits und Philons und der christlichen alexandrinischen Autoren andererseits auf tugendethische Konzepte hin. Ronald Heine dagegen bemühte sich in seiner Untersuchung zu De vita Moysis um die Kontextualisierung der Fragestellungen Gregors, indem er dessen Erörterungen vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit Eunomius und den Eunomianern sowie Origenes und den Origenisten zu verstehen suchte. Die Auseinandersetzung um die Position des Origenes ist auch in anderen Schriften Gregors im Bereich der Ethik bedeutsam, besonders in De hominis opificio und De anima et resurrectione. Der engen Verbindung von anthropologischen und soteriologischen Fragen ging kürzlich Warren Smith nach in seiner Untersuchung zu „Passion and Paradise“ und der Bedeutung der Affekte für die Vervollkommnung der Christen.72 Neben diesen großen Untersuchungen sind verschiedene Aufsätze zu nennen, die sich intensiver mit ethischen Fragen auseinandergesetzt haben, etwa derjenige von Everett Ferguson zur Lebensbeschreibung des Moses73 und dem Konzept des ewigen Fortschrittes.

Der sozialgeschichtliche Hintergrund ist in allen bisherigen Arbeiten zu Gregors Ethik zu kurz gekommen, ebenso die Frage nach dem Einfluss der Adressaten auf Gregors Überlegungen. Jerome Gaïth stellt insofern eine Ausnahme dar, als er seiner Untersuchung zur Freiheit bei Gregor ein Kapitel zur sozialen Unfreiheit angefügte.74 Sozialgeschichtlich angelegt ist dagegen die Untersuchung von Susan Holman zur Armenfürsorge in Gregors Predigten über die Liebe zu den Armen, zudem liegen mehrere Untersuchungen zu Gregors Stellungnahme zur Sklaverei vor.75 Auch die Trilogie von Raymond Van Dam über Kap70 E. KONSTANTINOU, Die Tugendlehre Gregors von Nyssa im Verhältnis zu der Antik-Philosophischen und Jüdisch-Christlichen Tradition (ÖC 17), Würzburg 1966. 71 R. HEINE, Perfection in the Virtuous Life. A Study in the Relationship Between Edification and Polemical Theology in Gregory of Nyssa’s De Vita Moysis (Pats MS 2), Philadelphia 1975. 72 W. SMITH, Passion and Paradise. Human and Divine Emotion in the Thought of Gregory of Nyssa, New York 2004. 73 FERGUSON, Progress in Perfection, 307–314. 74 J. GAÏTH, La conception de la liberté chez Grégoire de Nysse (EphM 43), Paris 1953, 124–130. 75 S. R. HOLMAN, The Hungry are Dying. Beggars and Bishops in Roman Cappadocia, Oxford 2001; DIES., Healing Social Leper in Gregory of Nyssa’s and Gregory of Nazianz’s „περ φιλοπτωχ*ας“, HTR 92,3 (1999), 283–309; G. KONTOULIS, Zum Problem der Sklaverei (ΔΟΥΛΕΙΑ) bei den kappadozischen Kirchenvätern und Johannes Chrysostomus, (Habelts Dissertationsdrucke Alte Geschichte 38), Bonn 1993; R. KLEIN, Die Haltung der kappadokischen Bischöfe Basilius von Caesarea, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa zur Sklaverei (FASk 32), Stuttgart 2000.

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padozien ist sozial- und kulturgeschichtlich angelegt und birgt viele Anregungen. Die vorliegende Arbeit setzt an diesem Punkt an und integriert sozialund kulturgeschichtliche Fragestellungen sowie die Sensibilisierung für die unterschiedlichen Adressatenkreise in die Untersuchung der Ethik bei Gregor, in der Hoffnung, dadurch ein besseres Verständnis für die ethischen Fragestellungen in der Situation des späten vierten Jahrhunderts zu gewinnen. Die unterschiedlichen Fragestellungen werden in zwei Hauptteilen bearbeitet. Der erste Teil konzentriert sich inhaltlich auf eine bestimmte Gattung von Schriften Gregors, auf die Gemeindepredigten. Damit ist ein bestimmter Adressatenkreis vorgegeben und eine konkrete Situation im Blickfeld: die Predigtgemeinde Gregors und die dort relevanten Probleme. Inhaltlich sind diese Predigten zu einem guten Teil sozialethischen Fragen gewidmet, es geht um das Zusammenleben, die gegenseitige Achtung und die soziale Gerechtigkeit anhand der Frage nach der Sorge für die Armen, dem rechten Umgang mit Reichtum, dem Umgang mit Machtverhältnissen und dem Einfluss der Christen in der Gesellschaft. Dazu kommen Überlegungen zum rechten Verhältnis zum Körper in den Bereichen Sexualität und Nahrung. In einem zusammenfassenden Kapitel wird der ganze erste Teil auf die Argumentationsformen Gregors im Hinblick auf sein Publikum untersucht und Schlussfolgerungen zur Bedeutung der Ethik für das christliche Selbstverständnis auf der Ebene der Gemeinde gezogen. Im zweiten Teil sind die Schriften Gregors im Zentrum, die er an einen literarischen Adressatenkreis geschrieben hat. Es geht um die Briefe, Traktate und Schriften, die für ein über die Gemeinde hinausgehendes literarisches Publikum bestimmt waren, das Gregor entweder direkt um Rat für Fragen der Lebensgestaltung angegangen war oder Interesse an seinen Schriften hatte. Hier handelt es sich hauptsächlich um individualethische Fragen nach der Vervollkommnung der eigenen Lebensgestaltung und dem ethischen Fortschritt. Im Zentrum steht dabei der Tugendbegriff, der geprägt ist durch Gregors Konzeption des Menschen und seiner Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit. Konkretisiert wird Gregors Tugendbegriff im Hinblick auf die Seele in der Affektenlehre und im Hinblick auf den Körper in der Askese. In einem zusammenfassenden Kapitel wird das Ideal für die fortgeschrittenen Christen in ein umfassendes Konzept des heilvollen und geglückten christlichen Lebens eingeordnet. Die Schlussbetrachtungen sollen Gregors Reflexionen in einen weiteren Horizont stellen und über die Bedeutung seines Ansatzes nachdenken.

Teil I

Einführung in die christliche Lebenspraxis in den Gemeindepredigten In diesem ersten Teil stehen die Gemeinde Gregors und die Fragen und Probleme im Zentrum, welche Gregor vor dem Predigtpublikum seiner Gemeinde erörterte. Die Untersuchung der Predigten und ihres Publikums haben das Ziel, die ethische Reflexion Gregors in ihrer Abhängigkeit und Interaktion mit den Adressaten, der Gattung der Schriften und der Situation darzustellen. Es ergibt sich dabei ein Bild der ethischen Probleme einer christlichen Gemeinde, aber auch des moralischen Bewusstseins der Gemeinde und der Art und Weise, wie Gregor auf die Situation und die Gesinnung seiner Gemeinde einging. Einen Zugang zu der Gemeinde Gregors, ihren ethischen Fragen und Problemen bieten die kleinen Gemeindepredigten. Diese Predigten sind an die Gemeinde gerichtet und haben eine vorwiegend sozialethische Ausrichtung. Die Fragen kreisen um Probleme des Zusammenlebens in der Kirche und außerhalb, sowie Fragen nach der Verteilung von Macht, Ansehen und Vermögen. Dogmatische Diskussionen oder theoretische Reflexionen nehmen in den Gemeindepredigten dagegen wenig Platz ein. Gregor spricht an mehreren Stellen davon, dass er nicht zu komplizierte, theologische und dogmatische Fragen erörtern wolle, da sie für ein Publikum zu kompliziert wären.1 Die Predigten, welche sich in engerem Sinne an die Gemeinde Gregors richten, sind vor allem kleine, einzeln überlieferte Predigten eher geringen Umfangs, wobei hier nur diejenigen in Betracht kommen, welche sich mit der Lebenspraxis der Gemeinde beschäftigen.2 Daneben bestehen die von

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Paup. II (GNO IX, 112,23–113,2 VAN HECK). So verzichtete er in der zweiten Predigt über die Liebe zu den Armen mit dem Verweis auf die Schwierigkeit der Frage auf eine Erörterung der Allgegenwart Christi und beschränkte sich auf die damit verbundenen ethischen Betrachtungen. 2 Vgl. dazu auch die Einordnung dieser Predigten bei J. BERNARDI, La prédication des pères cappadociens. Le prédicateur et son auditoire, Paris, 1968, 262; 378f. Bernardi unterscheidet diese Predigten zusammen mit den Festpredigten, den panegyrischen Reden, den Trauerreden sowie zwei weiteren Reden von den überarbeiteten exegetischen Predigtzyklen, da sie sehr nahe an der ursprünglich gehaltenen Rede sind. Die Predigten über

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

Gregor überlieferten Predigten vielfach aus zu ganzen Predigtzyklen zusammengefassten Exegesen, den Zyklen über die Seligpreisungen, das Hohelied, den Ecclesiastes sowie das Herrengebet. Diese Predigtzyklen basieren auf Predigten, welche Gregor ursprünglich für seine Gemeinde gehalten hatte, sie sind aber in ihrer vorliegenden Form von Gregor noch einer intensiven Überarbeitung für ein literarisches Publikum unterzogen worden, was er selbst für die Auslegung des Hohelieds im Prolog bezeugt.3 Zu den hier relevanten Gemeindepredigten gehören insbesondere die beiden Reden über die Liebe zu den Armen, wobei mindestens die eine ursprünglich in einer Reihe von Predigten über das Fasten während der Fastenzeit ihren Ort hatte,4 eine Predigt gegen Wucherer und eine gegen Unzucht. Eine weitere Predigt ist an diejenigen gerichtet, welche gegen Gregors Ermahnungen und Aufforderungen zur Buße aufbegehrt hatten, Adversus eos, qui castigationes aegre ferunt. Diese ethisch ausgerichteten kleinen Predigten stehen im Zentrum des ersten Teils.5 Die Untersuchung soll den Blick auf die moralischen Vorstellungen eines breiteren Kreises von Christen eröffnen: Menschen, die weder zu einer elitären Schicht von Gebildeten, Mönchen oder Klerikern gehörten, noch sich durch speziellen Eifer für den christlichen Glauben hervortaten. Anhand dieser Predigten wird deutlich, in welcher Weise durchschnittliche Christen ihr neues christliches Leben gestalteten und wie sich für sie der neue Glaube auf die Lebensweise auswirken sollte. Die Predigten geben sowohl Aufschluss über die vorhandenen Gesinnungen als auch über die Ziele moralischer Sensibilität, welche ein christlicher Autor und Theologe wie Gregor sie für seine Gemeinde sah. Während in den Predigten der Anspruch und die tatsächliche Gesinnung jedoch nicht klar die Liebe zu den Armen ordnet Bernardi als Predigten während der Passionszeit ein, welche an die Katechumenen gerichtet seien. 3 Cant. Prolog (GNO VI, 13,3–21 L.). Vgl. auch A. MEREDITH, The Three Cappadocians on Beneficence: A Key to their Audiences, in: Preacher and Audience. Studies in Early Christian and Byzantine Homiletics, hrsg. v. M. Cunningham / P. Allen, Leiden 1998, 98–104, hier 103. 4 Gregor erwähnt, er habe schon an den Tagen zuvor über das Fasten gepredigt. Paup. I (GNO IX, 93, 17–94,1 VAN HECK ). 5 Neben Predigten, welche vor allem ethische Fragen diskutieren, sind auch die panegyrischen Predigten aufschlussreich hinsichtlich der Idealvorstellungen christlichen Lebens. Sie kamen an den Gedenkfeiern am Todestag der memorierten Personen zum Einsatz. Vgl. LEEMANS, Style and Meaning, 112. Diese Gedenkfeiern für Märtyrer zogen nach der Analyse von Ramsay MacMullen vielfach insbesondere einfaches Publikum vom Land an, da sie oft außerhalb der Städte an den Gedenkstädten und Gräbern der Heiligen abgehalten wurden. Vgl. R. MACMULLEN, The Preacher’s Audience (AD 350–400), 506f., JThS 40 (1989), 503–511. Gregor spricht zu Beginn seiner Rede auf den Märtyrer Theodor, De sancto Theodoro (GNO X,1, 59–71 CAVARNOS), von den Scharen, die aus der Stadt und vom Land zu der Feier an der Gedenkstätte zusammengeströmt seien.

1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten

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getrennt sind, soll die folgende Untersuchung aufzeigen und unterscheiden, was Gregor vorfand und was er als Ziele christlichen Handelns und Lebens definierte.

1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten Predigten waren ein wichtiges Mittel, um die Gemeinde zu erreichen und im Hinblick auf ethische Fragen auf sie einzuwirken. Da die Predigten an ein bestimmtes Publikum gerichtet sind und eine konkrete Situation vor Augen haben, ist es sinnvoll, sich bewusst zu machen, was Gregor bei seiner Gemeinde an Kenntnissen und Interessen voraussetzte und welche Probleme er in der Gemeinde wahrnahm. Die Predigten Gregors bieten allerdings keine objektiven Beschreibungen der Gemeinde und ihrer Verhältnisse, vielmehr handelt es sich um Texte, die durch die Interessen Gregors, durch rhetorische Stilmittel und Topoi geprägt sind. Gregors Beschreibungen sind darauf ausgerichtet, bei den Adressaten ein Umdenken, eine neue Sicht- und Handlungsweisen zu bewirken. Die Zuversicht, durch die Schriften der christlichen Autoren, bei denen es sich vielfach um literarisch geprägte Texte handelt, einen Einblick in das Leben der Gemeinden und zu erhalten, ist bei gewissen Historikern und Historikerinnen im Zuge des ‚Linguistic-Turn‘ und der poststrukturalistischen Theorien erschüttert, teilweise sogar radikal hinterfragt worden. Elizabeth Clark etwa kommt zum Schluss, dass die Schriften der christlichen Autoren keinen direkten Blick auf das Leben in der alten Kirche erlaubten, wenn man die Ergebnisse der literaturtheoretischen Forschungen ernst nehme.1 Besonders im Hinblick auf die Frage der Frauenund Gender-Forschung nach den Frauen in der alten Kirche hält sie fest, dass die Viten über Frauen wie Melania, Paula, Marcella oder Macrina keinen objektiven Blick auf diese Frauen erlauben und auch nicht ihre ureigenen Handlungen, Stimmen und Worte wiedergeben. Vielmehr handle es sich um Konstruktionen der Verfasser dieser Viten, die sorgfältig auf die Funktionen zu untersuchen seien, welche sie für die Autoren und deren Botschaft erfüllen. Clark ist daher kritisch gegenüber einer sozialgeschichtlichen Verwertung von Informationen über das Leben der Frauen, wie die Viten sie bieten. Da diese Viten am besten mit den aufkommenden Romanen und Novellen zu vergleichen seien – und weniger mit den Lobreden auf Philosophen und Politiker – seien die genauen Beschreibungen bloß ein Mittel, um den Anschein von Wirklichkeit zu erwecken, und nicht

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E. A. C LARK, History, Theory, Text: Historians and the “Linguistic Turn”, Cambridge / Ma. 2004. Vgl. auch D IES., Holy Women, Holy Words: Early Christian Women, Social Theory, and the “Linguistic Turn”, Journal of Early Christian Studies 6,3 (1998), 413–430; DIES., The Lady Vanishes: Dilemmas of a Feminist Historian after the “Linguistic Turn”, Church History 67,1 (1998), 1–31.

1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten

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Abbildungen der realen Gegebenheiten.2 Clark spricht mit ihren Warnungen zweifellos ein wichtiges Problemfeld sozialgeschichtlicher Fragestellungen an.3 Die Schlussfolgerung, die Schriften der christlichen Autoren – seien es die Viten oder die weniger von den literarischen und mehr von den rhetorischen Formen geprägten Texte wie Predigten – seien für sozialgeschichtliche Fragestellungen untauglich oder generell verdächtig, ist deswegen jedoch nicht zu ziehen. Informationen wie diejenigen über die Größe der Landgüter römischer Aristokratinnen oder die Lese- und Betgewohnheiten der Asketinnen, welche Clark als Beispiele herbeizieht, sind zweifelsohne keine Abbildungen realer Zustände und durch die Aussageintentionen der Autoren geprägt. Diese Angaben sollten den intendierten zeitgenössischen Adressaten mit ihren bei weitem genaueren Vorstellungen von den sozialen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit eine Einordnung einer Person oder einer Situation ermöglichen. Dabei stand – wie Clark zu Recht betont – nicht die möglichst wirklichkeitsgetreue und genaue Angabe von Größen und Zahlen im Vordergrund, vielmehr ist mit Übertreibungen zu rechnen, die der Intention des Autors dienten. Sie sind damit aber nicht wertlos. Denn wären sie völlig aus der Luft gegriffen, hätten wären sie für die Adressaten unglaubwürdig geworden. Die Beschreibungen sollten die Wiedererkennung und Einordnung der Verhältnisse anhand von stereotypen Angaben ermöglichen. Wie wir heute durch stereotype Angaben Vorstellungen haben, welcher Schicht ein Mensch angehört, so war es auch den damaligen Adressaten möglich, anhand von gewissen Beschreibungen und Zahlen einen Sachverhalt oder eine Person einzuordnen, ohne dass der Anspruch bestand, dass die Zahlen und Größen im Detail stimmen. Solche Angaben sind daher nicht als unzutreffend und erfunden zu ignorieren, sie müssen vielmehr darauf hin untersucht werden, was sie den Adressaten sagen sollten. Geht man davon aus, dass die Autoren den Adressaten glaubwürdige Lebensgeschichten präsentieren wollten, dann hatten die Angaben zur Größe des Besitzes oder den Reisedistanzen einen Orientie2

Clark bezieht sich hierbei auf die Untersuchungen des Literaturtheoretikers R. BARThe Rustle of Language (orig. Essais critiques 4: Le bruissement de la langue, Paris: Editions du Seuil 1984), New York 1986. 3 Ohne literaturtheoretische Überlegungen anzustellen, geht auch Ekkehard Mühlenberg in seiner Untersuchung zur christlichen Lebensführung davon aus, dass man über die moralischen Vorstellungen und die Praxis normaler Gemeindeglieder keine exakten Kenntnisse habe, weshalb er sich auf die Lebensführung der Elite konzentriert. Vgl. E. MÜHLENBERG, Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. Ethik bei den griechischen Philosophen und den frühen Christen (AAWG.PH 272 ), Göttingen 2006, Einleitung, 7: „Die Frage, von welchen ethischen Normen Gemeindechristen überzeugt waren und welche sie auch in ihrem Leben beachteten, ist für die Zeit der Alten Kirche nicht exakt zu beantworten.“ THES,

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

rungswert, der es ermöglichte, eine Person oder einen Sachverhalt auf Themen wie das soziale Umfeld einzuschätzen. Für die Adressaten waren die Beschreibungen verständlich und typisch für bestimmte reale Verhältnisse, selbst wenn sie auf Topoi basierten. Für die Predigten Gregors gilt dieselbe Einsicht bei seinen Beschreibungen von Bettelnden oder den Banketten von Reichen. Es sind keine realen Abbildungen, aber Beschreibungen, welche den Adressaten ermöglichten, die intendierten Personengruppen zu identifizieren. Bei Gregors Beschreibungen kommt dazu, dass seine Aussageintention diese Beschreibungen prägte und daher sowohl das Leid der Armen als auch die Verschwendungssucht der Reichen überspitzt dargestellt werden. Genauso kann eine Beschreibung auch idealisierende oder verleumderische Züge annehmen, insbesondere wo es um Beschreibungen von Lebensgewohnheiten geht. Dennoch sind die Predigten Gregors und anderer christlicher Autoren auch aus sozialgeschichtlicher Perspektive aufschlussreich und ermöglichen eine Verordnung der ethischen Reflexionen innerhalb eines bestimmten sozialen und kulturellen Umfelds. 1.1. Die Predigten als Grundlage ethischer Erziehung Die Predigttätigkeit war eine der wichtigsten Möglichkeiten der Priester und Bischöfe, die Menschen zu erreichen, um sie im rechten Glauben und im Hinblick auf ethische Fragen zu unterweisen. Durch die Predigten ließ sich die breite Schicht der Christen, welche von sich aus christliche Schriften nicht lesen konnte oder wollte, erreichen und in ihrer Denk- und Verhaltensweise beeinflussen.4 Der Kontext des Gottesdienstes ermög4 Vgl. P. ALLEN / W. MAYER, Computer and Homily: Accessing the Everyday Life of Early Christians, VigChr 47 (1993), 260–28, 260: „Furthermore, it can be argued that in early Christianity the homily was the main bearer of culture and was fundamental in the transmission of norms in society.“ Anders L. W ICKHAM , Homily 4, 180, in: S. G. Hall (Hg.), Gregory of Nyssa: Homilies on Ecclesiastes: An English Version with Supporting Studies. Proceedings of the Seventh International Colloquium on Gregory of Nyssa, St. Andrews, 5–10 September 1990, Berlin – New York 1993, 177–184: „I think one could add that the sermon is not the place where the preacher attempts, in ancient or modern times, to change people’s basic assumptions, whether doctrinal or moral.“ Ebenfalls kritisch gegenüber dem Einfluss der Predigten auf die Gemeindeglieder äußerte sich R. MACMULLEN, Two Types of Conversion to Early Christianity, VigChr 37 (1983), 174– 192. Gemäß MacMullen war in der Konversion vieler Menschen die Überzeugung durch Machterweise des christlichen Gottes in Form von Wundern oder Wundererzählungen entscheidend, ohne dass ethische, philosophische oder theologische Motive eine große Rolle spielten oder das Leben der Menschen sich durch den neuen christlichen Glauben änderte. Zutreffend an MacMullens Ausführungen ist sicher, dass die Übernahme neuer Wertvorstellungen sehr viel langsamer stattfand, als antike christliche Autoren dies suggerieren. Isabella Sandwell stellt in ihrer Untersuchung zur Konstruktion religiöser Identität bei Libanius und Johannes Chrysostomus in Antiochia heraus, dass Unterschiede im

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lichte darüber hinaus die (rituelle) Umsetzung ethischer Anliegen wie das Sammeln von Almosen oder das Gebet für die Bedürftigen. Die Gottesdienste waren damit das wichtigste Forum für die Erinnerung und den Vollzug christlicher Identität.5 Im Gottesdienst wurde das eigene Leben und Handeln im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte gedeutet, die in den Gottesdiensten rituell erinnert und nachvollzogen wurde. Die Zugehörigkeit zu der neuen Gemeinschaft wurde im Gottesdienst sichtbar zelebriert. Daneben diente die christliche Rhythmisierung des Jahres mit den Fastenzeiten, Epiphanias, dem großen Osterfest und den Festen der Heiligen dazu, die christliche Identität zu stärken und nach außen sichtbar zu machen.6 Als Bischof7 predigte Gregor regelmäßig vor seiner Gemeinde, was zu den überlieferten Predigtzyklen und Predigten geführt hat. Immer wieder zeigt sich in diesen Predigten, dass die Rolle des Lehrers oder Erziehers, welche Gregor aus seiner Tätigkeit als Rhetor vertraut war, für sein Selbstverständnis als Bischof grundlegend war.8 Er wollte den Menschen beibringen, worin christlicher Glaube und gutes christliches Leben bestehen.9 In der Auslegung des Hoheliedes beschrieb Gregor die Aufgabe des Bischofs als Sorge um die rechte seelische und körperliche Verfassung der

Verhalten zwischen Christen und Nichtchristen nur die eine Seite darstellt. Entscheidender für die Klarheit, mit welcher Menschen ihr Verhalten und ihr religiöses Bewusstsein äußerten, war ihr Zugang zur Religion. Während der christliche Prediger Johannes Chrysostomus jeden Bereich des Lebens durch die religiöse Zugehörigkeit gekennzeichnet sah, spielte diese für Libanius eine weitaus geringere Rolle und wurde nur punktuell wichtig. Er repräsentiert mit dieser Haltung gemäß Sandwell vermutlich auch den großen Teil der christlichen Bevölkerung. Vgl. I. SANDWELL, Religious Identity in Late Antiquity, 277-281. 5 Vgl. LIEU, Christian Identity, 25: „Recent work, particularly by those operating with non-literary media, has emphasized the ‘practice of identity’, the nexus of the shared symbolic domain, dispositions, behavioural experiences and expectations, however these be understood to co-operate.” 6 Zu den christlichen Festen vgl. J. REXER, Die Festtheologie Gregors von Nyssa: ein Beispiel der reichskirchlichen Heortologie (Patrologia 8), Frankfurt 2002. 7 Vgl. zu Gregor in seiner Rolle als Bischof R. STAATS, Gregor von Nyssa und das Bischofsamt, ZKG 84 (1973), 149–173; P. MARAVAL, Grégoire de Nysse pasteur: la lettre canonique à Létoios, RHPhR 71 (1991,1), 101–114. 8 Besonders illustrativ für dieses Verständnis ist der schon erwähnte 17. Brief an die Presbyter von Nikomedia, wo Gregor die Funktion des Vorbildes und des Erziehers an einem Bischof herausstreicht. 9 Frömmigkeit und Nächstenliebe oder richtiger und gelebter Glaube waren von Anfang an die zwei sich ergänzenden Haupttugenden für die Christen, wie Albrecht Dihle in seiner Untersuchung zu den christlichen Tugenden beschrieben hat. Vgl. A. DIHLE, Der Kanon der zwei Tugenden, (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes NordrheinWestfalen Heft 144), Köln 1968, 7.

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

Gemeinde.10 Gleichzeitig war der Bischof auch die Vermittlungsperson zur Verwaltung und den Gerichten bei Anfragen und Nöte von Seiten der Bevölkerung, da die Bischöfe im vierten Jahrhundert zunehmend die Funktion des Patronats für ihre Gemeinde übernahmen und sich für diese in vermittelnder und schützender Funktion einsetzten.11 Gregors Zeitgenossen hatten sich vielfach aus äußeren Umständen neu zum Christentum bekehrt und konnten keinen familiären christlichen Hintergrund aufweisen, durch den sie mit dem christlichen Glauben und Leben vertraut waren. Dazu kam, dass neben den Gottesdiensten kaum spezifisch christliche Formen des öffentlichen Lebens existierten, da etwa in den Schulen die griechischen Mythen, Epen und Tragödien gelesen wurden: Wer eine Schule besuchte, las Homer und nicht die Bibel. Dasselbe galt für Vergnügungen wie das Theater. Auch Zeremonien wie Hochzeiten und Geburtstage oder Einweihungen und Widmungen von öffentlichen Bauten und Empfänge hatten traditionelle Formen, welche von den Christen auch für innerkirchliche Anlässe weitgehend übernommen wurden.12 In den meisten Fällen handelte es sich aber nicht um rein christliche Veranstaltungen sondern um Veranstaltungen, die im Leben der Stadt oder der Gemeinde verankert waren, ein Bereich, der kaum christlichen Einflüssen unterzogen wurde.

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Gregor beschreibt in der Auslegung des Hohelieds die doppelte Aufgabe und doppelte Frucht des Wirkens eines guten Bischofs. Cant. 7 (GNO VI, 227,18–228,3 L.): τ δ" διπλον κύημα α+νιγμα γίνεται τς καθ’ κάτερον τ ν ν %μν νοουμένων εδοκιμήσεως, ,στε διδυμοτόκους ε ναι τος τοιούτους δόντας, τ- μ"ν ψυχ- τν πάθειαν, τ δ" σωματικ βί! τν εσχημοσύνην γενν ντας. Die doppelte Frucht wird zum Sinnbild der beiden in uns zu erkennenden guten Seiten, so dass diese Zähne [die Gemeinde] doppelte Frucht bringen soll, die Apathie in der Seele und einen guten Lebenswandel im körperlichen Leben. 11 So ist etwa eine Bitte um milde Behandlung eines gewissen Synesius, der in Verbindung zu Gregors Familie steht, an den Präfekten Hierius in Ep. 7 überliefert. Gregor setzte sich dafür ein, dass dieser Synesius nicht für einen Unglücksfall zu Tode verurteilt wurde. Vor allem von Basilius sind viele Briefe überliefert, in denen er an höherer Stelle für seine Gemeindeglieder Fürsprache hielt. Zur Bedeutung der Bischöfe als Patronatsfiguren vgl. etwa P. BROWN, Poverty and Leadership in the Later Roman Empire (The Menahem Stern Jerusalem Lectures), Hanover, N. H. 2002, 45–73. 12 Nach J. H. W. G. LIEBESCHUETZ, The Decline and Fall of the Roman City, Oxford 2001, 223–249, kam es erst in der Mitte des sechsten Jahrhunderts zu einer grundlegenden Durchdringung dieser traditionellen Formen durch christliche Werte. Liebeschuetz nennt Justinian als kulturellen Wendepunkt, 239. Trotz der traditionellen Formen lassen sich aber schon im vierten Jahrhundert Modifikationen durch christliche Inhalte zeigen. Bei Trauerreden ist der Inhalt deutlich christlich, auch wenn die christliche Prägung einen Akzent der traditionellen Form ausmachte und nichts durchgängig Neues entstanden war. Gregor verweist zudem auf die Psalmen, welche an christlichen Hochzeiten und Banketten gesungen wurden. Vgl. Inscript. Psal. I,3 (GNO V, 30,10–14 MCDONOUGH= D).

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Die Predigten13 waren darum die wichtigste Form der Unterweisung im christlichen Glauben und Leben neben der spezifischeren Form des Katechismusunterrichts.14 In den Predigten wurden ethische Themen diskutiert, welche für das gute Leben der gesamten Gemeinde von Bedeutung waren oder aber stärker in den Bereich der Individualethik gehörten, ebenso wie Fragen über Glaubensinhalte und Auslegungen der biblischen Texte. Es ist mit Antony Meredith anzunehmen, dass der Großteil der überlieferten Predigten Gregors nicht ex tempore gehalten wurde, wie dies bei den meisten Predigten des Johannes Chrysostomus der Fall war, sondern dass es sich um vorbereitete und überlegt konstruierte Predigten15 handelt, die vorgetragen wurden und für die literarische Verbreitung nochmals überarbeitet wurden. Die Predigten hatten dem breiten Publikum Rechnung zu tragen. Eine christliche Gemeinde konstituierte sich durch Menschen unterschiedlichster sozialer Herkunft und Bildung, aber auch verschiedener Altersklassen. Diesem Umstand mussten die Predigten gerecht werden, ohne die wenig gebildeten Menschen zu überfordern und die Gebildeten zu langweilen. Neben den Bildungsunterschieden gab es auch ein breites Spektrum von Lebensformen: Asketinnen und Asketen konnten genauso einen Teil der Adressaten bilden wie Menschen ohne Interesse an einer christlichen Lebensgestaltung. Dabei waren Bildung und Reichtum nicht unbedingt die Voraussetzung oder die Garantie für das Interesse an christlichen Inhalten. Vielmehr konnten einfache Menschen durch ihre Lebensführung und ihren Glauben eine innerkirchliche Elite bilden, welche nicht den sozialen Bedingungen entsprach. Genauso wurde die soziale Elite, welche sich durch Vermögen und Bildung hervortat, in den christlichen Predigten oftmals für ihr mangelndes Interesse an einer christlichen Lebensführung und dem christlichen Glauben gerügt. Für die Predigten gelten die Warnungen gegenüber einer zu einfachen Übernahme der Beschreibungen sozialer Zustände als Abbildung der Gegebenheiten genauso wie für andere Formen von Literatur. Sie sind zwar weniger durch literarische, stark aber durch rhetorische Stilmittel

13 Zur antiken Predigt vgl. A. OLIVAR, La predicación cristiana antigua (Biblioteca Herder 189), Barcelona 1991. 14 Vgl. auch MEREDITH, The Three Cappadocians on Beneficence, 98: „This alone [the large body of homilies] serves to remind us of the large part played by the homily in the life of the Christian of those days. It served as the principal mode of instruction as well, as we shall see, of exhortation not only to the moral life, but also for general beneficence.” Dazu kamen die spezifischen katechetischen Unterweisungen für die Ungetauften. Die Katechese war eine sehr effiziente Form, die allerdings weniger Menschen erreichte als die Predigten. 15 MEREDITH, The Three Cappadocians on Beneficence, 90.

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geprägt, die bei der Auswertung der Äußerungen mitbedacht werden müssen.16 1.2. Gregor und seine Gemeinde im Horizont seiner Predigten Gregors Predigten geben einen Einblick in das Leben der Gemeinde, insbesondere zu ihrer christlichen Sozialisation, den Kenntnissen und der Übung im christlichen Glauben und der christlichen Lebenspraxis, sowie zu den sozialen Spannungen, welche das Gemeinde-Leben kennzeichneten. Die Stadt Nyssa, wo Gregor im Jahre 370 oder 371 als Bischof17 eingesetzt wurde, war eine kleine Stadt, gemäß den Beschreibungen Gregors in einer ländlichen Gegend im Tal des Flusses Halys gelegen und umgeben von Wald und den angrenzenden, höher gelegenen Plateaus der kappadozischen Hochebene. Der Fluss prägte das Leben; Bauern bebauten das Land zwischen Fluss und Gebirge, vor allem mit Reben.18 Kappadozien war eine durch die Landwirtschaft geprägte Provinz, neben dem Anbau von Getreide und Wein wurde vor allem Pferdezucht betrieben.19 Daneben war der Bergbau von einiger Bedeutung, nicht zufällig erwähnte Gregor die mühevolle Arbeit in den Bergwerken.20 Zum Einflussgebiet Gregors gehörten nicht nur die Stadt, sondern auch die am Fluss gelegenen kleinen Siedlungen. In seiner Beschreibung der Heimkehr 16

Sehr optimistisch sind ALLEN / MAYER, Computer and Homily, 260: „Early Christian Homilies thus reflect situations of everyday life and the social and religious thoughtworld of ordinary people.” Ihr Projekt, per Computer und nach Kategorien geordnet, die imperialen, sozialen, politischen, literarischen, geschichtliche, kirchlichen und weltanschaulichen Daten der Predigten von Johannes Chrysostomus zu erfassen, birgt die Gefahr, dass die einzelnen Beschreibungen aus dem Kontext gerissen werden und dadurch nicht sichtbar ist, inwiefern es sich um eine stark durch Topoi geprägte Passage handelt. 17 Basilius hatte Gregor in dem von ihm neu gegründeten Bischofssitz angesichts der bevorstehenden Teilung der Provinz Kappadozien in Cappadocia prima und Cappadocia secunda eingesetzt. Vgl. VAN DAM, Kingdom of Snow, 28–32, anders B ERNARDI, La prédication, 20; 262, welcher der Meinung ist, dass Basilius Gregor erst nach der Teilung, also 372 eingesetzt habe. 18 In der Beschreibung des nahe bei Nyssa gelegenen Gutes Vanota gibt Gregor einen (idealisierenden) Eindruck über die Gegend von Nyssa. Vgl. Ep. 20 (GNO VIII,2, 69,15– 70,8 P ASQUALI). 19 Vgl. Gr. Naz., Or. 43. 20 Vgl. Eccl. 3 (GNO V, 321, 8–11 ALEXANDER). Zu Kappadozien, der Landschaft, den Grenzen der Geschichte etc. vgl. F. HILD, Art. Kappadokien A: Grenzen und Geschichte, in: Lexikon für Byzantinische Kunst, Bd. 3, hrsg. von K. Wessel / M. Restle, Stuttgart 1972, 968–975; N. T HIERRY, Cappadoce de l’ Antiquité au Moyen Âge (Bibliothèque de l’ antiquité tardive 4), Turnhout 2002; S. MÉTIVIER, La Cappadoce (IV–VIe siècle): une histoire provinciale de l’ Empire romain d’ Orient (Byzantina Sorbonensia 22), Paris 2005. Zu Kappadozien und den kappadozischen Vätern vgl. die Trilogie von VAN DAM.

1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten

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aus Sebaste schildert Gregor, wie die Menschen, welche in den Dörfern entlang des Flusses lebten, ihn bis nach Nyssa hinein begleiteten. Vermutlich befanden sich auch klösterliche Gemeinschaften in der Nähe, Gregor spricht von einem Chor singender Jungfrauen, welcher ihn bei seiner Rückkehr nach Nyssa zusammen mit einer ganzen Schar von Menschen empfing.21 Der Großteil der Bevölkerung der Kleinstadt Nyssa war vermutlich bäuerlicher Herkunft oder aber im Handwerk oder Gewerbe tätig, dazu kamen im Umfeld einige Großgrundbesitzer.22 1.2.1. Hellenisierung und Literarisierung der Gemeinde Eine christliche Gemeinde wie diejenige der Stadt Nyssa, welche vor allem ländliches Gebiet als Umland hatte, bestand zu einem großen Teil aus einer einfachen Bevölkerungsschicht von Landarbeitern, welche höchstens elementare Bildung aufweisen konnten und gewohnt waren, in den einheimischen Dialekten und Sprachen zu reden auch wenn sie das Griechische ebenfalls beherrschten.23 Die durch Berge und Steppen abgelegene Gegend kam erst spät unter den Einfluss der Hellenisierung auch wenn insbesondere der letzte der kappadozischen Könige die Hellenisierung des Landes gefördert hatte, unter anderem indem er seiner Hauptstadt einen griechischen Namen gab und auch sich selbst mit einem griechischen Namen belegte.24 Trotzdem hatte sich offensichtlich die einheimische Sprache gehalten, wobei umstritten ist, wie wichtig sie noch war. Jedoch bezeugen sowohl Gregor von Nyssa als auch Basilius von Caesarea die Existenz der kappadozischen Sprache als einer vom Griechischen deutlich

Ep. 6,10 (GNO VIII,2, 236,3 P.):  γρ τ ν παρθ.νων χορ ς … Vgl. Or. dom. 1 (GNO VII,2, 5,12–7,26 C.). Es handelt sich allerdings um eine eine stereotype Auswahl und Beschreibung von Berufen. 23 Zum Alphabetisierungsgrad im römischen Reich vgl. M. BEARD (Hg.), Literacy in the Roman World (Journal of Roman Archaeology. Supplementary Series 3), Ann Arbor, Michigan 1991; W. V. HARRIS, Ancient Literacy, Cambridge / Ma. 1989. Harris geht davon aus, dass höchstens zehn Prozent der antiken Gesellschaft literarische Bildung aufwies. Die neueren Untersuchungen im Band von Mary Beard zeigen aber auf, dass die mangelnde literarische Bildung viele Menschen nicht von allen literarischen Funktionen ausschloss. Viele ließen durch Familienmitglieder, Bekannte oder professionelle Schreiber Verträge oder Texte aufsetzen oder unterschreiben und waren so im Handel, dem politischen und rechtlichen Wirken durchaus aktiv. Zudem war ein Teil fähig, einen Text zu kopieren, insbesondere den eigenen Namen, ohne allerdings aktiv schreiben oder einen literarischen Text lesen und verstehen zu können. 24 Die Königsstadt Mazaca erlebte eine zweifache Umbenennung. Zuerst wurde sie unter den kappadozischen Königen Eusebeia genannt und der letzte König, Archelaus benannte sie nach seinem Freund dem Caesar Augustus in Caesarea um. Ein weiterer Hellenisierungsschub trat dann durch die Eingliederung ins römische Reich (17 n. Chr.) ein. Vgl. VAN DAM, Kingdom of Snow, 13–38. 21 22

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unterscheidbaren und gebrauchten Sprache.25 In Contra Eunomium erklärte Gregor, dass alle möglichen Sprachen den Himmel unterschiedlich nennen würden, das Hebräische, Römische, Syrische, Medische, Kappadozische, Maurische, Thrakische und Ägyptische.26 Dasselbe gilt für Basilius, welcher in seiner Schrift über den Heiligen Geist zwei unterschiedliche Formulierungen diskutierte und die eine als der kappadozischen Sprechweise entsprechend bezeichnete.27 Gregor lobte in einem Brief an den Gelehrten Adelphius dessen Landgut und erklärte, die Einheimischen würden das Gut in ihrer Sprache Vanota nennen.28 Dabei bekundete er sein Unbehagen, einen solch prachtvollen Ort durch die Bezeichnung in der Sprache der Einheimischen zu entehren. Daraus lässt sich schließen, dass unter den Gebildeten der Oberschicht das Kappadozische unüblich war und als Sprache der Unterschicht angesehen wurde, während das Griechische Zeichen von Kultur und Bildung war. Ein Grund für den langen Fortbestand der einheimischen Sprache lag in der abgeschiedenen Lage von Kappadozien und den wenigen großen Städten neben Caesarea, das von großen Landgütern umgeben war.29 Den 25

Contra Eun. II,406 (GNO I, 344,28–345,2 J AEGER); Bas., Spir. 24. Strabo führt aus, die ursprünglich unterschiedlichen Stämme der Kataonier und der Kappadozier würden sich inzwischen nicht mehr unterscheiden und dieselbe Sprache sprechen. Zumindest für das vierte Jahrhundert ist davon auszugehen, dass die Menschen zweisprachig waren. Vgl. Strabo, Geographie 12,1 zu Kappadozien. Zur kappadozischen Sprache und ihrer Verbreitung im vierten Jahrhundert vgl. M. JANSE, Aspects of Bilingualism in the History of Greek Language, in: Bilingualism in Ancient Society, hrsg. von J. Adams / M. Janse / S. Swain, Oxford 2002, 332–390, besonders 347–359. Nach Janse lässt sich das Kappadozische als Sprache nicht mehr richtig einordnen, es sind viele Einflüsse möglich, so iranische, wie der Name des kappadozischen Königsgeschlechts Ariarathes zeigt, aber auch persische und zuvor hethitische. In christlicher Zeit, sicher bis ins fünfte Jahrhundert, existierten die indigenen Sprachen neben dem Griechischen in Kleinasien weiter, neben dem Kappadozischen sind auch das Phrygische und das Galatische gesichert, wie verschiedene Zeugnisse zeigen. Vgl. ebd., 347-359. Kappadozische Texte sind allerdings nicht überliefert. 26 Contra Eun. II,406 (GNO I, 344,28-345,2 J.). 27 Bas., Spir. 29,74 (SC 17, 514,50 PRUCHE): Κα Καππαδκαι δ" οτω λ.γομεν γχωρ*ως, τι ττε ν τ- τ ν γλωσσ ν διαιρ.σει τ κ τς λ.ξεως χρ(σιμον προβλεψαμ.νου το Πνεματος. „mit (sun) dem Heiligen Geist“ oder „und (kai) der Heilige Geist“ 28 Vgl. Ep. 20,1 (GNO VIII,2, 68,17–22 P.). In welchem Zusammenhang das Galatische und das Kappadozische standen, ist nicht klar. Die Galater, keltischen Ursprungs, wanderten als letzte der Bevölkerungsgruppen Kleinasiens ein. Da Vanota zur Provinz Galatien gehörte, ist die Sprache der Einheimischen in diesem Fall galatisch. 29 Das Kappadozische war keine Ausnahme. Die lebendige Existenz des Phrygischen ist durch den Kirchenhistoriker Socrates für das fünfte Jahrhundert bezeugt. Er nennt einen Bischof, Selinas, der eine phryhgische Mutter und einen gotischen Vater hatte und sowohl das Gotische wie auch das Phrygische im Gottesdienst verwendete. Socrates, H. e. V,23,8 (GCS Socrates 1, 306,4–7 HANSEN): πηκολούθησεν δ" ατος κα Σεληνς 

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Großteil des Landes nahmen die kaiserlichen Landgüter in Anspruch sowie die Güter einiger ausgesprochen Reicher aus der obersten Schicht, die von Landarbeitern und Sklaven bewirtschaftet wurden. Die Kaiser hatten Teile ihrer privaten Landgüter in Kappadozien und so lebten nicht selten Angehörige des Kaisers in der Gegend und zogen auch andere einflussreiche Personen nach sich, die Güter erwarben.30 Kaiser Julian hatte einen Teil seiner Jugend auf einem kaiserlichen Landgut in Kappadozien verbracht. Der Kaiser war zu Gregors Zeit auch häufig auf der Durchreise in Kappadozien und dessen Hauptstadt Caesarea, da die Perserkriege Präsenz an der Ostgrenze erforderten. Die Verteilung der kulturellen Bildung auf wenige Familien pro Stadt war im ganzen Reich verbreitet und in den schwach hellenisierten Gebieten Kappadoziens besonders auffallend. Die Situation in der Gemeinde bot Gregor daher wenig intellektuellen Austausch. In verschiedenen Briefen und Schriften betonte er, wie dankbar er für das weite Netz von Freundschaften sei, das er durch Briefe und Besuche unterhielt. In einem Brief entschuldigte er sich, dass es so lange dauerte, bis er seine Schrift schicken konnte, weil Kappadozien arm sei, vor allem aber arm an Menschen, die schreiben könnten, was dazu geführt habe, dass er lange keinen Abschreiber gefunden habe. Diese Bemerkungen geben einen Eindruck davon, dass Gregor in einer Gemeinde wirkte, die keine große kulturelle Blüte aufwies. 1.2.2. Gregor und seine Familie Gregor selbst entstammte einer sozialen und familiären Situation, welche sich von derjenigen seiner Gemeindeglieder in den meisten Fällen grundlegend unterschied: sowohl durch seine christliche Familientradition als auch den Reichtum und die Bildung, mit denen er aufgewachsen war und die er in der Lebensbeschreibung seiner Schwester Macrina beschrieb.

τ ν Γότθων πίσκοπος, νρ πίμικτον χων τ γένος· Γότθος μ"ν /ν κ πατρ ς, Φρξ δ" κατ μητέρα, κα δι τοτο μφοτέραις τας διαλέκτοις τοίμως κατ τν κκλησίαν δίδασκεν. Das Griechische wird in dem Zusammenhang gar nicht erwähnt. Das wäre ein Hinweis, dass man auch in den Kirchen mehrsprachigen Gottesdienst hatte oder die Predigt in die Sprache der Einheimischen übersetzte. Andere Sprachen hatten sich an das Griechische assimiliert, so dass sie zwar vom Griechischen noch unterscheidbar waren, jedoch auch als Griechisch verständlich waren. Dies wird auch durch die Wortwahl διαλέκτοις nahegelegt. Vgl. J ANSE, Bilingualism, 351. 30 Vgl. T INNEFELD, Die frühbyzantinische Gesellschaft, 19. Die Kaiser hatten ihre privaten Güter, aus denen sie den Lebensunterhalt des Hofes bestritten, vor allem in Kappadozien und in Afrika. Auf diesen kappadozischen Gütern lebten vor allem abhängige und unfreie Landarbeiter sowie Pächter. Dasselbe galt für die kaiserlichen Güter, welche zu den res privata zählten und deren Einnahmen dem Fiskus zukamen.

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Gregors Familie bekannte sich schon seit mehreren Generationen zum Christentum und gehörte zur Schicht der Wohlhabenden und Gebildeten. Von seiner Mutter sagte er selbst aus, dass sie in drei Provinzen steuerpflichtig war.31 Es ist anzunehmen, dass die Familie dem Stand der Kurialen angehörte und über einigen Landbesitz verfügte, von dessen Einkommen sie ihren Lebensunterhalt finanzierte und der ihr Einfluss in der Region um Pontus und in Annisi verschaffte.32 Die Familie konnte nicht nur auf weltlichen Einfluss und Ansehen stolz sein, sondern zeichnete sich auch nach christlichen Maßstäben aus, da die Großeltern von beiden Seiten sich in den Christenverfolgungen in ihrem Glauben bewährt hatten. Die Mutter Emmelia war gemäß der idealisierenden Darstellung Gregors eine sehr gläubige Christin, welche sich nur aus Not hatte zu einer Ehe entschließen können, da sie als Waise33 ungeschützt und den Übergriffen von Verehrern ausgesetzt war. Emmelia hatte einen christlichen Rhetorik- oder Grammatiklehrer aus Neocaesarea geheiratet und zehn Kinder geboren, wovon allerdings nur neun das Erwachsenenalter erreichten. Ihr Mann, Basilius der Ältere, stammte ebenfalls aus einer christlichen Familie. Seine Mutter Macrina hatte sich als Bekennerin in den diokletianischen Verfolgungen hervorgetan und musste mit ihrem Mann während sieben Jahren versteckt in den Bergen leben. Über ihre Eltern wurden Gregor und seine Geschwister schon früh durch den christlichen Glauben geprägt, ohne allerdings getauft zu sein. Gleichzeitig war die Familie durch die klassische hellenistische Bildung geprägt. Der Vater war als Rhetorik- oder Grammatiklehrer in Neocaesarea in Pontus tätig und um die Bildung seiner Kinder besorgt. Die Familie konnte sich eine gute Ausbildung der Kinder leisten, zumindest der älteste Sohn Basilius erhielt seine Ausbildung an den besten Ausbildungsstätten seiner Zeit. Gregor beklagte öfters, selbst keine so glänzende Ausbildung genossen zu haben, jedoch hatte er Zugang zu literarischen Werken und konnte von der Ausbildung seines Bruders profitieren, dessen Schüler er in der Zeit zwischen 355–57 in Caesarea gewesen war. Ob die weniger prestigeträchtige Ausbildung Gregors mit den finanziellen Mitteln der Familie in Zusammenhang stand oder eher mit der Tatsache, dass der Vater früh starb und die Mutter der antiken Bildung kritisch gegenüberstand, ist nicht klar.34 Die Mutter bemühte sich um die christliche Bildung der Kinder, allen voran der

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De vita Macr. 5 (SC 178 MARAVAL = GNO VIII,1, 376,16–20 WOODS CALLAHAN). Vgl. T. KOPECEK, The Social Class of the Cappadocian Fathers, Church History 42,4 (1973), 465–66; T INNEFELD, Die frühbyzantinische Gesellschaft, 103, nennt drei Komponenten für das kuriale Standesbewusstsein: „Die faktische Erblichkeit der Kurialenwürde, die jedoch Neuzugänge nicht ausschließt, und der Landbesitz der Kurialenfamilien begründen ein entsprechendes Standesbewusstsein, das im wesentlichen von drei Komponenten geprägt ist: der politischen Verantwortung, der finanziellen Verpflichtung, die moralisch (euergeteín) überhöht wird, und der kulturellen Ausrichtung an griechischer Bildung (paideía), insbesondere der Rhetorik.“ 33 Ihr Vater wurde während der Verfolgungen hingerichtet und sein Vermögen teilweise eingezogen, die Mutter starb ebenfalls während oder kurz nach den Verfolgungen. Zur Familie von Gregor vgl. vor allem die Lebensbeschreibung von Macrina und Gr. Naz., Or. 43,4-11. 34 Auffällig ist auf jeden Fall, dass Emmelia mit Macrina relativ selbständig die Familiengeschäfte übernahmen. Basilius war abwesend und Naucratius lebte schon bald in der Einsamkeit, allerdings so, dass er der Mutter bei möglichen Problemen beistehen konnte. Nach Gregors Schilderung in der Lebensbeschreibung der Schwester war aber Macrina diejenige, welche sich neben der Mutter um die Familienangelegenheiten kümmerte und nicht einer der Söhne Emmelias. 32

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ältesten Tochter Macrina, welche sie gemäß Gregor selbst anhand der biblischen Bücher unterrichtete, die weltlichen Lehrbücher erschienen ihr dagegen unmoralisch und verderblich. Gregor erzählt auch von einer Auseinandersetzung mit der Mutter in Jugendjahren, als sie ihn dazu zwingen wollte, an einer Feier für die vierzig Märtyrer teilzunehmen, er sich jedoch lieber mit philosophischen Problemen beschäftigt hatte.35 Trotz der weniger prestigeträchtigen Ausbildung war Gregor von der klassischen Bildung zutiefst geprägt und ergriff selbst den Beruf des Rhetors, wie auch schon seine Brüder Basilius und Naucratius36 vor ihm. Wie die beiden älteren Brüder gab Gregor diesen Beruf zugunsten des Bischofsamtses auf. Während die beiden älteren Brüder vor Gregor den Beruf als Rhetor aufgegeben hatten, um ein asketisches Leben zu führen und auch die älteste Schwester Macrina als Asketin im Landhaus der Familie lebte, scheint bei Gregor die Wahl zum Bischof der Auslöser gewesen zu sein, den Beruf als Rhetor aufzugeben. Er tauschte dabei ein attraktives Berufsfeld mit einem anderen. Der Wunsch nach einer asketischen Lebensweise hatte keine Rolle gespielt, da Gregor verheiratet war und möglicherweise auch Kinder hatte.37

1.2.3. Die Christianisierung der Gemeinde Wichtige Eindrücke von Gregors Wahrnehmung seiner Gemeinde ihres Lebens bieten seine beiden Predigten über die Liebe zu den Armen, De Beneficentia vulgo De pauperibus amandis I und In illud: Quatenus uni ex his fecistis mihi fecistis vulgo De pauperibus amandis II.38 35

In XL martyres II (GNO X,1, 167,10–19). Zu Naucratius vgl. De vita Macr. 8–9 (GNO VIII,1, 378,9–380,16 W. C.). 37 Auf die Verheiratung Gregors finden sich viele Anspielungen, die schwerlich alle übertragen zu interpretieren sind: Virg. 3; Ep. 18. Dass sich Ep. 197 von Gregor von Nazianz, ein Kondolenzschreiben im Bezug auf eine Theosebia auf die Frau Gregors bezieht, kann vermutet werden, wurde aber auch in Zweifel gezogen. Unklar ist ebenfalls, ob der in den beiden an Libanius gerichteten Briefen 13 und 14 erwähnte Kynegius ein Sohn Gregors war, wie dies Jean Daniélou vermutet hat oder ob Gregor in übertragenem Sinne Kynegius seinen Sohn nennt. Vgl. J. D ANIÉLOU, Le marriage de Grégoire de Nysse et la chronologie de sa vie, REAug 2 (1956), 71–78. SILVA, Gregory of Nyssa, The Letters, 98–100, ist der Ansicht, bei Theosebia handle es sich klar um die Schwester Gregors. 38 Die Datierung der Werke Gregors ist schwierig und gerade bei diesen beiden Predigten ist unklar, wann sie entstanden sind und in welchem Verhältnis sie zu der Rede über die Liebe zu den Armen von Gregor von Nazianz stehen. Oft wird davon ausgegangen, die Rede von Gregor von Nazianz sei älter. Dagegen wandte MEREDITH, The Three Cappadocians on Beneficence, 99, ein, die Rede von Gregor von Nazianz sei sehr lang und ausgefeilt – gemäß seinen Berechnungen hätte sie gesprochen mindestens neunzig Minuten gedauert – und mache zumindest in der überlieferten Form eher den Eindruck einer Kunstrede. Das lässt ihn für die Priorität der Reden Gregors von Nyssa plädieren. Auch die Datierung ist problematisch. Die traditionelle Datierung und Lokalisierung stammt von J. DANIÉLOU, La chronologie des œvres de Grégoire de Nysse, StPatr 7 (1966), 159–169 und verortet die Predigten in Gregors Zeit als Bischof, vermutlich in den achtziger Jahren. BERNARDI, La prédication, 273f. mit Anm. 51, präzisierte aufgrund der sprachlichen Nähe mit der Rede Adversus eos qui castigationes aegre ferunt auf das Jahr 382, was aber nicht erwiesen ist. Dagegen hat kürzlich B. DALEY, Building a New City: 36

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

In der ersten Predigt erklärt Gregor, die für den Glauben und das tugendhafte Leben verantwortlichen Kirchenvorsteher und Lehrer seien wie Grundschullehrer, welche den Kindern die elementarsten Kenntnisse des Schreibens und Lesens beibringen müssten. Der Vorsitzende dieser Kirche und die Lehrer der unbeirrten Gottesfurcht und der tugendhaften Lebensführung haben viel gemeinsam mit den Grammatikern und den Lehrern der Elementarkenntnisse. Denn genau wie jene die kleinen und noch nicht richtig sprechenden Kindern, die bei den Vätern noch als Kinder gelten, nicht sogleich zu den vollkommensten Lehren führen, sondern sie zuerst lehren, das Alpha in den Wachs zu ritzen und Vertrautheit mit den Buchstaben ihres Namens zu erlangen und die Hand im Umgang mit den Schriftzeichen trainieren, und ihnen danach die Silben nahebringen und ihnen die Aussprache der Namen lehren, so führen auch die Leiter der Kirche den Hörer zuerst zu den Elementarkenntnissen der Lehren, um ihn von da gemäß seinem Fortschritt die Kenntnis der vollendeteren Dinge zu gewähren. 39

Der Vergleich der Gemeinde mit Grundschulkindern illustriert Gregors Einschätzung, dass sich die Gemeinde in den Anfängen einer christlichen Bildung und Sozialisierung befand. Über den Anteil der Christen innerhalb der Bevölkerung erfährt man hingegen nichts. Während die Lebensbeschreibung von Gregor Thaumaturgus den Eindruck erweckt, als habe er sehr erfolgreich und umfassend in Pontus und Umgebung missioniert, The Cappadocian Fathers and the Rhetoric of Philanthropy, Journal of Early Christian Studies 7,3, 1999, 431–461, den Vorschlag gemacht, dass die Predigten entstanden, als Gregor in Caesarea Lektor war, so dass die Dürrekatastrophe mit folgender Hungerepidemie von 369 und die darauffolgende karitative Tätigkeit von Gregors Bruder Basilius – ab 370 Bischof in Caesarea, unter anderem aufgrund der erfolgreichen Positionierung als Wohltäter in der Hungersnot – den Hintergrund bilden. Vgl. ebd., 449. Ich gehe mit Daniélou davon aus, dass Gregor diese Predigten als Bischof gehalten hat und nicht schon in Caesarea. Dafür spricht, dass Gregor sich zum Vorstand der Kirche zählt und die zweite Rede voraussetzt, dass sich Gregor in einer Position der Verantwortung für die Armen befand. Gregor argumentiert zudem, dass er Menschen kenne, die sich ihr Leben lang bei der Krankenpflege nicht angesteckt hätten. Es ist wahrscheinlich, dass er dabei Erfahrung aus den Hospizen des Basilius und den Pflegenden voraussetzte und diese Predigten nicht erst für Hospize werben sollten, die gar nie erwähnt werden. Vielmehr fällt auf, dass Gregor gerade nicht die institutionalisierte Sorge für die Armen sondern die individuelle Verantwortung forderte. 39 Paup. I (GNO IX, 93,3–16 V. H.): & τς κκλησίας ταύτης πρόεδρος κα ο τς πλανος εσεβείας κα τς κατ’ ρετν πολιτείας διδάσκαλοι πολλν χουσι πρ ς τος γραμματιστς κα τος παιδευτς τ ν πρώτων στοιχείων τν μοιότητα. ,σπερ γρ κενοι τος νηπίους κα ψελλιζομένους τι παδας παρ τ ν πατέρων ποδεξάμενοι οκ εθς π τ τελειότερα τ ν μαθημάτων γουσιν, λλ πρ τον ν τ κηρ τ λφα χαράξαντες κα τ ξς τ ν στοιχείων τά τε νόματα ατ ν εδέναι διδάσκουσι κα τος τύποις τος γραφεσιν νασκοσι τν χερα, μετ δ" τοτο τας συλλαβας προσβιβάζουσι κα τ ν νομάτων ξς παιδεύουσι τν κφώνησιν· οτως κα ο τς κκλησίας καθηγεμόνες τος στοιχειώδεσι πρ τον τ ν μαθημάτων προσάγοντες τ ν κροατν κατ προκοπν παρέχουσι τ ν τελειοτέρων τν γν σιν.

1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten

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ziehen Gregors Beschreibung der Gemeinde zu seiner Zeit solche Aussagen in Zweifel.40 Gregors Gemeinde bestand gemäß diesem Bild aus Menschen ohne große Kenntnisse des christlichen Glaubens. Diese Einschätzung erstaunt nicht, da die meisten Gemeindeglieder im Zuge der massiven kaiserlichen Unterstützung der Kirche Christen geworden waren. Das bedeutete, dass die meisten Gemeindeglieder noch keine rechte Verwurzelung im christlichen Glauben, der christlichen Tradition und ihren Bräuchen und Wertvorstellungen gefunden hatten, auch wenn teilweise schon die Generation ihrer Eltern Christen geworden waren.41 Das Gregor nicht auf eine christliche Sozialisierung seiner Gemeinde zählte, zeigt sich in seinen Argumentationen in den Gemeindepredigten immer wieder, worauf schon Antony Meredith42 in einem Aufsatz zum Predigtpublikum Gregor hingewiesen hat. In einer Kritik an dem mangelnden Respekt vieler Christen vor dem kommenden Gericht kommt diese Einschätzung klar zum Zug: Den Eifer nur auf das Sichtbare zu richten ist denjenigen eigen, welche sich weder der Hoffnung auf eine kommende Zeit, noch der Furcht vor dem Gericht oder der Drohung vor der Hölle, noch der Erwartung von Gütern, keinem der in der Auferstehung für die kommende Zeit erhofften Dingen hingeben, sondern wie das Vieh nur auf das Gegenwärtige schauen und sich durch Gaumenfreuden und andere körperliche Annehmlichkeiten am Leben erfreuen und dies für den Anteil an den Gütern halten: dass sie eine Vormachtstellung über die Übrigen haben oder auf viel Geld schlafen oder was es sonst noch an Täuschungen des Lebens gibt.43

Kritisiert wird in Gregors Beschreibung eine Ausrichtung auf vergängliche Güter ohne Bewusstsein der umfassenderen Dimension des gegenwärtigen Lebens und seiner Relevanz für das Zukünftige, also das spezifisch christ40

De vita Greg. Thaum. (GNO X,1, 53,23–54,5 HEIL). Gregor beschreibt, dass Gregor Thaum. am Ende seines Lebens und Wirkens Gott dafür gedankt habe, dass nur noch siebzehn Heiden in seinem Wirkungsgebiet lebten, was der Anzahl der Gläubigen entspreche, die er zum Beginn seines Wirkens vorgefunden habe. 41 BERNARDI, La prédication, 354, geht davon aus, dass zumindest die Generation der Eltern sich schon zum Christentum bekehrt hätte, wobei allerdings die meisten, die Christen genannt wurden, nicht getauft waren. Vgl. ebd., 69f. Er ist auch sehr optimistisch, wenn er annimmt, dass sich die kirchliche und die politische Gemeinde schon praktisch deckten, also kaum mehr Nichtchristen in der Region Kappadozien lebten. 42 Vgl. MEREDITH, The Three Cappadocians on Beneficence, 99. 43 Or. dom. 1 (GNO VII,2, 19,7–16 C.): τ γρ περ τ φαινόμενα τν σπουδν χειν +διόν στι τ ν μηδεμίαν το μέλλοντος α νος αυτος ποτιθεμένων λπίδα, μ κρίσεως φόβον, μ γεέννης πειλν, μ γαθ ν προςδοκίαν, μ λλο τι τ ν κατ τν νάστασιν λπιζομένων, ο0 βοσκημάτων δίκην πρ ς τ ν παρόντα ρ ντες βίον περ ν λαιμ κα κοιλί1 κα τας λοιπας το σώματος %δυπαθείαις χαρίζωνται τοτο ν γαθ ν κρίνουσι μοίρ1, 2 τ πρωτεσαί τινων κα τ π"ρ τος λοιπος νομισθναι, 2 πολλος πικαθευδσαι ταλάντοις, 2 ε+ τι λλο τς βιωτικς πάτης στ ν. Ganz ähnlich auch Virg. 4 (GNO VIII,1, 272,15–20 CAVARNOS).

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

liche Lebensverständnis. Die Hoffnung auf das Leben nach dem Tod mit seiner Vergeltung für das diesseitige Leben war nach Gregors Einschätzung im Dialog über die Seele und die Auferstehung die Grundlage eines tugendhaften Lebens.44 Die Voraussetzungen der Adressaten waren für Gregor entscheidend für die Art und Weise, wie er seine ethische Unterweisung gestaltete. Er unterschied, welches Lebensalter oder welchen Bildungszustand seine Zuhörer hatten, ob sie noch Anfänger im Glauben waren oder schon Fortgeschrittene waren und richtete seine Unterweisungen danach aus, da er der Überzeugung war, jeder lerne dann am besten, wenn er auf seiner Stufe gefördert werde.45 Die Tatsache, dass er die Gemeinde aus Anfängern im christlichen Glauben charakterisierte, ist daher im Hinblick auf seine Argumentationsweise im Blick zu behalten. 1.2.4. Soziale Spannungen Die Gemeinde wird nicht nur hinsichtlich ihrer Kenntnisse des christlichen Glaubens beschrieben sondern auch im Hinblick auf soziale Fragen. In den beiden Predigten über die Liebe zu den Armen schildert Gregor die großen sozialen Gegensätze innerhalb der Gemeinde und die daraus entstehenden Probleme. Die erste Predigt über die Liebe zu den Armen setzt sich hauptsächlich damit auseinander, dass die einen nichts zu essen hatten und die anderen Bankette veranstalteten, wo geschlemmt wurde bis zum Ausspucken. Diejenigen, welche zwischen den sehr Reichen und den sehr Armen standen, kommen dagegen kaum in den Blick. Diese Darstellungsweise liegt in Gregors Absicht begründet, die großen Gegensätze zwischen sehr Armen und sehr Reichen zu überwinden.46 Menschen, die in relativer Sicherheit ohne großen Luxus lebten und so einen Mittelstand bilden konnten, gab es allerdings auch kaum. Die fehlenden sozialen Absicherungen ermöglichten nur ganz bescheidene Formen von Sicherheiten. Viele Arme gehörten nicht zu denjenigen, welche Gregor als obdachlos beschreibt und ihr Überleben durch Betteln bestreiten mussten, aber sie waren arm, weil sie nur gerade das Überlebensnotwendige besaßen. Sie mussten für ihren Lebensunterhalt arbeiten und hatten keine freie Zeit, die sie in Kultur oder Politik einsetzen konnten, wie dies für die Angehörigen der Oberschicht galt, die aus den Ressourcen ihrer Besitztümer lebten. Jede Notzeit, eine ausfallende Ernte oder der Verlust einer Warenladung konnte die arbeiten44

Anim. et res. 1 (PG 46, 20A). Cant. 1 (GNO VI, 17,12–19,8 L.). 46 Vgl. ALFÖLDY, Römische Sozialgeschichte, 154–159; MARCONE, Late Roman Social Relations, 338–370. 45

1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten

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de Unterschicht um Haus und Familie bringen. Armut war daher eine ständige Bedrohung für den Großteil aller Menschen.47 Neben der armen arbeitenden Unterschicht gab es aber auch Arme, die gar nichts hatten. Die Bettler und Obdachlosen stellten die unterste Schicht dar, welche nicht mehr in die Gesellschaft integriert waren. Die Wortwahl Gregors macht die Unterscheidung zwischen armen Arbeitenden und Bettelarmen deutlich. Der Bettler wird mit πτωχς48 bezeichnet, der Arme, welcher gerade genügend hatte um zu überleben mit πεν(ς.49 Gregor erwähnt die Armen unter den Gottesdienstbesuchern und zeigt damit, dass nicht nur die Reichen und Gutsituierten den Gottesdienst besuchten, wie es in verschiedenen Untersuchungen zu lesen ist50, sondern dass auch Menschen im Gottesdienst waren, die für ihren Unterhalt arbeiten mussten und sich zu den Armen zählten, wenn auch nicht zu den Bettelarmen. Die Bettler dagegen saßen nicht in der Kirche, sondern bettelnd davor, sie werden nicht angesprochen, sondern es wird über sie gesprochen.51

47 Vgl. BROWN, Poverty and Leadership, 15: „Impoverishment was what most ancient persons feared most for themselves. And with good reason. Impoverishment could come at any time, from any number of misfortunes: from ill-health, from the deaths of spouses, parents and children, from economic and fiscal oppression, and from violence of every kind.” 48 Paup. I (GNO IX, 97,22f. V. H.) Die Bettler werden als kraftlos und darniederliegend bezeichnet: Πρ ς τοτοις λλοι πτωχο σθενοντες κα κατακε*μενοι. 49 Vgl. Paup. I (GNO IX, 98,13 V. H.): 3λλ4 φες· πένης κ γώ. στω· δεδόσθω. Gregor gibt dem Einwand, einer sei arm, sofort recht. 50 Vgl. BERNARDI, La prédication, 336: „Pourtant aucun de nos prédicateurs ne paraît avoir jamais adressé la parole d’une façon expresse à cette variété de fidèles qui constituaient la grande majorité de leur troupeau. Le peuple des campagnes ne semble guère les avoir préoccupés.“; MEREDITH, The three Cappadocians on Beneficence, 103; M ACMULLEN, The Preacher’s Audience, 510. MacMullen geht davon aus, dass hauptsächlich die Reichen und Gebildeten unter den Gottesdienstbesuchern waren, zusammen mit ihren Sklaven. MacMullen untersuchte die Äußerungen von Johannes Chrysostomus im Hinblick auf dessen Publikum und kam zum Schluss, dass dessen Publikum praktisch ausschließlich aus der reichen Oberschicht Konstantinopels bestand. „Furthermore, it was the same socio-economic strata that supplied the attendance before John and his like, so far as we can judge from the kinds of person they apostrophize: they have before them the city’s leadership, the upper ranks, accompanied by their slaves.“ Die Situation in Konstantinopel ist allerdings speziell, da in der Hauptstadt die Wahl der Kirche bestand und das elitäre Publikum den Gottesdienst des Bischofs besuchte. Die von MacMullen untersuchten Prediger waren praktisch alle in einem großstädtischen Umfeld tätig und bekannte Redner. Die Situation war bei einem weniger gebildeten Prediger in einer kleinen Gemeinde anders. Schon bei Gregor fällt auf, dass er davon ausging, dass zumindest ein Teil seiner Gemeinde einer Arbeit nachging. 51 Johannes Chrysostomus beschrieb die Situation so, dass er beim Zugehen auf die Kirche seinen Weg durch die Bettelnden auf den Plätzen und vor der Kirche bahnte. Vgl. Jo. Chrys., De eleemosyna (PG 51, 261).

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

Die Gründe für die Fluten von Armen und Vertriebenen, auf die Gregor sich bezieht, waren vielfältig. Einerseits nennt Gregor Kriege, welche dazu führten, dass viele Menschen aus ihrer Heimat flohen oder vertrieben wurden. Im Osten bedrohten die Perser unter Schapur II und seinen Nachfolgern, welche das Königreich Armenien zurückerobern wollten, das Reich, dazu kamen im Westen die Goten und die Hunnen, die beide zur Zeit, in der Gregor starb, durch Kappadozien zogen oder Einfälle machten, wie dies Gregor auch für frühere Zeiten schon erwähnt.52 Weiter gab es Kriegsgefangene, die aus ihrer eroberten Heimat deportiert und dann ihrem Schicksal überlassen wurden und sich daher mit Raubzügen oder Betteln über Wasser halten mussten, auch hier handelte es sich nicht selten um Goten. Zudem gehörten entflohene Sklaven zu der Gruppe der verarmten und heimatlosen Menschen. Das Gebiet um Kappadozien war zusätzlich auch von Naturkatastrophen bedroht, etwa im Jahre 369 fand eine große Dürreperiode statt, welche zu Hunger und Not im Lande führte. Die finanzielle Situation der Gemeindeglieder konnte sich daher schnell ändern, ein Jahr der Dürre konnte zu einer Knappheit an Lebensmitteln führen, wie sie etwa Basilius im Jahre 369 bekämpft hatte.53 Auch von seiner Zeit in der Heimat in Annisi wird erzählt, er habe für die Verteilung von Getreide gesorgt.54 Eine solche Dürrezeit konnte einen armen Bauern zwingen, seine Kinder in die Schuldsklaverei zu verkaufen oder in die Abhängigkeit von einem Schuldherren bringen. Weitere Gründe für eine vollkommene Verarmung waren das Eintreten einer Krankheit oder einer Verkrüppelung durch einen Unfall, was zur Arbeitsunfähigkeit, Einkommensausfall und bei ansteckenden Krankheiten zur Vertreibung führen konnte. Auch die Reichen und ihr Leben im Überfluss werden breit und anhand ihrer Bankette mit typischen Topoi beschrieben: Tische die sich unter den Speisen bogen, deren Zutaten von ausgewählten Köchen mit Zutaten aus 52

Um 395, Gregor verweist in De Sancto Theodoro auf Gefahr durch einfallende Goten oder Hunnen in Pontus, wobei er von den Einfällen barbarischer Skythen sprach, was zu seiner Zeit berittene Völker wie die Goten oder Hunnen bezeichnete. Vgl. De sancto Theod. (GNO X,1, 61,15–62,2 H.). Für die Gefahr durch die Perser vgl. B. I SAAC, The Eastern Frontier, 437–444 und für die Goten und Hunnen, P. HEATHER, Goths and Huns, c. 320–425, 487–515, beide in: Cameron / Garnsey (Hg.), The Cambrigde Ancient History XIII. 53 Es ist davon auszugehen, dass die Dürreperiode nicht zu einer regelrechten Katastrophe geführt hatte sondern zu einer Knappheit, die sich bei denen, die generell kaum zu essen hatten, fatal auswirkte. Das schnelle Absinken in die Armut von Kleinbauern bezeugt der Rhetor Libanius, der in den 60er Jahren noch den Reichtum der freien Bauern hervorhob und in den 80ern klagte, das Land sei verödet und liege brach. Es ist allerdings mit Übertreibung in seiner Darstellung zu rechnen, da es ihm um die Kritik an der kaiserlichen Administration ging, welche er für den Verfall verantwortlich machte. Vgl. Libanius, Or. 2,32; Or. 11,230; Or. 47,4. 54 De vita Macr. 12 (GNO VIII,1, 384,14–18 W. C.).

1. Die Gemeinde im Horizont der Predigten

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der ganzen Welt hergestellt wurden, Wein in silbernen Pokalen und kostbares Geschirr, Diener und Sklaven in edelster Kleidung, prächtig ausgestattete Häuser mit vergoldeten Möbeln und Wasserspiele zur Erfreuung des Auges. Die Reichen selbst hüllten sich in prachtvolle Gewänder aus edelsten Stoffen mit Gold- und Purpurverzierungen und prächtigen Schmuck.55 Solche Beschreibungen dienten nicht in erster Linie der Beschreibung der realen Zustände im Sinne eines objektiven Portraits, sondern sie basierten auf rhetorischen Topoi und schilderten anhand von bekannten Motiven die ungerechte Verteilung der Ressourcen.56 Den Luxus solcher Bankette konnte sich in einer kleinen Gemeinde wie Nyssa nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung leisten.57 Die Aufzählung und Beschreibung von ganzen Katalogen von Luxusgütern ist ein Merkmal der kynisch-stoischen Diatribe, was sich in den sehr ähnlichen Kritiken an Überfluss und Prunksucht bei Musonius Rufus und Clemens von Alexandrien zeigt, die ebenfalls ihr Augenmerk auf die überflüssigen Ess- und Trinkgefässe aus Silber richteten.58 In dem schon erwähnten Brief an den Gelehrten Adelphius, der den Rang eines consularis Galatiae59 besaß, also Konsul der Nachbarprovinz Galatien war, beschreibt Gregor den Reichtum eines Reichen etwas konkreter anhand von dessen Anwesen.60 Dieses Anwesen bot eine Vielzahl von Gebäuden, darunter eine Säulenhalle mit Bassin, üppig dekorierte Räume, verschiedenste Züchtungen von Pfirsichen und allerlei Luxusgüter. Dem Gast Gregor wurde ein üppiges Mahl serviert bestehend aus allen möglichen ausgefallenen Köstlichkeiten.

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Paup. I (GNO IX, 104,16–105,25 V. H.); Eccl. 3 (GNO V, 319,16–324,2 A.); Eccl. 4 (GNO V, 346,15–348,14 A.). 56 Gegen TREUCKER, Politische und sozialgeschichtliche Studien, 12. Treucker ist der Meinung, die Beschreibungen der Luxusgüter seien als Beschreibung kappadozischer Verhältnisse sichere Quellen: „Ähnlichen Wohlstandes erfreute sich der ausgedehnte Privatbesitz, für den die Homilien der kappadokischen christlichen Autoren bisher unausgewertete Quellenzeugnisse bereitstellen. Man kann sicher sein, dass die jeweiligen Darstellungen sich auf pontisch-kappadokische Verhältnisse beziehen; um der Aktualität willen muss eine Predigt die lokalen Gegebenheiten aufgreifen.“ Diese Bemerkungen ziehen die Prägung der Predigten durch die antike Rhetorik mit ihren feststehenden Topoi zu wenig in Betracht. 57 Johannes Chrysostomus spricht von je zehn Prozent äußerst Reichen und zehn Prozent Bettelarmen für Antiochia, wobei in städtischen Verhältnissen die Unterschiede sicher ausgeprägter waren und Johannes auch nicht bestrebt war, möglichst zutreffende Zahlen zu liefern, sondern zu zeigen, dass bei einem Gütertausch unter den Ärmsten und Reichsten das soziale Problem lösbar wäre. Vgl. Jo. Chrys., Hom. 66,3 in Mt. 58 Muson., Diss. 20; Clem., Paed. 2,35,1. Vgl. zu den typischen Topoi B ILLERBECK, Der Kyniker Demetrius, 7f. 59 Vgl. P. MARAVAL, Grégoire de Nysse. Lettres (SC 363), 258, Anm. 1. 60 Ep. 20 an den Gelehrten Adelphius.

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

In den beiden Predigten über die Liebe zu den Armen schildert Gregor eine Gesellschaft, welche durch massive Unterschiede zwischen Armen und Reichen geprägt ist und in der akute Spannungen herrschen. Neben den Spannungen und Differenzen zwischen Armen und Reichen bildete ein anderes spannungsvolles Gegenüber die Differenzierung in Unfreie und Freie. Die christliche Gemeinde war wie die antike Gesellschaft insgesamt weit davon entfernt, in Einmut, Gleichheit und Friede zu leben. Auch wird ihre Gewöhnung im christlichen Glauben als sehr rudimentär bezeichnet. Weder wusste die Gemeinde, was es bedeutete, sich in einer gewissen Situation als Christ zu verstehen und zu handeln noch war das Interesse groß, sich von den irdischen Zielen und Gütern ab- und den geistigen zuzuwenden. In dieser Situation setzten Gregors Predigten an und zeigten den Adressaten auf, wie ein christlich verantwortetes Zusammenleben aussehen sollte.

2. Christliche Wohltätigkeit in den Predigten über die Liebe zu den Armen Die beiden Predigten, welche unter der Überschrift „Über die Liebe zu den Armen“ überliefert sind, stimmen in ihrem Anliegen überein, die Armen ins Zentrum christlicher Wohltätigkeit zu rücken.1 Die Predigten dienten der Wahrnehmung, Unterstützung und Reintegration der Armen und standen sowohl in der Tradition antiker Wohltätigkeit als auch christlicher Armenfürsorge.2 Die Predigten widerspiegeln die Suche nach einer spezifischen Form christlicher Wohltätigkeit und christlichem Engagement in einer Gesellschaft sozialer Spannungen und Ungerechtigkeiten. Der Ausgangspunkt Gregors in beiden Predigten war die individualethische Frage, wie sich die Zugehörigkeit zur Kirche im Hinblick auf soziale Verpflichtungen äußert. In der zweiten Predigt wird anhand der Stelle Mt 25,35f. die Sorge für die Armen, Schwachen und Kranken als zentrales Element der christlichen Lebenspraxis hervorgehoben.3 Wer vor dem himmlischen Gericht zu den Gesegneten gehören will, für den ist die Sorge für die Armen, Kranken und Schwachen Pflicht, wie Gregor schreibt. Im Einsatz für diese werden wir uns selbst die gute Verheißung erlangen.4 1

Zumindest die erste Predigt entstand in einer Reihe von Fastenpredigten in der Passionszeit, wo täglich Gottesdienste mit Predigten, manchmal sogar zwei pro Tag stattfanden. Diese Predigtdichte gab häufig Anlass zu ganzen Reihen. BERNARDI, La prédication, 44, präzisiert auf die Fastenzeit 378 als Entstehungszeit. Zur genauen Datierung vgl. B ERNARDI, La prédication, 273–283, J. DANIÉLOU, La chronologie des sermons de saint Grégoire de Nysse, RSR (1955) 4, 346–372, 360f. Auch die Hexaemeron-Predigten des Basilius fanden zur Fastenzeit statt und zwar zweimal täglich, am Morgen und am Abend. Vgl. S. GIET (Hg.), Basile de Césarée, Homélies sur l’hexaéméron, deuzième édition revue et augmentée, Paris 1969, Introduction, 5. 2 Zu den Ursprüngen der christlichen Armenfürsorge vgl. R. GARRISON, Redemptive Almsgiving in Early Christianity (JSNT.S 77), Sheffield 1993; H. B OLKESTEIN, Art. Armut I, RAC 1, Stuttgart 1950, 698–705; W. SCHWER, Art. Armenpflege, RAC 1, 689– 698. 3 Mt 25,35f.: „Ich war hungrig, durstig, fremd, nackt, schwach und in Fesseln. Was ihr einem von diesen getan habt, habt ihr mir getan.“ 4 Paup. II (GNO IX, 113,26f. V. H.): οκον ν τ- περ τούτους σπουδ- τν γαθν παγγελίαν αυτος κατορθώσωμεν. Die enge Verbindung zwischen der Fürsorge für die Armen und Bedürftigen als besondere Schützlinge Gottes und dem Wohlergehen war schon im AT dominant. Vgl. Lev 25,25–27; Deut 14,28f.; 15,7–11. Die Zuwendung zu den Armen sicherte Israel nach den biblischen Zusagen den Segen Gottes, die Hartherzigkeit gegen Arme, Witwen, Waise und Fremde hingegen war wichtiger Bestandteil des Schuldaufweises in der Ankündigung des kommenden Gerichts Gottes bei den Propheten.

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

Ausgehend von der ungerechten Verteilung der lebenswichtigen Güter schilderte Gregor, was es bedeutet, sein Handeln in die Nachfolge Jesu zu stellen. Er beschrieb die Situation als durch zwei einander gegenüberliegende krankhafte Verhältnisse geprägt: der Zustand der Übersättigung und derjenige der absoluten Bedürftigkeit. Beide Zustände werden als Leiden beschrieben, welche der Heilung bedürfen.5 Dasjenige, was du deinem Magen wegnimmst, lasse dem Hungernden zukommen. Die Gottesfurcht erweise sich als gerecht indem sie Gleichheit anstrebt. Durch die vernünftige Enthaltsamkeit sollen zwei einander gegenüberliegende Leiden geheilt werden, deinen Überdruss und den Hunger deines Bruders.6

2.1. Die Wahrnehmung der Armen Das auffälligste Merkmal der beiden Predigten über die Liebe zu den Armen sind die breiten, erschütternden Beschreibungen der Armen, Kranken und Bettelnden. Die Verwendung zahlreicher konventioneller Topoi mindert die Wirkung der Beschreibungen nicht. Die ausgedehnten Beschreibungen der Bettelnden, Kranken und Krüppel führte den Adressaten in quälender Ausführlichkeit das Elend von Menschen vor Augen, welche die Mehrzahl nicht wahrnahm oder bewusst ignorierte. Gregor gab damit einer Menschengruppe in der Kirche Raum, welche in Wirklichkeit keinen Platz in der Gemeinde und im Kirchenraum einnahmen, sondern allenfalls davor lagen und bettelten. Die Schilderungen der Armen waren damit mehr als nur eine Beschreibung, sie gaben den Armen unabhängig von der Reaktion der Adressaten Raum und Bedeutung in der Kirche und zwangen die Gottesdienstbesucher, diese Menschen wahrzunehmen. Die Armen und Kranken waren nicht Teil der christlichen Gemeinde sondern fristeten von der Gesellschaft verlassen oder verstoßen ein unstetes Leben auf den Plätzen, Strassen und Märkten: allgegenwärtig aber nirgends integriert. Sie schliefen gemäß der Beschreibung Gregors unter freiem Himmel oder in einem Säulengang. Ihre Kleider bestünden aus zerfetzten Lumpen, zusammengebastelt aus dem, was sie gefunden hatten. Holzstücke bildeten den Ersatz für fehlende Körperglieder. Obwohl die Vgl. Jes 10,1–3; 58,10; Jer 7,6–7; Ez 18,7–13; Am 5,11–15. In den apokryphen zwischentestamentarischen Schriften entwickelte sich der Gedanke einer künftigen Vergeltung im Endgericht mit dem Lohn und ewigen Leben für die Frommen und Gottesfürchtigen und der Strafe und dem Untergang für die Frevler. Zu Gericht und ewigem Leben vgl. etwa Sir 3,30; 4,1–10; PsSal 14; 16,1–3; äthHen 94,6.8–10; 96,5–8; 100,7; 102,9; Tob 12,9. 5 Vgl. Beat. 5 (GNO VII,2, 126,11–14 C ALLAHAN). 6 Paup. I (GNO IX, 97,10–13 V. H.): 5 τς σς φελες γαστρός, τ πειν ντι πρόσθες. γενέσθω  το θεο φόβος δίκαιος πανισωτής. Θεράπευσον γκρατεί1 σώφρονι δύο πάθη ναντία λλήλοις, τ ν σ ν κόρον κα το δελφο τ ν λιμόν.

2. Christliche Wohltätigkeit

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Bettler unter den Menschen lebten und einen Teil des Stadtbildes ausmachten, würden sie nicht als Teil der Gesellschaft wahrgenommen. Sie lebten von dem, was sie fanden, tranken Quellwasser und badeten in den Flüssen oder Seen. Vorräte könnten sie keine anlegen, da sie nichts hätten, um das Gefundene oder Erhaltene aufzubewahren. Denn sie besäßen nur das, was sie auf dem Leibe trugen und diese Fetzen seien zu weit, als dass sie als Vorratstasche verwendet werden könnten. Ihr Leben sei verwildert und unstet, ganz auf das abgestützt, was Gott allen in gleicher Weise zur Verfügung gestellt habe und wild wachse.7 Wenn sie den Reichen zu nahe kämen und zudringlich vor deren Türen bettelten, würden sie unter Schlägen und wie Hunde von den Dienern des Hauses vertrieben, während Musik und Gelächter im Haus ihr Wehklagen übertöne. Nicht einmal die Reste ihrer üppigen Bankette überließen die Reichen den Armen.8 Für die Armen in der zweiten Predigt stellte sich die Situation noch schlimmer dar, denn ihre Armut war die Folge ihrer Krankheit, der Lepra und aus Angst vor Ansteckung werde ihnen der Umgang mit Menschen verwehrt. Die Lepra zerstörte ihre Glieder und Sinnesorgane und führte zum Ausschluss der Kranken aus ihren Familien und der Gesellschaft, nicht selten in vollkommene Armut und Isolation aus Angst der Familie vor möglichen Ansteckungen.9 Der Fokus bei der Beschreibung der Leprakranken der zweiten Predigt ist auf der Verwandlung, welche aus normalen Menschen, elende Kreaturen gemacht hatte. Aus einem Menschen mit stolzem und aufrechtem Gang sei ein verkrüppeltes Wesen geworden, das auf allen Vieren gehe und bei dem man anhand der hinterlassenen Spuren nicht erkennen könne, dass es ein Mensch war, der vorbeiging. Den Kranken fehlten Hände, Füße und teilweise sogar die Sinnesorgane, welche entweder verfaulten oder im Falle der Augen ausgestochen wurden – gemäß Johannes Chrysostomus, um erfolgreicher betteln zu können.10 Diese Verunstaltung der Kranken und ihre ansteckende Krankheit führten dazu, dass die Kranken aus der Gesellschaft, ja selbst aus ihren Familien ausgeschlossen würden. Man halte sie nicht mehr für würdig, denselben Tisch und dieselben Geräte zu benutzen oder in demselben Haus zu wohnen.11 7

Paup. I (GNO IX, 96,17–97,8 V. H.); Paup. II (GNO IX, 115,29–117,22 V. H.). Paup. I (GNO IX, 106,1–18 V. H.). 9 Zum Umgang mit Leprakranken in der Gesellschaft vgl. den Artikel von H OLMAN, Healing Social Leper, 283–309. 10 Paup. I (GNO IX, 106,3 V. H.). Gregor erwähnt die ausgestochenen Augen nebenbei, Johannes Chrysostomus erklärt in einer Predigt, die Armen würden manchmal ihren Kindern die Augen ausstechen, um mehr Mitleid zu erregen, da sie sonst nicht genügend zu essen erhalten würden, um überleben zu können. Vgl. Jo. Chrys., Hom. 21,8 in 1 Cor IX,1. Johannes erwähnt im Anschluss, Hom. 21,9 in 1 Cor IX,1, ebenfalls die Theaterstücke und die Darstellung des eigenen Leidens um Almosen zu erhalten. 11 Paup. II (GNO IX, 117,13f. V. H.). 8

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

Stattdessen organisierten sie sich in Gruppen, um gemeinsam überleben zu können, etwa indem sie sich gegenseitig in der Fortbewegung stützten.12 In der Gruppe steigerten sie ihre Effizienz im Betteln, da sie ihre Leidensgeschichten in kleinen Theaterdarbietungen erzählten. Denn dem einen fehle ein Bein, einem anderen ein Arm. Wie die Tiere müssten sie immer weiter ziehen, um nach neuen Nahrungsquellen zu suchen. So bildeten sie nach Gregors Beschreibung ein eigenes Volk, das neben der Gesellschaft lebte. Von der Gesellschaft seien sie verstoßen und fristeten ein Dasein als Geächtete ohne Rechte. Trotzdem seien sie ganz auf das Mitleid der Gesellschaft angewiesen.13 Die Krankheit reduzierte gemäß Gregor nicht nur die körperlichen Kräfte und Fähigkeiten, sondern auch die Vernunft trete kaum mehr zu Tage, da die Kranken wie Tiere von einem Ort zum anderen zögen, um sich zu ernähren und sich in irgendwelchen Winkeln verkrochen um zu schlafen. Der Kampf um das reine Überleben mindere ihre intellektuellen Kapazitäten.14 Gregor breitete die Schilderung aus, immer wieder verglich er das Elend der Kranken mit dem Leben eines wilden Tieres mit der Schlussfolgerung, dass es den Kranken um Vieles schlechter gehe als den Tieren. Denn während man wilde Hunde an der Quelle trinken ließe, auch wenn sie etwa an der Zunge bluteten, so würden die Kranken von den Wasserquellen aus Angst vor einer Ansteckung verstoßen.15 Haustiere nehme man zu sich ins Haus, ja gar ins Bett, man stecke ihnen Köstlichkeiten zu, räume ihren Kot weg, kümmere sich um sie, wenn sie krank seien und lasse ihnen alle erdenkliche Pflege zukommen, die aufgrund der gemeinsamen menschlichen Natur den kranken Bettlern zuerst zukäme.16 Im Gegensatz zu den unvernünftigen Tieren, die zu bedauern seien, weil sie keinen Verstand hätten, wüssten die Kranken um ihr Elend und um das, was ihnen entgehe, denn einst seien sie ja gesund und in der Vollmacht 12

Vgl. Paup. II (GNO IX, 116,22–117,4 V. H.). Paup. II (GNO IX, 116,21 V. H.). 14 Paup. II (GNO IX, 118,23–26 V. H.). Vgl. auch Clem., q. d. s. 12,5 (GCS Clemens 3,2 167,28–31 FRÜCHTEL): νέφικτον γρ κα μήχανον δεόμενον τ ν πρ ς τ βιοτεύειν ναγκαίων μ ο κατακλσθαι τν γνώμην κα σχολίαν γειν π τ ν κρειττόνων, πωσον κα θενον τατα πειρώμενον κπορίζειν. „Es ist unerreichbar und unmöglich, dass einer, der des Lebensnotwendigen bedürftig ist, nicht in seinem Denken und seiner Beschäftigung vom Besseren heruntergezogen wird, da er damit beschäftigt ist, sich dieses irgendwie und von irgendwoher zu beschaffen.“ 15 Paup. II (GNO IX, 117,14–20 V. H.). Dieselbe Bemerkung findet sich auch in der Rede über die Liebe zu den Armen von Gregor von Nazianz. 16 Vgl. Paup. II (GNO IX, 117,14–20 V. H.): die Angst, aus derselben Quelle wie ein Kranker zu trinken. Zum Vergleich mit der Tierliebe, Paup. II (GNO IX, 120,1–9 V. H.). Auch Johannes Chrysostomus erwähnt, dass Menschen häufig eher mit einem hungrigen Hund Mitleid hätten als mit einem hungrigen Menschen. Vgl. Jo. Chrys., Hom. 79,2 in Mt. 13

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ihrer Kräfte und ihres Verstandes gewesen. Jeden Tag beweinten die Kranken ihr Schicksal und wüssten nicht, ob sie besser über das klagen sollten, was von ihrem Körper noch übrig war oder über das, was nicht mehr da war. Die Menschen erzählten nach Gregor die schrecklichsten Geschichten und zeigten so, dass sie fühlende und denkende Menschen waren, die Verstand besaßen. Sie erzählten, wie ihre Familien sie verstoßen hatten und sie plötzlich ganz allein dastanden. Viele verfluchten den Tag ihrer Geburt und schämten sich, sich selbst zu den Menschen zu zählen.17 Die Beschreibungen der Armen sind typische Manifestationen antiker Rhetorik und verweisen auf den rhetorisch geprägten Bildungshintergrund Gregors. Ähnlich erschütternde Beschreibungen von Bettlern finden sich auch bei anderen christlichen und nichtchristlichen Autoren im zeitgenössischen Umfeld Gregors, etwa bei Johannes Chrysostomus und dem paganen Rhetor Libanius für die Armen in Antiochia, bei Gregor von Nazianz in seiner Predigt über die Armen, bei Basilius und Ephraem dem Syrer.18 Die emotionale Kraft der Reden und Bilder stand über der Individualität und Wirklichkeitstreue der Beschreibungen, welche anhand von festen Topoi eine typisierte Form mit bestimmten Bildern entwickelt hatte. Typische Elemente dieser Beschreibungen sind die Lumpen, in welche die Armen gehüllt waren, der Boden als Bett und die Wasserquellen als Becher, die Abhängigkeit von gefundener oder geschenkter Nahrung. Dazu kommt die Darstellung der Armen und ihrer absoluten Bedürftigkeit im Gegenüber zum Überfluss der Reichen, ebenfalls meist in stereotyper Wiese dargestellt anhand der üppigen Bankette der Reichen, ihrer prunkvollen Häuser, kostbaren Möbeln, Silbergeschirr und einem Heer von Sklaven. Bei dem paganen Rhetor Libanius folgt auf die Darstellung der Armen der Vergleich mit dem Überfluss der Reichen und endet in einer Drohung an diese, dass sie mit ihrem ungerechten Verhalten nicht ungestraft blieben, sondern mit der göttlichen Gerechtigkeit rechnen mussten. Alle diese Elemente seiner Rede sind auch für die Armenpredigten Gregors bezeichnend.19 In gleicher Weise ist auch der Adressatenkreis in allen Reden dadurch bestimmt, dass für die Angesprochenen die Armen die anderen waren, eine

17

Paup. II (GNO IX, 118,6–9 V. H.). Vgl. auch Jo. Chrys., Hom. 21,9 in 1 Cor 9,1; Hom. 1,4 und 8,1 in Col (PG 62, 304; 351f.); Libanius, Or. 7; Gr. Naz., Or. 14; Basilius, Hom. 6-8; Ephraem, Memré über Nicomedia III,217–218. BROWN, Poverty and Leadership, 41, verweist auf die Ähnlichkeiten zwischen Ephraems Beschreibung der Armen nach dem Erdbeben in Nikomedia, Memré über Nicomedia III,217–218 und den Predigten von Bas., In divites und Homilia in illud: Destruam horrea mea. 19 Vgl. Libanius, Or. 7. 18

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Gruppe, von der man sich distanzierte.20 Auch die besonders in der zweiten Rede eingesetzten Vergleiche mit dem Verhalten der Tiere gehört in den Bereich fester Topoi.21 Sowohl das Verhalten der Armen, Kranken und Bettelnden wird mit Tieren verglichen als auch das der hartherzigen Menschen der Gesellschaft. Während die Armen herumzögen wie Tiere von einem Weideplatz zum nächsten in steter Suche nach neuer Nahrung und ihre intellektuellen Kapazitäten vollständig auf die überlebenswichtigen Fragen der Beschaffung von Nahrung und einem geeignetem Schlafplatz konzentrierten, im Gegensatz zu den Tieren sich ihres Elendes jedoch bewusst seien und darunter litten22, seien die sicher versorgten Menschen schlimmer als die wilden Tiere, wo selbst die wildesten wie die Wölfe ihre Artgenossen unterstützten und ihre Beute mit den schwächeren Gliedern des Rudels teilten. Die Menschen dagegen rissen alles an sich.23 Elemente wie die bildreiche und emotionale Sprache in der Beschreibung der Armen verweisen auf Gregors rhetorischen Hintergrund. Die Rede sollte die Adressaten erschüttern, berühren und aufwühlen, um sie dazu zu bringen, ihre Verhaltensweise zu ändern.24 Gregor bot den Zuhörern ein lebendiges Bild, nahm sie hinein in unterschiedliche Szenen, die er nebeneinander stellte. In geschickten Szenenwechseln zeichnete er die unterschiedlichen Situationen der Armen und der Reichen auf. Dazu kommen die Szene der Gerichtsvision und die Beschreibung der göttlichen Wohltätigkeit anhand einer ausgedehnten Naturbeschreibung. Diese auf Wirkung bedachten Reden wiesen neben der Appellfunktion auch einen Unterhaltungswert für das Publikum auf und zeigen einen geschickten Rhetor, der seiner Gemeinde etwas der Unterhaltung im Theater Adäquates bieten konnte. In theatralischer Art und Weise wird das elende Schicksal der Armen und Kranken und der Überfluss der Reichen, ihr Wohlergehen und ihre Bankette geschildert.

20 Diese Form von Sozialkritik findet sich auch bei Julian, Ep. 89b (290B), wo er schreibt, dass die Vermögenden den Armen selbst dann noch alles fortreißen würden, wenn die Götter Gold regnen lassen würden. 21 Zu den Tiervergleichen siehe auch BILLERBECK, Der Kyniker Demetrius, 10. 22 Paup. II (GNO IX, 118,3–13 V. H.). 23 Paup. I (GNO IX, 104,6–9 V. H.). Ein ganz ähnliches Beispiel bringt Bas., Hom. 8 dicta tempore famis et siccitatis. Er nennt gegenüber dem Geiz der Angesprochenen ebenfalls die wilden Tiere als positives Beispiel und verweist auch auf das gemeinschaftliche Leben von Heiden. Basilius spricht in Hom. 8,7 sogar davon, dass jeder Reiche, welcher nicht bereit sei, sein Vermögen mit den Bedürftigen zu teilen und sie dadurch möglicherweise verhungern ließ, als Mörder gelten könne. Denn jeder Besitz sei eine Gabe Gottes, welche dazu gegeben sei, dass man sie teile. 24 Vgl. zu der emotionalen Erschütterung zwecks Verhaltensänderung die Ratschläge von Aug., doct. christ. IV,12,27,75 an die christlichen Prediger.

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Trotz der konventionellen Beschreibung der Armen, ist davon auszugehen, dass Gregor sich auf reale Missstände bezog und sein Publikum in der Kirche wusste, dass er sich auf konkrete Menschen bezog, die sie täglich sahen. Wie Gregor betonte, war die aktuelle Situation Anlass zum Aufruf zur Sorge für die Armen. Vor jeder Türe befänden sich Bettler.25 Er brachte die Armen mit den gotischen Überfällen in Verbindung, welche zu Kriegsflüchtlingen und freigelassenen oder entflohenen Gefangenen geührt hatten. In ganz ähnlicher Weise sind auch die Predigten von Basilius zugunsten der Armen durch eine aktuelle und konkrete Not, die einer Nahrungsknappheit aufgrund einer langen Dürreperiode, entstanden. Basilius predigte während einer Dürreperiode mit der konkreten Forderung, Getreide nicht zu horten, um es irgendwann zu Höchstpreisen zu verkaufen, sondern es in der Notzeit den Bedürftigen zukommen zu lassen.26 Die Darstellung der Armen bei Gregor ist geprägt durch die Absicht zu zeigen, wie unverdient das Elend der Kranken und Armen und die ihnen entgegengebrachte Verachtung seien. Als Gründe für ihre Armut werden Naturkatastrophen, Kriege oder Krankheit genannt. Die Armen werden dargestellt als Menschen, die durch einen Schicksalsschlag in ihre momentane elende Lage gekommen sind und nun Hilfe und Unterstützung von denen verdienen, welche mehr Glück hatten. Hier klingt das in den rhetorischen Reden verbreitete Motiv des Mitleids aufgrund eines unverdienten Unglücks an, das Cicero in De inventione ausführte. Cicero nannte als Hauptargument das ungerechte und unverdiente Unglück, welches die Menschen dazu bewegen sollten, anderen zu helfen.27 Dabei spielte der Redner mit der Angst der Menschen, sich einmal selbst in einem ähnlichen Unglück zu befinden und auf Unterstützung angewiesen zu sein.28 Besonders der Fall von Reichen in plötzliche Armut wurde als schlimmes Unglück eingeschätzt.29 Die von Cicero und anderen Rhetorikexperten vorgeschlagene Strategie, Mitleid durch die Ungerechtigkeit und Unverdientheit des Unglücks zu erreichen, findet sich bei Gregor umgesetzt. In Gregors Predigten sind die Bettler nicht aus Faulheit oder Schlechtigkeit arm, sondern aufgrund eines unvorhersehbaren Schicksalsschlags, wie er jeden 25

Paup. I (GNO IX, 96,17–22 V. H.). Vgl. Bas., hom. 8 dicta tempore famis et siccitatis. 27 Vgl. zu den rhetorischen Mitteln, beim Adressaten Mitleid zu wecken Cicero, inv. I,55. Cicero zählt eine ganze Reihe von Umständen auf, welche Mitleid erwecken können, als erster, dass ein Reicher plötzlich in Armut steht, dass jemand unverdient arm sei und vieles mehr. 28 Vgl. Arist., Ars rhetorica II,8,2f.; Sophocles, Ajax 121–133. 29 Für Gr. Naz., Or. 14,28, verdienten die verarmten Reichen besondere Unterstützung, denn sie waren die Armut nicht gewohnt und litten darum mehr darunter als Menschen, die schon arm geboren wurden. Die Argumentation entspricht derjenigen Ciceros in De inventione und richtet sich auf Solidarität mit der eigenen sozialen Schicht. 26

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

treffen konnte. Ausdrücklich erinnerte Gregor daran, dass das eigene momentane Wohlergehen vergänglich sei und sich schnell ändern könne, so dass man selbst der Unterstützung bedürftig werde. Zurückhaltender waren die Stoiker gemäß Diogenes Laertius gegenüber dem Erwecken von Mitleid. Chrysipp habe Mitleid als Mangel der Seele abgelehnt genauso wie Nachsicht oder Milde.30 Für den Rhetor Libanius dagegen galt Mitleid als Kennzeichen der Hellenen gegenüber den Barbaren.31 Die Funktion dieser ausgedehnten und rhetorisch gestalteten Beschreibungen der Armen bestand darin, das Publikum zu erschüttern, sie auf die Armen und ihr Elend aufmerksam zu machen und die Perspektive auf die Armen zu ändern. Das Bewusstsein der Adressaten für ungerechte Zustände wie die Not der Armen sollte geschärft werden. Das bedeutet, Gregor setzte bei der Wahrnehmung der Adressaten an, um ihr Verhalten zu ändern. Damit die Gemeindeglieder die Armen unterstützten, mussten diese ihnen zuerst ins Bewusstsein gebracht werden und aufgezeigt, inwiefern deren Situation ungerecht war und diejenigen etwas anging, welche besser dastanden. Gregors Predigten zielten darauf ab, die Perspektive auf die Armen zu verändern und sie mit in die Gemeinschaft der Menschen hinein zu nehmen, sie darzustellen als Menschen mit einer Geschichte, Menschen, die durch Schicksalsschläge von dem Leben getrennt waren, das die Adressaten führten. 2.2. Sorge für die Armen Die Erschütterung des Publikums durch mitreißende Beschreibungen stellt den ersten Teil in Gregors Strategie dar. Der nächste und entscheidende Schritt bestand darin, das Publikum zum Handeln zu bewegen und die guten Formen der Unterstützung zu beschreiben, wobei Gregor in beiden Predigten ähnliche Argumente einsetzte. Was nun? Genügt es etwa, um nicht gegen das Gesetz der Natur zu sündigen, dass man die Leiden der Natur in erschütternder Weise aufzeigt und mit Worten darstellt und in der Erinnerung seinem Mitleiden Ausdruck gibt? Oder ist auch irgendein Werk von uns nötig, das unser Mitleid und unsere Nächstenliebe zum Ausdruck bringt? 32

30

Vgl. D. L., Vitae VII,123. Libanius, Or. 29,13. 32 Paup. II (GNO IX, 119,16–19 V. H.): Τί ο6ν; 7ρ’ ξαρκε τοσοτον πρ ς τ μηδ"ν ες τ ν τς φύσεως νόμον ξαμαρτεν, ατ τοτο τ τραγ!δεν τ πάθη τς φύσεως κα

λόγ! διασκευάζειν τν νόσον κα πρ ς τν μνήμην παθαίνεσθαι; 31

2. Christliche Wohltätigkeit

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2.2.1. Solidarität aufgrund der gemeinsamen Natur Die Motivation und Begründung der Fürsorge für die Armen läuft über unterschiedliche Argumente. Das grundlegendste beruft sich auf die Ordnung der Natur als Norm für das menschliche Handeln. Nicht alles sei das Eure, sondern ein Teil sei auch für die Armen, die Geliebten Gottes. Alles gehört Gott, dem gemeinsamen Vater. Wir aber sind Brüder aus demselben Geschlecht. Es ist aber besser und gerechter, dass Brüder gleichmäßig am Erbe teilhaben.33

Das Zitat macht eine ganze Reihe von Aussagen, welche auf externe Normvorgaben verweisen: Gott als Vater, Schöpfer und Garant der Ordnung der Welt, seine Liebe zu den Armen, die gemeinsame Natur aller Menschen und zuletzt die Gerechtigkeit und das Gute. Der Aufruf zum Teilen basiert auf der Idee aller Menschen als einem Menschengeschlecht, das einen gemeinsamen Vater hat, den es gleichmäßig beerben sollte. Die Menschen sind Brüder oder Geschwister und vor Gott im gleichen Status der Kinder. Die Güter der Welt gehören nicht den Menschen selbst sondern Gott. Darum haben alle Anrecht auf ein Stück des Erbes, die Schätze der Welt. Gregor berief sich auf die Gerechtigkeit, welche die Verteilung bestimmen sollte und die darin bestehe, dass allen Menschen als Mitglieder eines Geschlechts ein Anteil an den Schätzen der Welt zustehe. Das Argument, dass alle Menschen eine gemeinsame Abstammung von der Gottheit als Schöpfer und Vater haben, war bekannt und weit verbreitet, sehr oft verbunden mit Forderungen, den Armen und Schwachen zu helfen. Sowohl bei den Rhetoren, den Philosophen als auch den christlichen Predigern34 wurde aus der gemeinsamen Abstammung und Natur den Schluss gezogen, dass alle Menschen als Mitglieder derselben Art in gleicher Weise das Recht hätten, an den Schätzen der Welt teilzuhaben. Cicero erklärte, dass Gesetze die gemeinsame Teilhabe aller Menschen an den Schätzen der Welt sicherten.35 Auch der Rhetor Dio Chrysostomus drängte in einer Rede gegen die Habsucht darauf, dass die Gleichheit der Menschen zu achten sei36 und der Stoiker Epictet nannte Zeus den gemeinsamen Vater aller Menschen. In einem sehr ähnlichen Zusammenhang wie Paup. I (GNO IX, 103,21–25 V. H.): μ πάντα %μέτερα, λλ μέρος στω κα τ ν πενήτων τ ν γαπητ ν το θεο· πάντα γρ το θεο, το κοινο πατρός· %μες δ" δελφο $ς μόφυλοι· δελφος δ" τ μ"ν ριστον κα δικαιότερον κατ’ σομοιρίαν μεταλαγχάνειν το κλήρου. Vgl. auch Epict., Diss. I,13,3–5. 34 Vgl. auch Gr. Naz., Or. 14,25; Bas., Hom. 6,1; Clem., q. d. s. 7,2; Jo. Chrys., Hom. 79,1 in Mt. 35 Das Argument, dass die Menschen aufgrund der gemeinsamen Natur, der Sprache und Rationalität eine besondere Verbindung haben, nennt etwa auch Cicero, off. I,16,50. Er nennt die gemeinsame Nutzung der Schätze der Erde eine Konsequenz daraus, die seiner Meinung nach durch Gesetze garantiert wurde. 36 Dio Chrys., Or. 17,8–10. 33

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Gregor brachte Kaiser Julian das Argument. Die Götter hätten den Menschen überreich Güter zukommen lassen, darum dürfe niemand Mangel leiden und die Güter der Welt gehörten allen gemeinsam. Julian leitete aus dem gemeinsamen Ursprung aller Menschen von Zeus seine Aufforderung ab, dass die Güter der Welt zu teilen seien.37 Die Gottheit sei von Natur aus wohltätig zu den Menschen.38 Julian schloss aus der gemeinsamen Natur aller Menschen, dass die Menschen füreinander verantwortlich seien und einander unterstützen müssten, einerseits nach ihrem Verdienst und andererseits nach ihren Bedürfnissen.39 Gemeinsam mit allen Menschen müssen die materiellen Güter geteilt werden, freigiebiger aber mit den Anständigen, denen die arm und in auswegsloser Situation sind jedoch muss gemäß ihrem Bedürfnis beigestanden werden.40

Der Rückgriff auf das Argument des einen Geschlechts und den gemeinsamen Vater beruft sich auf eine ursprüngliche Ordnung, die es zu beachten gelte und durch welche das Wohlergehen der Menschen gesichert werde.41 Bei Gregor ist diese Ordnung eingerichtet und sanktioniert durch den biblischen Schöpfergott und Vater aller Menschen, der allen Menschen in Lieben zugetan ist und sie mit seiner Wohltätigkeit umfasst. Die Armen werden als die Lieblinge Gottes bezeichnet und damit in ihrer Würde hervorgehoben. Denselben Gedanken der besonderen Stellung der Armen vor Gott findet sich sehr prägnant auch bei Johannes Chrysostomus, der immer wieder Versuche unternahm, in seinem Einflussgebiet für eine gerechtere Verteilung des Besitzes zu sorgen, was für Unbeliebtheit und Misstrauen sorgte.42 37

Julian, Ep. 98 292b. Julian, Ep. 89b 289b; Vgl. auch Gregor, Paup. I. (GNO IX, 100,8–102,13 V. H.). Die breite Beschreibung personifiziert die Wohltätigkeit als Freundin Gottes, Mutter der Bedürftigen und vieles mehr und zeigt anhand der Ordnung der Natur die Sorge Gottes für den Menschen und die gesamte Schöpfung auf. 39 Epict., Diss. I,13,3 und I,9,1–6 wo er die gemeinsame rationale Natur der Menschen an die Gotteskindschaft band. 40 Julian, Ep. 89b (290a–d BIDEZ): Κοινωνητέον ο6ν τ ν χρημάτων πασιν νθρώποις, λλ τος μ"ν πιεικέσιν λευθεριώτερον, τος δ" πόροις κα πένησιν σον παρκέσαι τ- χρεί1. 41 Sen., Ep. 95,52; Epict., Diss. I,13,3f. Die gemeinsame Abstammung wird in der Stoa auf Zeus zurückgeführt. Vgl. H. GREEVEN, Das Hauptproblem der Sozialethik in der neueren Stoa und im Urchristentum, (NTF Reihe 3: Beiträge zur Sprache und Geschichte der urchristlichen Frömmigkeit 4) Gütersloh 1935, 8f. Greeven zufolge liegt das Hauptproblem der Sozialethik für Stoa wie auch Urchristentum in der Überwindung sozialer Unterschiede. Vgl. Einleitung, 1. Greeven ist allerdings der Meinung, dass die Ansicht der Gleichheit aller Menschen aufgrund der Natur eine im Christentum nicht geteilte Ansicht sei, ebd., 19. 42 Vgl. Jo. Chrys., Hom. 12,5 in II Cor. Zu der Sozialpolitik von Johannes Chrysostomus vgl. A. M. R ITTER, Zwischen „Gottesherrschaft“ und „einfachem Leben“. Dio Chrysostomus, Johannes Chrysostomus und das Problem der Humanisierung der Gesellschaft, 38

2. Christliche Wohltätigkeit

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Auch in der zweiten Rede über die Liebe zu den Armen, wo die Kranken im Zentrum stehen, ist das Argument der gemeinsamen Natur von zentraler Bedeutung. Unabhängig von allen möglichen weiteren Motiven hätten die Kranken und Armen ein Anrecht auf Unterstützung auf Grund der allen gemeinsamen menschlichen Natur. Diesen Gedanken führte Gregor fort, indem er noch genauer bestimmte, was die gemeinsame Natur ausmacht. Verstehst du nicht, wer das ist, der sich in diesen Umständen befindet? Dass es ein Mensch ist, der als Ebenbild Gottes geschaffen ist, der eingesetzt ist, über die Erde zu herrschen, der über den unterworfenen irrationalen Lebewesen steht. Dieser ist in ein solches Unglück und Schicksal gekommen, dass seine Erscheinung mehrdeutig ist. Er trägt weder die Merkmale eines Menschen noch die eines anderen Lebewesens in unzweifelhafter Weise an sich.43

An dieser Stelle tritt zu der schon bekannten Argumentation der gemeinsamen Natur eine Erweiterung. Das allen Menschen gemeinsame Merkmal und ihre gemeinsame Würde bestehe in der Gottebenbildlichkeit. Als Ebenbild Gottes sei jeder Mensch dazu berufen, über die Erde und die irrationalen Tiere zu herrschen. Es handelt sich hier durch die Erwähnung des göttlichen Auftrags an den Menschen, über die Welt und die Tiere zu herrschen um einen Verweis auf die Schöpfungsgeschichte in Genesis 1. Damit erhält das auch bei den Philosophen bekannte Motiv der Gottebenbildlichkeit des Menschen einen biblischen Charakter.44 Neben der Gottebenbildlichkeit spielt auch die in den philosophischen Ansätzen grundlegende Bestimmung des Menschen über seine Rationalität eine große Rolle.45 Die Rationalität der Menschen als ihre besondere Aus-

JAC 31 (1988), 127–143. C. T IERSCH, Johannes Chrysostomus in Konstantinopel (398– 404). Weltsicht und Wirken eines Bischofs in der Hauptstadt des Oströmischen Reichs (Studien und Texte zu Antike und Christentum 6), Tübingen 2000, besonders 152–169; 251–264. Bei Tiersch werden die Beziehungen zwischen dem Ruf von Johannes Chrysostomus, aufrührerisch zu sein und seiner radikalen Umfunktionierung des Kirchenbesitzes zwecks der Armenfürsorge dargestellt. 43 Paup. II (GNO IX, 116,8–14 V. H.): ε τα ο λογίζ8 τίς  ν τούτοις 9ν; τι νθρωπος,  κατ’ εκόνα θεο γεγονώς,  κυριεύειν τς γς τεταγμένος,  ποχείριον τν τ ν λόγων πηρεσίαν χων. ο:τος ες τοτο συμφορς κα μεταβολς προλθεν, ,στε μφίβολον τ φαινόμενον ε ναι, ο;τε νθρώπου καθαρ ς ο;τε τιν ς λλου τ ν ζτερον δ" [τ ν] πρ ς τν νέργειαν τ ν καλ ν κατεπείγοντα· ο γρ στιν λλως επολίτευτον βίον κατορθωθναι κα σώφρονα, ε μή τις φεύγων $ς χει δυνάμεως τν κακίαν διώξειεν $ς υ ς μητέρα τν ρετήν. Ganz ähnlich beschreibt auch Basilius die Funktion biblischer Vorbilder und Exempla in einem Brief an Gregor von Nazianz, vgl. Bas., Ep. 2,3.

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

nischen Sittenlosigkeit“.24 Auch Gregors Predigten sind zumindest teilweise in der Fastenzeit entstanden und verweisen auf den katechetischen Hintergrund, da während der Fastenzeit die intensive Vorbereitung derjenigen stattfand, welche sich zur Taufe angemeldet hatten.25 Anders als in den typischen katechetischen Predigten zeigt sich aber kaum Polemik gegenüber Nichtchristen. Gregor strebte nicht nur eine Änderung in der Verhaltensweise seiner Gemeindeglieder an, sondern hauptsächlich eine Veränderung des Selbstverständnisses, der Wertvorstellungen und Normen, aus der heraus ein neues Verhalten entstehen sollte. Diese Arbeit an der Wahrnehmung seiner Gemeinde bestimmt die Predigten. Die Gemeinde sollte lernen, die Umwelt und die sozialen Strukturen mit den Augen von Nachfolgern Christi wahrzunehmen und nicht mit den Linsen ihres jeweiligen Standes oder Geschlechtes und der traditionellen Werte. Um die Wahrnehmung der Gemeinde im Hinblick auf das christliche Weltbild zu schulen, beschrieb Gregor die geistige Haltung, welche mit einem bestimmten Handeln verbunden ist. In den Predigten stellte er dar, was in einer bestimmten Situation gemäß christlichem Wertesystem die angemessene Tugend wäre und stellte dem in überspitzter Weise das aktuelle Verhalten der Gemeinde als Gegenbild vor Augen. So verwies er etwa die Sklavenhalter auf ihre Arroganz und Hybris gegenüber Gott und den Mitmenschen und die Wucherer auf die Geldgier unter dem Anschein der Wohltätigkeit.26 Der christlichen Perspektive auf die Umwelt dienen zudem ausgedehnte Schilderungen der Opfer menschlicher Selbstsucht: Gregor fokussierte in breiten Beschreibungen auf die Menschen, welche man lieber übersah oder sich gar verachtungsvoll von ihnen abwandte, wie die Bettler, die Gregor in den Reden über die Liebe zu den Armen ausführlich beschrieb oder die Hinweise auf die Sklaven in den Bergwerken, die für die schönen Marmorböden in den Villen der Reichen leiden mussten und die leer gefischten Meere und ausgeräuberten Wälder, welche

24

Vgl. Cyrill von Jerusalem, Procatechesis; Catecheses ad illuminandos; Jo. Chrys., Ad illuminandos catecheses 1–8. Gregors eigene Oratio catechetica magna, an Katecheten und nicht Katechumenen gerichtet, ist stärker dogmatisch ausgerichtet und versucht, den christlichen Glauben gegenüber kritischen Anfragen plausibel zu machen. Der Sinn dieser heftigen Abgrenzungen und Anschuldigungen an die anderen war wiederum die Vergewisserung eigener Identität. Vgl. WRIGHT KNUST, Abandoned to Lust, 9. 25 L. D. FOLKEMER, A Study of the Catechumenate, 300, in: Conversion, Catechumenate and Baptism in the Early Church (Studies in Early Christianity 11), hrsg. v. E. Ferguson, New York 1993, 286–307. 26 Überheblichkeit der Sklavenhalter: Eccl. 4 (GNO V, 334,8–10 A.); Habgier unter dem Mantel der Wohltätigkeit: Usur. (GNO IX, 197,8–13 G.).

6. Zusammenfassung: Ethische Argumentation in den Gemeindepredigten

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der Fresssucht der Menschen zum Opfer fielen.27 Mit der Beschreibung der Armen, der Kranken und der Opfer sozialer Ungerechtigkeit und Ausgrenzung wollte Gregor diejenigen sichtbar machen, welchen Jesus sich besonders zugewandt hatte und die auch das besondere Anliegen der Christen sein sollten. Die Forderung nach einem Gesinnungswandel war verbunden mit dem Anspruch, dass Christinnen und Christen nicht wie ihre Umwelt leben, sondern höhere Ansprüche an ihr Verhalten stellen. In der ersten Rede über die Liebe zu den Armen erläutert Gregor diesen Anspruch so: Es leite also das Leben der Christen die philosophische Lebensweise und die Seele fliehe den Schaden der Übel.28

Die philosophische Lebensweise, gekennzeichnet durch die Reinheit der Seele von Übeln wird als Anspruch an alle Christen formuliert. Ein philosophisches Lebensideal war in der antiken Gesellschaft ein elitäres Lebensideal, dem sich nur ein kleiner Kreis verpflichtete. Für die Christen stellte Gregor dieses elitäre Ideal als Wertmaßstab für alle auf. Der Verweis auf das philosophische Leben der Christen zeigt auf, dass alle Christen unter dem Anspruch stehen, sich um ein möglichst gutes und tugendhaftes Leben zu bemühen, auch wenn viele sehr elementar dabei anfangen müssen, sich von den Lastern zu befreien, welche ihr Leben prägten. Anders als die Juden, welche den Christus geschmäht hätten, sollten die Christen sich durch einen reinen und guten Lebenswandel auszeichnen, wie Gregor weiter ausführte. Als Jünger Jesu wollen wir nicht die jüdische Lebensweise nachahmen.29

Auffällig ist, dass da, wo Gregor positiv beschreibt, was die Christen in ihrer Lebensweise als Christen kennzeichnen soll, eine Abgrenzung gegenüber den Nichtchristen, in diesem Fall den Juden, auftaucht. Die polemische Abgrenzung gegenüber den Juden steht hier unter dem Zeichen der Abgrenzung der eigenen Lebensweise von derjenigen der anderen. Dass Gregor die Juden als Gegenüber beschreibt, während sonst üblicherweise

27

Zu den Bettlern: Paup. I (GNO IX, 96,17–97,8 V. H.); Paup. II (GNO IX, 114,13– 115,9 V. H.); Ausgebeutete Natur: Paup. I (GNO IX, 104,5–105,7 V. H.); Arbeiter in den Bergwerken Eccl. 3 (GNO V, 321, 8–11 A.). 28 Paup. I (GNO IX, 95,4f. V. H.): Παιδαγωγείτω τοίνυν τ ν βίον τ ν Χριστιαν ν τρόπος φιλόσοφος, κα % ψυχ φευγέτω τς κακίας τν βλάβην. 29 Paup. I (GNO IX, 96,9–10 V. H.): μ τοίνυν τ ν Wουδαϊκ ν τρόπον ζηλώσωμεν ο το Χριστο μαθηταί.

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I. Einführung in die christliche Lebenspraxis

die paganen Nichtchristen das Gegenüber sind, ist durch die Abgrenzung gegenüber der jüdischen Fastenpraxis im Kontext bestimmt.30 Die theoretische Konzeption des guten Lebens und der Vervollkommnung des Menschen, welche in den Gemeindepredigten kaum explizit reflektiert wird, zeigte Gregor in den Schriften auf, die sich an Menschen richteten, welche schon die ersten Schritte zu einer guten Lebensweise hinter sich gebracht hatten und danach strebten, auf dem Weg des Glaubens und dem ihm entsprechenden Leben weiter voran zu kommen. Viele Aspekte aus den Gemeindepredigten finden sich in den Schriften an die Fortgeschrittenen wieder, oftmals ausführlicher behandelt und begründet. Der zweite Teil ist darum einerseits den Schriften an einen anderen Adressatenkreis gewidmet und beleuchtet Fragen und Problemhorizonte, welche für andere Gruppen von Christen relevant waren, gleichzeitig sollen die in diesen Schriften deutlicher ausgeführten theoretischen Grundlagen, Argumente und Ausführungen die theoretischen und theologischen Grundlagen sichtbar machen, wie sie auch für die Gemeindepredigten gelten.

30 Zur hohen Philosophie des Christentums mit seinem unblutigen Gottesdienst im Gegensatz zu den heidnischen Tempeln, Götzenbildern und Opfern vgl. Or. catech. 18 (GNO III,4, 50,23–52,1M.).

Teil II

Christliche Bildung für Fortgeschrittene und Vervollkommnung in der Tugend Der zweite Teil beschäftigt sich mit Texten Gregors, die für ein literarisches Publikum geschrieben wurden und die Fragen der Ethik auf einem theoretischeren Niveau angehen. Zuerst stellt sich die Frage, wie sich die Schriften, die Adressaten und die veränderten Voraussetzungen gegenüber den Gemeindepredigten charakterisieren lassen. Anhand der Fortschrittsthematik zeigt sich, wie Gregor ein anderes Publikum und andere Fragestellungen in die umfassende Fragestellung nach dem ethisch verantworteten christlichen Leben einband und dieses mit dem Begriff der Tugend charakterisierte. Die Schriften, welche an ein interessiertes, gebildetes und gemeindeübergreifendes Publikum gerichtet sind, zeichnen sich inhaltlich dadurch aus, dass sie die Frage nach dem guten Leben individualethisch als Frage nach der individuellen Vervollkommnung stellen. Der oder die Einzelne und ihr Streben nach Vollkommenheit leiten die Überlegungen.1 Die Konzentration auf die individuelle Vervollkommnung entsprach einer spätantiken Tendenz zur Individualisierung der Ethik anstelle der Politisierung und findet sich sowohl bei vielen christlichen wie auch nichtchristlichen Autoren.2

1

Ein bezeichnendes Beispiel hierfür ist die Auslegung der Seligpreisung der Friedfertigen, wo Gregor die Friedfertigkeit im Kontext der persönlichen Vervollkommnung als Frieden zwischen Körper und Geist deutete vgl. Beat. 7 (GNO VII,2, 160,11–20 C.). 2 Vgl. A. D IHLE, Art. Ethik, 766f., in: RAC 2, 646–796. Ein Beispiel ist Plotin mit seiner spirituell ausgerichteten Ethik. Näher an den politischen Fragen waren oft die Reden der Rhetoren, als Zeitgenosse Gregors sind Libanius oder Themistius besonders erwähnenswert.

1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt Gregor predigte nicht nur für seine Gemeinde, er stand auch in Kontakt zu einer ganzen Reihe von weiteren, vor allem gebildeten Personen, mit denen er sich über den christlichen Glauben und das christliche Leben austauschte, meist in Form von Briefen. Die eigene kleine Gemeinde bot für einen vielseitig interessierten und gebildeten Menschen wie Gregor nur beschränkte Austauschmöglichkeiten, wie die Äußerungen in Briefen Gregors zeigen, in denen er seiner Freude über den Austausch durch Briefe Ausdruck verlieh.1 In vielen dieser Briefwechsel nahm Gregor als Bischof eine beratende Funktion ein und legte auf Anfragen hin dar, worin der christliche Glaube und ein diesem Glauben entsprechendes Leben bestehen. Die Anfragen der Adressaten bezüglich der Gestaltung des Lebens gemäß dem christlichen Glauben zeigen reges Interesse an dem christlichen Glauben und der christlichen Lebensgestaltung. Ein Großteil der schriftlichen Kommunikationspartner Gregors zeigte zudem ein Interesse an der Auseinandersetzung mit den Lebens- und Weltentwürfen, den Denkmodellen und ethischen Konzepten der nichtchristlichen Umwelt, gegenüber welchen sie sich durch Gregor eine überzeugende Darlegung und Vergewisserung des christlichen Glaubens erhofften. Wenn sorgfältig herausgefunden würde, was mit diesem Namen [Christ] aufgezeigt wird, erhielte man viel Hilfe für ein tugendhaftes Leben, so dass wir in wahrhafter Weise so benannt würden und so sind, indem wir uns um diese herausragende Bürgerschaft bemühen. 2

Auf Anfragen nach dem guten christlichen Leben hin entstanden kleinere und größere Werke wie die beiden Schriften über das christliche Bekenntnis und über die Vollkommenheit oder die Lebensbeschreibung der Schwester Macrina. Auch größere Schriften wie die Auslegungen der Psalmüberschriften und des Hohelieds oder die Schrift über das Leben des Moses widmete Gregor bestimmten Adressaten. Die ausgearbeiteten Predigtzyklen richteten sich an ein Publikum, welches selbst Schriften zur christlichen Lebensgestaltung las und sich vertieft mit dem christlichen Glauben auseinandersetzte. Neben den klassischerweise den Opera ascetica zugeordneten Schriften werden hier auch Schriften wichtig wie das Werk über 1

Vgl. Ep. 8; 10; 11; 12; 18; 28, wo Gregor jeweils – mit viel rhetorischer Ausschmückung selbstverständlich – seiner Freude über den Briefwechsel Ausdruck verlieh und den Trost und die Aufmunterung, welche er dadurch erhielt. 2 De prof. christ. 2 (GNO VIII,1, 130,22–131,1 J.): ε γρ κριβ ς ερεθείη τ δι το νόματος τούτου δηλούμενον, πολλν ν λάβοιμεν πρ ς τ ν κατ’ ρετν βίον συνεργίαν, ληθ ς περ νομαζόμεθα τοτο κα ε ναι δι τς ψηλς πολιτείας σπουδάζοντες.

1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt

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die Erschaffung des Menschen, das Gregor an seinen Bruder Petrus richtete, oder die Biographie der Macrina und der Dialog über die Seele und die Auferstehung. Dies sind Schriften, wie sie nicht für das normale Gottesdienstpublikum gedacht waren, sondern ein spezielles Interesse und teilweise eine gewisse Bildung voraussetzen, da sie spezifische Fragen der christlichen Theologie teilweise ausführlich diskutieren und erläutern.3 Bezeichnend für den Großteil dieser Schriften ist, dass Gregor eine indirekte Diskussion und Auseinandersetzung mit der nichtchristlichen Umwelt und ihren Denkmodellen führte, also ein gewisses Interesse seiner Adressaten voraussetzte, sich intellektuell mit der nichtchristlichen Umwelt und ihren Konzeptionen der Welt auseinander zu setzen. Das bedeutet zugleich, dass den Adressaten die Kultur und Bildung der antiken Welt vertraut waren und die Auseinandersetzung mit ihr der Vergewisserung des christlichen Glaubens und der christlichen Identität diente. Die Adressaten dieser Schriften suchten nach einer christlichen Identität mit einer ihr entsprechenden Lebensweise, die sie zu vervollkommnen suchten. Gregor kam den Anfragen nach dem guten und tugendhaften christlichen Leben nach, indem er den christlichen Glauben und die christliche Lebensweise als eine bessere Alternative zu den idealen Lebensentwürfen der nichtchristlichen Umwelt und der philosophischen Schulen darstellte. Die Ausformulierung einer umfassenden christlichen Weltsicht war Teil der Auseinandersetzung der Christen mit ihrer Umwelt und einer Kultur, die sie als heidnisch und damit unakzeptabel wahrnahmen, ein Prozess, welche durch Kaiser Julians Politik, die Christen aus dem Erziehungswesen und somit dem kulturellen Leben auszuschließen, verstärkt worden war. Diese intellektuelle Auseinandersetzung mit der griechisch-römischen Kultur, ihrem Bild der Welt und des Menschen wird bei Gregor in Schriften wie De hominis opificio und De anima et resurrectione, aber auch in den Hexaemeron-Predigten geführt. Gregor folgte dabei einem Weg, den schon Basilius mit seinen Hexaemeron-Predigten eingeschlagen hatte und führte ihn nun vor allem in anthropologischer Hinsicht intensiv fort. 1.1. Die Charakterisierung der Adressaten In der Charakterisierung der Adressaten zeigen sich deutliche Unterschiede zu denjenigen in den Gemeindepredigten. Gregor setzte sich hier mit einem Gegenüber auseinander, das ein eigenes Interesse an einer guten Lebensführung und sittlichen Werten zeigte. Nicht zufällig handelt es sich 3

Vgl. auch J. DANIÉLOU, (Hg.), La création de l’homme (SC 6), Introduction 6 im Hinblick auf De hominis opificio, die Hexaemeronauslegung, De Anima et resurrectione und die Oratio catechetica magna: „Ces divers ouvrages, dépassent le cercle étroit des fidèles de Cappadoce, répondent aux préoccupations les plus profondes de l’Hellénisme, mis en présence de la Révélation.“

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

bei diesen Schreiben in mehreren Fällen um Briefe, in denen Gregor auf eine konkrete Anfrage des Gegenübers Bezug nahm.4 Dieser eigene Eifer der Adressaten sprach Gregor in seiner Abhandlung über die Vollkommenheit an einen Mönch namens Olympius an: Der Eifer in deinem Willen zu erfahren, wie jemand durch ein tugendhaftes Leben vollendet werde, so dass dein Leben durch Untadeligkeit in jeder Hinsicht glücke, ist ausgezeichnet. Ich würde es besonders schätzen, wenn Beispiele dessen, worum du dich bemühst, in meinem eigenen Leben gefunden und eingebracht werden könnten, so dass ich die von dir geforderte Unterweisung mit Taten anstatt Worten bieten könnte. Denn die Anleitung in den guten Dingen ist dann vertrauenswürdig, wenn das Leben mit den Worten übereinstimmt.5

Gregor lobte den Eifer des Olympius für sein sittlich wertvolles Leben und relativierte angesichts des hohen Ziels seine eigene Kompetenz, mit seinem Leben praktisches Anschauungsmaterial bieten zu können. Die Formulierung ist einerseits als rhetorischer Bescheidenheitsgestus zu deuten, wie Gregor auch oft auf sein Alter verwies,6 gleichzeitig bringt es seine Grundüberzeugung zum Ausdruck, dass niemand die absolute Vollkommenheit erreichen kann. Dieser Olympius unterschied sich insofern von den durchschnittlichen Gemeindegliedern, als er in seinem Streben nach Gott besonderen Eifer und Eigeninitiative zeigte.7 Er fragte Gregor um eine Abhandlung über die Vollkommenheit an.8 Dieser ging auf ein schon vorhandenes Interesse an einem ethisch reflektierten Leben ein und musste die Adressaten nicht erst vom Nutzen desselben überzeugen wie in den Gemeindepredigten. Für Gregors Argumentation änderte diese Ausgangslage die Vorgehensweise, da er von einem klaren Wunsch nach Tugend und Sittlichkeit ausgehen konnte. Auch konnte Gregor einen höheren Bildungsstand voraussetzen, da 4 Vgl. die Begründungen der Schriften von De vita Moys. Prolog (GNO VII,1, 2,7–12 M.); De vita Macr. Prolog (GNO VIII,1, 370,4–371,6 W. C.); De perf. (GNO VIII,1, 173,1–3 J.). 5 De perf. (GNO VIII,I, 173,1–8 J.): Πρέπουσα τ- προαιρέσει σου % σπουδ % περ

το γν ναι π ς ν τις δι το κατ’ ρετν βίου τελειωθείη, ,στε δι πάντων κατορθωθναί σου τ- ζω- τ μώμητον. γJ δ" περ παντ ς μ"ν ν ποιησάμην ν τ μ βί! τ ν σο σπουδαζομένων ερεθναι τ ποδείγματα, ,στε τος ργοις πρ τ ν λόγων τν πιζητουμένην π σο παρασχεν διδασκαλίαν. οτω γρ ν ξιόπιστος /ν τ ν γαθ ν % φήγησις, το βίου τος λόγοις συμφθεγγομένου. 6 Vgl. De prof. christ. (GNO VIII,1, 130,9–11 J.); Ep. 11,4 (GNO VIII,2, 42,1f. P.). 7 Dieser Olympius war gemäß Überschrift ein Mönch, was ihn schon von seiner Lebenssituation von der Gemeinde unterschied. 8 Sowohl De perfectione wie De professione christiana sind briefliche Antworten auf Anfragen nach dem tugendhaften Leben. Die großen Abhandlungen über das Leben des Mose und den Hohelied-Kommentar hat Gregor jeweils einer Person gewidmet, Caesarius die Vita Moysis und Olympias die Auslegung zum Hohelied und auch die Inscriptiones in Psalmorum sind auf eine Anfrage hin entstanden.

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die jeweiligen Adressaten sich in literarisch aktiven Kreisen bewegten, also Briefe empfingen und versendeten, Literatur lasen oder selbst literarisch tätig waren. Das kritische Gegenüber mit seinen eigenen Fragen nach Gott und dem guten Leben zeigt sich besonders bei Harmonius, an den Gregor die Schrift über das Wesen des christlichen Bekenntnisses richtete. Gregors Beschreibung ihres Umgangs miteinander macht dies deutlich: Gewiss wirst du dich erinnern, dass der Ausgangspunkt unserer gemeinsamen Gespräche immer die Bemühung um die Tugend und die Einübung in der Frömmigkeit waren, wobei du immer darauf bedacht warst, dem Gesagten mit Einwänden zu entgegnen und nichts ungeprüft anzunehmen. 9

Harmonius wird als gebildetes Gegenüber dargestellt, das eigenständig und kritisch Gregors Ausführungen prüfte und gegebenenfalls eine andere Meinung vertrat. Harmonius und Olympius stehen für zwei verschiedene Typen von interessierten Christen, welche sich um ein gutes Leben und um eine Verbesserung ihrer Lebensführung bemühten. Olympius zeichnete sich durch seinen Eifer aus, der sich vor allem im praktischen Streben des Mönchs nach einem guten Leben zeigte. Harmonius dagegen erscheint als kritischer Denker, der sich durch seine Fragen und sein Suchen nach Wahrheit auszeichnete. Dabei setzte er sich auch mit der antiken Philosophie und ihren Lebensentwürfen auseinander. Während sich Olympius durch seinen Eifer in der praktischen Umsetzung von den normalen Gemeindegliedern unterschied, so findet sich bei Harmonius vor allem der intellektuelle Eifer. Beide strebten sie danach, das Irdische hinter sich zu lassen und sich auf das Geistige, Ewige und Jenseitige zu konzentrieren. Die Fortgeschrittenen sind, wie die beiden unterschiedlichen Typen Harmonius und Olympius zeigen, kein einheitlicher Kreis von Adressaten, sie konnten aus einem philosophisch geprägten Bildungshintergrund kommen und sich stärker mit intellektuellen Fragen zum christlichen Glauben und Leben beschäftigen oder aber aus einem monastischen Leben herkommend hauptsächlich an der Lebens- und Glaubenspraxis interessiert sein oder auch aus einem klerikalen Milieu stammen, wie es die Schrift über das Leben des Moses nahe legt.10 Gemeinsam ist den Interessenten, dass sie tendenziell aus einem besseren sozialen Milieu stammten und den gemeinsamen kulturellen Hintergrund der hellenistischen Gelehrsamkeit zumindest teilweise mitbrachten. Auch setzten sie sich anders als der Großteil der durchschnittlichen Gemeindeglieder selbst für ihre moralische De prof. christ. (GNO VIII,I, 129,14–130,3 J.): μέμνησαι γρ πάντως, τι τ ν πρ ς λλήλους πάντοτε %μν λόγων α φορμα μελέται πρ ς ρετν κα γυμνάσιον πρ ς θεοσέβειαν /σαν, σο μ"ν πιστατικ ς ε τος λεγομένοις νθυποφέροντος κα οδ"ν νεξετάστως παραδεχομένου τ ν λεγομένων. 10 Vgl. dazu auch HEINE, Perfection in the Virtuous Life, 22f. 9

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

und spirituelle Entwicklung ein, wobei sie Gregor um Rat fragten und allenfalls Literatur zu diesem Thema lasen. 1.2. Das Konzept des ethischen Fortschritts11 Die Adressaten zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich bemühten, sich und ihr Leben zu verbessern und nicht nur die minimalen Anforderungen an die Christen erfüllten. Ihr Anliegen bestand darin, über ihren momentanen Zustand herauszukommen und sich weiter zu entwickeln. Diese Entwicklung im Glauben und in der Lebenspraxis ist begrifflich schwer zu fassen, was sich bei Gregor dadurch zeigt, dass er keine konsequente Begrifflichkeit verwendete. In Bezug auf Macrina, Basilius oder Gregor der Wundertäter sprach er von einer philosophischen Lebensweise,12 andere Beschreibungen sind die eines Lebens in Vollendung oder Vollkommenheit, ein tugendhaftes Leben oder ein engelhaftes Leben.13 Die Ent11

Der Gedanke des Fortschritts steht oft, auch bei Gregor, neben dem der Dekadenz. So geht Gregor vom dem ursprünglichen paradiesischen Zustand aus, von dem die Menschen abfielen, und den sie nun in einem schrittweisen Fortschritt wiedererlangen können und sollen. Vgl. zum Fortschrittsgedanken in der Antike: DIHLE, Fortschritt, 150–169; E. R. DODDS, The Ancient Concept of Progress, in: DERS., The Ancient Concept of Progress and other Essays on Greek Literature and Belief, Oxford 1973, 1–25; L. EDELSTEIN, The Idea of Progress in Classical Antiquity, Baltimore 1967. Spezifisch zu Gregor sei hier exemplarisch auf den Aufsatz von Ferguson verwiesen: E. FERGUSON, Progress in Perfection: Gregory of Nyssa’s Vita Moysis, StPatr 14 (1976), 307–314. Allgemein zum Fortschrittsdenken im Christentum, allerdings kaum zum moralischen Fortschritt ist die Untersuchung von W. K INZIG, Novitas Christiana. Die Idee des Fortschritts in der Alten Kirche bis Eusebius (FKDG 58), Göttingen 1994. Kinzig beschränkt sich auf die folgenden drei Gebiete: „Reflexion über die Geschichte Gottes mit seinem Volk (heilsgeschichtlicher Fortschritt), den Spekulationen über die Entwicklung von Kultur und Zivilisation (kultureller Fortschritt) sowie schließlich den Überlegungen zum Verhältnis von Kirche und Staat (politischer Fortschritt).“ Ebd., 209. Kinzig bietet einen umfangreichen Überblick über die Forschungsgeschichte zum Fortschrittsdenken, 23–66. 12 Gemeint ist nicht ein wissenschaftliches Ideal sondern ein einfaches und beherrschtes Leben, wo Glauben und Leben übereinstimmen. Diese Bedeutung zeigt in der Verwendung dieser Bezeichnung für den Rückzug von Basilius in Annisi und das Leben von Macrina und ihrer Mutter auf ihrem Familiengut in einer zurückgezogenen Gemeinschaft, wobei auch das asketische Ideal eine gewisse Rolle spielt. De vita Macr. 1 (GNO VIII,1, 371,19–21 W. C.): % πρ ς τ ν κρότατον τς νθρωπίνης ρετς ρον αυτν δι φιλοσοφίας πάρασα Vgl. auch ebd. 5 (GNO VIII,1, 377,1–7); hinsichtlich Basilius 6 (GNO VIII,1, 377,14f.); im Bezug auf Naucratius 9 (GNO VIII,1, 379,18–19) und im Bezug auf die Hinführung der Mutter zum philosophischen Leben 11 (GNO VIII,1, 381,19– 22). Daneben gäbe es schon nur in dieser Schrift noch etliche andere Stellen zu erwähnen, in denen vom philosophischen Leben die Rede ist. Vgl. etwa auch De vita Greg. Thaum. (GNO X,1, 15,18 H.). 13 De vita Macr. 11 (GNO VIII,1, 382,6 W. C.): πρ ς μ*μησιν τ(ς τ ν γγ.λων διαγωγς; Virg. Prolog (GNO VIII,1, 248,6 C.): του κατ φιλοσοφ*αν β*ου; Eccl. 1

1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt

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wicklung, in der das einzelne Individuum sich in seinem Streben nach einer tugendhaften oder vollkommenen Lebensweise befindet, wird vor allem anhand von Bildern oder Metaphern veranschaulicht, insbesondere denjenigen des Fortschreitens, Aufsteigens und des Wachsens.14 Das Fortschrittsdenken zeigt sich bei Gregor darin, dass er in der Auslegung der Psalmüberschriften, der Lebensbeschreibung des Moses oder der Hoheliedauslegung immer wieder die unterschiedlichen Schritte zusammenfasste, welche die Person in ihrem Streben nach Vollendung schon hinter sich gebracht hatte, um dann auf den nächsten Schritt zu kommen.15 In der Auslegung des Hohelieds ist der aus den philosophischen Systemen übernommene Begriff der προκοπ( zentral, in den Seligpreisungen und dem Leben des Moses ist das Aufstiegsmodell dominant. Die Entwicklung wird als ein Fortschreiten bezeichnet, wobei ein bestimmter Zustand hinter sich gelassen wird und ein neuer angestrebt. Gregor verglich in der Auslegung der Seligpreisungen das Fortschreiten in der Tugend auch mit dem Erklimmen einer Leiter und sah die verschiedenen Seligpreisungen je als Stufen einer Leiter, welche den Fortschritt im Sinne eines Aufstiegs ermöglichen. Das wichtigste Bild für den ethischen Fortschritt ist das Bild vom Aufstieg über Stufen oder das einer Leiter.16 Die Leiter verglich er in der fünften Homilie mit der Leiter, die Jakob in seinem Traum in Bethel sah. Die Leiter führt in den Himmel zu Gott und Engel steigen darauf auf und ab.17 Damit führte er das insbesondere im platonischen Kontext beliebte Stufenbild in einen christlich-biblischen Kontext über. Und dort nämlich, scheint mir, wurde dem Patriarchen das tugendhafte Leben in dem Bild der Leiter dargestellt, damit er lerne und seine Nachkommen anleite, dass kein anderer Weg zu Gott hinaufführe als immer nach oben zu sehen und Verlangen nach den höheren Dingen zu haben, so dass nicht das geliebt wird, was schon erreicht ist, und dabei

(GNO V, 277,8–9 A.): τος πρ ς τ τελειότερα τ ν μαθημάτων αξηθεσιν; De perf. (GNO VIII,I, 173,2 J.): % σπουδ … το κατ’ ρετν βίου τελειωθείη; De vita Moys. Prolog (GNO VII,1, 2,8–9 M.): τ γενέσθαι σοί τινα παρ’ %μ ν ποθήκην ες τ ν τέλειον βίον. 14 Cant. 12 (GNO VI, 354,11–13 L.): τίς γρ οκ ο δε τς ναβάσεις κείνας Mς νέβη  Μωϋσς,  ε μέγας γινόμενος κα μηδέποτε στάμενος τς π τ μεζον αξήσεως; „Wer kennt nicht den Aufstieg, den Mose unternahm, der immer größer wurde und nie innehielt im Wachsen im Besseren?“ 15 Vgl. Beat. 2 (GNO VII,2, 89,22–90,4 C.); Beat. 5 (GNO VII,2, 123,20–124,15 C.); Inscript. Psal. II,14,204 (GNO V, 144,13–20); Cant. 5 (GNO VI, 158,19–21; 160,12f L.); Cant. 6 (GNO VI, 175,17–20 L.); Cant 12 (GNO VI, 354,11–13 L.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 82,4f. M.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 86,4–8 M.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 113,3–9 M.). 16 Vgl. Inscript. Psal. II,14,204 (GNO V, 144, 13–20 D.). 17 Gen 28.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

geblieben wird, sondern man es für einen Verlust hält, nicht das Darüberliegende zu erreichen.18

Der Fortschritt ist hier nicht nur als ein sittlicher verstanden sondern auch als ein spiritueller. Die sittliche Vervollkommnung und die Vertiefung des Glaubens gehen Hand in Hand.19 Auf dem Aufstiegs-Gedanken beruht die ganze Auslegung der Seligpreisungen, welche von immer höheren Formen der Tugend ausgeht, die der Mensch Schritt für Schritt erreichen soll. Jede der beschriebenen Tugenden stellt dabei eine Sprosse der Leiter dar. In diesen [den Psalmen zu Saul] ist die Anordnung der Psalmen nicht als eine Abfolge der historischen Ereignisse zusammengestellt, sondern sie erfolgte gemäß dem Fortschritt in der Tugend von denjenigen, welche vollendet werden. Jedes der in den Ereignissen sichtbar gemachten Dinge ist darauf angepasst, das Wachsen in der Tugend zu zeigen.20

Worin zeigt sich bei Gregor, dass jemand sich ethisch entwickelt oder eben Fortschritten macht? Dieser Frage ist Gregor an unterschiedlichen Orten nachgegangen und hat mehrere Elemente beschrieben, welche den Fortschritt kennzeichnen. Im Vordergrund steht dabei, an welchen Quellen ethische Orientierung stattfindet. In der Auslegung des Hohelieds unterschied Gregor zwischen den Vielen, welche sich nach den Sitten und Bräuchen der Anderen, vor allem der Ahnen, richteten und die Gewohnheit zum Kriterium des Guten machten, was dazu führe, dass sie vor allem materielle Güter anstrebten, und denjenigen, welche anhand von vernünftiger Überlegung bestimmten, was gut und was schlecht sei und ihr Streben auf geistige Güter und den Nutzen für die Seele richteten. Das Streben nach den Gütern der Seele gegenüber den materiellen Gütern und die Beurteilung anhand vernünftiger Kriterien statt nach Sitte und Gewohnheit sind damit für Gregor zwei wichtige Unterscheidungsmerkmale zwischen den Vielen und den Fortgeschrittenen, es sind zugleich die Punkte, anhand von denen auch Dihle und Devettere 18 Beat. 5 (GNO VII,2, 123,25–124,5 C.): κα γρ κε τ πατριάρχ8 τ ν κατ’ ρετν ο μαι βίον τ ε+δει τς κλίμακος διατυποσθαι, $ς ν ατός τε μάθοι κα τος μετ’ ατ ν φηγήσαιτο τι οκ στιν λλως πρ ς τ ν Θε ν ψωθναι μ ε πρ ς τ νω βλέποντα κα τν τ ν ψηλ ν πιθυμίαν ληκτον χοντα, $ς μ γαπν π τ ν Xδη κατορθωθέντων μένειν λλ ζημίαν ποιεσθαι ε το περκειμένου μ ψαιτο. 19 Vgl. De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 102,6–8; 102,22–103,4 M.). Zur spirituellen Entwicklung des Menschen vgl. besonders die Studien von DANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, vor allem der dritte Teil, 173–307. 20 Vgl. Inscript. Psal. II,14 (GNO V, 151,15–19 D.): οHς % τ ν ψαλμ ν τάξις οκ κ τς κολουθίας τ ν στορικ ν συνέστη πραγμάτων, λλ τος κατ προκοπν δι’ ρετς τελειουμένοις πηκολούθησεν, >καστον τ ν ν τος πράγμασι δηλουμένων ες νδειξιν τς κατ τν ρετν αξήσεως καταλλήλως Kρμόσασα. Zum Wachsen in der Tugend vgl. auch De perf. (GNO VIII,1, 213,17f.; 214,f J.); De inst. christ. (GNO VIII,1, 44,25–27; 25,24f. JAEGER); Cant. 4 (GNO VI, 113,1–3 L.); Cant. 5 (GNO VI, 149,9f. L.); Cant. 6 (GNO VI, 174,9–11 L.); Cant. 8 (GNO VI, 246,18–20 L.).

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zwischen einer philosophischen und einer präphilosophischen oder vulgären Ethik unterschieden.21 Zum Fortschreiten gehört nach Gregor, dass man sich von den Vorbildern löst, und sich nicht mehr an Beispielen, Vorbildern und Gesetzen orientieren muss sondern selbst das Gute erkennen kann. In der Auslegung des Lebens des Moses erklärte er, dass die Fortgeschrittenen nicht mehr auf Moses blicken müssten, um tugendhaft zu leben, sondern auf Gott selbst sehen könnten.22 Anstelle von Moses werde Gott der Feldherr im Kampf gegen den Feind der Sünde und Laster und Gott selbst bestimme das Leben der Fortgeschrittenen, indem sie für die Erkenntnis des Guten keine Gebote und Beispiele mehr nötig hätten, sondern aus eigener Kraft das Gute erkennen könnten.23 Wer fortgeschritten sei, habe das Kindesalter verlassen und steht auf eigenen Beinen.24 Diesen Gedanken breitete Gregor in den Inscriptiones in Psalmorum weiter aus, indem er Moses dadurch auszeichnete, dass dieser sich nicht mehr nach einem fremden Gesetz richten musste, sondern imstande war, Urheber eines eigenen Gesetzes für andere zu werden.25 Ganz ähnlich hatte gemäß Seneca Ariston erklärt, dass derjenige, der das Wesen der Philosophie verstanden habe, sich von allen Gesetzen befreie und sich selbst die Gesetze gebe.26 Eine andere Beschreibung des fortgeschrittenen Lebens bietet Gregor gegen Ende der Lebensbeschreibung des Moses, wo er sich direkt an den Adressaten der Schrift, Caesarius, richtet: Solcherart aber ist die wahrhaftige Vollkommenheit: nicht länger in sklavischer Furcht vor Strafen sich von dem Üblen im Leben fernzuhalten und nicht in der Hoffnung auf Lohn das Gute zu verwirklichen, indem man in geschäftstüchtiger und verhandelnder Art mit seinem tugendhaften Leben handelt, sondern alles, was wir in der Verheißung durch die Hoffnung haben, zu verachten und einzig zu fürchten, aus der Freundschaft mit Gott herauszufallen und einzig für wertvoll und willkommen zu halten, Freund Gottes zu werden. Dies ist meines Erachtens die Vollkommenheit des Lebens.27 21 Vgl. Cant. 2 (GNO VI, 65,14–66,16 L.). Zur ethischen Argumentation vgl. oben, I.6.3. Vulgärethik? 22 Vgl. De vita. Moys. 2 (GNO VII,1, 74,12–16 M.). 23 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 80,22–26 M.). 24 Cant. 1 (GNO VI, 18,10–19 L.). 25 Inscript. Psal. I,7,51 (GNO V, 43,22–23 D.). Vgl. auch Virg. 23 (GNO VIII,1, 340,2–6 C.) wo Gregor die Vorbilder als Hilfe für diejenigen nennt, welche nicht aus eigener Kraft den Weg finden. 26 Sen., Ep. 94,2. 27 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 144,20–145,4 M.): τοτο γάρ στιν $ς ληθ ς % τελειότης τ μηκέτι δουλοπρεπ ς φόβ! κολάσεως το κατ κακίαν βίου χωρίζεσθαι μηδ" τ- τ ν μισθ ν λπίδι τ γαθ ν νεργεν πρακτικ- τινι κα συναλλαγματικδιαθέσει κατεμπορευομένους τς ναρέτου ζως λλ’ περιδόντας πάντων κα τ ν ν παγγελί1 δι’ λπίδος ποκειμένων, μόνον %γήσαθαι φοβερ ν τ τς φιλίας κπεσεν το Θεο κα μόνον τίμιόν τε κα ράσμιον αυτος κρναι τ φίλον γενέσθαι Θε, περ

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Gregors Beschreibung der Vollkommenheit grenzt sich zuerst ab von einer unvollkommenen Denk- und Lebensweise, welche das Gute nicht um seiner selbst willen wählt, sondern aufgrund der zu erwartenden positiven oder negativen Vergeltung. Diese Denkweise wird abgelehnt, weil sie um das Gute verhandle. Vollkommenheit entstehe dagegen durch die freie Wahl des Guten, unabhängig von möglichen positiven oder negativen Konsequenzen, unbeirrt durch Strafen oder Lohn. Nicht die Angst vor dem Gericht lässt die Fortgeschrittenen das Gute wählen, sondern der Wunsch, Gottes Freundin oder Freund zu werden und in der Freundschaft Gottes zu bleiben. Der Begriff der Freundschaft Gottes ist an dieser Stelle auffällig, weil die Freundschaft insgesamt im Christentum massiv auf Kosten des Modells der Familie an Bedeutung verlor, wie auch die Beziehung zu Gott als derjenige eines Kindes zu seinem Vater konzipiert war, wobei nicht nur die gegenseitige Liebe sondern auch das Machtgefälle mitschwangen. Umso erstaunlicher ist die Übertragung des Ideals der Freundschaft an dieser Stelle auf die Gottesbeziehung. Mit dem Begriff der Freundschaft verwies Gregor auf eine Beziehung, die grundsätzlich durch Partnerschaft gekennzeichnet ist und nicht durch den Unterschied an Macht und Einfluss, wie er ein familiäres Verhältnis oder das von Herr und Knecht kennzeichnet. Die Beschreibung der Beziehung zu Gott als Freundschaft zielte nicht darauf ab, die Grenzen zwischen Gott und Mensch aufzuheben, sondern sie bezeichnet ein Verhältnis, das auf menschlicher Seite nicht auf Furcht und Unterwerfung beruht und bei Gott nicht auf Lohn und Strafe, sondern auf beiden Seiten auf der Freude an der gegenseitigen Beziehung. Anstelle der Furcht vor Strafen und der Hoffnung auf Lohn sollte die Motivation zum Guten in dem freien Antrieb gefunden werden, der das Handeln in einer Freundschaft auszeichnet. Dem Handeln aus freiem Antrieb und Freundschaft gegenüber gestellt sind das Tun des Guten aus der Hoffnung auf Gewinn, was als geschäftliches Verhältnis bezeichnet wird, sowie das Tun des Guten aus Furcht vor Strafen, also aus einem sklavischen Verhältnis. Ganz ähnlich unterschied auch Basilius die unterschiedlichen Gesinnungen: Insgesamt sehe ich drei verschiedene Zustände gegenüber dem unerwünschten zwingenden Gehorsam. Entweder kommen wir als Furchtsame durch Schmeichelei von dem Bösen weg und sind in einem versklavten Zustand, oder wir tun etwas aufgrund von Lohn und erfüllen die Gebote eigennützig und gleichen daher den Angeheuerten, oder aber wir tun das Schöne aus eigenem Antrieb und aus Liebe zu dem, der das Gesetz

στί κατά γε τ ν μ ν λόγον % τελειότης το βίου. Vgl. auch Cant. 1 (GNO VI, 15,18– 16,10 L.), wo Gregor anstatt von der Freundschaft mit Gott von der Liebe zu ihm spricht. Dieselbe Argumentation zeigte auch Clemens von Alexandrien für den wahren Gnostiker auf, vgl. Str. IV,23,147,1 allerdings mit dem Ziel der Annäherung an Gott und nicht der Freundschaft Gottes wie bei Gregor an dieser Stelle.

1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt

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gegeben hat und freuen uns, dass wir für würdig erachtet werden, dem ehrenvollen und guten Gott zu dienen und so werden wir im Zustand der Kinder sein.28

Basilius unterschied drei ethische Zustände und ordnete diese je einer bestimmten Denkweise zu. Die Fortgeschrittenen werden hier nicht als Freunde sondern als Kinder Gottes bezeichnet, aber auch sie tun das Gute aus freiem Antrieb und aus Liebe. Die Beurteilung einer Handlung anhand der zugrundeliegenden Gesinnung war ein verbreitetes Kriterium, wie ein Vergleich mit anderen antiken Autoren zeigt. Bei dem Rhetor und Philosophen Dio Chrysostomus wird die Frage gestellt, ob einer, der nur aus Angst vor der Strafe nicht stehle, etwa kein Dieb sei29 und bei Clemens von Alexandrien werden die Vollkommenen als diejenigen definiert, welche für das Tun des Guten nicht einmal mehr den Antrieb der Verheißung ewiger Seligkeit bräuchten, geschweige denn sich an Lohn oder Angst vor Strafen orientierten. Die Ausrichtung nur auf Gott und die Verabschiedung jedes Lohndenkens werden als Kennzeichen des Fortschreitens genannt.30 Diogenes Laertius überliefert den Aristoteles zugeschriebenen Ausspruch, dass der Nutzen der Philosophie darin bestehe, freiwillig zu tun, was andere nur aus Furcht vor Strafen täten.31 Iamblich beschrieb die Meinung der Pythagoreer, man solle die Menschen so erziehen, dass sie nicht aus Angst vor Strafe das Schlechte nicht täten sondern aus eigener Überzeugung, sonst würden sie es dennoch tun, wenn sie glaubten, straffrei davon zu kommen.32 Dieser Gedanke findet sich auch bei Gregor von Nazianz: Derjenige, welcher das Schöne um eines anderen willen tut, der steht nicht fest in der Tugend. Denn geht dieses weg, so wird er das Schöne aufgeben. Wie derjenige, der wegen des Gewinns segelt, das Segeln aufgibt, wenn er keinen Gewinn mehr macht. Wer es aber aus sich selbst heraus ehrt und betreibt, der wird eine beständige Freude daran haben, da er nach etwas Beständigem strebt.33

28 Bas., Regulae fusius tractatae, Proemium (PG 31, 896B): Rλως δ" τρες ταύτας γJ διαφορς τς διαθέσεως πρ ς τν παραίτητον νάγκην τς πακος καθορ . Y γρ φοβούμενοι τς κολάσεις κκλίνομεν π το κακο, καί σμεν ν τ- διαθέσει τδουλικ-· 2, τ κ το μισθο κέρδη διώκοντες, τς αυτ ν >νεκεν Gφελείας πληρομεν τ προστάγματα, κα κατ τοτο προσεοίκαμεν τος μισθίοις· 2 δι’ ατ τ καλ ν, κα

τν πρ ς τ ν δεδωκότα %μν τ ν νόμον γάπην, χαίροντες, τι οτως νδόξ! κα γαθ Θε δουλεύειν κατηξιώθημεν, καί σμεν οτως ν τ- τ ν υ ν διαθέσει. 29 Dio Chrys., Or. 69,8. 30 Vgl. dazu auch dieselbe Bestimmung für den wahren Gnostiker bei Clem., Str. II,8,37,2–4; IV,22,135; IV,22,137,1–3. 31 D. L., Vitae V,20; Cicero, De republica I,3 schreibt die Aussage Xenokrates zu. 32 Iamb., De vita Pythagorica 9,48. 33 Gr. Naz. Or. 36, De seipso (PG 36, 276D):  μέν τινος >νεκεν τ καλ ν πιτηδεύων, ο βέβαιος ες ρετήν. &μο τε γρ παρλθεν κενο, κα το καλο στήσεται·,σπερ  κέρδους >νεκεν πλέων, το πλεν, ν μ παρ- τ κερδαίνειν. & δ" ατ δι’ αυτ τιμ ν

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Die unterschiedlichen Gesinnungen, welche hinter einer Handlungsweise stehen können, wurden von Gregor mit dem Gedanken des Fortschritts verbunden, indem er sie als unterschiedliche Stufen eines Weges kennzeichnete, welche derjenige, der Vollkommenheit in seiner Lebensgestaltung sucht, zu begehen habe. In der Auslegung des Hoheliedes unterschied er zwischen denen, welche zwar den Glauben haben, das Gute aber unreflektiert und ohne festes Wissen tun, denjenigen, welche zwar die rechte Erkenntnis der Wahrheit und des Guten haben, das Gute aber aus Angst vor Strafen tun und zuletzt denen, welche durch den Eros getrieben aus reiner Liebe das Gute tun.34 Die unterste Stufe ist hier nicht die Motivation der Angst sondern die Unkenntnis. Eine nochmals andere Unterteilung erscheint in der Auslegung der Psalmüberschriften, wo der erste Schritt in der Abwendung vom Bösen gesehen wurde, darauf folgt die Betrachtung der erhabenen und göttlichen Dinge, welche zu einer Gewöhnung an das Bessere führe und zuletzt Angleichung an das Göttliche.35 Diese Einteilung und besonders die Dreiteilung der unterschiedlichen Zustände im Sinne von unterschiedlichen Stufen war in antiken Konzeptionen der Ethik sehr verbreitet, zu erinnern ist an die Dreiteilung der Stände in Platons Staat hinsichtlich der Tugenden und der damit verbundenen Aufgaben. Aristoteles unterschied das Genussleben, das Leben im Dienste des Staates und das Leben des Philosophen.36 Beiden gemeinsam ist die Zurückführung der unterschiedlichen Zustände auf die Aktivitäten und Tugenden der Seele.37 Während bei Platon und Aristoteles der Gedanke der Veranlagung zu einer bestimmten Lebensform prägend war, bei der man blieb und die man zu vervollkommnen suchte, wurden die unterschiedlichen ethischen Zustände in der Folgezeit in einen individuellen Weg integriert, den das einzelne Individuum in seiner ethischen und spirituellen Entwicklung durchläuft. Philon sprach öfters von den drei unterschiedlichen Wegen zur Tugend: durch Lernen (μ)θησις oder σοφ*α τε κα περιέπων, πειδ το στ τος ρC, στ σαν χει κα τν περ ατ προθυμίαν· Vgl. auch Gr. Naz, Baptis. 13 (PG 36, 373C) wo er zwischen Sklaverei, Lohnarbeit und Kindschaft als drei unterschiedlichen Zuständen unterschied, wobei der erste Zustand aus Angst das Gute tue, der zweite aus Gewinnsucht und der dritte um des Vaters willen. 34 Vgl. die breite Auslegung in Cant. 15 (GNO VI, 549,4–468,4 L.). 35 Inscript. Psal. I,1,8 (GNO V, 26, 19–29 D.). In abgewandelter Form beschrieb Gregor diese Schritte etwas später als Lösung von dem Bösen und dem Materiellen, die Unterscheidung der erhabenen Dinge und zuletzt als Formung von Christus in den Menschen durch die Tugenden. Vgl. Inscript. Psal. II,11,134 (GNO V, 116,14–25 D.). 36 Arist., EN I,3 (1095b). 37 Auch die Stoiker unterschieden gemäß der Darstellung von Diogenes Laertius drei verschiedene Lebensformen, eine praktische, eine theoretische und eine vernunftgemäße, welche vorzuziehen sei. Vgl. D. L., Vitae VII,130.

1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt

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διδακτ(), durch natürliche Veranlagung (φσις) oder durch Einübung (σκησις).38 Die unterschiedlichen Typen ordnete er den drei Patriarchen Abraham, Isaak und Jakob zu. Bei Plutarch dagegen sind die drei Elemente der natürlichen Anlagen, des Lernens und Übens untrennbar verbunden.39 Bei den Neuplatonikern war der Weg zur Tugend nicht durch unterschiedliche moralische Orientierungsmuster oder verschiedene Seelenverfassungen gekennzeichnet, sondern durch die zunehmende Reinigung von allem Weltlichen. Plotin und Porphyrius beschrieben einen spirituellen Weg des Subjekts von einer dem Irdischen zugewandten Lebensweise zu einer ganz auf das Geistige ausgerichteten Lebensweise.40 Bei Plotin erscheinen sowohl die unterschiedlichen Gesinnungen oder seelischen Verfassungen als bleibende Kennzeichen einer Existenzform als auch integriert in eine Entwicklung des Menschen von einer niederen zu einer höheren Verfassung. Dieses Konzept illustrierte er anhand eines Bildes: Die einen Menschen seien wie schwere Vögel und blieben ihr Leben lang dem Sinnlichen verhaftet und fänden darin Gut und Schlecht. Eine nächste Gruppe erhebe sich etwas vom Boden und dem Materiellen und wende sich dem Schönen zu, falle aber immer wieder in das Irdische zurück und sehe in dem praktischen Leben die Tugend verwirklicht, also in den Kardinaltugenden oder bürgerlichen Tugenden, wie Plotin sie auch nannte, sowie in den Wissenschaften. Die letzte Stufe nannte Plotin die Gottbegnadeten oder Philosophen, welche sich bis über die Wolken in die Luft erheben und alles Irdische für gering achten.41 Der Philosoph werde vom Eros getrieben und gehe vom Leiblichen über das Sittliche bis zum Ersten, das noch über der Schönheit der Seele liege, indem seine Schönheit aus sich selbst heraus und nicht durch etwas anderes schön sei und erst dort ende sein Streben. Die Philosophen nehmen gemäß Plotin den abgestammten Platz des Menschen, seine Heimat im Bereich des Geistigen ein.42 Gemäß Plotin mäßigt die Seele in einem ersten Schritt ihre Leidenschaften, strebt aber durch weitere Reinigung die Lösung von allen Leidenschaften an und löst und reinigt sich im Aufstieg von dem Schmutz und den Leidenschaften, welche die Verbindung mit einem Körper mit sich bringen und findet so ganz zu sich selbst und ihrer ursprünglichen Göttlichkeit zurück, die sie durch den Blick auf sich selbst wahrnimmt und so in sich selbst zur Schau des Guten 38

Vgl. Phil., De somniis I,167; De Abrahamo 52; De vita Mosis I,76. Plu., De liberis educandi 2A. 40 Plot., Enn. V,9,1–2; Porph., Sent., 32. 41 Enn. V,9,1,1–2,3. Ähnlich beschreibt auch Alcinous im Prolog zu seinem Handbuch des Platonismus das philosophische Streben. Vgl. Alcin., Didasc. 1,2; Bei Plu., Quomodo quis suos in virtute sentiat profectus, steht zwar der Fortschritt in der Tugend im Zentrum der Diskussion, er entwickelt dabei aber kein gestuftes Schema für die einzelnen Punkte, anhand derer man den eigenen Fortschritt abmessen könne. 42 Plot., Enn. V,9,2,4–2,7. 39

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

und Schönen gelangt.43 Der Fortschritt wird bei Plotin insbesondere in der immer weiter fortschreitenden Loslösung von allem Weltlichen und der vertieften Erkenntnis gesehen. Mangelnde Kenntnis oder die Fixierung auf falsche Güter sind der Grund dafür, dass die einen Menschen nicht weiter fortschreiten. Die Orientierung an falschen Maßstäben wie Vergeltung wird dagegen nicht explizit thematisiert. Plotins Systematisierung und Betonung des spirituellen Wegs wurde wie auch Plotin selbst unter den Christen vor Gregor kaum bis gar nicht rezipiert, dagegen war der allgemeine platonische Aufstiegsgedanke in den ethischen Konzepten sehr präsent.44 Die platonische Konzeption eines spirituellen und sittlichen Aufstiegs des Menschen prägte die Fortschrittskonzepte christlicher Theologen, besonders diejenigen der platonisch (wie auch stoisch) geprägten Alexandriner Clemens von Alexandria und Origenes, die sich für die Verbindung des Platonismus mit der biblischen Tradition teilweise auf Philon stützten.45 Bei Clemens zeigt sich das Schema in der Anordnung seiner Schriften als Protrepticus, Pädagogus und die Stromata (anstelle der nicht wie geplant entstandenen Schrift des Didascalus). Sein Vollkommener wird als Gnostiker betitelt (γνωστικός) und zeichnet sich durch Weisheit und Erkenntnis Gottes aus, die jedoch auch ethisch in mannigfacher Weise Folgen hat.46 Inhaltlich besteht der Fortschritt bei Clemens einerseits in der 43

Plot., Enn. I,2,1; Plot., Enn. I,6,7,7f.; Enn. I,6,9,8; Enn. VI,9,9. Vgl. auch Porph., Abst. I,31,1. Wichtig ist die Bildhauermetapher (Enn. I,6,9) und das Bild von dem Gold und der Schlacke (Enn. I,6,5). Sowohl Porphyrius als auch Plotin sprechen davon, dass die Seele die Kleider, welche die Leidenschaften und Sinneswahrnehmunen symbolisieren, abziehen müsse. 44 Zur Plotinrezeption im Christentum vgl. J. RIST, Plotinus and Christian Philosophy, in: The Cambridge Companion to Plotinus, hrsg. v. L. P. Gerson, 386–413. 45 Vgl. dazu besonders die Arbeiten von W. VÖLKER, Das Vollkommenheitsideal des Origenes. Eine Untersuchung zur Geschichte der Frömmigkeit und den Anfängen christlicher Mystik (BHTh 7), Tübingen 1931; DERS., Fortschritt und Vollendung bei Philo von Alexandrien. Studie zur Geschichte der Frömmigkeit (TU 49,1), Leipzig 1938; DERS, Der wahre Gnostiker nach Clemens Alexandrinus (TU 57), Berlin 1952; Ders., Gregor von Nyssa als Mystiker, Kapitel 3; J. M. MURDOCH, Teleological Perfection in the Thought of Clement and Origen, Miami University 1989; E. OSBORN, Clement of Alexandria, Cambridge 2005. 46 Zum Gnostiker vgl. etwa Str. II,19,97,1; Str. II,20,103,4; Str. IV,3; Str. IV,5,19,2–3; Str. IV,21,130,1–2; Str. IV,22; Str. IV,25,161,1; Str. V,1,1,1; Str.VII,3,13,2; Str. VII,7,35,3; Str. VII,14,84,1. In den von Clemens überlieferten Excerpta ex Theodoto, Exzerpte aus dem Werk eines unbestimmbaren valentinianischen Gnostikers namens Theodot, findet sich eine Einteilung in drei unterschiedliche Naturen von Menschen, die entsprechend den Nachkommen Adams Kain, Abel und Seth zugeteilt sind, die irrationalirdischen, die nach dem Ebenbild, κατ4 εκονα seien, dann die rationellen und gerechten, die gemäß der Ähnlichkeit, καθ4 μο*ωισν seien, und zuletzt die pneumatischen, die κατ4 δ*αν seien. Vgl. Clem., Excerpta ex Theodoto 54,1. Philo sprach in De gigantibus 13 von

1. Die Fortgeschrittenen und der Fortschritt

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Ablegung des Lohndenkens und andererseits in der Ablegung all dessen, was den Menschen im Sinnlichen hindert und der Erkenntnis Gottes.47 Origenes zeigte anhand der unterschiedlichen Schriftsinne die verschiedenen Gruppen von unterschiedlich fortgeschrittenen Christen auf. Der Literalsinn oder fleischlichen Sinn sei für die einfachen Gemüter, dem etwas Fortgeschrittenen oder Aufgestiegenen ( ναβεβηκJς) entspreche der pneumatische Sinn und den Vollkommenen der geistliche Sinn, je nachdem ob die Menschen sich mit materiellen, psychischen oder geistigen Angelegenheiten beschäftigten.48 Gregor legte in der Auslegung des Lebens des Moses dar, dieser habe zuerst alle weltlichen Ehren und Reichtümer für gering geachtet und sich stattdessen der Tugend verschrieben, danach habe er seinen Körper und seine Seele gereinigt, sich der Erkenntnis Gottes zugewandt und erkannt, dass dieser über jeder Erkenntnis steht um. Alles was er sich an Erkenntnis über Gott und das gute Leben angeeignet hatte, habe er schließlich an sein Volk weitergegeben. Neben der moralischen Urteilsfähigkeit ist der Fortschritt verbunden mit der Erkenntnis und Unterscheidung des Guten, mit einer entsprechenden Lebensweise, welche sich in der Reinheit der Seele zeigt, aber auch mit einer immer intensiver werdenden Beziehung zu Gott. Umschrieben wird dies bei Gregor als eine Lösung aus dem Vergänglichen und den Leidenschaften. Gemeint ist aber nicht eine Weltflucht wie bei Plotin, sondern die richtige Einschätzung der Dinge und ihres Wertes im Hinblick auf die Glückseligkeit und das Heil und insbesondere die Beziehung des Menschen zu Gott. 1.3.

Fortschritt als Rückkehr zu Gott

Der Prozess des Fortschreitens wird bei Gregor und anderen Christen in Anlehnung an platonische Modelle als Aufstieg beschrieben und hat die Funktion, den ursprünglichen heilen Zustand wieder zu erreichen, der durch eine Form von Fall verloren gegangen ist. Gregor beschreibt den Fortschritt darum auch als Rückkehr.

den Menschen, welche von der Erde herstammten, von denen, welche vom Himmel herstammten und denen, die von Gott abstammten. Er erläuterte, dass die irdischen Menschen sich weltlicher Dinge erfreuten, die himmlischen beschäftigten sich mit der Wissenschaft und die göttlichen seien als Priester und Propheten über der menschlichen Gesellschaftsordnung stehend. In Leg. alleg. III, 49,144 erklärte Philon den Unterschied zwischen dem Fortschreitenden und dem Weisen damit, dass der Fortschreitende Metriopathie anstrebe, der Weise jedoch Apathie. 47 Clem., Str. IV,22,135. 48 Vgl. Or., princ. IV,2,4.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Das Ziel und die Vollendung dieses Weges aber ist die Rückkehr in den ursprünglichen Zustand, was nämlich nichts anderes ist als die Angleichung an das Göttliche … ebenso wie die Vollendung des erwarteten Lebens die Glückseligkeit ist.49

Die Zielsetzung des Fortschrittes geht nicht darauf aus, dass der Mensch moralisch immer besser wird und daher von einem absoluten Fortschritt ausgegangen werden könnte, vielmehr ist bei Gregor wie bei seiner Umwelt bezeichnend, dass der moralische oder ethische Fortschritt dem Fall oder der Deszendenz gegenüber gestellt wird. Nachdem eine Minderung des ursprünglich guten, heilen Zustandes oder des goldenen Zeitalters, eingetreten ist, dient der ethische Fortschritt der Rückkehr zu diesem ursprünglichen Zustand. Die Bestimmung und das Ziel (τ.λος) des Menschen war in einem ursprünglichen oder idealen Zustand der Menschheit in einem goldenen oder paradiesischen Zeitalter verwirklicht und ging dann verloren.50 Dieser vollkommene und heile Zustand wird bei Gregor in der Schöpfungs- und Paradiesgeschichte der Genesis dargestellt. Während im metaphysischen Mythos der Platoniker der Fall in einem Abgleiten der Seele in die Sphäre des Körperlichen angesiedelt ist die Rückkehr als Wiederaufstieg der Seele in das rein Geistige konzipiert ist, ist bei den jüdisch-christlichen Konzepten wie demjenigen Gregors im Fall Adams exemplarisch dargestellt, welchen Zustand den Menschen idealerweise kennzeichnet und was seine faktische Konstitution ist.51 Die Geschichte von der Schöpfung, dem heilen Urzustand und dem Fall wird bei Gregor nicht historisch ausgelegt sondern ätiologisch. Sie beschreibt den idealen und vollkommenen Zustand des Menschen und stellt Mort. 14 (GNO IX, 51,16–18.23-24 H.):  δ" σκοπ ς κα τ πέρας τς δι τούτων πορείας % πρ ς τ ρχαον ποκατάστασις, περ οδ"ν >τερον 2 % πρ ς τ θεόν στιν μοίωσις. … οτω κα τς ζως τ μ"ν προσδοκώμενον πέρας μακαριότης στίν. Vgl. auch Eccl. 1 (GNO V, 295,9–16 A.). 50 Die Konzeption der Minderung des Zustandes der Menschheit seit seiner Erschaffung war verbreitet, vgl. U. B IANCHI / H. CROUZEL (Hg.), Arché e Telos. L’antropologia di Origene e di Gregorio di Nissa. Analisi storico-religiosa. Atti dell colloquio Milano, 17–19 maggio 1979, Milano 1981; P. P ISI, Genesis e Phtorá. Le motivazioni protologiche della virginità in Gregorio di Nissa e nella tradizione dell’enkrateia, Roma 1981. 51 Dabei gibt es auch bei der Falls- und Wiederaufstiegsgeschichte Ähnlichkeiten mit dem Mythos des Timaeus (41d–44d) vom Fall der Seele in die materielle Welt und ihrem Wiederaufstieg oder dem noch tieferen Absinken, es ist aber nicht dieselbe Geschichte. Die Motivierung der moralischen Entwicklung durch einen ursprünglich heilen Zustand war sehr bekannt, auch in Ovids Metamorphosen ist der ursprüngliche Zustand, das goldene Zeitalter, zugleich das Ziel der Vollendung. Die metaphysische und narrative Einbettung der Ethik in eine Geschichte von Fall und Wiederaufstieg hatte hingegen weniger Bedeutung in stoischen oder peripatetischen Konzeptionen des ethischen Fortschritts. Diese Schulen sahen die Aufgabe des ethischen Fortschritts in der Erfüllung der menschlichen Natur und ihrer spezifisch rationalen Fähigkeit. Vgl. Alex. Aph., Ethica problemata 23 (143,21–25); Arius Did., Epitome 6e. 49

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dar, wie es dazu gekommen ist, dass der Mensch sich nicht mehr in diesem Zustand befindet und den Fortschritt und die Rückkehr zum Ur- oder Idealzustand notwendig macht. Trotz der ätiologischen Deutung hatte diese Form von Geschichte für das christliche Selbstverständnis immense Bedeutung, es gab dem Leben und Handeln Sinn und Bedeutung in der umfassenden Geschichte Gottes mit den Menschen. Wer sich um ethischen Fortschritt bemühte, sah sich in eine Allianz mit Gott genommen, der an ihm seinen ursprünglichen Schöpfungswillen verwirklicht. Die treibende Kraft in diesem Prozess der Rückkehr oder des Fortschreitens wird von Gregor wie von den Platonikern52 im erotischen Verlangen nach der göttlichen Schönheit und Güte gesehen, wobei Gott als das Schöne die Seele anziehe und an seiner Schönheit teilhaben lasse.53 Der Mensch verspürt durch die geistige und gottebenbildliche Konstitution seiner Seele ein Verlangen nach Gott und danach, sein Leben nach diesem Guten und Schönen zu gestalten.54 Aber jedes Begehren richtet sich nach dem Schönen und wird zu jenem Aufstieg gezogen. In ewigem Lauf bewegt streckt es sich auf das Schöne hin aus. Und dies ist wahrhaftes Sehen Gottes: Niemals eine Sättigung im Begehren zu finden sondern dass der Sehende notwendigerweise durch das was er zu sehen vermag immer aufs Neue im Begehren entflammt, noch mehr zu sehen.55 52

Vgl. Pl., Symp. 3,2 (210a–212c); Plot., Enn. VI,5,9; Enn. VI,9,9. Gegen DANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, 199–208, der die Agape als Treibkraft nennt. Daniélou ist aber zuzustimmen, dass die Bedeutung der Erkenntnis zugunsten der Liebe abgewertet wird, vgl. ebd., 143. 54 Das Gute wird bei Gregor regelmäßig mit dem Schönen bezeichnet, was wiederum ein Ausdruck der Prägung durch platonische Begriffe und Vorstellungen ist. Zur Konzeption des Schönen bei Gregor vgl. A. CAPOSCQ, Schönheit Gottes und Schönheit des Menschen. Theologische Untersuchung des Werkes In Canticum Canticorum von Gregor von Nyssa aus der Perspektive des Schönen und des Guten (RSTh 55), Frankfurt am Main 2000. Caposcq legt großen Wert auf die Bildersprache Gregors, die gerade in der Auslegung des Hohelieds auch sehr dominant ist. Vgl. dazu auch F. DÜNZL, Braut und Bräutigam. Die Auslegung des Canticum durch Gregor von Nyssa (BGBE 32), Tübingen 1993. Leider wertet Caposcq die Bedeutung der sinnlichen und körperbetonten Bilder in ihrer Wirkung auf die Adressaten, deren Reaktionen und innere Bilder sowie hinsichtlich der von Gregor intendierten Übertragung auf das geistige Leben kaum aus. Die Untersuchung zu den Predigten über die Liebe zu den Armen hat meines Erachtens gezeigt, dass Gregor sehr bewusst mit seinen Beschreibungen und seiner Bildersprache innere Bilder bei seinen Adressaten weckte und die durchgängige Ansprache der Adressaten als Sinneswesen im Kontext des Aufrufs zum geistigen Leben ist auffällig und interessant. 55 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 116,15–20 M.): 3λλ πσα πρ ς τ καλ ν % πιθυμία, % πρ ς τν νοδον κείνην φελκομένη, ε τ δρόμ! το πρ ς τ καλ ν εμένου συνεπεκτείνεται. κα τοτό στιν ντως τ δεν τ ν Θε ν τ μηδέποτε τς πιθυμίας κόρον ερεν. λλ χρ πάντοτε βλέποντα, δι’ Zν στι δυνατ ν ρν, πρ ς τν το πλέον δεν πιθυμίαν κκαίεσθαι. Vgl Beat. 4 (GNO VII,2, 121,16–21 C.); Cant 1 (GNO VI, 19,4–13 L.): der begehrliche Seelenteil soll wachsen, um das Streben nach dem 53

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Die Anziehungskraft Gottes deutete Gregor allerdings nicht nur in dem platonischen Modell als immanente Anziehungskraft des Schönen, welches das ihm Ähnliche im Menschen nach dem Prinzip Gleiches zu Gleichem anzieht, sondern für Gregor war damit ein aktiver Heilswille Gottes verbunden. Gott bemühte sich aus seiner Liebe, die Menschen wieder zu sich und in eine Beziehung zu ihm zu bringen. Das Fortschreiten ist nicht nur im Sinne des platonischen Streben nach dem Schönen in der Anziehungskraft von Gleichem zu Gleichem56 gedeutet, sondern auch als die Entwicklung der persönlichen Beziehung von Gott und Mensch im Heilsgeschehen, in dem Gott aktiv den Menschen zu sich zu ziehen versucht und dazu auch seinen Sohn sendet. Der Mensch entgegnet darauf, indem er sich der Liebe Gottes öffnet und sich von ihr anziehen lässt. Das Ziel des ethischen Fortschritts ist einerseits die Verbesserung der Lebensweise, noch grundlegender aber ist die Ausrichtung auf das Gute und eine Rückkehr in die Beziehung zu Gott, auf den sich das Streben der Fortschreitenden richtet. Der Aufstieg wird zugleich zur Rückkehr zu Gott und der ,himmlischen‘ Lebensweise, die nicht nur durch die Reinheit der Lebensführung gekennzeichnet ist, sondern insbesondere dadurch, dass der Mensch sich wieder an Gott orientiert und in ihm den Maßstab des Guten erkennt. Das Modell mit den klar unterteilbaren Zuständen der ethischen Entwicklung, wie es sich bei Clemens und Origenes aber auch Euseb noch findet, wird bei Gregor abgelöst durch die Konzeption eines offenen Prozesses.57 Das Drei-Stufen-Modell ethischer Entwicklung wird wesetzt

Guten zu verstärken; Cant. 13 (GNO VI, 383,6–9 L.). Zur Funktion des erotischen Triebes in Gregors Hoheliedkommentar vgl. M. LAIRD, Under Solomon’s Tutelage: The Education of Desire in the Homilies on the Song of Songs, in: Re-Thinking Gregory of Nyssa, hrsg.v. S. Coakley, Oxford 2003, 77–95. 56 Zur Anziehung von Gleichem zu Gleichem vgl. bei Gregor Or. catech. 5 (GNO III,4, 17,11–16.20–25 M.). Die Lehre, dass Gleiches durch Gleiches erkannt werde, war in der Antike äußerst verbreitet. Joseph Barbel verweist in seinem Kommentar auf Pl., Ti. 2,2,5 (45b–d) und Aristoteles, De sensu 2. Vgl. Gregor von Nyssa, Die große katechetische Rede. Oratio catechetica magna, eingeleitet, übersetzt und kommentiert von J. BARBEL, Stuttgart 1971, 109 Anm. 67; M. E SPER , Der Mensch: Ein Turm – keine Ruine. Überlegungen zum Denkprinzip Gleiches zu Gleichem bei Gregor von Nyssa, in: DROBNER / K LOCK, (Hg.), Studien zu Gregor von Nyssa und der christlichen Spätantike (SVigChr 12), Leiden 1990, 83–97. 57 Gegen den Versuch von DANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, 17–23 und SMITH, Passion and Paradise, 152–170, den spirituellen Fortschritt bei Gregor in ein Dreierschema zu bringen. Smith spricht von purgation, illumination / contemplation and unification / mystagogy und verweist damit wie auch Daniélou die ethische Herausforderung auf die unterste Stufe. Gregor ging aber davon aus, dass die Lebensführung und der Glauben oder die Gottesbeziehung immer weiter vertieft werden. Erst nach dem Tod fällt

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durch ein Modell der Entwicklung das sich in eine unendliche Anzahl von Schritten aufteilen lässt und nicht auf einen bestimmten Weg zur Erfüllung der menschlichen Bestimmung begrenzt wird. Gregor zufolge gibt es unterschiedliche Formen und Wege zur Tugend und Vollkommenheit.58 In der Auslegung der Seligpreisungen stellt jede Sprosse einen neuen Schritt zu größerer Vollkommenheit dar und in der Auslegung des Hohelieds erklärte Gregor, dass beim Fortschreiten keine feste Reihenfolge der erreichten Stufen bestehe. In der Auslegung des Lebens des Moses gipfelte Gregors Einsicht darin, dass es nicht nur verschiedenen Möglichkeiten des Aufstiegs gibt, sondern dass auch die Anzahl der Stufen unendlich ist.59 Darum sagen wir auch, dass der große Moses immer besser wurde und nie anhielt in seinem Aufstieg und keine Grenze fand in seinem Weg nach oben, sondern, als er die Leiter betrat, auf welcher Gott ist, wie Jakob sagt, hielt er nie, die darüber liegende Stufe zu erklimmen und von der erlangten Stufe fand er immer noch einmal eine darüber liegende Stufe.60

Der Aufsteigende entdeckt beim Aufstieg, dass es immer noch eine weitere darüberliegende Stufe gibt, die erreicht werden kann und die Beziehung und Ausrichtung auf Gott immer noch weitere Vertiefung erlaubt. Es sind weder drei Stufen noch sechs, es sind unendlich viele. Das Streben nach dem Guten und nach Gott kommt nie zu einem Abschluss. Durch das Gesagte weiß ich nun, dass etwas gesucht werden muss, das zu finden ewiges Suchen bedeutet. Das Suchen ist nämlich nicht etwas von dem Finden Unterscheidbares, sondern der Lohn der Suche ist selbst ein Suchen.61 die Lebensführung weg. Das Dreierschema lässt sich ansatzweise in De vita Moysis finden, aber nicht in der Auslegung der Seligpreisungen und andern Schriften. 58 Vgl. Inscript. Psal. I,2,16 (GNO V, 29,10–12 D.); Inscript. Psal. I,3,17 (GNO V, 29,23–30,4 D.); Cant. 9 (GNO VI, 271,16–18 L.: πειδ τοίνυν ο μονοειδής τίς στιν οδ" μονότροπος % κατ’ ρετν πολιτεία); Cant. 15 (GNO VI, 459,7–460,2 L.).und auch Iamb., De vita Pythagorica 8 erklärte, es gebe gemäß Pythagoras unterschiedliche Tugenden für die verschiedenen Lebenssituationen. 59 Cant. 15 (GNO VI, 459,7–460,2 L.). 60 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 113,3–9 M.): Δι τοτό φαμεν κα τ ν μέγαν Μωϋσέα ε μείζω γινόμενον μηδαμο Eστασθαι τς νόδου μηδέ τινα ρον αυτ ποιεσθαι τς π τ νω φορς, λλ’ παξ πιβάντα τς κλίμακος [ πεστήρικτο  Θεός, καθώς φησιν Wακώβ, εσαε τς περκειμένης βαθμίδος πιβαίνειν κα μηδέποτε ψούμενον παύεσθαι δι τ πάντοτε ερίσκειν τς κατειλημμένης ν τ ψει βαθμίδος τ περκείμενον. Vgl. auch De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 88,13–24 M.); Cant. 6 (GNO VI, 174,16–20 L.) Diese zusammenfassende Übersicht über die schon bewältigten Stufen und dann der Verweis auf die darüber liegende Stufe erscheint immer wieder als Motiv in der Lebensbeschreibung des Mose genaus so wie in der Auslegung des Hohelieds und zeigt einen Aufstieg, dessen einzelne Stufen vielfältig sind. Vgl. auch Or., princ. IV,3,14,(26). 61 Eccl. 7 (GNO V, 400,20–401,2 A.): γνων τοίνυν δι τ ν ερημένων, περ ζητσαι χρή, ο: % ερεσίς στιν ατ τ ε ζητεν. ο γρ λλο τί στι τ ζητεν κα λλο τ

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Noch grundlegender formulierte er in der Schrift über die christliche Vollkommenheit, dass die Vollkommenheit darin bestehe, nie in dem Streben aufzuhören. Denn darin besteht warhaftig die Vollkommenheit: niemals stehen zu bleiben im Wachstum und die Vollkommenheit mit keiner Grenze zu beschränken.62

ερίσκειν, λλ τ κ το ζητσαι κέρδος ατ τ ζητσαί στι. βούλει κα τν εκαιρίαν μαθεν, τίς  καιρ ς το ζητεν τ ν κύριον; συντόμως λέγω· 62 De perf. (GNO VIII,1, 214,4–6 J.): ατη γάρ στιν $ς ληθ ς τελειότης τ μηδέποτε στναι πρ ς τ κρεττον αξανόμενον μηδέ τινι πέρατι περιορίσαι τν τελειότητα.

2. Vervollkommnung als Tugend Gregor schrieb viele seiner Schriften mit dem Ziel, den Adressaten ein gutes christliches Leben nahe zu bringen und darzustellen, wie sich eine Annäherung an dieses Ziel gestalten könnte. Das Fortschreiten in Glauben und Lebensgestaltung und das damit verbundene Ziel eines ethisch verantworteten Lebens werden bei Gregor in Übereinstimmung mit den Philosophen mit dem Leitkonzept der Tugend beschrieben.1 Dabei gebrauchte er meistens den Ausdruck, dass er den Weg zum tugendhaften Leben oder allgemein den Weg zur Tugend aufzeigen wolle. Paradigmatisch steht die Suche nach der Tugend als Ziel der Auslegung des Ecclesiastes. Die Lehre dieses Buches schaut allein auf die kirchliche Lebensgestaltung, durch sie wird jemand, wenn er ein tugendhaftes Leben aufrichten will, darin angeleitet.2

Die Frage nach der Tugend als ethische Leitfrage konzentriert sich auf ein konkretes Individuum und dessen Lebensgestaltung. Sie will aufzeigen, wie ein Mensch sich verhalten muss, um ein gutes Leben zu leben. In der antiken Ethik wurde das gute Leben nicht nur als ein nach ethischen Grundsätzen verantwortetes Leben verstanden, sondern als Leben, das durch die Verwirklichung der eigenen Bestimmung objektives Glück er-

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Virg. Prolog (GNO VIII,1, 247,1–2 C.); De prof. christ. (GNO VIII,1, 130,21–131,1 J.); De perf. (GNO VIII,1, 173,1–2; 181,20–182,2; 192,15–20; 196,14–15 J.); Inscript. Psal. I,2,15 (GNO V, 29,2–3 D.); Inscript. Psal. I,7,72 (GNO V, 50,23–25 D.); Eccl. 1 (GNO V, 280,1 A.); Cant. 1 (GNO VI, 18,3–7 L.); Cant. 3 (GNO VI, 90,1–2 L.); Cant. 9 (GNO VI, 271,16–18 L.); Eccl. 3 (GNO V, 333,18 A.). Diese Liste ließe sich fast beliebig verlängern, vgl. auch FERGUSON, Some Aspects, 319 Anm. 1. Konstantinou, der sich eingehend mit der Tugendlehre Gregors beschäftigt hat, nennt die Tugend eines der zentralen Themen Gregors: „Die Arete bildet eines der zentralen Themen im Lehrgebäude Gregors von Nyssa, dem er sich mit besonderer Liebe widmete, wenn er auch nicht den Versuch machte, eine systematische Tugendlehre zu entwickeln. In keinem anderen Mittel als in der Tugend erblickt der kirchliche Philosoph die Möglichkeit der Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen, der Nachahmung der göttlichen Harmonie in der Seele des Menschen und schließlich die Reinigung der Seele, durch welche ihre, durch die Sünde verdunkelte göttliche Schönheit wieder aufleuchtet.“ K ONSTANTINOU, Tugendlehre, 7. 2 Eccl. 1 (GNO V, 279,20–280,2 A.): % δ" το βιβλίου τούτου διδασκαλία πρ ς μόνην βλέπει τν κκλησιαστικν πολιτείαν, δι’ Zν ν τις τ ν ν ρετ- κατορθώσειε βίον, τατα φηγουμένη.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

reicht.3 Die ethisch relevante Frage ist daher, wie das Leben als Ganzes glücken kann und damit sein Ziel erreicht. Das Ziel des tugendhaften Lebens besteht in der Glückseligkeit.4

Gregor fragte in Übereinstimmung mit der antiken Ethik danach, wer der Mensch ist und worin sein Glück und sein gutes Handeln besteht.5 Im Zentrum des ethischen Denkens standen darum nicht einzelne Handlungen und ihre Beurteilung, sondern die Frage danach, wie der Mensch seine Fähigkeiten am besten verwirklicht und welche Charakterdisposition ihn zu einem geglückten Leben befähigt.6 Die Tugend ist mehr als eine Anzahl guter Handlungen, sie ist eine kontinuierliche Haltung oder Charakterdisposition, welche längerfristig das gute Handeln garantiert und die Verwirklichung des menschlichen Potentials ermöglicht.7 3

Vgl. ANNAS, The Morality of Happiness, 27: „In ancient ethics the fundamental question is, How ought I to live? Or What should my life be like?” Vgl. auch C. C. W. T AYLOR, Platonic Ethics, 49f., in: S. EVERSON, Ethics (Companion to Ancient Thought 4), Cambridge u. a. 1998, 49–76. 4 Inscript. Psal. I (GNO V, 26,11 D.): τ.λος το κατ4 ρετν β*ου μακαριτης στ*ν. Vgl. zum Begriff der μακαριτης als Ziel christlicher Tugenden unten, II.2.2. Christliche Tugenden in der Auslegung der Seligpreisungen. 5 Vgl. EVERSON, Ethics, 1: „Whereas modern moral philosophers were still largely wrestling with the competing merits of utilitarian and ‘deontological’ accounts of moral action, the key notions in ancient ethics were rather those of virtue and eudaimonia … More generally, whilst modern moral philosophers focused on question of how to determine the right action in any given circumstance, the ancients were primarly concerned with issues of character and the evaluation of a person’s life considered as a hole.“ Vgl. auch A. MACINTYRE, Geschichte der Ethik im Überblick. Vom Zeitalter Homers bis zum 20. Jahrhundert, aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans-Jürgen Müller (orig: A Short History of Ethics. A history of moral philosophy from the Homeric age to the twentieth century, New York 1966), Weinheim 31995, 84: „Die philosophische Ethik der Griechen unterscheidet sich von der späteren Philosophie der Moral auf eine Weise, die den Unterschied zwischen der griechischen und der modernen Gesellschaft spiegelt. Begriffe wie Pflicht und Verantwortung im modernen Sinn treten nur keimhaft oder beiläufig in Erscheinung; im Mittelpunkt stehen Gutsein, Tüchtigkeit, und Klugheit. Die Funktionen dieser Begriffe sind durch einen wesentlichen Unterschied bedingt. Allgemein gesprochen fragt die griechische Ethik: „Was soll ich tun, damit es mit gut geht?“ Vgl. auch G. B IEN, Art. Ethik II: Griechisch-römische Antike, 408f., in: TRE 10, 408–423. 6 Seit einigen Jahren bemühen sich zeitgenössische Ethiker, die Tugendethik gegenüber der seit der Aufklärung dominierenden Pflichten- oder Prinzipienethik und dem Utilitarismus stark zu machen. Zur neuen Diskussion um die Tugendethik, die durch eine wahre Flut von Veröffentlichungen in den letzten Jahren gekennzeichnet ist, vgl. S. DARWALL (Hg.), Virtue Ethics (Blackwell Readings in Philosophy 10), Malden 2003; Devettere, Introduction to Virtue Ethics; K. P. RIPPE / P. SCHABER (Hg.), Tugendethik, Stuttgart 1998. 7 ANNAS, The Morality of Happiness, überschreibt das erste Kapitel zu den „Basic Ideas“ mit „Making Sense of My Life as a Whole“. Vgl. auch Clem., Paed. I,101,2 (GCS

2. Vervollkommnung als Tugend

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Die Zielsetzung der Glückseligkeit richtete sich nicht einfach nach dem, was die Menschen gemeinhin als wichtige Elemente des Glücks bezeichneten, sondern setzte sich kritisch mit den menschlichen Bedürfnissen auseinander. Die Philosophen bestimmten daher das Glück des Menschen oftmals gegenläufig zu den üblichen Vorstellungen eines glücklichen Lebens, das sich durch Faktoren wie Reichtum, Macht und Luxusgüter auszeichnete. Umstritten war in den unterschiedlichen philosophischen Schulen, inwiefern die Tugend nicht nur notwendig für das Glück der Menschen sondern auch hinreichend sei. Die Ansicht der Stoiker,8 die sich dabei auf Sokrates bezogen,9 allein die Tugend mache die Glückseligkeit aus, wurde in der peripatetischen, teilweise auch in der platonisch-akademischen Tradition und bei Epikur ergänzt durch äußere Güter wie Reichtum und Ansehen oder Gesundheit.10 Bei Gregor kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Der Mensch kann nur glücklich werden und seine Bestimmung erfüllen, wenn er durch den richtigen Glauben in das Heilsgeschehen eingebunden ist. Insofern für Gregor der christliche Glaube die verbindliche Antwort auf die Fragen nach der Bestimmung des Menschen und damit nach der Tugend bot, fragte er danach, wer der Christ ist und was das gute christliche Leben ist. Die Antwort darauf lieferte ihm die Bibel. Ich habe deinen Auftrag o Mann Gottes, der meinen Eifer gleichermaßen erfreut wie den deinen, mit großer Freude begrüsst und mich den Psalmüberschriften zugewandt. Du hast mir auferlegt, in diesen den Sinn, der darin zu finden ist, genau zu untersuchen, so dass in allen ihr Vermögen, zur Tugend zu führen, offenbar wird.11

12, 150,27f.): % ρετ ατ δι)θεσις στι τς ψυχς σμφωνος τ λογ! περ λον τ ν β*ον; Vgl. dazu auch S. LILLA, Clement of Alexandria. A Study in Christian Platonism and Gnosticism (OTM), Oxford 1971, 61–64. 8 Die Stoiker unterschieden bei den Adiaphora zwischen Dingen, die vorzuziehen sind, weil sie naturgemäß sind wie Gesundheit oder Ehre und Dingen, welche abzulehenen sind weil gegen die Natur, wie etwa Krankheit oder Schande, und solchen, welche ganz und gar gleichgültig sind. Vgl. D. L., Vitae VII,105; Arius Did., Epitome 7a–d (42, 31–46,36). 9 Ob Sokrates dieser Meinung war, wird kontrovers diskutiert, vgl. T AYLOR, Platonic Ethics, 58. 10 Arist., EN I,9f. (1099b). Zu den Platonikern vgl. ANNAS, Platonic Ethics, 40–51; LILLA, Clement of Alexandria, 68–72. Für Alcin., Didasc. 27, war die Tugend allein relevant für die Glückseligkeit. Gemäß Annas ist die schon bei Platon feststellbare Position, Tugend sei ausreichend für die Glückseligkeit, unter den Mittelplatonikern verstärkt worden. 11 Inscript. Psal. I,1 (GNO V, 24,1–6 D.): Oδεξάμην σου τ πίταγμα μετ προθυμίας πάσης, I νθρωπε το θεο, κατ τ +σον μοί τε κα σο τν σπουδν χαριζόμενον, κα

προσέσχον τας τ ν ψαλμ ν πιγραφας. τοτο γρ %μν πέταξας διερευνήσασθαι τν νθεωρουμένην ταύταις διάνοιαν, $ς πσι γενέσθαι δλον τ δι τούτων %μς πρ ς

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Die Bibel bietet für die Christen Unterweisung und Anschauungsmaterial für das geglückte und tugendhafte Leben.12 Da die Tugend für Gregor das umfassende Konzept des guten und geglückten Lebens darstellte, könnte man alle folgenden Kapitel dem Kapitel Tugend unterordnen. Sowohl die Verhältnisbestimmung zwischen Körper und Geist als auch die Verwirklichung der Tugend in der Erziehung der Affekte und der körperlichen Triebe werden von Gregor als Formen von Tugend verstanden. Da diese unterschiedlichen Aspekte der Tugend bei Gregor jedoch teilweise in sehr unterschiedliche Problemhorizonte mit je eigenen Fragen führen, sind sie hier als eigene Themenkreise dargestellt und behandelt. 2.1.

Tugend als Verwirklichung der menschlichen Bestimmung

Die Bedeutung des Konzepts der Tugend zeigt sich darin, dass Gregor damit die umfassende Frage verband, wer der Mensch ist und wie er seine Bestimmung erreichen kann. Erste Schritte zur Tugend hatte Gregor schon in den kleinen Gemeindepredigten dargelegt, wo er sich vor allem zu sozialen Problemen geäußert hatte. Die wichtigste Bestimmung der Tugend in den Gemeindepredigten bestand darin, von bestimmten defizienten Verhaltensweisen Abstand zu nehmen, welche einem Menschen nicht würdig sind und war damit negativ gefasst, als Abwesenheit oder Abkehr von allem Übel. Der erste Zugang zum Guten ist die Abkehr von seinem Gegenteil, dadurch geschieht die Teilhabe am Besseren.13

ρετν δηγσαι δυνάμενον. Vgl. auch Eccl. 1 (GNO V, 279,20–280,2 A.): Der Ecclesiastes ist auf das Leben der Kirche ausgerichtet und zeigt das tugendhafte Verhalten auf. 12 Vgl. dazu den Prolog in Cant. (GNO VI, 5,11–16 L.), wo Gregor die allegorische Auslegung als Anleitung für die Lebensgestaltung verteidigte: Die ganze, von Gott inspirierte Schrift sei für diejenigen, welche sich mit ihr beschäftigten, ein Gesetz. Nicht nur durch die offensichtlichen Gebote sondern auch durch die geschichtlichen Ausführungen unterrichte sie die verständig Herangehenden in der Erkenntnis der Geheimnisse und in einer reinen Lebensführung. $ς πσαν τν θεόπνευστον γραφν νόμον ε ναι τος ντυγχάνουσιν, ο μόνον δι τ ν φανερ ν παραγγελμάτων λλ κα δι τ ν στορικ ν διηγημάτων παιδεύουσαν πρός τε γν σιν τ ν μυστηρίων κα πρ ς καθαρν πολιτείαν τος πιστατικ ς παΐοντας. Vgl. auch Eccl. 6 (GNO V, 373,11–13 A.): λείπει τ γν ναι π ς ν τις κατ’ ρετν βιτερον 2 Θεο μετέχει· διότι ατός στιν % παντελς ρετή· Vgl. De vita Moys. 1 (GNO VII,1, 3,17–21 M.)· τι πν γαθ ν ταυτο φύσει ρον οκ χει, τ- δ" το ναντίου παραθέσει ρίζεται, $ς % ζω τ θανάτ! κα τ φ ς τ σκότ!·κα πν λως γαθ ν ες πάντα τ τος γαθος κ το ναντίου νοούμενα λήγει. „Weil alles Gute gemäß seiner Natur keine Begrenzung hat – begrenzt

2. Vervollkommnung als Tugend

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Das vollkommene Gut, das ganz sich selbst ist und durch nichts Böses oder Naturwidriges gemindert wird, ist das, was die Tugend als Idealzustand aussagt. Gregor leitete aus dieser vollkommenen Güte Gottes auch seine Unendlichkeit ab, da nichts ihn einschränkt oder sein Wesen vermindert. Die Unendlichkeit Gottes besagt somit dasselbe wie seine Tugend, es ist der Zustand vollkommener Übereinstimmung von Sein und Sollen, wo nichts die Verwirklichung oder Aktualisierung der Natur verhindert. Jede Möglichkeit zum Bösen ist eliminiert und das Gute unangefochten und unbegrenzt. Die Untersuchung von Ekkehard Mühlenberg zur Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa 57 hat in den letzten Jahrzehnten eine rege Diskussion ausgelöst, wie die Unendlichkeit Gottes bei Gregor zu verstehen sei und inwiefern er sich mit dieser Definition grundlegend von der philosophischen und metaphysischen Tradition vor ihm unterschied, da Mühlenberg Gregors Bestimmung der Unendlichkeit Gottes als Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik verstand und als neuartige Konzeption bestimmte, was Widerspruch und Modifikationen von unterschiedlicher Seite hervorgerufen hat.58 Die Unendlichkeit Gottes wird bei Gregor im Rahmen einer negativen Theologie bedeutsam. Über Gottes Wesen kann nichts ausgesagt werden, da Gott vom menschlichen Geist nicht erfasst werden kann, denn Gott ist nicht in den Kategorien von Raum und Zeit fass- und bestimmbar noch sonst durch irgendwelche Bestimmungen begrenzt. Gott lässt sich durch Begriffe nicht fassen, er steht über ihnen.59 Neben der Frage, auf welche Traditionen Gregor sich gestützt hat, ist die Frage, wie diese Unendlichkeit zu verstehen sei, unterschiedlich diskutiert worden. Die zwei Hauptinterpretationsmöglichkeiten bestehen in einer potentiellen oder einer aktuellen Unendlichkeit, wie Aristoteles diese in seiner Physik dargestellt hatte.60 Die potentielle Unendlichkeit meint, dass Gottes Wesen sich immer weiter entwickelt und nie zu einem Ende

wird aber durch das Gegenteilige, wie das Leben durch den Tod und das Licht durch die Dunkelheit und überhaupt alles Gute dort zu seinem Ende kommt, wo das den Gütern Gegenteilige wahrgenommen wird.“ Vgl. auch Eccl. 7 (GNO V, 406,17–407,11 A.): das Gute ist das Gegenteil des Schlechten, das keine eigentliche Existenz hat; Contra Eun. (GNO I, 77,7–10 J.). 57 MÜHLENBERG, Unendlichkeit, besonders Teil 2, 89–205. Vgl. auch V. E. F. HARRISON, Grace and Human Freedom, 24–60; L. SWEENEY, Divine Infinity in Greek and Medieval Thought, New York 1992; W. ULLMANN, Der logische und der theologische Sinn des Unendlichkeitsbegriffes in der Gotteslehre Gregors von Nyssa, in: Bijdragen. Tijdschrift voor filosofie en theologie 48 (1987), 150–171. Umfangreiche neuere Literaturangaben zur Frage der Unendlichkeit finden sich bei BÖHM, Theoria – Unendlichkeit – Aufstieg, 108–198. 58 Voraus ging 1963 die unpublizierte und daher kaum rezipierte mir nicht zugängliche Dissertation von J. E. HENNESSY, The Background, Sources and Meaning of Divine Infinity in St. Gregory of Nyssa, Diss. Fordham University, New York 1963. 59 Beat. 3 (GNO VII,2, 104,11–26 C.); Contra Eun. II (GNO I, 361,3–22 J.); Cant. 8 (GNO VI, 246,5–10 L.). Vgl. auch ZEMP, Grundlagen, 14. Vgl. Or., princ. IV,26. 60 Arist., Physica, 200–207 (aktuell und potentiell: 206a,14–18); 266f. Vgl. B ÖHM , Theoria, 131–134; 142f.; 157–163.

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kommt, also Sein im Werden ist.61 Die aktuelle Unendlichkeit dagegen meint, dass Gott aktuell ein in keiner Art und Weise beschränktes Wesen ist, das die menschlichen Kategorien der Sprache und des Verstehens übersteigt.62 Da Gott für Gregor über jeden Wandel und jede Veränderung erhaben ist und gerade dies den unüberwindbaren Graben zwischen Schöpfer und Geschöpf darstellt, ist eine unendliche Entwicklung Gottes für Gregors Verständnis ausgeschlossen. In der Unterscheidung zwischen der für Gottes Wesen postulierten Unendlichkeit und dem Erkenntnis- und Nachahmungsprozess des Menschen werden jedoch beide Formen der Unendlichkeit wichtig, da das menschliche Streben nach der Erfassung und Nachahmung Gottes in dem potentiellen Sinn unendlich ist, dass der Mensch immer noch eine weitere Tiefe oder einen höheren Grad der Vollkommenheit und der Erkenntnis Gottes erreichen kann, dieser ihm also potentiell unendlich erscheint, während Gott sich gleichzeitig nicht verändert, sondern eben eine aktualisierte Form der Unendlichkeit aufweist.63 Dasselbe gilt für die Tugend. Die Tugend ist für den Menschen potentiell unendlich, er findet immer noch eine weitere Stufe oder Vertiefung der Tugend, in Gott hingegen ist sie vollkommen aktualisiert und damit aktuell unendlich. Die Unendlichkeit und Unfassbarkeit Gottes wurde für Gregor in der Auseinandersetzung mit Eunomius zur zentralen Bestimmung Gottes, welche er gegen dessen Betonung der γεννησ*α Gottes hervorhob und mit den vielen Namen und Bestimmungen Gottes in der Bibel verband, die alle nur Mittel seien um über Gott zu reden, die Gott jedoch nie in seinem ganzen Wesen erfassen könnten. Die Unendlichkeit des trinitarischen Gottes, welche keine Abgrenzungen zulässt, hielt Gregor gegen die drei distinkten und untereinander abgestuften Wesenheiten mit ihren distinkten Wirkungen bei Eunomius. Die Diskussion um den Gottesbegriff führte Gregor aber schon in der Auseinandersetzung mit Eunomius auch auf die ethische Ebene. Gegen Eunomius wendete Gregor die Unendlichkeit des ersten Gutes auf das unendliche Streben und die unendliche Teilhabe an dem Guten an.64 Wie Böhm zu Recht klargestellt hat, müssen Funktion und Bedeutung der Konzeption der Unendlichkeit in den ethischen und den dogmatischen Schriften aber je für sich untersucht werden. Die Schlussfolgerung Heines, in der Lebensbeschreibung des Moses spiegle sich in der Verwendung des Begriffs der Unendlichkeit die Auseinandersetzung mit Eunomius, ist zu kurz geschlossen.65 Schon in den frühen Schriften zeigt sich

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Vgl. ULLMANN, Der logische und der theologische Sinn, 156. Vgl. B ÖHM, Theoria 134, potentielle Unendlichkeit des menschlichen Aufstiegs, 164; HARRISON, Grace and Human Freedom, 29–34. Harrison unterscheidet die göttliche Unendlichkeit in ihrer Unwandelbarkeit von der wandelbaren in den geschaffenen Wesen, ohne von aktueller und potentieller Unendlichkeit zu reden. 63 Contra Eun. (GNO I, 77,1–7.19f. J.) Sohn und Geist haben keine Grenze in ihrer Güte und was keine Grenzen hat, ist unendlich. 64 In der Diskussion um die Unendlichkeit Gottes bei Gregor wird immer wieder diskutiert, inwiefern der ethische Begriff der unendlichen Vollkommenheit Gottes im Streit mit Eunomius gegen dessen Bestimmung des γ.ννητος als der grundlegenden Bestimmung der göttlichen Ousie entstanden sei, so etwa vertreten von HEINE, Perfection in the Virtuous Life, 190–197. Dagegen hat sich explizit B ÖHM, Theoria, 144–147, gewandt. Die Unendlichkeit Gottes habe in den ethischen Fragestellungen ihr eigenes Profil und sei nicht einfach der antieunomianischen Polemik zuzuordnen. 65 B ÖHM , Theoria, 144–147. HEINE, Perfection, 8. Gemäß Heine hat Gregor sich gleichzeitig mit den Origenisten und Eunomius auseinandergesetzt und die Unendlichkeit Gottes und das unendliche Streben nach Vollkommenheit gegen den Abfall der Seelen 62

2. Vervollkommnung als Tugend

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das Anliegen einer ständigen Fortentwicklung im Guten auch ohne dass er von einem unendlichen Prozess spricht oder diesen mit der Unendlichkeit Gottes begründet, beides Elemente, die tatsächlich erst durch die Klärungen in der Auseinandersetzung mit Eunomius Bedeutung gewinnen.

Der Unendlichkeit Gottes entspricht auf der ethischen Ebene die Unendlichkeit des Strebens nach der Tugend: das Streben nach dem unendlichen Gott wird selbst zu einem unendlichen Streben. Genauso wenig, wie der Mensch die Vollkommenheit Gottes erreichen kann, kann er je aktuelle Vollkommenheit und damit Tugend erreichen. Die Verwirklichung der menschlichen Bestimmung vollzieht sich in einem unendlichen Prozess, bei dem der Mensch die Beziehung zu Gott immer vollkommener in seinem Lebensvollzug verwirklicht und die von Gott in seiner Natur angelegten Güter zum Vorschein bringt. Da das erste Gut von Natur aus unendlich ist, ist notwendigerweise auch die Teilhabe an dem Genuss unbegrenzt. Sie nimmt immer noch mehr auf und findet über das schon Aufgenommene noch etwas darüber Hinausgehendes, ohne ihm jemals gleich werden zu können. Denn die Teilhabe an diesem kommt nie an eine Grenze und hört nie zu wachsen auf.66

Die Unendlichkeit des Strebens nach Tugend nimmt eine zentrale Rolle in der Lebensbeschreibung des Moses ein. Im Prolog erklärte Gregor, er befinde sich in einer Verlegenheit, da er dem Wunsch des Adressaten, das vollkommene Leben vor Augen zu führen, nur bedingt erfüllen könne, da die Vollkommenheit weder im Geiste zu erfassen sei noch im Leben umsetzbar.67 Bezüglich der vollkommenen Tugend gelte, dass sie sich nicht durch Grenzen bestimmen lasse, sondern unendlich sei.68 Darum könne er keine genaue Definition von dem vollkommenen Leben geben und die Vollkommenheit auch nicht im eigenen Leben aufweisen. Mit dem Fortschreiten in der Tugend stelle sich das Bewusstsein ihrer Grenzenlosigkeit ein.69 durch Übersättigung bei Origenes und dessen Konzeption eines endlichen Gottes gehalten wie auch gegen die Konzeption der Abstufungen in Gott wie Eunomius sie vertrat. 66 Contra Eun. I,22 (GNO I, 112,15–19 J.): πειδ γρ πειρον τ- φύσει τ πρ τον γαθόν, πειρος ξ νάγκης σται κα % μετουσία το πολαύοντος, σαε τ πλέον καταλαμβάνουσα κα πάντοτε ερίσκουσα το καταληφθέντος τ περισσότερον κα

μηδέποτε παρισωθναι ατ δυναμένη, τ μήτε τ μετεχόμενον περατοσθαι μήτε τ δι τς μετουσίας παυξανόμενον Eστασθαι. 67 De vita Moys. 1 (VII,1, 2,19–3,3 M.). 68 Zur Übersetzung der bei Gregor grundlegenden Begriffe πειρον und ριστον vgl. SWEENEY, Divine Infinity, 15–28. 69 De vita Moys. 1 (GNO VII,1, 3,4–4,2 M.). Gregor bezieht sich auf die für ihn grundlegende Stelle in Phil 3,13, wo Paulus sagt, dass er nicht behaupte, er habe das Heil schon ergriffen, aber er jage danach und vergesse, was er hinter sich gelassen habe und strecke sich nach dem vor ihm Liegenden aus.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Nun ist es unmöglich, das Vollkommene vollständig zu erreichen. Da die Vollkommenheit, wie gesagt wurde, nicht mit Umgrenzungen erfasst werden kann, liegt die eine Grenze der Tugend in ihrer Unbegrenztheit.70

Das Ziel des menschlichen Strebens nach Tugend ist daher nicht ein Streben nach absoluter Vollkommenheit, wie sie nur bei Gott zu finden ist, sondern das Streben danach, in der Tugend immer weiter fortzuschreiten und immer mehr der göttlichen Güter teilhaftig zu werden.71 In früheren Schriften wie der Auslegung der Seligpreisungen oder der Schrift über die Vollkommenheit sprach Gregor nicht von einem unendlichen Prozess aufgrund der Unendlichkeit Gottes, die nachgeahmt wird, aber auch von einem steten Wachsen, das keine Grenze hat.72 Nur wie kann der Mensch die Vollkommenheit anstreben oder nachzuahmen versuchen, wenn man sie aufgrund ihrer Unendlichkeit nicht erkennen und nie erreichen kann? Diesem Einwand begegnete Gregor damit, dass man zwar das Wesen Gottes nicht erkennen könne, dass man aber einige seiner Eigenschaften an seinen Wirkungen in der Welt sehen könne und diese nachahmbar seien.73 Die Unerreichbarkeit der Vollkommenheit bedeute nicht, dass sich das Streben nach Tugend gar nicht erst zu beginnen lohne. Denn auch der Weg zur Vollkommenheit erreiche ein Stück Gottebenbildlichkeit. Bei dem naturgemäß Schönen ist es so, dass – auch wenn man es nicht ganz erreichen kann – es für die Vernünftigen ein großer Gewinn ist, auch nur einen Teil zu erlangen. Es muss nun aller Eifer gezeigt werden, damit man nicht ganz aus der schon erlangten Vollkommenheit herausfällt, sondern soviel von ihr erwirbt, wie wir mit unserem Eifer erfassen können.74

Mehrmals wehrte Gregor den möglichen Einwand ab, dass das Streben nach Gottebenbildlichkeit die Fähigkeiten des Menschen überfordere. Der

70 De vita Moys. 1 (GNO VII,1, 4,16–18 M.): Οκον πορόν στι παντάπασι το τελείου τυχεν, διότι % τελειότης, καθJς ε+ρηται, ροις ο διαλαμβάνεται, τς δ" ρετς εHς ρος στ τ όριστον. π ς ο6ν ν τις π τ ζητούμενον φθάσειε πέρας οχ ερίσκων τ πέρας. Vgl auch Beat. 1 (GNO VII,2, 82,25–28 C.). 71 B ALAS, Μετουσια, 130, betont, dass die Teilhabe an den Gütern stets verbunden sei mit einem Mehr oder Weniger, die vollkommene Verkörperung des Gutes sei dagegen nur möglich bei dem, der seiner Natur nach das Gute verkörpert, also Gott. 72 De perf. (GNO VIII,1, 214,4–6 J.); Beat. 4 (GNO VII,2, 121,16–21 C.). 73 Beat. 4 (GNO VII,2 141,25–27 C.). 74 De vita Moys. 1 (GNO VII,1, 4,23–5,4 M.): π γρ τ ν τ- φύσει καλ ν, κν μ το παντ ς τυχεν δυνατ ν #, τ κα μ το μέρους ποτυχεν κέρδος ν ε+η μέγα τος γε νον χουσιν. πσαν τοίνυν πιδεικτέον σπουδν μ παντελ ς κπεσεν τς νδεχομένης τελειότητος, λλ τοσοτον π’ ατς κτήσασθαι σον ν νδον το ζητουμένου χωρήσωμεν. τάχα γρ τ οτως χειν $ς ε θέλειν ν τ καλ τ πλέον χειν % τς νθρωπίνης φύσεως τελειότης στί.

2. Vervollkommnung als Tugend

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Mensch spüre ein natürliches Verlangen nach Gott, dem er gleich sei und an dessen Güter er partizipiere. Wie nämlich dem Auge aufgrund des ihm natürlich inhärenten Sonnenlichtes in Gemeinschaft mit dem Licht kommt, und aufgrund der angeborenen Kraft das an sich zieht, was gemeinsam ist, so muss notwendigerweise auch der menschlichen Natur etwas Gemeinsames beigemischt sein, was sie zum Göttlichen zieht und aufgrund dessen sie nach dem jagt, was beiden gemeinsam ist. … In gleicher Weise war es auch notwendig, dass der Mensch, der entstanden ist, um die göttlichen Güter zu genießen, etwas Verwandtes habe, um in den Genuss zu kommen. Darum wurde er geschmückt mit dem Leben, der Vernunft und der Weisheit und allen Gütern göttlicher Majestät, damit er das Verlange habe, sich jedes von diesen anzueignen.75

Die Gottebenbildlichkeit übersteigt gemäß Gregor die menschliche Natur nicht, sondern kennzeichnet sie, da der Schöpfer den Menschen so ausgestattet hat. Das Ziel ist für Gregor nicht das Transzendieren der eigenen Natur sondern ihre Erfüllung. Wenn der Mensch sich für dieses Gute entscheide und seinen Willen auf das Gute ausrichte, so werde er darin gestärkt durch die ihm inhärente Kraft zum Guten wie auch durch die göttliche Gnade, deren Kraft bei der Ausrichtung auf das gute Ziel ihre Kraft voll entfalten könne. Folglich, wenn einer nach einer erklärenden Auslegung des Christentums fragt, so sagen wir, dass das Christentum die Nachahmung der göttlichen Natur sei. Und keiner werfe uns vor, dass unsere Rede eine Übertreibung und Übersteigung der Geringfügigkeit unserer Natur darstelle. Die Bestimmung überschreitet die Natur nicht. Wenn jemand nämlich den ersten Zustand des Menschen bedenkt, wird er durch die biblischen Unterweisungen herausfinden, dass die Bestimmung das Maß unserer Natur nicht überschreitet. Denn die erste Gestaltung des Menschen war eine Nachahmung der göttlichen Ähnlichkeit. 76

Wie jedes Lebewesen sei der Mensch so ausgestattet, dass er seiner Bestimmung gerecht werden könne. Or. catech. 5 (GNO III,4, 17,11–16.20–25 M.): καθάπερ γρ  φθαλμ ς δι τς γκειμένης ατ φυσικ ς αγς ν κοινωνί1 το φωτ ς γίνεται δι τς μφύτου δυνάμεως τ συγγεν"ς φελκόμενος, οτως ναγκαον /ν γκραθναί τι τ- νθρωπίν8 φύσει συγγεν"ς πρ ς τ θεον, $ς ν δι το καταλλήλου πρ ς τ οκεον τν φεσιν χοι. ... οτως ο6ν κα τ ν νθρωπον π τ- τ ν θείων γαθ ν πολαύσει γενόμενον δει τι συγγεν"ς ν τ- φύσει πρ ς τ μετεχόμενον χειν. δι τοτο κα ζω- κα λόγ! κα

σοφί1 κα πσι τος θεοπρεπέσιν γαθος κατεκοσμήθη, $ς ν δι’ κάστου τούτων πρ ς τ οκεον τν πιθυμίαν χοι. 76 De prof. christ. (GNO VIII,1, 136,6–15 J.): οκον $ς ν τις ρ! το χριστιανισμο τν διάνοιαν ρμηνεύσειεν, οτως ρομεν, τι χριστιανισμός στι τς θείας φύσεως μίμησις. κα μηδε ς $ς πέρογκον κα περβαίνοντα τν τς φύσεως %μ ν ταπεινότητα διαβαλλέτω τ ν λόγον· ο γρ ξέβη τν φύσιν  ρος. ε γάρ τις τν πρώτην κατάστασιν το νθρώπου λογίσαιτο, ερήσει δι τ ν γραφικ ν διδαγμάτων, τι οκ ξλθε τ μέτρα τς φύσεως %μ ν  ρος. P τε γρ πρώτη το νθρώπου κατασκευ κατ μίμησιν τς το θεο μοιότητος /ν. Vgl. auch Beat. 6 (GNO VII,2, 139,14–17 C.). 75

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Das Gesetz ist von Gott gegeben und nichts, was von Gott aufgegeben ist, ist solcherart, dass es an der Natur vorbei oder ausserhalb der Bestimmung der Tugend wäre, die irrationale Faulheit jedoch ist nicht Tugend.77

Gregor unterschied den göttlichen Gesetzgeber und die Natur, er war jedoch überzeugt, dass Gott die Naturgesetze geschaffen habe und daher die göttlichen Gebote nur das forderten, was der menschlichen Natur entspreche.78 Weil dem Menschen in der Schöpfung Anteil an den göttlichen Gütern gegeben wurde, könne er diese auch verwirklichen. Die Frage, wie sich die Gottebenbildlichkeit und die göttlichen Güter beim Menschen zeigen sollen, beschrieb Gregor in De mortuis: Die göttliche Prägung, welche sich in den Anfängen an uns zeigte, war nicht so beschaffen, dass die Eigenschaft wie von einer Gestalt oder einer Farbe war, sondern damals war auch der Mensch geschmückt mit den Eigenschaften, welche an der göttlichen Schönheit erblickt werden.79

2.1.3. Die Freiheit als Grundlage der Tugend Eines der grundlegendsten Kennzeichen der gottebenbildlichen menschlichen Natur ist – neben der Rationalität – die Freiheit. Die Bedeutung der Freiheit für die Tugend zeigt sich in einem doppelten Aspekt: sie ist Kennzeichen der menschlichen Natur und Grundlage für die die menschliche Moralität und damit notwendige Voraussetzung für die Tugend. Derjenige, welcher den Menschen zur Teilhabe an allen seinen eigenen Gütern geschaffen hat und seiner Natur die Ursachen von allem Schönen mitgegeben hat, damit ihm in beiderlei Hinsicht das Streben nach Ähnlichkeit leite, wie könnte er ihm das schönste und wertvollste der Güter vorenthalten haben, ich meine die Gnade der Freiheit und Selbstbestimmung? 80

Diese Freiheit gilt es durch die Tugend zu verwirklichen. Die Freiheit ist allerdings dasjenige Gut, das am schwierigsten zu verwirklichen ist, denn 77 Eccl. 7 (GNO V, 394,21–3 A.): λλ μν θεόθεν  νόμος, οδ"ν δ" τ ν παρ το θεο προστασσομένων τοιοτον, οHον 2 παρ φύσιν ε ναι 2 ξω το κατ’ ρετν δείκνυσθαι λόγου, % δ" λογος ργία ρετ οκ στιν. Vgl. auch Bas., Hexaem. 9,3. 78 Vgl. Or. catech. 35 (GNO III,4, 91,7–9 M.): πρ ς τοτο γρ δε πάντως πορευθναι τν φύσιν οκείαις νάγκαις κατ τν το τάξαντος οκονομίαν συνωθουμένην 79 Mort. (GNO IX, 53,16–21 H.):  δ" θεος χαρακτρ  πιφαινόμενος %μν τ κατ’ ρχς ο ποι σχήματός τινος 2 χρώματος /ν διότης, λλ’ οHς τ θεον θεωρεται κάλλος τοιούτοις καλλωπίζετο. „Daher ist es unumgänglich, dass die Natur mit der ihr eigenen Notwendigkeit ihren Weg gemäß der Ordnung geht, welche der Gesetzgeber festgelegt hat.“ 80 Or. catech. 5 (GNO III,4, 19,15–21 M.):  γρ π μετουσί1 τ ν δίων γαθ ν ποιήσας τ ν νθρωπον κα πάντων ατ τ ν καλ ν τς φορμς γκατασκευάσας τφύσει, $ς ν δι’ κάστου καταλλήλως πρ ς τ μοιον % ρεξις φέροιτο, οκ ν το καλλίστου τε κα τιμιωτάτου τ ν γαθ ν πεστέρησε, λέγω δ τς κατ τ δέσποτον κα ατεξούσιον χάριτος.

2. Vervollkommnung als Tugend

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sie ist ambivalent: sowohl das herausragende Zeichen menschlicher Verantwortung als auch der Auslöser des Falls. Die Freiheit ist sowohl der Grund für die Wahl und Verwirklichung des Guten wie auch des Schlechten. Denn als freies Wesen kann der Mensch auch das wählen, was dem Guten widerspricht, das Böse.81 Die gute Gabe Gottes, das ist die selbstbestimmte Handungsfähigkeit, ist durch die verkehrte Anwendungsweise der Menschen zu einem Instrument für die Sünde geworden … Der freie Impuls des Verstandes ist aber ungelenkt zur Wahl der Übel abgefallen und zur Ablenkung der Seele geworden, indem er sie vom Besten und Erhabensten zu den leidenschaftlichen Bewegungen der Seele heruntergezogen hat.82

Durch die Möglichkeit zur Veränderung ist die Möglichkeit zum Fall oder zur Abwendung vom Guten und der Zuwendung zum Schlechten gegeben.83 Gregor lehnte es explizit ab, die menschliche Natur für den Fall verantwortlich zu machen, denn dies würde auf den Schöpfer zurückfallen.84 Die Freiheit ist ein unüberbietbares Gut und die Sünde ist nicht durch die Freiheit bedingt sondern höchstens ermöglicht und hat mit einem falschen Verhältnis zum Körper und anderen äußeren Gütern zu tun.85 Der Wert der Freiheit überwog für Gregor das Gefahrenpotential der Abwendung von dem Guten und der Verfehlung, welche die Freiheit durch ihren Missbrauch mit sich bringt. 86 Das bedeutet, dass der Mensch die Handlungsoption hat, sich selbst das Gut zu setzen, nach dem er streben will, und das kann eine Abwendung von Gott bedeuten und die Zuwendung zu Scheingütern. Die Freiheit und Selbstbestimmung ist sowohl als Freiheit gegenüber dem göttlichen Willen verstanden als auch als Freiheit gegenüber den körperlichen Trieben und Bedürfnissen.87 Der Mensch ist in seiner Handlung weder durch das ihn prägende göttliche und geistige Prinzip noch durch das animalische festgelegt. 81

Beat. 5 (GNO VII,2, 129,16–22 C.); Eccl. 7 (GNO V, 406,17–407,5 A.). Eccl. 2 (GNO V, 301,20–22; 302,1–5 A.): τ γαθ ν το θεο δόμα, τοτο δέ στιν % ατεξούσιος κίνησις τ- διημαρτημέν8 τ ν νθρώπων χρήσει ργανον ες Kμαρτίαν γένετο … % ατεξούσιος ατη τς διανοίας ρμ παιδαγωγήτως πρ ς τν αEρεσιν τς κακίας πορρυεσα περισπασμ ς τς ψυχς γένετο π τ ν ψηλ ν τε κα τιμίων πρ ς τς μπαθες τς φύσεως κινήσεις κατασπασθείσης. 83 Hom. opif. 16 (PG 44, 185A). 84 Vgl. Or. catech. 28 (GNO III,4, 71,5–7 M.); Virg. 12 (GNO VIII,1, 299,14–16 C.: πν γρ κτίσμα θεο καλ ν κα οδ"ν πόβλητον, κα πάντα σα ποίησεν  θε ς καλ λίαν). Michel Aubineau verweist in der sehr ausführlich kommentierten SC-Ausgabe (SC 119) darauf, dass es sich um Zitate aus 1. Tim 4,4 und Gen 1,31 handelt. 85 Or. dom. 5 (GNO VII,2, 66,28–68,8 C.) Vgl. auch Epict., Moralia, 41. 86 Vgl. Eccl. 2 (GNO V, 301,22–302,8 A.); Virg. 12 (GNO VIII,1, 298,16–299,12 C.); Or. catech. 8 (GNO III,4, 34,2–17 M.); Or. catech. 31 (GNO III,4, 77,4–6 M.). 87 Zur Freiheit gegenüber Gott und der göttlichen Gnade vgl. Or. catech. 7 (GNO III,4, 28,10–20 M.). Zu der Freiheit gegnüber den körperlichen Bedürdnissen und Trieben vgl. ausführlicher unten, II.4.1. Entstehung und Funktion der Affekte. 82

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Das Böse oder die Sünde ist gemäß Gregors Interpretation ein Werk des menschlichen Geistes, der allerdings auch getäuscht werden kann. Gregor kann den Fall auch mit der Täuschung der Menschen durch den Satan begründen, der ihnen das Böse unter dem Anschein des Guten angeboten habe.88 Der Mensch hätte das Böse nicht gewählt, wenn er es erkannt hätte, er lasse sich aber häufig täuschen, nicht nur durch den Satan.89 Der Mensch kann trotzdem für den Fall verantwortlich gemacht werden, weil er nicht getäuscht worden wäre, wenn er sich an das Gebot Gottes gehalten hätte.90 In der Auslegung der Seligpreisungen scheint Gregor von der Vererbung der Sünde über die Generationen auszugehen.91 Der falsche Gebrauch der Freiheit kann sowohl in der bewussten Wahl eines scheinbaren Gutes liegen, in den meisten Fällen täuschten sich die Menschen jedoch einfach hinsichtlich des wahren Gutes und wählten daher aus mangelnder Erkenntnis das Schlechte. Die freie Wahl des Guten ist daher Gregor zufolge häufig eingeschränkt, da die meisten Menschen sich in der Unterscheidung zwischen wahren und scheinbaren Gütern regelmäßig täuschten.92 Anlass zu solcher Täuschung sind nach Gregor oft die Sinneswahrnehmungen, welche sich auf Scheingüter richten.93 Gregor legte aber größten Wert darauf, dass die Übel oder das Böse Produkte der menschlichen Freiheit und des Verstandes sind und damit Produkte der erhabensten menschlichen Fähigkeiten und nicht etwa Produkte des Körpers als dem niederen Teil im Menschen.94 Nur wo der Verstand unkritisch der Sinneswahrnehmung folge, komme es zu einer Täuschung. In diesem Zusammenhang betonte Gregor auch, dass Eva und Adam von der Schlange getäuscht wurden und sich ein wahres Gut erhofft hatten, da sie nicht vom wahren Guten abgefallen wären, wenn sie den Betrug durchschaut hätten.95 An anderen Stellen hob Gregor jedoch den korrumpierten menschlichen Willen hervor, der so auf die vergänglichen Güter fixiert sei, dass er die wahren und geistigen Güter gar nicht wolle, da sie mühsam zu erlangen seien.

88

Anim. et res. 14 (PG 46, 120C–121A). Vgl. Or. catech. 21,4–5 (GNO III,4, 56,12–57,9 M.). 90 Zur Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit des Bösen vgl. auch Arist., EN III,1–3 (1109b–1111a). 91 Vgl. Beat. 6 (GNO VII,2, 145,8–10 C.). 92 Beat. 5 (GNO VII,2, 125,8–16 C.); Eccl. 8 (GNO V, 418,8–420,18 A.); Or. dom. 5 (GNO VII,2, 67,8–68,8 C.). 93 Eccl. 6 (GNO V, 374,8–14 A.); Eccl. 8 (GNO V, 418,15–419,8; 422,4–9 A.); Or. dom. 5 (GNO VII,2, 67,8–68,8 C.). 94 Eccl. 2 (GNO V, 302,1–5 A:); Paup. I (GNO IX, 94,19–95,3 V. H.). 95 Hom. opif. 20 ( PG 44, 200C). Vgl. auch Or. catech. 21 (GNO III,4, 56,19–57,3 M.). 89

2. Vervollkommnung als Tugend

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Der freie Wille des Menschen ist dafür verantwortlich, ob der Mensch dem Übel eine Existenz verschafft oder nicht, da das Übel und das Laster gemäß Gregor seine Existenzgrundlage im menschlichen Willen hat.96 Bei diesem muss auch das Bemühen um eine Besserung ansetzen. Wenn wir nun aus freiem Willen von dem Bemühen um das Gute abfallen, sind wir wie diejenigen, welche sich vor dem Licht verschließen und von denen gesagt wird, dass sie Dunkelheit sehen. Denn im nicht Sehen ist ein Sehen von Dunkelheit. Die nichtexistente Kraft des Übels hat in denen, welche vom Guten abgefallen sind, Existenz angenommen. Diese existiert nur solange, wie wir uns ausserhalb des Guten befinden. Wenn die freie Bewegung unseres Willens von der Zuwendung zum dem, was nicht existiert, weggewandt, und dem Seienden zugewandt wird, dann hat jenes, da es in mir nicht länger Existenz hat, überhaupt keine Existenz mehr. Denn das Übel hat keine bleibende Existenz, wenn es nicht gewählt wird.97

96 Zur Willensfreiheit bei Gregor vgl. GAÏTH, La conception de la liberté chez Grégoire de Nysse; HARRISON, Grace and Human Freedom, Part II; J, O’KEEFE, Sin, π)θεια and Freedom of the Will in Gregory of Nyssa, StPatr 22 (1989), 52–59; VÖLKER, Gregor, 74–80; G. DAL T OSO, La nozione di “proairesis“ in Gregorio di Nissa: analisi semioticolingustica e prospettive antropologiche (Patrologia 5), Frankfurt am Main u. a. 1998; STRECK, Das schönste Gut, 144–182. Während viele Untersuchungen Gregor eine eigenständige Konzeption des Willens zugestehen, wird dies von O’Keefe aufgrund der Betonung des Ideals der Apatheia bei Gregor bestritten und der Schluss gezogen, dass Gregor aufgrund seiner „unwillingness to posit a sin of wanton disobedience“ nicht fähig gewesen sei „ultimately make sense neither of the Fall nor of sin.“ Dem stellt O’Keefe Augustin entgegen „armed with a ‚healthy’ introspective consciousness of sin and a sense of being radically touched by a free gift of healing grace“. Diese Beurteilung greift definitiv zu kurz und geht mit einseitigen Klischees an die Frage heran. Richtig ist allerdings die Beobachtung, dass der freie Wille für Gregor grundsätzlich bestimmt ist durch seine Rationalität, da gemäß Gregor der Mensch als rationales Wesen keine vollkommen irrationalen Handlungen vollbringt, sondern in seiner ganzen Wahrnehmung der Welt und damit auch in seinen Reaktionen immer durch seinen Verstand beeinflusst ist. 97 Eccl. 7 (GNO V, 407,6–17 A.): πε ο6ν τ ατεξουσί! τς ρμς το γαθο περρύημεν, ,σπερ ο ν φωτ μύσαντες σκότος λέγονται βλέπειν· ν γρ τ μηδ"ν βλέπειν στ τ σκότος βλέπειν· τότε % νύπαρκτος τς κακίας φύσις ν τος πορρυεσι το γαθο οσιώθη, Pτις >ως τότε στίν, >ως ν %μες ξω το γαθο Iμεν. ε δ" πάλιν %μ ν % ατεξούσιος το θελήματος κίνησις πορραγείη τς πρ ς τ νύπαρκτον σχέσεως κα συμφυείη τ ντι, κείνη μ"ν τ ν μο ε ναι μηκέτι χουσα οδ" τ ε ναι λως >ξει· κακ ν γρ ξω προαιρέσεως φ’ αυτο κείμενον οκ στιν· Vgl. auch Beat. 5 (GNO VII,2, 129,21–130,7 C.) Das Bild vom Schließen der Augen und damit der Abwendung vom Guten nahm Gregor auch auf in Virg. 12 (GNO VIII,1, 298,21–299,6 C.), Or. catech. 5f., wobei von Blindheit die Rede ist und damit nicht nur der freie Wille sondern das Kranken am Bösen angesprochen wird (GNO III,4, 17,11–16; 20,16–20; 23,21– 23 M.) und in Eccl. 5 (GNO V, 356, 6–15 A.) verwendete Gregor die Metapher LichtDunkel für Existenz und Nichtexistenz von Gutem und Übel. In der katechetischen Rede gibt Gregor den Neid als Ursprung des Übels an. Eine genaue Analyse aller wichtigen Stellen bietet MOSSHAMMER, Non-Being and Evil, 136–167.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Im Hinblick auf die Besserung des menschlichen Willens verwies Gregor auf die Angewiesenheit des Menschen auf die Gnade. Erst die göttliche Gnade ermögliche es dem Menschen, seinen korrumpierten Willen aus diesem Zustand wieder Gott und dem Guten zuzuwenden. In der Oratio dominica forderte Gregor daher in der Auslegung von „dein Wille geschehe“ die Adressaten dazu auf, Gott um die Erfüllung seines Willens zu bitten, denn der göttliche Wille und die göttliche Gnade ermöglichten es dem Menschen, die Schwäche seiner sündigen Natur zu überwinden und Platz für das Gute zu machen. In Anlehnung Röm 7,14 formulierte er: Daher sprechen wir folgendermaßen: Da dein Wille Besonnenheit ist, ich aber fleischlich bestimmt bin und unter die Sünde verkauft, werde mein Wille durch deine Kraft zum Guten befähigt.98

Gregor äußerte sich auch gegen den möglichen Einwand, durch die Freiheit habe Gott im Menschen die Neigung zum Bösen mitgeschaffen. Die Freiheit ist aber nicht nur ein Kennzeichen der menschlichen Natur, sie ist auch die Grundlage und das Kennzeichen der Tugend. Nur das kann als tugendhaft bezeichnet werden, was man frei und aus eigener Wahl tut, wofür man also verantwortbar ist. Die Bedeutung der Freiheit als höchstes Gut wird immer wieder betont und als Grundlage der Tugend hervorgehoben, wobei Gregor einen Gedankengang aufnahm, den Aristoteles in der Nikomachischen Ethik dargelegt hat.99 Aristoteles zufolge kann ein Mensch für eine Handlung nur dann verantwortlich gemacht werden, wenn sie aus freier Entscheidung gemacht wird und nicht unter Zwang oder aus Angst. Was in allem dem Göttlichen gleich gemacht worden ist, musste gewiss in seiner Natur die Freiheit und Selbstbestimmung haben, so dass die Teilhabe an den Gütern wahrhaftig Tugend sein konnte.100

Die Tugend ist dadurch charakterisiert, dass sie auf einer freien Wahl beruhen muss und das Gute um seiner selbst willen gewählt wird und nicht aus der Hoffnung auf Lohn oder der Furcht vor Strafen. Wo das richtige

98 Or. dom. 4 (GNO VII,2, 46,16–48,13 C.): δι τοτό φαμεν τι Oπειδ θέλημά σού στιν % σωφροσύνη, γJ δ" σάρκινός εμι, πεπράμενος π τν Kμαρτίαν, τ- σ- δυνάμει κατορθωθείη μοι τ γαθ ν τοτο θέλημα. 99 Arist., EN III,1 (1109b). Aristoteles grenzte diese Freiheit ab gegen Handlungen die auf äußeren Zwang hin geschehen oder aus Unkenntnis. Allerdings nannte er gewisse Formen von Unwissenheit auch selbstverantwortet. 100 Or. catech. 5 (GNO III,4, 20,2–5 M.): οκον τ δι πάντων πρ ς τ θεον $μοιωμένον δει πάντως χειν ν τ- φύσει τ ατοκρατ"ς κα δέσποτον, ,στε 7θλον ρετς ε ναι τν τ ν γαθ ν μετουσίαν. Die Freiheit als Kennzeichen des Göttlichen betonte Gregor auch in Mort. 15 (GNO IX, 54,10 H.): σθεον γ)ρ στι τ ατεξοσιον.

2. Vervollkommnung als Tugend

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aus Angst vor Strafen getan wird, hat es nicht denselben moralischen Wert, wie wenn es frei gewählt und gewollt wird.101 Die Tugend ist nämlich nicht erzwingbar, sie ist freiwillig und frei von jeder Notwendigkeit.102

Durch die Tugend hat der Mensch die Freiheit, sich selbst zu verwirklichen und zu dem zu machen, den er sein sollte, unabhängig von den konkreten Einschränkungen seiner sozialen Herkunft. So liege es in der Kraft des Menschen, sich selbst durch die Tugend ein zweites Mal zu gebären, indem er sich zum Kind Gottes mache, wie Gregor in der Auslegung des Ecclesiastes darlegte.103 Das konkrete Vorbild dieser freien spirituellen Selbstgeburt ist Jesus Christus.104 Allerdings verwies Gregor trotz Betonung der freien Wahl des Guten immer auch darauf hin, dass der Mensch nur fähig sei, das Gute zu verwirklichen, weil er die göttliche Gnade erhalte. Konkret können die Verwirklichung der Tugend und die Annahme dieser Gnade auch bedeuten, dass der Mensch sich in der Erkenntnis seiner eigenen Schwäche und Sündhaftigkeit ganz der Führung Gottes und der göttlichen Gnade überlässt und seinen Willen dem göttlichen unterordnet. Denn die Tugend soll frei von Furcht und Zwang erreicht und in freier Kenntnis gewählt werden. Die Grundlage allen Gutes ist aber die Unterordnung unter die lebensspendende Macht. Da nun die menschliche Natur durch Täuschung von der Entscheidung für das Guten abgebracht und in die Irre geführt wurde und die Wurzel für die Wahl des Gegenteiligen geworden ist, und da das Leben der Menschen beherrscht wird von allem Schlechten … ist es gut für uns zu beten, dass die Königsherrschaft Gottes über uns

101

Or. catech. 31 (GNO III,4, 76,16–22 M.). Vgl. auch Plu., Quaest. Conviv. (740d); Alcin., Didasc. 26; 31,1; Plot., Enn. II,3,9; allerdings hatte Plotin insgesamt keine Theorie des freien Willens sondern folgte eher den deterministischen Ansätzen der Stoiker. Vgl DILLON, An Ethic for the Late Antique Sage, 329–331, mit der klaren Relativierung des freien Willens bei Plot., vgl. Enn. VI,8 und III,2–3. 102 Cant. 5 (GNO VI, 160,17–161,1 L.): δέσποτον γρ % ρετ κα κούσιον κα

νάγκης πάσης λεύθερον. Vgl. Apoll. (GNO III,1, 198,1 MUELLER): τίς γρ οκ ο δεν, τι ρετ προαιρέσεώς στι κατόρθωμα; „Wer weiß nicht, dass die Tugend der erfolgreiche Umgang mit der Wahlfreiheit ist?“ und Hom. opif. 16 (PG 44, 184B); Eccl. 6 (GNO V, 379,20–22 A.); Anim. et res. 13 (PG 46, 101C); Or. catech. 31 (GNO III,4, 76,16– 77,4 M.). 103 Eccl. 6 (GNO V, 380,5–16 A.). Vgl. zur Frage der Gnade in dieser Selbstgeburt HARRISON, Grace and Human Freedom, 137, Anm. 3. Zu dieser Stelle vgl. auch. FERGUSON, Aspects, 322, der sie ebenfalls unter dem Aspekt des freien Willens diskutiert. 104 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 34,8–14 M.); Or. catech. 38f. (GNO III,4, 98,16–99,5 M.). Vgl. auch GAÏTH, La conception de la liberté, 71f.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

komme. Denn es gibt keinen anderen Weg, die schlechte todbringende Herrschaft loszuwerden als die Herrschaft der lebensspendenden Kraft über uns anzunehmen.“ 105

Die Tugend ist abhängig vom Willen. Die Herausforderung besteht darin, den eigenen Willen dem Willen Gottes unterzuordnen. Deshalb brauchen wir zur Erlangung des Übels keine Unterstützung unseres Triebes, von selbst kommt das Übel durch unseren Willen zur Vollendung. Wenn sich die Neigung jedoch zum Bessern bewegen soll, braucht es Gott, damit dieses Verlangen auch ausgeführt wird. Deshalb sagen wir: Damit dein Wille geschehe, der Enthaltsamkeit ist, – ich aber bin ein fleischliches Wesen, das in Sünde wandelt – möge mir durch deine Kraft dieser gute Wille gelingen. Das heißt Gerechtigkeit, Frömmigkeit und die Zurückweisung der Leidenschaften.106

2.1.4. Tugend als Harmonie von Körper und Geist Die menschliche Natur ist nicht nur durch die Geistigkeit und Rationalität geprägt, welche Kennzeichen der Gottebenbildlichkeit sind, sondern auch durch einen Körper und damit durch die Teilnahme an der sinnlichmateriellen Welt. Daraus entsteht für den Menschen die Aufgabe, nicht nur seinen Geist auf das Gute auszurichten, sondern diese Ausrichtung auch in seine körperliche Existenzweise zu übertragen und nicht nur in seiner geistigen sondern auch in seiner körperlichen Dimension die Tugend zu verwirklichen. 105 Or. dom. 3 (GNO VII,2, 37,19–38,7 C.): λευθέραν γρ ε ναι προςήκει παντ ς φόβου τν ρετν κα δέσποτον, κουσί1 γνώμ8 τ γαθ ν α ρουμένην· γαθο δ" παντ ς τ κεφάλαιον τ π τν ζωοποι ν ξουσίαν τετάχθαι. πειδ τοίνυν τς το καλο κρίσεως πεπλανήθη δι’ πάτης % νθρωπίνη φύσις κα πρ ς τ ναντίον γέγονε τς προαιρέσεως %μ ν % Fοπ κα παντ τ χείρονι % ζω τ ν νθρώπων κατεκρατήθη … καλ ς εχόμεθα το θεο τν βασιλείαν φ’ %μς λθεν. ο γρ στιν λλως κδναι τν πονηρν τς φθορς δυναστείαν μ τς ζωοποιο δυνάμεως φ’ %μ ν ντιλαβούσης τ κράτος. Der erste Satz entspricht den Erläuterungen von Arist., EN III,2f. (1110b–1111a). Die Betonung, dass Gott die Befreiung vom Bösen bringen muss, weil der Mensch es ohne Gott nicht erreichen kann, findet sich auch in Or. dom. 4 (GNO VII,2, 48,3–11 C.); Or. dom. 5 (GNO VII,2; 62,7–16 C.). 106 Or. dom. 4 (GNO VII,2, 48,3–11 C.). Hier kommt im Hinblick auf die Gnadenlehre eine klare Stellungnahme. Es ist die Gnade und Kraft Gottes, welche den Menschen zum Guten befähigt. Andere Stellen heben stärker den Einsatz des Menschen hervor. Bei Gregor ist das Gewicht je nach Kontext unterschiedlich gelagert. Gerade in ethischen Fragen ist es pädagogisch wichtig – und Gregor dachte und argumentierte in den Predigten oft ausgesprochen pädagogisch – den Menschen auch Mut zu machen, etwas bewirken zu können. Das Problembewusstsein, welches sich bei Augustin in dieser Problematik sehr ausgeprägt einstellt, ist noch nicht vorhanden und darum der Umgang mit dem Thema viel unbefangener. Diese Stelle zeigt jedoch, dass ein unbefangener Umgang keinesfalls gleichbedeutend mit einem fehlenden Gnadenbewusstsein oder Sündenbewusstsein sein muss. Vgl. auch MÜHLENBERG, Synergism in Gregory of Nyssa, ZNW 68 (1977), 93– 122, besonders 99–104.

2. Vervollkommnung als Tugend

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Gregor empfand wie ein Großteil seiner Zeitgenossen eine Spannung zwischen der körperlichen und der geistigen Dimension innerhalb des Menschen. Während die Gottebenbildlichkeit des Menschen sich in seinen geistigen Fähigkeiten wie der Freiheit und Selbstbestimmung zeigt, ist der Körper durch allerlei Bedürfnisse geprägt, die sich schnell zu Leidenschaften und Lastern entwickeln können.107 Aber da die menschliche Beschaffenheit eine zweifache ist, ein Zusammentreffen von einer Seele mit einem Körper, ist die Form des Lebens je in Angleichung an die in uns wahrgenommenen Elemente aufgeteilt. Das eine ist das Leben der Seele, das andere dasjenige des Körpers. Das eine ist sterblich und dem Wandel unterworfen, das andere leidenschaftslos und rein. Das eine blickt allein auf das Gegenwärtige, der Horizont des anderen dehnt sich in das Fortbestehende aus.108

Die Perspektive des Körpers und seiner Triebe ist der möglichst unmittelbare Genuss von Gütern im Jetzt, etwa durch Nahrung, Sexualität, Reichtum und Ansehen. Die Seele dagegen blickt auf beständige Güter, welche über den unmittelbaren Genuss hinausreichen und auch im Jenseits bestand haben. Diese Spannung war für Gregor die grundlegende Herausforderung in der Verwirklichung der Tugend. Da der Mensch nicht nur aus Geist und Verstand besteht, sondern auch sein Körper und seine Gefühle sein Handeln beeinflussen, besteht die Herausforderung der Verwirklichung seiner Natur in der doppelten Dimension der Vollendung von körperlicher und geistiger Lebensform. Gemäß Friedrich Preger ist diese innere Spannung im Menschen sogar das ethische Hauptproblem für Gregor.109 Dem ist insofern zuzustimmen, als Gregor in der Verwirklichung der Gottebenbildlichkeit in der doppelten Existenzweise des Menschen als körperlich-geistigem Wesen die grundlegende Herausforderung des Menschen sah. Dabei war Gregors Ziel jedoch nicht die möglichst weitgehende Ausschaltung aller körperlichen Bedürfnisse, wie Preger dies darstellt,110 107

Anim. et res. 3 (PG 46, 61B–D). Eccl. 1 (GNO V, 284,1–7 A.): λλ’ πειδ διπλ μέν στιν % το νθρώπου κατασκευή,ψυχς σώματι συνδραμούσης, μεμέρισται δ" καταλλήλως κατέρ! τ ν ν %μν θεωρουμένων τ τς ζως ε δος· λλη γρ ψυχς κα τέρα σώματός στι ζωή· % μ"ν γρ θνητ κα πίκηρος, % δ" παθς κα κήρατος, κα ατη μ"ν ες τ παρ ν βλέπει μόνον, τς δ"  σκοπ ς ες τ διηνεκ"ς παρατείνεται· 109 PREGER, Grundlagen, 11: „Der Gegensatz von Geist und Materie ist für die Gesamtanschauung Gregors von Nyssa von der weitragendsten Bedeutung.“ 110 PREGER, Grundlagen, 54: „Die Tugend ist das Gegenbild der Sünde. Hat Gregor letztere real als Sinnlichkeit charakterisiert, so fordert er für jene Abwendung von der Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt, Ertötung der π)θη, Abwerfung des Somatischen, Beschränkung auf die notwendigsten Lebensbedürfnisse, mit einem Worte mönchische Askese.“ Man findet zwar durchaus Aussagen Gregors, welche diesem Bild entsprechen, aber es gibt auch eine Vielzahl entgegengesetzter Aussagen und im Vergleich zu anderen 108

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

sondern die Harmonie und das Zusammenspiel von Körper und Geist, wobei jeder dieser Teile je seinen Beitrag leistet, dass der Mensch seine aus Körper und Geist bestehende Natur verwirklicht. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen kann sich gemäß Gregor nur durch den Körper zeigen und nicht ohne ihn. Ich untersuchte sorgfältig mein Herz darauf, auf welche Weise die Sorge für die geistigen Dinge die Bewegungen des Fleisches beherrschen können, so dass nicht die Natur sich gegen sich selbst richtet, indem der Verstand das eine wählt und das Fleisch zu etwas anderem hinzieht, sondern dass die Verstandestätigkeit das Fleisch dem vernünftigen Teil der Seele gehorsam und dienstbereit macht.111

Die harmonische Zusammenarbeit von Körper und Geist sollte sich darin zeigen, dass der menschliche Verstand die Ziele des Handelns vorgibt, da allein der Geist einen Horizont umfasst, der über das momentane vergängliche Leben hinausgeht. Indem der Geist den Körper anleitet und ordnend durchdringt, kann der Körper und damit die irrationale Materie Anteil an den göttlichen Gütern und an der ewigen Glückseligkeit der geistigen Natur gewinnen. Die Leitungsfunktion des Geistes sollte sich dagegen nicht in der Unterdrückung des Körpers und seiner Bedürfnisse zeigen, wie die Asketen dies anstrebten, sondern der Körper sollte in allem so gepflegt werden, dass er ein gutes Instrument des Geistes ist und nicht gegen diesen aufbegehrt.112 Die Vervollkommnung und der Fortschritt zeigen sich darin, dass der Mensch schrittweise die geistige und die leibliche Lebensweise verbessert und zu immer größerer Harmonie und Übereinstimmung bringt.113 Wie jener [Christus] nämlich die Trennwand der Mauer aufgelöst hat und aus den beiden [Körper und Geist] in sich selbst eine Einheit als neuen Menschen geschaffen hat indem er Frieden stiftete, so wollen auch wir nicht nur die uns von aussen bekämpfenden Kräfte zur Versöhnung bringen, sondern auch diejenigen, welche sich in uns drinnen feindlich gegenüberstehen, damit nicht länger das Fleisch durch das Begehren den Geist bekämpft und der Geist das Fleisch. Vielmehr wollen wir durch die Unterwerfung der fleischlichen Gesinnung unter das göttliche Gesetz in Frieden mit uns selbst leben, indem wir zu einem

Autoren wird sehr deutlich, wie positiv Gregor den Körper einschätzte. Zur Harmonisierung von Körper und Geist bei Gregor vgl. auch J. P. B ISHOP, Mind-Body Unity: Gregory of Nyssa and a Surprising Fourth-Century CE Perspective, Perspectives in Biology and Medicine 43,4 (2000), 519–529. 111 Eccl. 2 (GNO V, 311,17–312,1 A.): Oσκεψάμην ε % καρδία μου … πως ν πικρατεστέρα γένοιτο % τ ν νοητ ν πιμέλεια τ ν τς σαρκ ς κινημάτων, ,στε μ στασιάζειν πρ ς αυτν τν φύσιν, λλα μ"ν τς διανοίας προαιρουμένης, πρ ς >τερα δ" τς σαρκ ς φελκούσης, λλ’ $ς καταπειθ"ς κα ποχείριον ποισαι τ νοητ τς ψυχς μέρει τ τς σαρκ ς %μ ν φρόνημα. Vgl. Eccl. 6 (GNO V, 374,8–14 A.). 112 Vgl. zum Körper als Instrument der Seele Hom. opif. 4 (PG 44, 136B); 8 (PG 44, 148C); De sancto Theodoro (GNO X,1, 62,14f.). 113 De perf. (GNO VIII,1, 193,5–12; 193,20–194,3 J.).

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geeinten neuen und friedfertigen Menschen verwandelt werden und aus den zweien eins wird.114

Die Tugend als Harmonie zwischen Körper und Geist oder auch als Harmonie innerhalb der menschlichen Seele zwischen den irrationalen und den rationalen Teilen war ein wichtiges Thema im Platonismus, durch den auch das Spannungsverhältnis zwischen Körper und Geist thematisiert wurde.115 Die Platoniker konzentrierten das Problem auf die Spannung zwischen den rationalen und den irrationalen Elementen und Kräften der Seele und widmeten dem Körper wenig oder nur negative Beachtung. Während diese Spannung im Platonismus im Satz gipfeln konnte, dass der Körper das Grab der Seele sei116 und das Ziel die Befreiung von dem Körper war, sah Gregor diese Spannung positiver an und betonte die Güte und Einheit von Körper und Geist. Er teilte zwar die Beobachtung der Platoniker, dass der Geist oftmals durch den Körper belastet und von den körperlichen Leidenschaften ins Irdische gezogen werde, diesen Zustand deutete er aber als unnatürlichen Zustand und Folge des Falls. Das Ziel der Tugend in der Verwirklichung der Natur sah er nicht in der Befreiung der Seele von dem Körper sondern darin, die beiden zu ihrer ursprünglichen Einheit und Harmonie zurückzuführen. In der katechetischen Rede beschrieb Gregor den Heilsplan Gottes damit, durch die Inkarnation und die Annahme dieser beiden menschlichen Dimensionen wieder den heilsamen Zustand der Einheit zurückzubringen. Von Gott sagen wir, dass er in beide dieser Bewegungen unserer Natur gekommen ist, durch welche die Seele mit dem Körper zusammenkommt und durch welche sie sich von ihm unterscheidet, indem er sich mit beiden von diesen vermischt hat (ich meine mit dem sinnlichen und dem geistigen Teil, aus denen die menschliche Natur zusammengesetzt ist). Durch diese unsichtbare und unaussprechliche Durchdringung hat er bewirkt, dass das, was einmal vereint worden ist (Geist und Körper), in Ewigkeit als Einheit bestehen bleibt.117

114 De perf. (GNO VIII,1, 184,8–17 J.): $ς γρ κενος τ μεσότοιχον το φραγμο λύσας τος δύο κτισεν ν αυτ ες >να καιν ν νθρωπον, ποι ν ερήνην, οτω κα

%μες ες καταλλαγς γάγωμεν ο μόνον τος ξωθεν %μν προσμαχομένους, λλ κα

τος ν %μν ατος στασιάζοντας, Eνα μηκέτι % σρξ πιθυμ- κατ το πνεύματος, τ δ" πνεμα κατ τς σαρκός· λλ’ ποταγέντος το σαρκώδους φρονήματος τ θεί! νόμ!, ερηνεύωμεν ν αυτος ες >να τ ν καινόν τε κα ερηνικ ν νθρωπον ναστοιχειωθέντες κα εHς ο δύο γενόμενοι. Vgl. auch Beat. 7 (GNO VII,2, 160,18–20 C.). 115 Pl., Cra. (400c); Alcin., Didasc. 17,4; 23f.; Plot., Enn. VI,9,1; Enn. I,2,7; Porph., Sent. 27–30. Vgl. aber auch Bas., Hom. in Ps 29,6 (PG 29, 320C). 116 Pl., Cra. (400c); Grg. (493a); Iamb., Protrepticus (84);; Clem., Str. III,3,16. 117 Or. catech. 16 (GNO III,4, 48,2–9 M.): τ ν δ" θεόν φαμεν ν κατέρ1 γεγενσθαι τ- τς φύσεως %μ ν κινήσει δι’ Lς P τε ψυχ πρ ς τ σ μα συντρέχει τό τε σ μα τς ψυχς διακρίνεται,·καταμιχθέντα δ" πρ ς κάτερον τούτων (πρός τε τ ασθητόν φημι

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Durch die Harmonie von Körper und Geist wird die menschliche Natur zur Vollendung gebracht, indem der Körper der Leitung des Geistes wie ein gefügiges Instrument folgt und dadurch die göttliche Schönheit und Güte sowohl den Geist als ursprünglichen Sitz dieser Güter als auch den Körper umfasst. Gregor stellte sich die Harmonisierung von Körper und Geist und die Erkenntnis der wahren Güter als einen Lernprozess vor. Dabei sollten zuerst die Güter in wahre und scheinbare unterschieden werden und dann die Verwirklichung der wahren und der Verzicht auf die Scheingüter eingeübt werden. Die Harmonie von Körper und Geist zeigt sich auch darin, dass im optimalen Fall sowohl die geistigen wie auch die praktischen Fähigkeiten voll ausgebildet werden und zum Zug kommen. In seiner Auslegung der Psalmüberschriften beschreibt Gregor unterschiedliche Typen der christlichen Lebensgestaltung und ordnet sie einander anhand der Unterscheidung von Psalm und Lied zu.118 Der Psalm stehe für die instrumentale Musik, wohingegen das Lied mit Worten Dingen Ausdruck gebe. Während der Psalm dem Himmlischen, nicht in menschliche Gedanken und Worte Fassbaren, entspreche, bringe das Lied das Erkennbare und Weltliche zum Ausdruck. In diesen beiden Formen von Musik, sah Gregor die zwei grundlegenden Formen von tugendhaftem Leben gegeben. Der Psalm steht für das kontemplativ-intellektuelle Leben, das sich mit den himmlischen Dingen befasst, die allerdings für eine Mehrheit der Menschen nicht verständlich sind. Das Lied steht dagegen für die Lebensweise, welche sich durch gute Handlungen vor der Welt auszeichnet und insbesondere die praktische und körperliche Dimension betrifft. Dieses aktive Leben bestehe in der Tugend der gelebten christlichen Nächstenliebe, die sowohl in der Fürsorge für Arme und Bedürftige, im Engagement für die Gemeinde oder in anderen karitativen Tätigkeiten bestehen konnte. Der optimale Fall war für Gregor das Zusammenspiel von Musik und Gesang oder – auf das tugendhafte Leben übertragen – sowohl praktische wie dianoetische Tugenden zu verwirklichen, Körper und Geist zu fördern und in Einklang zu bringen.119

κα τ νοερ ν το νθρωπίνου συγκρίματος) δι τς ρρήτου κείνης κα νεκφράστου συνανακράσεως τοτο οκονομήσασθαι τ τ ν παξ νωθέντων (ψυχς λέγω κα

σώματος) κα ες ε διαμεναι τν >νωσιν. 118 Inscript. Psal. II,3,24–27 (GNO V, 75,11–76,12 D.). 119 Dieser dritte Weg, der Aktion und Kontemplation verbindet, wird auch vita mixta genannt und als dritte Möglichkeit zur vita contemplativa und der vita activa hinzugesellt. Vgl. zu den drei Wegen der Zuordnung von Praxis und Kontemplation R. JOLY , Le thème philosophique des genres de vie dans l’antiquité classique, (Classe des lettres et des sciences morales et politiques, Mémoires 51,3), Académie Royale de Belgique, Bruxelles 1956; W. VOGL, Aktion und Kontemplation in der Antike. Die geschichtliche Ent-

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2.2. Christliche Tugenden in der Auslegung der Seligpreisungen120 Besonders aufschlussreich für Gregors Bemühen, die klassischen Tugenden und das Modell des ethischen Fortschritts im christlichen Kontext neu zu deuten, ist die Auslegung der Seligpreisungen, wo Gregor den Gedanken, dass Tugend zur Glückseligkeit führe mit dem Fortschrittsgedanken verband und die Seligpreisungen als Anleitungen verstand, welche die Christen in ihrem Weg zur Tugend und zur Gottebenbildlichkeit leiteten. Jede der Seligpreisungen deutete er als Anleitung zu einer bestimmten Tugend, welche die Christen der Gottebenbildlichkeit näher bringe.121 Die Angleichung an das Göttliche wird konkretisiert als Nachahmung und Nachfolge Jesu Christi, welcher den Weg der Glückseligkeit für die Menschen eröffnet habe und vorausgegangen sei und durch die Seligpreisungen die Christen in ihrer Nachfolge anleite. Im Prolog deutete Gregor den Berg der Bergpredigt Symbol für die Erhebung Jesu Christi über die Übel des irdischen Lebens. Die Seligpreisungen seien ein Aufruf, Jesus auf diesen Berg der Geistigkeit zu folgen und durch die Tugenden schrittweise aufzusteigen.122 Zu Beginn der fünften Seligpreisung deutete Gregor diese Leiter als die Himmelsleiter, welche Jakob in seinem Traum in Bethel gesehen hat.123 Durch die Anweisungen der Seligpreisung werde es möglich, wie die Engel in Jakobs Traum zu Gott aufzusteigen. Die durch die Seligpreisungen verheißene Glückseligkeit als Ziel der Tugend ist der Zustand der Gottebenbildlichkeit und die Partizipation an Gottes Güte und Seligkeit, da Gott in erster Linie glückselig zu nennen sei. Zuerst nun muss ich sagen, was die Glückseligkeit ist, sie in ihrer Beschaffenheit untersuchen. Was ist also die Glückseligkeit? Nach meinen Überlegungen umfasst sie alles, was als Gut erkannt wird, was die Erfüllung des Begehrens nach Gutem nicht ausschließt.124

wicklung der praktischen und theoretischen Lebensauffassung bis Origenes (RSTh 63), Frankfurt am Main u.a. 2002, 503–506; 605–611. 120 Vgl. dazu den Sammelband von H. R. DROBNER / A. VICIANO, (Hg.), Gregory of Nyssa, Homilies on the Beatitudes: an English Version with Commentary and Supporting Studies: Proceedings of the Eighth International Colloquium on Gregory of Nyssa, Paderborn, 14–18 September 1998 (SVigChr 52), Leiden 2000. 121 Beat. 2 (GNO VII,2, 89,21–90,7 C.). 122 Beat. 1 (GNO VII,2, 77,4–18,24 C.). 123 Gen 28. 124 Beat. 1 (GNO VII,2, 79,28–80,1 C.): πρ τον μ"ν ο6ν ατόν φημι γJ δεν τ ν μακαρισμ ν  τί ποτέ στιν ννοσαι. μακαριότης τίς στιν, κατά γε τ ν μ ν λόγον, περίληψις πάντων τ ν κατ τ γαθ ν νοουμένων, Lς πεστι τ ν ες γαθν πιθυμίαν %κόντων οδέν.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Die Glückseligkeit, μακαριτης, ist mehr als nur Tugendhaftigkeit. Sie ist gemäß Gregor im Gegenüber zu ihrem Gegensatz der Mühsal, θλιτης, zu verstehen und meint ein Leben, das nicht nur moralisch gelungen ist, sondern auch Anlass zur Freude gibt. Die Glückseligkeit ist die Erfüllung des Strebens nach dem Guten. Die Freude entstehe dadurch, dass die Glückseligkeit in einer ständigen Erfüllung des Erstrebten bestehe, ohne dass gefürchtet werden müsse, dass diese Erfüllung je an eine Ende kommen werde. Die Sättigung führt nicht zur Abnahme sondern zur Ausdehnung des Strebens, wie gesagt wurde, beide wachsen in gleicher Weise. Dem Verlangen nach Tugend folgt die Erwerbung des Verlangten und das erlangte Gut bewirkt eine unaufhörliche Freude für die Seele.125

Dieses unendliche Streben wird aber nicht als frustrierend verstanden, so dass der Mensch immer das Gefühl hat, immer noch nicht den Zustand der vollkommenen Glückseligkeit erreicht zu haben. Vielmehr bestehe die vollkommene Glückseligkeit darin, in der Erfüllung zu sehen, dass sie sich immer weiter vertiefen lasse. Diese umfassende Glückseligkeit, welche keine Grenzen hat, zeigt sich in der Teilhabe an demjenigen, der selbst wahrhaftig selig ist. Die Teilhabe an der Seligpreisung ist also nichts anderes als Gemeinschaft mit der Gottheit, zu der uns der Herr durch seine Worte hinaufführt.126

Die Glückseligkeit, μακαριτης, als Ziel des Tugendstrebens ist in der Auslegung der Seligpreisungen durch den biblischen Text vorgegeben, es ist aber auffällig, dass Gregor generell diesen Begriff verwendete, wenn er die Glückseligkeit als Ziel des tugendhaften Lebens angab und nicht den im pagan-philosophischen Kontext vorgegebenen Begriff der εδαιμον*α.127 Die Vorliebe für den Begriff μακαριτης oder μακ)ριος, um den Glückseligen zu bezeichnen, hält sich durch. Gegenüber einer Handvoll Stellen, in denen Gregor εδα*μον / Beat. 4 (GNO VII,2, 121,16–21 C.): ή δ" πλησμον, καθJς ε+ρηται, οκ ποστροφν λλ’ πίτασιν ποιε τς ρέξεως, κα συναύξεται λλήλοις κατ τ σον μφότερα. τ- τε γρ πιθυμί1 τς ρετς % το πιθυμηθέντος κτσις πηκολούθησεν, κα τ γγενόμενον γαθ ν παυστον τν εφροσύνην τ- ψυχ- συνεισήνεγκεν. 126 Beat. 5 (GNO VII,2, 124,13–15 C.): ( ο6ν τ ν μακαρισμ ν μετουσία οδ"ν λλο ε μ θεότητός στι κοινωνία, πρ ς Sν %μς νάγει δι τ ν λεγομένων  κύριος. 127 Besonders zentral ist der Begriff bei Aristoteles in seinen beiden Ethiken, vgl etwa EN I (1097a) und in den Kommentaren zu Schriften des Aristoteles, etwa bei Alexander von Aphrodisia (Anim. libri mantissa 152,18.20.21.22) oder Themistius, aber auch bei Iamb., De vita Pythagorica 18,81,17; Clem., Paed. I,9,82,3; II,1,15,4; II,1,18,1 (ein Platonzitat); II,9,78,1; Arius Did., Epitome 6e (40,11–13 Pomeroy). Vgl. dazu R. L. WILKEN, Gregory of Nyssa, De Beatitudinibus, Oratio VIII, 244f., in: Drobner / Viciano (Hg.), Gregory of Nyssa: Homilies on the Beatitudes, 243–254. 125

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εδαιμον*α128 benutzte, steht die Masse der Stellen, in denen er von μακαριτης spricht.129 Gemäß dem patristischen Lexikon beschreiben die μακαριτης und verwandte Begriffe bei den christlichen Autoren in erster Linie den Zustand Gottes, wie sich bei Gregor schon gezeigt hat, und dann auch die Teilhabe des Menschen an dieser göttlichen Glückseligkeit, hauptsächlich nach dem Tod.130 Gregor bestimmte μακ)ριος als einen Begriff, der in erster Linie auf Gott zutrifft und erst sekundär für den Menschen.

Anhand der Glückseligkeit wird bei Gregor der Zustand beschrieben, den die Menschen durch die Zusammenkunft von göttlicher Gnade und menschlicher Tugend erlangen können. Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf Gregors Beschreibungen der für ihn relevanten Tugenden und ihre christliche Prägung. 2.2.1. Christliche Demut in der Seligpreisung der Armen im Geiste Gregor legte die Seligpreisungen der Reihe131 nach aus und begann mit der ersten Seligpreisung der Armen im Geiste. Zuerst unterschied er zwischen der materiellen Armut und der Armut im Geiste, indem er unterschiedliche 128

Paup. II (GNO IX, 123,13 V. H.); Eccl. 4 (GNO V, 340,5; 341,18 A.); Ep. 15 (GNO VIII,2, 48,22 P.); Virg. 3 (GNO VIII,1, 258,11.16 C.); Beat. 5 (GNO VII,2, 131,24 C.); De vita Greg. Thaum. (GNO X,1, 6,6f. H.); Contra fatum (GNO III,2, 42,5.11; 43,1; 44,9 MCDONOUGH = D); De creatione hominis sermo alter (GNO suppl., 66,14). 129 Der Stamm makar* hat gemäß dem Thesaurus Linguae Graece TLG über fünfhundert Vorkommnisse in Gregors Schriften, der Stamm eudaim* dagegen gerade einmal dreizehn Vorkommnisse, wobei sich vier allein in der Schrift Contra fatum befinden und eine Stelle im Sermo de creatione hominis alter, eine Schrift die Basilius zugeschrieben wird. Vergleicht man dieses Verhältnis mit anderen Autoren, so fällt auf, dass sich bei Basilius ein ganz ähnliches Verhältnis zeigt. Noch viel frappanter ist das Verhältnis bei Johannes Chrysostomus mit über zweitausend makar*-Stellen gegen 9 eudaim*-Stellen. Vergleicht man dagegen bei Plotin die Vorkomnisse, so ist das Verhältnis deutlich umgekehrt, etwas weniger deutlich aber immer noch 3:1 ist das Verhältnis bei Iamblich. Porphyrius und Plutarch benutzen beide Begriffe sehr ausgeglichen. Die ausgesprochene Präferenz für auf dem makar-Stamm basierende Begriffe ist spezifisch für die christlichen Autoren. 130 G. W. H. LAMPE (Hg.), A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961, 821–824 (μακ)ρ μακαρ*ως). Außerhalb der christlichen Autoren bezeichnete der Begriff der μακαριτης den Zustand der verstorbenen Seligen. Im Bezug auf die Lebenden bezeichnete er jenen Zustand, der nicht so sehr aus Tugendhaftigkeit als vielmehr aus Gnade erreicht wird. Sehr ausführlich ist zudem die Untersuchung zum Stamm makar bei Mann, F. MANN, Zur Wortgruppe μακαρ- in De beatitudinibus, im übrigen Werk Gregors von Nyssa und im Lexicon Gregorianum, 342, in: Drobner / Viciano, Gregory of Nyssa: Homilies on the Beatitudes, 331–358. 131 Die von Gregor verfolgte Reihenfolge der Seligpreisungen entspricht nicht mehr der heute üblichen Reihenfolge, welche die Seligpreisung der Trauernden aus textkritischen Gründen voranstellt, es ist jedoch die unter den antiken Autoren übliche Reihenfolge. Vgl. A. SPIRA, Gregor von Nyssa, De Beatitudinibus, Oratio II, 127, in: Drobner / Viciano (Hg.), Gregory of Nyssa: Homilies on the Beatitudes, 136.

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Formen von Armut definierte: eine Armut an weltlichen Gütern und eine Armut an geistigen Gütern. Dasselbe gelte für den Reichtum. Die Unterscheidung soll zeigen, welche Form von Reichtum oder Armut angestrebt werden soll. In erster Linie sei die Armut an Lastern und der Reichtum an Tugenden das Ziel, materielle Armut oder materieller Reichtum dagegen sollten von zweitrangigem Interesse sein. Der Reichtum an Tugenden wird über die Angleichung an das Göttliche erreicht. Allerdings sei eine vollständige Nachahmung Gottes unmöglich. Aber der, welcher leidenschaftslos und unvermischt ist, entzieht sich der vollkommenen Nachahmung durch die Menschen. Denn es ist dem durch Leidenschaft geprägten Leben nicht möglich, sich der leidenschaftslosen Natur anzugleichen.132

Gregor begegnete dem möglichen Einwand, dass der Mensch Gott gar nicht nachahmen oder ihm gleich werden könne mit dem Hinweis, dass Gott selbst den Menschen einen Weg aufgezeigt habe, wie er sie ihn nachahmen können, ohne seine vollkommene Apathie und Vollkommenheit zu erlangen. Wenn nun Gott allein selig ist, wie es auch der Apostel sagt, die Teilnahme an der Seligpreisung für den Menschen aber durch die Angleichung an Gott geschieht, die Nachahmung aber unmöglich ist, so ist also die Seligkeit für das menschliche Leben unerreichbar. Aber es gibt eine Möglichkeit für diejenigen, die es wollen, die Gottheit nachzuahmen. Was ist das für eine? Mir scheint, das Wort bezeichne die Armut im Geiste die freiwillige Erniedrigung … Da nun alle anderen an der göttlichen Natur wahrgenommenen Eigenschaften das Maß der menschlichen Niedrigkeit übersteigt, ist die Demut das, was unserer Natur entspricht und mit ihr verwachsen ist.133

Der Mensch müsse sich nicht in die Höhe göttlicher Majestät aufschwingen, sondern Gott habe sich zu den Menschen begeben und sich in der menschlichen Existenz erfahrbar und nachahmbar gemacht. Durch seine freiwillige Erniedrigung habe Gott sich dem Zustand der menschlichen Natur angepasst, um die Nachahmung zu ermöglichen.134 Während alle anderen Attribute Gottes Gregor zufolge die menschliche Natur übersteigen würden, sei die Demut und Erniedrigung hingegen der 132 Beat. 1 (GNO VII,2, 82,25–28 C.): λλ μν τ παθ"ς κα κήρατον κφεύγει πάντελ ς τν παρ νθρώπων μίμησιν. οδ" γάρ στι δυνατ ν πάντ8 τν μπαθ ζων μοιωθναι πρ ς τν τ ν παθ ν νεπίδεκτον φύσιν. 133 Beat. 1 (GNO VII,2, 82,28–83 C.): ε ο6ν μόνον τ Θεον μακάριον, καθJς  πόστολος νομάζει, % δ" το μακαρισμο κοινωνία τος νθρώποις δι τς πρ ς τ ν Θεόν στιν μοιώσεως, % δ" μίμησις πορος, ρα νέφικτός στιν % μακαριότης τ νθρωπίν8 ζω-. λλ’ στιν M τς Θεότητος δυνατ τος βουλομένοις πρόκειται ες μίμησιν. τίνα ο6ν στι τατα; δοκε μοι πτωχείαν πνεύματος τν κούσιον ταπεινοφροσύνην νομάζειν  λόγος … πε ο6ν τ λλα πάντα σα περ τν θείαν καθορται φύσιν περπίπτει τ μέτρον τς νθρωπίνης βραχύτητος,·% δ" ταπεινότης συμφυής τις %μν στι κα σύντροφος. 134 Vgl. dazu auch Or. catech. 24 (GNO III,4, 60,24–63,16 M.).

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menschlichen Natur eigen, da der Mensch klein und geringfügig sei und sich selbst durch Leidenschaften und Laster aus seiner ursprünglichen Gottebenbildlichkeit herab in einen Zustand der Niedrigkeit und des Elendes gebracht habe. Um diesen selbstverschuldeten, elenden Zustand des Menschen zu bezeichnen, benutzte Gregor vielfach, wenn auch nicht an dieser Stelle, den Begriff der Niedrigkeit oder Erniedrigung, ταπεινότης oder ταπε*νωσις, dem dann die Tugend der Demut oder Selbsterniedrigung entspricht, ebenfalls ταπεινότης oder aber ταπεινοφροσύνη. Das Heilmittel gegen diese dem Menschen durch den Willen zum Bösen zur zweiten Natur gewordenen Niedrigkeit werde von Gott in Jesus Christus durch die freiwillige Selbsterniedrigung vorgeführt. Es gelte nun, die der menschlichen Existenz eigene Niedrigkeit in die Tugend der Demut umzuführen. Gregor spielte dabei mit den beiden Bedeutungen von ταπε*νωσις und ταπεινφροσνη, Erniedrigung und Demut. Der sich selbst erniedrigende Christus lebte den Menschen die wahre Demut vor, die es nachzuahmen gelte. Damit sollte den menschlichen Grundlastern des Stolzes und des Hochmuts entgegen gewirkt werden, die mit der menschlichen Seele fast schon verwachsen seien und seine Existenz kennzeichneten.135 Die meisten Menschen hätten allerdings keine Einsicht in ihre Niedrigkeit und Vergänglichkeit sondern rühmten sich in aufgeblähtem Stolz ihrer Jugend, ihrer Schönheit, ihres Vermögens oder ihrer Macht. Konkret kritisierte Gregor die Arroganz und Aufgeblasenheit der Beamten, die sich weniger Begünstigten gegenüber aufspielten und ihnen Angst einjagten.136 Die Demut gehörte nicht in den klassischen Tugendkanon, mit ihr als erster Tugend wählte Gregor einen Ansatz, der deutlich christlich geprägt war, indem er die Nachahmung Gottes und die Angleichung an das Göttliche christologisch umdeutete als Streben nach Demut, welche der göttlichen Selbsterniedrigung entspreche.137 Die dem Menschen ureigenste Bestimmung gegenüber Gott sei die der Niedrigkeit und wer diese anerkenne und annehme, könne als tugendhaft bezeichnet werden. Durch seine Selbsterniedrigung hat Gott den Menschen gemäß Gregor einen Weg 135 Beat. 1 (GNO VII,2, 83,16–84,9 C.). Der von MEREDITH, Oratio I, 98, geäußerte Eindruck, dass die Demut und Erniedrigung für Gregor im Allgemeinen kaum Bedeutung habe, lässt sich leicht falsifizieren. Der Stamm tapein* hat gemäß TLG bei Gregor über zweihundert Vorkomnisse, wovon ein Großteil sich in den dogmatischen Schriften Gregor befindet und auf die Erniedrigung Gottes im Sohn verweist oder aber auf den elenden Zustand des Menschen gegenüber Gott, also ganz ähnlich wie in der Auslegung der ersten Seligpreisung. Allerdings findet sich auch der Gedanke der Nachahmung Christi durch die Demut um die ursprüngliche Gottebenbildlichkeit zu erlangen, besonders in De perf. (GNO VIII,1, 196,15–18 J.). 136 Beat. 1 (GNO VII,2, 85,21–88,6 C.). 137 Vgl. besonders die biblische Grundlage im sogenannten Philipperhymnus, Phil 2,5–11.

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eröffnet, den Graben zwischen göttlicher Hoheit und menschlicher Niedrigkeit zu überwinden. Die Tugend der Demut widersprach den antiken Grundwerten sozialer Anerkennung wie Ehre oder Ansehen. Durch die Einübung in die Demut könnten gemäß Gregor aber auch die entgegen gesetzten Laster der Hochmut und des Zornes bekämpft werden, denn wenn der Mensch sich bewusst sei, dass er keinen Grund habe, sich aufzuspielen, so gebe es keinen Grund, sich wegen möglicher Missachtung aufzuregen.138 Ähnlich gab Basilius in der Predigt gegen die Zornigen den Ratschlag, sich immer die eigene Niedrigkeit bewusst zu machen, wenn sie in Gefahr stünden, sich durch Abwertungen gekränkt oder erzürnt zu fühlen.139 Die Aufforderung zur Demut verweist auf ein altes christliches Ideal von Demut und Einfachheit, mit dem Christen sich bewusst von der Gesellschaft und ihren Werten distanzierten. Von Beginn an verstand die Kirche sich als eine Bewegung, die den traditionellen Werten der Welt wie Ansehen, Macht, Vermögen und Einfluss kritisch gegenüberstand und betonten die einfache Bescheidenheit und Demut um Christi willen.140 In einigen Gruppen, wie sie sich unter anderem in den apokryphen Apostelakten zeigen, war die Bekehrung zum Christentum verbunden mit der Forderung auf den Verzicht auf die alte Macht und die damit verbundenen sozialen Privilegien; das Vermögen sollte der christlichen Gemeinde und damit den ärmeren Gemeindegliedern zu Gute kommen. Dieser anfängliche Akt der Demut und des Verzichts auf alle angestammten Privilegien markierte den Übertritt zum Christentum. Dieser Übergang von dem alten Wertesystem basierend auf Macht, familiären Rückhalt und Vermögen zu einer christlichen Lebensweise in Armut, Demut und Gemeinschaft wird in den apokryphen Apostelakten vorgeführt.141 Dabei wurde die traditionell ethisch hoch geschätzte familiäre Moral der Oberklasse der einfachen und 138

Diesen Punkt nahm Gregor im Rückverweis auf die Demut in der zweiten Seligpreisung auf, Beat. 2 (GNO VII,2, 97,13ff. C.). 139 Bas., Adversus eos qui irascuntur (PG 31, 361D–364B). 140 Dieses Ideal der Einfachheit und Demut wird etwa im ersten Clemensbrief (1 Clem 13; 16; 17,1; 19,1) und in den Ignatiusbriefen deutlich, wo immer wieder betont wird, dass Demut und Bescheidenheit und nicht Macht und Majestät zur Gerechtigkeit führten. 141 Vgl. J ACOBS, A Family Affair, 123–138. Jacobs zufolge zeigen die Akten eine Gegenüberstellung von reichen Oberklasse-Menschen und ihrem ethischen Ideal, das durch Partnerschaft in der Ehe und Familie geprägt war, und den Aposteln und ihren Anhängern mit ihrer gemäß den Akten überlegenen, weil ehelosen Lebensweise. Für die Akten lag das christliche Ideal in einer Überbietung dessen, was man gemeinhin als hohes ethisches Ideal ansah, nämlich das eheliche Zusammenleben und die Verwirklichung ethischer Ideale in den ehelichen Gemeinschaften der Oberschicht. Vgl. dazu die Praecepta coniugalia von Plutarch. Das christliche Ideal dagegen wollte durch Enthaltsamkeit, Verzicht auf sozialen Status und freiwillige Armut zugunsten der anderen Gemeindeglieder dieses etablierte Ideal überbieten.

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gemeinschaftlichen Lebensweise der Christen gegenübergestellt, die sich nicht in der abgestammten Familie sondern in der neuen umfassenden Familie der Gemeinde Christi als Solidaritätsgemeinschaft verstand. Die Betonung der Einfachheit und Demut prägte die christliche Ethik der Apostelakten im Gegenüber zu der oft äußerst elitären Ethik der paganen antiken Gesellschaft, wo eine kleine Elite sich mit Ethik und Moralität beschäftigte und diese sich auf den Mann der Oberschicht und seine Gattin, sowie ihr Verhältnis gegenüber ihren Kindern, Abhängigen und Sklaven und die richtige Haltung gegenüber Untergebenen und Höhergestellten konzentrierte.142 In den ethischen Überlegungen dieser Elite nahm der richtige Umgang mit Machtunterschieden und Reichtum große Bedeutung ein. Reichtum, Einfluss und Macht wurden in den Anfängen des Christentums hingegen als potentiell heilsgefährdend angesehen.143 Dagegen hielten die Christen die Demut hoch und propagierten ein Ideal, das auf Gleichheit in Christus basierte, wobei besonders die Viten eine große Bedeutung einnahmen.144 Mit dem Ideal der Einfachheit, der Genügsamkeit und Bescheidenheit waren die Christen für alle Schichten offen und machten moralische Forderungen für Menschen aller Schichten relevant. Für alle sollten die gleichen ethischen Ansprüche gelten, niemand sich gemäß dieser Vorstellung auf Vermögen oder sozialen Status berufen können.145 Erkennbar sollte diese neue Gemeinschaft dadurch sein, dass sie dem Christus, dessen Namen sie trug, in der freiwilligen Demut, der Armut, der Fürsorge und der Liebe für die Menschen gleich wurde.146 Im vierten Jahrhundert war dieses Ideal nicht mehr einfach gegeben, vielmehr bemühten sich die abgesonderten Gruppen der Asketen, dieses Ideal hochzuhalten, während für die große Menge der Christen und die Strukturen der Kirche das Demutsideal zunehmend an Bedeutung verlor. Die Betonung der Demut und Einfachheit bei Gregor und anderen christlichen Autoren des vierten Jahrhunderts widerspiegelte daher nicht unbedingt die soziale und kulturelle Situation dieser Autoren, die selbst oft 142

Vgl. J ACOBS, A Family Affair, 109–123. Die Schrift Quis dives salvetur von Clemens von Alexandria sollte das Unbehagen und Misstrauen gegenüber der Zunahme reicher Gemeindeglieder besänftigen und theologisch für nichtig erklären, wenn die Reichen bereit waren, ihren Reichtum mit Sorge zu betrachten und zu teilen. 144 Paradebeispiel gemäß CAMERON, Christianity and the Rhetoric of the Empire, 112, ist die Vita Antonii. Ähnliches lässt sich auch über die Stilisierung der Macrina in der Vita von Gregor sagen. 145 Vgl. MEEKS, Origins, 47f. 146 Diese Erkennbarkeit über den Namen Christi ist auch bei Gregor noch äußerst wichtig, wie sich an den beiden Schriften über das christliche Bekenntnis und über die Vollkommenheit zeigt. 143

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aus reichen Verhältnissen stammten und wie Gregor die ganze Kraft der antiken Bildung beherrschten und einsetzten, um dieses Ideal der Demut zu verbreiten.147 Vielmehr hielten sie die Bedeutung der Demut in einer Situation hoch, in der die Kirche längst durch die soziale Elite geprägt war. Gregors Insistieren auf dem Ideal der Demut ist als Gegenbewegung zu der schwindenden Bedeutung der Demut und Einfachheit im kirchlichen Umfeld zu sehen. Diese abnehmende Bedeutung der Demut und Gregors Festhalten an ihr, allerdings in einer spiritualisierten Form zeigt sich insbesondere in seinem Brief an die Presbyter von Nikomedia, die vor der Wahl eines neuen Bischofs standen.148 Gregor setzte sich vehement dafür ein, dass nicht Vermögen oder Ansehen und Macht der Bewerber für die Wahl entscheidend sein sollte sondern die Kompetenz, der Gemeinde ein Vorbild des Glaubens zu sein und Einheit in die zerstrittene Gemeinde zu bringen. Mit der Wahl von einfachen und gläubigen Menschen sei das Christentum erfolgreich geworden, wie sich an Petrus sehen lasse, der bloß ein armer und ungebildeter Fischer war. Gregors Bestreben lag darin, den Christen das alte Ideal der Demut wieder nahe zu bringen und die Bedeutung für den Glauben aufzuzeigen. Dabei zeigt aber ein genaues Hinsehen, dass die Demut bei Gregor einer Verinnerlichung unterworfen wurde, um sie an die neue Situation anzupassen. Die Demut soll sich gemäß Gregor nicht in Armut, Mangel an Bildung und dem Leben in einer engen Kommune zeigen, wie es für die Anfänge der Kirche das Ideal war, sondern Reichtum, Bildung und Einfluss werden als willkommene Begleiterscheinungen bei einem Bischof begrüßt, wenn er zugleich die innere Demut mit sich bringt.149 Diese geforderte Demut zeigt sich in der Anerkennung der menschlichen Sündhaftigkeit und Niedrigkeit vor Gott und in der respektvollen Behandlung der Mitmenschen. Diese spiritualisierte Form von Demut beschrieb Gregor in der Lebensbeschreibung seiner Schwester Macrina. Macrina führte ihre Mutter zu der Demut, welche sie selbst schon verwirklicht hatte, indem sie sich auf dieselbe Stufe begab wie die Gruppe der Jungfrauen, mit denen sie zusammenlebte und es keine unterschiedlichen Ehrungen unter ihnen gab.150

147 Vgl. E. CLARK, Reading Renunciation. Asceticism and Scripture in Early Christianity, Cambridge / Ma. 1999, 55: „I would suggest that once ‘simplicity’ had been accepted as a prime Christian virtue, its cultivation was encouraged by and for all believers, even those who were far from ‘simple’.” Vgl. auch MARCONE, Late roman social relations, 340–344. 148 Ep. 17 (GNO VIII,2, 51–58). 149 Ep. 17,10 (GNO VIII,2, 53,22–24). 150 Vgl. De vita Macr. 11,13 (GNO VIII,1, 381,15–27 W. C.).

2. Vervollkommnung als Tugend

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2.2.2. Der Lobpreis der Sanftmut: Mäßigung der Triebe und Affekte Die zweite Seligpreisung ist den Sanftmütigen gewidmet.151 Zuerst erklärte Gregor, welche Formen von Sanftmut mit der Seligpreisung nicht gemeint seien. Sanftmut, von Gregor mit Unbeweglichkeit und Schwerfälligkeit gleichgesetzt, ist ihm in den meisten Fällen eine unerwünschte Angewohnheit, denn es gelte ja, dem Heil entgegen zu eilen, wie auch in einem Wettkampf Geschwindigkeit belohnt werde und nicht Trägheit.152 Dagegen sei die Langsamkeit gut, wenn sie sich gegen innen richte und dem menschlichen Hang zum Bösen entgegengehalten werde. Die wahre und selig gepriesene Sanftmut ist darum für Gregor die Schwerfälligkeit gegenüber den körperlichen Trieben und dem Hang zum Bösen. Dies ist aber die Sanftmut: Die Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit gegenüber den Naturtrieben.153

Die Tugend der Sanftmut ist verstanden als eine der Leidenschaftlichkeit gegenüberstehende Haltung, welche den Trieben der Natur nicht ungehindert nachgebe. Diese Haltung grenzte Gregor von einer vollkommenen Apathie ab, welche in der irdischen Existenzweise unmöglich zu erlangen sei. Da die menschliche Natur in diesem Leben nicht ganz von dem Irdischen und damit den Trieben und Leidenschaften loskommen könne, sei nicht die gänzliche Ausmerzung der Leidenschaften von Gott gefordert – denn nur ein ungerechter Gesetzgeber fordere etwas, was die Natur übersteige – sondern es reiche, im Umgang mit Trieben und Affekten Sanftmut oder Mäßigung an den Tag zu legen. Selig sind also diejenigen, welche den leidenschaftlichen Bewegungen der Seele nicht entgegengehen sondern sich durch den Verstand in rechte Ordnung bringen lassen, so dass der Verstand wie mit einem Zügel die Triebe zähmt und die Seele durch diese nicht in Unordnung gebracht wird.154

151

Vgl. dazu ausführlich SPIRA, Gregor von Nyssa, De Beatitudinibus, Oratio II, 127. Die Rede von dem Wettkampf und dem Lauf zum Ziel entspricht dem in christlichem Kontext seit Paulus und besonders auch bei den Märtyrern und später den Asketen immer wieder aufgenommenen Agon-Motiv der Stoa, wo die Einübung in der Tugend in Parallele zum Training und dem Wettkampf im Gymnasium und der Arena charakterisiert wurde. SPIRA, Oratio II, 127, verweist in seinem Kommentar zur zweiten Seligpreisung auf die parallele Argumentation im Hinblick auf Sanftmut und Ruhe als Trägheit im platonischen Dialog Charmides (159a9–160d4). Vgl. zum vollen Einsatz für die Glückseligkeit auch die letzte Seligpreisung in der Auslegung Gregors. 153 Beat. 2 (GNO VII,2, 94,24–25 C.): τοτο δέ στι πραότης, % πρ ς τς τοιαύτας τς φύσεως ρμς βραδεά τε κα δυσκίνητος >ξις. 154 Beat. 2 (GNO VII,2, 96,12–16 C.): μακάριοι τοίνυν ο μ ξύ]Fοποι πρ ς τς μπαθες τς ψυχς κινήσεις λλ κατεσταλμένοι τ λόγ!, φ’ Zν  λογισμ ς καθάπερ τις χαλιν ς ναστομ ν τς ρμς, οκ C τν ψυχν πρ ς ταξίαν κφέρεσθαι. 152

210

II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Die Sanftmut ist gekennzeichnet durch die Beherrschung der Leidenschaften und Triebe. Dabei geht es nicht um die Unterdrückung sämtlicher Leidenschaften und Triebe, sondern um ihre Mäßigung und um die damit verbundene Harmonie von Körper und Geist. Während bei den Stoikern und den Neuplatonikern das Ideal der Apathie vorherrschte, griff Gregor den Begriff auch immer wieder auf, er kennzeichnete für ihn aber in erster Linie Gott. Der Mensch dagegen könne die vollkommene Apathie genauso wenig erlangen wie jede sonstige göttliche Eigenschaft. Während die Neuplatoniker und auch Christen wie Clemens von Alexandria die Apathie als höchstes Ziel ansahen und die Mäßigung der Affekte nur als Zwischenziel betrachteten,155 kennzeichnete bei Gregor die Mäßigung das Menschenmögliche. Selig sind also diejenigen, welche nicht sofort den leidenschaftlichen Bewegungen der Seele nachgeben, sondern durch den Verstand geleitet werden, bei denen der Verstand wie ein Zügel die Triebe im Zaum hält und nicht die Seele zur Maßlosigkeit hinziehen lässt.156

Anstelle der Apathie forderte Gregor die Mäßigung und verband diese mit der als bekannt vorausgesetzten aristotelischen Definition der Tugend als das rechte Maß oder die Mitte zwischen zwei Extremen.157 Das Ziel der Tugend besteht nach dieser Bestimmung in dem rechten Maß oder der Mitte zwischen den extremen Positionen von Exzess und Mangel. Gregor nahm die Beispiele von Aristoteles auf und nannte die Tapferkeit als Mitte zwischen der Feigheit und der Tollkühnheit. Die Art und Weise, wie Gregor diese Bestimmung jeweils einführte, zeigt, dass sie im vierten Jahrhundert allgemeine Zustimmung und Verbreitung gefunden hatte. In der Lebensbeschreibung des Moses bestimmte Gregor das Verhältnis noch etwas genauer in der Abgrenzung zum Übel, das beschrieben werden könne als ein Übermaß von etwas oder einen Mangel an etwas. Die Tugend dagegen liege in der Mitte und sei sowohl vom Übermaß als auch vom Mangel frei.158 Die Reinheit der Mitte kann von Gregor auch als eine

155

Vgl. Alcin., Didasc. 29,1; Clem., Str. IV,22,138,1; Plot., Enn. I,2,5; Enn. I,6,5,27. Beat. 2 (GNO VII,2, 96,12–16 C.): μακάριοι τοίνυν ο μ ξύ]Fοποι πρ ς τς μπαθες τς ψυχς κινήσεις λλ κατεσταλμένοι τ λόγ!, φ’ Zν  λογισμ ς καθάπερ τις χαλιν ς ναστομ ν τς ρμς, οκ C τν ψυχν πρ ς ταξίαν κφέρεσθαι. Vgl. auch Eccl. 6 (GNO V, 375,4–378,5 A.) zur Mäßigung und dem rechten Maß. 157 Die Bestimmung des Tugendhaften als des Mittleren und Gemäßigten hatte über die aristotelische Schule hinaus Verbreitung gefunden und gehörte zu den Grundbegriffen antiker Ethik. Für die Platoniker vgl. Plu., Quomodo quis suos in virtutem profectus sentiat (84a) De virtute morali 6 (444c); Alcin., Didasc. 184,13f. Vgl. auch Ph., Quod Deus sit imm. 164 (2,90,22). Vgl. dazu auch, L ILLA, Clement of Alexandria, 65. 158 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 132,11–16 M.). 156

2. Vervollkommnung als Tugend

211

Festigkeit und Beständigkeit gegenüber dem Mangel und dem Exzess beschrieben werden.159 Dieses Verständnis zeigt sich besonders in Gregors Mahnungen in De virginitate, wo er das rechte Maß und einen gemäßigten Zugang zur Askese forderte, was sowohl gegen Selbstüberschätzung und Überanstrengung wie auch gegen Zaghaftigkeit oder Faulheit gut sei, weil so sowohl Überforderung als auch Unterforderung, Extremismus und Faulheit vermieden werde. Daher können sie nicht begreifen, dass jede Tugend in der Mitte gesehen werden muss und jede Abweichung vom Zugrundeliegenden ein Übel ist. Wer überall das Mittlere zwischen Nachlässigkeit und Anspannung nimmt, unterscheidet die Tugend von Übeln. 160

Für Gregor war nicht nur das Mittlere zwischen zwei Extremen wichtig, sondern vor allem das Gemäßigte, welches sich von allen Extremen fernhält und das er in der Sanftmut umschrieben sah. Anders als viele seiner Zeitgenossen sah Gregor in der Mäßigung und der Wahl des Gemäßigten das Ideal. Die Sanftmut ist wiederum eine Tugend, der in den klassischen Tugendkatalogen wenig Raum gegeben wurde. Allerdings weist Gregors Definition der Sanftmut durchaus auf eine der klassischen Tugenden hin. Die Beschreibung der Sanftmut als Mäßigung der Leidenschaften und der Triebe entspricht den bekannten Beschreibungen der σωφροσνη als der Beherrschung der Leidenschaften. Diese Tugend wurde dem begehrenden Seelenvermögens oder Seelenteil zugeordnet und zeigte sich in der Beherrschung (enkratein) der Leidenschaft oder der Lüste.161 Als Gegenteil bestimmte Aristoteles die Akolasie oder Akrasie, die streng genommen das Gegenteil der Enkratie ist.162 Der Eindruck, dass Gregor mit der Sanftmut an die σωφροσνη dachte, bestätigt sich durch eine Stelle in De professione christiana, wo Gregor die Sanftmut und die Mäßigung gleichbedeutend nebeneinander setzte.163 Dieses Miteinander der beiden Begriffe war sonst nicht üblich, ähnlich findet es sich noch bei Plutarch und bei Julian, wenn

159

Inscript Psal. II,9,103 (GNO V, 103,27–104,5 D.). Virg. 7 (GNO VIII,1, 282,25–283,2 C.): κα δι τοτο μ συνιέντες, τι πάσης ρετς ν μεσότητι θεωρουμένης % π τ παρακείμενα παρατροπ κακία στίν· φέσεως γρ κα πιτάσεως πανταχο τις τ μέσον πολαβJν τν ρετν κ τς κακίας διέκρινε. Vgl. auch Cant. 9 (GNO VI, 284,5–18 L.). 161 Vgl. Pl., Phd. (68e); D. L., V. ph. III,91 (157,16f. LONG): % δ" σωφροσύνη το κρατεν τ ν πιθυμι ν κα π μηδεμις %δονς δουλοσθαι λλ κοσμίως ζν. Die Besonnenheit ist das Beherrschen der begehrlichen Kräfte und sich nicht von den Lüsten versklaven lassen, sondern ein schön geordnetes Leben zu führen. 162 Arist., EN VII,11 (1151b). 163 De prof. christ. (GNO VIII,1, 133,13f. J.). 160

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

auch ohne der Sanftmut dieselbe herausragende Bedeutung zuzumessen wie Gregor.164 2.2.3. Die Seligpreisung der Trauernden als der Reumütigen In der Auslegung der Seligpreisung der Trauernden165 fragte sich Gregor, welche Trauer selig zu preisen sei und in welchem Sinne dieser Zustand als tugendhaft bezeichnet werden könne. Gregor warnte zuerst, dass diese Seligpreisung zynisch oder als Spott verstanden werden könne, wenn man sie so verstehe, dass das Unglück gewisser Menschen, etwa Armut oder Krankheit, selig bezeichnet werde. Diese Missdeutung geschehe dann, wenn man nur auf das Materielle achte, statt den geistigen Sinn zu suchen. Geistig gedeutet liege es nahe, die Seligpreisung auf die Trauer über die eigene Sündhaftigkeit zu beziehen.166 Gregor folgte damit einer Auslegungstradition, die sich schon bei Clemens von Alexandria in dessen Auslegung der Seligpreisungen in den Stromata findet. Das Verständnis der Trauernden als der Reumütigen über ihre Sünden sah Gregor aber nur als eine Möglichkeit unter anderen. Eine weitere Verständnismöglichkeit, die für alle Menschen gelte, leitete Gregor ab aus der als üblich vorausgesetzten Bestimmung der Trauer als dem Schmerz angesichts des Verlustes von einem Gut.

164 Plu., De virtute morali 7 (445b); Jul., Mis. 38,2; Ep. 10,12; Ep. 89b, 419. Auch bei Johannes Chrysostomus tauchen die beiden Begriffe oftmals in großer Nähe auf. In Tugendkatalogen sind auch ab und zu beide vertreten, ohne allerdings gleichgesetzt zu werden. 165 Vgl. dazu ausführlich F. V INEL, Grégoire de Nysse, De Beatitudinibus, Oratio III, in: Drobner / Viciano (Hg.), Homilies on the Beatitudes, 139–147; E. D. M OUTSOULAS, Le sens de la justice dans la quatrième homélie sur les béatitudes de Saint Grégoire de Nysse, ebd., 389–396. 166 Gregor legte die Trauernden hier in gleicher Weise wie Clemens von Alexandrien als die Reumütigen aus. Da Gregor auch in der Auslegung der Barmherzigen (im Hinblick darauf, dass Barmherzigkeit auch schon im Wünschen und Wollen stattfinden kann) und der Friedfertigen (als solche, die Körper und Geist in einen innreren Frieden gebracht haben) eine ähnliche Deutung wie Clemens vorlegte, lässt sich vermuten, dass Gregor die Auslegung von Clemens kannte, vielleicht auch indirekt über den von Origenes verfassten (verlorenen) Matthäuskommentar, wenn dieser der Auslegung von Clemens gefolgt war. J. KOVACS, Clement of Alexandria and Gregory of Nyssa on the Beatitudes, in: Homilies on the Beatitudes, Drobner / Viciano (Hg.), 311–329, die einen Vergleich von Gregor und Clemens zur Auslegung der Seligpreisungen gemacht hat, äußert sich dazu leider kaum.

2. Vervollkommnung als Tugend

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Nun scheint mir, dass das Wort nicht die Trauer selig preise sondern die Einsicht in das Gute, durch welche die Leidenschaft der Trauer darüber hinzukommt, dass im Leben das erstrebte Gut fehlt.167

Die Einsicht in das wahre Gut und sein Fehlen im menschlichen Leben würden zur Trauer führen aber auch zum Streben nach dem nicht vorhandenen Gut. Aus diesem Grund sei die Trauer als Beginn zur Besserung selig zu preisen. Die Seligpreisung der Trauernden ist wiederum nicht etwas ganz anderes als die traditionellen Tugenden und ihre Beschreibungen, wenn man sich die platonische Bestimmung der Tugend als Einsicht in das Gute und das Schlechte vergegenwärtigt. Die Ausrichtung auf das wahre Gut beschrieb Gregor in der Auslegung der Seligpreisungen mit einem Gleichnis, das starke Anklänge an Platons Höhlengleichnis aufweist.168 Bei dem Streben nach dem wahren Gut hätten nicht alle Menschen die gleichen Ausgangslagen. Sei ein Mensch in Blindheit geboren, so empfinde er die Dunkelheit nicht in der Weise, wie ein Mensch, der in einen dunkeln Kerker geworfen werde und wisse, worum er beraubt worden sei. Derjenige, der das Licht kenne, werde es, nachdem er davon beraubt wurde, danach suchen und sich in der Dunkelheit elend fühlen, während der blind Geborene nicht wisse, wie elend er dastehe.169 Die Erkenntnis des Guten spielte für Gregor eine wichtige Rolle im Streben nach der Tugend. Denn man könne nur dann in Freiheit das Gute anstreben, wenn man um seine Güte wisse. Eine gewisse Grundneigung zum Guten sei den Menschen allerdings natürlich inhärent. Unser Ziel ist es nicht, dass wir zum Streben nach dem Schönen überzeugen wollten – es liegt nämlich von selbst in der menschlichen Natur, sich auf das Erlangen des Schönen zu richten – sondern dass wir in der Beurteilung des Schönen nicht fehlen.170

Leider ließen sich die Menschen im Bezug auf wahre und beständige Güter häufig täuschen und zögen ihnen die sinnlich wahrnehmbaren und äußerlich attraktiven vergänglichen irdischen Güter vor. Damit strebten sie nach Nichtigem, nach vergänglichen Vergnügen, die nicht selten mit Leidenschaften verbunden sind und den Menschen ins Unglück stürzten. Wie die

Beat. 3 (GNO VII,2, 104,4–7 C.): οκον ο τν λύπην μοι δοκε μακαρίζειν  λόγος λλ τν ε+δησιν το γαθο, [ τ τς λύπης πάθος πισυμβαίνει δι τ μ παρεναι τ βί! τ ζητούμενον. 168 Beat. 3 (GNO VII,2, 103,15–104,7 C.). Vgl. dazu A. MEREDITH, Platos ‚cave’ (Republic vii 514a–517e) in Origen, Plotinus and Gregory of Nyssa, StPatr 27 (1993), 49–61. 169 Beat. 3 (GNO VII,2, 103,23–27C.). 170 Beat. 5 (GNO VII,2, 125,8–11 C.): %μν δ" σκοπός στιν οχ πως ν πεισθείημεν τ ν καλ ν ρέγεσθαι – τοτο γρ ατομάτως γκειται τ- νθρωπίν8 φύσει, τ πρ ς τ καλ ν πι]Fεπ ς χειν – λλ’ πως ν μ Kμάρτοιμεν τς το καλο κρίσεως. 167

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Blinden seien sie sich oft gar nicht bewusst, dass sie dabei das Eigentliche verpassten. Die Auslegung der Trauernden als der Reumütigen, zeigt gewisse Probleme auf, die Gregor mit der Reihenfolge der Seligpreisungen im Hinblick auf den Fortschritt in der Tugend hatte. Denn die Auslegung der Trauernden als die Reumütigen, welche Einsicht in ihr eigenes Elend gewonnen haben, würde eigentlich besser zu einer ersten Seligpreisung und als ersten Schritt zur Vollkommenheit passen. Das Problem, anhand des Aufbaus der Seligpreisungen eine sinnvolle Ordnung der Tugenden aufzuzeigen, wird in der Auslegung der Seligpreisungen immer wieder sichtbar.171 Das Thema der Erkenntnis des Guten wird von Gregor aber noch einmal aufgenommen und weitergeführt in der Seligpreisung derjenigen, die reinen Herzens sind. 2.2.4. Die Seligpreisung der Gerechtigkeit In der vierten Homilie zu den Seligpreisungen legte Gregor sein Verständnis von Gerechtigkeit vor. Die Gerechtigkeit gehörte in den Tugendkanones der Philosophen zu den bedeutendsten Tugenden, gemäß Platon ist die Gerechtigkeit die umfassende Tugend und damit die bedeutendste unter den Kardinaltugenden.172 Auch bei Gregor erhält die Gerechtigkeit eine hervorgehobene Stellung. Gregor erläutert, wenn der Hunger nach Gerechtigkeit selig gepriesen werde, so stehe die Gerechtigkeit für alle anderen Tugenden und es könne nicht eine fehlen, ohne dass das ihr gegenüberstehende Laster im Menschen Platz einnehme.173 Damit räumte er der Gerechtigkeit die Stellung der umfassenden Tugend zu, wie sie sich auch bei Platon findet. Was aber ist Gerechtigkeit? Hier hob sich Gregor dezidiert von dem ab, was er als das übliche Verständnis von Gerechtigkeit charakterisierte. Gerechtigkeit würde üblicherweise verstanden als distributive Tätigkeit, etwa im Verteilen von Geldern oder Privilegien, die auf Macht und Reichtum basiere.

171

Der Eindruck, dass Gregor in der Auslegung der Seligpreisung keine wirklich konsistente Stufenfolge des Fortschritts entfaltet habe, wurde schon unterschiedlich geäußert, vgl. MEREDITH, Oratio I, 109; BÖHM , Oratio V, 175. 172 Zu dieser vierten Homilie vgl. L. F. MATEO-SECO, Gregory of Nyssa, De Beatitudinibus, Oratio IV, in: Drobner / Viciano (Hg.), Homilies on the Beatitudes, 149–163; MOUTSOULAS, Le sens de la justice, ebd., 389–396. 173 Beat. 4 (GNO VII,2, 118,18–22; 119,8–13 C.). Gregors Formulierung zeigt, dass eine fehlende Tugend auf ein falsches Verhältnis gegenüber den sie konstituierenden Affekten zurückzuführen ist.

2. Vervollkommnung als Tugend

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Einige von denjenigen, die diese genau untersucht haben, sagen, dass die Gerechtigkeit eine Haltung sei, welche jedem in gleicher Weise das zuteile, was er verdiene.174

Dieses Verständnis, das einer Definition von Aristoteles entsprach, setzte Gregor als bekannt voraus.175 Das Problem eines solchen Verständnisses von Gerechtigkeit sah Gregor darin, dass damit der große Teil der Menschen automatisch von der Gerechtigkeit ausgeschlossen werde, weil sie gar nichts hätten, an dem sie ihre Gerechtigkeit zeigen könnten, weder Geld noch Macht noch Ämter. Gregor verwies mit seiner Kritik auf das Problem, dass die antike philosophische Ethik generell an ein privilegiertes Publikum der Oberschicht, an erfolgreiche junge Männer gerichtet war. Wenn nämlich gerecht zu sein darin besteht, zu herrschen oder auszuteilen oder überhaupt in einer verwaltenden Tätigkeit, ist derjenige, welcher an keinem dieser Dinge teil hat, gänzlich außerhalb des Gerechten. Wie könnte derjenige der (ewigen) Ruhe wert sein, welcher nicht über das verfügt, wodurch die Gerechtigkeit durch die meisten charakterisiert wird?176

Dieses als üblich deklarierte und leich karikierte Verständnis wird von Gregor als nichtchristlich abgelehnt. Die Kritik Gregors an diesem Gerechtigkeitsverständnis bringt Einwände gegen eine elitär ausgerichtete Ethik zur Sprache, welche von mächtigen und reichen Subjekten der Ethik und ihren Handlungsoptionen ausging. Wenn nun das Ziel des Gerechten gemäß den Bestimmungen der Nichtchristen die Schaffung von Gleichheit ist, seine Überlegenheit aber auf Ungleichheit beruht, kann die abgegebene Bestimmung der Gerechtigkeit nicht für wahr gehalten werden, da sie durch die Ungleichheit des Lebens als falsch überführt wird.177

Die Kritik richtet sich weniger darauf, dass die traditionelle Beschreibung die Gerechtigkeit nicht zutreffend definiere, sondern dass diese Definition in dem Kontext der christlichen Heilszusage nicht genügend sei, da die so definierte Gerechtigkeit nicht allen zugänglich ist. Eine christliche Definition der Gerechtigkeit dürfe nicht elitär sein und auf Ungleichheit beruhen, sondern müsse allen Menschen zur Verwirklichung offen stehen. Da die 174 Beat. 4 (GNO VII,2, 112,1–3 C.): φασ τοίνυν τ ν ξητακότων τ τοιατά τινες, δικαιοσύνην ε ναι >ξιν πονεμητικν το +σου κα το κατ’ ξίαν κάστ!. 175 Arist., EN V,5 (1131a). Die Tatsache, dass Gregor davon ausging, seinen Hörern oder eher Lesern würde dieses Verständnis von Gerechtigkeit vertraut sein, zeigt, dass er mit einem gebildeten Publikum rechnete, das mit solchen Problemen vertraut war. 176 Beat. 4 (GNO VII,2, 113,13–17 C.): ε γρ ν τ ρχειν 2 διανέμειν X τι λως οκονομεν τ δίκαιόν στιν ε ναι,  μ Dν ν κείνοις ξω το δικαίου πάντως στίν. π ς ο6ν ξιοται τς ναπαύσεως  μηδ"ν σχηκJς τούτων δι’ Zν % δικαιοσύνη κατ τ ν τ ν πολλ ν λόγον χαρακτηρίζεται. 177 Beat. 4 (GNO VII,2, 112,28–113,2 C.): ε γρ  σκοπ ς τ δικαί! κατ τος ξωθεν λόγους τ +σον στίν, % δ" περοχ τ νισον χει, οκ στι τ ν ποδεδομένον τς δικαιοσύνης λόγον ληθ νομίσαι, εθς τ κατ τ ν βίον νίσ! διελεγχόμενον.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Seligpreisung der Gerechtigkeit das Heil der Menschen verspricht, darf es keine Ausgeschlossenen geben. Gregor schloss aus diesem Einwand, in der Seligpreisung des Hungerns und Dürstens nach Gerechtigkeit müsse ein weiterer Begriff von Gerechtigkeit angenommen werden, der allen zugänglich sei. Die Antwort auf die Frage, nach welcher Gerechtigkeit alle in gleicher Weise hungern können, besteht darin, dass es die Gerechtigkeit Gottes sei und nicht die eigene. Die göttliche Gerechtigkeit sei allen Menschen gleich zugänglich, unabhängig von ihrer Stellung und ihrem Reichtum. Lasst uns hungern nach unserem Heil und dürsten nach dem Willen Gottes, denn dies ist, wie wir gerettet werden.178

Die allen Menschen zugängliche göttliche Gerechtigkeit bestehe in der Tugend. Der Hunger nach der Tugend, dem Guten und schlussendlich Gott selbst sei das, was selig gesprochen werde. Hunger nach Gerechtigkeit ist Hunger nach Gott, als demjenigen, welcher selig macht. Wer Gott in seinem Herzen und Wollen aufnehme, der werde gerecht. Die so erlangte Gerechtigkeit ist einerseits göttliche Gabe durch die Teilnahme des Menschen an der göttlichen Gerechtigkeit, andererseits bleibt sie für den Menschen auch eine Tugend, insofern der Mensch durch seinen Willen und sein Streben die Aufnahme Gottes und dessen Gerechtigkeit in seinem Herzen zustande kommen lässt. Die Gerechtigkeit kann für Gregor in diesem Kontext auch für alle anderen Tugenden stehen, welche aus dem Verlangen nach Gott und der Beziehung zu ihm erwachsen. Nun sagt das Wort, welches hier die Gerechtigkeit als Ziel für den selig Hungernden angibt, dass darin die Form jeglicher Tugend bezeichnet werde, so dass als in gleicher Weise das Hungern nach Einsicht, Tapferkeit und Selbstbeherrschung und nach allem, was weiter mit dem Begriff der Tugend erfasst wird, selig zu preisen sind.179

Auffällig ist an dieser Stelle, wie Gregor trotz seiner Distanzierung von dem als üblich vorausgesetzten Gerechtigkeitsverständnisses auch die mit der Gerechtigkeit einhergehenden Tugenden ganz im Rahmen des allge-

Beat. 4 (GNO VII,2, 117,5–7 C.): Πεινάσωμεν τν αυτ ν σωτηρίαν, διψήσωμεν το θείου θελήματος, περ στ τ %μς σωθναι. Gregor legte in einer Nebenlinie der Argumentation auch das hungern und dürsten aus und erläuterte, hier werde deutlich, dass der normale Hunger und der normale Durst als Anzeichen, dass der Körper Stärkung brauche nicht abzulehnenoder zu unterdrücken seien. 179 Beat. 4 (GNO VII,2, 118,18–22 C.): οκον κα νταθα τν δικαιοσύνην τος μακαριστ ς πειν σι προκεσθαι  λόγος επJν, πν ε δος ρετς δι ταύτης ποσημαίνει, $ς πίσης μακαριστ ν ε ναι τ ν κα φρόνησιν κα νδρείαν κα

σωφροσύνην πειν ντα κα ε+ τι >τερον ν τ ατ τς ρετς λόγ! καταλαμβάνεται. 178

2. Vervollkommnung als Tugend

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mein Bekannten als Einsicht180, Tapferkeit und Selbstbeherrschung bezeichnete. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Gerechtigkeit bei Gregor nicht dieselbe herausragende Bedeutung erhält wie in der platonischen und aristotelischen Konzeption als Haupttugend, welche alle anderen Tugenden umfasst. Die Gerechtigkeit beschreibt bei Platon und Aristoteles die harmonische Verfassung der Seele, wo keine seelische Kraft und kein Trieb das Zusammenspiel stört und allen ihren Platz und ihr Recht eingeräumt wird. Sie ist eine ordnende Kraft und teilt allen das ihnen Zukommende zu. Gregor setzte anstelle der Gerechtigkeit die Liebe, wie die nächste Seligpreisung zeigt, und sah alle anderen Tugenden in der Liebe angelegt. Die Gerechtigkeit wird bei Gregor in der Auslegung der Seligpreisungen nicht in Anlehnung an die platonische oder aristotelische Konzeption von Gerechtigkeit entwickelt als eine bestimmte Haltung oder Tugend des Menschen sondern in einer paulinischen Perspektive als etwas, was dem Menschen zuteil wird. Gregor interessierte sich für die Gerechtigkeit als Grundlage des Heils und in diesem Kontext verstand er die für den Menschen heilsame Gerechtigkeit als göttliche Gerechtigkeit. Das Heil besteht in der Sehnsucht oder dem Verlangen nach Gott, der das Heil für die Menschen bedeutet und damit in der richtigen Gottesbeziehung. Gregor nahm dabei die paulinische Deutung der Gerechtigkeit als Heil im Gegenüber zu eigenen Werken auf, besonders deutlich in der Auslegung der Psalmüberschriften. Aber wenn der Angriff deiner Feinde schwer ist, widerfährt den Menschen durch das Bündnis mit deinen Abwehrkräften das Geschenk des Heils, nicht aus Werken der Gerechtigkeit sondern allein aus deiner Gnade.181

In der Sehnsucht nach Gott und damit in der Beziehung zu Gott widerfährt dem Menschen dessen Gerechtigkeit als Heil. Im Gegensatz zu Paulus verstand Gregor das Heil nicht in erster Linie als Gerechtigkeit vor Gott oder von Gott sondern als wiederhergestellte Gottebenbildlichkeit und Heilung. Die Gerechtigkeit blieb für Gregor zudem eine Tugend und konnte sogar jede einzelne Tugend symbolisieren. Da der Hunger nach der Tugend keine Sättigung zu fürchten hat, ist die Verwirklichung der Tugend 180 Allerdings nennt er nicht Weisheit (σοφ*α) sondern eben Einsicht (φρνησις), den stoischen Begriff für die Vernunft. Vgl. Arius Did., Epitome, 5b (10,23f POMEROY); explizit als Kardinaltugenden: 5b2 (14,3f. P.). Bei Aristoteles ist dies der Begriff für die praktische Vernunft. 181 Inscript. Psal. II,14 (GNO V, 150,10–13 D.): λλ’ ε κα βαρεα τ ν πολεμίων % προσβολή, δι τς συμμαχίας τς σς πωσθήσονται, προκα τος νθρώποις παρ σο γινομένης τς σωτηρίας, οκ ξ ργων τ ν κ δικαιοσύνης, λλ’ κ μόνης τς σς χάριτος.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

mit dem Begehren nach noch größerer Tugend verbunden und auch schon der Hunger nach der Tugend selig gepriesen.182 2.2.5. Barmherzigkeit und Liebe als umfassende christliche Tugend Die Auslegung der Seligpreisung der Barmherzigen183 ist von ihrer Bedeutung her die grundlegendste, da Gregor die Liebe als höchste Tugend beschreibt und die Barmherzigkeit als eine spezielle Form der Liebe klassifiziert. Im Aufbau der Seligpreisungen zeigt sich diese herausgehobene Stellung schlecht, da Gregor durch den Text an eine gewisse Reihenfolge gebunden war. Es fehlt jedoch eine glaubwürdige Steigerung in den nachfolgenden Seligpreisungen. Im Hinblick auf die Barmherzigkeit setzt Gregor fest, dass sie wie zuvor die Glückseligkeit einen Zustand bezeichne, der von Gott wahrhaft ausgesagt werde und vom Menschen nur insofern er an der göttlichen Eigenschaft Anteil habe.184 Die Barmherzigkeit wird folgendermaßen beschrieben. Die naheliegende Bedeutung der Rede fordert den Menschen zu gegenseitiger Liebe und Mitgefühl aufgrund der Ungleichheit und Verschiedenheit der Lebensumstände auf, denn nicht alle leben in den gleichen Verhältnissen, weder im Bezug auf das Ansehen noch die körperliche Verfassung noch die übrigen Umstände.185

Die Barmherzigkeit als Trauer über fremdes Unglück186 findet sich auch bei Clemens von Alexandria in dessen Auslegung dieser Seligpreisung. Clemens lehnte diese Bestimmung allerdings als eine Definition der Philosophen ab und berief sich stattdessen auf die unpräzise biblische Aussage, die Barmherzigkeit sei etwas Schönes und damit ein Gut.187 Diese Definition wirft wiederum die Frage auf, ob diese Form der Tugend nicht all die Menschen ausschließe, welche nicht die Mittel hätten, aktiv Barmherzigkeit zu üben. Gregor stellte sich die Frage wie zuvor schon Clemens188 und antwortete darauf auch wie dieser, dass die Barmherzigkeit eine Form der Liebe zu den Mitmenschen sei und nicht abhängig davon, wie gut sie auch durch hinreichende Mittel umgesetzt werden könne. Entscheidend sei vielmehr die Gesinnung, welche sich im Wünschen und Wollen für die Notleidenden zeige. 182

Vgl. Beat. 4 (GNO VII,2, 122,14–123,3 C.). Vgl. B ÖHM , Oratio V, 165–183. 184 Beat. 5 (GNO VII,2, 124,28 C.): τ δ" ληθως μακαριστ ν % θετης στ*ν. 185 Beat. 5 (GNO VII,2, 126,3–8 C.): ( μ"ν ο6ν πρόχειρος το Fητο διάνοια πρ ς τ φιλάλληλόν τε κα συμπαθ"ς προσκαλεται τ ν νθρωπον δι τ νισόν τε κα

νώμαλον τ ν το βίου πραγμάτων, ο πάντων ν τος μοίοις βιοτευόντων ο;τε κατ τν ξίαν ο;τε κατ τν το σώματος κατασκευν ο;τε κατ τν λοιπν περιουσίαν. 186 Vgl. B ÖHM , Oratio V, 177. 187 Clem., Str. IV,6,38. 188 Clem., Str. IV,6,36,1; IV,6,38,1–4. 183

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Niemand soll allein im Äußerlichen die Tugend sehen wollen, als könnte nur der diese erlangen, welcher das Vermögen hat, Gutes zu tun. Mir scheint es vielmehr gerechter, dieselbe im Bestreben zu sehen.189

Wie sich die Gesinnung der Barmherzigkeit zeigen kann, hatte Gregor in der ersten Predigt über die Liebe zu den Armen aufgezeigt, wo er die Menschen aufrief, den Bettlern mit Respekt zu begegnen, wenn sie nicht die Mittel hätten, sie auch materiell zu unterstützen.190 Die Barmherzigkeit wird dann bei Gregor weiter definiert als eine Steigerung der Liebe. Die Gemeinschaft mit dem Schönen wird von allen, sowohl von Feinden wie von Freunden angestrebt. Der Wunsch nach Gemeinschaft mit dem Leidvollen ist nur demjenigen eigen, der von der Liebe beherrscht ist. Es wird aber von allen übereingestimmt, dass die Liebe die beste Lebensweise ist. Die Steigerung der Liebe aber ist die Barmherzigkeit.191

Die Barmherzigkeit ist Gregor zufolge darum moralisch besonders wertvoll, weil die Ausrichtung auf den Mitmenschen auch zum eigenen Nachteil geschieht, ohne Rücksicht auf eigenen Gewinn. Wer mit einem anderen Menschen mitleidet und sich in sein Unglück einfühlt, tut dies ohne selbst davon zu profitieren. Es ist eine Haltung, die nicht der Steigerung der eigenen Glückseligkeit dient, sondern ganz auf das Wohl des Mitmenschen ausgerichtet ist. Diese Beurteilung Gregors, dass Handlungen zugunsten der Mitmenschen besonders wertvoll seien, wird auch von Stephen Everson in seiner Beurteilung der eudaimonistischen Ethik geteilt, die sich daran messen lassen müsse, ob sie sich auch nach dem Mitmenschen ausrichte oder ganz auf die individuelle Glückseligkeit ausgerichtet sei.192 Die Betonung der Liebe als der höchsten Tugend findet sich bei Gregor auch in anderen Schriften wie etwa der Rede auf Basilius. Von allen untersuchten Lebenspraktiken ist die Liebe die beste.193

189 Beat. 5 (GNO VII,2, 127,10–13 C.): κα μηδε ς ν μόναις τας λαις τν ρετν θεωρείτω· οτω γρ ν ο πάντως ε+η κατόρθωμα τ τοιοτον, πλν το δύναμίν τινα πρ ς εποιΐαν χοντος. λλά μοι δοκε δικαιότερον ν προαιρέσει τ τοιοτον βλέπειν. 190 Vgl. oben, I.2.2.3. Fürsorge als materielle und persönliche Zuwendung. 191 Beat. 5 (GNO VII,2, 127,3–7 C.): % μ"ν γρ τ ν καλ ν κοινωνία πσιν μοίως κα

χθρος κα φίλοις σπουδάζεται· τ δ" τ ν νιαρ ν κοινωνεν θέλειν μόνον +διον τ ν τ- γάπ8 κεκρατημένων στίν. λλ μν πάντων $μολόγηται τ ν κατ τ ν βίον τοτον πιτηδευομένων % γάπη τ κράτιστον ε ναι· πίτασις δ" γάπης  λεος. Dieselbe Definition der Barmherzigkeit als höchster Form der Liebe und die Barmherzigkeit als Charakteristikum Gottes finden sich auch bei Gr. Naz., Hom. 14,5. 192 Vgl. EVERSON, Ethics: Introduction, 11. Eine eudaimonistische Ethik ist nach Everson auch gegenüber einer kantianisch-deontologischen Form der Ethik valabel, wenn sie nicht nur selbstzentriert sei. 193 Beat. 5 (GNO VII,2, 127,5–7 C.): λλ μν πάντων $μολόγηται τ ν κατ τ ν βίον τοτον πιτηδευομένων % γάπη τ κράτιστον ε ναι. πίτασις δ" γάπης  λεος.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Mit dieser Heraushebung der Liebe als der höchsten Tugend legte Gregor ein anderes Schwergewicht als die philosophischen Konzepte. Die Bestimmung der Liebe als höchster Tugend wird in der Lobrede auf Basilius explizit auf Paulus und das Evangelium zurückgeführt und damit als spezifisch christliche Wertung der Tugenden angegeben: Der Apostel aber sagt, dass die Liebe das beste aller Güter sei, und auch das Evangelium hält sie hoch.194

Die Liebe ist darum die höchste aller Tugenden, weil in der Liebe alle anderen Tugenden inbegriffen seien. Wer diese eine habe, der habe alle Tugenden, erklärte Gregor in seiner Lobrede auf Basilius. Thematisiert wird im Kontext die Problematik, dass man von außen nicht feststellen könne, ob ein Mensch tatsächlich über alle Tugenden verfüge. Wenn er also in dem, was das Glücken enthält und umfasst, nicht hinter dem großen Paulus zurückbleibt, so wird sich zeigen, dass er auch in allen anderen [Tugenden], denen die Liebe vorausgeht und welche aus ihr herauswachsen, kein geringeres Maß aufweist. Denn derjenige, welcher Anteil an der menschlichen Natur hat, hat auch an allen ihren Eigenschaften Anteil und in gleicher Weise hat derjenige, welcher in sich die Vollkommenheit der Liebe aufgebaut hat auch alle Güter, welche mit dieser zusammengehören und deren Prototyp sie ist, in sich.195

Alle einzelnen Tugenden zu erlangen, sei äußerst schwierig und es sei auch unmöglich, darüber zu urteilen. Wenn ein Mensch jedoch diese eine habe, so könne er mit Recht ein tugendhafter Mensch genannt werden. Gregor stützte sich dabei auf die vor allem von den Stoikern196 vertretene Vorstellung, dass die Tugend eine Einheit sei und man sie daher entweder Vgl. auch De vita Eph. (PG 46, 828): Ε ο6ν μείζων πασ ν τ ν ρετ ν % γάπη· „Wenn nun die Liebe die beste aller Tugenden ist …“. 194 Laud. Bas. (GNO X,1, 117,23f.): λλ μν πάντων τ ν γαθ ν μείζονα τν γάπην  τε πόστολος λέγει, κα πιψηφίζει τ ψηλ ν εαγγέλιον. 195 Laud. Bas. (GNO X,1, 118,6–13): ε ο6ν ν τ περέχοντι κα περιληπτικ τ ν κατορθωμάτων οκ πολείπεται το μεγάλου Παύλου, ρα κα ν τος λλοις πσιν, Zν % γάπη καθηγεται κα σα κ ταύτης κφύεται, πάντως οκ λαττον χων ναφανήσεται. σπερ γρ  τς νθρωπίνης φύσεως μετέχων ν πσίν τος τς φύσεως στιν διώμασιν, οτως κα  τ τέλειον τς γάπης ν αυτ κατορθώσας πάντα, σα συνθεωρεται ταύτ8, τ ν γαθ ν ε+δη μετ το πρωτοτύπου τ ν κατορθωμάτων χει. 196 Arius Did., Epitome 5b5 (19,18–20 P.): Wer eine hat, hat alle und wer gemäß einer handelt, handelt gemäß aller. τ ν γρ μ*αν χοντα π)σασ χειν, κα τ ν κατ μ)ν πρ)ττοντα κατ π)σασ πρ)ττειν. Vgl. auch Plu., Stoic. rep. 27 (1046e CASEVITZ 62): Τς ρετάς φασιν ντακολουθεν λλήλαις, ο μόνον τ τ ν μίαν χοντα πάσας χειν, λλ κα τ τ ν κατ μίαν τιον νεργοντα κατ πάσας νεργεν· „Sie sagen, die Tugenden folgen einander gegenseitig, nicht allein, dass derjenige, welcher eine hat, alle hat, sondern auch dass derjenige, welcher irgendeine verwirkliche, gemäß allen wirke.“ In 7 (1034c–d) erläutert Plutarch, für Zeno seien alle Tugenden eine Form von φρόνεσις. Vgl. auch D. L., Vitae VII,125. Vgl. aber auch Alcin., Didasc. 28,3.

2. Vervollkommnung als Tugend

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ganz oder gar nicht habe. Sein Lösungsvorschlag berücksichtigt einerseits pragmatisch, wie schwierig es ist, ein Urteil zu fällen und nimmt zugleich seine Einsicht auf, dass Tugend immer noch steigerbar ist. Denn es ist nicht möglich, dass ein gewisser Teil der Tugend von den übrigen getrennt wird und für sich allein die Vollkommenheit der Tugend darstellt. Wird nämlich etwas, das zur Tugend gehört, nicht dazu genommen, so wird notwendig Raum für das Entgegengesetzte an seiner Stelle frei.197

Illustriert wird der Gedanke der Verbundenheit und Einheit aller Tugenden bei Gregor mit dem für diese Frage verbreiteten Bild einer Kette.198 Alle Tugenden seien wie die Glieder einer Kette miteinander verknüpft und wenn man eine habe, müsse man alle haben. Im Gegenzug betonte Gregor, dass auch ein Laster alle übrigen mit sich bringe, da sie wie die Glieder einer Kette miteinander verbunden seien.199 Gregor konnte aber auch argumentieren, dass in der einen Tugend schon alle angelegt seien und darum derjenige, der diese eine habe, potentiell alle habe.200 Für Gregor hatte die Liebe als umfassende Tugend nicht nur einen geistigen Aspekt, sondern immer wieder betonte er die begehrliche Form der Liebe, welche nach Vereinigung strebt. In dieser Form der Liebe steckt gemäß Gregor das gesamte Potential zum Elend wie zum Glück. Wer die Kraft seiner Liebe und seines Strebens auf vergängliche Dinge richte, lebe im ständigen Unglück, denn alles Vergängliche und Irdische gehe irgendwann verloren und so trauere man entweder um den Verlust eines geliebten Menschen oder geliebter Dinge oder man lebe in Furcht vor einem möglichen Verlust, wie Gregor in De virginitate 3 ausführte. Werde die Liebe und das Begehren jedoch auf Geistiges und Ewiges, also Gott gerichtet, so erfülle diese Liebe mit ewiger Freude.201 2.2.6. Die Reinheit des Herzens als Ermöglichung der Gotteserkenntnis Diese Seligpreisung verspricht die Schau Gottes für diejenigen, welche reinen Herzens sind und nimmt damit das Thema der Seligpreisung der Trauernden wieder auf.202 Die Erkenntnis und Schau Gottes seien jedoch Beat. 4 (GNO VII,2, 118,22–26 C.): oδ" γάρ στι δυνατ ν >ν τι τς ρετς ε δος τ ν λοιπ ν διεζευγμένον ατ καθ’ αυτ τελείαν τν ρετν ε ναι. N γρ ν μ συνθεωρταί τι τ ν κατ τ γαθ ν νοουμένων, νάγκη πσα τ ντιδιαστελλόμενον π’ ατο χώραν χειν· Zur Einheit der Tugend vgl. auch A. RADDE-GALLWITZ, Gregory of Nyssa on the Reciprocity of Virtues, JThS 58,2 (2007), 537–553. 198 De prof. christ. (GNO VIII,1, 135,12–21 J.); Virg. 15 (GNO VIII,1, 311,3–13 C.). 199 Vgl. etwa Virg. 4 (GNO VIII,1, 273,1–4 C.). 200 Virg. 15 (GNO VIII,1, 311,3–14 C.). Vgl. Laud. Bas. (GNO X,1, 118,6–13). 201 Vgl. Beat. 4 (GNO VII,2, 121,16–21 C.). 202 Vgl. dazu ausführlich LILLA, Neuplatonisches Gedankengut, Kapitel II: Gotteserkenntnis als Erkenntnis des inneren ‚Ich‘, 15–72. Lilla sieht weitgehende Übereinstim197

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

nicht so einfach möglich, da Gott unsichtbar sei. Gregor zeigte für ein Sehen oder Erkennen Gottes zwei Wege auf. Einerseits über die Erkenntnis der göttlichen Werke, welche sich in der Schöpfung zeigen,203 eine Form der Gotteserkenntnis, die auch den Nichtchristen zugesprochen wird und andererseits sei das Sehen Gottes auch möglich durch den Blick nach Innen, auf die Reinheit der eigenen Seele, um dort zu entdecken, dass Gott in jedem Menschen sei. Das dir entsprechende Maß an Gotteserkenntnis ist in dir selbst drin, da dieser, als er dich geschaffen hat, dieses Gut deiner Natur angeeignet hat. Gott bildete in deiner Gestalt die Nachahmungen der Güter seiner eigenen Natur nach, wie einer mit einem Siegeln in den Wachs eine Gestalt hineingießt. Aber das Übel hat die gottebenbildliche Prägung überschüttet und verdeckte das Gut unter schändlichen Dreckschichten. Wenn Du nun durch eine aufmerksame Lebensführung die Schmutzdecke wieder von deinem Herzen abwäschst, wird an Dir die gottebenbildliche Schönheit wiederhergestellt … und so wird derjenige selig, welcher ein reines Herz hat, denn wenn er auf seine eigene Reinheit schaut, erkennt er in dem reinen Bild das Urbild.204

mung Gregors mit neuplatonischem, vor allem plotinischem Gedankengut. Dies nicht im Sinne einer Christianisierung plotinischer Konzepte sondern als „völligen Einklang“ (72). Dagegen ist den von Lilla aufgeführten älteren Untersuchungen von Daniélou, Merki, Peroli etc. zuzustimmen, die von einer Christianisierung des neuplatonischen Gedankenguts ausging. Die Christianisierung besteht vor allem in dem christlichen und biblischen Kontext, den Gregor voraussetzte. Das hat zur Folge, dass bei Gregor die neuplatonisierenden Aussagen vor dem Hintergrund einer christlich bestimmten Kosmologie und Anthropologie stehen, was ihre Bedeutung ändert, auch wenn viele Bilder und Aussagen weitgehend mit Plotin übereinstimmen, wie Lilla gezeigt hat. Besonders die Aussagen von LILLA, Neuplatonisches Gedankengut, 71, dass bei Gregor die Seele durch die Reinigung vom Körper abgelöst werde und in sich selbst zurückkehre und mit ihrer Intelligenz als ihrem eigentlichn Ich zusammenfalle, stimmt nicht. Die Bindung der Seele an den Körper ist bei Gregor viel enger gedacht als bei Plotin. Der Körper ist nicht schuld an der verdeckten Gottebenbildlichkeit. Die Reinheit der Seele setzt keine Ablösung vom Körper und keinen Rückzug auf sich selbst voraus. Allerdings ist schon die erste zusammenfassende These, 69, der Gott Gregors falle mit dem νος Plotins als zweiter Hypostase zusammen, irreführend, da Gregor nicht Plotins gestufte Kosmologie der Emanationen vertrat. 203 Diese Argumentation, dass Gott nicht in seinem Wesen aber durch sein Wirken erkennbar ist, war eine grundlegende Argumentation für Aristoteles. Vgl. Arist., Metaphysica IX,8 (Theta) (1049b4–1051a3); Physica VIII,10 (266a26-30). 204 Beat. 6 (GNO VII,2, 143,4–13.20–23 C.): τ γάρ σοι χωρητ ν τς το Θεο κατανοήσεως μέτρον ν σοί στιν, οτω το πλάσαντός σε τ τοιοτον γαθ ν εθς τφύσει κατουσιώσαντος. Τ ν γρ τς δίας φύσεως γαθ ν  Θε ς νετύπωσε τ- σκατασκευ- τ μιμήματα, οHόν τινα κηρ ν σχήματι γλυφς προτυπώσας. λλ’ % κακία τ θεοειδε χαρακτρι περιχυθεσα χρηστον ποίησέ σοι τ γαθ ν ποκεκρυμμένον τος ασχρος προκαλύμμασιν. ε ο6ν ποκλύσειας πάλιν δι’ πιμελείας βίου τ ν πιπλασθέντα τ- καρδί1 σου Fύπον, ναλάμψει σοι τ θεοειδ"ς κάλλος. … κα οτω γίνεται μακάριος  καθαρ ς τ- καρδί1, τι πρ ς τν δίαν καθαρότητα βλέπων ν τεκόνι καθορC τ ρχέτυπον. Vgl auch Virg. 12 (GNO VIII,1, 300,18–19 C.); Beat. 6 (GNO VII,2, 142,19f. C.).

2. Vervollkommnung als Tugend

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Wer sich von allen Leidenschaften reinigt, erkennt in seinem Herzen das Abbild Gottes und hat durch solche Reinheit im Herzen auch Gott im Herzen.205 Wenn die Seele rein ist, wird die Gottebenbildlichkeit sichtbar und sogar Gott selbst. Wie man in einem Spiegel die Sonne fast so klar erkennen könne, wie wenn man die Sonne selbst anschaue, so könne man auch in dem Herzen als einem Spiegel Gott durch die eigene Gottebenbildlichkeit erkennen.206 Und wie es bei einem Spiegel geschieht, wenn er kunstvoll und sorgfältig gemäß dem Bedürfnis gemacht ist, dass er in reiner Erscheinung in sich selbst genau die Merkmale der darauf erscheinenden Person sorgfältig widerspiegelt, so bringt auch die Seele, nachdem sie gemäß dem Bedürfnis geformt worden ist und alle materiellen Flecken abgelegt hat, in sich die Abbildung der reinen Schönheit hervor.207

Gregor verstand das Fortschreiten und die Angleichung an das Göttliche als eine Reinigung der Seele. Das menschliche Begehren richtet sich von schlechten oder vergänglichen Gütern auf immer wahrere Formen des Guten und durch die immer reineren Ziele wird auch das Begehren selbst immer reiner. Diese Reinigung findet zuerst im Lebenswandel statt, dann auch in der Seele, die dabei immer klarer ihr eigentliches Wesen erkennt. Die Reinheit ist für Gregor in vielen Schriften von großer Bedeutung, vor allem die Reinheit der Seele oder des Herzens. In der ersten Predigt über die Liebe zu den Armen und in De virginitate betonte Gregor im Hinblick auf konkrete Reinigungsriten, es gehe bei der Abstinenz von Essen und Sexualität vor allem um die Reinheit der Seele und weniger um die Reinheit des Körpers.208 Auch in der vorliegenden Seligpreisung legte er größten Wert auf die Reinheit der Gedanken, welche wichtiger sei als die Reinheit der Handlungen. Die äußere Reinigung sei ein Hilfsmittel für die innere Reinigung. Konsequenterweise waren für Gregor in seiner Unterscheidung zwischen Tatsünden und geistigen Übeln die geistigen schwerwiegender, da aus ihnen heraus erst die Umsetzung erfolge.209 In der sechs-

205

Beat. 6 (GNO VII,2, 144,2–4 C.). Beat. 6 (GNO VII,2, 143,20–144,2 C.); Mort. 9f. (GNO IX, 41,9.14 H.); Cant. 3 (GNO VI, 90,11–16 L.); Cant. 4 (GNO VI, 104,1–4 L.); Cant. 15 (GNO VI, 440,1–8 L.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 46,15f. M.); Virg. 11 (GNO VIII,1, 296,1–9 C.); Anim. et res. 12 (PG 46, 89C); Hom. opif. 12 (PG 44, 161C–D; 164A). 207 Cant. 15 (GNO VI, 440,1–7 L.): κα οHον π το κατόπτρου γίνεται, ταν τεχνικ ς τε κα καταλλήλως τ- χρεί1 κατεσκευασμένον ν καθαρC τ- πιφανεί1 δι’ κριβείας ν αυτ δείξ8 το μφανέντος προσώπου τ ν χαρακτρα, οτως αυτν % ψυχ προσφόρως τ- χρεί1 κατασκευάσασα κα πσαν λικν πορριψαμένη κηλδα καθαρ ν το κηράτου κάλλους αυτ- τ ε δος νετυπώσατο. 208 Paup. I (GNO IX, 94,6–9 V. H.); Virg. 2 (GNO VIII,1, 254,24–28 C.). 209 Vgl. Or. dom. 2 (GNO VII,2, 20,3–21,14 C.). Clemens von Alexandria brachte die Unterscheidung von ethischen und dianoetischen Tugenden in der Auslegung derselben 206

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ten Rede über die Seligpreisungen unterschied Gregor zwei verschiedene Formen von Übel, das eine in Handlungen und das andere in Gedanken. Für beide gebe es eine eigene Form von Strafe. Das Schlechte ist zweigeteilt, aus übler Tat und dem Übel in Gedanken ist es zusammengesetzt … die Trennung von den durch die Willensfreiheit entstehende Übel hat um Vieles die größere Bedeutung als die Reinigung des Lebens von üblen Taten.210

Mit der Erkenntnis des Guten ist aber nur ein Schritt gegeben, denn es gilt dazu, diese Erkenntnis in entsprechende Handlungen umzusetzen, Gregor spricht dabei von der Gewissenhaftigkeit in der Lebensführung.211 Es geht beim Erwerb der Tugend nicht bloß um die Erkenntnis des Guten, sondern auch um die Einübung, so dass bestimmte Verfassungen der Seele zu einer festen Haltung und Gewohnheit werden oder – wie Basilius formulierte – zur zweiten Natur.212 Dieses Konzept der Reinigung der Seele und der Rückkehr zur ursprünglichen Schönheit zeigt, wie schon oft bemerkt wurde, eine starke Ähnlichkeit mit Plotins Konzeption der Reinigung der Seele und ihrem Wiederaufstieg in die Sphäre des Göttlichen. Es stellt sich daher die Frage, inwiefern Gregors Konzeption des Fortschritts als einer Reinigung der Seele und ihre Rückgewinnung des ursprünglichen Zustandes von Plotin beeinflusst ist. Die enge Abhängigkeit Gregors von Plotin hat insbesondere Salvatore Lilla anhand von zahlreichen Vergleichen im Hinblick auf die „Gotteserkenntnis als Erkenntnis des inneren ‚Ich‘“ vertreten.213 Kritischer sind dagegen die Untersuchungen von Alexopoulos, Böhm, Meredith und Seligpreisung zur Sprache. Vgl. Clem., Str. IV,6,39. Vgl. auch Inscript. Psal. II,3,26–27 (GNO V, 75,28–76,12 D.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 102,22–103,4 M.). 210 Beat. 6 (GNO VII,2, 146,6–7.12–24 C.): ες δύο γρ διελJν τν κακίαν, τήν τε δι τ ν ργων κα τν ν νοήμασι συνισταμένην … τ γρ τς προαιρέσεως ξελεν τν κακίαν κ πολλο το περιόντος στ ν λλότριον τ ν πονηρ ν ργων τ ν βίον ργάσασθαι. Vgl. auch die umfangreiche Aufzählung Or. dom. 5 (GNO VII,2, 66,28– 69,6 C.). 211 Zum Glaube an Gott und der Gewissenhaftigkeit im Leben als Grundpfeiler der Tugend vgl. De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 99,12–14 M.): δύο γάρ στι τατα πιτηδεύματα, δι’ Zν % ρετ συναγείρεται· P τε περ τ Θεον πίστις κα % περ τ ν βίον συνείδησις. Aristoteles betonte in der Nikomachischen Ethik ebenfalls, dass es darum gehe, die Tugend in Handlungen zu konstituieren. Wer nur über die Tugend philosophiere, sie aber nicht durch sein Handlungen zum Ausdruck bringe, sei nicht tugendhaft zu bezeichnen. Vgl. Arist., EN II,3 (1105b). 212 Vgl. Bas., Hom. 6 In divites (PG 31, 295B) die Gewohnheit kann zur Natur werden. 213 LILLA, Neuplatonisches Gedankengut, 15–72, besonders die Zusammenfassung, 69–72. Lilla fasst zusammen, man könne „Berührungspunkte zwischen Gregor und Plotin verzeichnen, die die substantielle Identität ihres Gedankengangs eindeutig beweisen.“ Ebd., 69. Lilla harmonisiert die beiden über manche Spannungen und Differenzen hinweg, wie sich auch in der Untersuchung zur Seelenlehre zeigen wird.

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Rist, allerdings tendieren alle dazu, dass Gregor Plotin gekannt hat, zumindest die eine oder andere der frühen Enneaden und das seine PlotinKenntnisse vermutlich größer waren, als seine Texte dies deutlich machen.214 Für alle drei ist Gregors eigenständige Aufnahme und Adaption von plotinischen Konzepten in eine christliche Perspektive kennzeichnend. Plotin war von den griechischen christlichen Autoren vor Gregor praktisch gar nicht rezipiert worden. Euseb erwähnt ihn im fünfzehnten Buch der Praeparatio Evangelica, sonst hat Plotin keine Spuren hinterlassen, wie er auch in der platonischen Schule lange im Schatten von anderen Neuplatonikern wie Iamblich stand.215 Erst bei den Kappadoziern und insbesondere bei Gregor werden Elemente sichtbar, die klar an Plotin erinnern und den Beginn der Rezeption wahrscheinlich machen. Da Plotins Schriften einzeln im Umlauf waren, ist es nicht verwunderlich, wenn sie nur teilweise bekannt waren. Der Vergleich von Gregors Konzeption der Gotteserkenntnis und des spirituellen Aufstiegs zeigt viele Ähnlichkeiten aber auch grundlegende Unterschiede. Bei Plotin sind die Tugenden grundlegend über ihre Reinigungsfunktion definiert. Tugend ist Reinigung der Seele. Plotin ging davon aus, dass die Seele in ihrem momentanen Zustand von einer Schmutzschicht aus Leidenschaften und Lastern bedeckt sei, welche durch die Verstrickung der Seele in die Körperlichkeit entstanden sei. Gregor dagegen betonte den freien Willen des Menschen, der sich den nichtigen Gütern zuwende, aber auch für Gregor trug der falsche Umgang mit den Trieben und Emotionen zur Lasterhaftigkeit bei. Der Reinigungsprozess wird bei Plotin in dem Streben nach geistiger Erkenntnis und dem Ablegen der irdischen Beschwernisse gesehen. Die Seele distanziere sich vom Körper und konzentriere sich auf sich selbst, sie blicke nicht durch den Körper nach draußen, sondern richte die Aufmerksamkeit auf sich selbst. Indem sie sich auf sich selbst konzentriert, erkennt die Seele ihre Göttlichkeit.216 Bei Gregor ermöglicht die Blickrichtung auf das eigene Herz oder die Seele die Erkenntnis Gottes und der göttlichen Schönheit, allerdings nicht der eige-

214

Vgl. T. ALEXOPOULOS, Das unendliche Sichausstrechek (Epektasis) zum Guten bei Gregor von Nyssa und Plotin. Eine vergleichende Untersuchung, ZAC 10 (2007), 302– 312. B ÖHM, Theoria, 170, im Hinblick auf die Entwicklung der Konzeption der Unendlichkeit Gottes; A. MEREDITH, Gregory of Nyssa and Plotinus, StPat 17,3 (1982), 1120– 1126; RIST, Plotinus and Christian philosophy, 397–401. „Perhaps, … Gregory derived much more from Plotinus and Neoplatonism than the direct quotations would indicate.” Ebd., 400. 215 Vgl. RIST, Plotinus and Christian philosophy, 397f.; MEREDITH, Gregor of Nyssa and Plotinus, 1121. 216 Vgl. Enn. I,2,3f.; I,6,5.9; IV,7.,10; V,1,3.7; V,3,6.9; V,8,10 für weitere Stellen vgl. LILLA, Neuplatonisches Gedankengut, 46–52.

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nen Göttlichkeit, da die Seele bei Gregor auch in dem vollkommenen Zustand nie göttlich wird.217 Aufgefallen sind neben dem ähnlichen Konzept des Aufstiegs der Seele bei Plotin und des Menschen bei Gregor besonders die Metaphern, welche sich sowohl bei Plotin als auch bei Gregor sehr prominent finden: von der Schau der ursprünglichen Schönheit in der reinen Seele wie in einem Spiegel und der vorgängigen Befleckung der Seele mit Schmutz, mit einer Schlammschicht oder auch mit Rost.218 Der Ähnlichkeit der Metaphern steht jedoch gegenüber, dass Gregor Plotin nirgends wörtlich zitiert und bei den Begriffen teilweise gleiche, vielfach aber auch andere wählte. Über Ähnlichkeiten kommt man nicht heraus. Auch in der Reinigungskonzeption selbst sind einige Unterschiede festzustellen. Gregor verstand den Reinigungsprozess nicht als Weltflucht oder Distanzierung von dem Körper und ging auch nicht davon aus, dass die Seele sich je vom Körper trennt oder göttlich wird. Die Verwendung der Metaphern des Spiegels und der sich vom Schmutz reinigenden Seele sind zudem nicht ohne christliche Vorgänger.219 Insbesondere bei Athanasius findet sich in seiner Schrift Contra Gentes die Aussage, die Seele erkenne in sich wie in einem Spiegel 217

Bei Gregor schaut die gute Seele nicht auf sich selbst, sondern auf Gott, vgl Cant. 12 (GNO VI, 366,11 L.). 218 Es ließe sich eine beinahe beliebig lange Liste anführen vgl. als Auswahl Mort. 9 (GNO IX, 40,21f. H.): τ γρ αυτ ν γν ναι καθάρσιον τ ν κ τς γνοίας πλημμελημάτων γίνεται; Virg. 12 (GNO VIII,1, 300,8–12 C.); Paup. I (GNO IX, 95,14 V. H.): τίς νησις τς σωματικς νηστείας, ν μ καθαρεύ8  νος;); Eccl. 7 (GNO V, 399,17f. A.): ε πρ ς τν καθαρότητα βλέπεις ρωτικ ς, βδελύξω δηλονότι τν το βορβόρου δυσωδίαν); In diem luminum (GNO IX, 224,4 G.): βάπτισμα τοίνυν στ ν Kμαρτι ν κάθαρσις. πειδ γρ εώθαμεν Fύπ! κα βορβόρ! τ σ μα καθυβρισθ"ν δατι νίπτοντες καθαρ ν ποφαίνειν und Plot., Enn. I,6,5; IV,7,10. Beide sprechen von Schlamm (ρπος, βρβορος und πηλς), welches die Seele oder die Gottebenbildlichkeit bedecke. Enn. V,9,14,7f. (Plotini Opera 2, 427 HENRY / SCHWYZER): Περ δ" τ ν κ σήψεως κα τ ν χαλεπ ν, ε κ κε ε δος, κα ε Fύπου κα πηλο, λεκτέον; Enn. I,6,5,43f. (Plotini Opera 1, 111 H. / S.): οHον ε+ τις δς ες πηλ ν 2 βόρβορον τ μ"ν περ ε χε κάλλος μηκέτι προφαίνοι. Enn. IV,7,10,44–47 (Plotini Opera 2, 216 H. / S.): λλ’ ατ παρ’ ατ- ν τ- κατανοήσει αυτς κα το 5 πρότερον /ν ,σπερ γάλματα ν ατ- δρυμένα ρ σα οHα π χρόνου ο πεπληρωμένα καθαρ ποιησαμένη. Vgl. auch B ÖHM, Theoria, 90f.; 209–211; LILLA, Neuplatonisches Gedankengut, 31–48; SMITH, Passion and Paradise, Kapitel 6. Zur Reinigung bei Plotin vgl. B EIERWALTES, Selbsterkenntnis und Erfahrung des Einen, 250–253. 219 Angegeben sei hier eine kleine Auswahl, das Konzept erscheint vor allem bei Autoren der alexandrinisch geprägten Tradition, die sich auf den Einfluss von Philon zurückführen lässt: Ph., Migr. 190; Or., or. 29,15; comm. in Jo. 6,33,166; comm. in Jo. 32,24,314; Euseb, Praep. Ev. V,15,4; Ath., gent. 2; 8; 34; Ps.-Bas., Virg. 35 (PG 30, 740f.); Bas., Attende tibi ipsi 3; Jo. Chrys., Hom. 26,4 in 2 Cor (PG 61, 580); Dazu kommt die biblische Vorlage bei Paulus in 2 Kor 3,18, welche insbesondere bei Origenes oft zitiert ist.

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den Logos des Vaters erblicke, davor aber auch schon bei Origenes und Philon, die beide den Fortschritt im Sinne eines Aufstiegs der Seele interpretierten, wie sie auch in einem allgemeinen platonischen Rahmen bekannt war.220 Bei Athanasius erscheint das Bild vom Schmutz der Seele, welcher durch die Reinigungen abgewaschen wird und das Bild von Gott widerspiegelt ebenfalls im Zusammenhang der Seligpreisung derjenigen die reinen Herzens sind.221 Allerdings bietet keiner dieser Autoren die Aufstiegsmetapher der vom Eros oder dem Verlangen nach Gott und dem Guten und Schönen getriebenen Seele so ausführlich wie Gregor. Nimmt man diese Beobachtungen zusammen und zieht in Betracht, dass es neben der hier untersuchten Reinigungsmetapher noch andere Übereinstimmungen gibt, so scheint es wahrscheinlich, dass Gregor auf dem einen oder anderen Weg Kenntnisse von Plotin hatte, wobei der Umfang offen bleiben muss. Am ersten jedoch handelt es sich um Kenntnisse von frühen Schriften Plotins, wo sich am meisten Übereinstimmungen finden. Unabhängig davon, wie viel Gregor von Plotin gelesen oder gekannt hat, ist sein eigenständiger Umgang mit diesen Konzepten hervorzuheben. Gregor passte sowohl das Reinigungs- und Aufstiegskonzept als auch die Konzeption der Verbindung von Seele und Körper konsequent an seine christliche Überzeugung an, welche den Unterschied von Gott und Seele betont und die Reinigung der Seele nicht als Trennung vom Körper oder als Abtötung des Körpers versteht. Die Einheit von Körper und Seele war für Gregor grundlegend und diese Einheit ist nicht wie bei Plotin bloß vorübergehend sondern bestimmt das Wesen des Menschen grundlegend. Die selektive Art der Plotin-Rezeption liegt nicht an der selektiven Plotin-Kenntnis von Gregor. Vielmehr entspricht sein Umgang mit dem plotinischen Ansatz der üblichen Rezeption philosophischer Ansätze bei Gregor. Wie bei dem platonischen Seelen-Gleichnis des Pferdegespanns oder dem Höhlengleichnis sind auch die plotinischen Metaphern und Konzepte zur Seele bei Gregor im Sinne einer freien Inspiration aufgenommen und bilden Anschauungsmaterial für christlich überarbeitete Konzeptionen der Seele und der Wiederherstellung des Urzustandes. Dieser Prozess wird von Gregor verstanden als einen Weg der Nachfolge Christi, der die Menschen zu Gott führt und durch die Gnade und Kraft des heiligen Geistes ermöglicht wird. Der Weg führt aus der menschlichen Niedrigkeit als Folge des Falls durch die erlösende Hilfe des Gottessohnes hinauf zu Gott und zur Freundschaft mit Gott oder der Gotteskindschaft.222 MERKI, &ΜΟΙΩΣΙΣ, 157, verweist auch noch auf Gregor Thaumturgos (PG 10, 1084B–C); Theophylus Ad. Autolycum (PG 6, 1028A–B). Für Merki ist insbesondere der Einfluss von Athanasius und Plotin wichtig bei Gregor wichtig. 221 Ath., gent. 2. 222 Or. catech. 35 (GNO III,4, 86,6–92,8 M.); Mort. 15 (GNO IX, 54,1–56,7 H.). 220

228

II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

2.2.7. Die Friedfertigkeit als Harmonie zwischen Körper und Geist Diese Seligpreisung weist in Gregors Auslegung im Hinblick auf die Tugend viele Ähnlichkeiten mit der zweiten auf, da beide auf die Zähmung der Leidenschaften ausgerichtet sind.223 Gregor führt die Erklärung der Friedfertigkeit224 damit ein, dass jedes weltliche Gut seinen Wert ohne Frieden verliere. Diese Einsicht führte bei Gregor zur Aufforderung, dass alle ihren Beitrag zum Frieden zu leisten hätten. Dieser Beitrag beginnt gemäß Gregor bei sich selbst. Nur wer selbst über eine friedfertige Gesinnung verfügt, kann sich auch in der Interaktion mit anderen für Frieden einsetzen. Derjenige ist friedfertig, der einem anderen Frieden verschafft. Aber man kann einem anderen nicht etwas geben, was man selbst nicht besitzt. Daher will er, dass du zuerst selbst gut mit den Schönheiten des Friedens erfüllt seiest.225

Diese Zuspitzung auf die Friedfertigkeit des Individuums und damit die eigene Verantwortung für den Frieden verengte Gregor noch einmal auf den Frieden im Innern des Menschen zwischen Körper und Geist. Die Seelenruhe und die Harmonie zwischen Körper und Geist sind die Voraussetzung, dass ein Mensch friedfertig ist und das Streben nach Frieden nicht durch eigene Leidenschaften wie Jähzorn oder Neid verunmöglicht. Wir glauben, friedfertig richtig für den zu verwenden, welcher in sich selbst die Kluft zwischen Fleisch und Körper überwunden hat und den Bürgerkrieg der Natur in eine friedvolle Übereinstimmung geführt hat, so dass nicht mehr länger das Gesetz des Leibes, welches dem Gesetz des Geistes widersteht, in Kraft ist, sondern dass es unter der machtvolleren Herrschaft Hilfskraft der göttlichen Gebote wird.226

Gregor verstand unter den Friedfertigen nicht, wie man erwarten könnte, eine soziale oder politische Form der Friedfertigkeit, sondern konzentrierte sich auf die individuelle Vervollkommnung des Menschen, die er als 223 Beat. 7 (GNO VII,2, 160,11–20 C.). Diese Auslegung der beiden Seligpreisungen auf das Verhältnis von Körper und Geist und speziell die Affekte hin hat Gregor wiederum gemeinsam mit Clemens von Alexandrien. Vgl. Clem., Str. IV,6,36,1 zu den Sanftmütigen und Str. IV,6,40,2–3 zu den Friedfertigen. Vgl. dazu auch KOVACS, Clement of Alexandria and Gregory of Nyssa on the Beatitudes, 315. 224 Vgl. C. MORESCHINI, Gregorio di Nissa, De Beatitudinibus, Oratio VII, in: Drobner / Viciano (Hg.), Gregory of Nyssa: Homilies on the Beatitudes, 229–241. 225 Beat. 7 (GNO VII,2, 153,26–154,2 C.): Ερηνοποι ς δέ στιν  ερήνην διδος λλ!· οκ ν δέ τις τέρ! παράσχοι 5 μ ατ ς χει. Βούλεται τοίνυν πρότερον ε ναί σε πλήρη τ ν τς ερήνης καλ ν. 226 Beat. 7 (GNO VII,2, 160,11–20 C.): λλ’ ο μαι κυρίως ερηνοποι ν χρηματίζειν τ ν τν ν αυτ στάσιν τς σαρκ ς κα το πνεύματος κα τ ν μφύλιον τς φύσεως πόλεμον ες ερηνικν συμφωνίαν γοντα, ταν μηκέτι νεργ ς #  το σώματος νόμος  ντιστρατευόμενος τ νόμ! το νο ς λλ’ ποζευχθε ς τ- κρείττονι βασιλεί1 πηρέτης γίνεται τ ν θείων πιταγμάτων.

2. Vervollkommnung als Tugend

229

Grundlage für jede weitere Form von Friedfertigkeit politischer oder sozialer Art ansah. Das Ziel der Friedfertigkeit wird in dem harmonischen Zusammenwirken von Körper und Geist gesehen.227 Ganz ähnliche deutete Gregor auch in der Schrift über die Vollkommenheit den Frieden, welcher Christus symbolisiere, als Frieden zwischen Körper und Geist.228 In der Seligpreisung der Friedfertigen wird wie schon in der Seligpreisung der Sanftmütigen eine Tendenz Gregors sichtbar, die Seligpreisungen individuumskonzentriert auszulegen und auf den Konflikt von Körper und Geist zuzuspitzen. Sozialpolitische Probleme tauchen dagegen bloß am Rande auf. Dagegen hat Johannes Chrysostomus in einer seiner Predigten die Friedfertigkeit auf die Friedensstiftung für die anderen hin ausgelegt.229 Das ist einerseits bedingt dadurch, dass es sich dabei um eine Gemeindepredigt handelt, während die Auslegung der Seligpreisungen bei Gregor literarischen Charakter hat, es ist aber auch typisch, dass bei einem Autor, welcher die eigene Verantwortung und das Gewissen so betont wie Gregor, beim Individuum angesetzt wird, während der sozialpolitisch sehr aktive Johannes den Ansatz beim konkreten Handeln in der Gemeinschaft suchte. Gregor stand aber mit seiner Tendenz zur Verinnerlichung und Konzentration auf das Individuum in einer festen Tradition. Ganz ähnlich wie Gregor hat auch Origenes auf die Verinnerlichung und die Konzentration auf das Seelische und Geistige besonderen Wert gelegt.230 Die Ausrichtung auf das Individuum und seine seelische Vervollkommnung ist insgesamt ein Erbe der antiken philosophischen Ethik mit ihrer Ausrichtung auf die Glückseligkeit des Einzelnen. Wie tief Gregor von diesem Ansatz geprägt war, zeigt sich darin, dass er in einer Schrift wie der Auslegung der Seligpreisungen mit ihrem betont christlichen Profil diesen Ausgangspunkt nicht in Frage stellte. Deutlich zeigt sich aber auch, dass die Konzentration auf die individuelle Vervollkommnung nicht blind für die Interessen der anderen Menschen war und diese der eigenen Glückseligkeit unterordnete. Vielmehr ist die ganze individuelle Vervollkommnung darauf ausgerichtet, die Beziehungen zu sich selbst, den Mitmenschen und zu Gott harmonisch zu gestalten. Jede Tugend trägt sowohl zur Vervollkommnung des Individuums bei als auch zur friedlichen Gemeinschaft unter den Menschen. 227 Die Auslegung des Friedens und der Friedfertigen hin auf den Frieden zwischen Körper und Geist und die Ruhe vor den Leidenschaften findet sich gemäß Moreschini prägnant auch bei Gregor von Nazianz. Vgl. Gr. Naz., Carm. I,2,34,167; Or. 6; 22; 23. Vgl. dazu MORESCHINI, Oratio VII, 235. 228 Vgl. De perf. (GNO VIII,1, 184,5–21 J.). 229 Vgl. Jo. Chrys., Hom. 15,7.10 in Mt. 230 Auf eine ganz ähnliche Auslegung im Hinblick auf Verinnerlichung weist Meredith in seinem Kommentar zur ersten Homilie bei Origenes hin. Vgl. Or., princ. 2,3,7 (326,14f. GÖRGEMANNS / KARPP): Hoc ergo modo videtur quasi iter quoddam sanctorum profectibus ab illa terra ad illos caelos. MEREDITH, Oratio I‚ 93f.

230

II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

2.2.8. Der volle Einsatz für das Heil Die letzte Seligpreisung weist Verbindungen zu unterschiedlichen vorangehenden Seligpreisungen auf und beschreibt nicht mehr eine eigene Tugend sondern ermahnt zum vollen Einsatz im Streben nach allen Tugenden. Die Verfolgung um der Gerechtigkeit willen verstand Gregor als Wettlauf zur Seligkeit, wobei er sich im Bild auf das stoische Bild des Wettlaufs oder des Wettkampfes in der Tugend stützte.231 Im Wettlauf nach der Seligkeit gebe es für den Menschen Verfolger, die ihn daran hindern könnten, den Siegespreis zu erlangen. Diese Verfolger waren für Gregor all das, was den Menschen im Irdischen zurückhalte, vor allem irdische Güter. Wie die Märtyrer alles um der kommenden Seligkeit willen aufgaben, so gelte es für alle, sich vom Irdischen zu befreien, so lautet die Botschaft in der Auslegung der letzten Seligpreisung. In dieser letzten Seligpreisung mit ihrer weltflüchtigen Tendenz nahm Gregor anhand des christlichen Vorbilds der sich der Welt entsagenden und aufopfernden Märtyrer eine negative Deutung der Welt auf, welche es zu verlassen gelte, um sich den wahren Werten zuzuwenden. Deutlich wird auch nochmals, wie Gregor sich das Verhältnis von Tugend und christlichem Heil vorstellte. Zum Beginn der letzten Seligpreisung erklärte Gregor, die auf dem Aufstieg erreichte Reinigung durch die Tugenden bedeute die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand und damit den Eingang in das Himmelreich. Die Reinigung zeigt den Aufstieg des beschmutzten Menschen zur Reinheit und Naturgemäßheit an … und damit zeigt die achte Seligpreisung die Wiederherstellung zur himmlischen Lebensweise der in die Sklaverei Abgefallenen an und ihre Rückversetzung von der Sklaverei zur Königsherrschaft.232

Die Erlangung des menschlichen Heils ist ein Prozess, bei dem Gott die Menschen durch die Befähigung zur Tugend zu sich zurückruft zu dem Zustand der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit, in welcher die Menschheit erschaffen ist. Die Gnadenhaftigkeit dieser Rückkehr wird dabei immer wieder betont. Die Befähigung zur Rückkehr liegt in der göttlichen Gnade, denn in der Inkarnation hat Gott die menschliche Natur zu ihrer ursprünglichen Schönheit zurückgebracht und allen Menschen den Weg eröffnet, die gottebenbildliche Natur zu verwirklichen. Gleichzeitig ist die 231

Zum Agon-Motiv vgl. U. POPLUTZ, Das Glück des Übenden. Vom agonistischen Umgang mit den Affekten in der stoischen Philosophie, Hermeneutische Blätter 1,2 (2004), 83–90. 232 Beat. 8 (GNO VII,2, 161,19–21; 161,24–162,3 C.):  καθαρισμ ς τν π τ καθαρόν τε κα κατ φύσιν πάνοδον το μολυνθέντος νθρώπου νδείκνυται … κα

νταθα % γδόη μακαριότης τν ες τος ορανος ποκατάστασιν χει τ ν ες δουλείαν μ"ν κπεσόντων, π βασιλείαν δ" πάλιν κ τς δουλείας νακληθέντων.

2. Vervollkommnung als Tugend

231

Verwirklichung der Gnade beim Menschen an dessen freien Willen gebunden, er kann sie also auch ablehnen. An der Bedeutung der freien menschlichen Entscheidung hielt Gregor dezidiert fest, sonst müsste man ja schließen, dass Gott willkürlich den einen das Heil zukommen lasse und anderen dagegen nicht, wie er in der katechetischen Rede erklärte.233 Während Augustin in seiner Prädestinationslehre die unverdiente Gnade aus der Perspektive der Geretteten hervorhob, sah Gregor vor allem die Willkür einer solchen Konzeption gegenüber denjenigen, welche nicht gerettet werden, was seinem Gottesbegriff widersprach. Aus diesem Grund war für ihn die Freiheit des Menschen unverzichtbar. Nur so könne erklärt werden, dass nicht alle den Weg des Heils begehen. Allerdings war Gregor überzeugt, dass nach dem reinigenden Gericht auch diejenigen von Gott in den Prozess des Heils hereingenommen werden, die sich in diesem Leben dieser Perspektive aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch verwiegerten.234 2.3.

Ein christlicher Tugendkanon?

Die Auslegung der Seligpreisung ist geprägt durch die Beschreibung christlicher Tugenden. Das Christliche zeigt sich sowohl in der Auswahl der Tugenden als auch in der Auslegung. Stärker als in anderen Schriften hat Gregor sich in der Auslegung der Seligpreisungen darum bemüht, das christliche Profil einzelner Tugenden aufzuzeigen. Vergleicht man die von Gregor beschriebenen Tugenden mit dem klassischen Tugendkanon der Kardinaltugenden, so fällt auf, dass im Gegenüber zum platonischen Tugendkanon die νδρε*α, der Mut oder die Mannhaftigkeit fehlt und die Weisheit nur in einer ganz bestimmten Form als dem Streben nach der Erkenntnis des wahren Guts vorkommt. Das Fehlen der Mannhaftigkeit oder des Mutes ist typisch auch für die übrigen Schriften Gregors. In den Seligpreisungen gibt es eine einzige Nennung der νδρε*α in einer Aufzählung in der Beschreibung der Gerechtigkeit als Urbild aller Tugenden.235 Auch die meisten anderen Nennungen der νδρε*α finden sich in einem Tugendkatalog. Mut und Tapferkeit werden von Gregor denn auch nicht im ursprünglichen Sinne als unerschrockenen Einsatz in einem konkreten Kampf gewertet sondern auf den Kampf gegen das Böse im Menschen, seine Sünden und Laster, reduziert und wie die Friedfertigkeit verinnerlicht.236 Gegenüber allem Bösen und den Leiden-

233

Or. catech. 7 (GNO III,4, 28,10–20 M.). Anim. et res. 13 (PG 46, 96C–105A); Or. catech. 8 (GNO III,4, 29,1–36,16 M.). 235 Beat. 4 (GNO VII,2, 118,21C.). 236 Vgl. ähnlich zur νδρε*α auch KONSTANTINOU, Tugendlehre, 132. Eine etwas andere Meinung hinsichtlich der Bedeutung der νδρε*α, nicht aber der Funktion, findet 234

232

II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

schaften gelte es, dies Tapferkeit und den Mut, teilweise auch der Zorn, wie Wachhunde einzusetzen.237 Zudem nannte Gregor die νδρε*α jeweils an den Stellen, wo das aristotelische Beispiel der Tugend als Mitte zwischen zwei Extremen beschrieben wird und Gregor das aristotelische Beispiel mit der Tapferkeit als Mitte zwischen der Tollkühnheit und der Feigheit anführte.238 Eher ungewöhnlich ist die marginale Bedeutung der Weisheit in der Auslegung der Seligpreisungen. Im weiteren Rahmen der übrigen Schriften Gregors nimmt die Weisheit eine bedeutsame Stelle ein und kommt in den meisten Tugendkatalogen vor. Die Weisheit ist auch eines der Hauptattribute Gottes, welche durch die Gottebenbildlichkeit verwirklicht wird. Gregor schränkte allerdings immer wieder die Bedeutung menschlicher und weltlicher Erkenntnis im Hinblick auf die Erkenntnis des Wesens Gottes ein, das über der menschlichen Erkenntnis stehe. Jedoch könnten aus der Betrachtung der Welt Schlüsse auf das Wirken Gottes gezogen werden, wie Gregor zur sechsten Seligpreisung erläuterte.239 Die Weisheit wird relativiert zugunsten des Strebens nach dem einen und wahren Gut, das nicht rein intellektuell erfolgt, sondern in der aktiven Reinigung und der Betrachtung des Guten erlangt werden kann.240 Zusammenfassend stellt sich die Frage, ob Gregor in der Auslegung der Seligpreisungen oder sonst in seinen Schriften einen expliziten Tugendkanon aufführte und wie er mit den philosophischen und christlichen Kardinaltugenden umging. Sieht man sich die Auslegung der Seligpreisungen auf das Vorkommen der klassischen Kardinaltugenden und der christlichen Tugenden an, so fällt auf, dass Gregor sie durchaus nennen kann, allerdings meist im Kontext mit anderen Tugenden und ohne besondere Hervorhebung.241 Die klassischen Kardinal-Tugenden erscheinen neben anderen in unterschiedlichen Aufzählungen und oft nicht vollständig. sich bei VÖLKER, Gregor von Nyssa, 236: „Aller Akzent wird doch auf die νδρε*α gelegt und diese ausschließlich als ein Verhalten im Kampf gegen die πάθη gewertet.“ 237 Or. dom. 3 (GNO VII,2, 36,8 C.): νδρείως χοντα πρ ς τς τ ν παθ ν προςβολς. Wiederholt bringt Gregor die auch in der Definition von Aristoteles als Mitte zwischen Kühnheit und Feigheit. Virg. 7 (GNO VIII, 283,4–7 C.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 132,11–13 M.); Eccl. 6 (GNO V, 375,4–7 A.). 238 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 132,13–16 M.); Virg. 7 (GNO VIII,1, 283,4–7 C.); Eccl. 6 (GNO V, 375,7–8 A.). 239 Beat. 6 (GNO VII,2, 141,1–10C.). 240 Beat. 6 (GNO VII,2, 141,28–142,10 C.). 241 Cant. 1 (GNO VI, 35,16–18 L.) nennt Gregor die üblichen Kardinaltugenden in der Reihenfolge σοφ*α, σωφροσνη, δικαιοσνη, νδρε*α und zusätzlich noch die φρνεσις, die er schon in der Aufzählung in der Auslegung der Seligpreisung anstelle der σοφ*α genannt hatte. Wiederum handelt es sich um eine pauschale Zusammenfassung ülicher Tugenden, darauf folgt ein kα τ τοιατα, was den pauschalen Charakter unterstreicht. Vgl. auch Cant. 15 (GNO VI, 442,3–4 L.) gefolgt von einer erweiterten Liste.

2. Vervollkommnung als Tugend

233

An einigen Stellen nennt Gregor sie auch als eine bekannte Größe stellvertretend für alle Tugenden.242 Gregor setzte sie als feste Größe voraus, ohne dass ihnen explizit einen besonderen Stellenwert zugeschrieben würde. Im Hinblick auf die christlichen Kardinaltugenden fällt ähnlich auf, dass sie als feste Größe in der Auslegung der Seligpreisungen keine Bedeutung erhalten, auch wenn sie an anderen Stellen als feste Größe vorausgesetzt sind. In seiner Lobrede auf Ephraem nannte Gregor die christlichen Kardinaltugenden Glaube, Liebe und Hoffnung als Anfang einer ganzen Reihe von Tugenden, wobei die klassischen Kardinaltugenden allerdings fehlen.243 In De anima et resurrectione erörterte Gregor den Vorrang der Liebe vor den anderen beiden, insgesamt haben aber weder die klassischen noch die christlichen Kardinaltugenden als feste Größe eine herausragende Bedeutung.

242

Vgl. auch Eccl. 5 (GNO V, 355,16–356,1 A.). De vita Eph. (PG 46, 824f.): Τί δ" τ τούτου, δι’ Zν ξυφναι τ ν παινον πεθέμεθα; Πρξις κα θεωρία, αHς  κατ μέρος τ ν ρετ ν σμ ς πακολουθε, πίστις, λπ ς, γάπη … „Was ist das nun, woraus wir sein Lob bilden wollen? Aus Praxis und Theorie, in denen die einzelnen Tugenden nachfolgen: Glaube, Liebe, Hoffnung ...” Vgl. auch De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 102,22–103,4 M.). 243

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist Die Tugend als Erfüllung der Bestimmung des Menschen und seiner Natur führt zu der grundsätzlicheren Frage nach dem, was der Mensch ist, was seine Bestimmung ist und was ihn als Menschen auszeichnet.1 Gregor war sich der Relevanz dieser Frage bewusst und widmete verschiedene Schriften der Anthropologie mit der Bestimmung des Ursprungs und des Ziels des Menschen aus christlicher Perspektive und der Charakterisierung der daraus entstehenden ethischen Aufgabe. Besonders die Schriften über die Erschaffung des Menschen, De hominis opificio und der Dialog mit Macrina über die Seele und die Auferstehung, De anima et resurrectione, stellen den Menschen ins Zentrum der Überlegungen. Beide Schriften zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht bloße Beschreibung des Menschen oder der menschlichen Seele bieten, sondern diese Beschreibung einerseits im Dialog mit philosophischen und christlichen Konzepten stattfindet und andererseits verbunden ist mit Überlegungen zu den Konsequenzen für die christliche Lebenspraxis. Der christliche Horizont zeigt sich sowohl darin, dass im kritischen Gegenüber zu paganen Ansätzen aufgezeigt wird, was der Mensch in einer christlichen Perspektive ist, als auch darin, dass der Mensch und sein Leben eingebunden werden in die biblische Heilsgeschichte. 1 Zur Beziehung von Erziehung und Anthropologie vgl W EISS, Erziehungslehre, 6. Die Anthropologie Gregors ist schon vielfach untersucht worden. Um unter den Untersuchungen zur Anthropologie Gregors nur einige neuere zu nennen: C. APOSTOLOPOULOS, Phaedo Christianus. Studien zur Verbindung und Abwägung des Verhältnisses zwischen dem platonischen ‚Phaidon‘ und dem Dialog Gregors von Nyssa ‚Über die Seele und die Auferstehung‘, Frankfurt am Main 1986; J. BEHR, The Rational Animal, 219–247; S. DE B OER, De anthropologie van Gregorius van Nyssa, Assen 1968; G. CASTELLUCCIO, L’antropologia di Gregorio Nisseno, Bari 1992; J. CAVARNOS, The Relation of Body and Soul in the Thought of Gregory of Nyssa, in: Gregor von Nyssa und die Philosophie. Zweites internationales Kolloquium über Gregor von Nyssa, Leiden 1976, hrsg. v. H. Dörrie / M. Altenburger / U. Schramm, Leiden 1976, 61–78; V. E. HARRISON, Male and Female in Cappadocian Theology, JThSt 41 (1990), 441–471; Ladner, Anthropology, 59– 94; A. MEREDITH, The Concept of Mind in Gregory of Nyssa and the Neoplatonists, StPatr 22 (1989), 35–51; PEROLI, Il Platonismo e l’antropologia filosofica di Gregorio di Nissa; DERS., Gregory of Nyssa and the Neoplatonic Doctrine of the Soul, VigChr 51 (1997), 117–139; POCHOSHAJEW, Die Seele bei Plato, Plotin, Porphyr und Gregor von Nyssa; SMITH, Passion and Paradise, 21–74; VOLP, Die Würde des Menschen, 172-182; VON STRITZKY, Problem der Erkenntnis bei Gregor von Nyssa, Münster 1973, Kapitel 1– 2; ZACHHUBER, Human Nature, besonders Teil II, 123–237. Auch in vielen anderen Untersuchungen zu Gregor gibt es ein Kapitel über einzelne Kapitel der Anthropologie, insbesondere über die Seele.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

235

Die anthropologischen Konzepte, welche die Christen vorfanden, waren entweder medizinischer oder aber philosophischer Provenienz, wobei die medizinischen Untersuchungen im zweiten Jahrhundert unter Galen einen Höhepunkt erreichten und eine Systematisierung erlangten, welche über Jahrhunderte einflussreich bleiben sollte. Die Christen hatten sich in den ersten Jahrhunderten mit der Anthropologie nicht sehr intensiv auseinandergesetzt. Entweder berief man sich auf eine biblische Anthropologie, die weit weg von den medizinischen und philosophischen Forschungen der Zeit waren oder aber integrierte Elemente aus der philosophischen und medizinischen Anthropologie, ohne weitergehende Reflexion über die Kompatibilität der unterschiedlichen Konzepte.2 Es herrschten daher zur Zeit Gregors auch keine klar definierten Lehrmeinungen und Abgrenzungen im Hinblick auf eine christliche Anthropologie wie es sie im Bezug auf die Trinitätslehre gab. In dieser Situation führte Gregors Schrift eine Klärung des christlichen Menschenbilds herbei, wobei sowohl die Auseinandersetzung mit den nichtchristlichen anthropologischen Konzepten als auch mit innerchristlichen anthropologischen Fragen eine Rolle spielten. Die Schrift über die Erschaffung des Menschen, welche Gregor ursprünglich für seinen Bruder Petrus schrieb, kann gut als geistige Rüstung für dessen Auseinandersetzungen mit Origenisten, Eustathianern und Enkratiten in seiner Funktion als Bischof von Sebaste verstanden werden, genauso diskutierte sie aber für ein gebildetes Publikum bekannte anthropologische Einsichten aus der Philosophie und der Naturwissenschaft aus einer christlichen Perspektive. 3.1. Der Mensch als Mittler zwischen geistiger und materieller Dimension der Welt In der Schrift De hominis opificio wird der Mensch im Horizont der biblischen Schöpfungsgeschichte von Gen 1 gedeutet.3 Dabei verwendete Gregors sowohl philosophische Quellen als auch die Auslegung des Basilius zum Sechstagewerk, welche Gregor im Gegensatz zu den philosophi-

2

Vgl. dazu W. TELFER, The Birth of Christian Anthropology, JThS 13 (1962), 347– 354, hier 347f. 3 In dieser Schrift schloss Gregor an die Ausführungen über den Hexaemeron an, wobei er erklärte, er wolle das Werk des Basilius weiterführen. Die Homilienreihe des Basilius über das Sechstagewerk stammte aus der Fastenzeit des Jahres 378, vgl. Basile de Césarée, Sur l’origine de l’homme (SC 160), hrsg. v. A. Smets / M. Van Esbroeck, Paris 1970, Introduction, 21. Im Vorwort versichert Gregor, seine Fortführung stelle keine Kritik am Werk des Bruders dar. Zur Kosmologie bei Gregor vgl. auch J. F. CALLAHAN, Greek Philosophy and the Cappadocian Cosmology, DOP 12 (1958), 29–57.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

schen Quellen explizit nennt.4 Leitend war für Gregor die Erörterung des Menschen in der Perspektive des Glaubens und was dieser über die Vergangenheit und Herkunft, sowie seinen momentanen Zustand und die Zukunft aussage.5 Damit wird die Intention Gregors deutlich, für Christen eine Anthropologie aufzuzeigen, welche im christlichen Glauben und den biblischen Schriften gründete und jeden Menschen als Teil der umfassenden Geschichte des biblischen Gottes mit den Menschen verstand. Die Schrift setzt ein mit einer Beschreibung der Welt vor der Erschaffung des Menschen, der wohlgeordneten Schöpfung Gottes, in welcher dem Menschen sein Platz zugewiesen wird. Der neu geschaffene Mensch entspricht dieser guten Ordnung, es ist ihm gemäß Gregor ein natürliches Streben nach dem Guten eigen.6 Alles von Gott Geschaffene ist schön und gut.7 Die im Schöpfungsbericht beschriebene Abfolge der geschaffenen Dinge und Lebewesen von den leblosen Dingen zu den Pflanzen über die Tiere zu den Menschen deutete Gregor als Abbildung der auf jeder Stufe zunehmenden Lebenskräfte der schönen und gut geordneten Welt. Von der Fähigkeit, sich zu ernähren und zu wachsen, über die schon die Pflanzen verfügten, über die 4

Wie Jean Daniélou in seiner Übersetzung anhand vieler Parallelen aufgezeigt hat, weist Gregors Schrift große Ähnlichkeit mit Ciceros De natura deorum auf. Man hat daraus auf eine gemeinsame Quelle der beiden Schriften geschlossen, wobei jedoch umstritten ist, um welche Schrift es sich handelt, vielfach wird eine Schrift von Poseidonius angenommen. Vgl. K. GRONAU, Poseidonios und die jüdisch-christliche Genesisexegese, Leipzig 1914, 218–219. Dies ist allerdings angesichts der überlieferten Quellen zu Poseidonius sehr hypothetisch. Vgl. etwa E. CORSINI, Nouvelles perspectives sur le problème des sources de l’Hexaméron de Grégoire de Nysse, StPatr 1 (1957), 94–103. Zur Diskussion vgl. auch ZEMP, Grundlagen, 101–113. Die große Nähe zu Ciceros De natura deorum und die von Jean Daniélou geäußerte Vermutung einer gemeinsamen Quelle zeigen, dass Gregor in vielerlei Hinsicht konventionelle Ansichten der paganen Welt übernahm und über weite Strecken aus kosmologischen und anthropologischen Schriften der Umwelt referierte, die er mit biblischen Grundlagen verband. Als Quellen, die auf einen biblischen Hintergrund beruhen, sind Philons De opificio mundi und der heute nur noch fragmentarisch erhaltene Genesiskommentar von Origenes für Gregor bedeutsam. In der Auseinandersetzung mit Origenes stützte Gregor sich unter anderem auf Ansätze wie sie in De resurrectione von Methodius sichtbar werden, mit dem Gregor das Anliegen teilte, die gute Schöpfung des Menschen als einer Einheit aus Körper und Geist zu betonen. Auf die vielen Bezüge Gregors zu dieser Schrift macht die von Mühlenberg besorgte, kritische Edition der Oratio catechetica magna (GNO III,4) aufmerksam. Die naturwissenschaftlich-medizinischen Fragen sind dagegen vor allem durch Galen geprägt. 5 Hom. opif. Prolog (PG 44, 128A–B). 6 De vita Greg. Thaum. (GNO X,1, 4,14f. H.). Vgl. auch Or. catech. 5 (GNO III,4, 17,25–18,16 M.); Bas., Hexaem. IX,4. Wie M. MIRA, Ideal ascético e antropología antiarriana en las homilías de Basilio Magno (Patrologia: Beiträge zum Studium der Kirchenväter 15), Roma 2004, 167, hervorhebt, ist dies der einzige Text, in welchem Basilius von natürlichen Tugenden spricht. 7 Vgl. Eccl. 8 (GNO V, 428,6f. A.): οκον πν κτίσμα θεο τ ν ν %μν κατεσκευασμένων καλ ν.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

237

Fähigkeit der sinnlichen Wahrnehmung, welche bei den Tieren hinzukomme, bis zum Verstand, der sich nur bei den Menschen und bei den rein geistigen Wesen finde, zeige die Schöpfungsordnung eine kontinuierliche Zunahme der Lebenskräfte.8 Die von Gott geschaffene Welt besteht gemäß Gregor aus einem materiell-vergänglichen und einem immateriell-unvergänglichen Teil. Zweigeteilt ist – der höchsten Unterscheidung gemäß – die Natur des Seienden. Der eine Teil nämlich ist sinnlich-materiell, der andere aber geistig-immateriell. Sinnlich nennen wir also das, was durch die Sinneswahrnehmung erfasst wird, geistig das, was die sinnliche Wahrnehmung übersteigt. Von diesen (beiden Realitäten) ist das Geistige unendlich und unbegrenzt, das andere aber wird von bestimmten Grenzen total umfasst.9

Gemäß dieser Differenzierung lassen sich die Geschöpfe der Welt in geistige und materielle einteilen und je nach ihren weiteren Fähigkeiten wie der Sinneswahrnehmung und der Vernunft unterschieden. Demnach ist ein Teil der Geschöpfe körperlich, der andere rein geistig; von den körperlichen ist ein Teil seelenlos, der andere beseelt; beseelt nenne ich aber schon das, was Leben hat. Von den lebendigen sind einige mit Sinneswahrnehmung ausgestattet, andere haben an letzterer keinen Anteil. Von den mit Sinneswahrnehmung beschenkten Wesen sind die einen vernünftig, die anderen vernunftlos.10

Die den Kosmos kennzeichnende Differenzierung in immateriell-rationale und materiell-irrationale Wesen widerspiegelt sich gemäß Gregor im Menschen, wie er in der Auslegung des Hoheliedes darstellt, denn im Menschen als einzigem Wesen kommen die beiden Bereiche, der geistige und der materielle, zusammen. Von zwei einander gegenüberstehenden Extremen ist das Menschliche die Mitte: von der göttlichen unkörperlichen Natur und der irrationalen des viehischen Lebens.11 8 Hom. opif. 8 (PG 44, 145A); Anim. et res. 8 (PG 46, 60A,35–38). Vgl. auch Hom. opif 8 (PG 44, 144D–145A; 148C). Zum evolutionistischen Denken Gregors vgl. LADNER , Anthropology, 71. 9 Cant 6 (GNO VI, 173,7–11): διχ- τέτμηται κατ τν νωτάτω διαίρεσιν % τ ν ντων φύσις· τ μ"ν γάρ στιν ασθητ ν κα λ δες, τ δ" νοητόν τε κα ϋλον. ασθητ ν μ"ν ο6ν λέγομεν σον τ- ασθήσει καταλαμβάνεται, νοητ ν δ" τ περππτον τν ασθητικν κατανόησιν. Vgl. auch Hom. opif. 8 (PG 44, 144D–145A); Or. catech. 37 (GNO III,4, 93,1–3 M.). 10 Anim. et res. 8 (PG 46, 60A–B): Οκον τ ν ντων τ μ"ν σωματικ ν, τ δ" νοερόν στι πάντως· το δ" σωματικο, τ μ"ν μψυχόν στι, τ δ" ψυχον. Vμψυχον δ" λέγω τ μετέχον ζως· τ ν δ" ζώντων, τ μ"ν ασθήσει συζ-, τ μοιρε ταύτης. Πάλιν τ ν ασθητικ ν, τ μ"ν λογικά στι, τ δ" λογα. 11 Hom. opif. 16 (PG 44, 181C): Δύο τιν ν κατ τ κρότατον πρ ς λληλα διεστηκότων, μέσον στ τ νθρώπινον, τς τε θείας κα σωμάτου φύσεως, κα τς λόγου κα κτηνώδους ζως. Eugenio Corsini hat die Mittlerstellung des Menschen gedeutet als eine Ablösung der Mittlerstellung des Sohnes / Logos zwischen Immateriellem und Materiellem, Rationalem und Irrationalem. Damit habe Gregor sich auf neue Art zum

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Was den Menschen kennzeichnet, ist die Prägung sowohl durch die irrational-sinnliche Natur als auch durch die geistige, was ihm Anteil an zwei verschiedenen Lebensformen gibt. Während die himmlischen Wesen geistiger Natur und ewig sind, ist das Leben auf der Erde durch die Materie und die Vergänglichkeit geprägt. Alles Geschaffene ist wandelbar, unwandelbar nur das Ungeschaffene, also Gott, welcher alles geschaffen hat. Die Position und die Aufgabe des Menschen im Kosmos werden als ein Mittelwesen und Mittlerwesen beschrieben. Die Mittlerstellung des Menschen ist gekennzeichnet durch seine Teilhabe am geistigen und am körperlich-sinnlichen Bereich. Sie ermöglicht ihm den umfassenden Genuss der Güter der geschaffenen Welt, sowohl der materiellen Schönheit als auch der geistigen Güter. Mit dem Körper nimmt der Mensch teil an der irdisch-materiellen, irrationalen und sich wandelnden Natur der Welt und mit dem geistigen Teil an der überirdisch-immateriellen rationalen und ewigen Natur Gottes und der Engel.12 Der körperlich-materielle Mensch war für Gregor der vergängliche Mensch, die Teilhabe am Materiellen unterwirft den Menschen dem permanenten Wandel der geschaffenen materiellen Welt, während sein Geist ihm die Ewigkeit Gottes eröffnet. Die Teilhabe an den beiden unterschiedlichen Bereichen wird von Gregor nicht als Antagonismus verstanden wie in platonischen oder gnostischen Konzeptionen, in deren Tradition diese Konzeption wiederum steht, vielmehr betonte er die Einheit und die Angewiesenheit beider Teile im Menschen.13 Die Grunddifferenz zwischen dem Menschen und Gott ist gemäß Gregor jedoch nicht die Körperlichkeit, sondern die Ungeschaffenheit, die Unwandelbarkeit und die Unendlichkeit Gottes gegenüber der Geschaffenheit, Wandelbarkeit und Begrenztheit des Menschen.14 Der geschaffene Mensch Problem geäußert, wie aus dem Geistigen das Materielle habe entstehen können. Gegen die stufenweise Emanation im Neuplatonismus, einen Dualismus oder dem Konzept mit dem Logos als Mittler zwischen den Bereichen komme bei Gregor dem Menschen die Funktion als Mittler zwischen den Bereichen zu. Vgl. E. CORSINI, La polemica contro Eunomio e la formazione della dottrina sulla creazione in Gregorio di Nissa, in: Bianchi / Crouzel, Archē e telos, 197–216. In den Ansätzen, die den Logos als Mittler sahen, ging es allerdings vor allem um die Funktion des Logos als Schöpfungsmittler, wohingegen der Mensch nicht Schöpfungsmittler sondern geschaffenes Bindeglied ist und Gregor seine Aufgabe nicht als Schöpfer beschrieb sondern als Nutznießer der verschiedenen Güter. Vgl. Hom. opif. 2 (PG 44, 133B). 12 Vgl. Hom. opif. 2 (PG 44, 133B). Vgl. auch Plot., Enn. III,2,8,9: Der Mensch ist in der Mitte zwischen den Göttern und den wilden Tieren. 13 Vgl. CAVARNOS, Relation of Body and Soul, 63: „The platonic notion that in man there are two radically different principles, the material and immaterial, the body and the soul, which interact, left its permanent mark on Gregory.” Gregor betonte aber immer wieder, dass die beiden Dimensionen im Menschen eine Einheit bilden sollten, vgl. besonders Or. catech. 16 (GNO III‚4, 48,9–16 M.). 14 Hom. opif. 16 (PG 44, 184C). Vgl. auch Ph., Opif. mund. LIII,151.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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ist ein Wesen, welches ständiger Veränderung und Wandel unterworfen ist, da er seine Existenz dem Wandel vom Nichtsein zum Sein verdankt und damit wie alles Geschaffene dem Wandel essentiell unterworfen ist.15 Gregor brauchte zur Illustration der menschlichen Wandelbarkeit mehrfach das Bild des Flusses, der immer weiter fließt. Würde der unendliche Fluss der Veränderung aufhören, gäbe es die Welt und den Menschen nicht mehr.16 Der Wandel bedinge die Zeitlichkeit des Menschen, seinen Wachstums und Untergang, wodurch der Mensch Teil des ewigen Kreislaufs der Natur sei.17 Die Wandelbarkeit der menschlichen Natur macht die Bewegung zum Guten oder Schlechten erst möglich.18 Folgt der Wandel der menschlichen Natur, ist es ein Wandel zum Besseren, sonst zum Abfall von der menschlichen Natur.19 Es wird allgemein von allen darin übereingestimmt, dass die ungeschaffene Natur unwandelbar ist und sich immer gleich bleibt, die geschaffene Natur hingegen unmöglich ohne Veränderung sein kann. Denn diese ist aus der Nichtexistenz in die Existenz übergegangen.20

Die Aufgabe des Menschen, welcher sowohl am geistigen wie am körperlichen Bereich teilhat, besteht darin, zwischen den beiden Bereichen zu vermitteln und sie zu verbinden, indem er über die irrationale Natur gemäß dem eigenen Verstand und dem Schöpferwillen Gottes herrscht und sich an den geschaffenen Gütern und ihrem Schöpfer erfreut.21 So führte er den Menschen, sein Werk ein und beauftragten ihn nicht zur Schöpfung des nicht Vorhandenen, sondern zur Nutznießung des Vorhandenen. Deshalb legte er der Erschaffung ein doppeltes Fundament zugrunde, dem Irdischen mengte er Göttliches bei, so dass derjenige, welchem beides verwandt und eigen ist, den Genuss von beidem habe,

15

Or. catech. 21 (GNO III,4, 55,9–17 M.). Hom. opif. 13 (PG 44, 165A). Etwas später macht Gregor den Fluss der Veränderung jedoch nicht an der Körperlichkeit fest, sondern an der Geschaffenheit im Gegensatz zum Ungeschaffenen, Hom. opif. 16 (PG 44, 184D). 17 Hom. opif. 18 (PG 44, 165B). Solche Äußerungen widersprechen für Gregor nicht der einmaligen Schöpfung der Welt. 18 Vgl. DANIÉLOU, L’être et le temps, 101: „La liberté créée implique une instabilité foncière qui l’empêche d’être jamais immobile et qui fait du changement la loi de son être. Or le changement ici est essentiellement l’aptitude à choisir entre le bien et le mal.“ 19 Or. catech. 8 (GNO III,4, 35,16–23 M.). 20 Hom. opif. 16 (PG 44, 184C): Συνομολογεται γρ πάντη τε κα πάντως, τν μ"ν κτιστον φύσιν κα τρεπτον ε ναι, κα ε $σαύτως χειν, τν δ" κτιστν δύνατον νευ λλοιώσεως συστναι. Ατ γρ % κ το μ ντος ες τ ε ναι πάροδος. 21 Auf diese Verantwortung rekurrierte Gregor, wie schon gesehen, in unterschiedlichen Kontexten. Etwa wenn er das verantwortungslose Leerfischen der Flüsse und Seen und das Leerjagen der Wälder um der menschlichen Genusssucht willen anlagte. Vgl. Paup. I (GNO IX, 104,14–105,7 V. H.). 16

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

den Genuss Gottes durch die göttliche Natur und den Genuss der irdischen Güter durch die gleiche Abstammung wie die mit Sinnen ausgestatteten Wesen.22

Die Herrscherstellung des Menschen in der Welt wird von Gregor als Verantwortung gedeutet, der es gerecht zu werden gelte. Ein vollendetes Leben und nicht äußere Schönheit seien Zeichen der göttlichen Schönheit.23 Das Göttliche im Menschen besteht in seiner Rationalität, welche seine hervorgehobene Stellung begründet, seine Herrschaftsstellung über die Tiere, die Tugendhaftigkeit, die Freiheit sowie die Teilhabe an der Unsterblichkeit.24 Die Definition des Menschen als Ebenbild Gottes war auch bei den Philosophen verbreitet, Gregor sah darin jedoch die typisch christliche Definition des Menschen.25 Wie sich im ersten Teil gezeigt hat, maß Gregor der Gottebenbildlichkeit des Menschen eine Doppelfunktion zu als Auszeichnung und ethischen Anspruch zu. Bei einigen Autoren wurde diese doppelte Bedeutung verdeutlicht, indem sie zwischen dem Menschen als Abbild Gottes und seiner Ähnlichkeit unterschieden. Bei Autoren wie Irenäus, Clemens von Alexandria, Origenes, Basilius und anderen findet sich die Unterscheidung zwischen der Schöpfung in der Gottebenbildlichkeit und der Angleichung an Gott als ethisches Ziel durch die Tugend.26 Die Ähnlichkeit sei dem Menschen durch den Fall verloren gegangen und müsse nun neu angestrebt werden.27 Gregor unterschied die beiden Begriffe nicht, ging aber auch davon aus, dass der Mensch seine Gottebenbildlichkeit und Ähnlichkeit neu verwirklichen müsse.28 Insbesondere in den Gemeindepredigten wurde deutlich, wie wichtig für Gregor der Indikativ der Gottebenbildlichkeit war, den es von den Mitmenschen zu achten gelte.

22 Hom. opif. 2 (PG 44, 133B): οτως εσάγει τ ν νθρωπον, ργον ατ δος ο τν κτσιν τ ν μ προσόντων, λλ τν πόλαυσιν τ ν παρόντων. Κα δι τοτο διπλς ατ τς κατασκευς τς φορμς καταβάλλεται, τ γηΐν! τ θεον γκαταμίξας· Eνα δι’ μφοτέρων συγγεν ς τε κα οκείως πρ ς κατέραν πόλαυσιν χ8 το Θεο μ"ν δι τς θειοτέρας φύσεως, τ ν δ" κατ τν γν γαθ ν δι τς μογενος ασθήσεως πολαύων. 23 Hom.opif. 5 (PG 44, 137A). 24 Hom. opif. 3–5 (PG 44, 133C–137C). 25 Vgl. LADNER, Anthropology, 63. Ausführlich zur Gottebenbildlichkeit ist MERKI, &ΜΟΙΩΣΙΣ, 92–146; vgl. auch SMITH, Passion and Paradise, 21: „The imago Dei (image of God) is the appropriate place to embark on our study of Gregory of Nyssa’s theory of human nature because it is the essence of that nature.“ (Hervorhebung Smith). 26 Vgl. Iren., Haer. V,6,1; Clem., Str. II,22,131,6; Paed I,12; Or., princ. III,6,1; Bas., Spir. 18,45; Bas., Attende tibi ipsi 7. In der Ep. 233 und Spir. IX,23 betonte Basilius allerdings die Erlangung der Ähnlichkeit durch die göttliche Gnade. Vgl. MIRA, Ideal ascético, 163. 27 Vgl. LADNER, Anthropology, 64; MERKI, &ΜΟΙΩΣΙΣ, 167; DE BOER, Anthropologie, 150; CASTELLUCCIO, Antropologia, 132f. 28 Vgl. dazu MERKI, &ΜΟΙΩΣΙΣ, 138f.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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In bewusster Auseinandersetzung mit der Philosophie diskutierte Gregor den Begriff des Mikrokosmos für den Menschen.29 Obwohl er diesen Begriff auch positiv aufgriff, sah er sich in De hominis opificio zur Aussage bemüßigt, dieser typisch philosophische Begriff sei im Vergleich mit der Gottebenbildlichkeit eine Herabsetzung des Menschen und werde ihm nicht gerecht. Allerdings erscheint der Bergriff auch auffallend häufig in der medizinischen Literatur.30 Der Konzeption vom Menschen als Mikrokosmos müsse die Ebenbildlichkeit Gottes des Menschen beigefügt werden, welche die wahre Würde des Menschen umschreibe. Denn der Begriff des Mikrokosmos vergleiche den Menschen mit etwas Geschaffenem, dem Universum, der Begriff der Gottebenbildlichkeit hingegen sage die Ähnlichkeit mit dem Schöpfer selbst aus. In anderen Kontexten griff Gregor die Rede vom Mikrokosmos für den Menschen auch positiv auf als Ausdruck dafür, dass die leitende und lebenserhaltende Kraft Gottes mit der Wirkung der Seele auf den Körper zu vergleichen sei.31 Sowohl die Bezeichnung des Menschen als Mikrokosmos wie auch als Ebenbild Gottes sehen in der rationalen Struktur des Menschen dessen Kennzeichen.32 Anders als bei den reinen Geistwesen ist die Rationalität 29

Bei Gregor kommt die Bezeichnung an verschiedenen Stellen vor, vgl. etwa Hom. opif. 16 (PG 44, 177–180B); Gregor stellte die vermeintliche Hochachtung des Menschen bei den Philosophen mit dem Mikrokosmos-Konzept den biblischen Aussagen des Menschen von der Imago Dei gegenüber, das eine höhere Wertschätzung des Menschen beinhalte. Vgl. L. CHVÁTAL, Der Mensch als Mikrokosmos in den Werken Gregors von Nyssa, Byzantinoslavica 62 (2004), 47-71; REINHARDT, Kosmos und Sympathie, 118; APOSTOLOPOULOS, Phaedo Christianus, 205. 30 Gal., De usu partium III (241,15); Rufus Med., De partibus corporis humani 1,3; Anonymus Medicus, De natura hominis I,3,2; Poseidonius, Fr. 309a (Theiler); Arist., Physica VIII 2,252B 26f.; Plot., Enn. IV,3,10; Or., In Gen. Hom. I,11; Gr. Naz., Or. 28; De theologia 22,34. Diese Bestimmung des Menschen nimmt vor allem nach Gregor an Bedeutung zu. Vgl. etwa Nemesius von Emesa, De natura hominis I,427; Hermias, In Platonis Phaedro scholia (90,11; 194,8). 31 Anim. et res. 3 (PG 46, 28B,1–6); Inscript. Psal. I,3 (GNO V, 30,24–26; 32,16–33,6 D.). 32 Als Kennzeichen der Rationalität, welche sich unter anderem in der menschlichen Sprache zeige, deutete Gregor einerseits die aufrechte Haltung des Menschen und andererseits die Hände. Durch die aufrechte Haltung sei es dem Menschen möglich, seine Hände für die Sprache als Ausdruck seiner geistigen Fähigkeiten frei zu halten. Die aufrechte menschliche Haltung wurde in der Antike immer wieder gedeutet. Eine wichtige Interpretationslinie ging von Xenophon und Platon aus und wurde unter anderem von Basilius aufgenommen, welche in der aufrechten Haltung ein Zeichen der Fähigkeit, Gott zu erkennen, sah. Xenophon, Mem. I,4,11; Pl., Ti. (90A–B); Bas., Hom. 9,2 in Hexaem. Auch Cic., Nat. deor. II,140, der Daniélou zufolge dieselbe Quelle als Vorlage hatte, wie Gregor, folgte dieser Linie. Gregor hingegen unterschied sich von dieser Interpretationslinie mit seiner Deutung, dass die aufrechte Haltung die Freiheit der Hände für die Sprache als Zeichen menschlicher Rationalität ermögliche. Cicero nahm die Bedeutung der

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

des Menschen verbunden mit einer materiellen Existenzform und darin findet der Mensch in der Hierarchie aller Wesen seine spezifische Bedeutung. In seiner Natur kommt das Geistige und das Körperliche zusammen und wird zur Einheit.33 Die Verortung des Menschen als eines Mittel- und Mittlerwesens zeigt die Aufgabe und Bedeutung des Menschen in der Welt auf, welche es durch die Tugend zu verwirklichen gilt. Diese Aufgabe besteht darin, die beiden Existenzformen, welche im Menschen zusammenkommen, in eine harmonische Einheit zu bringen und beide zu verwirklichen, indem die Güter beider Existenzformen zu Ehren des Schöpfers genossen werden.34 Die Wohlordnung und Einheit zeigt sich darin, dass der Genuss der materiellen Güter durch den Geist geordnet und gesteuert wird und den Genuss der geistigen Güter nicht hemmt sondern unterstützt. 3.2.

Einheit aus Körper und Geist

Wie sich gezeigt hat, besteht die ethische Herausforderung des Menschen, seine spezifische Natur, die in der Zusammensetzung aus Körper und Geist besteht, zur harmonischen Einheit zu bringen. Zwischen diesen beiden Polen nahm Gregor mit einer breiten Tradition im momentanen Zustand des Menschen eine Spannung wahr, die grundlegend für die Frage nach der Tugend ist.35 Diese Spannung zeigt sich gemäß Gregor insbesondere darin, dass im Menschen Körper und Geist einander oft widerstreiten, anstatt zusammen zu wirken. Dieser Beobachtung auf der Ebene des aktuellen menschlichen Verhaltens wird mit der Auslegung der Erschaffungsgeschichte in Gen 1 eine Deutung im Sinne eines doppelten Schöpfungsaktes angefügt. Die doppelte Existenzweise als körperliches und geistiges Wesen – von Gregor positiv gedeutet als Ermöglichung des Genusses der geistigen und Hände auch auf und sah ihre Bedeutung aber vor allem in den kulturellen Leistungen des Menschen. Vgl. Cic., Nat. deor. II,150–152. 33 Gegen DANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, 50, welcher die menschliche Natur bei Gregor allein über das geistige Element bestimmt sah. 34 Der Gedanke wird in der Schrift gegen Apollinarius ausgebreitet in der Betonung der Einheit von Körper, Seele und Geist, wobei alle, auch der Körper dazu beauftragt seien, Gott die Ehre zu geben. Vgl. Apoll. (GNO III,1, 210,21–27 M.). 35 Vgl. B IEN, Art. Ethik II: Griechisch-römische Antike, 410. Bien spricht von einer doppelten Grundaporie der antiken Ethik, welche die gesamte Diskussion um die Ethik in der Antike geprägt habe: „Das Verhältnis zwischen der physischen und der moralischen Natur des Menschen oder zwischen menschlicher Natur und Moralität, sowie das Verhältnis zwischen den eigentlich moralischen Gütern, der „Tugend“, und den außermoralischen Gütern.“ Gregor bemühte sich, diese einfache Einteilung immer wieder zu durchbrechen, sei es im Verweis auf die Moralität, zu welcher der Mensch von Natur aus befähigt sei oder in der Betonung, dass Körper und Geist gleichermaßen zur Tugend und zum Laster befähigt seien und das Zusammenspiel von Körper und Geist Moralität ergebe.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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irdischen Güter und der Vermittlung zwischen rationalen und irrationalen Wesen – wird auf einen doppelten Schöpfungsakt Gottes zurückgeführt. John Behr hat darauf aufmerksam gemacht, dass Gregor die Schöpfungsgeschichte als Ätiologie auslegte, sie beschreibt den Zustand des Menschen und seine Bestimmung und gibt eine Erklärung dafür, warum der momentane Zustand und die ursprüngliche Bestimmung nicht mehr übereinstimmen.36 Gregor verstand die Schöpfungsgeschichte nicht historisch sondern ätiologisch, sie beschreibt die Konstitution des Menschen in seinem idealen Zustand und mit der Geschichte vom Fall auch in seinem momentanen Zustand.37 Aus der Differenz dieser verschiedenen Zustände erwächst die sittliche Aufgabe des Menschen. Die Schöpfungserzählung des Menschen in Gen 1,26f. wird von Gregor mit der alexandrinischen exegetischen Tradition über Philon und Origenes als Erzählung eines doppelten Schöpfungsaktes gedeutet.38 Dadurch hatten diese Autoren die Spannung zwischen Geist und Materie, wie sie in der platonischen Tradition wichtig waren, in den biblischen Kontext übersetzt. Im Einzelnen unterscheiden sich die Auslegungen der doppelten Schöpfung bei den unterschiedlichen Theologen aber erheblich.39 Philon sah die 36

Vgl. explizit Or., cels. IV,4. Vgl. Auch B EHR, Animal, 237–245, DANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, 53, machte darauf aufmerksam, dass Gregor den Zustand der ersten Schöpfung nicht als „une réalité historique“ verstand. Vgl. auch ZEMP, Grundlagen, 136. 37 Eine ähnliche Deutung der Schöpfungs- Paradies- und Fallgeschichte zeigt sich auch bei Methodius von Olymp. Vgl. K. BRACHT, Vollkommenheit und Vollendung. zur Anthropologie des Methodius von Olympus (STAC 2), Tübingen 1999, 102. 38 Die doppelte Schöpfung in der alexandrinischen Tradition U. B IANCHI (Hg.), La „doppia creazione“ dell’ uomo: negli Alessandrini, nei Cappadoci e nella gnosi (Edizioni dell’ Ateneo: nuovi saggi 70), Roma 1978. Zur Abhängigkeit Gregors von Philon vgl. A. GELJON, Philonic Exegesis in Gregory of Nyssas De Vita Moysis, BJSt 333 / StPhilo Monographs 5, Providence 2002. Neuere Beiträge zur Rezeption von Origenes vgl. Origene e l’alessandrinismo cappadoce (III–I secolo). Atti del V Convegno del Gruppo Italiano di ricerca su «Origene e la tradizione allessandrina» (Bari, 20–22 settembre 2000), hrsg. v. M. Girardi / M. Marin, Bari 2002; A. MEREDITH, Origen and Gregory of Nyssa on the Lord’s Prayer, HeyJ 43 (2002), 344–356; DERS., Origen’s De Principiis and Gregory of Nyssa’s Oratio Catechetica, HeyJ 36,1 (1995), 1–14; M. LUDLOW, Theology and Allegory: Origen and Gregory of Nyssa on the unity and diversity of scripture, IJST 4,1 (2002), 45–67; F. DÜNZL, Die Canticum-Exegese des Gregor von Nyssa und des Origenes im Vergleich, JAC 36 (1993), 94–109; T. BÖHM, Die Entscheidungsfreiheit in den Werken des Origenes und des Gregor von Nyssa. Zur Bedeutung von κρασ*α in der Beurteilung der Entscheidungsfreiheit, in: Origeniana septima. Origenes in den Auseinandersetzungen des 4. Jahrhunderts, hrsg. v. Wolfgang A. Bienert / U. Kühneweg, Leuven 1999, 459–468; A. MEIS, Das Paradox des Menschen im Canticum-Kommentar Gregors von Nyssa und bei Origenes, ebd., 469–496. 39 Vgl. dazu auch R. SCOGNAMIGLIO, Il De opificio hominis: Eredità filoniana e origeniana nell’antropologia de Nisseno, in: Origeniana septima. Origenes in den Auseinan-

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beiden Schöpfungsakte in den unterschiedlichen Schöpfungserzählungen von Gen 1 und Gen 2 erzählt, wohingegen Gregor in Gen 1 einen doppelten Schöpfungsakt geschildert sah und die zweite Schöpfungserzählung in Gen 2 ignorierte. In Philons Auslegung von Gen 1 in De opificio mundi werden die beiden Schöpfungsberichte in Gen 1 und Gen 2 als zwei voneinander zu trennende Schöpfungsvorgänge unterschieden, wobei die erste Schöpfung in Gen 1 erst den Typus Mensch festlegte, welcher eine Idee (ικών) oder eine Gattung (γένος) oder ein Siegel (σφράγις) sei, geschlechtslos und unsterblich und die Gesamtzahl der Menschen enthalte. Bei Philon fällt eine terminologische Mischung des aristotelischen Gattungsbegriffs mit der platonischen Ideenlehre auf. Erst mit dem in Gen 2 erzählten konkreten Schaffen aus der Erde ist gemäß Philon das konkrete Individuum aus einem geschlechtlichen Körper und einer Seele entstanden, ein Wesen mit Sinnesempfindung und von Natur aus sterblich.40 Wieder eine andere Interpretation legte Origenes vor, für den in Gen 1 die Schöpfung des inneren, geistigen Menschen beschrieben wird und im zweiten Schöpfungsbericht der körperliche Mensch. Die Stelle, „und er machte ihn männlich und weiblich“ in Genesis 1 deutete Origenes als Vorwegnahme, um den Segen mit der Aufforderung der Vermehrung zu verstehen, sonst wäre Zweifel an der Wirksamkeit dieses Segens möglich. Der innere Mensch besteht gemäß Origenes aus Geist und Seele, die er auch als männliches und weibliches Prinzip deutete, aus welchen in der Vereinigung die Tugenden entstünden. Wenn sich die weibliche Seele jedoch vom Geist als ihrem legitimen Partner ab- und körperlichen Freuden zuwende, sei das auch eine Abwendung der menschlichen Seele von Gott. Gemäß den Ausführungen in De principiis IV bewegt sich dabei die Seele durch Nachlässigkeit aus der ätherischen und luftigen Sphäre in die Nähe der schweren Materie, wo sie in schwere Körper eingeschlossen werde.

Gemäß Gregor ist die zweiteilige Formulierung in Gen 1,27 mit der Konzeption nach dem Bilde Gottes zuerst und der im darauffolgenden Nebensatz erwähnten Schöpfung als männlich und weiblich als Hinweis auf zwei unterschiedliche Akte Gottes zu verstehen. In einem ersten Schritt konzipierte Gott in seinem Geiste das, was der Mensch werden sollte, sein Ebenbild, ein freies, rationales Wesen, dazu bestimmt, durch seinen Körper das Mittelwesen zwischen rein geistiger und materieller Welt darzustellen. Diese Schöpfung wird verstanden als rein geistige Konzeption im Geiste Gottes, eine Abstraktion, der potentiell alle guten Attribute Gottes gegeben sind, der jedoch noch jede Individualität abhanden ging. Es handelt sich um eine Bestimmung des Menschen als Gattungswesen, wel-

dersetzungen des 4. Jahrhunderts, hrsg. v. W. A. Bienert u. U. Kühneweg, Leuven 1999, 115–137. 40 Vgl. Ph., Opif. mund. XLVI,134f. Bei Ph., Opif. mund. XXIII,69. ist der himmlische, geistige Mensch schon ein Individuum, schon Adam, dem in einem zweiten Schritt ein Körper gegeben wurde. Origenes deutete nochmals etwas anders erst die Umkleidung mit den Kleidern durch Gott als zweiten Schöpfungsakt nach dem Sündenfall.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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che allerdings schon die Gesamtzahl der Geschöpfe implizierte, das menschliche Pleroma.41 Aber der Name für den geschaffenen Menschen bezeichnet nicht einen bestimmten Menschen, sondern er steht für den Menschen im Allgemeinen. 42 Da er diesen mit der Allgemeinheit der Natur anredet, bringt uns dies dazu anzunehmen, dass in der göttlichen Vorkenntnis und Kraft die ganze Menschheit in der ersten Schöpfung umfasst war.43

In dieser idealen und abstrakten Schöpfung konzipierte Gott alle die Eigenschaften des Menschen, welcher dieser durch die Tugend verwirklichen sollte: die Gottebenbildlichkeit, die Rationalität, die Einheit von Körper und Geist.44 Diese geistige Konzeption des Menschen stellt exemplarisch dar, was die menschliche Natur kennzeichnen soll. Zu der konzeptionellen Schöpfung in Gottebenbildlichkeit kommt gemäß Gregor ein weiterer Aspekt oder eine neue Phase dazu mit der Erzählung der Schöpfung von konkreten, geschlechtlichen, männlichen und weiblichen Menschen. In einem zweiten Schritt der Schöpfung entstand 41 Hom. opif. 16 (PG 44, 185B); Hom. opif. 22 (PG 44, 204D). Vgl auch DE B OER, Anthropologie 153; LADNER, Anthropology, 82; CASTELLUCCIO, Antropologia, 68–73.; ZEMP, Grundlagen, 139–153. 42 Die Übersetzung folgt hier HÜBNER, Die Einheit des Leibes Christi, 72–75, für den  καθόλου νθρωπος den Menschen als Allgemeinbegriff bezeichnet und nicht eine hypostasierte Gesamtheit der Menschheit. 43 Hom. opif. 16 (PG 44, 185B): λλ’ νομα τ κτισθέντι νθρώπ! οχ  τ ς, λλ’  καθόλου στίν. Οκον τ- καθολικ- τς φύσεως κλήσει τοιοτόν τι πονοεν ναγόμεθα, τι τ- θεί1 προγνώσει τε κα δυνάμει πσα % νθρωπότης ν τ- πρώτ8 κατασκευ- περιείληπται. Vgl. auch Hom. opif. 22 (PG 44, 204D–205A). 44 Die Frage, welche sich bei Gregors Beschreibung stellt, ist die Frage, ob er sich diese erste Schöpfung eher im Sinne einer platonischen Idee als für sich selbst existierend vorstellte oder ob es sich um einen aristotelischen Gattungsbegriff handelt, den Gott konzipierte und der keine eigene Existenzform außerhalb der konkreten Individuen aufweist. Eine Vielzahl neuerer Untersuchungen betont zu Recht die aristotelische Bedeutung eines Gattungswesens oder Gattungsbegriffs, vgl. etwa C AVARNOS, Relation of Body and Soul, 65: „Gregory seems to lean heavily on Aristotle.“; HÜBNER, Die Einheit des Leibes Christi, 72–75. SMITH, Passion and Paradise, 36, hat diese Konzeption bestimmt als Mischung aristotelischer und platonischer Konzepte zu den Universalien. „Nyssen’s theory of the creation of the plērōma presents the universal human nature as having no subsistence apart from the particular people with whom God will invest this nature. Yet Nyssen, unlike Aristotle, views human nature existing at the level of God’s foreknowledge and creative intention prior to the existence of any particular human being. Thus human nature itself is logical prior to any particular instance of it because it was created outside space and time. Nyssen’s integration of a Platonic understanding of human nature as an intelligible and eternal reality with an Aristotelian concern fort he particular is similar to Proclus’ attempt to reconcile Plato and Aristotle.“ Dieselbe Konzeption sieht Smith auch im Timaeus-Kommentar des Proclus, sie ist aber auch bei Iamblichs De Anima vorhanden, eine Schrift mit welcher Gregors Anim. et resurrectione relativ große Ähnlichkeit hat. Vgl. Iamb., Anim. VI,C,31.

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der konkrete und individuelle leibliche Mensch, für den die Ausdifferenzierung in die beiden Geschlechter und die Ausstattung mit der Geschlechtlichkeit maßgebend ist.45 Wie darauf hingewiesen wurde,46 kann man die doppelte Schöpfung bei Gregor als simultanes Geschehen verstehen, welches in zwei Aspekte, die geistige Konzeption und die materielle Verwirklichung einteilbar ist. Gregor betonte nämlich, dass bei Gott Gedanke, Wille und Handlung nicht voneinander zu trennen seien und nicht nur vollkommen übereinstimmten, sondern auch gleichzeitig seien. Die geschlechtliche Dimension des Menschen deutete Gregor als eine Maßnahme der weisen Voraussicht Gottes. Da dieser gesehen habe, dass der Mensch sich von der rein geistigen Lebensweise abwenden und den irrational-materiellen Dingen zuwenden würde und sich daher nicht nach der ungeschlechtlichen Art der Engel würde vermehren können sondern auf die geschlechtliche Fortpflanzung der Tiere und damit auf einen sexuellen Körper angewiesen sein würde, habe er den Menschen als sexuelles Wesen geschaffen. Die Ausstattung der Menschen als sexuelle Wesen bedeutete für Gregor zwar einen Minderung, trotzdem hielt er an Gottes fürsorglicher Liebe und Güte im Zusammenhang der Schöpfung der menschlichen Sexualität fest.47 Ohne diese animalische Existenzweise könnte der Mensch sich nicht vermehren, die Sexualität und die Nachkommen sind darum ein Trost für den Tod und eine Sicherung der Nachkommenschaft, wie Gregor in De virginitate ausführte.48 In der katechetischen Rede diskutiert er die Verspottung der Christen aufgrund der Geburt ihres Erlösers und damit die Bedeutung der Sexualität und insbesondere der Zeugungsorgane. Wie alles im menschlichen Körper seien sie für den Selbsterhalt der menschlichen Natur bestimmt und wenn man sie mit anderen Organen wie etwa den Sinnen vergleiche, könnten die Sinne nicht das leisten, was die Geschlechtsorgane leisteten, nämlich die Erhaltung des menschlichen Geschlechts über die Generationen hinweg. Wissen sie nicht, dass alles, was zur Errichtung des Körpers dient gleichwertig ist und das nichts, was zur Erhaltung des Lebens dient, als unwürdig oder schlecht verworfen werden kann? … durch diese [die Geschlechtsorgane] wird der Menschheit die Unsterblichkeit erhalten, so dass der Weg des ständig gegen uns arbeitenden Todes wirkungslos und ohne Ende ist, da die Natur immerzu das Wegfallende durch die nachkommenden Generationen ersetzt.49

45

Hom. opif. 16 (PG 44, 181B–C); Hom. opif. 22 (PG 44, 204D). LADNER, Anthropology, 81; BEHR, Animal, 234 Anm. 26. 47 Hom. opif. 17 ( PG 44, 189C); Hom. opif. 22 (PG 44, 205A). 48 Virg. 12 (GNO VIII,1, 302,24–27 C.). 49 Or. catech. 28 (GNO III,4, 71,16–19; 72,8–12 M.): οκ εδότες τι πσα πρ ς αυτν % κατασκευ το σώματος μοτίμως χει κα οδ"ν ν ταύτ8 τ ν πρ ς τν σύστασιν τς ζως συντελούντων $ς τιμόν τι 2 πονηρ ν διαβάλλεται; … ν κείνοις % 46

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Ähnlich äußerte sich Johannes Chrysostomus und erklärte, dass die Abfolge der Nachkommen über die Sterblichkeit hinwegtröste.50 Allerdings war er der Meinung, dass nun, da die Erde gefüllt sei mit Menschen, die Sexualität überflüssig sei, wenn auch leider bei vielen Menschen nicht ganz ausmerzbar.51 Der Gedanke, dass Tod und Sexualität eng zum Zyklus von Entstehen und Vergehen verbunden seien, war auch in der paganen Literatur verbreitet. Schon Platon hatte das Weiterleben in den Kindern eine geminderte Form von Unsterblichkeit genannt.52 Gregors Plädoyer für die Voraussicht, Güte und Weisheit Gottes, welche sich in der körperlichen und sexuellen Existenzweise des Menschen zeige, ist zu verstehen im Gegensatz zu den platonisch, gnostisch oder enkratitisch geprägten Konzeptionen des Menschen, welche den Körper als eine mindere Existenzform ansahen, der nicht der Güte und Weisheit Gottes zuzuschreiben sei, sondern das Werk von niedrigen Hilfsgottheiten sei.53 In der katechetischen Rede wird diese Position unter anderem mit den Manichäern in Verbindung gebracht.54 Platonische und gnostische Tendenzen zeigten sich auch innerhalb der Kirche, vor allem in asketisch geprägten Kreisen, welche den Körper als Folge oder Strafe des Falls betrachteten. Als für Gregor wichtiges platonisierend-christliches Modell ist auf die Schöpfungskonzeption von Origenes zu verweisen.55 Das Abgleiten der Seele in die tieferen, materiellen Dimensionen bei Origenes zeigt große Nähe zum platonischen Schöpfungsmythos im Timaeus und implizierte deutlich die Präexistenz der Seele vor dem Körper, wie Origenes in De principiis darlegte.56 Wie Origenes sich den Ablauf der Schöpfung mit den θανασία συντηρεται τ- νθρωπότητι, $ς ε καθ’ %μ ν νεργοντα τ ν θάνατον πρακτον ε ναι τρόπον τιν κα νήνυτον, πάντοτε πρ ς τ λεπον δι τ ν πιγινομένων αυτν ντεισαγούσης τς φύσεως. 50 Jo. Chrys., Hom. 18,4 in Gen (PG 53, 154), die gleiche Argumentation findet sich auch bei Ps.-Bas., Virg. (PG 30, 777B–C; 780A; 789 B) Für weitere Stellen vgl. PISI, Genesis e Phtorà, Kapitel 4–7. 51 Jo. Chrys., Virg. 17. 52 Vgl. Pl., Smp. III,2,4 (207d). 53 Pl., Ti., II,2,4 (42e–42e); Alcin., Didasc. 16; Dio Chrys., Or. 3,70–72. 54 Or. catech. 7 (GNO III,4, 26,16–20 M.). 55 Vgl. zu den Kontinuitäten und Unterschieden zwischen den Anthropologien von Origenes und Gregor vgl. MEREDITH, Origen’s De principiis and Gregory of Nyssa’s Oratio catechetica, 1–14. 56 Da der Kommentar zur Genesis nur sehr bruchstückartig vorliegt, ist nicht klar, wie Origenes den in der Genesis nach der „zweiten“ Schöpfung erzählten Fall in seine Konzeption der Schöpfung und des Falls integrierte. Gemäß C ROUZEL, L’anthropologie d’Origène, 43, bezog Origenes die Berichte in Gen 1–2 auf die erste Schöpfung des inneren Menschen und sah erst die Bekleidung des Menschen nach dem Fall als körperliche Schöpfung. Crouzel verwies dabei auf eine Stelle bei Prokop von Gaza in dessen Gene-

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unterschiedlichen Zuständen des Menschen genau vorstellte, ist aufgrund der bruchstückhaften Überlieferung seines Genesis-Kommentars nicht klar, offensichtlich ist jedoch die Abwertung des körperlichen Zustandes, der für ihn mit dem Fall verbunden war, wobei die Sexualität in enge Verbindung mit dem Tod gebracht wurde. Bei Origenes wurde die körperliche Existenz zu einer Strafe der Seele, die sich nicht selbst treu blieb. Mit Positionen wie derjenigen von Origenes war die Gefahr einer negativen Besetzung der Körperlichkeit gegeben, der Gregor entgegenwirken wollte, da sie seiner Ansicht nach das gelungene Schöpfungshandeln Gottes in Frage stellte.57 Gegen die Abwertung des Körpers in der anthropologischen Konzeption des Origenes hatte sich schon Methodius von Olymp in seiner Schrift De resurrectione gewandt, wo er Origenes zuschrieb, die Fellkleider mit dem Körper gleichgesetzt zu haben und sich dagegen wehrte, da dies die Güte des göttlichen Schaffens in Frage stelle.58 Gregor bezog sowohl in De hominis opificio als auch in De anima et resurrectione gegen diese Schöpfungskonzeption des Origenes und die damit in Verbindung gebrachte Lehre der Seelenwanderung Stellung.59 Mit diesen Vorstellungen zu Schöpfung und Fall verbunden war fast immer die Abwertung der Frau, die generell in der griechischen Tradition verbreitet war.60 Alcinous beschrieb in seinem platonischen Handbuch, dass die Strafe der Seele für ihr schlechtes Verhalten die Wiedergeburt als Frau sei, die nächste Stufe wäre dann die als Tier.61 Seneca erklärte, es gebe Männer, die so töricht seien zu meinen, sie könnten von Frauen beleisiskommentar, wo dieser sich gegen die origenistische Auslegung wehrte, der Bericht in Gen 2 verweise auf einen Lichtkörper, der in Gen 3 mit Fellkleidern bekleidet worden sei. 57 Zur Diskussion um Origenes vgl. E. A. C LARK, The Origenist Controversy. The cultural construction of an early Christian debate, Princeton 1992. 58 Meth., res. III,2. In III,8 erklärt er aber auch, die Fellkleider bedeuteten für Origenes die Sterblichkeit, eine Ansicht, die er teilte vgl. I,4. Zu Methodius vgl. BRACHT, Vollkommenheit und Vollendung, 112–116. Bracht ist der Meinung, dass auch bei Origenes die Deutung der Fellkleider als des Körpers nicht zwingend seien. Ebd, 115 Anm. 228. 59 Hom. opif. 18f. (PG 44, 229B–240B); Anim. et res. 14f. (PG 46, 105A–128C). 60 Vgl. Zu den feststehenden Charakterisierungen des Weiblichen CLARK, Reading Renunciation, 173 und LIEU, Christian Identity, 181–190. In der Vita des Mose Gregors wird das weibliche Geschlecht als das leidenschaftliche und fleischliche beschrieben, welches dem Pharao in Ägypten lieb gewesen sei, während er die männlichen Nachkommen, welche Stärke und Tugend verkörperten, habe verfolgen und töten lassen. De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 34,1–5 M.). SMITH, Passion and Paradise, 45, stellt zu Recht fest, dass solche Stellen der verbreiteten Rhetorik folgen, aber inkonsistent mit der bewussten und allgemeinen Diskussion der Geschlechterfrage in De hominis opificio sind. 61 Alcin., Didasc. 16. Alcinous gründete dabei auf die entsprechenden Ausführungen bei Pl., Ti. 2,4,6 (90e–91a).

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digt werden, wo doch Frauen unvernünftig, wild und unersättlich seien.62 Frauen wurden als von ihrer Natur her defiziente und ihren Leidenschaften unterworfene Geschöpfe wahrgenommen.63 Didymus der Blinde deutete das Männliche als austeilendes und aktives Prinzip, das Weibliche als das passive und empfangende.64 Die Interpretation des Männlichen als des Tugendhaften und des Weiblichen als des Lasterhaften war eine übliche Unterscheidung, die auch von Gregor teilweise aufgegriffen wurde.65 In christlichen Positionen wie auch bei Philon war diese Abwertung oft verbunden mit der Überzeugung, dass die Sexualität entweder der Auslöser des menschlichen Falls gewesen sei oder dass der materielle Körper die Bestrafung der untreuen Seele sei. Johannes Chrysostomus argumentierte unter anderem damit, dass die Frau den Mann durch die körperliche Begierde zum Fall gebracht hatte, er konnte die Sexualität aber auch als Folge des Falls bezeichnen.66 Julius Cassian, mit dem sich Clemens von Alexandrien im dritten Buch der Stromata auseinandersetzte, vertrat die Meinung, die präexistente Seele, welche durch ihre Konkupiszenz in die Welt und damit in die Todesverfallenheit hinunter gekommen war, sei dabei weiblich geworden.67 Bei Philon wird der Mensch solange als schuldlos und rein bezeichnet, bis die Frau geschaffen wurde und in Lust zum Mann entbrannte, welcher ebenfalls entflammte, so dass beide sich körperlichen Lüsten hingaben und von Gott abwendeten.68 Bei Clemens und Irenäus dagegen war die Verfrühtheit des körperlichen Aktes das Problem, nicht die Sexualität an sich oder die Frau als Verführerin.69 Gregor sprach im Hinblick auf die Verantwortung der Frau am Fall davon, dass die Frau 62

Sen., const. 14,1 (78 B OURGERY / ROSENBACH / W ALTZ): Tanta quosdam dementia tenet, ut sibi contumeliam fieri putent posse a muliere. Quid refert quam adeant, quot lecticarios habentem … Aeque inprudens animal est et, nisi scientia accessit ac multa eruditio, ferum, cupiditatum incontinens. 63 Vgl. dazu WRIGHT KNUST, Abandoned to Lust, 37–44 mit vielen Stellenangaben. 64 Did. Caec., In Gen IV,14,62ff. 65 Or., Hom. 2,1.3; 3,3 in Ex.; Meth., symp. 4,2. Vgl. dazu ausführlicher GELJON, Philonic Exegesis, 82f; 101f.; BEHR, Asceticism and Anthropology, 180: „That virtue, by its virile character, produces both virile men and women, while its absence results effeminate men and women, was a standard theme in Greek philosophical morality, which exerted a considerable influence in early Christian thought.” Vgl. auch W RIGHT KNUST, Abandoned to Lust, 181–190. 66 Vgl. Jo. Chrys., Virg., 14,5–6; 46,1–4. 67 Clem., Str. III,13,93,3. 68 Vgl. etwa Ph., Opif. mund. LIII,151 (243 ARNALDEZ): ρχ δ" τς παιτ*ου ζως ατ γ*νεται γυν(. 69 Clemens und Irenäus gingen von einer Entwicklung des Menschen vom Kleinkind zum Erwachsenen in der Weltzeit aus, wobei der Mensch durch göttliche Erziehung zur Vollkommenheit gelangte: Iren., Haer. IV,38,1; Clem., Str. IV,150,3f. Vgl. auch B RACHT, Vollkommenheit, 147.

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getäuscht worden sei.70 Auf den zweiten Schöpfungsbericht und die nachgängige Schöpfung der Frau ging Gregor nicht ein. Angesichts der regen Diskussionen um diese Stelle ist Gregors Schweigen vielsagend. Es finden sich bei Gregor auch keine spezifisch frauenfeindlichen Argumentationen, Frauen als Negativbeispiele gibt es kaum71 und nicht selten verwies Gregor voll Bewunderung auf Frauen und ihre Leistungen in der Tugend. Gregor betonte wie Basilius und Clemens, dass Mann und Frau in gleichem Maße zur Tugend fähig seien.72 Damit unterschied er sich von vielen seiner Zeitgenossen, welche nicht zögerten, die Frau für den Fall verantwortlich zu machen und als Quelle jeglichen Übels darzustellen.73 Gegenüber den unterschiedlichen Tendenzen, die Güte der körperlichen Schöpfung in Frage zu stellen und die körperliche und sexuelle Existenzform abzuwerten, betonte Gregor die enge Verbindung zwischen geistiger und materieller Schöpfung und die Wohlordnung und das harmonische Einvernehmen in der sinnlich-materiellen Welt, wobei er ein organisches Bild beschwor. Aber wie in der sinnlich wahrnehmbaren Welt, obwohl die Elemente einander entgegenstehen, eine gewisse Harmonie zwischen den sich entgegenstehenden Elementen erkannt wird, wobei durch die allen Dingen übergeordnete Weisheit die Übereinstimmung in der Virg. 12 (GNO VIII,1, 302,16 C.): πατηθεσα ξ(μαρτε. Eine Ausnahme bildet der Verweis auf die Josephsgeschichte in Contra Fornicarios, wo Potiphars Frau das Negativbeispiel einer Person ist, die sich von ihren Trieben unterwerfen lässt und dadurch unfrei wird. Vgl. oben, I.5.1.1. Die Versklavung durch die Lüste. 72 De vita Moys. Prolog (GNO VII,1 5,16–24 M.). Im Prolog zur Vita Moysis beschreibt Gregor, dass Frauen und Männer gleichermaßen zur Tugend wie zur Sünde fähig seien und dass in Sarah und Abraham für beide je ein Vorbild gegeben sei. Diese Unterscheidung in spezifisch weibliche oder männliche Tugenden und Laster hat allerdings sonst keine Bedeutung für Gregor. Zu Basilius vgl. Hom. I,18 In: Faciamus hominem; Clem., Paed. I,4 geht ebenfalls davon aus, dass beide Geschlechter hinsichtlich der Tugend gleich sind. Zur Frage der Geschlechter vgl. HARRISON, Male and Female in Cappadocian Theology, JThSt 41 (1990), 441–471. 73 Auslegungen, welche den Frauen und ihrer sexuellen Begierde die Schuld am Fall und der Verführung des Mannes zuweisen, finden sich bei anderen Autoren durchaus, vgl. Jo. Chrys., Virg. 46. Johannes wehrte sich dagegen, dass die Frau dem Mann als Hilfe gegeben worden sei, denn sie habe ihm nicht geholfen, sondern dafür gesorgt, dass er das Paradies verloren habe. Das ganze Kapitel legt Bibelstellen zu Lasten der Frau aus und zeigt eine deutliche Abwertung und Geringschätzung der Frau, wie sie bei Gregor nicht einmal im Ansatz zu finden ist. Zu den exegetischen Prinzipien, welche die Unterordnung der Frau hervorheben vgl. CLARK, Reading Renunciation, 161. Clemens von Alexandria und Irenäus sahen nicht im sexuellen Akt selbst, hingegen in der Verfrühtheit dieses Aktes den Auslöser des Falls, an dem Adam und Eva gleichermaßen beteiligt waren, vgl. Clem., Str. III,14; Iren., Haer. III,22,4; IV,38,1–2. Zu Irenaeus vgl. M. C. STEENBERG, Children in Paradise: Adam and Eve as “Infants” in Irenaeus of Lyons, Journal of Early Christian Studies 12,1 (2004), 1–22. 70 71

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Schöpfung bewirkt wird und kein Widerstand den Fortbestand der Verbindung auflöst, so entsteht in gleicher Weise gemäß der göttlichen Weisheit eine Vermischung und Verbindung des Sinnlichen mit dem Geistigen, so dass alles in gleicher Weise teil hat an dem Schönen und keines der existierenden Dinge von der besseren Natur ausgeschlossen ist.74

Die Begrifflichkeit in diesem Abschnitt, wo die enge Verbindung von Körper und Geist zu einem organischen Ganzen ausgedrückt wird, ist bezeichnenderweise nicht platonisch geprägt sondern stoisch mit Begriffen wie ρμον*α, συμφων*α, συμπνοία, μίξις κα νάκρασις.75 Es wird die Verbindung aller Elemente des Kosmos aufgrund der ordnenden göttlichen Weisheit betont, das Zusammenspiel, die Harmonie und Verbundenheit76 und nicht der Antagonismus von Körper und Geist mit der Abwertung des ersteren, wie er für platonischen Konzeptionen bezeichnend war. Was ein Element erleidet, empfinden alle anderen mit.77 Gregor griff bei der Formulierung der Einheit von Körper und Geist und dem Zusammenwirken der geistigen und der körperlichen Dimension im Menschen auf Modelle zurück, welche zwar nicht den Dualismus von Körper und Geist negierten, wie die monistischen Konzepte der Stoiker, aber auch nicht beim Dualismus der Platoniker stehen bleiben wollten. Insbesondere Galen und Or. catech. 6 (GNO III,4, 21,16–22,3 M.): λλ’ ,σπερ ν ατ τ ασθητ κόσμ! πολλς πρ ς λληλα τ ν στοιχείων ο;σης ναντιώσεως πινενόηταί τις Kρμονία δι τ ν ναντίων Kρμοζομένη παρ τς το παντ ς πιστατούσης σοφίας κα οτω πάσης γίνεται πρ ς αυτν συμφωνία τς κτίσεως οδαμο τς φυσικς ναντιότητος τ ν τς συμπνοίας ε ρμ ν διαλυούσης, κατ τ ν ατ ν τρόπον κα το ασθητο πρ ς τ νοητ ν γίνεταί τις κατ θείαν σοφίαν μίξις τε κα νάκρασις, $ς ν πάντα το καλο κατ τ +σον μετέχοι κα μηδ"ν τ ν ντων μοιροίη τς το κρείττονος φύσεως. 75 Vgl. dazu auch HÜBNER, Die Einheit des Leibes Christi, 148–159; Daniélou, L’être et le temps, 51–74. Hübner geht es um die Einheit aller Menschen untereinander bei Gregor und zieht dazu stoische Vergleichstexte bei, welche sich auf die Verbindung aller Elemente im Kosmos beziehen, insbesondere zur Vereinigung von Körper und Kosmos. Bei Gregor ist aber auch die Einheit von Körper und Geist in diesem stoischen Konzept gedacht, wie insbesondere der von Hübner angeführte Text aus De perf. (GNO VIII,1, 197,19–25 J.) zeigt, wo von der Verbindung des Hauptes mit den Gliedern die Rede ist. Daniélou verweist insebsondere auf die Bedeutung der Verbindung der körperlichen Elemente bei Galen. Vgl. D. L., Vitae VII,138–140; Gal., Nat. fac. erwähnt die Einheit und Sympathie immer wieder vgl. etwa II,29; II,39; (189 KÜHN); Poseidonius, Fr. 259 (T HEILER ); Plu., fat. 11 (574e); Marc Aurel, Ad se ipsum VI,38,2. Vgl. DANIÉLOU, L’être et le temps, 54. 76 Vgl. auch Eccl. 7 (GNO V, 406,1–4 A:); Inscript. Psal. I,3,21 (GNO V, 32,11–22 D.). 77 Vgl. dazu auch Or. catech. 32 (GNO III,4, 78,11–13 M.): ,σπερ π το καθ’ %μς σώματος % το ν ς τ ν ασθητηρίων νέργεια πρ ς παν τν συναίσθησιν γει τ %νωμένον τ μέρει. Denn bei unserem Körper führt die Sinneswahrnehmung eines Teils zum Mitempfinden von allen mit dem vereinten Teil. Dieses Prinzip wird von Sextus Empiricus Poseidonius zugeschrieben. Vgl. Sextus Empiricus, Adv. math. IX,80. Vgl. HÜBNER, Die Einheit des Leibes Christi, 150. 74

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Poseidonius sind wichtige Vorgänger dieser Verbindung von Körper und Geist zu einer neuen Einheit im Menschen. Anhand von stoischen Konzepten wird auch die gemeinsame Entstehung und Entwicklung von Körper und Geist sowie den entsprechenden Kräften erklärt. Von Beginn an seien im Menschen Körper und Seele inklusive Geist aufgrund des göttlichen Schöpfungsplans vereinigt worden, um zusammen agieren zu können und die irrational-körperliche Dimension an der Güte Gottes teilnehmen zu lassen, welche vom Geist an den Körper weiter gegeben würden.78 Beide Dimensionen seien im göttlichen Schöpfungsakt verbunden worden und zeigten sich im Embryo darin, dass beide gleichzeitig entstünden, auch wenn die rationale Fähigkeit vorerst noch unsichtbar bleibe. Erst mit dem Wachstum zeige sich die rationale Kraft der Seele, entsprechend den Fähigkeiten, welche der Körper aufzunehmen und zu verwirklichen vermöge. Wie schon in einem Samenkorn alles angelegt sei, um zu einer großen Pflanze zu wachsen, so sei auch im Menschen von Anfang an alles vorhanden. Die in der Seele angelegten Kräfte steuerten die Entwicklung und verschafften der Seele ein ihren Bedürfnissen entsprechende Gefäß und Instrument.79 Auch dieses evolutionistische Modell, mit welchem Gregor die enge Verbindung und Interaktion von Körper und Geist erklärte, verweist auf einen stoischen Hintergrund. Leitend ist dabei neben dem Konzept der λγοι σπερματικο* oder der δúναμις σπερματική der Begriff der κολoυθ*α.80 Gregor zog diese Konzepte wiederum gegen eine platonische Trennung von Körper und Geist heran, insbesondere gegen eine nachträgliche und zufällige Vereinigung der Seele mit dem Körper. Da Körper und Geist von Beginn an eng verbunden und aufeinander angewiesen sind, empfindet die Seele eine natürliche Zuneigung zu ihrem Körper, den sie belebt.81 Beide wirken im Menschen aufs engste zusammen.82 Der Geist kann gemäß Gregor nur durch den Körper und die Sinnesorgane Erkenntnis gewinnen, sich ausleben und mitteilen, eine Ansicht, die schon Philon in seiner Schrift De opificio mundi vertreten hatte.83 Die geistigen Kräfte steuern die Bewegungen der einzelnen Glieder und bündeln die Wahrnehmungen der Sinne. Es ist der Geist der sieht oder 78

Hom. opif. 29 (PG 44, 236C–237C). Hom. opif. 29 (PG 44, 236A–B). 80 Für Gregor ist die innere Logik und der von Gott gegebene Sinn in den Abläufen der Natur wichtig, wobei er den stoischen Determinismus mied, aber an der inneren Notwendigkeit der Abläufe festhielt. Vgl. ausführlich zur Bedeutung der κολoυθ*α bei Gregor und zum stoischen Hintergrund DANIÉLOU, L’être et le temps, 18–50; HÜBNER, Die Einheit des Leibes Christ, 158f.; ZEMP, Grundlagen, 122–125. 81 Hom. opif. 27 (PG 44, 225B). 82 Hom. opif. 6 (PG 44, 137D–140A); Hom. opif. 10 (PG 44, 152B–153C). 83 Ph., Opif. mund. XLVIII,139. 79

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hört, weil er die sinnlichen Wahrnehmungen verarbeitet, aber ohne die Sinnesorgane des Körpers sieht und hört der Geist nichts.84 Der Geist kann nur aktiv werden, wenn der Körper ihm durch die Sinnesorgane Stoff zur Verarbeitung bietet und diesem erlaubt, durch die Wahrnehmung und Erkenntnis der irdischen Güter die Schlussfolgerung auf die Güte und Weisheit ihrer Ursache, des Schöpfers zu ziehen. Da derjenige, welcher in den göttlichen Geheimnissen unterrichtet ist, genau weiß, dass die naturgemäße Lebensweise für die Menschen ein Leben ist, dass der göttlichen Natur gleichgemacht ist, während das durch die Sinne gesteuerte Leben, welches durch die Aktivität der Sinne geführt wird, der Natur gegeben wurde, damit dieser durch die Kenntnis der sichtbaren Dinge ein Führer für die Seele entstehe zur Erkenntnis der unsichbaren Dinge.85

In ihrer Zusammenarbeit können Körper und Geist in gleicher Weise an den göttlichen Gütern teilhaben, wobei die geistige Dimension der materiellen durch ihre Impulse das Leben und die Ordnung schenkt und andererseits die Schönheit der materiellen Dinge den Geist zur Erkenntnis und Bewunderung Gottes führt.86 Um das Zusammenspiel zwischen Körper und Geist zu charakterisieren, griff Gregor auf das bekannte, ursprünglich platonische Bild des Körpers als eines Instruments des Geistes zurück.87 Wie ein Musiker sein Instrument beherrschen müsse, so gelte es auch für den Geist, den Körper als Instrument zur Verwirklichung der im Geist gefassten Beschlüsse zu benutzen.88 Der Körper kann die Schönheit des Geistes widerspiegeln und sichtbar machen, er ist aber auf den Impuls des Geistes angewiesen, er ist nicht selbst Ursache der gottebenbildlichen Güte und Schönheit. Wenn der Körper in Harmonie mit dem Geist ist, so widerspiegelt er die Gottebenbild84

Hom opif. 10f. (PG 44, 152B–153D); Anim. et res. 8 (PG 46, 57C; 60D–61A). Vgl. die platonische Grundlage in Phd. (79c); Tht. (184c–186e), wo der Körper als Instrument beschrieben wird, durch den der Geist erkennt, allerdings schränkte Platon diese Erkenntnis immer als minderwertig ein gegenüber der Erkenntnis, welche die Seele sich selbst ohne den Körper vermittelt. 85 Eccl. 1 (GNO V, 284, 18–285,2 A.): πε  γε πεπαιδευμένος τ θεα μυστήρια οκ γνοε πάντως, τι οκεία μ"ν κα κατ φύσιν τος νθρώποις στ ν % ζω % πρ ς τν θείαν φύσιν $μοιωμένη, % δ" ασθητικ ζω % δι τς τ ν ασθητηρίων νεργείας διεξαγομένη π τούτ! τ- φύσει δέδοται, φ’ Nτε τν τ ν φαινομένων γν σιν δηγ ν γενέσθαι τς ψυχς πρ ς τν τ ν οράτων πίγνωσιν. 86 Hom opif. 12 (PG 44, 161C–D). Vgl. auch Iamb., Anim. VI,C,31. Vgl. auch ZEMP, Grundlagen, 122–125. 87 Hom. opif. 9 (PG 44, 149C). Vgl. auch Ath., gent. 31. Die Definition des Körpers als ein Werkzeug der Seele oder des Geistes war verbreitet im Platonismus. Vgl. Pl., Phd. (86a–c), wo das Bild mit dem Musikinstrument erscheint. Bei Plotin und bei Porphyrius findet sich eine Diskussion der Vor- und Nachteile dieser Vorstellung, die Gregor nicht bietet. Plot., Enn. I,1,3f.; IV,3,21–23. 88 Hom. opif. 12 (PG 44, 161B).

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lichkeit, wenn auch auf indirektere Art als der Geist. Gregor beschrieb die Ähnlichkeit des menschlichen Körpers mit Gott über das Schöne, das sich sichtbar widerspiegle. Durch die harmonische Zusammenarbeit mit dem Geist kann aber der Körper selbst schön werden.89 Gregor reduzierte die Gottebenbildlichkeit nicht wie viele seiner Zeitgenossen, unter anderem sein Bruder Basilius90, auf die menschliche Seele, sondern folgte einer Linie, wie sie Irenäus vertreten hatte, der gegen körperfeindliche Tendenzen betont hatte, dass der ganze Mensch, Körper und Geist, Ebenbild Gottes sei.91 Gregor illustrierte die Gottebenbildlichkeit des Körpers mit dem Bild der Sonne, welche sich in einem Spiegel oder in einer Scherbe spiegelt und darin als Ganze sichtbar wird, nur viel kleiner und ohne selbst Grund des Strahlens zu sein. Ein anderes verwendetes Bild ist das des Mondes, der von der Sonne angestrahlt, deren Licht weitergibt. Der Körper wird zudem beschrieben als Spiegelbild des Spiegelbildes, wobei die Seele als Spiegelbild Gottes die Schönheit und Ordnung an den Körper weitergebe, wie überhaupt in der ganzen Natur immer die höhere Seinsstufe der Darunterliegenden die Schönheit und Ordnung vermittle.92 In gleicher Weise könne der Körper das Gute aufnehmen und weitergeben, ohne allerdings selbst Grund des Guten zu sein, der in der Seele verortet wird.93 Diese Ordnung kann allerdings auch untergraben werden, wenn die Beurteilung des Guten sich ganz nach sinnlichen Kriterien richtet. Wenn das Zusammenspiel nicht richtig funktioniert, täuscht sich der Mensch hinsichtlich des Guten, weil etwas für die Sinne Angenehmes als das anzustrebende Gute bestimmt wird anstelle eines echten und unvergänglichen weil geistigen Gutes. Die Gefahr der Sinne besteht für den Menschen 89

Hom. opif. 12 (PG 44, 164A). Bas., Attende tibi ipsi 3. 91 Vgl. Iren., Haer. V,6,1–2; V,16,1. Irenaeus betonte in einzigartiger Weise die körperliche Dimension der Gottebenbildlichkeit, welche bei ihm als eine Entsprechung zum inkarnierten Logos verstanden ist. Vgl. GÖTZ, Der geschlechtliche Mensch, 51–52. Der Gedanke, dass der Mensch eine untrennbare Einheit von Körper und Seele ist und als Ganzes gut und Ebenbild betonte auch Meth., res. 11. 92 Hom. opif. 12 (PG 44, 161C–D). 93 Anim. et res. 12 (PG 46, 89C); Beat. 6 (GNO VII,2, 143,23 C.). Das Bild der Seele als Spiegel Gottes findet sich in Gregors Schriften immer wieder vgl. auch: Inscript. Psal. I, 22 (GNO V, 32,24 D.); Cant. 3 (GNO VI, 90,11.15 L.); Cant. 4 (GNO VI, 104,2 L.); Cant. 5 (GNO VI, 150,9.11 L.): Spiegel der menschlichen Natur; Cant. 8 (GNO VI, 257,3 L.): Kirche als Spiegelbild der Gerechtigkeit Christi; Cant. 12 (GNO VI, 218,20 L.): ganzer Mensch: wie ein Spiegel die Gestalt dessen, was gesehen wird, zum Ausdruck bringen; Cant 15 (GNO VI, 440,1.8 L.); Hom. opif. 12 (PG 44, 161D und 164A): der menschliche Geist als Spiegel; De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 46,16 M.); Virg. 11 (GNO VIII,1, 296,6 C.); Mort. (GNO IX 41,9.14 H.). In den Schriften gegen Eunomius kommt der Begriff des Spiegelbilds im Bezug auf den Sohn vor, vgl. Contra Eun. II,215 (GNO I 288,7.10.14 J.). Vgl. auch CAPOSCQ, Schönheit, 106. 90

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darin, dass ihre angenehmen Empfindungen zu hoch bewertet werden und das von den Sinnen als schön Angenommene auch für das wahre Schöne und Gute gehalten wird, obwohl es vergänglich ist und nur der Erhaltung des Körpers dient, aber kein Gut für sich ist. In diesem Sinn kann Gregor die Sinne auch äußerst negativ beurteilen, etwa als Fenster, durch welche der Tod den Eingang in die Seele finde, wie Gregor in der fünften Rede der Oratio dominica formulierte.94 In den Inscriptiones in Psalmorum erklärte Gregor, dass das Übel sinnliche Freude bringe, während Tugend die Seele erfreue.95 Eine Schwierigkeit für den Menschen ist gemäß Gregor die Tatsache, dass er als Neugeborener die geistigen Güter noch nicht wahrnehmen kann und auf den Genuss der materiellen Güter angewiesen ist, daher von Anfang an eine starke Gewöhnung an die materiellen Güter mitbringt.96 Derselbe Gedanke findet sich auch bei Plotin, der meinte, viele Menschen würden bei diesen sinnlichen Wahrnehmungen und den daraus resultierenden Freuden stehen bleiben.97 Wo sich dem Geist Widerstand durch die Schwäche eines Organs entgegenstellt, bleibt er ohne Wirkung.98 In platonischen Ansätzen wurde davon ausgegangen, dass der Körper die Seele beschwere und in ihrer rationalen Kraft störe.99 Typisch für die platonische Haltung ist auch die Äußerung von Basilius, der in der Homilie Attende tibi ipsi den Körper als Hindernis des unmittelbaren Gedankenaustausches zwischen den Seelen bezeichnete und zwischen der Seele als dem eigentlichen Menschen und dem Körper als etwas dazu Hinzukommendes unterschied.100 Entsprechend war der Körper für Basilius das 94

Or. dom. 5 (GNO VII,2, 67,9 C.). Inscript. Psal. I,4,27 (GNO V, 34,21–25 D.). 96 Eccl. 8 (GNO V, 418,15–419,8 A.). 97 Vgl Plot., Enn. V,9,1,1. 98 Diese Konzeption war verbreitet und findet sich etwa auch bei Epict., Diss. II,23; Ph., Opif. mund. XLVIII,139; Pl., Phd (79c); Pl., Tht (184c–186e); Plot., Enn. IV,7,6. 99 Alcin., Didasc. 25 erklärt, die Seele sei durch die Verbindung mit dem Körper in Konfusion geraten und wie in einen Zustand der Trunkenheit, während sie im körperlosen Zustand und im Bereich des rein Intellegiblen ruhig und gefestigt sei. Vgl. auch, Plot., Enn. IV,3,18. 100 Bas., Attende tibi ipsi 1 zur Störung der Kommunikation durch den Körper und in 3 die Bestimmung, dass die Seele den Menschen ausmacht, während der Körper etwas sei, das in seiner Macht steht und zu ihm hinzukommt. Insgesamt wird bei Basilius der Körper viel negativer beurteilt. So meinte er in derselben Schrift im siebten Kapitel, der Körper erhalte von der Seele die Lebenskraft, die Seele vom Körper die Schmerzen. Gemäß A. DE MENDIETA, L’Ascèse monastique de Saint Basile, 344, hat Basilius den platonischen metaphysischen Dualismus von Seele und Körper praktisch vollständig übernommen und mit dem paulinischen und – Amand de Mendieta zufolge – moralischen Dualismus zwischen Fleisch und Geist, gleichgesetzt: „Fidèle à l’esprit du platonisme, le moine-évêque a magnifié l’âme et l’intelligence ,qui est tout l’homme‘. Mais n’a-t-il pas meprisé, déprecié à l’excès le corps, entrave et prison de l’âme, bourbier, foyer de corruption, source de trouble et de passions pernicieuses?“ 95

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Gefängnis der Seele.101 Gregor bezog die Gegenposition, dass durch die Sinnesorgane die Aktivität des Geistes überhaupt erst angeregt wird. Als leibliches Wesen ist beim Menschen die Sinneswahrnhemung der Ansatz der Erkenntnis. Neben den negativen Einschätzungen des Körpers steht eine Überzahl von positiven Bewertungen des Körpers als unentbehrliches Instrument der Erkenntnis, dem die Kraft zum Guten genauso inne ist wie der geistigen Dimension des Menschen. Allerdings ist das Verlangen nach dem Schönen und dem Guten gleichwertig mit beiden Naturen verbunden und beiden hat dejenige, welcher die Welt erschaffen hat, Selbstbestimmung, Freiheit und Befreiung von jeder Notwendigkeit gegeben, so dass jedes vernunftbegabte und rationale Wesen durch seine eigene Wahlfreiheit geleitet ist.102

Der Körper war für Gregor fundamental für die Rolle des Menschen als Vermittler zwischen geistiger und materieller Schöpfung.103 Wo Gregor das enge Zusammenspiel und die Wohlordnung der geistigen und körperlichen Kräfte thematisierte, folgte er nicht mehr den platonischen Bildern und Begrifflichkeiten, welche seine Ausdrucksweise insbesondere prägten, sondern wechselte in ein stoisch geprägtes Konzeptions- und Begriffsfeld. Auch der Einfluss von Galen zeigt sich in der Beschreibung der engen Verbindung der körperlichen Elemente und der Beeinflussung der Seele durch den Körper und dessen Zustand und umgekehrt. Galen hatte sich in unterschiedlichen Schriften der Interaktion der seelischen Kräfte und der Zusammensetzung der Elemente im Körper gewidmet und dabei ebenfalls das Bild entwickelt, dass die Kräfte des Körpers und der Seele eng interagieren.104 Gregor griff diese organischen Konzepte des Körpers und der Interaktion von Körper und Seele auf, um den platonischen Antagonismus von Körper und Geist, der sich in Begriffen wie der Herrschaft des Geistes über den Körper und seine Triebe und der Unterwerfung des Irrationalen äußerte, zu einem organisch-ganzheitlichen Konzept umzudeuten, wonach 101

Vgl. Bas., Hom in Ps 29,6 (PG 29, 320C). Or. dom. 4 (GNO VII,2, 49,15–17 C.): % μέντοι το καλο τε κα γαθο πιθυμία μοτίμως κατέρ1 συνουσιώθη τ- φύσει, κα τ ατοκρατές τε κα ατεξούσιον κα

πάσης νάγκης λεύθερον +σον π’ μφον  το παντ ς πιστάτης ποίησεν, $ς ατονόμ! τιν προαιρέσει οκονομεσθαι πν σον λόγ! τε κα διανοί1 τετίμηται. 103 Daher scheint es unwahrscheinlich, dass Gregor den Körper nur angesichts der gefallenen Existenz des Menschen positiv bewertete, wie es ihm von verschiedener Seite unterstellt worden ist. Vgl. dazu teilweise LADNER, Anthropology, 90; 93, der von einem spirituellen Körper im Paradies ausgeht, und vor allem ZEMP, Grundlagen, 161. Gemäß Zemp hätte es ohne den Sündenfall nur das geschlechtslose Pleroma und keine konkreten Menschen gegeben, was eine unbegründete Annahme ist. BEHR, Animal, 246f., vertritt die Gegenposition, dass die Menschen unabhängig vom Fall als geschlechtliche und sexuelle Wesen geschaffen wurden. 104 Gal., Nat. fac. I,12f.: Quod animi mores corporis temperamenta sequantur; De propriorum animi cuiuslibet affectum dignotione et curatione. 102

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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alle Teile zu einem organischen Ganzen verbunden sind und durch eine übergeordnete Struktur geordnet werden.105 Der Körper wird aus der platonischen Abwertung gegenüber dem Geist befreit und beide gemeinsam in eine übergeordnete göttliche Ordnung integriert, deren Teil sie sind. In dem harmonischen Zusammenspiel entfaltet der Mensch seine wahre Natur und Tugend, entsprechend der göttlichen Einrichtung des ganzen Kosmos. Die Konsequenz aus dem Bild der organischen Einheit von Körper und Geist war, dass für Gregor die Tugend und die Vervollkommnung nicht in der Lösung des Menschen von seinem Körper und der Reduktion auf das Geistige bestand sondern in der Einheit und der gut abgestimmten Zuordnung von Körper und Geist.106 Die Aufgabe des Menschen als Wesen aus Körper und Geist besteht darin, dass die geistige Kraft des Menschen den Körper dazu anleitet, an der Schönheit und Güte Gottes teilzunehmen, indem der Körper durch freie Selbstbestimmung ein seiner Natur entsprechendes, der guten Ordnung der Schöpfung entsprechendes Leben lebt und nicht wie die Tiere durch die Instinkte geleitet seine Natur verwirklicht.107 Dadurch erfüllt der Mensch auch die ihm eigene Mittlerposition zwischen Geist und Materie und verwirklicht darin seine Natur und die Tugend. Die Betonung der Einheit von Körper und Geist und die Auswirkungen auf die Tugend zeigen sich sowohl im Hinblick auf die Affektenlehre als auch auf die Askese und sind in den entsprechenden Kapiteln noch zu vertiefen. 3.3.

Die Seele als Verbindung von Körper und Geist

In der Seelenlehre zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit, wie Gregor zur Unterstreichung seiner biblisch geprägten Konzeption der Einheit von Körper und Geist die platonische Seelenlehre, auf welche seine Erörterung der Seele abstützte, anhand von naturwissenschaftlichem und aristotelischem Gedankengut modifizierte. Für die Frage nach dem guten Leben hatte die Seele als Ort der Unterscheidung zwischen Gut und Böse eine grundlegende Bedeutung, da in der Seele die moralische Handlungsfähigkeit des Menschen begründet liegt.108

105

Vgl. zu dem stoischen Hintergrund der Ordnung von Körper und Geist D ANIÉLOU, L’être et le temps, 51–74; HÜBNER, Die Einheit des Leibes Christi, 146–159; ZEMP, Grundlagen, 119–125. 106 Vgl. Or. catech. 16 (GNO III,4, 48,9–16 M.). Vgl. dazu auch VON STRITZKY, 33– 37. 107 Explizit wird diese Aufgabe auch bei Bas., Attende tibi ipsi 2 formuliert. 108 Anim. et res. 8 (PG 46, 57C).

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Gregor widmete der Seele neben der Behandlung in De hominis opificio eine eigene Schrift, den Dialog De anima et resurrectione109 wo wichtige Fragen zur Seelenlehre aufgenommen werden, die in den Philosophenschulen und unter den gebildeten Menschen zu Gregors Zeit diskutiert wurden. Thema, Form und Inhalt lassen auf einen gebildeten Adressatenkreis schließen, der ein Interesse an philosophischen Fragen und christlichprofilierten Antworten hatte. Die Ähnlichkeiten des Dialogs in der Anlage und Thematik zu Platons Phaedo ist schon vielfach festgestellt und beschrieben worden.110 Es handelt sich allerdings um eine freie Anlehnung, die vor allem den äußeren Rahmen betrifft.111 Im Einzelnen zeigt Gregors Schrift bei weitem größere Nähe zu den mittel- und neuplatonischen Schriften über die Seele, etwa Iamblichs De anima. Die formale Anlehnung an den Phaedo ist wie bei dem Symposium von Methodius von Olymp programmatisch als Gegenentwurf zu Platon zu verstehen. Sie verweist auf Gregors Ambition, der platonischen Lösung auf die Frage nach der Seele und ihrer Unsterblichkeit eine christliche entgegen zu halten, welche der biblischen Verkündigung der körperlichen Auferstehung gerecht wird.112 Die Auseinandersetzung mit den philosophischen Ansätzen ist hauptsächlich auf die platonische Seelenlehre ausgerichtet und setzt sich nur punktuell mit anderen Ansätzen auseinander, etwa durch die Abgrenzung zu materialistischen Konzeptionen der Seele. Es ist freilich zu beachten, dass der Platonismus zu Gregors Zeit die anderen Schulen absorbiert hatte und die Ansicht vorherrschte, es gebe eine harmonisierbare philosophische Einsicht der unterschiedlichen Schulen in den verschiedenen Fragen, so dass der Neuplatonismus oft mit der philosophischen

109 Der Kontext ist der kürzliche Tod des Bruders Basilius, den Gregor der Schwester Macrina mitteilen will und dabei feststellt, dass auch sie auf dem Totenbett liegt. Macrina versucht den aufgelösten Gregor mit der Hoffnung auf die Auferstehung zu trösten. MEISSNER, Rhetorik und Theologie, 47–58, ordnet den Dialog der Konsolationsliteratur zu und rückt damit berechtigt den christlichen Aspekt der Schrift durch den Trost im Glauben an die Auferstehung in den Vordergrund. 110 Vgl. APOSTOPOULOS, Phaedo Christianus, 8. Vgl. auch CHERNISS, Platonism, 13. Beide verstehen Gregor vor allem auf dem Hintergrund des Platonismus. 111 Diese Form der Auseinandersetzung mit der Philosophie war für die gebildeten Kreise üblich, wie etwa das Symposion von Methodius von Olymp zeigt. Wie Gregor die Überlegenheit der christlichen Lehre von der Auferstehung zeigen wollte, ging es Methodius darum, die unterschiedlichen Wirkweisen des christlichen Eros, der sich in einer jungfräulichen Lebensweise zeigt, und des platonischen, der sich in der Philosophie zeigt, darzustellen. 112 In De infantibus praemature abreptis verweist Gregor explizit auf Platons Ausführungen zur Frage nach der Unsterblichkeit der Seele und erklärt dessen Ausführungen als unbefriedigend. Vg. Inf. abrept. (GNO III,2, 70,6–10 HÖRNER).

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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Sicht identifiziert wurde.113 Ein Aristoteles-Kommentator wie Themistius zeigte sich bemüht, immer wieder Übereinstimmungen mit Platon aufzuzeigen.114 Platonische Begriffe prägten das Denken und Sprechen der gebildeten Elite, ohne dass damit eine bestimmte Nähe zum Schulplatonismus ausgedrückt wurde. Die platonischen Ausdrücke sind daher mehr ein Ausdruck der Zeit und der Bildung als einer bestimmten philosophischen Ausrichtung.115 Die platonische Seelenlehre und Anthropologie standen zur Zeit Gregors in aller auszudifferenzierenden Vielfalt der unterschiedlichen Positionen für die philosophische Sicht des Menschen. Im Bezug auf die Seelenlehre Gregors zeigt sich die platonische Prägung neben der Begrifflichkeit auch in den diskutierten Problemkreisen zur Seele, die sich deutlich von dem Zugang der aristotelisch geprägten Seelenlehren etwa bei Alexander von Aphrodisias oder Themistius unterscheiden. Zu nennen sind die Frage nach der Beschaffenheit der Seele, ihre Verbindung zum Körper, die unterschiedlichen Teile oder Kräfte der Seele, die Beurteilung der niederen Kräfte der Seele im Bezug auf die Einheit der Seele, das Zusammenspiel und die Lokalisierung der unterschiedlichen Kräfte oder Teile der Seele, die Frage nach dem Wann und Wie der Verbindung von Körper und Seele, das Ergehen der Seele nach dem Tod, Beurteilung und Gericht der Seele. Neben den philosophischen Traditionen finden sich bei Gregor sowohl in De anima et resurrectione als auch noch stärker in De hominis opificio naturwissenschaftlich-medizinische Ansätze, wobei Gregor besonders Galen rezipierte.116 Obwohl die platonische 113

Vgl. etwa C. D’ANCONA, From Late Antiquity to the Arab Middle Ages: The Commentaries and the „Harmony between the Philosophies of Plato and Aristotle“, in: Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter. Von Richardus Rufus bis zu Franciscus de Mayronis, Internationale Konferenz, 14.–16.8. 2000, Bonn, veranstaltet vom Albertus-Magnus-Institut und dem Rufus-Projekt an der Yale University (Subsidia Albertina I), hrsg. v. Ludger Honnefelder u. a., Münster 2005, 45–69. 114 Vgl. Themistius, In Aristotelis libros Anim. paraphrasis befindet sich in konstantem Gespräch mit dem Timaeus. 115 Vgl. auch POCHOSHAJEW, Seele, 222–224. Pochoshajew betont die Bedeutung platonischer Begrifflichkeiten in der Alltagssprache der Zeit Gregors und die Bedeutung des Platonismus als Sammelbecken des antiken Geistesgutes mit langzeitig kulturprägender Wirkung. Pochoshajew geht berechtigterweise davon aus, dass „das platonische Gedankengut in den Texten Gregors nicht als individuell bedeutsamer Einfluss der platonischen Philosophie gedeutet werden kann. Diese Erkenntnis erlaubt den Schluss, dass die Feststellung des platonischen Materials in den Schriften Gregors zunächst nichts darüber hinaus sagt, als dass Gregor ein Mann seiner Zeit war“, 222f. 116 Als medizinisch-naturwissenschaftliche Quelle Gregors wird meist auf Galen verwiesen und einige Ausführungen in De hominis opificio scheinen dies nahezulegen, so die Lokalisierung des Riechorgans in dem Gehirn, was sich so gemäß Daniélou spezifisch bei Gal., Odor. 4 findet. Ein weiteres Werk Galens, dass er vor allem in De hominis opificio benutzt zu haben scheint ist De usu partium, vgl. D ANIÉLOU, Création, 228 Anm.1. Dane-

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Seelenlehre offensichtlich die Folie und das Modell für Gregors Dialog ist, führte dies nicht dazu, dass Gregor eine platonische Seelenlehre vorstellte.117 Das Ziel war vielmehr die Darstellung einer philosophisch begründeten christlichen Seelenlehre, die sich von heidnischen Fabeln klar distanziert118 und der Philosophie die Einfachheit des Auferstehungsglaubens entgegenhält.119 Ein wichtiges Kriterium für die Unterscheidung von nichtchristlichen philosophischen Ansätzen wird genannt: Gregor und Macrina halten sich als christliche Philosophen an die Offenbarung und die durch sie gesetzten Grenzen und denken sich nicht in vollkommener Freiheit eine Theorie der Seele aus, wie dies Platon und Aristoteles getan hätten.120 In der Anlage des Dialoges ist es die Aufgabe Gregors, die kritische Gegenstimme zu den Ausführungen Macrinas zur Seele und der christlichen Auferstehungshoffnung darstellen, was gemäß der Aussage von Macrina seiner Denkweise entsprechen würde.121 Die Dialogform stellt die Leserinnen und Leser allerdings vor dieselbe Frage wie die Dialoge Platons, nämlich diejenige nach der Position des Autors. Gregor stellte sich selbst und seine Schwester Macrina als Dialogpartner vor, wobei Macrinas Position als die christliche charakterisiert wird und Macrina zur Lehrerin oder christlichen Philosophin stilisiert ist, wogegen Gregor gemäß seiner Darstellung als advocatus diaboli die kritischen Fragen von Gegnern der christlichen Auferstehungslehre einbringe. Wie Elizabeth Clark zu Recht gewarnt hat, kann man nicht davon ausgehen, dass die Macrina in den Mund gelegten Worte ihre eigenen waren, sondern es handelt sich um eine Schrift Gregors, welche anhand der Aussagen von Macrina und Gregor die Fragen Gregors und vor allem seiner Adressaten durchspielen.122 Sieht man sich die Art ben kann sein medizinisches Wissen aber auch weitere Quellen haben, der Bruder des Gregor von Nazianz, Caesarius, war ein angesehener Arzt und auch Aretaeus war ein bekannter kappadozischer Arzt. 117 Gegen CHERNISS, Platonism, 12–25. 118 Anim. et res. 1 (PG 46, 17B). 119 Hom. opif. 25 (PG 44, 224B): Gregor wollte vorgehen, indem ıwir den durch die Philosophie und leere Tricks in die Irre Geführten den einfachen Glauben aufzeigen.„ φράσαντες τος δι τς φιλοσοφίας κα κενς πάτης παρακρουομένοις τν κατάσκευον πίστιν. 120 Anim. et res. 8 (PG 46, 52A) mit dem Verweis auf das Bild des Seelenwagens von Platon und ähnlichen Theorien. 121 Anim. et res. 2 (PG 46, 20A). 122 CLARK, The Lady Vanishes, besonders 17–30 zur Funktion der Frauenviten und speziell zu Macrina. Während für Clark der Beitrag Macrinas an diesem Dialog inexistent ist, weil sie keine Bildung als diejenige der biblischen Geschichten gehabt habe – Clark vertraut hier erstaunlicherweise der Aussage Gregors in der Lebensbeschreibung von Macrina unkritisch – könne sie keine philosophischen Diskussionen auf diesem Niveau geführt haben. Für Gregor habe die Gestalt der Macrina als Dialogpartnerin unterschiedliche Funktionen erfüllt, aus diesem Grund, habe er die Schrift über die Seele in dieser Art und Weise gestaltet. Die Philosophin Macrina ist daher gemäß Clark ein literarisches Konstrukt, um eine überarbeitete Form von Origenismus zu vertreten. Diese Ansicht ist

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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der Fragen Gregors genauer an, fällt auf, dass es keineswegs nur Fragen sind, wie nichtchristliche Gegner sie formulieren würden, sondern solche, die auch philosophisch gebildete Christen an die christliche Lehre von der Seele und der Auferstehung haben konnten. Im Verlauf des Gesprächs werden Macrinas Darlegungen nicht einfach angenommen, sondern Gregor fragte oft kritisch nach, was zu Präzisierungen und Modifizierungen der anfänglichen Ausführungen Macrinas führt. Die Annahme, in den Ausführungen Macrinas präsentiere Gregor die eigene Ansicht und die im Gespräch von ihm vorgebrachten Einwände seien mögliche Einwände gegen seine Lehre, ist daher zu wenig präzis.123 Vielmehr scheinen auch Macrinas Ausführungen eine bestimmte Form von christlicher Seelenlehre darzustellen, die Gregor diskutieren und modifizieren wollte.

Der Dialog ist geleitet durch die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele. Aus ethischer Sicht interessant ist vor allem die Begründung für dieses Unternehmen: Ich spüre auch, dass auch das schönste menschliche Leben (ich meine das tugendhafte) kraftlos ist, wenn nicht in uns ein unzweideutiger Glaube an diese [die Auferstehung] bestärkt wird.124

Der Glaube an die Auferstehung gilt als Fundament der Tugend, da insbesondere das Gericht als Motiv für ein tugendhaftes Handeln in diesem Leben angesehen wird. Die Unsterblichkeit der Seele soll aus ihrem Wesen abgeleitet werden und dieses wird gegen die materialistischen Konzeptionen der Seele, welche den Stoikern und Epikureern zugeordnet wird,125 als ein immateriell-geistiges Wesen bestimmt. jedoch zu kurz gefasst, insofern sie nicht in Betracht zieht, inwiefern Gregor mit den beiden Schriften über Macrina ein Bild seiner Schwester konstruierte, das darauf abzielte, sie zu einer verehrten Heiligen zu machen und ein christliches Ideal zu propagieren, einen Punkt den auch Clark erwähnt. Macrina ist darum mehr als Diotima im Symposion Platons und Gregor hat sie nicht bloß genommen, um eine personifizierte Weisheit zu haben. Ein Vergleich mit dem Symposion von Methodius von Olymp und seinen abstrakten (Arete) Figuren oder historischen (Thecla) zeigt den Unterschied. Die Jungfrauen bei Methodius sind deutlich fiktive literarische Gestalten, wohingegen Macrina eine tatsächlich existierende Person war und Gregor kaum zufällig seine Schwester zweimal ins Zentrum einer Schrift stellte. Die Inszenierung Macrinas als christliche Philosophin und Asketin ist vielmehr geprägt von dem Interesse, sie als vorbildliche Christin und Heilige darzustellen. Die Person ist daher ebenso wichtig wie der durch sie transportierte Inhalt, auch wenn das nicht bedeutet, dass es ihr Inhalt ist. 123 So CLARK, The Lady Vanishes, 27. Vgl. auch SMITH, Passion and Paradise, 75– 103, zur unterschiedlichen Ausrichtung der Äußerungen von Gregor und ‚Macrina‘, wobei Smith nicht kommentiert, inwiefern Gregor Macrina benutzte, um eine bestimmte Position darzustellen. 124 Anim. et res. 1 (PG 46, 20A): Ασθάνομαι γρ κα ατ ς, τι το καλλίστου τ ν κατ τν ζων (τς ρετς λέγω)  τ ν νθρώπων χηρεύσει βίος, ε μή τις ναμφίβολος % περ τούτου πίστις ν %μν κρατυνθείη. 125 Anim. et res. 2 (PG 46, 21B). Die Epikureer werden als diejenigen dargestellt, welche die göttliche Fürsorge und Voraussicht leugneten und so dem Menschen jegliche

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Die Seele ist ein geschaffenes Wesen, lebendig, denkfähig, sie ist in einem mit Organen und Sinnen ausgestatteten Körper, dem sie Lebenskraft und die Fähigkeit sinnlicher Wahrnehmung verleiht, so lange die aufgenommene Natur in der Verbindung von diesen besteht.126

Die Abwehr materialistischer Sichtweisen war ein wichtiger Teil der platonischen Ausführungen zur Seele, findet sich aber auch bei Alexander von Aphrodisias in seiner Darlegung der Seele als der Form des Körpers.127 Einen eigenen Akzent setzte Gregor dagegen damit, dass er die Seele als geschaffenes Wesen charakterisierte, was eine erste Auseinandersetzung mit der platonischen Seelenlehre und deren Ewigkeit der Seele darstellt.128 Die Auseinandersetzung mit der platonischen Seelenkonzeption wird noch verdeutlicht, indem der Verdacht ausgeräumt wird, die Seele und Gott seien gleich.129 Es müsse deutlich gemacht werden, dass die Seele nur ähnlich genannt werden könne aber als Abbild Gottes nicht mit dem Urbild gleichwertig sei sondern bloß an gewissen Eigenschaften Gottes Anteil habe, wie an der Geistigkeit und Unkörperlichkeit. Als geschaffenes und begrenztes Abbild bleibe die Distanz zum unendlichen und ungeschaffenen Urbild aber unüberwindbar.130 Ein nächster Problemkreis ist die Art der Vereinigung von Körper und Seele.131 Die Seele durchdringt (σγκρησις) gemäß Gregor auf geheimnisvolle Art die Elemente des Körpers, hält sie zusammen und bewegt sie. Die Einheit von Körper und Seele und die Art ihrer Verbindung war ein rege diskutiertes Problem bei den Neuplatonikern, geprägt durch die stoische Kritik, welche die Beeinflussung des Körpers durch die unkörperliche Seele im platonischen Modell in Frage gestellt hatte.132 Gregor übernahm die platonische Terminologie und sprach davon, dass die Seele den Körper Sonderstellung absprachen. Zu der materialistischen Seelenkonzeption bei den Stoikern vgl. J.-B. GOURINAT, Les stoïciens et l’âme, Paris 1996. Vgl. Anim. et res. 2 (PG 46, 21B). 126 Anim. et res. 4 (PG 46, 29B): Ψυχή στιν οσία γεννητ, οσία ζ σα, νοερ, σώματι ργανικ κα ασθητικ, δύναμιν ζωτικν κα τ ν ασθητ ν ντιληπτικν δι’ αυτς νιοσα, >ως ν % δεκτικ τούτων συνέστηκε φύσις. 127 Vgl. Alex. Aphr., Anim. 26. 128 Vgl. Alcin., Didasc. 14, die Weltseele ist ewig, die Einzelseelen sind Teil der Weltseele. 129 Iamb., Anim. 6; Alcin., Didasc., 23. Allerdings wurde meist nur der geistige Teil ewig und göttlich genannt. 130 Anim. et res. 6 (PG 46, 41B–44A). Dabei musste die Vorstellung abgewehrt werden, Seele und Gott seien von gleicher Natur, ein Gedanke, der in einem platonisch geprägten Umfeld durchaus möglich war. Vgl. Plot., Enn. IV,8,7; V,7,10. Schon Philon hat klar unterschieden zwischen dem Urbild und dem minderwertigeren Abbild, vgl. Opif. mund. XLIX,140. 131 Anim. et res. 7 (PG 46, 44C–45A). 132 Numenius, Fragment 4b (DES P LACES); Iamb., Anim. I,3.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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durchdringe oder dass der Körper das Werkzeug der Seele sei. Es fehlen in De anima et resurrectione aber Abwägungen für und wider die einzelnen Begriffe und Bilder, wie sie sich bei Plotin und Porphyrius, jedoch nicht bei Iamblich, finden.133 Gregor stellte die Frage nach der Art und Weise der Verbindung von Körper und Seele anders als die Neuplatoniker im Hinblick auf die Verbindung der Seele mit den körperlichen Elementen über den Tod hinaus. Damit machte er wiederum die christliche Perspektive anhand der körperlichen Auferstehung deutlich, wo sich die Verbindung von Körper und Seele insbesondere stellt. Die Bindung der Seele an die Elemente wird Gregor zufolge durch den Tod nicht aufgehoben, sondern die Seele bleibt den aufgelösten Elementen verbunden, da die Auflösung der körperlichen Elemente keine Bedeutung für die Beziehung zur Seele habe, weil diese nicht an die räumliche Dimension und ihre Begrenzungen gebunden sei. Illustriert wird diese Aussage mit unterschiedlichen Bildern aus der Kunst. Auch in der Kunst sei es so, dass die Fertigkeit über die Zerstörung des Kunstwerks hinaus bestehen bleibe und daher die Möglichkeit, das Kunstwerk wiederherzustellen intakt sei.134 Die Ausführungen zur Bindung der Seele an den Körper erinnert an ähnliche Ausführungen bei Porphyrius, dessen bekanntes Argument gegen die körperliche Auferstehung in De hominis opificio diskutiert wird. Porphyrius fragte, was mit den einzelnen Elementen passiere, wenn ein Mensch auf See sterbe und von einem Fisch gefressen werde, der wiederum von Menschen gefressen würden usw.135 Gregor erwiderte auf diesen Einwand, wenn alle Elemente sich auflösen würden, dann bleibe in der Seele ein Bild der Form des Körpers zurück, eine Form die durch den Wandel, welchen der Körper während seines Lebens oder durch Krankheit durchmacht, unberührt bleibe. Anhand

133

Plot., Enn. IV,3,20–24; Porph., Fr. 259F–261F (SMITH). Einerseits wird die Seele verglichen mit der Kunst, Gold und Silber zu verschmelzen, wobei diese die Elemente des Körpers darstellen. Auch nach der Auflösung der Elemente bleibe die Kunst, sie zu verschmelzen, bestehen, Anim. et res. 7 (PG 46, 48B). Ein ganz ähnliches Beispiel beschreibt die Seele als Künstler und den Körper als aus vielen zusammen gemischten Farben hergestelltes Kunstwerk. Der Maler habe auch wenn die Farben nicht mehr in ihrer ursprünglichen Mischung sind, das Wissen, wie er sie wieder zum Kunstwerk zusammenmischen könne. Vgl. Anim. et res. 10 (PG 46, 73B–76B). Ein drittes Beispiel vergleicht die Seele mit einem Töpfer, der seinen Krug auch dann noch erkennt und wieder zusammensetzen kann, wenn dieser nur noch aus Scherben besteht. Anim. et res. 10 (PG 46, 77C–80A). Auch in De hominis opificio bringt Gregor ein solches Beispiel, diesmal mit einem Künstler, der aus einem Steinblock gemäß seiner Idee eine Skulptur bildet. Hom. opif. 29 (PG 44, 253D). Vgl. auch ganz ähnlich Plot., Enn. V,9,5,24f. 135 Porph., Contra Christianos 11. 134

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

dieser Form werde die Seele bei der Auferstehung die ursprünglich zu ihr gehörenden Elemente erkennen und an sich ziehen.136 Die Verbindung der Seele mit dem Körper wird so eng wie möglich gedacht. Die Seele ist gemäß Gregor nicht frei, sich an einen Körper zu binden oder nicht, sondern Körper und Geist sind als eine Einheit geschaffen. In der Frage nach der Verbindung der Seele mit den Elementen zeigt sich bereits, dass die Bindung der Seele an die Elemente keine Fessel ist sondern ursprüngliche Verbindung und über den Tod hinaus bestehen bleibt. Damit ist der Boden für die christliche Auferstehungshoffnung bereitet. Im Hinblick auf die ethische Fragestellung ist besonders die erneute Betonung der engen Bindung von Körper und Geist gegenüber den anders ausgerichteten platonischen Konzeptionen bedeutsam. Neben der Frage nach dem Wesen der Seele und ihrer Verbindung mit dem Körper sind die Kräfte der Seele ein wichtiges Thema, insbesondere für die Funktionsweise der Seele und damit für die Tugend. Hier wird im Dialog gleich bei dem umstrittenen Problem eingestiegen, indem Gregor die Frage aufwirft, inwiefern die Kräfte des Zürnens und Begehrens, also die Affekte, Kräfte der Seelen seien. Die Frage richtet sich kritisch an diejenigen platonischen Seelenkonzeptionen, welche die irrationalen Kräfte der Seele zunehmend bloß als uneigentlich zur Seele gehörig bestimmten, ein Trend, der sich insbesondere bei den Neuplatonikern zeigte.137 Auch in dieser Frage wird von Gregor eine klare Abgrenzung gegenüber den pagan-philosophischen Konzepten der Umwelt gezogen. Christen dürften sich nicht in völliger Freiheit irgendwelchen Spekulationen über die Seele hingeben, wie dies Platon mit seinem Bild des Seelenwagens, den Pferden 136 Hom. opif 25 (PG 44, 224C). Vgl. auch PEROLI, Platonismo, 140–157 mit Vergleichen mit anderen christlichen Schriften gegen Porphyrius. Peroli macht darauf aufmerksam, dass Gregor auch ein anderes Argument des Porphyrius gekannt zu haben scheint, das von dem ordine elementorum, wonach jedes Element seinen Platz hat und es unmöglich sei, dass der schwere menschliche Körper plötzlich im Himmel und in den Lüften sein könne. Sowohl Porph., Fr. 35 (HARNACK) wie auch Gregor, Hom. opif. 22 (PG 44, 208A); Or. dom. 4 (GNO VII,2, 48,14–49,15 C.) beziehen sich dabei auf 1 Thess 4,17. 137 Plot., Enn. III,6. Plotin beschreibt, dass die niederen Affekte ihre Auswirkungen, die Veränderungen, stets am Körper zeigen, die Seele sich dabei aber nicht ändere. Von ihr gehe bloß die Bewegung aus, die sich dann im Körper als Veränderung manifestiere. Plotin unterschied die Veränderungen, welche am Körper stattfinden von der Seele und unterschied die niederen Erregungen von der Seele als unveränderlicher und geistiger Einheit. Die unteren Seelenteile konnten dabei auch als sterblich bezeichnet werden, vgl. Alcin., Didasc. 25, der die Sterblichkeit oder Unsterblichkeit der irrationalen Seele als offene Frage bezeichnet; Plot., Enn. IV,3,25 ging davon aus, dass sich die Seele in den rationalen und den irrationalen Teil unterscheiden lässt, die nach der Auflösung des Körpers getrennt werden; Iamb., Anim. VII,C,37 erklärte, dass unterschiedliche Meinungen bei den Platonikern darüber existierten, auf welche Art die irrationalen Kräfte getrennt von der rationalen Seele weiterexistieren würden.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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und dem Wagenlenker gemacht habe und auch sein Nachfolger138 mit der Bestimmung der Seele als sterbliche Form des Körpers. Als Christ müsse man sich an das Zeugnis der Schrift halten, welche über die Seele besage, dass sie das Ebenbild Gottes sei. ‚Macrina‘ zog daraus den Schluss, dass nichts, was Gott widerspreche, der Seele als wesenseigentlich zugeschrieben werden könne, also auch nicht die Affekte wie Zorn und Begehren. Es sei offensichtlich, dass diese Kräfte, nicht zum Wesen der Seele gehörten sondern bloß an ihr wahrgenommen würden. Es seien aber Leidenschaften oder Krankheiten der Seele, welche besonders tugendhafte Menschen wie Moses überwunden hätten.139 Es ist bezüglich der untersuchten Regungen offenbar, dass sie ausserhalb der Natur sind und Leidenschaften und nicht zum Wesen gehören.140

Zudem seien diese irrationalen Kräfte im Menschen für die Hervorbringung der Laster verantwortlich. Aus ihnen entstünden Zorn, Neid, Hass, Trauer aber auch ihre Gegenteile wie die Freude.141 Die Affekte seien als Auswüchse der Seele und Leidenschaften zu betrachten und werden von ‚Macrina‘ als Leidenschaften und Warzen (μυρμηκίαι) bezeichnet.142

138

Anim. et res. 8 (PG 46, 49C–52A). Aristoteles wird jedoch für seine naturwissenschaftlichen Untersuchungen gelobt. Die Naturwissenschaft und auch die Medizin waren Bereiche, an denen Gregor sehr interessiert war, wie seine häufige Verwendung entsprechender Bilder und die Ausführungen in diesem Bereich zeigen. In welcher Form Gregor allerdings mit aristotelischen Lehren in Kontakt gekommen war, ist schwer zu beurteilen, eine Möglichkeit wären indirekte Kenntnisse über Galen, der trotz grundsätzlich platonischer Ausrichtung in vielen Fälle Aristoteles rezipierte und immer wieder auch würdigte. Gregor nimmt die aristotelische Stufung der Vitalkräfte auf, die allerdings zur Zeit Gregors als Konzept so verbreitet war, dass man ohne Aristoteles-Lektüre davon Kenntnis haben konnte. Auch im Hinblick auf logische Bestimmungen und Definitionen, wie auch in der Unterscheidung ethischer und dianoetischer Tugenden und der Bestimmung der Tugend als einer Haltung, lässt sich ein aristotelischer Einfluss erkennen. Dies sind relativ oberflächliche Einflüsse, die gut der Allgemeinbildung entspringen konnten, während Gregors Lob darauf hindeutet, dass er von Aristoteles auch genauere Kenntnisse besaß, diese aber nicht präzisiert. Zur Aristotelesrezeption bei den christlichen Autoren vgl. RUNIA, Festugière Revisited, 1–34. 139 Anim. et res. 8 (PG 46, 53C–D). 140 Anim. et res. 8 (PG 46, 53D,89–56A,89): Δλον ο6ν τι τ ν ξωθεν πιθεωρουμένων στ τατα τ πάθη τς φύσεως ντα κα οκ οσία. 141 Anim. et res. 8 (PG 46, 56A–C). 142 Vgl. Plot., Enn. III,6. Die ganze Schrift will aufweisen, dass die Affekte nicht zur Seele gehören.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Dazu kommt ein weiteres, abschwächendes Argument über die Definition der Seele auf. Man definiere etwas über das Spezifische und das Spezifische der menschlichen Seele sei ihre Rationalität.143 Was für die Beschreibung der Natur überflüssig und weglassbar ist, wie kann es Teil der Natur sein und die Kraft zum Umsturz der Definition haben? Jede Bestimmung des Wesens schaut auf das Eigentümliche des zu Beschreibenden. Was aber nicht zum Eigentümlichen gehört, wird für die Defnition als fremd betrachtet. Die Kräfte des Zürnens und Begehrens werden aber der rationalen wie der irrationalen Natur gleichsam zugehörig genannt. Alles, was aber gemeinsam ist, das ist nicht eigentümlich.144

Gegen diese Ausführungen ‚Macrinas‘ und ihre Pathologisierung der Affekte wehrte sich Gregor mit dem Verweis darauf, dass die Affekte auch zur Tugend führen könnten, wie sich an vielen Menschen der Bibel wie Daniel, Phineas oder Paulus zeigen ließe.145 Was zur Tugend führe, lasse sich nicht als krankhafte Erscheinungen oder naturwidrige Auswüchse bezeichnen. Das Streben nach dem Guten sei ohne das Begehrungsvermögen nicht möglich.146 Diese Einwände führen zu einer Präzisierung, dass die Kräfte der Seele nicht an sich schlecht seien, sondern erst durch eine Ausrichtung auf schlechte Ziele schlecht zu nennen seien.147 Gregors Kritik zeigt sich noch deutlicher in De hominis opificio, wo er in der Diskussion derselben Frage unterstrich, dass die Leidenschaften nicht aus der menschlichen Natur ausgeschlossen werden könnten.148 In De hominis opificio unterschied Gre-

143 Das Argument des Rationalen als des spezifisch Menschlichen und darum Kennzeichnenden findet sich auch in Asp., In ethica Nicomachea (34,27–29 H.), ohne den anderen irrationalen Kräften abzusprechen, Teil des Menschen zu sein. 144 Anim. et res. 7 (PG 46, 53A,73–77): ^ δ" πρ ς τν τς φύσεως πογραφν περιττόν τε κα πόβλητον, π ς νεστιν $ς μέρος τς φύσεως, π’ νατροπ- το ρου τν σχν χειν; Πς γρ ρισμ ς οσίας πρ ς τ +διον το ποκειμένου βλέπει. R, τι δ’ ν ξω το διάζοντος #, $ς λλότριον παρορται το ρου. 3λλ μν % κατ θυμόν τε κα πιθυμίαν νέργεια κοιν πάσης ε ναι τς λογικς τε κα λόγου φύσεως μολογεται. Πν δ" τ κοιν ν, ο τατόν στι τ διάζοντι. Vgl. auch Anim. et res. 8 (PG 46, 56C): _ μέρη μ"ν ατς ε ναι δι τ προσπεφυκέναι νομίζεται, ο μν κενό εσιν, περ στ ν % ψυχ κατ’ οσίαν. „Man kann sie (Zorn und Begehren) für Teile der Seele halten, weil sie an ihr haften, aber sie sind nicht etwas, was das Wesen der Seele ausmacht.“ Vgl. auch Hom. opif. 15 (PG 44, 177A). 145 Für POCHOSHAJEW, Seele, 76f., der diese Diskussion zwischen Macrina und Gregor ebenfalls thematisiert, geht es Gregor darum, eine möglichst schriftgemäße Definition der Seele zu finden. 146 Zur positiven Funktion der irrationalen oder niederen Seelenkräfte vgl. auch SMITH, Passion and Paradise, 75–103; 183–225; STRECK, Das schönste Gut, 135–144. 147 Hom. opif. 18 (PG 44, 193B). 148 Hom. opif. 16 (PG 44, 180C–D): Ε δ" ο;τε τ Θεον μπαθ"ς, ο;τε τ καθ’ %μς ξω πάθους στ ν.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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gor klar zwischen den Bewegungen oder Kräften der Seele und den Leidenschaften als ihrer krankhaften Form.149 Ein weiterer Klärungsversuch zu den unterschiedlichen Kräften und ihrer Beziehung zur Seele wird durch die Einführung der aristotelischen Unterscheidung in die verschiedenen Vitalkräfte150 unternommen. Die aufeinanderfolgende Schöpfung von Pflanzen, Tieren und Menschen sei ein deutlicher Hinweis, dass sich die Lebenskraft stufenweise mit der körperlichen Natur verbunden habe.151 Zuerst kämen die Kräfte des Wachsens und Ernährens, über die schon die Pflanzen verfügten, und die Gregor über den Trieb (ρεξις)152, das materielle Leben zu erhalten, definierte. Darauf bauten die Kräfte der Sinneswahrnehmung und der Körpersteuerung auf, welche der Mensch mit den irrationalen Tieren teile und wo auch die Affekte sich zeigten; nochmals darauf aufbauend verfüge der Mensch über die ihm eigene Kraft des Denkens und der Vernunft. Diese für ihn spezifische und darum wesensbestimmende Kraft könne aber nur dann aktiv werden, wenn sie die Sinneseindrücke des Körpers habe, um sie zu verarbeiten. Daher komme die Seele notwendigerweise mit der Verbindung zu den Sinneseindrücken auch in die Gemeinschaft mit den anderen irrationalen Kräften, die aber nicht nur zum Schlechten hin tendieren müssten, sondern auch zum Guten gewendet werden könnten, je nach dem Gebrauch, den der freie Wille von ihnen mache. Die aristotelische Konzeption der unterschiedlichen Vitalkräfte hat bei Gregor die Funktion, die enge Verbindung von Seele und Körper, sowie der einzelnen Kräfte der Seele anzuzeigen gegen eine platonische Unterteilung in verschiedene Seelenteile.153 Wo Gregor von den drei Teilen der Seele sprach, drückte er sich so aus, dass in der Wahrnehmung drei Teile seien, die Seele aber eigentlich eine Einheit sei.154 149

Hom. opif. 18 (PG 44, 192D–193C). Nach CAVARNOS, Relation, 74, bevorzugt Gregor die aristotelische Einteilung der Seele, wo es ihm mehr um einen biologischen und physiologischen Erklärungsansatz des Menschen ging, während auf der Ebene der Ethik mit der Heilung der Krankheiten der Seele und zur Erklärung der niederen Triebe die platonische Erklärung beigezogen wird. 151 Anim. et res. 8 (PG 46, 57C). Vgl. Iamb., Anim. VI,C,31. 152 Vgl. Anim. et res. 8 (PG 46, 57Cff.), vgl. auch Hom. opif. 8 (PG 44, 144D–145D). Aristoteles hingegen verortet das Begehren auf der Ebene der Tiere (EN I,13 1102b). 153 Auch die Neuplatoniker hatten diese aristotelische Unterscheidung aufgenommen. Plotin erklärte, dass Einheit und Vielheit der Seele abhängig von der Betrachtungsweise seien. Die Seele empfinde alles als Einheit, wirke aber in unterschiedlichen Weisen und in unterschiedlichen Teilen. Plot., Enn. IV,2,1f.; IV,3,19. Bei Porphyrius und Iamblich wird die Dreiteilung auf die Tugend bezogen, daneben gebe es noch andere Kräfte. Porph. Fr. 253,11–18 (SMITH ); Iamb., Anim. II,12. 154 So drückte auch Plotin sich aus, vgl. Enn. IV,2,1f.; IV,3,19. Die beiden von CHERNISS, Platonism, 15f. vorgebrachten Stellen zur Untermauerung einer platonisch mehrteiligen Seelenkonzeption Gregors brauchen den Begriff der μερ( verbunden mit διαίρεσις. 150

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Als Teil der göttlichen Ausstattung des Menschen haben die Affekte gemäß Gregor ihren Sinn. Sie garantierten den Fortbestand als animalisches Wesen und sollten durch das mit ihnen verbundene Leiden die Menschen auf ewige Güter ausrichten. In De anima et resurrectione führte Gregor aus, dass mit dem Begehrungsvermögen auch das Streben nach dem Guten dahinfallen würde und sich Gott nicht mit den Menschen verbinden könnte, wäre diesen die Fähigkeit zu lieben fremd.155 Aus den Regungen könnten Tugenden oder Laster entstehen und es sei von der Ausrichtung auf das angestrebte Gut abhängig, ob sie gute oder schlechte Früchte bringen würden. Um den Menschen nicht das Streben nach dem Himmlischen zu verunmöglichen, hätten sie diese Regungen. Es sei am Menschen, die schlechten Triebe auszurotten und die guten zu pflegen.156 In De hominis opificio diskutierte Gregor im Anschluss an die Kräfte der Seele ihre Lokalisierung. Er verwies in diesem Kontext auf eine strittige Debatte zwischen den Stoikern, welche den νος im Herzen lokalisierten und den Platonikern157, für die er im Gehirn seinen Platz hatte. Gregor gab beiden teilweise Recht, indem er zugab, dass das Herz die Quelle des Feuers sei und dass die Sinnesaktivitäten des Sehens und Riechens sich um die Hirnhäute158 abspielten. Allerdings schränkte er ein, er bezweifle, dass sich die unkörperliche Natur durch räumliche Begrenzungen verorten lasse. Den Gedanken, dass man den Geist wie auch die gesamte Seele nicht in einem Teil des Körpers lokalisieren könne, verstärkte Gregor noch, nachdem er auch die Leber als Ort des Geistes ausgeschlossen hatte. Einige Kapitel später nahm er die für ihn offensichtlich bedeutende Frage ein drittes Mal auf und konstatierte mit Entschiedenheit, der Geist und die Seele seien nicht in einem Teil des Körpers eingeschlossen, vielmehr wirkten die einzelnen Kräfte an unterschiedlichen Orten ohne selbst an einen Ort gebunden zu sein.159 Für die Seele seien Die Menschen unterscheiden die drei Teile gemäß den unterschiedlichen Funktionen in ihrer Wahrnehmung, das bedeutet aber nicht, dass die Seele selbst auch geteilt ist. Ep. Can. 2 (PG 45, 224, A–B): Τρία στ τ περ τν ψυχν %μ ν θεωρούμενα κατ τν πρώτην διαίρεσιν· Im Folgenden spricht Gregor sowohl von den Teilen wie den Bewegungen der Seele. Vgl. auch De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 71,17-19 M.): τν τριμερ τς ψυχς διαίρεσιν ες τ λογιστικ ν κα πιθυμητικ ν κα θυμοειδ"ς. 155 Anim. et res. 8 (PG 46, 65A). 156 Anim. et res. 8 (PG 46, 64B,91–65B,20). 157 Die bekannte platonische Einteilung verortete das Rationale (λογιστικν) im Kopf, das Erregbare (θυμοειδ%ς) im Herzen und das Begehrende (πιθυμ α) in der Leber. Vgl. Pl., Ti (69–71); Alcin., Didasc. 23 allerdings mit der πιθυμ α nicht in der Leber sondern zwischen Nabel und Zwerchfell. Diese Einteilung findet sich auch bei Gal., De plac. Hipp. et Pl. I,2 (65 DE LACY); Plot., Enn. IV,3,23 relativierte, dass der Körper in der Seele sei und die unterschiedlichen Organe unterschiedliche Kräfte der Seele empfangen und aufnehmen würden, ein Teil der Seele ist aber von der Vermischung mit dem Körper ganz enthoben und ruht auf in sich gefestigt in der Weltseele. 158 Gregor stützte sich hierbei vermutlich auf Galen. Zur Lokalisierung des Intellekts im Gehirn vgl. auch Gal., De plac. Hipp. et Pl. I,5 (69 D. L.); Plot., Enn. IV 3,23. 159 Hom. opif. 14 (PG 44, 176A–B). Hier ist wieder eine Abgrenzung von platonischen Ansätzen sichtbar, wo die einzelnen Seelenteile je einen eigenen Ort in Kopf, Herz und Leber hatten. In dieser Frage setzt sich Gregor auch von Galen ab, der die Seele – mit

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die Kategorien von Zeit und Ort nicht passend und zur Unmöglichkeit, die Seele an einem einzelnen Ort zu lokalisieren, gehöre die Unmöglichkeit, sie in Teile aufzuteilen.160

Die Ausführungen in De anima et resurrectione widmen sich gegen Ende noch einem weiteren Thema, dem des Lebens der Seele vor und nach ihrer Existenz im menschlichen Körper. Die Gegenfolie ist wiederum der Platonismus mit seiner Theorie der Seelenwanderung, wonach die Seelen bei der Geburt aus ihrer früheren unkörperlichen Existenzweise in den Körper kommen und ihn nach dem Tod wieder verlassen und ohne ihn weiterexistieren. Die platonischen Ansätze sahen die Seele als präexistent zu dem Körper an und von einer höheren Macht in den ihnen bestimmten Körper berufen. Zwischen den Phasen in einem Körper verbringen die Seelen auch immer wieder Zeiten außerhalb eines Körpers.161 In De anima et resurrectione wird die Frage nach dem Zeitpunkt der Entstehung der Seele in Abgrenzung von der nichtchristlichen – gemeint ist wiederum die platonische162 – Position von der Präexistenz der Seele behandelt. In De hominis opificio dagegen werden kirchliche Positionen als Vertreter der Lehre von der Präexistenz der Seele angeführt, welche diese in Schriften Über die Anfänge / περ τ ν ρχ ν ausführten. Der Verweis auf Origenes ist hier deutlich. Die Gegenposition163 zur Lehre von der Platon und gegen Aristoteles, welcher von Kräften (δυν)μεις) der Seele sprach – aus den drei Formen und Teilen (ε+δη τε κα μερ( ψυχς) des Begehrens, Zürnens und Verstehens/Denkens zusammengesetzt sah und jedem Teil einen anderen Sitz im Körper zuordnet, nämlich Leber, Herz und Kopf, De plac. Hipp. et Pl. VI,2,5.7 (368,20–24.30 D. L.). Gregor folgte mit der Betonung der Einheit der Seele und ihrer Immaterialität, welche eine Lokalisierung unmöglich macht, der neuplatonischen Tradition mit ihrer intensiven Beschäftigung mit der Frage der Lokalisierung der Seele und der Form der Durchdringung des Körpers. Die Kräfte wirken nur jeweils an einer bestimmten Stelle des Körpers, ohne allerdings an diesen Ort gebunden zu sein. 160 Gregor stimmte in dieser Frage mit Plotin überein, der ebenfalls der Meinung war, die Seele sei überall im Körper präsent und lasse sich nicht lokalisieren. Vgl. Plot., Enn. IV,4,19. 161 Die Grundlage war der entsprechende Mythos bei Pl., Grg. (524–525); R. (614– 621) beschreibt das Ergehen der Seelen nach dem Tod und das Gericht. Porph., Pr ς Γαron per το π ς μψυχονταi τ μβρυα diskutierte die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Seele im Körper einwohne, ausführlich. 162 Etwa bei Iamb., Anim. VI,C,32; Ph., Gigant. 3; Plot., Enn. III,4,2; IV,7,14. 163 Vgl. DANIÉLOU, Création, 217. Daniélou verweist in Anm.1 auf Methodius als Gegenposition, dies ist aber eher unwahrscheinlich. Methodius war zwar ein Gegner des Origenes, in Symp. I,5 bringt Methodius jedoch ein Gleichnis, das eher darauf hindeutet, dass er ebenfalls eine Präexistenz der Seele vor dem Körper lehrte. Er spricht von den Seelen, welche vom Himmel in die Körper hinabstiegen. Es könnte sich allerdings auch um die Ablehnung einer stoischen oder epikureischen materialistischen Sichtweise handeln. Die Frage wurde auch unter den Philosophen verhandelt und die Neuplatoniker stimmten mit der Position überein, die davon ausging, dass die Seele erst bei der Geburt im Körper einwohnen würde. Vgl. Iamb., Anim. VI,C,31, der diese Meinung Porphyrius

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Erschaffung der Seele vor dem Körper bestand gemäß Gregor darin, dass angenommen würde, die Seele sei nach dem Körper entstanden, indem Gott dem Menschen den Atem eingehaucht habe. Damit würde aber impliziert, dass der Körper mehr wert sei als die Seele. Auch bei Iamblich findet sich die nicht näher explizierte Beschreibung derer, welche die Entstehung der Seele nach derjenigen des Körpers ansetzten.164 Während diese zweite These nur kurz als haltlos abgetan wird, widmete Gregor sich ausführlich der Seelenwanderungs-Theorie und ihrer Widerlegung. Diese Lehre war für Gregor offenbar die wichtigere Gegenposition, was sich etwa darin zeigt, dass neben Origenes auch Basilius sich dahingehend geäußert hatte, dass die Seele erst nachträglich einen Körper erhalten habe.165 Für Gregor stand wiederum die Frage nach der Einheit von Körper und Geist auf dem Spiel und danach, ob der Körper eine Strafe für die Seele sei oder auch einen eigenen Existenzgrund hat. Gemäß Gregor lehrten diese Leute, dass die Seelen präexistierten und ein eigenes Volk in einer eigenen Stadt bildeten. Die Seelen hätten Modelle von Tugend und Laster. Solange die Seele das Gute wähle, bleibe ihr die körperliche Existenz erspart, wenn sie sich aber vom Guten ab und dem Bösen zuwende, dann gleite sie in das Leben hier unten ab und finde sich in einem Körper wieder.166 Wenn sie sich weiter dem Bösen zuwendeten, wäre die nächste Stufe ein Leben als Tier und dann sogar als Pflanze von wo ein erneuter Anstieg beginne. Gregor kritisierte insbesondere die mit der Lehre von der Metempsychose verbundenen Implikationen im Hinblick auf Gottes Schöpfung und die Möglichkeit der Ethik. Besonders problematisch erschien ihm, dass erst der Fall der Seele zu ihrer Einkörperung führe. Wenn aber weder Mensch, noch Pflanze noch Vieh entsteht, ohne dass eine Seele von oben in diese hineinfällt und der Fall aufgrund einer Sünde geschieht, meinen sie, dass die Sünde den Entstehungsgrund für das Existierende darstelle … und weiter, wie stellen sie sich dabei vor, dass Gott über den existierenden Dinge steht, wenn sie diesen zufälligen und unlogischen Fall der Seelen als Ursprung des menschlichen Lebens halten?167

zuschrieb, während er selbst die Gregor sehr ähnliche Position vertrat, dass sich die Seele stufenweise in ihren Kräften im Menschen zeigt, und dabei beanspruchte, etwas völlig Neues zu bieten. Finamore und Dillon verweisen aber in ihrem Kommentar auf SVF II 83. Vgl. FINAMORE / DILLON , Commentary to Iamblichus’ Anim., 163. 164 Vgl. Iamb., Anim. VII,B,36. 165 Bas., Attende tibi ipsi 7. Basilius ging es im engeren Zusammenhang um die Unkörperlichkeit von Gott und Seele. 166 Vgl. Pl., Ti. (41e–42e). Diese Ansicht vertrat auch Origenes, princ. IV. 167 Anim. et res. 14 (PG 46, 116C–117B): Ε γρ ο;τε νθρωποι, ο;τε φυτ, ο;τε βοσκήματα, μ ψυχς νωθεν π τατα μπεσούσης φύονται· % δ" πτ σις δι κακίας γίνεται, ρα κατάρχειν ο+ονται τν κακίαν τς τ ν ντων συστάσεως. … Ε τα κα π ς

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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Gemäß Gregor wird durch die Präexistenztheorie die Schöpfermacht Gottes in Frage gestellt, da der Grund für die Entstehung eines Menschen nicht bei Gott sondern im Fall einer Seele liege und damit in einer Sünde.168 Das andere Problem stellt sich gemäß Gregor im Hinblick auf die Ethik. Wenn der Mensch aber aus einer Sünde entstehe, wie könne er jemals ein tugendhaftes Leben führen und sich von der Sünde befreien?169 Denn im körperlichen Leben seien die Versuchungen noch viel größer. Auch der Kreislauf der Seelen, die bei schlechtem Wandel zu immer tieferen Existenzweisen bestraft würden sei unlogisch, da nicht erklärbar sei, wie auf der Ebene der irrationalen, moralisch nicht verantwortlichen Wesen jemals der Grund für den Wiederaufstieg gefunden werden könne. Anzunehmen, dass in der Existenzweise als Baum der Wiederaufstieg der Seele beginne, sei unsinnig.170 Ein weiteres Problem sah Gregor darin, dass es gemäß dieser Konzeption nicht möglich sei, bleibende Glückseligkeit zu erlangen, wie Gregor wiederum deutlich gegen Origenes formulierte, da die geistige Existenzform keine Garantie gegen einen erneuten Fall biete. Gregor selbst vertrat die Ansicht, dass Gott in einem ersten Schritt die Menschheit in ihrer Gesamtheit konzipiert habe, dass aber erst danach die individuellen Menschen entstanden seien und zwar aus Leib und Seele gleichzeitig. Sonst, so die Erklärung Gregors, gäbe es ja von Anfang an einen Konflikt zwischen Körper und Geist und der Mensch sei gar keine Einheit. Seine Ansicht unterstützte er mit einem Beispiel von einem Samenkorn, in dem schon in seinem winzigen Zustand alles vorhanden sei, was daraus entstehen würde. In gleicher Weise sei auch im Menschen schon von Beginn an seine ganze Natur angelegt. Die Seele sei zwar in ihrer Kraft in einem Embryo noch nicht sichtbar, sie sei aber schon vorhanden und entwickle sich von selbst.171 Die rationale Fähigkeit, welche den Menschen auszeichne, sei allerdings nicht von Anfang an erkennbar. Wie der Körper, so entwickle sich auch die Seele langsam zu immer größerer Perfektion. Während der Entwicklungsphase des Menschen sei die Seele das die Entwicklung steuernde, formgebende Prinzip, das sich selbst den Körper oder die Bleibe schaffe, welche sie für ihre Aktivitäten

δι τούτων πιστατεν τ Θεον τ ν ντων πονοήσουσι, τ- τυχαί1 ταύτ8 κα λόγ! τ ν ψυχ ν καταπτώσει τς ρχς τς νθρωπίνης νατιθέντες ζως; 168 Diese Argumentation setzt voraus, dass ein Mensch erst in der Vereinigung von Körper und Geist entsteht, wohingegen die Vertreter der Präexistenztheorie die rein seelische Existenz als die wahre menschliche Existenz bezeichneten. 169 Anim. et res. 14 (PG 46, 120B, 87f.). 170 Anim. et res. 14 (PG 46, 113C,9). 171 Anim. et res. 15 (PG 46, 125D–128B).

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

brauche.172 Ganz ähnlich beschrieb Gregor diesen Prozess auch in De hominis opificio in einem Bild. Wie der Mensch, der im Wachsen vollendet wird, die Kraft der Seele erscheinen lässt, so zeigt sich ebenfalls schon im Beginn der Entwicklung das Mitwirken der Seele, indem sie sich entsprechend ihrem jeweiligen Bedürfnis aus der sie umgebenden Hülle eine passende Behausung aufbaut.173

Wie sich gezeigt hat, muss die verbreitete Meinung, Gregor vertrete im Großen und Ganzen eine platonische Seelenlehre in wichtigen Punkten relativiert werden. Es scheint vielmehr plausibel, dass die platonische Seelenlehre die als bei den gebildeten Adressaten bekannt vorausgesetzte Konzeption war, von der Gregor sich mit seiner christlichen Seelenlehre kritisch distanzieren wollte. Der bedeutendste Unterschied zur platonischen Anthropologie und Seelenlehre liegt in Gregors positiver Bewertung des Körpers und seiner Bedeutung für die Funktion der Seele.174 Für Gregor war die Seele nicht vorübergehend an einen Körper gebunden wie in den platonischen Ansätzen, sondern in der Verbindung von Körper und Geist zeigt sich die besondere Aufgabe des Menschen als Mittler zwischen dem materiell-irrationalen und dem immateriell-geistigen Bereich.175 Die Seele kann kein eigenes Leben ohne den Körper führen und umgekehrt,

172

Hom opif. 29 (PG 44, 237B). Die Definition der Seele als das formgebende Prinzip stammt von Arist., Anim. (414a). Eine Gregor sehr ähnliche Vorstellung, dass die Seele nach und nach ihre unterschiedlichen Fähigkeiten entwickeln und zeigen würde, findet sich auch bei Iamb., Anim. VI,C,31. Allerdings ging dieser mit anderen Platonikern davon aus, dass die schon vor dem Körper existierende Seele, durch den Eingang in den Körper geschwächt, sich langsam weiterentwickeln würde. 173 Hom. opif. 29 (PG 44, 237B): `σπερ γρ τελειωθε ς  νθρωπος ν τος μείζοσιν, χει διαφαινομένην τς ψυχς τν νέργειαν· οτως ν ρχ- τς συστάσεως τν κατάλληλόν τε κα σύμμετρον τ- παρούσ8 χρεί1 συνέργειαν τς ψυχς φ’ αυτο διαδείκνυσιν, ν τ κατασκευάζειν ατν αυτ- δι τς ντεθείσης λης τ προσφυ"ς οκητήριον. 174 Vgl. auch P OCHOSHAJEW, Seele, 151. 175 Obwohl Plotin die enge Verbindung von Körper und Seele im Menschen betont hatte, war bei ihm die Identität des Menschen in Gefahr, ging er doch von der Seelenwanderung aus und sah den rein intellektuellen Teil als mit dem Körper unverbunden an. Vgl. Enn. IV,8,6. Da der Körper sterblich ist, ist auch der Mensch sterblich, nur die Seele ist unsterblich, die aber wieder in andere Existenzformen eingeht. Enn. IV,7. Auch wenn Plotin manchmal sagen kann, dass der Mensch eigentlich seine Körper und Seele ist, so ist bei ihm doch die Seele das Grundlegende. Die Form eines Menschen mit einem menschlichen Körper und menschlichen Seelenaktivitäten ist einer von vielen möglichen Zuständen der Seele. Vgl. auch Plot., Enn. IV,3,12. Auch der Mittelplatoniker Alcinous ging in seinem Handbuch davon aus, dass die Seele in den Körper kommt und diesen wieder verlässt und eigenständig weiterexistiert. Vgl. Alcin., Didasc. 23; 25; Dasselbe gilt für Iamb., Anim., VI,A,26; VI,C,32; VII,C,37; VIII,B,47.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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Körper und Seele gehören zusammen und kommen in der Auferstehung endgültig wieder zusammen. 3.4.

Christen als Teil der biblischen Heilsgeschichte

Ab Kapitel 16 in De hominis opficio erörtert Gregor den Menschen und seine Situation unter der theologischen Perspektive von Schöpfung, Fall und Rückkehr zu Gott. Im Vordergrund steht die Einordnung des Menschen in die biblische Ur- Falls- und Heilsgeschichte. Aus der Perspektive der Fragestellung nach dem Zusammenhang von Ethik und Identität ist auffällig, welche Bedeutung Gregor der Frage nach der umfassenden Geschichte beimaß, in welcher der glaubende und handelnde Mensch sich befindet. Erst dadurch, dass der Mensch sich und sein Handeln in einem größeren Kontext sieht, versteht er die Schwierigkeiten, die sich ihm stellen.176 Die Bedeutung einer eigenen Geschichte und ihre Einbindung in die umfassendere Geschichte einer Gruppe oder Nation werden in Untersuchungen zur Konstruktion von Identität regelmäßig hervorgehoben.177 Nur wo jemand seinem Handeln Sinn durch die Einbindung in einen weiteren Kontext beimessen kann, bietet dieses die Möglichkeit, einen Beitrag zur Konstruktion und Vergewisserung der Identität beizutragen. Everett Ferguson hat die Bedeutung des historischen Deutungsrahmens im Bezug auf die Katechese und damit die Einführung der Christen in das Christentum hervorgehoben: „I rather think, this biblical storyline was more central in early Christian teaching and preaching than is often realized.“178 Die Geschichte der Christen beginnt gemäß Gregor mit der Erschaffung der Menschheit durch Gott nach seinem Ebenbild. Der Mensch ist von Gott zur Teilhabe an seinen Gütern berufen. Der gottebenbildliche und paradiesische Urzustand währte allerdings nicht an, durch den Fall finden sich die Menschen in einem geminderten Zustand vor.179 Die Bedeutung der 176

Vgl. Zu Gregors Bestreben, alles in größere Zusammenhänge zu stellen auch DAL’être et le temps, 30–37. 177 Vgl. LIEU, Christian Identity, 62–98; MEEKS, Origins 189: „To speak of virtue entails that we tell stories.“ Meeks verweist dabei auf die Arbeiten von Alasdair MacIntyre and Stanley Hauerwas; MARKUS, Christians in the Roman World, 60f. verweist auf die Vergewisserung christlicher Identität durch Geschichte gegenüber den Mythen der Gnostiker durch Irenaeus. Auch E. FERGUSON, Catechesis and Initiation, 238 in: The Origins of Christendom in the West, hrsg. v. A. Kreider, Edinburgh – New York 2001, 229–268, macht auf die Bedeutung der historischen Verortung des christlichen Handelns bei Irenaeus aufmerksam: „The distinctive feature of the Demonstration of the Apostolic Preaching is that faith and morals are integrated into a historical framework.“ (kursiv: E. F.) 178 FERGUSON, Catechesis and Initiation, 238. 179 Der Gedanke, dass der Zustand der Menschheit verderbt ist, wurde durch Augustin zu einem Kennzeichen der christlichen Anthropologie, er war aber auch in der nichtNIÉLOU,

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

menschlichen Existenz als Konsequenz eines Falls findet sich auch im Platonismus, wo die menschliche Existenzweise der Seele in einem Körper als eine Folge des Abfalls der Seele von ihrer ursprünglichen, rein geistigen Existenzweise gedeutet wurde.180 Der Fall wird bei Gregor in De hominis opificio als falsche Verwendung der menschlichen Befähigung zur Freiheit thematisiert. Mit seinem freien Willen wandte sich der Mensch dem Vergänglichen und nur scheinbar Guten zu und wählte eine Lebensweise, welche geprägt ist durch das Streben nach vergänglichen materiellen Gütern.181 Der Sündenfall bestand für Gregor nicht in der Sexualität des Menschen oder in der sexuellen Begierde, wie es bei christlichen Autoren oft der Fall war, sondern darin, dass die Menschen sich vom Willen Gottes abwandten und den eigenen Willen verfolgten, indem sie ein verbotenes oder nichtiges Gut wählten.182 Der Fall wird auf der rational-geistigen Ebene angesiedelt und nicht auf der Ebene der körperlichen Leidenschaften und damit in den höchsten Fähigkeiten des Menschen, die auch seine Gottebenbildlichkeit ausmachen, und nicht in denen, welche er mit den Tieren teilt.183

christlichen Umwelt vorhanden. Senecas Analyse der Menschheit gipfelte in der Einsicht, dass alle Menschen verderbt seien. Vgl. Sen., De ira III,26,3–4 (116,14–18 REYNOLDS): uide nunc quanto in iis iustior uenia sit quae per totum genus humanum uulgata sunt. Omnes inconsulti et inprouidi sumus, omnes incerti queruli ambitiosi — quid lenioribus uerbis ulcus publicum abscondo? — omnes mali sumus. Vgl. auch Sen., Benef. I,10,3f. (14,20–22 HOSIUS): idem semper de nobis pronuntiare debebimus, malos esse nos, malos fuisse, - invitus adiciam, et futuros esse. 180 Vgl. Numenius, Fr. 11 ( DES P LACES); Alcin., Didasc 16; Porph., Abst. I,30,7; Plot. Enn. IV,3,12 einige Seelen bleiben ganz dem Irdischen verhaftet; Iamb., Anim. VI,B,29. Bei Iamblich findet sich eine dreifache Begründung für die Einwohnung der Seele in einem Körper: a) der Abstieg der reinen Seele zwecks Reinigung und Rettung der materiellen Welt; b) der Abstieg der Seele, um ihre Leidenschaften zu heilen; c) der Abstieg der Seele in den Körper als Strafe der Seele. Interessant daran ist, wie diese Motive bei Gregor aufgenommen werden. Während er c ablehnt, nennt er a als eine Begründung für die Schöpfung des Menschen als Mittlerwesen und b ist in ähnlicher Weise bei der Vertreibung des Menschen aus dem Paradies und der Einkleidung in die animalische Natur gegeben, insofern Gott den Plan hatte, die Menschen durch die geschmälerte Existenzform von ihrer falsch eingesetzten Willensfreiheit zu kurieren. 181 Zur Bedeutung des freien Willens für die Übel, welche dem Menschen widerfahren vgl. Bas., Quod deus non est auctor malorum; Alcin., Didasc. 26. 182 Vgl. Or. dom. 5 (GNO VII,2, 63,8–10 C.); Virg. 12 (GNO VIII,1, 299,6–12 C.); Eccl. 7 (GNO V, 407,14f. A.); Beat. 5 (GNO VII, 129,2–8 C.). Eine Ausnahme findet sich in Beat. 6 (GNO VII,2, 145,1–6 C.), wo Gregor davon spricht, dass das ganze Leben den Leidenschaften unterworfen sei, die auf die anfängliche Leidenschaft der Stammeltern zurückgehe und durch sie übertragen werde, so dass jeder Mensch schon in Leidenschaft und Sünde geboren werde. 183 So auch Bas., Quod Deus non est auctor malorum 3; 6.

3. Der Mensch als Einheit aus Körper und Geist

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Durch die Wahl des Bösen fiel der Mensch aus seiner ursprünglichen Gottebenbildlichkeit heraus und kam unter die Macht des Todes. Er musste das Paradies verlassen. Gott bekleidete den Menschen dazu mit den sogenannten δερματ*νοι χιτ νες Hautkleidern, die seine neu entdeckte Blöße bedeckten. Die Fellkleider, manchmal auch die Totenhäute, gaben dem Menschen Anteil an der animalischen Existenz mit allen damit verbundenen Begierden und Leidenschaften, vor allem aber am Kreislauf von Geburt und Tod. In De anima et resurrectione beschreibt Gregor Fortpflanzung, Wachstum und Vergänglichkeit als dasjenige, was mit den Fellhäuten dazu kam, also der am menschlichen Körper stattfindende Wandel des Wachsens und Alterns. In De mortuis liegt die Betonung stärker auf den Leidenschaften und in der Oratio catechetica auf der Sterblichkeit. Das, was mit der Haut des irrationalen Tieres aufgenommen wurde ist die Vermischung, die Empfängnis, die Geburt, der Schmutz, die Mutterbrust, die Nahrungsaufnahme und Entleerung, das Wachsen vom Kleinen bis zum Ausgewachsenen, die Vollkraft, dann Alter, Krankheit und Tod. 184

Der Begriff der δερματ*νοι χιτ νες findet sich auch bei Philon, Porphyrius, Origenes, Methodius von Olymp, Basilius und Gregor von Nazianz wenn auch nicht immer in genau der gleichen Bedeutung.185 Die Interpretation der Fellkleider war in der Antike umstritten. Während Origenes mit seiner Anim. et res. 18 (PG 46, 148C–149A): Vστι δ" M προσέλαβεν π το λόγου δέρματος, % μίξις, % σύλληψις,  τόκος,  Fύπος, % θηλ, % τροφ, % κποίησις, % κατ’ λίγον π τ τέλειον α;ξησις, % κμ, τ γρας, % νόσος,  θάνατος. Vgl. Or. catech. 8 (GNO III,4, 30,16–20 M.) gemäß dieser Stelle kommt die Unterwerfung unter den Tod hinzu und zwar aus weiser Voraussicht, um das Böse aus dem Menschen im Tod heraus zu lösen; Mort. 15 (GNO IX, 55,18–23 H.). An dieser Stelle meint Gregor, die Fellkleider würden die Wahl zur Tugend oder zum Laster eröffnen, was sich allerdings nur darauf bezieht, dass die mit den Fellhäuten gegebenen Verstrickungen in die vergängliche Welt zu vielen Leidenschaften führt, welche der Mensch beherrschen sollte, denn er hatte sich ja schon früher seiner Freiheit zum Bösen bedient. Vgl. auch weitere Nennungen (unvollständige Liste) ohne Beschreibungen in Inscript. Psal. I,7,52 (GNO V, 44,4 D.); Cant. 2 (GNO VI, 60,18 L.); Cant. 11 (GNO VI, 329,18; 330,10; 332,20 L.); Cant. 15 (GNO VI, 452,18 L.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 39,25 M.): % νεκρά τε κα γηΐνη τ ν δερμάτων; (GNO VII,2, 103,9): νεκρρ ν δερμάτων); Virg. 12 (GNO VIII,1, 302,9f. C.): νεκρρ ν δερμάτων; Virg. 12 (GNO VIII,1, 302,24f. C.): δ.ρμασι ν.κρος; Virg. 13 (GNO VIII,1, 303,15 C.): δερματίνους χιτ νας; In Melet. (GNO IX,1, 454,13 SPIRA); Or. catech. 8 (GNO III,4, 30,3-20 M.). 185 Vgl. Ph., Leg. alleg. II,56; Quaest. in Gen. I,53; Porph., Abst. I,31,3; II,46,1; Plot., Enn. I,6,7; Or., sel. in Gen. (PG 12, 101A); cels. IV;40,22; Meth., res. I,2; I,4; Bas., Regulae fusius tractatae (PG 31, 977); Gr. Naz. Or. 45 In sanctum pascha (PG 36, 633A). Interessant ist, dass das Bild aus dem biblischen Kontext seinen Weg über Philon seinen Weg in die hellenistische Philosophie fand. Zur Verwendung des Begriffs in der Antike vgl. auch P. F. BEATRICE, Le tuniche di pelle. Antiche letture di Gen 3,21; in: La tradizione dell’ Enkrateia: motivazioni ontologiche e protologiche. Atti del Colloquio Internazionale, Milano, 20–23 aprile 1982, hrsg. v. U. Bianchi, Roma 1985, 433–484. 184

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Deutung der Fellkleider als der menschlichen Körper, welche die präexistenten Seelen umfangen, zu den Allegorikern zu zählen ist, gab es auch Vertreter wie etwa Methodius von Olymp in De resurrectione, welcher den buchstäblichen Sinn betonten und darin Kleider sahen, die Gott den Menschen gab, um ihre neu erkannte Blösse zu bedecken. Während die δερματ*νοι χιτ νες bei Philon die menschliche Haut und die damit verbundene Sterblichkeit186 symbolisieren, also den Menschen in seiner Körperlichkeit und Vergänglichkeit, sind sie in der Genesis-Auslegung187 des Origenes gleichbedeutend mit dem Körper. Für Gregor gehörte die körperliche Dimension von Anfang an zum Menschen und kam nicht erst durch den Fall hinzu. Der Fall brachte jedoch für ihn die Verstrickung in Leidenschaften und Vergänglichkeit mit sich, da die Menschen sich vergänglichen Gütern zuwandten und ihr Streben nach Dingen richteten, um die ein Verteilkampf auszutragen galt, da sie nicht unendlich waren wie die Liebe und Weisheit Gottes. Gregor folgte einer platonischen Auslegungstradition, wie sie sich etwa bei Porphyrius findet, der die Fellkleider als die Verwicklung in Leidenschaft und Sinnlichkeit interpretiert hatte. Allerdings teilte Gregor nicht dessen Abwertung der Körperlichkeit, welche es gemäß Porphyrius abzulegen gelte, um die Seele vom Beschwerenden des Körpers zu befreien. Vielmehr vertrat Gregor ein Ideal der Einheit von Körper und Geist, wo beide harmonisch zusammenwirken und deutete die erlebte Spannung als Folge der Sünde. Während in der Natur das Zusammenspiel und die Ordnung nach dem göttlichen Schöpferwillen funktioniert, ist diese Harmonie und Ordnung im Menschen durch den Fall gestört und muss durch die Tugend und die göttliche Gnade wiederhergestellt werden. Der Fall symbolisiert die Zerstörung der Harmonie in der Beziehung zwischen Mensch und Gott, die sich im Menschen in der Spannung zwischen Körper und Geist widerspiegelt. Nach dem Verlassen des paradiesischen Zustandes lebte der Mensch in seiner neuen, elenden Verfassung, in der Täuschung über das wahre Gut und damit allerlei Leidenschaften verfallen. Seine Lebensweise hatte nun nicht mehr Ähnlichkeit mit derjenigen der Engel, sondern vielmehr mit der Lebensweise der Tiere, nach deren Weise er sich nun, unter die Macht des 186 Die Interpretation der Fellkleider als der Sterblichkeit des Menschen nach dem Fall ist ebenfalls verbreitet, sie wird etwa auch von Augustin vertreten, De Gen. Man. II,21,32 „Ergo mors in tunicis pelliceis figurata est.“ (CSEL 91, 154,27f.). 187 Origenes setzte an anderen Stellen die Fellkleider auch mit der Sterblichkeit des Menschen gleich. Vgl. Sel. in Gen. (PG 12, 101,16A–B): Ταύτας ο6ν τς πορίας περιιστάμενοί τινες, δερματίνους χιτ νας τν νέκρωσιν, Sν μφιέννυνται  3δμ κα % Ε;α, δι τν Kμαρτίαν θανατωθέντες, πεφήναντο τυγχάνειν. vgl. G. SFAMENI GASPARRO, Enkrateia e Antropologia. Le motivazioni protologiche della continenza e della verginità nel cristianesimo dei primi secoli e nello gnosticismo (SEAug 20), Roma 1984, 373.

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Todes gekommen, fortpflanzte. Die Gottebenbildlichkeit wurde zugleich durch Leidenschaften zugedeckt.188 Ziel des Menschen ist es darum, all diesen Filz und Schlamm, die nicht seiner eigentlichen Natur entsprechen, abzuwaschen und die Gottebenbildlichkeit wieder sichtbar zu machen. Der Weg zurück war für Gregor durch die Verwirklichung der Tugend gekennzeichnet, wobei dem Menschen die göttliche Hilfe gewiss ist, denn Gott hatte gemäß Gregor den Fall kommen sehen und sich einen Plan gemacht, wie die Menschen wieder zu ihrer Vollkommenheit und der alleinigen Ausrichtung an seinem Willen kommen sollten. Der Heilsplan Gottes sieht vor, dass die durch Leidenschaften, Tod und Vergänglichkeit geprägte Lebensweise des Menschen nach dem Fall in diesem von selbst den Wunsch nach der Rückkehr zu dem ursprünglichen Zustand wecken sollte. Damit nun sowohl die Freiheit der Natur erhalten bliebe als auch das Böse fernbleibe, fand die Weisheit Gottes die Einsicht, den Menschen darin zu belassen, was er zu bekommen gewählt hatte, so dass er, nachdem er die Laster gekostet hätte, nach denen er begehrte, und durch den Versuch gelernt hätte, wofür er diese eingetauscht hatte, in freiwilligem Begehren wieder der früheren Glückseligkeit zustreben würde und sich von der Leidenschaftlichkeit und der Irrationalität ganz wie von einem Gewicht befreien würde und entweder durch Gebet und Philosophie für das kommende Leben gereinigt würde oder aber nach dem Verlassen dieses Lebens durch das reinigende Feuer des Schmelzofens.189

Eine ähnliche Bedeutung hatte auch Plotin dem Fall der Seele in den Körper gegeben. Gemäß Plotin lernt die Seele, welche zwischen dem rein Geistigen und dem Materiellen schwebt, durch die Erfahrung des Schlechten das geistige Gut zu schätzen und löst sich von dem Materiellen.190 Gregor zufolge sollte den Menschen wieder gezeigt werden, was das höchste Gut ist und die in Leidenschaft verstrickten Menschen sollten

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Die Gottebenbildlichkeit ging aber nicht verloren. Wiederholt verweist Gregor darauf, dass der Schmutz oder Filz der Leidenschaften die Gottebenbildlichkeit bedeckt und der Mensch sich und seine Seele daher reinigen muss, dass sie wieder hervorkommt. Er kann sie sich aber nicht als etwas Verlorenes selbst wieder erwerben, sondern nur sichtbar machen, was ihm schon mit der Schöpfung als bleibendes Kennzeichen verliehen wurde. Vgl. Virg. 12 (GNO VIII,1, 300,8–12 C.). Dies gegen BEHR, Rational Animal, 225, der davon ausgeht, dass die Gottebenbildlichkeit und die Ähnlichkeit mit dem Fall verloren sind. 189 Mort. 15 (GNO IX, 54,11–20 H.): $ς ν ο6ν κα % ξουσία μένοι τ- φύσει κα τ κακ ν πογένοιτο, ταύτην ε:ρεν % σοφία το θεο τν πίνοιαν τ σαι τ ν νθρωπον ν οHς βουλήθη γενέσθαι, Eνα γευσάμενος τ ν κακ ν Zν πεθύμησεν κα τ- πείρ1 μαθJν οHα νθ’ οEων Uλλάξατο, παλινδρομήσ8 δι τς πιθυμίας κουσίως πρ ς τν πρώτην μακαριότητα παν τ μπαθές τε κα λογον ,σπερ τι χθος ποσκευάσας τς φύσεως Xτοι κατ τν παροσαν ζων δι προσοχς τε κα φιλοσοφίας κκαθαρθε ς 2 μετ τν νθένδε μετάστασιν δι τς το καθαρσίου πυρ ς χωνείας. 190 Vgl. Enn. IV,8,7. Vgl. auch G AÏTH, La conception de la liberté, 107.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

ihren Willen auf das wahre Gute ausrichten und ihre Ebenbildlichkeit mit Gottes Hilfe wieder zum Vorschein bringen. Die Reinigung zur Angleichung an das Göttliche ist nicht unser Werk und geschieht nicht aus menschlicher Kraft, sondern dies kommt von der großen Freigiebigkeit Gottes: dass er gerade zusammen mit der ersten Schöpfung der Natur die Ebenbildlichkeit zu ihm schenkte.191

Am Vorsatz Gottes, alle Menschen und überhaupt alle rationalen Wesen wieder zu dieser ursprünglichen Vollkommenheit zu führen, zweifelte Gregor nicht.192 Er ging davon aus, dass Gott die Gesamtheit der Menschheit dazu bestimmt hatte, ihre Gottebenbildlichkeit in Freiheit zu verwirklichen. Alle Menschen sollten den Zustand erreichen, für den sie bestimmt sind, da der Heilsplan Gottes sich auf die ganze Menschheit erstrecke und nicht bloß auf einzelne Individuen. Damit geht einher, dass letztendlich der Mensch sich der göttlichen Bestimmung nicht widersetzen kann oder will. Das irdische Leben mit seinen Schönheiten und seinen Nöten wird von Gregor als wichtigen Punkt im Erziehungsplan Gottes gesehen, mit dem Ziel, den menschlichen Willen so zu formen, dass dieser das will, was seine Bestimmung ist. Das irdische Leben bildet aber nur einen Teil dieses Weges zurück zu Gott, danach wird der Mensch, dessen irdisch-materieller Körper in einer leichteren Verfassung sein wird, weiter gereinigt, bis er die ursprüngliche Reinheit wiedererlangt hat. Wo dieser Prozess nicht im irdischen Leben vollzogen wird, erhält der Mensch einige Nachhilfe durch das reinigende Gericht193 und die Erleichterung der Aufgabe durch die Lösung von den menschlichen Trieben. Das Ziel und Ende dieses Weges ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, was nichts anderes ist als die Angleichung an das Göttliche … Derjenige, welcher auf diesem Weg fortschreitet, geht der Vollendung entgegen, da das erwartete Ziel dieses Lebens die Glückseligkeit ist. Das was den Körper betrifft, der Tod, das Alter, die Jugend, das Säuglingsalter und die Erschaffung im Mutterleib, ist alles vergleichbar mit

191 Virg. 12 (GNO VIII,1, 300,8–12 C.): ο γρ %μέτερον ργον οδ" δυνάμεως νθρωπίνης στ κατόρθωμα % πρ ς τ θεον μοίωσις, λλ τοτο μ"ν τς το θεο μεγαλοδωρες στιν, εθς μα τ- πρώτ8 γενέσει χαρισαμένου τ- φύσει τν πρ ς ατ ν μοιότητα. Manchmal äußerte sich Gregor allerdings auch weniger optimistisch, so in der Auslegung des Herrengebets, wo er in der vierten Rede konstatierte, dass der Mensch von selbst und ohne Anstrengung den Weg des Schlechten verfolge, für die Rückkehr zum Guten aber auf die Hilfe Gottes angewiesen sei. Vgl. Or. dom. 4 (GNO VII,2, 48,3–7 C.). 192 Anim. et res. 9 (PG 46, 69C–72C, besonders 72B); Cant. 15 (GNO VI, 467,17– 469,9 L.). 193 Anim. et res. 13 (PG 46, 96C–105A); Or. catech. 8 (GNO III,4, 29,1–36,16 M.).

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Aussaat, Ernte und Abmessgerät als Weg, Abfolge und Kraft der erhofften Vollendung.194

In den Reinigungsprozess der Seele ist auch der Tod funktionalistisch integriert. Der Tod ist auf die Reinigung von Seele und Körper ausgerichtet.195 Gregor erklärte, dass der Körper sich auflöse, damit die Seele gereinigt werde und alles Schlechte und Böse durch die Trennung von Leib und Seele aufgelöst werde,196 so dass in der Auferstehung eine neue und reine Verbindung der Seele mit den Elementen des Körpers entstehe, ohne Leidenschaften und ohne die Probleme eines der Veränderung unterlegenen Körpers.197 Die Lösung der Seele vom materiellen Körper im Tod sei aber gar nicht so einfach. Denn bei vielen Menschen sei die Seele so auf den Körper und das Leben im Körper fixiert, dass sie sich davon nur unter Qualen lösen könnten.198 Für den Menschen gehe es daher darum, dass sich die Seele schon in diesem Leben möglichst auf ihre geistige Dimension konzentriere und nicht auf den Körper. Je nachdem, wie weit sich 194 Mort. 14 (GNO IX, 51,16–18.23–52,1 H.):  δ" σκοπ ς κα τ πέρας τς δι τούτων πορείας % πρ ς τ ρχαον ποκατάστασις, περ οδ"ν >τερον 2 % πρ ς τ θεόν στιν μοίωσις …  δι τούτων προιJν ες τελείωσιν, οτω κα τς ζως τ μ"ν προσδοκώμενον πέρας μακαριότης στίν, τ δ" σα περ τ σ μα νν καθορται, θάνατος κα γρας κα νεότης κα νηπιότης κα % ν μβρύ! διάπλασις, πάντα τατα οHόν τινες χόρτοι κα θέρες κα κάλαμοι δ ς κα κολουθία κα δύναμις τς λπιζομένης στ τελειώσεως. 195 Vgl. zu Gregors Konzeption des Todes auch R. KEES, Unsterblichkeit und Tod. Zur Spannung zweier anthropologischer Grundaussagen in Gregors von Nyssa Oratio Catechetica, in: Drobner / Klock, (Hg.), Studien zu Gregor von Nyssa und der christlichen Spätantike (SVigChr 12), Leiden 1990, 211–231. Kees diskutiert das Problem, dass Gregor den Menschen einerseits als zur Unsterblichkeit bestimmt und andererseits natürlicherweise dem Tod unterworfen beschreibt. Diese Spannung versucht er dadurch zu lösen, dass der eigentlich zur Unsterblichkeit bestimmte Mensch durch die Sünde sterblich wurde und Gott den Tod darum dazu vorgesehen habe, den Menschen von der Sünde zu reinigen. 196 Anim. et res. 13 (PG 46, 100A). Gregor verwendet hier das Bild von Gold, das mit Schlacke vermischt ist und gereinigt werden muss, dazu aber erst geschmolzen werden muss. In der Katechetischen Rede (8,8) beschreibt Gregor die Trennung vom Bösen durch den Tod damit, dass das Böse vorzustellen sei wie Blei, das aus Unachtsamkeit in ein Tongefäss, das den Menschen repräsentiert, geschüttet worden sei und dann fest geworden, so dass es sich nicht mehr ausgießen lässt. Ein verständiger Mensch zerschlägt das Gefäß und macht nach der Vorlage ein neues aus dem alten Stoff aber ohne das Blei. 197 Anim. et res. 17 (PG 46, 149A). Gregor ging davon aus, dass der Zustand der Auferstehung demjenigen vor dem Sündenfall entspreche, in anderen Kontexten redet er auch davon, dass geschlechtliche Unterscheidungen aufgehoben sein würden. Hom. opif. 17 (PG 44, 188C); Mort. 20 (GNO IX, 63,2–8 H.). 198 In diesem Zusammenhang deutete Gregor die Geister auf den Friedhöfen seien, als die Seelen, welche immer noch an ihrer körperlichen Existenz festhielten, und darum beim Körper blieben. Anim. et res. 11 (PG 46, 88B–C). Vgl. auch Pl., Phd. (108a–b).

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jemand schon vom Körperlichen innerlich befreit habe, werde die Trennung vom Körperlichen und den Affekten schwerer oder leichter fallen und länger oder weniger lange dauern. Der Unterschied zwischen einem Leben in Tugend oder in Laster wird sich nach diesem Leben hauptsächlich in der raschen oder weniger schnellen Teilnahme an der erhofften Glückseligkeit zeigen. Die Ausdehnung der Heilung hängt von dem Maß ab, in welchem jeder in den Lastern verhangen ist. Die Heilung wird eine Reinigung der Seele von den Lastern sein. Die Reinigung dieser Verfassung wird nicht schmerzfrei sein, wie schon zuvor untersucht worden ist.199

Das göttliche Gericht ist nicht als Strafe zu verstehen sondern als Heilung. Da Gott das Gute an sich ziehen will, dabei das Gute aber erst aus dem Schlechten herauslösen muss, ist die Heilung und Reinigung mit Schmerzen verbunden.200 Da viele Leidenschaften aus der Verwicklung in das Materielle und die Welt der Sinne entstünden, werde die Reinigung im Tod von denjenigen als qualvoll und als Gericht erlebt, die ganz im Irdischen gefangen seien.201 Es gibt eine heilvolle Auferstehung sowie eine Auferstehung zum Gericht und der Reinigung im Schmelzofen, welche die Rückkehr zu Gott mit Zwang vorantreibt.202 Die Verwandlung des Körpers bei der Auferstehung hebe alles auf, was nach dem Fall die menschliche Existenz ausmache: die Leidenschaft und die Vergänglichkeit. Dabei würden alle Merkmale, die den Menschen körperlich bestimmten, wie das Geschlecht, das Alter oder Krankheit aufgehoben, dagegen würden sich in der Auferstehung die Menschen durch ihre Laster und Tugenden voneinander unterscheiden, wie Gregor in der Schrift De mortuis ausführte.203 Dennoch hielt Gregor an einer körperlichen Auferstehung fest, da für ihn Körper und Geist als untrennbare Einheit konzipiert sind und das Heilshandeln des Christus auf die friedvolle Vereinigung dieser beiden Dimensionen des Menschseins ausgerichtet

199 Anim. et res. 18 (PG 46, 152B): = δ" το κατ’ ρετν 2 κακίαν βίου διαφορ ν τ μετ τατα κατ τοτο δειχθήσεται μάλιστα, ν τ θττον 2 σχολαιότερον μετασχεν τς λπιζομένης μακαριότητος. Τ γρ μέτρ! τς γγενομένης κάστ! κακίας ναλογήσεται πάντως κα % τς ατρείας παράτασις. Wατρεία δ" ν ε+η ψυχς τ τς κακίας καθάρσιον· τοτο δ" νευ λγεινς διαθέσεως κατορθωθναι οχ οHόν τε, καθJς ν τος προλαβοσιν ξήτασται. 200 Anim. et res. 13 (PG 46, 100B–C). Sieht man sich Gregors generelle Definition des Bösen als eine Privation an, ist die Metapher von der Reinigung eigentlich unpassend, da diese davon ausgeht, dass das Böse nicht bloß ein Mangel sei, der zu beheben sei, sondern etwas Existentes, das man abwaschen kann, Schmutz oder Filz ist dafür bei Gregor meist das Bild. Vgl. Virg. 12 (GNO VIII,1, 300,8–12 C.). 201 Anim. et res. 13 (PG 46, 97B–C); Or. catech. 8 (GNO III,4, 33,4–22 M.). 202 Or. catech. 35 (GNO III,4, 86,6–92,8 M.). 203 Mort. 20 (GNO IX, 62,24–66,16 H.).

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ist.204 Das Ziel des weiteren Weges ist die vollständige Reinigung von den Affekten, was durch die nicht mehr existierende Verbindung zur Sinnlichkeit erleichtert werde. Ob mit den Leidenschaften auch die Geschlechtlichkeit des Menschen aufgehoben sein würde, war für Gregor nicht sicher, aufgehoben sei jedoch die Sexualität und das sexuelle Verlangen, welche Teil des irdischen Lebens seien. Nur dieses sei auf die Sexualität angewiesen, da es durch den Tod geprägt sei. Gregor stellte den δερματ*νοι χιτ νες, welche das Leben nach dem Fall prägten, die φωτοειδες χιτ νες gegenüber, der von allen Übeln und Leidenschaften befreite leuchtende Auferstehungskörper, den nur noch die Tugenden kennzeichnen.205 Häufig wird davon ausgegangen, und Gregor formulierte es selbst so, dass sich der Urzustand und der Endzustand decken.206 Dabei stellt sich die Frage, was er genau damit meinte. Umstritten ist, was für Gregor der Urzustand war und wie sich der Auferstehungszustand zu diesem verhält, wie es zudem um die Individualität, Geschlechtlichkeit und Sexualität in der Auferstehung verhalte. Auf die Frage, welches der Urzustand sei, hat Preger vorgeschlagen, es handle sich um den Zustand der konzeptionellen Schöpfung als Ebenbild Gottes.207 Der These von Preger widerspricht, dass Gregor betonte, jeder werde seine individuelle Seele und seinen individuellen Körper behalten, nur sei dieser dann rein geistiger Natur.208 Während sich die meisten Forscher einig sind, dass Gregor den paradiesischen Zustand meinte, ist nicht klar, welche Bedeutung der Körper für Gregor im 204 Vgl. Or. catech. 16 (GNO III,4, 48,9–16 M.) und M EREDITH, Origen’s De principiis and Gregory of Nyssa’s Oratio catechetica, 6: „Together with his account of our initial creation and composition, this stress on the central place occupied by the resurrection serves to highlight his view of essential unity of soul and body in man. “ 205 Vgl. Cant. 2 (GNO VI, 60,19 L.): καλή τε κα φωτοειδς γενομένη; Cant. 11 (GNO VI, 328,20f. L.): πρ ς τ φωτοειδές τε κα ϋλον; Cant. 14 (GNO VI, 404,4 L.): λαμπρά τε κα φωτοειδς; Virg. 11 (GNO VIII,1, 294,25; 295,6.9 C.); Or. dom. 5 steht stattdessen (GNO VII,2, 65,5 C.): ϊδίων τε κα λαμπρ ν νδυμάτων; Hom. opif. 8 (PG 44, 145C) steht φωτοειδ"ς im Bezug auf die geistige Substanz im Menschen. 206 Cant. 6 (GNO VI, 457,21–458,6 L.); Virg. 6 (GNO VIII,1, 300,5–8 C.). Vgl. BIANCHI / CROUZEL (Hg.), Archē e telos, 309–311; M. ALEXANDRE, Protologie et eschatologie chez Grégoire de Nysse, in: Archē e telos, 122–159; P ISI, Genesis e phtorà, 22–28. 207 Vgl. PREGER, Grundlagen der Ethik, 24 aber auch HARNACK, Lehrbuch der Dogmengeschichte 2, 150. 208 Anim. et res. 10 (PG 46, 76C). Gegen PREGER, Grundlagen der Ethik, 24, der als ethisches Ziel den Zustand der Menschheit vor der zweiten Schöpfung in konkrete Individuen sieht: „Dieser Wert (von Gregors Hypothese einer zweifachen Schöpfung) wird aber in unserem Zusammenhange noch besonders dadurch erhöht, dass wir in dem ideellen Gattungsmenschen das sittliche Ideal des Nysseners verkörpert sehen dürfen. Denn dieser prinzipiell erste Zustand des Menschen ist zugleich das letzte Ziel, welchem nachzustreben er sittlich verpflichtet ist.“

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Hinblick auf den Urzustand und die Auferstehung hat. John Behr zufolge war schon der paradiesische Zustand durch eine Form von Sexualität geprägt, die allerdings noch nicht von Leidenschaften begleitet war.209 Diese These hat wenig Anhalt in den Texten Gregors, er schreibt nur, dass der paradiesische Mensch nur im Hinblick auf Gott Umgang mit der Frau hatte.210 Die Gegenthese dazu hatte Zemp aufgestellt, der erklärte, dass der geschlechtliche Mensch nur durch den bevorstehenden Sündenfall entstanden sei und die Geschlechtlichkeit und die Individualität daher schon eine Minderung darstellten.211 Was war dieser? Er war nackt, ohne die ihm auferlegten sterblichen Hüllen und blickte frei in das Angesicht Gottes. Noch beurteilte er das Schöne nicht anhand des Geschmacks, sondern allein dem Herrn widmete er sich und mit der ihm gegebenen Hilfe pflegte er dafür den Umgang, wie die göttliche Schrift sagt, dass er sie nicht eher erkannte, als dass sie aus dem Paradies verbannt wurden und bevor jene aufgrund der Sünde, die sie durch Täuschung begangen hatte, als Strafe zu den Mühen der Geburtswehen verurteilt wurde.212

Die asexuelle Existenzweise wird durch den Vergleich mit der Existenzweise der Engel noch verschärft. Der vor dem Fall und durch die Auferstehung wieder gewonnene Zustand wird von Gregor als den Engeln ähnliche Lebensweise beschrieben.213 Im Anschluss daran stellen sich zwei Fragen, zum einen diejenige nach der Unterscheidung von den Engeln und zum anderen die Frage der Bedeutung des Körpers für den Menschen im Urzustand und im finalen Zustand. Monique Alexandre hat die Frage aufgeworfen, inwiefern sich die Menschen vor dem Fall und nach der Auferstehung noch von den Engeln unterscheiden.214 Welche Bedeutung hat die Körperlichkeit des Menschen für den ursprünglichen und finalen Zustand? Alain le Boulluec nimmt an, dass es verschiedene Zustände des Körpers nach der Auferstehung gibt entsprechend dem Reinigungsprozess, welcher der Mensch durchmacht: der von seiner Schwere befreite Körper wird während des Reinigungsprozesses der Seele immer leichter und reiner bis zum Schluss in der Apokatastasis keine moralischen Unterschiede mehr sein werden aber jedes Individuum durch seine Tugend

209

BEHR, Rational Animal, 245–246. Vgl. Virg. 12 (GNO VIII,1, 302,9–17 C.). 211 Vgl. ZEMP, Grundlagen, 160f. Gemäß Zemp war Gregor nur an der Unterscheidung der jetzigen real-leiblichen Existenzweise von der geistig-pleromatischen interessiert. 212 Virg. 12 (GNO VIII,1, 302,9–17 C.): τί ο6ν κενος /ν; γυμν ς μ"ν τς τ ν νεκρ ν δερμάτων πιβολς, ν παρρησί1 δ" τ το θεο πρόσωπον βλέπων, ο;πω δ" δι γεύσεως κα ράσεως τ καλ ν κρίνων, λλ μόνον το κυρίου κατατρυφ ν κα τδοθείσ8 βοηθ πρ ς τοτο συγχρώμενος, καθJς πισημαίνεται % θεία γραφή, τι ο πρότερον ατν γνω, πρ ν ξορισθναι το παραδείσου κα πρ ν κείνην ντ τς Kμαρτίας, Sν πατηθεσα ξήμαρτε, τ- τ ν Gδίνων τιμωρί1 κατακριθναι. 213 Hom. opif. 17 (PG 44, 188D–189A). 214 Vgl. auch ALEXANDRE, Protologie et eschatologie, 122–159. 210

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seine Individualität behält, die sich im geistigen Körper zeige.215 Dabei werde in gewisser Weise das ursprüngliche Pleroma wieder aktualisiert, allerdings unter Bewahrung der Individualität. Der Endzustand deckt sich insofern nicht mit der ersten Schöpfung, als die einzelnen Individuen des Endzustands in der konzeptionellen Schöpfung der Gesamtheit der Menschheit noch keine Individuen mit ihrem je eigenen Weg der Gottesbeziehung waren. Der Unterschied zum Urzustand liegt weiter darin, dass der Endzustand ein frei gewählter ist, der Mensch wählt und erkennt selbst durch mancherlei Gegenerfahrungen das Glück der ursprünglichen Schöpfungsgnade und erlangt es durch die göttliche Gnade wieder. Gregor ging zudem in den späten Schriften De vita Moysis und in der Auslegung des Hohelieds davon aus, dass der Prozess der Vervollkommnung und Angleichung an das Göttliche nie zu einem Ende kommen würde, es gab für ihn keinen festen Endzustand, auch im Zustand der vollkommenen Apokatastasis werden die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott nie stehenbleiben.216 Gregor formulierte aber keine konsistente und abschließende Theorie über seine Vorstellung zum Endzustand und den Auferstehungskörpern sondern betonte immer wieder, es gehöre in den Bereich dessen, was man nicht wissen könne.217 Die an ihn gestellten Fragen der logischen Systematisierung des Auferstehungsprozesses waren nicht seine Fragen.

Die unterschiedlichen Versuche, die Aussagen Gregors zur Auferstehung zu systematisieren, verkennen die Funktion dieser Aussagen für Gregor. Er legte die Schöpfungsgeschichte als Ätiologie für den Zustand aus, in dem der Mensch sich vorfindet, und demjenigen, zu dem er bestimmt ist. Wichtig war ihm dabei die Spannung dieser beiden Zustände, aus welcher für den Menschen der moralische Anspruch entsteht, sich der ursprünglichen Bestimmung anzunähren. Für den gegenwärtigen Lebensvollzug ist nur die Spannung zwischen den unterschiedlichen Zuständen relevant und die Art und Weise, wie der Mensch sie für sein Handeln fruchtbar machen kann. In der katechetischen Rede und der Predigt In diem luminum betonte Gregor die Bedeutung der vorgezogenen Reinigung durch die Taufe und den in ihr vollzogenen Tod mit der darauffolgenden Auferstehung des gereinigten und in seinen Urzustand zurückversetzen Menschen.218 Der vollkommene Zustand des Menschen wurde den Menschen durch Christus vor Augen gestellt und als eine Möglichkeit eröffnet, indem dieser allen Anteil an seinem Namen gab, wie Gregor in der Schrift De perfectione ausführt. Es gelte nun für die Menschen, im eigenen Leben den Namen Christi gerecht zu werden. In der Oratio catechetica erscheint Christus als derjenige, welche die Menschen, die sich dem Teufel ausgeliefert hatten, wieder loskaufte und so von der Herrschaft des Todes in seine eigene 215 ALAIN LE B OULLUEC, Corporéité ou individualité? La condition finale sdes ressuscités selon Grégoire de Nysse, Augustiniana 35,1 (1995), 307–326. Le Boulluec stützt sich auf Anim. et res. 18 (PG 46, 160B-C) und Mort. 20 (GNO IX, 64,17–66,16). 216 De vita Moys. 1 (GNO VII,1, 4,10–18 M.). 217 Mort. 20 (GNO IX, 63, 6–8 H.). 218 In diem luminum (GNO IX, 237,23–238,20).

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brachte und die Nachahmung ermöglichte, indem er den Menschen von der Last der Sünde befreite.219 Die Funktion der Einordnung der Christen und ihres Handelns in die Heilsgeschichte ist Sinnvermittlung in einem spezifisch christlichen Kontext. Dadurch, dass die Adressaten dazu angehalten werden, sich und ihr Handeln im Rahmen der christlichen Heilsgeschichte zu verstehen, unterscheidet sich ihre Wahrnehmung des eigenen Handelns grundsätzlich von der nichtchristlichen Perspektive, auch wenn sich an den Handlungen selbst nur teilweise typisch christliche Aspekte zeigen. Bezeichnend für Gregors Version der Heilsgeschichte ist das Nebeneinander des Erlösungshandelns Gottes in Jesus Christus und dem Weg, den die Menschen selbst gehen, um ihr Leben von dem Bösen zu befreien. Auf der universalen Ebene des Kampfes gegen das Böse ist Christus der Handelnde und erlöst die Menschen aus den Fängen des Bösen, auf der individuellen Ebene führt der Mensch, durch die Taufe befähigt, seinen eigenen Kampf gegen das Böse, indem er Jesus nachfolgt. Aus dem universellen Geschehen gewinnt der Einzelne die Kraft, selbst an diesem Geschehen teilzunehmen. Jeder Mensch ist als Ebenbild Gottes geschaffen und dazu berufen, diese Existenz zu verwirklichen. Die Situation der Nichtchristen unterscheidet sich von derjenigen der Christen nur graduell, sie haben sich noch nicht auf den Weg des Heils eingelassen. Dabei gestand Gregor ihnen durchaus Weisheit und eine gute Lebensführung zu, allerdings ohne den rechten Glauben, der den Heilsweg eröffnet. Da für Gregor aber alle dereinst das selige Leben in Gottebenbildlichkeit erlangen werden, ist die Heilsperspektive universal.

219

Or. catech. 35 (GNO III,4, 86,6–92,8 M.).

4. Die Erziehung der Affekte Die Wiederherstellung des im letzten Kapitel beschriebenen ursprünglich heilen Zustandes des Menschen vollzieht sich gemäß Gregor dadurch, dass der Mensch die unterschiedlichen Dimensionen seines Wesens harmonisch vereinigt und versöhnt, also Körper und Geist in Übereinstimmung bringt und die Leidenschaften, welche wie eine Schlammschicht die Gottebenbildlichkeit des Menschen bedecken, heilt. Das Verhältnis von Körper und Geist zeigt sich insbesondere in den menschlichen Affekten, deren Heilung und Erziehung der erste Schritt zur Wiedererlangung der Tugend ist. Sich nicht dem Trieb der Leidenschaft wie einem Sturzbach zu überlassen, sondern einem solchen Zustand mannhaft mit Vernunftgründen zu widerstehen, dies ist die Aufgabe der Tugend.1

Die Tugend zeigt sich nach Gregor nicht abstrakt sondern durch die Affekte, welche auf den Zustand der Seele hinweisen. Der Zustand der Seele widerspiegelt das richtige Verhältnis zum Körper, den Mitmenschen, äußeren Gütern und zu Gott. Der seelischen Verfassung und insbesondere den Affekten, welche diese bestimmten, galt daher traditionell die meiste Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Tugend. In diesem Leben wird die Gestalt durch die Art der Verfassung des Herzens bestimmt und das Bild des Menschen wird durch den ihn bestimmende Affekt geformt. 2

Die Leidenschaften waren als Teil der Affektenlehre in der antiken und spätantiken Philosophie ein vieldiskutiertes Thema und dieses Interesse haben die christlichen Autoren übernommen, meist zusammen mit den vorherrschenden Lehren über das Wesen, die Entstehung, das Leiden und die Heilung der Affekte.3 Alle großen antiken Philosophen-Schulen kannten 1 Beat. 2 (GNO VII,2, 96,9–12 C.): τ δ" μ χειμά]Fου δίκην παρενεχθναι τ- το πάθους ρμ- λλ’ νδρικ ς πρ ς τν τοιαύτην διάθεσιν στναι κα τος λογισμος τ πάθος πώσασθαι, τοτο τς ρετς ργον στίν. 2 Mort. 20 (GNO IX, 65,11–13 H.): ,σπερ τοίνυν κατ τν νεστ σαν ζων μορφ γίνεται % ποι διάθεσις τς καρδίας κα πρ ς τ γκείμενον πάθος τ το νθρώπου ε δος πεικονίζεται. 3 Vgl. auch Pl., R. IV (439d; 444d; 585d); Ti. (86b–78c); Plu., De liberis educandis (7D); Alcin., Didasc. 31,3; Dio Chrys., Or. 32,17; Or. 70,7; Epict., Diss. II,18,9; Marc Aurel, Ad se ipsum II,13,1; Gal., De plac. Hipp. et Pl. V,2; IV,5; V,4,15; Ph., De posteritate Caini 46,72; Leg. Alleg. II,79; III,118; Clem., Paed. I,3,3; I,6,4; Str. VII,1,3,2 (eng verbunden mit der Aufgabe der Erziehung). In den Untersuchungen zur antiken Anthropologie und Ethik hat dieses Thema in den letzten zwanzig Jahren große Aufmerksamkeit erhalten. Hier sei nur eine kleine Auswahl aus einer Flut von Publikationen genannt: J. ANNAS, Hellenistic Philosophy of Mind (Hellenistic Culture and Society 8), Berkeley –

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

das Konzept der Philosophie als Heilkunst für die Seele und jede entwickelte ihre eigene Konzeption von der Seele und ihren Kräften, ihrem tugendhaften wie auch leidenschaftlichen Funktionieren.4 Die Heilung der Affekte und damit der Seele war der Weg, um den ursprünglichen und idealen Zustand und die Verwirklichung der Natur zu erlangen. Ein Ausschnitt aus der spätantiken Diskussion um die Affekte wird bei Gregor sichtbar und soll im Folgenden aufgezeigt werden, wobei zuerst das Wesen, die Funktion und die Entstehung der Affekte, dann ihre krankhafte Form in den Leidenschaften und zum Schluss ihre Heilung zum Thema werden. 4.1.

Entstehung und Funktion der Affekte

Die Affekte und Emotionen bezeichnen das, was Gregor die Erregung oder auch Bewegung, κ*νησις der Seele nannte, häufig allerdings mit dem vieldeutigen Begriff der παθ( bezeichnete.5 Der Begriff παθ( bezeichnet bei Gregor alle Seelenbewegungen, sowohl vernünftige als auch emotionale und triebhafte. Für den Trieb kommt auch der Begriff ρμ( vor. Wenn von Affekten gesprochen wird, sind damit alle diese Formen von Seelenbewegungen gemeint und nicht nur die Emotionen. Lokalisierbar sind die Affekte gemäß Gregor in dem Zwischenbereich zwischen Körper und Geist.6 Während die Sinne dem menschlichen Geist die Eindrücke aus der Umwelt vermitteln, sind die Affekte und Antriebe die Reaktion auf diese Eindrücke. Die Affekte sind dadurch, dass sie Reaktionen auf äußere Einflüsse sind, der grundlegende Ausdruck des Menschen in seiner Bindung an die

Los Angeles 1992; J. BRUNSCHWIG / M. C. NUSSBAUM (Hg.), Passions and Perceptions. Studies in Hellenistic Philosophy of Mind: Proceedings of the Fifth Symposium Hellenisticum held at the Château of Syam near Champagnole, Aug. 17–25, 1989; N USSBAUM, Therapy, R. SALLES (Hg.), Metaphysics, Soul and Ethics in Ancient Thought: Themes from the Work of Richard Sorabji, Oxford 2005; J. SIHVOLA / T. ENGBERG-P EDERSEN (Hg.), The Emotions in Hellenistic Philosophy (The New Synthese Historical Library 46), Dordrecht u.a. 1989; R. SORABJI, Emotion and Peace of Mind. From Stoic Agitation to Christian Temptation (The Gifford Lectures), Oxford u.a. 2000. 4 Zur Bedeutung der Philosophie als Therapie der Seele in allen hellenistischen Schulen vgl. NUSSBAUM, Therapy, 13. 5 Zur Mehrdeutigkeit des Begriffs als eines natürlichen Strebens und seiner pervertierten Form als Leidenschaften vgl. auch D ANIÉLOU, Platonisme et théologie mystique, 61– 71; SMITH, Passion and Paradise, 81f.; STRECK, Das schönste Gut, 137–144. 6 Vgl. Hom. opif. 10f. (PG 44, 152B–156B) Dem Zusammenspiel von Körper und Geist widmete Gregor in De hominis opificio intensive Aufmerksamkeit und brachte verschiedene Bilder als Beispiele, etwa das einer Stadt mit unterschiedlichen Eingängen, welche für die verschiedenen Sinnesorgane stehen oder das Bild der Seele als Musiker und des Körpers als Instrument. Es bleibt gemäß Gregor jedoch ein Geheimnis, wie dieses Zusammenspiel genau abläuft.

4. Die Erziehung der Affekte

287

Welt.7 Ausführlich beschrieben hat Gregor dieses Zusammenspiel in De hominis opificio.8 Die Affekte sind eine Reaktion auf die Wahrnehmung einer Situation durch die Sinne und ihre Auswertung durch den Verstand, sie basieren auf den Meinungen und Vorstellungen, die das Subjekt angesichts einer Situation hat. Bei der Wahrnehmung und Reaktion auf eine Situation sind alle unterschiedlichen Seelenkräfte beteiligt und je nachdem, ob sich die Kräfte der sinnlichen Wahrnehmung und des Begehrens dem Verstand unterordnen oder nicht, ist die Verfassung der Seele tugendhaft zu bezeichnen oder aber leidenschaftlich. Solches wird uns, wenn wir uns mit der Seele genau beschäftigen, durch das Wort in Geheimnissen und auch durch die Lehre von denen ausserhalb der Kirche aufgezeigt, dass die Seele unterschieden werden kann in ein Rationales, ein Begehrendes und ein Zürnendes. Von diesen wird gesagt, dass das Begehrende und das Zürnende untergeordnet seien und die intellektuelle Kraft der Seele stützen, der Verstand kommt zuoberst, er hält die anderen beiden zusammen und wird von ihnen gestützt, von der Erregbarkeit zur Tapferkeit gestärkt und durch die Begierde zur Teilhabe am Guten emporgehoben. Solange die Seele in dieser Gestalt gestützt ist, und durch ihre Wahrnehmungen wie durch Stützen fest auf die Tugend ausgerichtet ist, findet ein gemeinsames Zusammenarbeiten auf das Gute hin statt, indem die Untergeordneten an der Festigkeit des Verstandes teilhaben und in diesem Teil durch die anderen dieselbe Gnade erlangt wird. Wenn diese Gestalt jedoch umgestürzt wird und das Obere nach unten kommt, so dass der Verstand von oben hinunter zu dem nährenden Teil herabfällt, macht er selbst seine Verfassung zu einer begehrlichen und zürnenden und dann stiehlt sich auch der Verderber ins Innere ein.9

Die Begrifflichkeit ist in diesem Abschnitt platonisch bestimmt, wie sich besonders deutlich in der Unterscheidung in die drei Seelenfunktionen zeigt. Gregor verweist auch explizit darauf, dass es sich hier um eine Lehre von ‚draußen’ handle, ohne allerdings genauer zu werden. Bei der guten Verfassung der Seele wirken alle Seelenkräfte zusammen und verwirkli7

Vgl. Beat. 2 (GNO VII,2, 95,14–24 C.). Vgl. Hom. opif. 10–16 (PG 44, 152B–185D). 9 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 62,9–63,8 M.): Τατα περ ψυχς %μν φυσιολογοντος δι’ ανιγμάτων το λόγου, κα % ξωθεν παίδευσις φαντάσθη, διαιροσα τν ψυχν ε+ς τε τ λογιστικ ν κα πιθυμητικ ν κα θυμοειδές. Oκ τούτων δ" τ ν θυμ ν μ"ν κα τν πιθυμίαν ποβεβηκέναι φασίν, κατέρωθεν τ διανοητικ ν τς ψυχς περείδοντας, τ ν δ" λογισμ ν μφοτέροις πεζευγμένον συνέχειν τε ατος κα

π’ κείνων νέχεσθαι, πρ ς μ"ν νδρείαν τ θυμ στομούμενον, πρ ς δ" τν το γαθο μετουσίαν δι’ πιθυμίας ψούμενον. aως ν ο6ν % ψυχ τ σχήματι τούτ! κατησφαλισμένη τύχ8, καθάπερ τισ γόμφοις τος κατ’ ρετν νοήμασι τ βέβαιον χουσα, ν πσι δι’ λλήλων γίνεται % πρ ς τ καλ ν συνεργία, παρέχοντος Xδη δι’ αυτο τος ποβεβηκόσι το λογισμο τν σφάλειαν κα ν τ μέρει παρ’ κείνων τν +σην χάριν ντιλαμβάνοντος. Ε δ" ναστραφείη τ σχμα κα τ νω γένοιτο κάτω, ,στε κατ τ πατούμενον μέρος τ ν λογισμ ν πεσόντα νω αυτο ποισαι τν πιθυμητικήν τε κα θυμώδη διάθεσιν, τότε κα  λοθρευτς ες τ ντ ς παραδύεται 8

288

II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

chen die vom Verstand gesetzten Ziele. Wird dieses harmonische Zusammenspiel gebrochen und der Verstand ordnet sich den anderen Kräften unter, kommt es zu Leidenschaften. Gregor sprach auch von einem Bürgerkrieg in der Seele, wenn sich die Kräfte gegenseitig konkurrenzieren und ihre natürliche Ordnung nicht bewahren.10 Die von Gregor beschriebene Unordnung der Kräfte, bei denen sich die rationale Kraft den Freuden der sinnlichen Wahrnehmung und dem Begehren unterordnet, sei bei den vulgären Naturen häufig der Fall, bei den besseren dagegen würde der Verstand das Verhalten bestimmen.11 Gregor folgte dem platonischen Modell mit der Benennung der unterschiedlichen Seelenfunktionen und dem Ziel der Unterordnung der irrationalen Kräfte unter den Verstand, ohne aber die Einteilung der Seele in unterschiedliche Teile oder Seelen zu übernehmen.12 Die Nähe zu der platonischen Affektenlehre kommt schnell an Grenzen, was sich darin zeigt, dass Gregor von einer freiwilligen Unterordnung des Verstandes unter die irrationalen Kräfte ausging, so dass der Verstand als Gut bestimmt, was dem Körper angenehm ist und sich von den sinnlichen Wahrnehmungen beeinflussen oder täuschen lässt.13 Die Platoniker hatten sich klar gegen eine solche Mitwirkung des Verstandes bei der Entstehung von Affekten und Leidenschaften verwehrt und verneint, dass Affekte Urteile beinhalteten. Für die Platoniker galt es, die irrationalen Kräfte möglichst ruhig zu stellen, manchmal wurde davon gesprochen, sie müssten wie wilde Tiere unterjocht werden, manchmal ist von einem Zähmen die Rede.14 Die Frage nach der Bedeutung des Intellekts in der Entstehung der Affekte beschäftigte vor allem die Mittelplatoniker15, welche sich dabei gegen die Konzep10

Hom. opif. 18 (PG 46, 193B). Vgl. Hom. opif. 14 (PG 44, 173D–176A). 12 Vgl. Hom. opif. 14 (PG 44, 176B). 13 Vgl. zur Bedeutung der Urteilskraft bei der Entstehung der Affekte auch SMITH, Passion and Paradise, 95–103. 14 LILLA, Clement of Alexandria, 87, nennt drei den Mittel- wie Neuplatonikern gemeinsame sehr ähnliche Hauptpunkte zur Affektenlehre und zum π)θος: „the tendency to consider it as produced by the irrational parts of the soul, the tendency to connect t with sensation and the body, and the implied refusal to regard it as a wrong judgement of reason”. Lilla nennt auch Clemens von Alexandria, Galen und Philon als Vertreter einer solchen Sicht und verweist auf Clem., Str. IV,136,1; VI,135,3; Gal., De plac. Hipp. et Pl. IV,5; Ph., Leg. Alleg. III,38,114f. vgl. LILLA, ebd., 88. 15 Plu., De virtute morali 11 (441d; 442a; 443c; 444b–c; 451a–c, hier b: 44 DUMORTIER ) ταν δ" μ μετ πάθους λλ’ ατ καθ’ ατ κινται τ διανοητικόν, %συχίαν γει τ σ μα κα καθέστηκεν ο;τε κοινωνον ο;τε μετέχον ατ τς νεργείας το φρονοντος, ε το παθητικο μ συνεφάπτοιτο μηδ" συμπαραλαμβάνοι τ λογον. Gemäß Plutarch ist es die Aufgabe des rationalen Teils, die leidenschaftlichen Regungen der irrationalen Kräfte zu mäßigen. Vgl. auch Alcin., Didasc. 32,1; Dazu auch LILLA, Clement of Alexandria 89; 101 mit vielen Stellenangaben und Zitaten. 11

4. Die Erziehung der Affekte

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tionen der Stoa und der aristotelischen Schule wehrten, Affekte seien durch den Verstand bestimmt oder gar gleichzusetzen mit (Fehl)-Urteilen, wie im Falle der Stoiker.16 Typisch für diese Debatte ist Plutarchs Auseinandersetzung mit der stoischen Position und Galens Auseinandersetzung mit Chrysipp und Poseidonius. Plutarch fasst die stoische Position wie folgt zusammen: Und die Leidenschaft sei der schlechte und maßlose Verstand, welcher aus geschwächter und irrender Urteilskraft ein Übermaß an Kraft und Macht aufgenommen hat.17

Galen unterstellte Chrysipp von der traditionellen stoischen Lehre abzuweichen durch die Aussage, Leidenschaften seien Fehlurteile und Meinungen.18 Poseidonius dagegen habe zu Recht die Leidenschaften als Wirkungen der irrationalen Kräfte behandelt.19 Plotin war so weit gegangen, dass er der geistigen Seele jegliche Beeinflussung durch die Affekte absprach.20 Die Gegenthese dazu hatte Themistius in seinem Kommentar zu De anima von Aristoteles formuliert und festgehalten, dass bei den Affekten Körper und Seele gleichermaßen Galen über Chrysipp: Gal., De plac. Hipp. et Pl. V,6,37 (332,31–334,3 D. L.):  δ" Χρύσιππος ο;θ’ >τερον ε ναι νομίζει τ παθητικ ν τς ψυχς το λογιστικο κα τ ν λόγων ζκαστον πάντα τς κτηνώδους λογίας φορμηθέντα, δι τς πονηρς το νο χρήσεως κακία γένετο, ,σπερ ο6ν κα τ μπαλιν, ε+περ  λογισμ ς τ ν τοιούτων κινημάτων ντιμεταλάβοι τ κράτος, ες ρετς ε δος >καστον τούτων ντιμεθίσταται. 36 Eccl. 2 (GNO V, 302,1–5 A.): λλ’ % ατεξούσιος ατη τς διανοίας ρμ παιδαγωγήτως πρ ς τν αEρεσιν τς κακίας πορρυεσα περισπασμ ς τς ψυχς γένετο π τ ν ψηλ ν τε κα τιμίων πρ ς τς μπαθες τς φύσεως κινήσεις κατασπασθείσης. 37 Vgl. Anim. et res. 5 (PG 46, 37B–40A); vgl. auch Ath., gent. 32. 35

4. Die Erziehung der Affekte

295

Das Begehren nach dem Guten und Schönen ist beiden Naturen38 gemeinsam gegeben, wie auch derjenige, welcher alles gemacht hat, die Selbstbestimmung, die Autonomie und die Freiheit von jeglichem Zwang allen mit Vernunft ausgestatteten Wesen in gleicher Weise gegeben hat, so dass jedes sich in Selbstbestimmung und Willensfreiheit nach eigener Einsicht selbst leitet.39

Die Möglichkeit, sich den eigenen Trieben gegenüber zu verhalten, selbst zu bestimmen oder wünschen, wovon man sich in seinen Handlungen antreiben lässt, wird als die spezifisch rationale Handlungsoption bestimmt.40 Nur rationale und freie Wesen sind moralisch verantwortlich, wer hingegen durch Notwendigkeit, Zwang oder die Instinkte bestimmt ist, kann nicht frei genannt werden. Nur was innerhalb der menschlichen Freiheit und somit innerhalb der Wahlfähigkeit liegt, kann als Schuld oder Tugend angerechnet werden. Der Mensch ist ein geschaffenes Wesen mit einem Körper, aber er ist durch diesen Körper nicht bestimmt, sondern kann sich zu seinen Trieben und Affekten verhalten und sich in freier Wahl für das Gute entscheiden.41 Bei den Tieren hingegen sind die Triebe und Affekte ein Teil der Natur, zu dem sie sich nicht bewusst verhalten können, daher sind sie moralisch auch nicht relevant sondern gehören zur guten Grundausstattung der gelungenen Schöpfung, welche den Tieren das Überleben sichert. Ihre Affekte sind insofern gut zu bezeichnen, als sie ein Produkt der göttlichen Schöpferkraft und der weisen göttlichen Einrichtung der Na-

38

Der körperlichen wie der unkörperlichen. Or. dom. 4 (GNO VII,2, 49,15–20 C.): % μέντοι το καλο τε κα γαθο πιθυμία μοτίμως κατέρ1 συνουσιώθη τ- φύσει, κα τ ατοκρατές τε κα ατεξούσιον κα

πάσης νάγκης λεύθερον +σον π’ μφον  το παντ ς πιστάτης ποίησεν, $ς ατονόμ! τιν προαιρέσει οκονομεσθαι πν σον λόγ! τε κα διανοί1 τετίμηται. 40 Die Bedeutung dieser Freiheit gegenüber den eigenen Antriebsimpulsen wird auch in der neueren Diskussion um den Personenbegriff und die Freiheit der Person als grundlegender Aspekt erachtet. Vgl. dazu die Ausführungen von H. G. F RANKFURT, Freedom of the Will and the Concept of a Person, JPh 68 (1971), 5–22. Frankfurt definiert diese Freiheit gegenüber den eigenen Wünschen als second-order desires. „Besides wanting and choosing and being moved to do this or that, men may also want to have (or not to have) certain desires and motives. They are capable of wanting to be different, in their preferences and purposes, from what they are. Many animals appear to have the capacity for what I shall call ‛first-order desires’ or ‛desires of the first order,’ which are simply desires to do or not to do one thing or another. No animal other than man, however, appears to have the capacity for reflectve self-evaluation that is manifested in the formation of second-order desires.“ Ebd., 7. 41 Vgl. P. M. B LOWERS, Gentiles of the Soul: Maximus the Confessor on the Substructure and Transformation of the Human Passions, Journal of Early Christian Studies 4,1 (1996), 57–85, hier 65: „Gregory of Nyssa’s achievement was to subsume the human passions under his doctrine of free will, to position them squarely within the realm of graced human intentionality.“ 39

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

tur sind. Alles andere würde dazu führen, dass man die uneingeschränkte Güte der göttlichen Schöpferkraft hinterfragen müsste.42 Wichtig für die Diskussion um die Willensfreiheit bei Gregor ist, dass Gregor den freien Willen im Hinblick darauf formulierte, dass der Mensch nicht wie die Tiere durch seine Triebe bestimmt ist, sondern sich ihnen gegenüber frei verhalten kann. Gregor definierte die menschliche Freiheit sowohl gegenüber den körperlichen Trieben als auch gegenüber dem Willen Gottes. Sie hat in beiden Fällen für Gregor eine moralische Funktion. Gregors Bestimmung der Affekte ist trotz der platonischen Begrifflichkeit und der platonischen Bilder dadurch bestimmt, dass er den platonischen Modellen nicht einfach folgte sondern aufgrund von naturwissenschaftlich-medizinischen Überlegungen und dem Prinzip, dass alles Geschaffene seinen guten Sinn hat, ein eigenes Modell der Entstehung und Funktion der Affekte entwickelte, das vor allem die aristotelische Affektenlehre stärker mit einbezog und den Dualismus zwischen Körper und Geist zu überwinden suchte. 4.2.

Affekte und Leidenschaften

Nach der ersten Klärung, was Gregor unter den Affekten und verstand und wie sie ihm zufolge zustande kommen, ist aus der Perspektive der Tugendethik die Unterscheidung in zuträgliche und schädliche Affekte von großer Bedeutung. Die Ausführungen Gregors unterscheiden nicht nur zwischen den einzelnen Seelenvermögen, welche bei der Entstehung eines Affektes zusammenspielen, sondern auch die an sich neutralen Affekte und ihre moralische Bewertung anhand der Art und Weise, wie der Mensch mit ihnen umgeht. Als natürliche Regungen der Seele gehören die Affekte zur guten Schöpfung des Menschen und sind wichtig für die menschliche Handlungsfähigkeit. An sich sind die Bewegungen der Seele moralisch neutral, erst im Hinblick auf ihre Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel zeigt sich, ob sie angemessen sind oder nicht. Sind sie auf ein schlechtes Ziel oder ein vermeintliches Gut ausgerichtet, werden sie zu Leidenschaften. Wenn dies so ist, erscheinen diese Bewegungen der Seele für sich gesehen weder als Tugend noch als Laster, da es in der Freiheit der Ausrichtungen liegt, ob sie zum Guten oder Schlechten werden. Wenn die Bewegung sich auf das Bessere ausrichtet, wird sie zum Material für Lobenswertes, wie die Begierde Daniels und der Zorn von Phineas und die Trauer für den, der berechtigt trauert. Wenn sie sich aber dem Schlechten zuwendet, wird sie zur Rutschbahn abwärts und dann wird sie zur Leidenschaft und so genannt.43

42

Vgl. auch Bas., Attende tibi ipsi 2. Anim. et res. 8 (PG 46, 65C–67A): Ε δ" τατα τοτον χει τ ν τρόπον, ο;τε ρετν, ο;τε κακίαν φ’ αυτ ν τατα ποφανούμεθα, σα κινήματα τς ψυχς ντα π

τ- ξουσί1 τ ν χρωμένων κεται, 2 καλ ς 2 τέρως χειν. 3λλ’ ταν μ"ν ατος πρ ς τ 43

4. Die Erziehung der Affekte

297

Sowohl der Verstand kann schlechte Ziele vorgeben als auch das Begehren sich auf etwas richten, was als schlecht zu beurteilen ist.44 Im einen Fall führt ein Irrtum bezüglich des Guten zu einem schlechten Verhalten und im anderen Fall die mangelnde Beherrschung der Triebe. Während es Gregor zufolge unausweichbar ist, dass der Mensch ab und zu von einem Gefühlsausbruch oder einem Begehren überfallen wird, liegt es in seiner Hand, den weiteren Verlauf dieses Ausbruchs zu kontrollieren und zu steuern. Nun nennt sie [die Seligpreisung] aber nicht einen, der zufällig einem Begehren verfällt verdammenswert, sondern den, der sich vorsätzlich eine Begierde zuzieht. Denn dass einmal ein solcher Trieb in uns entsteht, das veranlasst oft die mit unserer Natur verschmolzene Schwäche auch gegen unsere Einsicht. Dass man sich aber nicht von diesem leidenschaftlichen Trieb wie von einem Fluss mitreißen lässt, sondern tapfer einem solchen Zustand widersteht und die Leidenschaft mit Vernunftgründen zurücktreibt, dies ist Aufgabe der Tugend.45

Die Stelle bringt deutlich zum Ausdruck, dass die moralisch verwerfliche Form seelischer Bewegungen weder Emotionen noch Affekte sind, sondern feste Gewohnheiten und Haltungen. Ein Affekt im Sinne eines Gefühlsausbruchs ist nicht verwerflich, wenn er wieder kontrolliert wird. Erst die zusätzliche Hineinsteigerung, die Angewöhnung solcher Zustände oder unangepasster Affekte sind zu bekämpfen. Die auf das Gute gerichteten Affekte werden Tugenden, etwa das Mitgefühl, die Barmherzigkeit oder die Liebe, andere werden durch ihre Ausrichtung auf schlechte Ziele oder ihre Unkontrolliertheit zu Leidenschaften wie Jähzorn, Hass oder Neid. Gregor war allerdings – ausgehend von dem ursprünglich neutralen Zustand dieser Seelenbewegungen – auch bereit, dem Zorn oder dem Hass positive Bedeutung zuzumessen, wenn sich diese heftigen Gefühlsbewegungen gegen etwas Schlechtes richten und dieses zu meiden oder zerstören suchen. Neben der Heftigkeit und der Ausrichtung auf falsche Ziele nannte Gregor noch weitere Kriterien zur Beurteilung von Affekten. An einer Stelle in der Auslegung des Ecclesiastes zur Stelle „ Lieben hat seine Zeit und Hassen hat seine Zeit“, erläuterte Gregor, dass die angestrebten Ziele bestimmen, κρεττον % κίνησις #, παίνων γίνεσθαι λην, $ς τ Δανιλ τν πιθυμίαν, κα τ Φινε"ς τ ν θυμ ν, κα τ καλ ς πενθοντι τν λύπην. Ε δ" πρ ς τ χερον γένοιτο % Fοπ, τότε πάθη γίνεσθαι τατα κα νομάζεσθαι. 44 Or. catech. 8 (GNO III,4, 29,13–22 M.). 45 Beat. 2 (GNO VII,2, 96,5–12 C.): νυν δέ φησιν ο τ ν πιθυμήσαντα κατά τινα συντυχίαν ε ναι κατάκριτον λλ τ ν κ προνοίας τ πάθος πισπασάμενον. τ μ"ν γρ γγενέσθαι ποτ" τοιαύτην ρμν % συγκεκραμένη τ- φύσει πολλάκις σθένεια κα παρ γνώμην παρασκευάζει· τ δ" μ χειμά]Fου δίκην παρενεχθναι τ- το πάθους ρμ- λλ’ νδρικ ς πρ ς τν τοιαύτην διάθεσιν στναι κα τος λογισμος τ πάθος πώσασθαι, τοτο τς ρετς ργον στίν.

298

II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

wie ein Affekt zu beurteilen ist. Wenn die Ziele gut sind, dann kann auch ein heftiger Affekt angebracht sein, ist derselbe Affekt jedoch auf ein falsches Ziel gerichtet, wird er Mittel zum Laster oder eben zu einer Leidenschaft. Das angestrebte Ziel ist daher für die Beurteilung der Affekte grundlegend. Es gehe darum, das Gute zu lieben und das Schlechte zu hassen, wofür aber zuerst die Erkenntnis der wahren Güter und das Durchschauen der Scheingüter von Nöten sei.46 Für die Prüfung der angestrebten Güter setzte Gregor das Kriterium auf, dass ein Gut immerzu und für jeden ein Gut sein müsse, um diesen Namen zu verdienen. Von den Gütern, welche von den Menschen angestrebt werden, gibt es solche, die wirklich so sind, was sie genannt werden, und solche, die diese Benennung fälschlich haben. Diejenigen nun, die nicht nur vorübergehend und für einige Befriedigung bereiten und von den einen als schön angesehen werden und für andere unbrauchbar sind, sondern die zu jeder Zeit und für alle und in allem, was auch immer entstehen mag, gut sind, diese sind wahrhaftig Güter. Sie bleiben sich immer gleich und nehmen keine Vermischung mit etwas Schlechterem auf. Durch diejenigen, welche genau überlegen, wird erkannt, dass diese nur unter der göttlichen und ewigen Natur sind.47

Als radikales alttestamentliches Beispiel für eine gute Form des Zorns, das auch bei Johannes Chrysostomus und Origenes vorkommt, nannte Gregor den Zorn des Phineas, welcher einen Israeliten und eine Moabiterin umgebracht hatte, weil der Israelit sich nicht an das Verbot gehalten hatte, keine Beziehungen mit fremden Frauen einzugehen.48 Das brutale Beispiel illustrierte für Gregor den gerechten Zorn, da er sich gegen die Sünde gewendet habe und der Zorn die positive Funktion habe, Wachhund gegen die Sünde zu sein.49 Denn nicht den Zorn überhaupt will er [Gott] verbieten – denn es gibt Gelegenheiten wo wir diesen Trieb zum Guten verwenden können – sondern das Ziel seiner Verkündigung ist, dass man in keiner schlimmen Absicht den Zorn gegen die Mitmenschen aufkommen

46

Vgl. Eccl. 8 (GNO V, 427,3–428,1 A.). Eccl. 8 (GNO V, 421,15–422,4 A.): τ ν γαθ ν σα παρ τ ν νθρώπων σπουδάζεται τ μ"ν ντως τοιατά στιν, οHα κα νομάζεται, τ δ" ψευδώνυμον τν πωνυμίαν χει. σα γρ οχ πρόσκαιρον δίδωσι τν πόλαυσιν οδέ τινι δοκοντα καλ τέροις χρηστα γίνεται, λλ πάντοτε κα δι πάντων κα ν πσίν στιν γαθά, οHς ν γγένηται, τατα $ς ληθ ς στιν γαθά, ε $σαύτως χοντα κα τν το χείρονος πιμιξίαν ο προσδεχόμενα·περ τος κριβ ς ξετάζουσι περ μόνην τν θείαν τε κα ΐδιον θεωρεται φύσιν. 48 Anim. et res. 8 (PG 46, 57A, 68A); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 136,13–23 M.). Vgl. in gleicher Weise auch Or., hom. in Gen. I,17. Auch Johannes Chrysostomus zitierte Phineas als Beispiel eines gerechten Zorns über die Sünde der Unzucht, vgl. Jo. Chrys., Hom. 27,5 in Mt. 49 Virg. 18 (GNO VIII,1, 318,11–14 C.). 47

4. Die Erziehung der Affekte

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lassen soll... Manchmal ist es gut Zorn anzuwenden, nämlich wenn wir ihn zur Züchtigung der Sünde auflodern lassen.50

Ähnlich beschrieb Galen im sechsten Kapitel seiner Schrift über die Leidenschaften und Irrtümer der Seele die Fähigkeit des Zürnens als Erzieher des begehrenden Seelenteils, indem es den Sünden des Leibes wie dem erotischen Trieb oder der Gefräßigkeit zürne und diese ausmerze.51 Andere Kriterien bei der Beurteilung der Affekte sind die Anpassung an eine Situation und die Heftigkeit des Affekts. Je nach Situation kann ein Affekt aber durchaus angebracht sein. In einem bestimmten Moment keine Freude oder Trauer zu zeigen, ist Zeichen von Herzlosigkeit und nicht von Tugend. Ein tugendhafter Mensch lässt sich aber von seinen Emotionen nicht überwältigen sondern zeigt ein angepasstes Maß an Emotionalität. Besondere Betonung erfährt die Frage nach dem richtigen Maß eines Affekts.52 Denn wer weiß nicht, dass die Tugend ein Maß ist, das in der Mitte der verglichenen Gemessenen ist?53

Die auf Aristoteles zurückgehende Bestimmung wird von Gregor als allgemein bekannt vorausgesetzt.54 Die Übel dagegen seien durch ein Unmaß oder einen Mangel an einer bestimmten Tugend gekennzeichnet. Die Meinung ist, dass dieses Wort festsetzt, dass die Tugenden in der Mitte erkannt werden, da jedes Übel aus einem Mangel oder einem Übermaß an Tugend bewirkt wird. In gleicher Weise ist der Mangel an der Tugend der Tapferkeit Feigheit, das Übermaß aber Tollkühnheit, das von beiden Reine wird in der Mitte der beiden angrenzenden Übel erkannt und ist Tugend.55

Beat. 6 (GNO VII,2, 146,22–26 C.): ο γρ καθόλου τν ργν πεπεν·– στι γρ κα π καλ ποτε τ- τοιαύτ8 τς ψυχς ρμ- χρήσασθαι – λλ τ πρ ς τ ν δελφ ν ργιστικ ς ποτε σχεν π μηδεν γαθ, τοτο τ- παραγγελί1 κατέσβεσεν. 51 Gal., Περ ψυχ(ς παθ ν κα Kμαρτημ)των 6. 52 Vgl. Arist., EN II,6 (1106b): τ δ4 τε δε κα φ4 ος κα πρ ς οeς κ ο: >νεκα κα

$ς δε, μ.σον τε κα ριστον, περ στ τς ρετς. „Diese aber zur passenden Zeit, aus den richtigen Gründen und gegenüber den richtigen Dingen oder Menschen zu haben, das ist die Mitte und das Beste, das ist die Tugend.“ 53 Eccl. 6 (GNO V, 375,4–5 A.): τίς γρ οκ ο δεν, τι κα % ρετ μέτρον στ τμεσότητι τ ν παραθεωρουμένων μετρούμενον. 54 Arist., EN II, 6 (1106b). Vgl. auch Alcin., Didasc. 30,5. 55 De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 132,11–16 M.): δόγμα δέ στιν ο:τος  λόγος ν μεσότητι θεωρεσθαι τς ρετς ριζόμενος, διότι πέφυκε πσα κακία 2 κατ’ λλειψιν 2 καθ’ πέρπτωσιν ρετς νεργεσθαι. οHον π τς νδρείας λλειψίς τς ρετς στιν % δειλία, πέρππτωσις δ" τ θράσος, τ δ" κατέρου τούτων καθαρεον ν μεσότητι τ ν παρακειμένων κακι ν θεωρεται, κα ρετή στι. 50

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Die von Gregor verwendeten Beispiele entsprechen den von Aristoteles selbst vorgebrachten in der nikomachischen Ethik.56 Die Tugend als Mittleres und Maß war eine Bestimmung, die weit über die aristotelische Schule hinaus – auch in der christlichen Ethik verbreitet war.57 Gregors Formulierung an dieser Stelle ist allerdings missverständlich, da nach seiner Formulierung die Tugend, wenn sie im Übermaß vorhanden ist, zum Laster wird. Gregor meinte genau genommen ein Übermaß an den irrationalen Regungen des θuμός oder der πιθυμ*α, welche die Tugend ins Gegenteil umschlagen kann. Die Gefahr, dass man sich von den Leidenschaften mitreißen lässt, wie von einem wilden und stetig anschwellenden Fluss erwähnte Gregor öfters.58 Daneben sah er auch die Gefahr, dass die Menschen sich in ihre Leidenschaften hineinsteigern und maßlos trauern, zornig sind oder sich fürchten, weil sie das Leid, die Gefahr oder das Unrecht in Gedanken aufbauschen.59 Ein weiteres Kriterium, welches Gregor zur Beurteilung von Affekten und der durch diese konstituierten Handlungen angibt, ist der Mitmensch. Die schlechten Haltungen und unkontrollierten Gefühlsausbrüche sind nicht nur für das Subjekt ein Problem sondern vor allem auch für dessen Umgebung. Gregor wollte darum die Affekte auch danach beurteilt haben, wer davon möglicherweise geschädigt wird. In der sechsten Homilie über die Seligpreisungen unterschied Gregor den gerechten von einem ungerechten Zorn nach dem Kriterium des geschädigten Mitmenschen. Richtet sich ein Zornanfall gegen einen Mitmenschen, so ist er als schlecht zu beurteilen, richtet er sich jedoch gegen die Sünde, so ist er gerecht. Die Verpflichtung gegenüber dem Mitmenschen wird so zum Kriterium in der Beurteilung der Affekte und der daraus resultierenden Handlungen.60

56 Arist., EN II,6 (1106a). Aristoteles ging allerdings auch davon aus, dass eine Tugend nicht durch Steigerung plötzlich zur Untugend werden kann. Dies gilt auch für Gregor, da es nicht um eine Steigerung der Tugend ins Unermessliche geht sondern um eine Steigerung der irrationalen Regung. 57 Alcin., Didasc. 30,5; 32,4; Apuleius, De Platone II,228; Plu., Quomodo quis suos in virtutem sentiat profectus 13 (84a); De virtute morali 6 (444c); Dio Chrys., Or. 29,14 der tugendhafte Mensch ist massvoll und beherrscht. Clem., Paed. II,16,4. 58 Vgl. De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 35,7–9 M.). 59 Hom. opif. 18 (PG 44, 193B): Vgl. auch oben zum Unterschied zwischen menschlichen Affekten und denen der Tiere. 60 So auch in der vierten Rede der Auslegung des Herrengebets wo Gregor erklärte, gerecht sei, wenn man nicht auf Kosten anderer satt oder reich werde. Gregor bringt dieselben Kriterien in der Beurteilung der Affekte wie Aristoteles, wenn auch nicht in dessen Systematik. Vgl. Arist, EN II,6 (1106b).

4. Die Erziehung der Affekte

301

Er verbietet nämlich den Zorn nicht insgesamt – denn der so beschaffene Trieb der Seele kann zum Guten benutzt werden – sondern das Gebot fordert, dass er sich niemals in unguter Absicht gegen den Bruder wende.61

Wie aber kommt man Gregor zufolge zu den richtigen Affekten? Da seine Unterweisungen auf die Besserung seiner Hörer und Leser abzielten, ging es Gregor darum, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie konkret aus Lastern Tugenden werden und Leidenschaften geheilt werden können. Die Ethik erhält so den Charakter einer Heilung und Therapie der an Leidenschaften krankenden Seele, so dass sie ihre ursprüngliche, heile Verfassung wiedererlangt. Die Leidenschaften werden als Krankheiten betrachtet, welche in der Behandlung zwar schmerzhaft sind, sich aber mit etwas Anstrengung heilen lassen und zu einer guten Form bilden lassen. Die Unterscheidung zwischen den neutralen Affekten und den krankhaften Leidenschaften, welche terminologisch nur teilweise dort sichtbar wird, ist für Gregors Zugang zur aktiven Therapie der Leidenschaften grundlegend: die pervertierten Affekte sollten geheilt und die guten durch Erziehung gestärkt werden. 4.3.

Heilung und Erziehung der Affekte

Das ethische Ziel im Umgang mit den Affekten bestand darin, diese so zu erziehen, dass sich die Wahrscheinlichkeit des Auftretens zerstörerischer Leidenschaften minimiert. Gregor konzipierte den Umgang mit den Leidenschaften in Übereinstimmung mit der philosophischen Tradition anhand von zwei Grundmodellen, welche je auf einer eigenen Metapher beruhten, dem der Erziehung der Affekte und demjenigen der Therapierung oder Heilung der Leidenschaften.62 Diese Zugänge sind bei Gregor als sich

Beat. 6 (GNO VII,2, 146,22–147,4 C.): ο γρ καθόλου τν ργν πεπεν – στι γρ κα π καλ ποτε τ- τοιαύτ8 τς ψυχς ρμ- χρήσασθαι – λλ τ πρ ς τ ν δελφ ν ργιστικ ς ποτε σχεν π μηδεν γαθ, τοτο τ- παραγγελί1 κατέσβεσεν. 62 Zum Bild der Erziehung vgl. Paup. I (GNO IX, 93,2–16 V. H.). Bild der Erziehung der Krankheiten und der Funktion Jesu als Seelenarzt vgl. Or. dom. 4 (GNO VII,2, 44,14–45,16; 46,5–14 C.); Or catech. 35 (GNO III,4, 86, 19–87,3 M.): als Erzieher: Vergleich mit dem Erzieher der Soldaten; De perf. (GNO VIII,1, 174,20–23 J.): auch die Namen Jesu erziehen den Menschen; Beat. 6 (GNO VII,2, 146,14–16 C.): Jesus heilt durch seine Gebote die Krankheiten der Laster. Auch die Gnade Christi kann bei der Heilung der Leidenschaften im Vordergrund stehen, vgl. Inscript. Psal. II,12,176 (GNO V, 131,23–132,2 D.); In diem luminum (GNO IX, 226,4; 228,16 G.) Zur Bedeutung der Metapher der Heilung vgl. J. W. SMITH, A Just and Reasonable Grief: The Death and Function of a Holy Woman in Gregory of Nyssa’s Life of Macrina, Journal of Early Christian Studies, 12,1 (2004), 57–84; D ERS., Macrina, Tamer of Horses and Healer of Souls: Grief and the Therapy of Hope in Gregory of Nyssa’s “ De Anima et resurrectione”, Journal of Theological Studies 52 (2001), 37–61; R. WILLIAMS, “Macrina’s Deathbed Revisited: 61

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

ergänzende Ansätze verstanden, wobei das Modell der Therapie oder Heilung der Affekte im Sinne von Leidenschaften eher einem ersten Schritt entspricht, während die Erziehung über die Beseitigung schlechter Affekte hinausführt zu einer Einsicht und aktiven Einübung in die gute Seelenverfassung63 und die richtigen Emotionen.64 Die beiden Modelle können von Gregor auch verbunden werden. Der wahre Arzt der seelischen Leiden, der wegen der Leiden ins Leben der Menschen trat, führt uns, indem er durch die Erkenntnisse im Gebet die Ursache der Krankheit beseitig, zu der aufgezeigten Gesundheit zurück.65

Die Unterscheidung der Güter und die Erkenntnis werden als entscheidend angesehen, um die Entstehung von Leidenschaften zu verhindern. 4.3.1. Die Leidenschaften und ihre Heilung in der Epistola canonica66 Ein drittes Konzept wird mit der Metapher der Reinigung umschrieben und war besonders verbreitet in den neuplatonischen Ansätzen, wo Plotin und Porphyrius zwischen den bürgerlichen Tugenden und den reinigenden unterschieden.67 Bei Gregor ist die Reinigung als umfassendes Bild gebraucht, das sich nicht wie bei den Neuplatonikern und bei Christen wie Clemens von Alexandria auf die höchste Form der Tugend bezog, welche Gregory of Nyssa on Mind and Passion,” in: Christian Faith and Greek Philosophy in Late Antiquity (SVigChr 19), hrsg. v. L. Wickham / C. P. Bammel, Leiden 1993, 227–246. 63 Zur Erziehungsmetapher bei Gregor vgl. auch WEISS, Erziehungslehre, 77; VÖLKER, Gregor, 266–274; SMITH, Passion and Paradise spricht statt von Heilung und Erziehung von Reinigung und Erleuchtung, vgl. Kapitel 6: Purgation and Illumination: The Dialectic of Salvation. Die Reinigung kann mit der Heilung verbunden werden, sie stellt aber wiederum eine eigene, bedeutungsvolle Metapher dar und bezieht sich auf die Verschmutzung durch die Leidenschaften. 64 Auch dies ist wiederum ein Aspekt, den Aristoteles in seiner Tugendlehre besonders hervorgehoben hat. Ihm ging es darum, die Affekte durch Einsicht so zu erziehen, dass automatisch eine Übereinstimmung zwischen den Affekten und dem Guten besteht. Vgl. KAEGI, Tugend der Affekte, 24: Tugend zu besitzen heißt die richtigen Affekte haben. Vgl. auch KOSMAN, Being Properly Affected, etwa 112: „On this view the structure of becoming virtuous with respect to feelings reveals itself to be of the following sort: one recognizes through moral education what would be appropriate and correct ways to feel in certain circumstances. One acts in ways that are naturally associated with and will ‘bring about’ those very feelings, and eventually the feelings become, as Aristotle might have said, second nature; that is, one develops states of character that dispose one to have the right feelings at the right time.“ Vgl. auch NUSSBAUM, Therapy, 82. 65 Or. dom. 4 (GNO VII,2, 45,24–46,2 C.):  τοίνυν ληθς ατρ ς τ ν τς ψυχς παθημάτων  δι τος κακ ς χοντας ν τ- ζω- τ ν νθρώπων γενόμενος, τος ν τπροςευχ- νοήμασι τ νοσοποι ν α+τιον πεκλύων, πανάγει %μς π τν νοητν γίειαν. 66 Vgl. auch SILVAS, Gregory of Nyssa: The Letters, 211–225. 67 Plot., Enn., I,2,3–5; Porph., Sent. 32.

4. Die Erziehung der Affekte

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durch Apathie bestimmt ist.68 Gregor sprach aber wie Plotin im Kontext der Reinigungsmetapher davon, dass die Schmutzschicht, welche die Gottebenbildlichkeit bedecke, von der Seele gewaschen werden müsse. Mit seiner Vorliebe für medizinische Bilder übertrug Gregor die Frage nach den Leidenschaften besonders in das Bild der Krankheit der Seele und fragte nach den richtigen Therapiemethoden.69 Wie beim Körper Krankheiten dadurch entstünden, dass die Balance und Harmonie der verschiedenen Elemente gestört sei, so sei auch in der Seele die Leidenschaft die Folge einer gestörten Harmonie und Balance der seelischen Kräfte. Wenn eine der Kräfte nicht richtig funktioniere, komme es zu Fehlverhalten. In seiner Epistola canonica beschreibt Gregor ausführlich, wie die unterschiedlichen Krankheitsbilder der Seele aussehen und wie sie therapiert werden können. Die jeweils festgesetzten Strafen werden dabei wiederum entweder als Heilmittel oder aber als Erziehungsmittel beschrieben. Da es viele verschiedene Ausformungen von Krankheiten in der Seele gibt, ist es notwendig, dass auch die pflegerische Sorge vielfältig gestaltet werden wird, so dass die Heilung unter Berücksichtigung des Leidens geschieht.70

Es werden dabei für jedes der Seelenvermögen die vollkommene Funktionsweise und die möglicherweise auftretenden Krankheiten oder Laster, deren Formen sowie ihre Heilung, Bekämpfung und Bestrafung beschrieben und damit auch verschiedene Formen von Leidenschaften unterschieden.71 Dabei wird deutlich, dass der Begriff der Leidenschaften für Gregor umfassend auf alle möglichen Formen von Fehlverhalten angewendet wurde, auch solche die durch falsche geistige Haltungen oder unmäßige und pervertierte Triebe gekennzeichnet sind. Die Wahrnehmung der Seele teilt sie gemäß einer ersten Unterscheidung in drei: das Vernünftige und das Erregbare und das Begehrende. In diesen ist sowohl das geglückte

68

Vgl. dazu LILLA, Clement of Alexandria, 84–106. Vgl. auch C AVARNOS, Body and Soul, 72f., unter anderem mit dem Verweis auf die Vorgehensweise Gregors in Ep. can. 70 Ep. can. 1–2 (PG 45, 224A): οτω πολλς ο;σης κα ν τ- ψυχικ- νόσ! τς τ ν παθ ν ποικιλίας, ναγκαίως πολυειδς γενήσεται % θεραπευτικ πιμέλεια, πρ ς λόγον το πάθους νεργοσα τν +ασιν. 71 Die Epistola canonica ist angelegt als ein Hilfsmittel, um gewisse Laster in der Kirche mit entsprechenden Bußen zu belegen, daher wird bei jeder Form von Vergehen die ihm entsprechende Strafe, meist als Ausschluss aus der eucharistischen Gemeinschaft, beschrieben. Dabei reflektierte Gregor auch über den Sinn der Strafen, ein Thema, das auch in der Schrift Adversus eos, qui castigationes aegre ferunt, aufgenommen wird. 69

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Handeln derjenigen, welche tugendhaft leben, angelegt, wie auch die Abfälle derjenigen, welche ins Übel geraten.72

Für das λογιστικν mit dem Gregor einsetzt, besteht die Vollkommenheit in der frommen Annahme des Göttlichen, in der Unterscheidung von Gut und Böse, sowie in der deutlichen und unvermischten Erkenntnis der natürlichen Grundlagen, was ihre Zuordnung in Dinge, die anzustreben sind und solche, die zu vermeiden sind, einschließt. Die Perversion dieser Seelenbewegung und die Versündigung bestünden darin, dass Scheingüter, angestrebt werden. Die entsprechenden Laster werden als Geldgier, Ruhmsucht und Vergnügungssucht, sowie alle Laster, welche mit dem Streben nach nichtigen Gütern zusammenhängen, beschrieben. Diese erste Gruppe von Übeln oder Leidenschaften erklärte Gregor zu der schlimmsten, denn die Laster des vernünftigen Teils der Seele führten auch zum Abfall vom rechten Glauben und zur Zuwendung zu einer Irrlehre wie dem Manichäismus oder dem Judentum.73 Für die erregbare Seelenbewegung bestehe die Vollendung in dem Hass gegenüber dem Schlechten und Bösen, im Kampf gegen die Leidenschaften, in der tapferen Verfassung der Seele, mit der sie bis aufs Blut den Sünden widerstehe und tödliche Drohungen wie auch schmerzhafte Strafen verachte, und über jeder süßen Versuchung aufgrund der Tugend und des Glaubens stehe. Auf der Seite der Laster nannte Gregor Neid, Hass, Zorn, Lästerungen, Intrigen und eine nachtragende Haltung mit Folgen wie Totschlag und Blutvergießen.74 Im Bezug auf die dritten Seelenregungen, die begehrlichen, setzte Gregor gleich mit den Lastern ein, die er auf der Ebene der Sexualität ortete. Er unterschied schlechte Formen von Sexualität, die er in Ehebruch und Unzucht einteilte, je nachdem, ob nur die Betroffenen oder auch andere, wie die gehörnten Ehegatten in die Sache gezogen werden. Je nach Kategorie fallen unterschiedlich harte Strafen aus, wo es zusätzliche Ge-

Ep. can. 2 (PG 45, 224A–B): Τρία στ τ περ τν ψυχν %μ ν θεωρούμενα κατ τν πρώτην διαίρεσιν· τό τε λογικ ν, κα τ πιθυμητικ ν, κα τ θυμοειδές. Oν τούτοις στ κα τ κατορθώματα τ ν κατ’ ρετν βιούντων, κα τ πτώματα τ ν ες κακίαν πο]Fεόντων. In dieser auf das moralische Verhalten und die Affekte ausgerichteten Stelle verwendete Gregor platonische Beschreibungen und Begrifflichkeiten, im Gegensatz zu den stärker aristotelische bestimmten in der Beschreibung der Lebenskräfte der Seele in De hominis opificio. 73 Die harten Worte und die strengen Strafen, die Gregor diesen Vergehen anordnete, zeigen auf, dass er die Gefahr eines Übertritts zu einer anderen Gruppierung als reale Gefahr ansah. Wenn jemand sich nach einem solchen Abfall selbst verurteile und freiwillig Buße tue, sollte er aus der kirchlichen Kommunion bis zum Sterbebett ausgeschlossen sein und sich zeitlebens im Zustand der Buße befinden. 74 Ep. can. 2–3 (PG 45, 225A–228A). 72

4. Die Erziehung der Affekte

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schädigte gibt, also in der Kategorie des Ehebruchs, sind sie höher als bei den Fällen von Unzucht. Ein wichtiges Kriterium bei der Festsetzung des Strafmaßes ist die Vorsätzlichkeit einer Tat, etwa ob bei Totschlag absichtlicher Mord oder ungewollter Totschlag zur Tat geführt haben.75 Für die Reduktion des Strafmaßes werden Faktoren wie Selbstanzeige und Reue oder bußfertiges Verhalten während der Strafzeit in Betracht gezogen.76 In seiner Schrift Adversus eos qui castigationes aegre ferunt beklagte Gregor allerdings bei vielen Übeltätern eine mangelnde Reue und Bereitschaft, die Strafen auf sich zu nehmen. Im Hinblick auf die Strafen betonte Gregor in beiden Schriften, dass die kirchlichen Strafen der Besserung des Sünders dienen sollten und nicht einfach der Bestrafung. Strafen haben eine pädagogische Funktion und werden als Heilmittel gegen die Krankheiten der Seele verstanden.77 Wer selbst nicht beurteilen könne, was gute und was schlechte Affekte seien oder worin das wahre Gut jeweils bestehe, solle sich an Vorbildern und Beispielen orientieren oder sich einem Mentor78 anvertrauen, der aufzeigt, was gutes Verhalten ist. Die Notwendigkeit, das tugendhafte Verhalten zu trainieren und üben wird von Gregor immer wieder betont.79 Insofern die Tugend auf der Wahlfreiheit beruht, steht es in der menschlichen Kraft, sie sich durch Übung anzueignen. Die Erziehung der Affekte beruht vor allem auf der Erkenntnis dessen, worin in einer bestimmten Situation das wahre Gut besteht oder in welchem Verhältnis zum wahren Guten sich bestimmte Umstände befinden. Denn die Leidenschaften entstünden häufig dadurch, dass vergänglichen Gütern zu viel Wert beigemessen werde. Damit das Streben automatisch dem wahren Guten folgt, gilt es nach Gregor, die Seele auf die wahren und unvergänglichen Güter 75 Ep. can. 5 (PG 45, 229D). Ein anderes von Gregor genanntes, interessantes Beispiel ist die Ausraubung einer Grabstätte. Dabei unterschied er, ob dies zum Zweck der Wiederverwertung des Baumaterials für einen dem Gemeindewohl nützlichen Zweck geschah und die Toten anständig zugedeckt zurückließ oder aber zwecks Beraubung der Toten und daher aus Geldgier und Geiz, die als Krankheiten der begehrlichen Kräfte erscheinen. Nur der zweite Fall wird bestraft, der erste erhält, gemäß der Sitte, wie Gregor begründet, Vergebung. Vgl. Ep. can. 7 (PG 45, 233D). 76 Zur Kirchenzucht bei Gregor vgl. VAN DE P AVERD, Disciplinarian Precedures in the Early Church, 267–316. 77 Castig. (GNO X,2, 329,4–22 T.) mit Zitaten aus Ps 119,71; Hebr 12,6. Dieselbe Funktion hatte bei Gregor auch das Gericht. Es ist nicht göttliche Strafe sondern soll den Menschen verbessern. Vgl. Anim. et res. 13 (PG 46, 100B). 78 Die Idee eines Mentors für die Einübung in die rechten Affekte, der korrigiert und ermuntert, war durchaus verbreitet, vgl. etwa Plu., De cohibenda ira 1 (453a). 79 In Virg. 23 (GNO VIII,1, 334,14–335,1 C.) beschrieb Gregor ausführlich, wie man zu einem schon erprobten Asketen gehen solle, um sich in die Askese einweisen zu lassen.

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hin zu trainieren, so dass für die Seele das Gute auch das Ersehnte oder Lustvolle ist und die Affekte sich dem Richtigen zuwenden. Denn die Menschen würden durch die Affekte zu dem gezogen, woran die Seele sich als Gut gewöhnt habe. Dies erscheine ihr gut und lustvoll. Das Problem bestehe darin, dass die Menschen sinnliche Wahrnehmungen als lustvoll empfänden, noch bevor ihre intellektuellen Fähigkeiten genügend ausgereift seien, um zwischen Gut und Böse und wahren und vergänglichen Gütern zu unterscheiden. So gewöhne sich die Seele an das falsche ‚Gut‘, an ein vergängliches Scheingut.80 Diese Angewohnheit muss durch Einsicht und Training auf Lust am wahren Gut umerzogen werden. Zur Abgewöhnung eines erkannten Lasters schlägt Gregor vor, die dem Laster entgegen gesetzte Tugend einzuüben. Der Jähzornige bemüht sich nicht nur darum, seine Zorn, wenn er ihn überkommt, zu zähmen, sondern er übt sich aktiv in Sanftmut. Dieses ‚Rezept‘ beruht auf Gregors Überzeugung, dass das Schlechte durch das Gute überwunden wird. Die Partizipation an dem Besseren merzt das Schlechtere aus. In der Auslegung der Seligpreisungen schlug er vor, die Haltung der Demut zu trainieren, um damit Hochmut und Zorn beizukommen.81 Mit der Zeit sollte man nicht nur die Anfälle unkontrollierter Affekte beherrschen können und sie schnell in ihrer Heftigkeit unterdrücken, sondern gar nicht erst Opfer von solchen unbeherrschten Affekten oder Leidenschaften werden. Das Ziel besteht darin, zur richtigen Zeit das rechte Maß an Affekten zu haben und aus diesem den Antrieb zu einer guten Handlung zu gewinnen. Das dies nie ganz vollständig möglich sein wird, war für Gregor dabei eine wichtige Einsicht. Da nun das menschliche Leben ein körperlich-materielles ist, die Leidenschaften sich auf das Materielle richten, und jede Leidenschaft einen Trieb beinhaltet, der untrennbar mit der Befriedigung des Ersehnten verbunden ist – denn die Materie ist schwer und zieht nach unten – , aus diesem Grunde preist der Herr nicht den selig, der ganz für sich und außerhalb jeder Leidenschaft lebt – denn es ist in dem körperlich-materiellen Leben unmöglich, unkörperlich und von allen Leidenschaften befreit zu sein – sondern vielmehr nennt er die Sanftmut das in dem fleischlichen Leben durch den Weg der Tugend Erreichbare und sagt, dass die Sanftmut für die Seligkeit ausreiche. Er fordert von der menschlichen Natur keine vollkommene Leidenschaftslosigkeit. Es lässt sich nämlich nicht in gerechter Weise etwas verlangen, was die Natur nicht vermag.82

80 Vgl. Eccl. 8 (GNO V, 418f. A.). Diese Analyse findet sich schon bei Arist., EN II,2 (1104b6). 81 Beat. 2 (GNO VII,2, 97,13–18 C.); vgl. auch Eccl. 7 (GNO V, 402,11–22 A.). 82 Beat. 2 (GNO VII,2, 95,14–24 C.): πειδ τοίνυν λώδης μ"ν  νθρώπινος βίος, περ δ" τς λας τ πάθη, πν δ" πάθος ξεαν χει κα κατάσχετον τν ρμν πρ ς τν κπλήρωσιν το θελήματος – βαρεα γρ κα κατωφερς % λη – δι τοτο μακαρίζει  κύριος ο τος ξω πάθους φ’ αυτ ν βιοτεύοντας – ο γρ δυνατόν στιν ν λώδει ζω- τ ν ϋλον καθ’ λου κα παθ κατορθωθναι βίον – λλ τ ν

4. Die Erziehung der Affekte

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Das Zitat macht einmal mehr Gregors Insistieren deutlich, dass eine Existenz fern aller körperlicher Bedürfnisse, weltlicher Sorgen und Affekte für den Menschen unmöglich zu erreichen ist und auch nicht sein Ziel sein sollte. Eine Erhebung über die körperlichen Bedürfnisse und die Affekte würde die menschliche Natur überfordern, darum ist sie weder von Gott verlangt noch sinnvoller Inhalt moralischer Forderungen sondern wird schnell zum Ausdruck menschlicher Hybris. 4.3.2. Zwei Beispiele: Zorn und Trauer Von Gregor besonders oft und ausführlich besprochene Affekte sind einerseits der Zorn und andererseits die Trauer. Der Zorn war ein ausgesprochen verbreitetes Thema in der ethischen Erziehung, da er sich im gesellschaftlichen Zusammenleben aufgrund der Machtunterschiede oft fatal auswirkte.83 Knechte und Sklaven, manchmal auch Frauen und Kinder wurden durch maßlose Herrschaft in einem Zornanfall geprügelt, in gewissen Fällen gar zu Tode. Die Gewalt gegenüber Untergebenen und Sklaven war ein weitverbreitetes und bekanntes, auch viel diskutiertes Problem. Moralphilosophen und Sophisten tadelten regelmäßig den maßlosen und ungerechten Umgang mit den Knechten und Sklaven.84 In den Philosophenschulen war der Umgang mit dem Zorn ein Thema. Iamblich schreibt in seiner Vita des Phythagoras, dieser habe seinen Schülern beigebracht, sich nie im Zorn an die Diener zu richten sondern zu Warten bis der erste Ärger sich gelegt habe und auch in der Schule Epicurs war unbe-

νδεχόμενον τς ρετς ρον ν τ- δι σαρκ ς ζω- τν πραότητα λέγει, κα καν ν ες μακαρισμ ν τ προν ε ναί φησιν. o γρ καθόλου τν πάθειαν νομοθετε τ νθρωπίν8 φύσει – οδ" γρ δικαίου νομοθέτου τ τατα κελεύειν, σα % φύσις ο δέχεται. Die Unmöglichkeit der vollkommenen Apathie findet sich auch in Beat. 1 (GNO VII,2, 82,25–28 C.). 83 Zu der Bedeutung des Affekts des Zorns in der antiken Literatur vgl. auch SPIRA, Oratio II, 130, in Bezug auf den Zorn: „Kein Affekt hat die Antike stärker beschäftigt als der Zorn – seine Ursache, seine Wirkung, seine Bekämpfung.“ 84 Hier soll nur auf einen kleinen Ausschnitt von Schriften verwiesen werden, etwa Philodemus, De ira; Plu., De cohibenda ira; Sen., De ira; Bas., Contra eos qui irascantur. Plutarch beschrieb verschiedene Zwischenfälle, in denen ein Herr aus Zorn seinen Sklaven teilweise bis zum Tod prügelte oder quälte. Vgl. Plu., De cohibenda ira 11 (459b– 460c). Die schlimmsten Formen der Quälerei und Totschlag waren zwar seit der Kaiserzeit gesetzlich verboten, allerdings war der Schutz dennoch schlecht, da Sklaven als nicht rechtsfähige Objekte keine Anzeige erstatten konnten. Auch in den kirchlichen Synodalbeschlüssen spiegelt sich die Gewaltproblematik wieder. Can. 5 von Elvira beschäftigt sich mit dem Totschlag einer Magd durch ihre zornige Herrin. Die Strafe ist sehr mild mit sieben oder fünf Jahren (absichtlicher Totschlag oder nicht) Ausschluss aus der Kommunion, besonders wenn man mit den bis zu lebenslänglichen Ausschlüssen für Sexualdelikte wie Ehebruch oder vorehelicher Verkehr vergleicht.

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herrschtes Verhalten verpönt.85 Auch Basilius widmete dem Problem des Zornes eine eigene Predigt. Der richtige Umgang mit Zorn und die Einübung der Selbstbeherrschung nahmen breiten Raum in der sittlichen Erziehung86 ein, damit die reichen jungen Männer lernten, ihre Macht nicht auszunutzen und ihre Launen ihren Untergebenen gegenüber auszuleben. Der Zorn87 wurde allgemein als schlimme Deformation des menschlichen Verhaltens und Kontrollverlust über die eigenen Affekte angesehen, der zu einer Verwandlung in ein wildes Tier führte. Diese Verwandlung wird auch von Gregor in der siebten Homilie über die Seligpreisungen ausführlich beschrieben. Alle Leiden der Besessenen siehst du an einem, der vom Zorn beherrscht ist... Das Auge der Besessenen ist blutunterlaufen und verdreht, die Artikulation unbeholfen, die Sprache rauh, bellend und durchdringend die Stimme. Dies ist dem Zorn und dem Dämon gemeinsam; der Kopf ist durcheinander, die Hände sind in unkontrollierten Bewegungen, Schwäche am ganzen Körper und unsichere Füsse. In einem werden die Leiden dieser beiden beschrieben. Allein dadurch wird das eine vom anderen unterschieden, dass das eine freiwillig schlecht ist, das andere die Betroffenen unfreiwillig überfällt.88

Gregors Vergleich der Zornigen mit den Besessenen gipfelt in der Aussage, dass die Zornigen sich freiwillig so benehmen wie die Besessenen. 85

Iamb., De vita Pythagorica 31,197; Sen., De ira II,22,1–4. Peter Brown beschreibt, wie die oberflächlich etwas sinnlos wirkenden Übungen im Rhetorikunterricht anhand eines oftmals absurden Themas doch ihre Bedeutung hatten in der Einübung einer beherrschten Stimme und Selbstkontrolle der jungen Männer. BROWN, Power and Persuasion, 49: „By the meticulous self-vigilance and the striving for harmony associated with the magic of a well-tuned voice, the potentially brutish sons of the gentry were subjectes to a discreet but insistent training in order and self-restraint.“ 87 Häufig erscheint der Zorn in den Lasterkatalogen. Vgl. Or. catech. 40 (GNO III,4, 103,10–13 M.); Virg. 4 (GNO VIII,1, 267,13–15 C.); Virg. 16 (GNO VIII,1, 311,24– 312,2 C.); De vita Moys. 2 (GNO VII,1, 72,11–14 M.). Dabei ist der Zorn meist in Verbindung mit Neid, Hass, Verbitterung und Geiz genannt. Für Gregor war der Neid ein besonders schlimmes Übel weil er versteckt und hinterhältig und heuchlerisch sei. Vgl. die lange Ausführung in Beat. 7 (GNO VII,2, 156,28–159,8 C.), wo nicht der Zorn sondern der Neid als das schlimmste Übel beschrieben wird, dass alle anderen wie eine Kette nach sich zieht. 88 Beat. 7 (GNO VII,2, 155,9–18 C.): λόγισαι παράλληλα το τε δαίμονος κα το θυμο τ συμπτώματα… φαιμος κα διάστροφος τ ν δαιμονώντων  φθαλμ ς, παράφορος % γλ σσα, τραχ τ φθέγμα, ξεα κα λακώδης % φωνή. κοιν τατα κα

το θυμο κα το δαίμονος, κλόνος κεφαλς, χειρ ν μπληκτοι κινήσεις, βρασμ ς λου το σώματος, στατοι πόδες· μία τ ν δύο νοσημάτων % δι τ ν. τοιούτων πογραφή. τοσοτον μόνον παρήλλακται το τέρου τ >τερον, σον τ μ"ν κούσιον ε ναι κακ ν, τ δ" βουλήτως προσπίπτειν οHς ν γγίνεται. Vgl. eine ähnliche Beschreibung bei Philodemus, De ira 1; Plu., De cohibenda ira 7 (456d–e); Sen., De ira I,1,3; III,4,1–4. Der Zorn ist in der Rede über die Seligpreisungen fast überall als Negativfolie des von Leidenschaften getriebenen Menschen präsent, er wird auch in der zweiten und in der sechsten Rede ausführlich thematisiert. 86

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Dabei scheue sich der Zornige nicht, auch den Mund einzusetzen und den Gegner zu beißen und werde so ganz zu einem Tier.89 Häufig vorgebrachtes Beispiel ist das Schlagen der Diener für eine kleine Nachlässigkeit.90 Mit solch abstoßend genauen und auch stark überzeichneten Bildern des Zornes wurde eine erzieherische Wirkung angestrebt. Die Beschreibung des Zornes sollte so abschreckend sein, dass Lesende und Hörende schon durch dieses Bild auf den Weg zur Besserung gebracht wurden. Diese Methode, den Zorn zu therapieren, wird auch von Philodemus in seiner Schrift über den Zorn als eine Therapiemethode in der Schule Epikurs beschrieben.91 Die Therapie für diese Zornanfälle sah Gregor in der zweiten Rede zu den Seligpreisungen in der Einübung der Haltung der Demut, denn nur wo die Geisteshaltung des Hochmuts herrsche, lasse man sich schnell beleidigen und erzürnen. Denselben Ratschlag gab Basilius in seiner Predigt gegen die Zornigen, die sich ausführlich mit dem Problem des Jähzorns und seiner Behandlung auseinandersetzt und damit aufzeigt, dass der Zorn und die damit verbundene Gewalt generell auch für die Christen und in den christlichen Predigten ein wiederkehrendes Thema war. Deutlich wird der Anspruch geäußert, dass Zorn Ausdruck mangelnder Selbstbeherrschung und mangelnden Maßes sei, den man therapieren könne.92 Hier wird ein aufgrund seiner Konsequenzen im sozialen Zusammenleben bedeutungsvolles Problem über die Therapie der Affekte individualethisch angegangen. Der andere Affekt, dem spezielle Aufmerksamkeit gewidmet wurde, war die Trauer. Zu ihrer Bearbeitung war eine eigene literarische Gattung entstanden, die sogenannte Konsolationsliteratur.93 Ziel war es, für Trau89

Sehr ausführlich hat auch Basilius die Verwandlung in eine Bestie oder die Ähnlichkeit mit wilden Tieren durch Leidenschaften dargestellt. Vgl. Hom. in verba: faciamus hominem I,18; Adversus eos qui irascuntur (PG 31, 361D–364B). 90 Plutarch beschreibt in De cohibenda ira 11 (459b–460c) eine ganze Reihe von Vorfällen, bei denen cholerische Herren ihre Diener durch Schläge im Zorn schwer verletzten. 91 Philodemus, De ira 3f. Vgl. dazu NUSSBAUM, Therapy, 122f. Seneca vertrat die stoische These, der Zorn sei ganz auszutilgen, da er mit einem Fehlurteil verbunden sei. Vgl. Sen., De ira II,3,1–4,2. Nur das kann als Zorn bezeichnet werden, was aufgrund rationaler Entscheidung entsteht und dieses falsche Urteil kann daher umerzogen werden. 92 Vgl. auch Bas., Adversus eos qui irascuntur (PG 31, 365Bf.). 93 Für die reiche Konsolationsliteratur der drei Kappadozier Basilius, Gregor von Nazianz und Gregor von Nyssa vgl. R. C. GREGG, Consolation Philosophy. Greek and Christian Paideia in Basil and the Two Gregories (PatMS 3), Cambridge – Massachusetts 1975. Gregg zeigt auf, dass diese literarische Gattung eine starke Prägung hatte, welche von den Kappadoziern übernommen wurde und sich auch in den verwendeten topoi niederschlug. Allerdings bemühten sie sich explizit um christliche Beispiele ihrer Argumentation, um Abraham und Hiob oder neutestamentliche Aussagen.

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ernde die angemessene Reaktion auf den Verlust eines Menschen zu regeln sowie Trost zu spenden und Hoffnung aufzuzeigen.94 Gregor hat verschiedene Reden und Schriften angesichts von Todesfällen verfasst, das ausführlichste Konsolationsschreiben Gregors ist, um Henriette Meissner in ihrer Analyse zu folgen,95 die Schrift über die Seele und die Auferstehung im Dialog mit der sterbenden Schwester Macrina. Das konsolatorische Anliegen der Schrift besteht darin, den Weg vom π)θος zum λγος aufzuzeigen, wobei in der Ausgangslage Gregor für den Pathos und Macrina für den Logos steht.96 Macrina wird als vorbildliches christliches Beispiel dargestellt, da sie ihren eigenen nahen Tod nicht fürchtet und sich auch durch den Verlust anderer Menschen, wie den Tod des Bruders Basilius trotz Trauer nicht übermäßig erschüttern lässt.97 Der Dialog soll anhand von vernünftig begründeten Argumenten die Trauer und Furcht im Hinblick auf den Tod besänftigen und die Hoffnung auf die Auferstehung untermauern. Dieser Zugang ist bezeichnend für Gregors Anweisungen zum Umgang mit Affekten: Wo heftige Affekte den Menschen überfallen, muss das Interesse dahingehend sein, sie durch vernünftige Überlegung zu relativieren und einzudämmen. In einem ersten Moment gelte es aber, die Trauer 94 Vgl. GREGG, Consolation Philosophy, 1: „A double fact – death, which demands that sense be made of the life now ended, and grief, which disorients and impedes the lives of those who survive the dead – dominates the literature of consolation, from the earliest poet-mourners to the later collectors of stylized sentiments.” Gregor hat selbst verschiedene solche Konsolationsschreiben verfasst. Es handelte sich bei diesem literarischen Genre um eine stark durch Konventionen und rhetorische Stilmittel geprägte Form mit sehr vielen konventionellen Topoi, welche sich sowohl bei christlichen wie nichtchristlichen Autoren finden, wobei einige spezifisch christliche Elemente sich herausbildeten wie die Lehre von der Auferstehung oder bestimmte biblische Beispiele wie Hiob oder Abraham und einige Pauluszitate. Das beliebteste darunter stammt aus 1 Thess 4,13 „Wir wollen euch aber nicht in Unkenntnis über die Entschlafenen lassen, damit ihr nicht trauert wie die übrigen, welche keine Hoffnung haben.“ Vgl. ebd., 216f. 95 Vgl. MEISSNER, Rhetorik und Theologie, 47; 378–381. Allerdings entspricht die Schrift vom formalen Aufbau her nicht einem der typischen Konsolationsschreiben oder einer Rede anlässlich eines Todesfalls. Neben dem Aspekt des Trostes, der vor allem für die einrahmende Situierung des Dialogs gilt, ist die Schrift aber auch eine Auseinandersetzung mit philosophischen Seelenlehren aus einer christlichen Sicht. Der Trost spielt dabei insofern eine Rolle, als vernünftiges Wissen über die Seele und die Auferstehung gemäß Gregor eine übermäßige Trauer eindämmen kann. Eine zu starke Betonung des Trostes steht in der Gefahr, dem philosophischen Interesse der Schrift nicht gerecht zu werden. 96 Vgl. MEISSNER, Rhetorik und Theologie, 47. 97 Die Tatsache, dass Macrina durch die diversen Todesfälle der Familie nicht unberührt bleibt, wird in der Vita Macrina hervorgehoben, besonders angesichts des Todes des Bruders Naucratius, der ihr Lieblingsbruder war. Trotzdem bewahrte sie ihre Fassung und tröstete die Mutter.

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zuzulassen, denn erst wenn der Mensch einen Teil der überfließenden Gefühle und Tränen habe loslassen können, sei er vernünftigen Argumenten und Reden zugänglich. Als wir uns jedoch gegenseitig vor Augen standen, durchschüttelte mich der Schmerz erneut beim Anblick der Lehrerin, denn auch sie war in ihrer Schwäche dem Tod nahe. Sie aber ließ meinem Schmerz etwas Lauf ganz wie die Pferdekenner. Danach griff sie zu vernünftiger Rede, um wie mit einem Zaumzeug die Verstörtheit der Seele mit vernünftigen Argumenten zu zügeln, indem sie das folgende apostolische Wort vorbrachte, dass es sich nicht gehöre, über die Verstorbenen zu trauern, denn diese Leidenschaft hätten nur diejenigen, welche ohne Hoffnung seien.98

In einem ersten Schritt soll der verstörten Seele die Möglichkeit gegeben werden, die Trauer zu bekunden, um dann mit vernünftigen Argumenten aufzuzeigen, dass die Trauer nicht nötig sei, da Christen ja die Hoffnung auf die Auferstehung hätten. Auch in den Reden auf Verstorbene betonte Gregor, dass man die Trauer nicht schon im Keim ersticken solle. Wer die Trauerbezeugungen sogleich mit Worten ersticken wolle, werde höchstens das Gegenteil erreichen und noch schlimmere Wunden hervorrufen. Wenn aber einer, solange die Seele durch Leidenschaft erhitzt, den Verstand bewegen will, wird die Wunde noch schlimmer, da er durch die Erinnerung des Schmerzlichen wie mit Dornen gequält wird.99

In einer ähnlichen Situation war Basilius davon ausgegangen, dass vernünftige Worte das Leid zwar sofort mildern könnten, aber unpassend seien.100 Gregor ging dagegen von der Beobachtung aus, dass ein emotional heftig erschütterter Mensch vernünftigen Argumenten nicht zugänglich sei, bevor er oder sie nicht die Gelegenheit hatte, den Andrang der Gefühle loszuwerden und etwas zur Ruhe zu kommen. Wie schon oben erwähnt, war ein plötzlicher Gefühlsausbruch für Gregor kein moralisches Problem. Wichtig sei bloß, wie nach diesem ersten Ausbruch mit dem Affekt umgegangen werde. Die Anpassung der Gefühlslage an eine Situation wird als richtige Reaktion eingeschätzt. Bei einem Verlust sei Trauer angebracht und wie man sich mit den Glücklichen freue, müsse man auch mit den 98 Anim. et res. 1 (PG 46, 12A,4–13A,10) mit dem Verweis auf 1 Thess 4,13: fς δ" ν φθαλμος /μεν λλήλων, μο μ"ν νεκίνει τ πάθος προφανεσα τος φθαλμος % διδάσκαλος· κα γρ Xδη κα ατ τ- πρ ς θάνατον ]Fωστί1 συνείχετο. = δ" κατ τος τς ππικς πιστήμονας νδοσά μοι πρ ς λίγον παρενεχθναι τ- Fύμ8 το πάθους, ναστομον πεχείρει μετ τατα τ λόγ!, καθάπερ χαλιν τινι τ δί! λογισμ τ τακτον τς ψυχς πευθύνουσα, κα /ν ατ- τ ποστολικ ν λόγιον προφερόμενον, τ μ δεν π τ ν κεκοιμημένων λυπεσθαι μόνων γρ τοτο τ ν οκ χόντων λπίδα τ πάθος ε ναι. 99 In Flac.(GNO IX, 475,16–476,2 S.): $ς ε+ γέ τις τι τν ψυχν το πάθους ποθερμαίνοντος νακινοίη τ ν λόγον, δυσαλθέστερον τ τς λύπης τραμα γενήσεται τ- μνήμ8 τ ν λγειν ν οHόν τίσιν κάνθαις πιξαινόμενον. 100 Bas., Anfang von Ep. 6.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Trauernden trauern.101 Aber nachdem der erste Gefühlsüberschwang vorbei sei, gelte es, anhand von vernünftigen Überlegungen zur Ruhe zu kommen und die innere Ausgeglichenheit wiederzuerlangen.102 Ganz ähnliche Anweisungen finden sich auch bei Plutarch, der seine Frau angesichts des Todes der gemeinsamen Tochter tröstete und ihr helfen wollte, nach der ersten Trauer wieder zur inneren Ruhe zu kommen.103 Er lobte sie, dass sie sich nicht zu maßlosen Trauerbezeugungen hinreißen lasse Solange die Trauer auch wieder den vernünftigen Überlegungen und der Aufnahme des Trostes Platz macht, ist die Trauer gemäß Gregor eine natürliche und gute Reaktion auf einen Verlust.104 Ein übermäßiges Trauern aber wird als übertrieben und nicht der christlichen Hoffnung entsprechend charakterisiert.105 Als Beispiel für ein vorbildliches Verhalten nannte Gregor in seiner Trauerrede auf die verstorbene Prinzessin Pulcheria Saras Haltung im Hinblick auf die Opferung Isaaks. Abraham und Sara waren bereit, ihren Sohn zu opfern aus der Überzeugung, dass er dadurch ein besseres Leben erhalte als dasjenige, welches ihm genommen wurde. Damit hat Abraham nach Gregor die Natur der Dinge genau durchschaut und das Bessere erkannt, nämlich das geistige und ewige Leben gegenüber dem natürlichen Leben. Dass Sara nicht gegen das Opfer protestierte, obwohl dies als natürliche Reaktion von einer Mutter zu erwarten wäre, zeigt gemäß Gregor, dass auch Sara aus Einsicht in das höhere Gut des ewigen Lebens ihre Trauer über den Verlust des Sohnes zurücksteckte und die Opferung zuließ.106

101

In Flac. (GNO IX, 476,24–477,1 S.). Beat. 3 (GNO VII,2, 102,16–18 C.). 103 Plu., Consolatio ad uxorem. Plutarch wehrte sich wie Gregor gegen übertriebene Trauergebärden und die Vernachlässigung des Körpers. Wenn die Seele schon leide, sollte man durch die Pflege des Körpers einen Ausgleich schaffen und nicht die Angelegenheit durch körperliche Vernachlässigung noch verschlimmern, vgl. ebd., 6–7. Die Mittelplatoniker vertraten generell das Konzept der Mäßigung der Affekte und nicht der Überwindung, wie es für die Neuplatoniker bezeichnend ist. 104 Vgl. auch Bas., De gratiarum actione 4, der die Trauer selig pries und zugleich in 5 auf die Notwendigkeit der Mäßigung und des Anstandes in der Trauer hinwies. Sowohl Gregor wie Basilius warnten vor lautem Klagen, dem Zerreißen der Kleider und dem Bestreuuen mit Asche, also den öffentlich sichtbaren und lauten Trauerbekundungen. 105 Vgl. Anim. et res. 1. Das ganze erste Kapitel dient dazu, der übermäßigen Trauer die christliche Hoffnung auf die Auferstehung entgegen zu halten, welche in den folgenden Kapiteln begründet werden muss. Vgl. auch MEISSNER, Rhetorik und Theologie, 378–382. 106 GREGG, Consolation Philosophy, 190f.: „Sarah knew, according to our author, that for the departed there is no deceit, desire, arrogance, or ‘any other such passion of the kind which vex the soul,’ and this knowledge enabled her to give her child over to God. The passage represents the playing-out of a distinction between manliness (ἀνδρεία) and womanish weakness (γυναικισμός), a contrast which figures prominently in the Alexandrian writings, and is a familiar consolation theme, Gregory, addressing both parents 102

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Die intensive Beschäftigung mit den Affekten und die Wahrnehmung des moralisch schlechten Verhaltens unter dem Aspekt der Leidenschaften machen deutlich, dass für Gregor und seine Zeitgenossen die Frage nach der guten Lebensform in einer ganz bestimmten Perspektive gestellt wurde. Das schlechte Verhalten und die Laster beruhen auf einer Störung der seelischen Funktionen, die entweder das erkannte Gut nicht umzusetzen vermögen oder aber sich schon in der Erkenntnis des Guten irren. Die unterschiedlichen Seelenkräfte leisten alle ihren spezifischen Beitrag zum menschlichen Handeln und wenn eine mangelhaft oder exzessiv reagiert, kommt es zu einer Störung der Balance, die sich in einem moralisch schlechten Verhalten äußert. Das gute Verhalten kann daher erreicht werden, indem die Störungen und Disharmonien beseitigt werden und aktiv etwas dafür getan wird, dass die gute Verfassung der Seele gestärkt wird, etwa durch Belehrung oder Einübung in eine gewisse Gelassenheit. 4.3.3. Apathie und Metriopathie Für viele Zeitgenossen Gregors galt die Apathie als Ziel der menschlichen Vollkommenheit: die ungestörte Ruhe von äußeren Einflüssen und der möglichst weitestgehende Rückzug von den Wechselspielen des Lebens. Diese Haltung wurde als Apathie bezeichnet. Der Begriff der Apathie fällt auch bei Gregor sehr häufig. Die Untersuchung zeigt allerdings, dass Gregors Ideal nicht mit dem Apathie-Ideal eines Stoikers wie Epictet oder eines Neuplatonikers wie Plotin übereinstimmt. Während Epictet als einer der diesbezüglich radikalsten Stoiker eine weitestgehende Unbeteiligung und innere Distanz von allem, was dem Menschen widerfahren kann, forderte und Plotin der Überzeugung war, dass nur die Loslösung von allem Weltlichen, Materiellen und Wandelbaren die Seele zur Ruhe und zu sich selbst bringe, vertrat Gregor ein Apathieideal, das durch innere Ruhe trotz Beteiligung gekennzeichnet ist. Apathie bedeutete bei Gregor weder Rückzug aus der Welt noch Unbeteiligung sondern Freiheit von exzessiven Affekten und Affekten. Die Freiheit von den Leidenschaften ist verstanden als eine Freiheit von den über das Notwendige hinausgehenden Bindungen an das Materielle und damit eine Gelassenheit gegenüber den materiellen Dingen und ihren wechselvollen Zuständen.107 Jedoch soll weder die innere Beteiligung an den Schicksalen anderer Menschen aufgegeben werden, noch jegliche Bindungen an die Welt und die Menschen.

of a deceased child, portrays both Abraham and Sarah as having avoided the feminine, weaker instinct, and to have proven, like Job, their πομον κα νδρε*α.” 107 GAÏTH, La conception de la liberté, 61; 63, spricht von der Apathie als „équilibre intérieur“, „ordre intérieur“ und „harmonie intérieure“.

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Damit steht Apathie für die Harmonie von Körper und Geist und die innere Seelenruhe. Diese Ruhe wird erlangt durch die Einsicht in die Bedeutung und die Werte der einzelnen Dinge. Gregor verfolgte nicht den Weg, dass man widerspenstige Affekte unterdrücken sollte, sondern aufgrund von Einsicht in die Unnötigkeit übertriebener Affekte sollte der Mensch zur Ruhe kommen und von exzessiven Gelüsten, Gefühlen und Geisteshaltungen abgebracht werden. Gregors Ansatz war nicht der Kampf gegen widerspenstige Triebe und Regungen und ihre Ausmerzung sondern ihre Mäßigung und Umleitung auf gute Ziele. Wo die Einsicht in die Bedeutung der einzelnen Güter das Verhalten leitet, entspricht der Zustand der Seele und des Menschen der guten Ordnung des Kosmos, wie er von Gott geschaffen wurde: Alles hat seinen Platz und alle Kräfte orientieren sich an den nächst höheren und nehmen dadurch teil an der göttlichen Gnade, die sich von den geistigen Wesen über alle darunter liegenden Stufen fortpflanzt.108 Mit seiner Betonung der Mäßigung der Affekte (Metriopathie) und der Apathie verstanden als Freiheit von allen schlechten Affekten befand Gregor sich in der Nähe zu Positionen, wie sie die Mittelplatoniker vertraten, wohingegen die Neuplatoniker ein stoisch beeinflusstes Ideal der Apathie vertraten, welches sie nur bei den Vollkommenen verwirklicht sahen.109 Dabei galt es für die noch Unvollkommenen in einem ersten Schritt, die Affekte zu mäßigen und in einem zweiten, sich ganz von ihnen zu trennen. Der Vollkommene ist derjenige, der seine Affekte nicht mehr zu mäßigen braucht, weil sie nicht mehr da sind. Dieses für die Neuplatoniker bestimmende Modell findet sich auch bei Philon und Clemens von Alexandria.110 Gregor hingegen machte keine Unterscheidung zwischen der Mäßigung der Affekte als einer Vorstufe und der Reinheit von den Affekten als Zustand der Vollendung und befand sich damit in größerer Nähe zu den mit108

Zu dieser Wohlordnung vgl. ZEMP, Grundlagen, 122–125. Plu., De virtute morali 4 (443c–d / 28 DUMORTIER): ο βουλομένου τ πάθος ξαιρεν παντάπασιν ο;τε γρ δυνατ ν ο;τ’ μεινον, λλ’ ρον τιν κα τάξιν πιτιθέντος ατ κα τς Uθικς ρετάς, οκ παθείας ο;σας, λλ συμμετρίας παθ ν κα μεσότητας, μποιοντος; Plu., De virtute morali 5 (444c 30 D.): οτως δ’ ρίζων τν παθητικν κίνησιν μποιε τς Uθικς ρετς περ τ λογον, λλείψεως κα περβολς μεσότητας ο;σας; ebd., (451c); Alcin., Didasc. 32,2–4; Maximus Tyr., Or. 27,7b. Gemäß LILLA, Clement of Alexandria, 100f., handelt es sich um einen breiten Konsens, den Platon und die alte Akademie, Aristoteles und seine Nachfolger, die mittlere Stoa und die Mittelplatoniker teilten. Für Plotin und Porphyrius dagegen, war die Metriopathie nur ein Zwischenziel vor der Apathie, vgl. Plot., Enn. I,2,3; Porph., Sent. 32. Vgl. zur Thematik auch J. DILLON, Metriopatheia and Apatheia: Some Reflections on a Controversy in Later Greek Ethics, in: DERS., The Golden Chain, Kapitel 8. 110 Clem., Str. III,7,57; Str. VI,74,1; Str. VI,111,3; Str. VI,195,1; Ph., Leg. Alleg. III,45,129–132; Leg. Alleg. III,46,134. Vgl. LILLA, Clement of Alexandria, 103–6. 109

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telplatonischen und peripatetischen Ansätzen.111 Das rechte Maß war für Gregor das erwünschte Ziel und die Apathie selbst wird genauer bestimmt als das rechte Maß.112 Es ist davon auszugehen, dass Gregor bewusst nicht der Entwicklung in Richtung vollkommener Apathie folgte, wie sie nicht nur für Philon und Clemens sondern insbesondere auch für die Neuplatoniker bezeichnend ist und sich stattdessen für eine mittelplatonisch und peripatetisch ausgerichtete Zugangsweise zu den Affekten mit dem Ziel der Metriopathie entschied. Diese Tendenz Gregors, den Entwicklungen zu einer körperfeindlichen Einstellung und der Bekämpfung des Körpers und seiner ‚irrationalen‘ Regungen nicht zu folgen, zeigt sich in den unterschiedlichsten Kontexten, sie wird auch bei seinem Zugang zur Askese nochmals deutlich werden. Nicht nur in der Beurteilung der Affekte sondern auch in derjenigen der Askese steht Gregor gemäßigten Autoren wie Plutarch näher als Porphyrius, Plotin oder den strengen christlichen Asketen. Die Apathie als vollkommene Ruhe, Harmonie, Selbstkonsistenz und Reinheit dagegen ist das Zeichen des Göttlichen und nicht des Menschlichen und der Mensch kann nur soviel an Apathie erreichen, wie es einem wandelbaren und vergänglichen Wesen möglich ist. An Jesus sei die Apathie aber sichtbar geworden und ihn sollten die Menschen soweit nachahmen, wie es ihnen möglich sei. Was sie selbst nicht verwirklichen könnten, sollten sie anbeten.113 Das Ziel der Angleichung an das Göttliche wird wiederum bewusst relativiert durch die Grenzen des Menschenmöglichen.114

111 Vgl. Clem., Str. VI,9,74; Str. VI,13,105; Ph., Leg. alleg. III,45,129.132 in De Abrahamo XLIV,257,3 dagegen plädierte er für Mäßigung und nicht Apathie; Porph., Sent. 32,29–32; Plot., Enn. I,2; Alcin., Didasc. 30,5 dagegen plädierte für Metriopathie anstatt Apathie. 112 Vgl. unten die Auslegung der Seligpreisung der Sanftmütigen sowie das Kapitel über die Affekte. Diogenes Laertius erläuterte im Hinblick auf Aristoteles, dieser habe nur Mäßigung oder Metriopatheia und nicht Apatheia vom Weisen gefordert, Vitae V,31. 113 De perf. (GNO VIII,1, 178,13–19 J.) Christus steht hier für das vollkommene Bild Gottes, das nicht durch Leidenschaften und Übel beherrscht ist wie die übrigen Menschen. Wo die menschliche Natur die Nachahmung nicht erlaubt, soll er angebetet werden: σα δ" ο χωρε % φύσις πρ ς μίμησιν, σεβόμεθά τε κα προσκυνομεν (13f.). 114 Vgl. De prof. christ. (GNO VIII,1, 138,14–21 J.).

5. Askese und Vervollkommnung Neben der Sorge um das Wohl der Seele stellte der andere Schwerpunkt der individuellen Vervollkommnung die Frage nach dem Umgang mit dem Körper dar. Die Bandbreite der Umgangsweisen mit dem Körper war in der Umwelt Gregors sehr groß und konnte von einem Ideal des gesunden und schönen Körpers durch sportliche Betätigung über allerlei diätetische Maßnahmen bis zu den asketischen Bemühungen im engeren Sinne gehen. Die letzteren waren für das christliche Lebensideal von besonderer Bedeutung und erlebten im vierten Jahrhundert einen Aufschwung, der unter anderem zu den monastischen Gemeinschaften führte. Bei Gregor wird die richtige Art und Weise des Umgangs mit dem Körper ebenfalls ausführlich thematisiert und wichtige Fragen zu dieser Trenderscheinung seiner Zeit aufgeworfen und diskutiert. Die Bedeutung der Askese für die antike Gesellschaft wird in den letzten Jahren rege diskutiert, wobei eine Richtung von Untersuchungen die Nähe und Kontinuität zwischen paganem und christlichem Umgang mit dem Körper betont, die andere die Diskontinuität. Die Diskontinuität steht im Vordergrund von zwei neueren Untersuchungen, von denen die eine der Frage nach der Bedeutung des Essens im religiösen Kontext gewidmet ist und die andere den Zusammenhängen von Sexualität, Ethik und Politik.1 Gemäß beiden Untersuchungen, derjenigen von Veronika Grimm und derjenigen von Kathy Gaca, ist mit dem Christentum eine zunehmende Leibfeindlichkeit in die antike Gesellschaft eingedrungen, Kathy Gaca zufolge auch die Unterdrückung der Frauen und ihrer Sexualität. Die Askese wird angeführt als Beispiel, wie neu im negativen Sinne die moralischen Ansichten der Christen waren. Gaca vergleicht die Texte christlicher Asketen mit den staatsphilosophischen Schriften der klassischen Zeit, wo sie eine freie Einstellung gegenüber der Sexualität und größere Freiheit für die Frauen entdeckt.2 Problematisch daran sind der 1 V. E. GRIMM, From Feasting to Fasting, the Evolution of a Sin. Attitudes to food in late antiquity, London – New York 1996; K. L. GACA, The Making of Fornication. Eros, Ethics, and Political Reform in Greek Philosophy and Early Christianity, Berkeley u.a. 2003. 2 GACA, The Making of Fornication, 59f. Berechtigt ist allerdings die Betonung, dass die frühe stoische Einstellung zur Sexualität nicht dieselbe ist, wie die späterer Stoiker, etwa von Seneca oder Musonius. Gaca unterstellt der christlichen Sexualethik die Unterwerfung der Frauen (294: In order for Greek women to be considered good in Christian terms, they must abandon their ancestral gods and obey the Lord, both Christ and their husbands, with downcast eyes, minds, genitals, and wombs) und eine Sexualmoral, die

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Vergleich der sehr unterschiedlichen Textgattungen und die große zeitliche Differenz der Schriften. Die den christlichen Texten zeitlich und inhaltlich viel näheren Texte der römischen Stoiker und der neuplatonischen Philosophen werden von Gaca als Abweichungen deklariert, ohne Überlegungen anzustellen, inwiefern sich das Klima gegenüber der Sexualität in der Kaiserzeit und der Spätantike generell geändert hat. Untersuchungen, welche zeitlich näher liegende Texte vergleichen, wie etwa diejenige von Michel Foucault, Aline Rousselle, Jennifer Wright Knust oder Wayne Meeks kommen zu einem ausgewogeneren Ergebnis. Sie stellen die den Christen unterstellte Radikalisierung der Askese und Abwertung des Körperlichen auch bei den paganen Zeitgenossen der frühen Christen fest und legen größeren Wert auf die Kontinuitäten zwischen paganer und christlicher (Sexual-)Ethik.3 Die Untersuchung der Aussagen von Gregor kann dabei helfen, das differenziertere Bild für die Spätantike zu unterstützen und die Vielfalt christlicher asketischer Vorstellungen deutlich zu machen. In einem ersten Schritt soll die Bedeutung der Askese für die christliche Ethik im vierten Jahrhundert aufgezeigt werden, dann Gregors ausführliche Diskussion von Sinn und Zweck sowie Gefahren der Askese in der Schrift über die Jungfräulichkeit genauer betrachtet werden und zum Schluss Gregors Vorstellungen von Askese in die unterschiedlichen Strömungen seiner Zeit eingeordnet werden. 5.1.

Der Aufschwung der Askese im 4. Jahrhundert

In der christlichen Ethik des vierten Jahrhunderts verstärkte sich die Tendenz, spezielle Lebensformen und herausragendes Engagement für den christlichen Glauben als besonders verdienstvoll zu würdigen. Während der Verfolgungen waren es hauptsächlich die Märtyrer gewesen, welche sich durch ihre vollkommene Selbstaufgabe im Martyrium einen besonderen Verdienst erwarben und als Vorbilder des christlichen Glaubens und

durch „power, commandments, possesive metaphors, and submission“ geprägt sei gegenüber der philosophischen, in welcher „justice, dialogue, and reasoning“ vorherrschten, vgl. ebd., 305. 3 Vgl. FOUCAULT, Die Sorge um sich, 303–307; WRIGHT KNUST, Abandoned to Lust, 1–13, vor allem zur Bedeutung des Vorwurfs von sexueller Unzucht im polemischen Kontext; ROUSSELLE, Porneia, 10f.: „Devant le success foudroyant de la virginité … on est rapidement amené à s’interroger sur l’extension de pratiques continents chez leur prédécesseurs, parfois leurs pères, païens. … le conseil chrétien de l’eunuchisme spiritual ne s’est développé au point de devenir un des fondements essentiels d’une religion qu’à l’extérieur de ce meme milieu juif, précisément chez les Grecs, chez les Romains, et parmi tous ces peoples du bassin méditerranéen don’t l’hellénision avait précedé et préparé la romanisation.”; Vgl. auch MEEKS, Origins, 130–149.

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Lebens verehrt wurden.4 Daneben gab es schon seit frühster Zeit Christinnen und Christen, welche eine asketische Lebensweise verfolgten und dafür besondere Anerkennung erhielten.5 Der Gedanke, dass Asketen eine elitäre Lebensform führen, war auch unter Nichtchristen verbreitet. Porphyrius betonte in seinem Buch über die Abstinenz, dass er einen Leser anspreche, der aus der Masse heraussteche, einen Menschen, der ganz in der Sphäre des Geistigen lebe und sich bewusst vom Leben eines Durchschnittsbürgers abhebe.6 5.1.1. Die Motive der Asketen Der Aufschwung der christlichen Askese fiel zusammen mit dem Abbruch der Christen-Verfolgungen und der Transformation der Kirche von einer verfolgten Minderheit zu einer stetig wachsenden Mehrheit. Nachdem ab dem vierten Jahrhundert Verfolgungen für die orthodoxen Christen kein Thema mehr waren und der radikale Weg der Nachfolge durch das Martyrium aufgehoben war, suchten viele Menschen neue Wege, ihr Leben ganz Christus hingeben zu können und sich von der laxen Lebensweise der durchschnittlichen Christen abzuheben.7 Als wichtigste dieser neuen Formen bedingungsloser Selbstaufgabe in der Christus-Nachfolge erlebte die Askese im vierten Jahrhundert einen großen Aufschwung.8 Schon zuvor,

4 In Kappadozien wurden etwa die vierzig Märtyrer von Sebaste besonders verehrt und Feste begangen. Von Gregor sind Reden anlässlich eines solchen Festes dieser Märtyrer überliefert. Gregor selbst hat sich um den Bau einer Märtyrerkirche bemüht, allerdings ist unbekannt, wem sie gewidmet sein sollte, vgl. Ep. 25. 5 Der Aufruf zu fasten findet sich schon im Neuen Testament und wenig später hatten sich bestimmte Fastenzeiten ausgebildet. Mk 2,20; Mk 9,29 und Parallelstellen; Apg 10,30; 1 Kor 7,5. Für das wöchentliche Fasten vgl. Didache 8,1. Vgl. dazu auch J. GRIBOMONT, Art. Askese IV: Neues Testament und Alte Kirche, in: TRE 4, 204–225. 6 Vgl. Porph., Abst. I,27–28. Porph. lehnte in Abst. IV,20 grundsätzlich sämtlichen Geschlechtsverkehr als verunreinigend ab, allerdings im Bewusstsein, dass es für den Fortbestand der Menschheit ein unmögliches Postulat sei. 7 Der These von Edward Malone zufolge ist die Verbindung zwischen dem Ende der Martyrien und der Entstehung der monastischen Askese sehr eng zu denken. Vgl. E. MALONE , The Monk and the Martyr: The Monk as the Successor of the Martyr (SCA 12), Washington 1950, 69: „When Constantine granted freedom to the Church by the Edict of Milan in 313, the age of the martyrs came to an end. Monasticism appeard on the scene almost simultaneously.” 8 Asketische Gruppierungen existierten schon seit den christlichen Anfängen, allerdings ohne eine Massenbewegung zu sein und an ihrem abgestammten Ort oder aber als Wanderasketen und Wanderprediger, seltener in der Einsamkeit der Wüste. Vgl. 1 Clem. 38,2; Justin, Apologia I,15; Tert., Apol. 9,19; Tert. Castit. 13,4; Tert., De virginibus velandis. Vgl. EVANS GRUBBS, Law and Family, 72. Die Dokumente der Synoden von Elvira (Can. 27 im Hinblick auf Kleriker), Ancyra (Can. 19) und Nizäa (Can. 3) zeigen auf,

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insbesondere bei Origenes ist das asketische Leben als eigene Form des Martyriums genannt worden.9 Methodius nannte die Jungfrauen in seinem Symposium Märtyrerinnen, denen besonderer Lohn versprochen ist.10 Neben der täglichen Selbstaufopferung spielte der Gedanke der Reinheit und Heiligkeit des Lebens eine große Rolle und konnte die Selbstaufopferung im Martyrium ablösen.11 In der Unterdrückung der Grundbedürfnisse Schlaf, Nahrung, Sexualität und Gemeinschaft suchten die Asketinnen und Asketen die Andersartigkeit der christlichen Lebensweise zu leben.12 Ziel der Asketen war es, nie Sättigung zu erlangen, sei es in der Nahrung oder im Schlaf und so Reinheit, Einfachheit und Demut. Übergreifend war auch das Motiv der Nachahmung der Lebensweise Jesu, der arm und unverheiratet gelebt und in der Wüste gefastet hatte. Diese Nachfolge konnte sowohl als Nachfolge ins Martyrium13, Aufruf zur radikalen Umkehr, zum Leiden und zur Buße oder als Nachvollzug einer gott- oder engelähnlichen, leidenschaftslosen Existenzweise gedeutet werden. Das Selbstverständnis der Asketinnen und Asketen stand oftmals in der Spannung zwischen der Vorwegnahme eines engelhaften und paradiesischen Lebens und der Nachfolge Christi als Selbstverleugnung und Buße. Clemens Kasper spricht in diesem Zusammenhang in seiner Untersuchung zu Theologie und Askese von einer Spannung zwischen Endzeiterwartung und bereits vollzogener Parusie.14 Je nach Selbstverständnis wurde die eine dass es Probleme mit Jungfrauen gab, die ihrem Gelübde untreu wurden und Männer und Frauen geschwisterlich zusammenlebten. 9 Cypr., Hab. virg. 21; Or., mart. 34; Hier., Ep. 130,5 Ad Demetriadem (CSEL 56 180,10): Habet et servata pudicitia martyrium suum. 10 Meth., symp. VII,3. 11 Als großen Vorreiter für diese Form von Selbstopferung für Christus nennt Malone Origenes. Vgl. MALONE, The Monk and the Martyr, 14–26. Malone verweist auf Stellen bei Origenes wie Exhortatio ad martyrium 34; In numeros hom. 10,2; 24,2. Bei Origenes spielt vor allem der Gedanke der Vollkommenheit, die unter anderem durch Selbstaufopferung und Askese erlangt werden kann, eine große Rolle. 12 K. S. FRANK, Αγγελικοσ Βιος, 18–61, beschreibt als typische Kennzeichen der Askese die Trennung von der Welt und den Angehörigen, die körperliche Askese mit Keuschheit, Fasten, Wachen und einfacher Kleidung und dann die geistige Askese mit der Selbstverleugnung, dem Verzicht auf Lachen und der ständigen Trauer. Dazu kommen aktive Tugenden wie Rechtgläubigkeit Demut, Gehorsam, Armut usw. 13 Zur Askese als spirituelles Martyrium vgl. die Untersuchung von M ALONE, The Monk and the Martyr. Malone zeigt auf, dass bei Origenes und vielen monastischen Autoren der Vollendungsgedanke mit dem des spirituellen Martyriums verbunden werden konnte. Zu Origenes vgl. ebd., 14–26. Für Clemens verdiente jedes perfekte Werk der Liebe den Namen Martyrium Vgl. Clem., Str. IV,4,14f. 14 KASPER, Theologie und Askese, 162: „Damit begegnen wir jener eigentümlichen ungelösten Spannung, in der sich das Mönchtum sieht: zwischen Enderwartung und bereits vollzogener Parusie. Die Absicht der Motivierung wird jedoch deutlich: Der Mönch

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

oder andere Seite stärker betont. Die Askese als Ersatz für das Martyrium legte das Schwergewicht des asketischen Strebens auf die Selbstaufgabe. Mit der Aussage des Paulus in Gal 6,14 erstrebten die Asketen, dass sie für die Welt gekreuzigt seien und die Welt für sie. Ähnlich motivierende Bedeutung hatte auch die Selbstverleugungs-Aussage Jesu Mk 8,34f.15 Ziel war es, den eigenen Willen aufzugeben, in Demut und Gehorsam zu leben und mit dem eigenen Willen auch die körperlichen Bedürfnisse zu unterdrücken. Ein anderer, oft damit verbundener Aspekt war derjenige der Buße. In der Buße über die eigene Sündhaftigkeit, die in einem vergangenen Lebenswandel und in der Regung körperlicher Bedürfnisse wahrgenommen wurde, bemühten sich die Asketinnen und Asketen, Körper und Geist von allem Bösen und Verwerflichen zu reinigen. Die Leidenschaften und die Kraft der Triebe sollten durch Fasten und Schlaflosigkeit ausgemerzt und gebüßt werden. Diesem Streben nach Selbstaufgabe entgegengesetzt war ein asketisches Selbstverständnis, welches durch die Vorstellung einer vorgezogenen eschatologischen Existenz geprägt war. Die Unterdrückung der Triebe diente der Verwirklichung einer engelhaften Existenzweise, wo Gebären und Sterben, Essen und Schlafen keine Bedeutung mehr haben. Diese Bestrebungen hatten nicht die Selbstaufgabe und Selbstverleugnung als Ziel sondern die Vervollkommnung des Menschen; nicht das Sterben für die Welt, sondern eine anfängliche, engelhafte Reinheit und Gottebenbildlichkeit wieder zu erlangen. Im Streben nach Vervollkommnung war das Vertrauen auf das verborgene Gute im Menschen gegeben, welches unter dem Filz weltlicher Abhängigkeiten und falscher Ziele hervorgeholt werden müsse. In der philosophischen Variante der asketischen Motivation lag die Betonung auf der Freiheit von den Leidenschaften und weltlichen Bedürfnissen, welche den Menschen in den Bereich des Tierischen zögen und vom Göttlichen entfernten. Neueren Untersuchungen zufolge spielte die Erkennbarkeit der Asketen und Asketinnen in der antiken Diskussion um die Askese eine große Rolle.16 Die Asketen sollten nicht nur ein asketisches Leben führen, das sich von demjenigen der Masse abhob, sondern diesen Lebensstil auch durch ihr Erscheinungsbild darstellen. Der Großteil der Schriften über die Jungfräulichkeit oder an Jungfrauen räumt dem angemessenen Erscheinungs-

soll durch seine Mühen und asketischen Anstrengungen zum einen der Würde des künftigen Lebens entsprechen, zum anderen durch eben dieses Leben die Furcht vor dem Gericht verlieren.“ Weniger spannungsvoll nimmt Frank, Αγγελικοσ Βιος, 12–16, diese beiden Pole wahr, indem er die selbstaufopfernde Nachfolge und das Bußbestreben der engelhaften Existenz unterordnet. 15 Vgl. etwa Hier., Ep. 108, 19; Vita S. Pachomii, Prologus. 16 T. M. SHAW, Askesis and the Appearance of Holiness, Journal of Early Christian Studies 6,3 (1998), 485–499.

5. Askese und Vervollkommnung

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bild und Benehmen viel Platz ein.17 Hieronymus schrieb an Paulinus von Nola, dass jede Lebensform einem Idealtypen oder Beispiel nacheifern sollte, die Philosophen Platon oder Pythagoras und die Mönche Paulus oder dem Wüstenvater Antonius.18 Insbesondere die Jungfrauen waren mit Erwartungen zu ihrem Benehmen und ihrem Äußeren konfrontiert, denen sie zu entsprechen hatten.19 Sie sollten dünn und zerbrechlich wirken, bleich, mit glanzlosem Haar und in weite farblose Kleider gehüllt, welche alle Anzeichen von Weiblichkeit verdecken.20 Zugleich rief die Inszenierung die Kritik hervor, nur etwas vorzutäuschen.21 Die Bedeutung der Inszenierung eines Typus und somit die Erkennbarkeit und Überprüfbarkeit des Engagements erscheint auf den ersten Blick befremdlich. Sie verweist jedoch auf das verbreitete Bedürfnis, sich durch eine gewisse Lebensform eine bestimmte Identität zuzulegen mit einer bestimmten Gruppe zu identifizieren. Diese Tendenz der Distanzierung durch Leben und Erscheinungsbild von dem Durchschnitt und damit die Schaffung einer sehr spezifischen christlichen Identität ist bei den Asketinnen und Asketen sehr deutlich und schlug sich in den Ausführungen über das Äußere und das Benehmen der 17 Vgl. Ps.-Bas., Virg. 18–23; Jo. Chrys., Virg. 60–67. Gemäß A. B URGSMÜLLER, Die Askeseschrift des Pseudo-Basilius. Untersuchungen zum Brief „Über die wahre Reinheit in der Jungfräulichkeit“ (STAC 28), Tübingen 2005, 16–44, ist die Zuordnung an Basilius von Ancyra aus theologischen Gründen fraglich. Insbesondere das fehlende Interesse an trinitarischen Fragen spreche angesichts der übrigen Schriften von Basilius von Ancyra gegen dessen Autorenschaft. Dieses Argument genügt allerdings nicht gegen eine Autorenschaft von Basilius von Ancyra. 18 Hieronymus, Ep. 58,5. Vgl. dazu S HAW, Askesis, 491. Die Erkennbarkeit einer bestimmten Lebensform galt auch für die Philosophen mit ihrer ebenfalls asketischen oder einfachen Lebensweise, verbunden mit Vorwürfen, wenn das Erscheinungsbild und die Lebensweise nicht übereinstimmten. J. HAHN, Der Philosoph und die Gesellschaft. Selbstverständnis, öffentliches Auftreten und populäre Erwartungen in der hohen Kaiserzeit, (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 7) Stuttgart 1989, 33–45 Der Philosoph: Erscheinungsbild und Stilisierung. 19 Zu den Asketinnen vgl. die neueren Untersuchungen von G. CLOKE, This Female Man of God. Women and spiritual power in the patristic age, AD 350–450, London 1995, ELM, Virgins of God, 25–59; G. PETERSEN-SZEMERÉDY, Zwischen Weltstadt und Wüste: Römische Asketinnen in der Spätantike (FKDG 54), Göttingen 1993. 20 An Asella, eine römische Jungfrau, schrieb Hieronymus (Ep.45), ihn würden Magerkeit und Blässe erfreuen, und an Eustochium schrieb er, sie solle sich ihre Freundinnen danach aussuchen, ob sie bleich und mager seien vom Fasten (Ep. 22). Bei einigen Gruppierungen wie den Enkratiten war es das Ziel, dass der ursprüngliche androgyne Zustand wieder erlangt wurde, was den Eifer verstärkte, alle geschlechtsspezifischen Merkmale zu reduzieren. Die Synode von Gangra warf den Eustathianern vor, dass die Frauen sich wie Männer kleideten und ihre Haare abschnitten. 21 Jo. Chrys., Virg. 7; Hier., Ep. 22. Vgl. SHAW, Askesis, 496–498 mit dem Verweis auf die Kritik an falschen Philosophen bei Plu., Quomodo adulato ab amico internoscatur (51,b–c); (63f–64a).

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Asketinnen nieder. Gregor teilte das Interesse an der Erkennbarkeit der Christen und weitete es aus auf die Erkennbarkeit aller Christen. Alle Christen müssten durch ihre Lebensweise den Christus im eigenen Leben sichtbar machen, wenn auch nicht durch Askese sondern durch die Liebe und eine reine Lebensführung. 22 5.1.2. Die Beurteilung der Askese durch die Zeitgenossen In der Diskussion wurde die Askese von den Anhängern zur höchsten christlichen Lebensform erhoben. Für eine Vielzahl christlicher Autoren galt die asketische als höchste Lebensform, der eine besondere Verdienstlichkeit zugemessen wurde. Hieronymus sprach ihr in seiner Auslegung zu der unterschiedlichen Frucht aus dem Sämannsgleichnis besonderen Verdienst zu, indem er die hundertfache Frucht den Jungfrauen zusprach, den Witwen die sechzigfache Frucht und den Ehefrauen die dreißigfache.23 Ganz ähnlich äußerte sich auch Ambrosius. Er nannte den Zustand einer Ehefrau als den unter dem Gesetz, den einer Jungfrau hingegen als den Zustand der Gnade.24 Die Bewunderung und Unterstützung der Askese blieb aber nicht unhinterfragt. Widerspruch bildete sich insbesondere gegen die implizite oder explizite Kritik der Asketen an der Ehe. Gegen die Asketen wurden denn auch verschiedene Vorwürfe vorgebracht wie Feindlichkeit gegenüber der Ehe, Gefährdung des Fortbestands der Menschheit und Kulturfeindlichkeit.25 Man sah in ihrer Abwendung von der Gesellschaft eine Gefahr für die etablierte Ordnung. Protest gegen die Askese erhoben auch die Familien der Asketinnen und Asketen, da deren jungfräuliches Leben und ihr freigiebiger Umgang mit dem Familienbesitz den Fortbestand der Familie und des Familienbesitzes gefährden konnte.26 Deutlich werden solche Dis22

De perf. (GNO VIII,1, 175,5–8 zu Paulus; 178,2–4.15–17; 196,12 J.); De prof. christ. (GNO VIII,1, 130,23–131,1 J.). 23 Vgl. Hier., Ep. 66,2, wo er das Gleichnis auf die drei Frauen Eustochium, Paula und Paulina anwendete. 24 Ambr., Ep. 15,3,31 (CSEL 82,3 304 = Ep. 42 PL 16): illa sub lege, ista sub gratia. 25 Die Kulturfeindlichkeit der Asketen war ein Thema, das ganz besonders den paganen Kritikern sowohl paganer wie christlicher Askese wichtig war, zu verweisen ist besonders auf den Spott des Sophisten Lucian Vgl. dazu J. A. F RANCIS, Subversive Virtue. Asceticism and Authority in the Second-Century Pagan World, Pennsylvania 1995, Kapitel 3: Lucian. Ascetics as Enemies of Culture, 53–81. 26 Neuere Untersuchungen zeigen, dass die vielfachen Schilderungen, eine Asketin oder ein Asket habe sein ganzes Vermögen weggegeben, in vielen Fällen zu relativieren sind. Zum einen, weil diese Aussagen oft gleich mehrmals von demselben Asketen für unterschiedliche Lebensabschnitte ausgesagt wurde, zum anderen, weil der Familienbesitz meist rechtlich nicht zur freien Verfügung stand und daher häufig unter fremde Verwaltung gegeben wurde, nicht aber vollkommen veräußert. Als Beispiel sei auf Paula

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kussionen etwa in einer Schrift von Johannes Chrysostomus, welche sich an die Eltern richtete, die sich gegen die Bemühungen von Mönchen und Priestern wehrten, ihre Söhne zum asketischen Leben zu gewinnen.27 Die Bischöfe als Vertreter der Mehrheit der Christinnen und Christen mussten den Asketen dort entgegen treten, wo diese die Ehe, Fleischgenuss und Besitz generell verwarfen und damit die Lebensgewohnheiten der Mehrheit der Christen. Eine Schrift wie diejenige von Johannes Chrysostomus über die Jungfräulichkeit zeigt die widerstreitenden Interessen und Ansprüche, denen der Autor gerecht werden musste, indem er sich einerseits gegen jede Verwerfung der Ehe wehrte und andererseits aus asketischem Interesse die Überlegenheit der asketischen Lebensweise aufzeigen wollte. Von ihren Verfechtern wurde die Askese als Rückkehr zu einem einfachen, reinen, christlichen Leben gepriesen und dadurch oft auch mit einer kritischen Distanzierung zur paganen spätantiken Kultur verbunden. Diese kulturkritische Haltung vieler asketischer Schriften wurde nicht von kulturfernen Personen formuliert, sondern diejenigen, welche sie propagierten, waren tief geprägt von der hellenistischen Bildung, die sie als gefährlich brandmarkten.28 Gregor repräsentiert bis zu einem gewissen Grad eine Außenperspektive auf die Askese, insofern er als verheirateter Mann und Bischof kein asketisch-kontemplatives Leben im engeren Sinne führte und die asketische Theologie wie auch Praxis kritisch beleuchtete. Dennoch war Gregor durch seine Familie und eigene Interessen über die Askese gut im Bilde. Gregor reflektierte die Funktion und Bedeutung sowie die Gefahren für das christliche Leben in unterschiedlichen Kontexten gründlich, besonders in seiner Schrift über die Jungfräulichkeit.29 verwiesen, die ihr Vermögen vor der Abreise nach Bethlehem ihren Kindern hinterließ. Vgl. Hier., Ep. 108,6. 27 Jo. Chrys., Adversus oppugnatores vitae monasticae liber III,1 (PG 47, 349). 28 CAMERON, Christianity, 179, schreibt über das literarische Genre der Schriften über die Jungfräulichkeit: „Yet this literature was typically a learned literature, whose practitioners had usually received the best classical education available at the time. While encouraging virgins to avoid the classics, read Hebrew, and become learned in the Scriptures, they extolled uneducated ‘simplicity.’ Their praise of the unwashed and uncultured over and against the social advantages of civilization and learning, which they did not hesitate to display themselves in their own writing, is indicative of an area of deep ambiguity and uncertainty in contemporary Christian culture.“ 29 Zur Askese bei Gregor vgl. M. R. B ARNES, ‛The Burden of Marriage’ and Other Notes On Gregory of Nyssa’s On Virginita, StPatr 37,2 (1999/2001), 12–19; M. H ART, Reconciliation of Body and Soul, 450–478; DERS., Gregory of Nyssa’s Ironic Praise, 1–19; P. HUYBRECHTS, Le „Traité de la virginité” de Grégoire de Nysse. Idéal de vie monatique ou idéal de vie chrétienne?, NRT 115 (1993), 227–242; KARRAS, A Re-evaluation of Marriage, 111–121; M. E. KEENAN, De Professione Christiana and De Perfectione. A study of the ascetical doctrine of Saint Gregory of Nyssa, DOP 5 (1950), 167–207; H.-O.

324 5.2.

II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

Askese in De virginitate30

Einen der wichtigsten Aspekte des asketischen Lebens stellte die sexuelle Abstinenz dar. Ihr hat Gregor in frühen Jahren eine eigene Schrift gewidmet. Die Schrift steht in einer Reihe von Schriften zur Jungfräulichkeit, die im vierten Jahrhundert entstanden sind und ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit der sexuellen Askese, wo Gregor Sinn und Zweck, Nutzen und Gefahren der Askese diskutierte.31 Die Schrift ist als Lobrede auf die Jungfräulichkeit deklariert, sie zeigt aber eine deutliche Tendenz, die Jungfräulichkeit wie auch die Askese in erster Linie auf spiritueller Ebene zu verorten. 5.2.1. Jungfräulichkeit als Reinheit Gleich im ersten Satz seiner Abhandlung gibt Gregor als Ziel der Schrift an, den Wunsch nach einem sittlich wertvollen und erhabenen Leben zu wecken.32 Diesem Ziel diene die Jungfräulichkeit. Die Erhabenheit der jungfräulichen Lebensweise liegt nach Gregor in ihrer Reinheit und Leidenschaftslosigkeit. Diese umfassende Reinheit in Körper und Geist sind für Gregor das Ziel der asketischen Bestrebungen, wobei er die Reinheit der Seele und nicht des Körpers als höchstes Ziel des jungfräulichen Lebens hervorhob. Die Jungfräulichkeit wird verstanden als Weg oder Tür zum sittlich wertvollen Leben, das sich durch die Reinheit der Seele auszeichne. Diese Instrumentalisierung der Askese im Hinblick auf die Reinheit der Seele zeigt eine Relativierung der Askese auf. Die Askese ist nicht Selbstzweck sondern ausgerichtet auf das übergeordnete Ziel der reinen Seele.

KNACKSTEDT, Die Theologie der Jungfräulichkeit beim heiligen Gregor von Nyssa, Rom 1940. 30 Die Schrift gilt als eine der ersten Schriften Gregors, vielleicht sogar die erste. Vgl. Grégoire de Nysse. Traité de la virginité (SC 119), hrsg. v. Michel Aubineau, Paris 1966, 25; W. B LUM, Über das Wesen des christlichen Bekenntnisses. Über die Vollkommenheit. Über die Jungfräulichkeit (BGrL 7), Stuttgart 1977, 18. Man hat bei dieser Schrift eine große Ähnlichkeit zur Schrift des Basilius von Ancyra, De Virginitate gesehen. Vgl. SHAW, The Burden of the Flesh, 93. 31 Gegen Ende des vierten Jahrhunderts entstanden eine ganze Anzahl von Schriften im Lobpreis der Jungfräulichkeit, vgl. Ps.-Bas., De virginitate; Bas., Ep. 45f.; Hieronymus, Contra Jovinianum, unter den zahlreichen asketisch geprägten Briefen von Hieronymus sei insbesondere verwiesen auf Ep. 22 an Eustochium; Ep. 108 an dieselbe über das Leben ihrer Mutter Paula; Ep. 130 an Demetrias; Jo. Chrys., virginitate; Meth., Symposion sive Convivium decem virginum; Gregor von Nazianz, Carmen 1,2,1, 623–666. Vgl. dazu AUBINEAU, Traité, 23–25. 32 Vgl. zu einer ähnlichen Zielsetzung Ps.-Bas., Virg. 1. Basilius will gemäß seiner Einleitung Nutzen und Gefahren der Jungfräulichkeit aufzeigen, was auch Gregor tut.

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Die Jungfräulichkeit ist Reinheit, Unschuld und Leidenschaftslosigkeit und die rechte Erfüllung der Jungfräulichkeit besteht gemäß Gregor darin, in Anlehnung an Eph 5,27 makellos und heilig zu werden. Die Jungfräulichkeit und Leidenschaftslosigkeit ist zudem die Tugend, welche der unkörperlichen und göttlichen Natur, sowie der Natur der Engel wesenseigen sei. Dies zeigt sich für Gregor an der Jungfrauengeburt Marias. Ihre Reinheit ermöglichte das Kommen Gottes zu den Menschen. Dasselbe, was Maria widerfahren ist – nämlich dass Gott zu ihr gekommen ist – kann gemäß Gregor bei jedem geschehen, dessen Seele sich konsequent jungfräulich und rein verhält. Was in der unbefleckten Maria auf leibliche Weise geschehen ist, indem in Christus durch die Jungfrau die Fülle der Göttlichkeit aufschien, das kann gemäß der Rede genauso in jeder jungfräulich reinen Seele geschehen, auch wenn die leibliche Anwesenheit des Herrn nicht mehr gegeben ist.33

Wie schon in der Diskussion um das richtige Fasten ist wiederum auffällig und bezeichnend, dass es Gregor um die Reinheit der Seele und nicht des Körpers geht, um Gott zu empfangen.34 5.2.2. Die Ehe als Gegenfolie Dem jungfräulich-asketischen Leben stellte Gregor das eheliche Leben entgegen, welches er durch seine verwirrende Vielfalt und die mannigfachen Ablenkungen charakterisierte.35 Das Eheleben soll in Gregors Schilderung erklärtermaßen die Gegenfolie zum jungfräulichen Lebensstil darstellen, wie er in seiner Einführung, welche sein rhetorisches Vorgehen aufzeigt, dargelegt hat: Da das Schöne besonders durch den Vergleich mit seinem Gegenteil sichtbar wird, ist es notwendig, dass eine Erinnerung an die Unannehmlichkeiten des Ehelebens stattfindet.36

Diese Einführung Gregors ist im Hinblick auf die Diskussion der Ehe in Kapitel 3 zu dem ehelichen Leben entscheidend. Gregor beschrieb dort alle Virg. 2 (GNO VIII,1, 254,24–28 C.): περ γρ ν τ- μιάντ! Μαρί1 γέγονε σωματικ ς, το πληρώματος τς θεότητος ν τ Χριστ δι τς παρθενίας κλάμψαντος, τοτο κα π πάσης ψυχς κατ λόγον παρθενευούσης γίνεται, οκέτι σωματικν ποιουμένου το κυρίου τν παρουσίαν· 34 Zum Fasten vgl. oben, Teil I: Kapitel 5.2.1. Die Bedeutung des Fastens.. 35 Virg. 9 (GNO VIII,1, 288,8f. C.) zitiert Gregor in diesem Zusammenhang Paulus in 1 Kor 7,32f.: Ich will aber, dass ihr ohne Sorgen seid. Der Unverheiratete sorgt sich um die Dinge des Herrn, wie er dem Herrn gefallen möge; der Verheiratete aber sorgt sich um die Dinge der Welt, wie er seiner Frau gefallen möge. Die Stelle nimmt Gregor nochmals auf in Virg. 20 (GNO VIII,1, 326,15f. C.). 36 Prolog zu Virg. (GNO VIII,1, 248,2–5 C.): μλλον δέ πως το ν κάστ! καλο κα δι τς παραθέσεως τ ν ναντίων φανερουμένου ναγκαίως κα τς δυσχερείας το κοινοτέρου βίου μνήμη τις γέγονεν. 33

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

denkbaren unglücklichen Momente des ehelichen Lebens, wobei er einer ganzen Reihe feststehender Topoi zu den Unannehmlichkeiten der Ehe folgte: Sorge um den Tod des Ehepartners, frühe Verwitwung, Tod der Kinder, Neid und Sorge im Bezug auf das Vermögen.37 Der Fokus der Schilderung liegt auf dem drohenden Verlust geliebter und umsorgter Menschen und Dinge. Ehegatten und Kinder sind nicht allein Grund zur Freude sondern mit der Liebe zu ihnen ist die Angst über ihren möglichen Tod gegeben. Wer sich an Mitmenschen bindet, muss mit ihrem Verlust rechnen. Durch den Kreislauf der Geburten biete die Ehe dem Tod immer neues Material, wohingegen die Jungfräulichkeit dem Tod keine neuen Opfer gebäre und darum ganz auf die Ewigkeit ausgerichtet sei.38 Auffällig sind die starken Gegensätze, welche Gregor aufbaut, indem er das eheliche Glück beschreibt und dagegen das mögliche Unglück stellt. Die Ehe ist generell charakterisiert als Ablenkung von der Konzentration auf Gott. Wer verheiratet ist, muss sich um weltliche Dinge kümmern, um die Pflege des Körpers genauso wie um den Besitz, der in ständiger Gefahr ist, durch Neid, Intrigen oder Unglücksfälle zu zerfließen und hat darum kaum Zeit für das Göttliche. Dagegen sei das abstinente Leben diesen Sorgen nicht ausgesetzt und auch materielle Not und Krankheit würden kein so schlimmes Los darstellen, da man sich um niemanden als sich selbst kümmern müsse. Während das eheliche Leben geprägt ist von Sorgen um weltliche Dinge, ist das jungfräuliche Leben ganz auf das Ewige und Unvergängliche ausgerichtet und wird darum auch nicht mit weltlichen Sorgen belastet.39 Die radikale Lösung von allem Weltlichen helfe bei der Ausmerzung der Leidenschaften und der Konzentration auf das Ewige. Dies ist das wiederholte Hauptargument für das asketische Leben. Aubineau hat festgestellt, dass die Schilderung des jungfräulichen Lebens durch Gregor den Anschein eines egoistischen und verantwortungslo37 AUBINEAU, Traité, 87–94, zog aus dem stark rhetorischen Stil Gregors den Schluss, dass Kapitel drei inhaltlich kaum eine ernstzunehmende Aussage beinhalte, da es sich um einen Ausfluss von Gregorscher Rhetorik handle, 91: „L’exploitation systématique de l’antithèse, des lieux communs, et des autres procédés, prend si manifestement une allure d’exercice scolaire qu’on doit renoncer à rien en déduire sur les pensées et les sentiments intimes du rhéteur.“ B ARNES, Burden, 13f. dagegen, sieht in alter Tradition die Beschreibung der Ehein Kapitel 3 als „an honest, if one-sided, description of married life.“ 38 Virg. 14 (GNO VIII,1, 305–309 C.). Die Durchbrechung des Kreislaufs von Geburt und Tod, Entstehen und Vergehen war das erklärte Ziel der enkratitischen Bewegungen, vgl. P ISI, Genesis, 9. 39 Vgl. HART, Reconciliation, 458: „Marriage comes to be a metaphor for passionate attachment in general, just as virginity, in addition to its conventional meaning of celibacy, refers also to a general attitude of nonattachment possible also in marriage.” Vgl. auch DERS., Ironic Praise, 10.

5. Askese und Vervollkommnung

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sen Lebens mache und war der Ansicht, dass Gregor hier Opfer der eigenen Rhetorik wurde.40 Dagegen ist eher von einer bewussten Überzeichnung auszugehen, die klar macht, dass die Ehe eben sowohl Verwicklung ins Weltliche ist, aber auch der Ort der Liebe, des Mitgefühls und der Verantwortung, während die Jungfräulichkeit Konzentration auf das Wesentliche bietet mit der Gefahr, sich aus der Verantwortung für die Welt und der Sorge um die Mitmenschen zurückzuziehen. Gregor scheute sich nicht, das Kapitel über die Ehe mit rhetorischen Topoi aufzublähen. Interessant ist dieses Vorgehen vor allem im Hinblick auf das vorangehende Kapitel, wo Gregor sich darüber aufgehalten hatte, dass übertriebens Lob der Jungfräulichkeit beim Leser nur Zweifel über die Glaubwürdigkeit erwecke. Bei der übertriebenen Schilderung der Mühen des Ehelebens passiert – vermutlich nicht zufällig – genau dies. Diese Übertreibung kann als bewusste Wahl Gregors verstanden werden, um den Lesern zu zeigen, dass es sich um eine Negativfolie und keine getreue Beschreibung handelt. Ab dem siebten Kapitel kommt Gregor zur positiven Würdigung der Ehe, damit niemand auf die falsche Idee komme, sie sei verachtenswert. Hart ist zuzustimmen, dass für Gregor der Dienst an den Mitmenschen, die λειτουργ*α, den besonderen Verdienst der Ehe ausmacht.41 Ehe wie auch Keuschheit stehen unter dem Segen Gottes und alle, welche das Gegenteil behaupteten und die Ehe verachteten, hätten sich durch Dämonen von der Wahrheit abbringen lassen.42 Die Tugend liege in der Mitte zwischen den Extremen und derjenige, welcher ganz weltlich lebe, verliere sie genauso wie derjenige, welche die Askese übertreibe. Wer ein maßvolles eheliches Leben führen könne, sollte die Ehe nicht verschmähen.43 Gregor meint pointiert, wer in der Ehe in Besonnenheit leben könne und Gott nicht aus den Augen verliere, solle die Leistungen der Ehe nicht verachten und nicht vor ihr davonlaufen. Weder soll das Begehren nach dem Göttlichen aufgegeben werden, noch soll man die Ehe fliehen. Es besteht kein Grund, dass die Ordnung der Natur aufgehoben wird und das Ehrenvolle als abscheulich verworfen wird.44

Als Beispiel, wie man sich eine solche Kombination vorstellen könnte, wird auf den Erzvater Isaak verwiesen, der erst in einem gewissen Alter Rebekka heiratete und sich nach Gregors Interpretation nach der Geburt

40

AUBINEAU, Traité, 294f. Anm. 2. HART, Reconciliation, 470–476. Vgl. Virg. 7 (GNO VIII,1, 284,8 C.). 42 Virg. 7 (GNO VIII,1, 282,15–20 C.). Vgl. auch Or. dom. 2 (GNO VII,2, 21,9 C.). 43 Virg. 7 (GNO VIII,1, 284,8–10 C.). 44 Virg. 8 (GNO VIII,1, 284,24–26 C.): μήτε τς θειοτέρας πιθυμίας φίστασθαι μήτε ποφεύγειν τ ν γάμον, οδείς στι λόγος  θετ ν τν οκονομίαν τς φύσεως κα

$ς βδελυκτ ν διαβάλλων τ τίμιον. 41

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II. Christliche Bildung für Fortgeschrittene

der Zwillinge ganz auf das Leben vor Gott ausrichtete.45 Mit der späten Eheschließung verhinderte Isaak, dass er die Ehe nur aus Leidenschaft wählte und durch die Zurückhaltung im Alter habe er sich auch in der Ehe ganz auf Gott ausrichten können. In der Ehe sollte man sich gemäß Gregor nicht vor der Sexualität fürchten und geizig damit umgehen, da sie die eheliche Eintracht unterstütze. Vielmehr sollte man daneben auch genügend Zeit für das Gebet freihalten, um nicht ganz auf das Irdische gerichtet zu leben.46 Die Ehe ist gemäß Gregor die natürliche und gottgegebene Lebensform, die Keuschheit hingegen sei eher gegen die menschliche Natur. Für die Ehe brauche man aber keine Werbung zu machen, denn zu ihr ziehe es die Menschen von Natur aus, zur Jungfräulichkeit hingegen nicht. In gewisser Weise läuft die Jungfräulichkeit der Natur zuwider, eine Ermunterung zur Ehe ist dagegen überflüssig47

Dies begründete Gregor damit, dass Gott den Menschen eine sexuelle Natur gab. Somit ist sowohl die Neigung zur Sexualität als auch diese selbst gottgegeben und gottgewollt. Sie entsprechen dem Plan der Natur, wie Gregor formuliert. Dabei hatte er wiederum die Verächter der Ehe im Blick, welche ihre Ablehnung der Sexualität teilweise damit begründeten, dass diese entweder den Fall herbeigeführt habe oder aber zur Strafe Gottes nach dem Fall gehöre, genauso wie der unaufhörliche Kreislauf von Geburt und Tod, der durch die Ehe ständig neuen Antrieb erhalte. Das Thema vom Kreislauf von Geburt und Tod nahm Gregor nochmals auf im Bezug auf die Frage, inwiefern die Jungfräulichkeit stärker als der Tod sei. Er stimmte zu, dass ein zölibatärer Mensch keinen wiederum sterblichen Nachwuchs zeuge, betonte aber, dass ein Mensch mitten im Leben und im Kreislauf von Leben und Sterben durch seine Ausrichtung auf Gott die Bedrohung des Todes schon überwinden könne. Die Empfehlung zur Ehe schränkte Gregor ein, indem er zugab, dass nicht alle Menschen gleich geeignet für die Ehe seien. Wer vom Wunsch nach einem sittlich guten Leben erfüllt sei, aber ein schwacher Mensch, der seine Leidenschaften und Gelüste nicht kontrollieren und beherrschen könne, für den sei es besser, sich hinter der Mauer der Jungfräulichkeit zu verschanzen, als sich in Gefahr zu begeben. 45 Mit dieser Interpretation bildet Gregor vermutlich die Usanz in Klerikerkreisen nach, von denen erwartet wurde, dass sie, wurden sie als Verheiratete geweiht, nach der Weihe in Enthaltsamkeit lebten. Vgl. dazu S. HEID, Zölibat in der frühen Kirche. Die Anfänge einer Enthaltsamkeitspflicht für Kleriker in Ost und West, Paderborn 1997, 167– 182. Die tatsächliche Einhaltung der Regel ist zweifelhafter, als Heid dies darstellt. 46 Virg. 8 (GNO VIII,1, 285,8–19 C.). 47 Virg. 7 (GNO VIII,1, 282,8–10 C.): ντιβαίνει δέ πως % παρθενία τ- φύσει, περιττ ν ν ε+η προτροπν π"ρ γάμου.

5. Askese und Vervollkommnung

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Wer schwach veranlagt ist, so dass er dem Drängen der Natur nicht tapfer widerstehen kann, für den ist es besser, sich weit fernzuhalten von diesen Dingen, als sich in einen Kampf zu begeben, der die Kräfte übersteigt. Denn es besteht ein nicht kleines Risiko, dass ein solcher durch die Erfahrung der Lust nichts anderes mehr für gut hält oder durch das Fleisch in einen leidenschaftlichen Zustand genommen wird und seinen Geist vollständig von dem Verlangen nach unkörperlichen Gütern abwendet und ganz körperlich ausgerichtet wird ... Daher halten wir es für schwache Menschen für nützlich, bei der Jungfräulichkeit wie bei einer sicheren Festung Zuflucht zu suchen.48

Die Motive für die Askese werden von Gregor subtil umgedeutet. Die Asketen sind nicht diejenigen, die besonders stark sind, wie es der traditionellen Deutung entsprach, sondern die Schwachen, denen die Verbindung von ehelichem Leben und Ausrichtung auf das Geistige und Göttliche nicht zugleich gelingt und die sich darum hinter der Mauer der Jungfräulichkeit schützen müssen.49 5.2.3. Die Gefahren des asketischen Lebens Auch in einem Leben in Keuschheit gilt es Gregor zufolge, sich vor Leidenschaften in Acht zu nehmen. Das asketische Leben kann genauso wie das eheliche in verderbliche Leidenschaften verstrickt werden.50 Wiederholt verweist Gregor darauf, dass ihm einige Beispiele bekannt seien, wo der asketische Eifer in eine ebenso zerstörerische Leidenschaft geführt hatte.51 Statt Exzess im Vergnügen kam es zu Exzess in der Zucht und Selbstkasteiung, was zu Trauer, Bitterkeit und nachtragendem Charakter geführt habe. Sobald etwas den Menschen so in Besitz nehme, dass alle Gedanken nur noch darauf fixiert seien, werde es eine schädliche Leidenschaft, die von Gott wegführe und nicht zu ihm hin. Die Vernunft hat gemäß Gregor die Askese genauso in Schranken zu halten wie das 48 Virg. 8 (GNO VIII,1, 285,20–27 C.); Virg. 9 (GNO VIII,1, 287,17–19 C.):  δ" σθεν ς διακείμενος, $ς μ δύνασθαι ν πρ ς τν τς φύσεως φορν νδρικ ς στναι, κρείττων ν ε+η πόρρω τ ν τοιούτων αυτ ν νέχων μλλον 2 ες γ να κατιJν μείζονα τς δυνάμεως. κίνδυνος γρ ο μικρ ς παρακρουσθέντα τ ν τοιοτον ν τ- πείρ1 τς %δονς μηδ"ν >τερον γαθ ν οηθναι 2 τ δι σαρκ ς μετ προσπαθείας τιν ς λαμβανόμενον κα ποστρέψαντα παντελ ς τ ν αυτο νον π τς τ ν σωμάτων γαθ ν πιθυμίας λον σάρκινον γενέσθαι … Δι τοτο λυσιτελ"ς ε ναι νομίζομεν τος σθενεστέροις ες τν παρθενίαν $ς ες σφαλές τι φρούριον καταφεύγειν. 49 Vgl. dazu auch HART, Reconciliation, 473 und DERS., Ironic Praise, 3f.; GAÏTH, La conception de la liberté, 166: „Grégoire semble aller quelquefois jusqu’à dire que la vie totalement retirée et solitaire n’est un asile salutaire que pour les faibles, incapables de vivre saintement dans le monde.” 50 Vgl. auch Ps.-Bas., Virg. 11. 51 Virg. 17 zur Verbitterung, der Trauer und Enttäuschung der Asketen; Virg. 22 viele Asketen sind permanent mit ihrem Körper beschäftigt, Virg. 23 Einige verlassen die gewählte Lebensform wieder, weil sie sich unvernünftig früh dafür entschieden haben, einige haben sich schon zu Tode gehungert.

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Vergnügen, sonst schlägt Tugend rasch ins Gegenteil um. So etwa, wenn jemand das Vergnügen meiden wolle, sich dann aber von der Trauer einfangen lasse oder das Mutige und Draufgängerische vermeiden wolle und dabei die Seele in Feigheit erniedrige oder nochmals, wenn man drauf bedacht sei, sich nicht von Gemütswallungen bestimmen zu lassen und dabei durch Furcht niederdrücken lasse.52 Gregor sah auch in der Askese die Frage nach dem rechten Maß für grundlegend an: Da aber viele in die andere Form der Maßlosigkeit fallen, weil sie durch übertriebene Strenge, ohne es zu merken, sich entgegen ihrem Ziele und auf einem anderen Weg abmühen, indem sie die Seele von den hohen und göttlichen Dingen abwenden und ihre Sorgen und Beschäftigungen in die Niedrigkeiten führen und ihre ganze Aufmerksamkeit nur noch der Beobachtung des Körpers widmen … Wir dürfen weder durch Übergewicht unseren Geist zuschütten noch umgekehrt ihn durch künstlich herbeigeführte Schwächen auslöschen und schwächen, so dass er sich nur noch mit den körperlichen Leiden beschäftigt.53

Dazu kämen auch wirkliche Gefahren für den Körper und die geistige Gesundheit, wenn junge Menschen entweder im Unmaße dem Genuss frönten und sich jedes Vergnügen gönnten, obwohl sie eigentlich Askese üben wollten, oder aber sich zu Tode kasteiten in der Meinung, Gott habe an solchen Opfern Gefallen.54 Eine weitere Gefahr bei zu großem asketischem Eifer liege darin, plötzlich gar nicht mehr die Kraft für diesen anstrengenden Weg zu haben und in die alten oder in noch schlimmere Laster zurückzufallen.55 Dies konnte dazu führen, dass Asketinnen und Asketen mit schlimmsten Vorwürfen konfrontiert wurden, wie sie etwa in der Historia Lausiaca bei Palladius sichtbar werden.56 Gregor wehrte sich 52

Virg. 17 (GNO VIII,1, 314,2–10 C.). Virg. 22 (GNO VIII,1, 330,20–25; 331,5–8 C.): 3λλ’ πειδ πολλο π τ >τερον ε δος τς μετρίας κατολισθήσαντες δι τς περβαλλούσης κριβείας λαθον πεναντία σπουδάζοντες τ δί! σκοπ κα λλ! τρόπ! τ ν ψηλ ν τε κα θειοτέρων τν ψυχν ποστήσαντες ες ταπεινς φροντίδας κα σχολίας κατήγαγον πρ ς τ σωματικ παρατηρήματα τν διάνοιαν αυτ ν κλίναντες … μήτε δι πολυσαρκίας καταχωννύντας τ ν νον μηδ’ α6 πάλιν τας πεισάκτοις σθενείαις ξίτηλον ατ ν κα

ταπειν ν ποιεν κα περ τος σωματικος πόνους Uσχολημένον. 54 Virg. 23 (GNO VIII,1, 337,24–338,10 C.) Vgl. Auch Hieronymus beschreibt in einem seiner Briefe solche Gestalten. Vgl. Hieronymus, Brief an Demetrias, Ep. 130. Er warnte die Jungfrau davor, es mit dem Fasten so weit zu treiben, dass sie zittere vor Schwachheit, kaum noch atmen könne und gestützt oder gar getragen werden müsse, um an den Gebeten teilnehmen zu können, wie dies bei einigen Jungfrauen der Fall sei. Diese Warnungen in einem späten Brief von Hieronymus, sind vermutlich aufgrund exzessiver Erfahrungen entstanden, da er in jüngeren Jahren die Jungfrauen in seinem Bekanntenkreis anfeuerte, ihre Askese möglichst weit zu treiben, was bei der Tochter seiner guten Freundin Paula zum Tode geführt hatte. 55 Virg. 9; 23 (GNO VIII,1, 287,5–7; 340,25–341,2 C.). 56 Palladius, Historia Lausiaca 33. 53

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gegen die Tendenz, Asketinnen und Asketen aufgrund eines Fehlers zu verurteilen oder gar daraus den Schluss zu ziehen, sie seien schwächer als diejenigen, welche sich ihr ganzes Leben lang gar nie um eine gutes Leben in Mäßigung oder Askese bemüht hatten.57 Gregor zeigt dabei etwas von den unmenschlichen Ansprüchen auf, welche die Asketinnen und Asketen an sich und andere stellten und warnt davor, dass sie damit dem guten Leben eines Menschen und vor allem ihm oder ihr als Person eher schadeten als dienten.58 Ebenfalls unter Kritik kommen die Gemeinschaften, in denen Männer und Frauen geschwisterlich zusammenlebten.59 Gregor distanzierte sich deutlich von dem geschwisterlichen Zusammenleben von nicht verheirateten Männern und Frauen. Nur zu oft komme es zu Folgen, die zeigten, dass die vorgegebene Keuschheit nicht eingehalten werde; diese Leute würden aber durch ihr Verhalten auch diejenigen in Verruf bringen, die sich ernsthaft bemühten und ihren Idealen treu blieben. Die Kritik an dieser Form des Zusammenlebens war verbreitet, schon die Synoden von Ancyra und Nizäa kannten das Problem und Johannes Chrysostomus predigte ebenfalls gegen dieses Zusammenleben.60 Der Vorwurf, in diesen Gruppen würde nur behauptet, man lebe abstinent zusammen, ist schon älter und findet sich schon bei Irenäeus und Clemens von Alexandria.61 Daneben kritisierte Gregor solche, die nicht für ihren Unterhalt selbst aufkamen, solche, welche Visionen und Träume pflegten und darüber die Liebe und die Demut vernachlässigten und Asketen, die in fremde Häuser eindrangen oder lebten wie wilde Tiere.62 Viele dieser Punkte wurden später an den 57

Virg. 23 (GNO VIII,1, 341,10–18 C.) Die Synode von Ancyra (Can. 19) schrieb vor, dass Jungfrauen, welche ihr Gelübde brachen, behandelt werden sollten wie Frauen, die zweimal heirateten und entsprechend ein geringes Ansehen hatten. Noch strenger hatte es die Synode in Elvira etwas zuvor vorgeschrieben: Wer sein Gelübde brach, dem sollte nie mehr zur Kommunion zugelassen werden und wer nur ein einziges Mal dieses Gelübde brach und danach sein Leben in strenger Buße verbrachte, dem sollte auf dem Totenbett die Kommunion zugestanden werden. 58 Palladius erzählt in der Historia Lausiaca (33) von einer Nonne, welche aufgrund von Verdächtigungen und Gerüchten, welche gegen sie erhoben wurden, als sie zufällig einem Mann begegnete, Selbstmord beging. Ihr Schicksal teilte die Nonne, welche für die Gerüchte verantwortlich war und nun unter die Kritik ihrer Mitschwestern geriet. Vgl. auch CLOKE, Female Man, 71. 59 Virg. 23 (GNO VIII,1, 338,3–10 C.). 60 Can. 19 von Ancyra und Can. 3 von Nizäa; Jo. Chrys., Subintr. 1. 61 Iren., Haer. I,28,2 gegen die Karpokratianer; Clem., Str. III,2,5,1 auch hinsichtlich der Karpokratianer und der Anhänger von Epiphanes. 62 Aubineau erwähnt in seiner Einfühlung zum Traité de la virginité die erstaunlich guten Kenntnisse Gregors zum asketischen Leben und den damit auftretenden Problemen und nennt die von Gregor angesprochenen Problemfelder des asketischen Rigorismus verbunden mit der Ablehnung und Verachtung der Ehe (Virg. 7), des Abfalls vom ge-

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Messalianern kritisiert, sie konnten aber generell als Zeichen übersteigerter Askese gewertet werden, etwa bei Ephiphanius in seinem Panarion.63 Gregor sah Gefahren der Askese, die denen der Ehe durchaus gleichkommen konnten, vor allem, wenn die asketische Lebensweise in der Hitze der Jugend angegangen wurde.64 Gregor riet jungen Asketen daher, nicht ohne einen erfahrenen Mentor das Leben in Askese anzugehen. Dieser könne vor Exzessen warnen und durch sein Beispiel ermuntern, wenn sich der Weg als steinig erweisen sollte.65 Die Hitzigkeit der jungen Jahre sei allerdings eine schlechte Voraussetzung für das asketische Leben. Die Gefahren, entweder dem abgelegten Gelübde untreu zu werden oder aber mit zu viel Eifer die Askese zu betreiben, sind gemäß Gregor in den stürmischen jungen Jahren viel größer als in einem gewissen Alter, etwa nach einer Ehe und dem Aufzug von Kindern. Gregors Vorbehalte gegen jugendliche Asketen gipfelten darin, den Jugendlichen von einem asketischen Leben abzuraten. Es ist nicht förderlich, wenn sich Jugendliche diesen Lebensweg zur Aufgabe machen.66

Diese Äußerung kann dahingehend interpretiert werden, dass Gregor die Askese als Lebensform für die zweite Lebenshälfte sinnvoll erachtete, etwa nachdem der Partner oder die Partnerin verstorben war oder wie in der Deutung der Ehe von Isaak als geschwisterliches Zusammenleben nach der Zeugung der Kinder und dem Abflauen der größten Leidenschaft. Die Ehe ist jedoch, wenn sie maßvoll gelebt ist, die von Gott bestimmte naturgemäße Lebensweise der Menschen und ermöglicht die aktive Sorge wählten asketischen Lebens (Virg. 9), und die arbeitsscheuen Asketen (Virg. 23), die als Vorläufer der Messalianer bezeichnet werden, AUBINEAU, Traité, 59. Auch andere Kennzeichen in der Kritik von Kapitel 23 wie die Visionen wurden später den Messalianern zugeschrieben. K. FITSCHEN, Messalianismus und Antimessalianismus. Ein Beispiel ostkirchlicher Ketzergeschichte (FKDG 71), Göttingen 1998, 100f: „Gregors Ausführungen wirken stellenweise wie ein vorweggenommener Kommentar zum Bericht des Philoxenos über Adelphios [die Gründergestalt der Messalianer].“ Gemäß F ITSCHEN, ebd., 101, sind diese Kritikpunkte von Gregor aber noch nicht spezifisch antimessalianisch: „Sie werden nicht ausdrücklich gegen die Messalianer formuliert; sie bezeichnen nur Praktiken, die auch anderswo ihren Platz haben können als im Messalianismus.“ Fitschen zufolge bezog sich Gregors Kritik nicht auf eine einheitliche Gruppe und auf vormessalianische Erscheinungen, 102. 63 Epiphanius, Panarion 4,3. Vgl. dazu FITSCHEN, Messalianismus, 91. 64 Virg. 22f. 65 Virg. 23 (GNO VIII,1, 336,18–337,1 C.). 66 Virg. 23 (GNO VIII,1, 338,11–12 C.): Οκον λυσιτελ"ς ν ε+η μ νομοθετεν αυτος τος νέους τν το βίου τούτου δόν· In ähnlicher Weise hatte Aristoteles Vorbehalte dagegen geäußert, dass junge Menschen sich mit der Philosophie beschäftigten: Da sie sich vor allem von ihren Gefühlen leiten lassen würden, seien sie für eine philosophische Beschäftigung schlecht geeignet, vgl. Arist., EN I 1095a.

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für die Mitmenschen als Form des Gottesdienstes, der durch das Gebet vertieft wird. Gregor steht mit dieser Meinung in der Tradition von Clemens, der klar sagte, dass der Gnostiker sich nicht um die Aufgaben, welche die Ehe den Menschen stellt, drückt und das einsame Leben sucht: Ein Mann zeigt sich nicht darin als wahrhaftig, dass er ein einsames Leben wählt, sondern jener ist der siegreiche Mann, welcher sich angesichts von Heirat und Aufziehen von Kindern mit Voraussicht weder genussvoll noch mit Schmerz übt und durch die Sorge für den Haushalt und die Prüfungen, welche Kinder, Gattin, Sklaven und Besitz mit sich bringen, von seiner Liebe zu Gott ungetrennt bleibt. Derjenige aber, der keinen Haushalt hat, bleibt in Vielem ungeprüft. Daher ist derjenige, welcher sich nur um sich selbst und sein eigenes Wohlergehen kümmern muss, geringer als derjenige, welchen er in der Sorge um das Heil hinter sich lässt, der aber durch die Sorge für das Leben seines Hauses auf einfache Weise ein kleines Bild der wahren und heilbringenden Vorsehung ist.67

5.2.4. Spiritualisierung der Jungfräulichkeit Gregors Behandlung der Jungfräulichkeit zeigt seine Einstellung zu asketischen Bemühungen. Nach Gregor verdient die jungfräuliche Lebensweise das höchste Lob, indem sie die himmlische Existenz in ihrer Reinheit nachzuahmen erstrebt. Dabei ist die Betonung der Reinheit der Seele und der Ausrichtung auf Gott grundlegend. Dieses Ziel ist nicht allein bei einer asketischen Lebensweise erreichbar, allerdings ist es viel einfacher und wahrscheinlicher, es mit dieser Lebensweise zu erlangen. Denn wer ein eheliches oder sonst weltliches Leben führe, sei zu einem großen Teil mit weltlichen Problemen beschäftigt, welche das Herz sowohl erfreuten wie auch in Trauer versetzten, vor allem aber von Gott ablenkten. Die Vorzüge des jungfräulichen Lebens sah Gregor hauptsächlich darin, dass es eine Hilfe bei der Konzentration auf das Geistige und Ewige darstellt. Diese Hilfsfunktion asketischer Praktiken entspricht den Ausführungen zum Fasten in der ersten Rede über die Liebe zu den Armen, wo Gregor ebenfalls betonte, das körperliche Fasten sei ein Hilfsmittel zur 67 Clem., Str. VII,12,70,7f. (GCS Clemens 3, 51,5–14): κα τ ντι νρ οκ ν τ μονήρη πανελέσθαι δείκνυται βίον, λλ’ κενος «νδρας νικC»  γάμ! κα παιδοποιί1 κα τ- το ο+κου προνοί1 νηδόνως τε κα λυπήτως γγυμνασάμενος, μετ τς το ο+κου κηδεμονίας διάστατος τς το θεο γενόμενος γάπης, κα πάσης κατεξανιστάμενος πείρας τς δι τέκνων κα γυναικ ς οκετ ν τε κα κτημάτων προσφερομένης. τ δ" οίκ! τ πολλ ε ναι συμβέβηκεν πειράστ!. μόνου γον αυτο κηδόμενος %ττται πρ ς το πολειπομένου μ"ν κατ τν αυτο σωτηρίαν, περιττεύοντος δ" ν τ- κατ τ ν βίον οκονομί1, εκόνα τεχν ς σ