Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften [1 ed.] 9783428449484, 9783428049486

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Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften [1 ed.]
 9783428449484, 9783428049486

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Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung

Band 48

Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften Von

Lawrence M. Friedmann

Duncker & Humblot · Berlin

LAWRENCE M. FRIEDMAN

Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften

Schriftenreihe zur Rechtssoziologie und Rechtstatsachenforschung Herau8gegeben von Ern8t E. Hirsch und Manfred Rehbinder

Band 48

Das Rechtssystem im Blickfeld der Sozialwissenschaften

Von

Lawrence M. Friedman

DUNCKER

&

HUMBLOT

I

BERLIN

Die Originalausgabe "The Legal System. A Social Science Perspective" erschien 1975 bei Russell Sage Foundatibn, New Y()tk, N. Y./U.S.A. Alle Rechte der deutschen Ausgabe bei Duncker & Humblot, Berlin 41.

Alle Rechte vorbehalten & Humblot, Berl1n n Gedruckt 1981 bei Buchdruckerei A. Sayffaerth - E. L. Krohn, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3428 lK948 9

© 1981 Duncker

Vorwort zur deutschen Ausgabe Von allen Fächern, die an den bedeutenden Universitäten der Welt gelehrt werden, ist die Rechtswissenschaft vielleicht das beschränkteste. Medizin und Naturwissenschaften beanspruchen universelle Geltung; denselben Anspruch erheben die Sozialwissenschaften. Aber jedes Land hat sein eigenes Rechtssystem. Ein deutscher Mediziner oder Wirtschaftswissenschaftler könnte, sofern er die erforderlichen Sprachkenntnisse besitzt, ohne weiteres an einer Universität in Brasilien, Zambia oder gar Nepal lehren. Deutsches Recht hingegen wäre an den Rechtsfakultäten selbst so naher Länder wie England und Frankreich nur von begrenztem Interesse. Was macht das Recht so spezifisch? Zum Teil ist es ein Bestandteil der Kultur, hauptsächlich aber ein Bestandteil der Souveränität. Jede autonome Gemeinschaft kann ihr eigenes Rechtssystem schaffen und tut es auch. Andererseits ist das Recht ein wichtiger Faktor im Leben einer Gesellschaft. Deshalb gibt es im Bereich der Geisteswissenschaften auch einen Platz für das Studium des Rechts schlechthin, des Rechts als eines Teilaspektes der Gesellschaft, der Art und Weise, wie Menschen denken und handeln. In der Tat ist die Tradition, das Recht von außerhalb zu sehen, vom Standpunkt der Sozialwissenschaften aus, mindestens ein Jahrhundert alt. Es genügt, hier den Namen lVIax Weber zu nennen. Dieses Buch ist ein bescheidener Versuch, unser Verständnis des Rechts als soziales Phänomen zu fördern. Dies darf als gelungen gelten, wenn sich zeigt, daß das Buch nationale Grenzen überschreiten kann, ohne seinen Sinn zu verlieren. Aus diesem Grunde bin ich besonders glücklich., das Werk ins Deutsche übersetzt zu sehen, um so mehr als dies die Sprache Max Webers ist. Ich freue mich deshalb, dem deutschen Leser eine leicht gekürzte Fassung von The Legal System anbieten zu können. Ich bin vielen für Anregung und Hilfe zu Dank verpflichtet. Doch möchte ich an dieser Stelle meinen besonderen Dank' Herrn Professor

6

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dr. Manfred Rehbinder aussprechen, der für diese Ausgabe verantwortlich ist, sowie dem hingebungsvollen, fleißigen und kundigen Team*, das er zur übersetzung dieses Buches eingesetzt hatte. Stanford, California (USA), im Juni 1979 Lawrence M. Fdedman

• Beteiligt waren die Lizentiaten des Rechts Rudolf Ackeret, Susanne Bernaseoni-Aeppli, Angelika Bernhard, Urs Breiter, Otto Haus, Georges Huguenin, Marie-Louise Huguenin, Peter Köfer, Beat Schachenmann, Remo A. Schürmann, Regine Sträuli und Jürg Witmer. Gesamtredaktion: lie. iur. Harro Fehr.

Inhalt Kapitel I: Das Rechtssystem

11

Das Rechtssystem .. ... ... ... .... ... .. . . ... . .. ... ... .. .. ... .. . .. . .. . . . ..

16

Das Rechtssystem und seine Bestandteile ..............................

22

Die Funktionen des Rechtssystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

28

Recht als Zuteilungssystem ............................................

32

Kapitel II: aber Rechtsakte

38

tTber das Ermessen im Recht ..........................................

44

tTber Ermächtigungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

Die Hierarchie der Normen. .. ... . .. ... .. ... .. . .. . .. . .... .. . . .... ... ...

54

über die Realität der Normen ........................................

55

Kapitel III: aber die Wirkung des Rechts

59

Wirkung und Begriff der Absicht ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Das Messen der Wirkung ..............................................

65

Wirkung: Einige Voraussetzungen.. .. . ... . .. . . .. . .... .. ... . . .. .. .... . ..

69

Verhaltenstheorien ....................................................

76

Kapitel IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

81

Sanktionen ...........................................................

83

Prävention und Todesstrafe.. .. . . . .. . . . .. . . . .. . .. . .. . . . . . .. . .. . .. .... ..

87

Die Präventionskurve .................................................

88

8

Inhalt

Charakteristika der Drohung oder des Versprechens

90

Die Natur der Sanktionen ..........................................

90

Belohnung contra Strafe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

94

Die Wahrnehmung des Risikos ......................................

95

Der Zeitpunkt der Vollstreckung. .. . .. . . . . . . . . . .. . . . . .. .. . .. . . . .. . ..

97

Charakteristika der einer Sanktion unterworfenen Personen ...... '" .. ,

98

Die Anzahl der Subjekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

98

Die Persönlichkeit der Subjekte ....................................

98

Charakteristika des zu kontrollierenden Verhaltens

99

Schwierigkeit der Ermittlung und Vollstreckung

99

Die Nachfrage nach dem zu kontrollierenden Verhalten .............. 100 Techniken des Verhängens der Sanktion ................................ 104 über die Nicht-Verwirklichung der Gesetze: Der Entscheid, in die Rechtswirksamkeit zu investieren ........................ '" .............. 106 Die Technologie der Vollstreckung ..... " ........................ " ..... 110 Eine Bemerkung zu Stigma und Scham ................................ 112 Kapitel V: Wann ist Recht wirksam? (TeiL II)

117

Die Wirkung des Rechts: Peer Groups und Subkulturen ................ 117 Der dritte Faktor: Der Einfluß der inneren Stimme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 122 Legitimität und Kultur ................................................ 125 Legitimität und Befolgung ............................................ 127 übereinstimmende und gegensätzliche Faktoren ........................ 132 Das Recht als Lernprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 136 Der dritte Faktor und der Staat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137 Abweichung und Interaktion .......................................... 138 Der zivilrechtliche Aspekt .............................................. 145 Kapitel VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

149..

Die Quellen des Rechts im allgemeinen ................................ 156 Quellen des Rechts im besonderen ..................................... 161

Inhalt

9

Ein Interessenkatalog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 163 Die strukturelle Variable .............................................. 167 Die soziologische Rechtstheorie: Einige Fragen und Antworten .......... 171 Sind soziologische Theorien Tautologien? .............................. 173 Recht und öffentliche Meinung ........................................ 175

Kapitel VII: Recht, Macht und Sozialstruktur

179

Verhalten der Justiz .................................................. 181 Theorien der richterlichen Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 183 Recht und Klassenstruktur ....................................... . .... 189 Interesse und Gleichheit .............................................. 190 Reform und Reforminteressen in der heutigen Welt .................... 197

Kapitel VIII: Ober die RechtskuUur

202

Über kulturelle Besonderheit ............... , ... " ............. , ....... 203 Rechtliche Subkulturen und rechtlicher Pluralismus ........ . ........... 2Q5 Pluralismus von Status-Gruppen .................................. 207 "Zwei-Nationen"-Pluralismus ...................................... 207 über die Einteilung von Rechtssystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208 Die Kultur der Modernität ............................................ 213 Modernität im Recht und Modernität in der Gesellschaft: Ursache und Wirkung ....................................................... . .. 216 über nationale Rechtskultur: Mit spezieller Bezugnahme auf die USA und Großbritannien .................................................... 218 Aspekte der modernen Rechtskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 222 Pluralismus und die Modernisierung des Rechts ....... '" ... , .......... 227

Inhalt

10

Kapitel IX: aber die interne Rechtskultur

233

Über die subjektiven Rechte .......................................... 2'38 Über die rechtliche Begründung ........ '" ............................. 245 Positivismus .......................................................... 259 Rechtsfiktionen ....................................................... 262 Begründung mittels Analogie und stufenweise Fortentwicklung (incrementalism) ........................................................ 265 Auslegungsregeln

267

Sprache und Stil ...................................................... 271 Die Rechtssprache ..................................................... 273 Kapitel X: Sozialer Wandel und Rechtswandel

280

Der formale Rechtswandel mit sozialen Folgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 285 Sozialer Wandel mit rein rechtstechnischen Wirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . .. 286 Recht und bedeutender sozialer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 286 Rechtswandel im Großen: Theorien über die Evolution des Rechts ...... 290 Einige Probleme der Evolutionstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .296 Über die evolutionäre Entwicklung der Rechtsnormen .................. 300 Regel-Systeme

314

Kapitel I

Das Rechtssystem Thema dieses Buches ist das Rechtssystem. Bevor wir weitergehen, muß etwas über diesen Satz gesagt werden. Ein Rechtssystem ist keine Sache wie ein Stuhl, ein Pferd oder ein Buch; es ist auch kein exakt definierter Begriff in der sozialen Welt wie die Katholische Kirche oder die Kleinfamilie. Kurz, es gibt keine Definition, die von Wissenschaft und Öffentlichkeit allgemein akzeptiert wird. Tatsächlich gibt es zahlreiche Wege, um an das Recht oder das Rechtssystem heranzugehen. "Das Recht" bedeutet zunächst eine Reihe von geschriebenen oder ungeschriebenen Regeln oder Normen über richtiges und falsches Verhalten, über Pflichten und Rechte. Das ist die allgemein gebräuchliche Bedeutung des Begriffs Recht. So fragen wir uns z. B., ob uns das Recht die Möglichkeit gibt, in der Steuererklärung die Kosten für Mahlzeiten vom Einkommen abzuziehen, oder so stellen wir fest, daß es gegen das Recht verstößt, ein Stopsignal zu überfahren oder eine Bank auszurauben. In diesem Sinn gebrauchen oft auch Rechtsgelehrte den Begriff Recht. John Chipman Gray definierte das Recht als Regeln, welche die Gerichte zur Bestimmung von Rechten und Pflichten festlegen!. Es gibt viele ähnliche Definitionen. Obwohl Gray nur die Gerichte erwähnt, kann das Recht sowohl die Regeln als auch die Strukturen umfassen, die sie (auf dem Papier) schaffen oder anwenden. Die Schwierigkeit bei dieser Sicht des Rechtes liegt darin, daß sie dem Recht in gewisser Weise eine unabhängige, meta-soziale Existenz zuerkennt; sie übersieht leicht die Tatsache, daß Strukturen und Regeln sich auf dem Papier und im wirklichen Leben verschieden verhalten. Beinahe jedermann ist bereit anzuerkennen, daß das Recht in einem bestimmten Ausmaß ein Ergebnis des gesellschaftlichen Prozesses ist und daß das Recht in der Theorie und das Recht in der Praxis nicht immer dasselbe sind. Regeln und Strukturen allein sagen uns noch nicht, wie der Mechanismus wirklich arbeitet. Sie geben keinen Anhaltspunkt für die Unterscheidung von totem und lebendigem Recht. Sie sagen uns nicht, wie und warum Regeln gemacht werden und welche Wirkung sie auf das Leben der Rechtsunterworfenen haben. 1

John Chipman Gray: The Nature and Sources of the Law, 1909, S. 82.

12

Kap. I: Das Rechtssystem

"Das Recht" - im Sinne von Strukturen und Regeln - ist nur eine von drei Erscheinungsformen, die alle gleichermaßen real sind. Zunächst gibt es gesellschaftliche und rechtliche Kräfte, die in gewisser Weise das Recht prägen oder schaffen. Dann kommt "das Recht" selbst, d. h. die Regeln und Strukturen. Schließlich folgt die Wirkung des Rechts auf das Verhalten der Menschen nach außen. Woher das Recht kommt und was es erreicht, also die erste und dritte der erwähnten Erscheinungsformen, sind wesentlich für eine soziale Studie des Rechts. Die Rechtslehre hat seit jeher die erste Erscheinung, d. h. die inputSeite des Rechts, vernachlässigt. Diese Vernachlässigung wiegt gleich schwer wie die Auslassung von Nahrung, Wasser und Luft in der Untersuchung eines Organismus. üblicherweise wurden Prozeßparteien, pressure groups und soziale Hintergründe von der Rechtslehre kaum beachtet. Die Juristen betrachteten die Rechtsentwicklung aus interner Sicht. In der Diskussion, wie eine Gesetzesregel entstand, wurden äußere Einflüsse beiseite gelassen. Amerikanische und britische Juristen verhielten sich, als ob die Gerichte allein die ganze Sache erfunden hätten. Das führende Lehrbuch des Schadenersatzrechts in den Vereinigten Staaten stellt kurz und bündig fest, "das Produktehaftpflichtrecht begann mit dem Fall Winterbottom gegen Wrigth (ein englischer Fall aus dem Jahr 1842)"; die Gerichte hätten daraufhin die allgemeine Regel dieses Falles beschnitten, bis schließlich im Jahr 1916 das Problem in die Hände von Richter Cardozo gefallen sei, welcher den Nebel gelichtet hätte und im berühmten Fall MacPherson gegen Buick Motor Co. ein Urteil erließ, welches von anderen Gerichten sogleich übernommen worden sei2 • Was an diesen Sätzen sofort auffällt - und dies ist typisch - ist die Tatsache, daß der soziale Hintergrund kaum erwähnt wird. Alles wird den Richtern zugeschrieben. Jedes Lob und jeder Tadel trifft sie 3 • Rechtsgrundsätze stammen jedoch nicht aus der dünnen Luft. Nicht geistige Debatten machen das Fallrecht aus; Fälle sind Kontroversen und setzen Konfliktsituationen voraus, aber auch Personen und Gruppen, die Schritte unternehmen, um ein rechtliches Verfahren in Gang zu setzen. Heute bauen Gerichte und Gesetzgeber in den Vereinigten Staaten ein ganzes Gerüst des Umweltschutzrechts auf. Noch 1950 hat 2 MacPherson v. Buick Motor Co., 217 N. Y.382, 111 N. E. 1050 (1916). William L. Prosser: Handbook of the Law of Torts, 4. Auflage, 1971, S. 641 - 643. 3 Nur gelegentlich finden auch Rechtsanwälte Erwähnung, die etwa die richterliche Entscheidung beeinfiußt haben. Vgl. z. B. Benjamin Twiss: Lawyers and the Constitution, 1942, der die Anwälte für die "Laissez-faireDoktrin" des 19. Jahrhunderts verantwortlich macht. In der Literatur des kontinentalen Rechtskreises buchen die Rechtsgelehrten einige der Verdienste, die im common-law-Rechtskreis den Richtern zugeschrieben werden, auf ihr eigenes Konto.

Das Rechtssystem

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kein Mensch davon gesprochen. Die Änderung wäre undenkbar ohne eine Massenbewegung, die Ansprüche an das Recht stellt. Die Gerichte hätten dieses rechtliche Gerüst nicht von sich aus erfinden können. Desgleichen hat seit 1950 das Problem der Pornographie die Gerichte ständig beschäftigt: Was darunter fällt, in wie weit sie von der Regierung kontrolliert und in welcher Form sie in Filmen, Theaterstücken und Büchern zugelassen werden kann. Gehört die Pornographie zur freien Meinungsäußerung, welche den Schutz des Ersten Amendments der amerikanischen Verfassung genießt? Das Erste Amendment ist gegen Ende des 18. Jahrhunderts in die Verfassung aufgenommen worden; seither hat sein sprachlicher Gehalt nicht geändert. Dennoch war die Pornographie während Generationen keine Streitfrage. Die Sexliteratur wurde unter dem Ladentisch gehandelt. Der Supreme Court hat sich erst 1957 im Fall Roth gegen die Vereinigten Staaten abschließend dazu geäußert4 • Warum ist die Frage in jenem Jahr zur Entscheidung gekommen? Die Streitfrage in rechtlichem Sinn gab es schon lange, den Begriff der Pornographie und die pornographischen Bücher ebenfalls, auch den Wortlaut des Ersten Amendments. Die gesellschaftlichen Maßstäbe haben sich indessen irgendwie verändert. Die viktorianische Moral verlor an Boden, die Pornographie erwies sich als einträglich; einige Leute verlangten Legitimation. Der Druck führte zu Aktion und Reaktion, ohne welche dieses Pornographierecht nie zustandegekommen wäre. Was für die Pornographie gilt, gilt wahrscheinlich auch für alle anderen rechtlichen Entwicklungen. Es wäre zweifellos möglich, ein Buch über die Rechtsgeschichte zu schreiben, in welchem rechtliche Institute keine Rolle spielten. Ein solches Buch würde Prozeßparteien, gesellschaftliche Bewegungen und pressure groups und nicht Richter und Gerichte behandeln. Diese Betrachtungsweise mag für manche seltsam oder sogar lächerlich erscheinen. Dennoch könnte sie ein wahreres Bild des Rechts aufzeichnen als die zahlreichen Bücher, die auslassen, was in diesem Buch behandelt würde. Die Rechtslehre hat die outputs des Rechtssystems nicht so sehr vernachlässigt wie die inputs. Regeln und Entscheide sind outputs, die im größten Teil der Rechtsliteratur behandelt werden. Die dritte Erscheinung indessen, nämlich die Wirkung des outputs auf die Außenwelt, wird gemeinhin übersehen, vorausgesetzt oder nicht beachtet. Die wachsende Literatur über das Verhältnis zwischen Recht und Gesellschaft versucht, diese Lücke auszufüllen. Der größte Teil dieses , 354 U.S. 476 (1957). Das Urteil hielt im wesentlichen fest, daß die Pornographie keinen verfassungsrechtlichen Schutz genieße, ein Gegenstand aber erst dann als pornographisch gelte, wenn er "gänzlich ohne ausgleichenden sozialen Wert" sei.

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Kap. I: Das Rechtssystem

Buches ist ein Versuch zusammenzufassen, was wir über die Auswirkung des Rechts auf die Gesellschaft wissen oder vermuten können. Die Grundthese dieses Buches dreht sich um wenige einfache Behauptungen, die eng miteinander verbunden sind. Die erste ist eine Behauptung über das Rechtsverhalten, d. h. über die Wirkung von Regeln, Erlassen und Befehlen auf das Verhalten. Die Behauptung geht dahin, daß diese Wirkung von drei Gruppen von Faktoren bestimmt wird, nämlich von Sanktionen, von gesellschaftlichem Einfluß (peer group) und von inneren Wertvorstellungen (Gewissen, Legitimitätsvorstellungen usw.). Die Rechtsunterworfenen reagieren jedoch nicht nur, sondern sie beeinflussen sich auch gegenseitig. D. h. sie setzen ihre Gefühle, Haltungen, Beweggründe und Neigungen um in Gruppenaktionen, Feilschen, Versuche, das Recht zu beeinflussen, und vielleicht sogar in Bemühungen, die Rechtsanwendung zu biegen oder zu korrumpieren. Diese wechselseitige Beeinflussung ist Bestandteil des Kräftefeldes, welches gleichzeitig und in erster Linie die Schaffung von Normen, Regeln und Befehlen betreibt, also die Schaffung dessen, was wir hier als Rechtsakte bezeichnen werden. Diese Kräfte sind gesellschaftliche Kräfte. Ihnen liegen Interessen zugrunde; Individuen und Gruppen, die Interessen haben, wenden sich jedoch nicht notwendigerweise an rechtliche Institutionen, um ihre Wünsche zu befriedigen. Ein Interesse (ein subjektiv empfundenes Bedürfnis oder ein Wunsch) ist daher nicht dasselbe wie eine Forderung an das Rechtssystem. Einer Forderung liegt eine Annahme oder ein Verlangen zugrunde, daß ein bestehendes Interesse in irgendeiner Weise durchgesetzt werden könnte oder sollte. Jemand mag das Gefühl haben, er brauche mehr Geld für seine Arbeit und habe es auch verdient. Das bedeutet aber noCh nicht unbedingt, daß er jenes Interesse in eine Forderung nach mehr Geld gegenüber seinem Vorgesetzten oder gegenüber dem Staat umsetzt (z. B. indem er sich für höhere Minimallöhne einsetzt). Demgemäß erzeugen Haltungen und Gefühle, die Forderungen auf individueller oder auf Gruppenebene hervorrufen, den Drang, neues Recht zu schaffen oder bestehendes Recht zu erhalten. Die grundlegende Behauptung bezüglich der Natur des Rechtssystems geht dahin, daß diese Forderungen den Inhalt des Rechtssystems bestimmen. Das bedeutet, daß das Recht keine starke, unabhängige Kraft ist, sondern auf äußeren Druck reagiert, indem es die Wünsche und Einflußmöglichkeiten jener gesellschaftlichen Kräfte widerspiegelt, welche den Druck ausüben. So wie das Rechtsverhalten auf einer Mischung aus persönlichem Interesse (Reaktion auf Sanktionen) und sozialen und moralischen Motiven basiert, so stammt auch der tatsächliche Einfluß von Personen und Gruppen aus persönlichem Interesse, kontrolliert von jenen Kulturfaktoren,

Das Rechtssystem

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die bestimmen, welche Interessen in Forderungen umgesetzt werden und welche nicht. Der erste Teil dieses Buches wird sich im einzelnen mit der Wirkung von Rechtsakten befassen. Wir gebrauchen den Begriff Rechtsakt als zweckdienlichen Sammelbegriff für jedes relevante Verhalten einer mit Hoheitsbefugnissen ausgestatteten Person, die innerhalb des Rechtssystems handelt, d. h. Richter, Anwälte, Gesetzgeber und Beamte aller Art. Wenn der Kongreß ein Gesetz verabschiedet, nimmt er einen Rechtsakt vor. Dasselbe gilt für einen Richter, der ein Urteil fällt, oder für einen Polizeibeamten, der einen Bußenzettel ausstellt. Jeden Tag produziert das Rechtssystem Hunderte von Rechtsakten, die dann an die Glieder der Gesellschaft weitergegeben werden. Ist die Botschaft einmal weitergegeben, so ändern die Leute als Reaktion auf den Rechtsakt ihr Verhalten, oder sie ändern es aus dem einen oder anderen Grund nicht. Wir wollen alle Arten dieser Reaktion als Rechtsverhalten bezeichnen. Das Rechtsverhalten kann eine direkte Antwort auf den Rechtsakt sein (z. B. wenn ein Polizist "Halt" ruft und der bewaffnete Räuber stehen bleibt; bleibt er nicht stehen, darf der Polizist schießen). Rechtsverhalten kann aber auch eine verspätete Reaktion oder eine unbestimmte Antwort auf viele Rechtsakte sein. Ein solches Rechtsverhalten liegt etwa vor, wenn jemand einen Anwalt bezüglich einer Scheidung konsultiert, oder wenn ein Streitfall außergerichtlich erledigt wird. Das zweite Kapitel wird die verschiedenen Typen von Rechtsakten klassifizieren und diskutieren, insbesondere die Regeln. Anschließend werden wir analysieren, unter welchen Bedingungen Rechtsakte Auswirkungen auf die Adressaten haben (Kapitel III und IV). Dieser Teil des Buches wird sich demnach mit den Wirkungen von Rechtsakten auf das Verhalten, d. h. auf das gesellschaftliche Leben, beschäftigen. Da aber die grundlegende Behauptung dieses Buches dahin geht, daß die Rechtsakte selbst Produkt gesellschaftlicher Kräfte sind, wird diese Behauptung in einem weiteren Teil des Buches näher untersucht und entwickelt. Natürlich ist es zu simpel, einfach zu behaupten, daß gesellschaftliche Kräfte die Rechtsakte "produzieren". Einzelpersonen und Gruppen haben wirkliche, konkrete Interessen und Bedürfnisse, die aber nur zum Teil in Forderungen an das Rechtssystem umgesetzt werden. Ein hungriger Mensch hat wirkliche Interessen und Bedürfnisse, aber wenn er einfach still leidet und keine Forderungen stellt, so können ihn die rechtlichen Institutionen ignorieren, und sie werden es wahrscheinlich auch tun. Kultur und Ideologien sind wichtige intervenierende Variablen, die bestimmen können, wann Interessen in Forderungen umgesetzt werden. Ein weiteres Kapitel wird deshalb die Rechtskultur be-

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Kap. I: Das Rechtssystem

handeln (insbesondere das Rechtsbewußtsein) und dabei auch die rechtliche Argumentation und Ausdrucksweise in Betracht ziehen. Das letzte Kapitel wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen Recht und gesellschaftlichem Wandel aufgreifen und insbesondere langfristige Entwicklungen untersuchen.

Das Recbtssystem Thema dieses Buches ist also nicht "das Recht", sondern das Rechtssystem. Ein System ist im wesentlichen eine wirkende Einheit mit definierten Grenzen. Es gibt mechanische, organische oder soziale Systeme: Der menschliche Körper, ein Spielautomat oder die Katholische Kirche sind Systeme. David Easton definierte das politische System als eine Reihe von Interaktionen innerhalb bestimmter Grenzen, eingebettet in und umgeben von anderen sozialen Systemen, deren Einfluß es ständig ausgesetzt ist5 • Diese eher schwerfällige Definition führt einige grundlegende Begriffe ein. Das politische System ist eine "Reihe von Interaktionen", es ist mit anderen Worten ein soziales System, keine Struktur und keine Maschine, sondern ein Verhalten, das mit anderem Verhalten in Beziehung steht. Das System hat im weiteren Grenzen; das bedeutet, daß ein sorgfältiger Beobachter erkennen kann, wo es anfängt und endet. Er kann es von anderen Systemen unterscheiden. Jede Reihe von Interaktionen kann als System bezeichnet werden, wenn ein Beobachter sie als solches beschreiben kann, indem er tatsächliche Grenzen findet oder diese definiert. Welches sind aber die Grenzen des Rechtssystems? Können wir das Rechtssystem von anderen sozialen Systemen unterscheiden? Können wir also feststellen, wo es anfängt und wo es endet? Da das Rechtssystem offensichtlich mit Recht zu tun hat, müssen wir, um ein Rechtssystem zu definieren, zunächst eine vorläufige Definition des Rechts haben. RechtsphilosophenG und Sozialwissenschaftler7 haben gleichermaßen unzählige Definitionsversuche unternommen. Indessen lassen sich die Definitionen des Rechts, so zahlreich sie sind, in wenige natürliche Gruppen fassen, die verschiedene Betrachtungsweisen des Rechts und 5 David Easton: A Framework for Political Analysis, 1965, S. 25; Dallin H. Oaks und Warren Lehman: A Criminal Justice System and the Indigent, 1968, S. 179 - 188, wenden die Sprache der Systemanalyse im Bereich des Strafrechts an. Vgl. auch Sheldon Goldman und Thomas P. Jahnige: Eastonian Systems Analysis and Legal Research, 2 Rutgers-Camden L. Rev. 285 (1970). 8 Vgl. dazu Julius Stone: Legal System and Lawyers' Reasonings, 1964, S. 165 ff. 7 Vgl. etwa Leopold Pospisil: Anthropology of Law, A Comparative Theory, 1971, S. 11 - 96; Jack P. Gibbs: Definitions of Law and Empirical Questions, 2 Law and Society Rev. 429 (1968).

Das Rechtssystem

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verschiedene Zielsetzungen in der Beschreibung des Rechts reflektieren. Die erste Hauptgruppe geht von einem institutionellen Ansatz aus. In zahlreichen Gesellschaften gibt es Personen und Institutionen, die nach allgemein anerkannter Betrachtungsweise einen Teil des Rechtssystems bilden. Man kann um diese Berufsgattungen und Institutionen eine Definition errichten. Danach würde das Rechtssystem von der relevanten Arbeit der Anwälte, Richter, Polizisten, Gesetzgeber, Verwaltungsbeamten, Notare usw. bestimmt8 • Wenn das Recht das ist, was Anwälte und rechtliche Institutionen tun, dann ist eine Gesellschaft ohne Anwälte oder andere juristische Berufsstände und ohne rechtliche Institutionen eine Gesellschaft ohne Recht. Zahlreiche einfache Gesellschaften kennen tatsächlich keine Anwälte oder spezielle rechtliche Institutionen. In zahlreichen Subsystemen komplexerer Gesellschaften, z. B. Schulen, Fabriken oder Vereinen, würde es nach dieser Definition ebenfalls kein Recht geben. Institutionen und Berufsstände eignen sich auch schlecht für interkulturelle Vergleiche. Anwälte haben verschiedene Aufgaben in verschiedenen Gesellschaften. Gerichte existieren in manchen Ländern, aber was genau ist ein Gericht? Der interkulturelle Vergleich ist für die Anthropologen ein besonderes Problem. Hoebel schließt z. B. die Gerichte in seine Definition des Rechts ein. Um jedoch das Recht auch in einfachen Gesellschaften zu finden, dehnt er den Begriff des Gerichts beinahe bis zur Unkenntlichkeit aus. So haben etwa die Eskimos keine augenfälligen Gerichte. Wenn ein Mörder die Sicherheit der Gemeinschaft bedroht, kann ein "um das Gemeinwohl besorgter Mann" sich entschließen zu handeln. Er wird alle männlichen Erwachsenen der Gemeinschaft einzeln befragen. Wenn diese Männer übereinstimmend finden, daß der Mörder sterben soll, wird der "um das Gemeinwohl besorgte Mann" hingehen und ihn töten. Die Angehörigen des Mörders dürfen keine Rache nehmen, weil ein "Gericht" der Gemeinschaft gesprochen hat. Nach Hoebel ist eine soziale Norm dann rechtlich, wenn ihre Vernachlässigung oder Verletzung regelmäßig - sei es angedroht oder tatsächlich geübt durch Anwendung von physischer Gewalt von einem Indiv,i duum oder einer Gruppe geahndet wird, welche das gesellschaftlich anerkannte Vorrecht dazu habenD. Dadurch wird der Begriff des Gerichts oder der Institution bis zum äußersten gedehnt. 8 Das Attribut relevant ist natürlich eine notwendige Qualifikation; wie Jerome Skolnick ausführt, machen z. B. Anwälte zahlreiche Dinge - sie essen, schlafen, gehen ins Theater, lesen, schreiben, sprechen, lieben. Die Rechtssoziologie ist jedoch nur daran interessiert, was sie in ihrer beruflichen Eigenschaft tun. Jerome Skolnick: Social Research on Legality: A Reply to Auerbach, 1 Law and Society Rev. 105 - 107 (1966). 9 E. Adamson Hoebel: The Law of Primitive Man, A Study in Comparative Legal Dynamics, 1954, S. 28.

2 Friedman

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Kap. I: Das Rechtssystem

Institutionelle Definitionen des Rechts suchen typischerweise die Natur des Rechts in dessen öffentlichem Charakter; das Recht wird eng verbunden mit der Staatstätigkeit. Donald Black definierte vor kurzem das Recht als staatliche soziale Kontrolle, die jeden Akt einer politischen Behörde umfaßt, welcher die Festlegung oder Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung betrifft lO • Eine Reihe von Definitionen sagen ausdrücklich - oder implizieren zumindest -, daß der Staat die Quelle oder das entscheidende Merkmal des Rechts darstellt. Der Rechtsphilosoph John Austin definierte das Recht als den Befehl des Souveräns l1 • Es bestehen erhebliche Meinungsverschiedenheiten darüber, was einen Staat, eine Regierung oder die Gerichte ausmacht. Die Streitfrage dreht sich teilweise darum, ob Recht Allgemeingültigkeit besitze oder nicht. Staaten, Regierungen oder Gerichte sind nicht universell; hingegen gibt es, wie Leopold Pospisil darlegt, überall Autorität und Autoritätsstrukturen. Deshalb kann man sogar im Falle des Nichtbestehens eines Staates Recht als universell betrachten 12 • Nach Pospisil sind Normen dann rechtlicher Natur, wenn sie Sanktionen androhen. Dieses Element ist auch in Hoebels Definition enthalten. Und Max Weber definierte das Recht an einer berühmten Stelle als Ordnung, äußerlich garantiert durch die Chance des Eintritts von psychischem oder physischem Zwang eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen13 • Andere Definitionen setzen, wie wir bereits erwähnt haben, Recht gleich mit einer Sammlung von Regeln. Offensichtlich ist in einem System von heiligem Recht "das Recht" ein Gerüst von heiligen Normen und nichts mehr. Andere Autoren betrachten das Recht als Nor10 Donald Black: The Boundaries of Legal Sociology, 81 Yale L.J. 1086 - 1096 (1972). 11 John Austin: The Province of Jurisprudence Determined, Erstauflage 1832 (Neuauflage 1954). 12 Leopold Pospisil: Anthropology of Law, A Comparative Theory, 1971, Kap. In. 13 Max Weber: Rechtssoziologie, hrsg. von J. Winckelmann, 2. Auflage, 1967, S. 71. Für Henri Levy-Bruhl schließt Recht das Element der Verpflichtung ein. Es gibt keine Verpflichtung ohne Sanktion. Das bedeutet, man kann Recht als ein System von Sanktionen definieren. Henri Uvy-Bruhl: Sociologie du droit, 19tH, S. 21 - 23. In der Rechtsliteratur herrscht Meinungsverschiedenheit darüber, ob eine Norm dieses "Kainsmal" - die Androhung einer Sanktion - tragen muß, um als "rechtlich" qualifiziert zu werden. Wie Jack Gibbs betonte, kann diese Frage, die im Grunde eine reine Definitionsfrage ist, leicht mit der viel komplizierteren Frage verwechselt werden, wodurch Leute motiviert werden, eine bestimmte Regel zu befolgen oder nicht zu befolgen. Jack P. Gibbs: Definitions of Law and Empirical Questions, 2 Law and Society Rev. 429 (1968). Sanktionen können positiv oder negativ sein. Eine Norm oder eine Regel, die eine Subvention verspricht, enthält ebenfalls eine Sanktion. Vgl. dazu Kap. IV.

Das Rechtssystem

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men und Regeln von nicht notwendigerweise offiziellem Charakter. Sie betonen die Gewohnheit, d. h. tatsächliche Verhaltensmuster, als Grundlage des Rechts. Eugen Ehrlich prägte den Begriff des lebendigen Rechts, um tatsächliche Verhaltensmuster einer Gemeinschaft zu beschreiben14 • Bronislaw Malinowski erkannte das Recht in Verhaltensmustern, die durch "Reziprozität" durchgesetzt werden 15 • Diese Definitionen vermeiden zumeist eine enge begriffliche Bindung des Rechts mit der Regierung oder dem Staat. Dasselbe gilt für Definitionen, die das Recht von seinen Funktionen her beschreiben. Eine solche Funktion ist z. B. die Streitschlichtung. Man kann jede Institution, die Streit schlichtet, eine rechtliche nennen. Oder man kann jeden Aspekt einer Gesellschaft und jede Institution als rechtlich bezeichnen, die soziale Kontrolle ausüben. Funktionelle Definitionen sind nützlich beim Vergleich von Rechtskulturen 1ß • Institutionen, die verschiedene Namen tragen, können dieselbe Funktion ausüben; andererseits können gleichbenannte Institutionen oder Rollen in verschiedenen Gesellschaften funktionell sehr verschieden sein. Elisabeth I. und Elisabeth II. waren beide Königinnen von England und nominelle Staatsoberhäupter, aber ihre Funktionen liegen Lichtjahre auseinander. Jede Gruppe, jede Organisation oder jedes System, staatlich oder nichtstaatlich, kann rechtliche Funktionen ausüben. Wenn man, wie Talcott Parsons, das Recht als allgemeinen normativen Kodex betrachtet, der integrative Funktionen ausübt17 , kann man auch von "privaten" Rechtssystemen 18 oder vom Recht eines Vereins oder einer Schule sprechen und damit die Art und Weise meinen, in welcher Vereine oder Schulen Regeln aufstellen und anwenden, Streitigkeiten schlichten oder allgemein sich "integrieren". Regeln und Verfahren in einer Schule mögen keinen offiziellen (staatlichen) Charakter haben, aber in ihrer Funktion, ihrem Zweck oder der Art und Weise, wie die Leute von ihnen Gebrauch machen, sind sie gleich wie staatliche Regeln. Man kann sogar vom Recht eines Einkaufszentrums sprechen (einer "GeU Eugen Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913. Leon Petrazycki sprach vom intuitiven Recht, d. h. von Rechtsverhalten, welches auf allgemeinen Vorstellungen von Richtig und Falsch beruht und nicht auf der Kenntnis eines speziellen Gesetzes oder einer Regel. Ein großer Teil des intuitiven Rechts ist inoffiziell, aber nicht alles. Vgl. Nicholas S. Timasheff: Einführung zu: Law and Morality: Leon Petrazycki, 1955, S. XXVII, XXIX. 15 Bronislaw Malinowski: Crime and Custom in Savage Society, 1926. 16 über die Bedeutung der Funktionalität bei der Rechtsvergleichung vgl. Konrad Zweigert und Hein Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung, 1971, Bd. 1, S. 28 - 32. 11 Talcott Parsons: The System of Modem Societies, 1971, S. 18. 18 William M. Evan: Public and Private Legal Systems, in: William M. Evan (Hrsg.): Law and Sociology, 1962, S. 165.

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meinschaft von Grundeigentümern und Ladenbesitzern") und beschreiben, wie es funktioniert 19 • Der Nachteil der funktionellen Definitionen ist gleichzeitig auch ihr Vorteil: Sie sind äußerst breit. Wer übt in den Vereinigten Staaten die Funktion der "Streitschlichtung" aus? Die Gerichte natürlich, aber auch die Polizisten, die eine Keilerei in einer Bar auflösen, der Gesetzgeber, der Konflikte zwischen Gruppeninteressen löst, Dutzende von Regierungsstellen, wie z. B. der National Labor Relations Board, aber auch Nachbarn, Lehrer, Schiedsrichter, Eheberater, Anwälte in ihren Kanzleien, Pfarrer und Psychiater, ohne von den Familienoberhäuptern und, in anderen Gesellschaften, Sippenoberhäuptern zu sprechen. Welche von ihnen wollen wir, wenn überhaupt, vom Begriff des Rechtssystems ausschließen? Ein Elternteil, der den Streit zwischen zwei Kindern über eine Eistüte, ein Malbuch oder einen Ball schlichtet, ist nicht Bestandteil des Rechtssystems. Dies nicht deshalb, weil seine Tätigkeit von Natur aus "unrechtlich" wäre, sondern weil die Subsumption dieser Tätigkeit unter das Recht das Rechtssystem jeglicher sinnvoller Grenzen berauben würde. Für gewisse Zwecke mag eine so breite Sicht des Rechts nützlich sein, z. B. wenn das Hauptinteresse auf die Sozialpsychologie der Streitschlichtung gerichtet ist, wo sie auch immer vorkommt. Normalerweise wollen wir uns jedoch auf Erscheinungen beschränken, die in einem konventionelleren Sinne "rechtlich" sind20 • Eine letzte Kategorie von Definitionen betrachtet das Recht nicht als Funktion oder Funktionen, auch nicht als Institutionen oder Regeln, sondern vielmehr als eine besondere Art von Verfahren oder Ordnung. Lon Fuller definiert das Recht als das Unternehmen, menschliches Verhalten der Herrschaft der Regeln zu unterwerfen 21 • Philip Selznick stimmt dem zu und definiert die Herrschaft der Regeln als Kurzformel für ein Ordnungssystem, welches spezialisierte Mechanismen enthält, um Regeln autoritativen Charakter zu attestieren und um die Schaffung und Anwendung von Regeln vor dem Eindringen anderer Formen von Führung und Kontrolle abzusichern 22 • Sein besonderes Interesse gilt einem Verfahrenskonzept, das er Legalität nennt. Legalität, als Gegenstand von besonderem Interesse für den ernsthaften Erforscher 19 Spencer MacCallum: Dispute Settlement in an American Supermarket, a Preliminary View, in: Paul Bohannan (Hrsg.): Law and Warfare, Studies in the Anthropology of Conflict, 1967, S. 291 f. 20 Eine andere Frage ist es zu entscheiden, welches die Funktionen sind. In vielen Definitionen besteht die Tendenz, die Kontrolle oder negative Aspekte sogar bei der Streitschlichtung übermäßig zu betonen. Recht hat, besonders in modernen Gesellschaften, eine positive Funktion: Es schafft Gelegenheiten und fördert gewünschtes Verhalten. 21 Lon L. Fuller: The Morality of Law, 1964, S. 106. 22 Philip Selznick: Law, Society and Industrial Justice, 1969, S. 7.

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des Rechts, handelt hauptsächlich davon, wie politische Grundsätze und Regeln zustandekommen und angewendet werden, und gilt weniger der inhaltlichen Seite23. Legalität paßt eher zum verfassungsrechtlichen Begriff des due process (Verfahrensgarantie). Sie kann dazu dienen, die Herrschaft der Regeln in zahlreichen Lebensbereichen zu messen, z. B. in der Fabrik. Selznick ist nicht bereit, Recht und Staat gleichzusetzen; denn das hieße die Möglichkeit der soziologischen Analyse schmälern, weil der Begriff des Rechts zur Untersuchung jeder Situation nutzbar sein sollte, in welcher menschliches Verhalten ausdrücklicher Regelbildung unterworfen ist24 • Es gibt natürlich keine "wahre" Definition des Rechts. Definitionen hängen von Ziel oder Funktion desjenigen ab, der sie vornimmt. Selznicks Definition ist z. B. eindeutig normativ. Sie folgt aus seinem Interesse an der Gerechtigkeit in der modemen Gesellschaft, seinem Wunsch, die Rechtslehre auf andere Wege zu leiten. Definitionen, die Recht mit Regeln gleichsetzen, ermöglichen es der Rechtslehre, empirische Fragestellungen zu umgehen und die traditionelle juristische Denkweise zu rechtfertigen. In diesem Buch wollen wir untersuchen, in welchem Verhältnis rechtliche Institutionen zur Gesellschaft stehen. Wir wollen Techniken, Ergebnisse und Standpunkte der Sozialwissenschaften auf das rechtliche Verfahren anwenden. Zu diesem Zweck genügt eine grobe, eklektische Definition des Rechts. Die Hauptbetonung liegt auf dem Recht der entwickelten Industrienationen. In diesen Ländern gibt es soziale Subsysteme, die allgemein und eindeutig als Bestandteil des Rechts anerkannt werden. Dazu gehören die Gerichte, die Gesetzgebungsbehörden und die Strafverfolgungsorgane. Weniger allgemein, jedoch immer noch eindeutig, kann man die Arbeit von Verwaltungsinstanzen und die private Beratungstätigkeit von Anwälten dem Rechtsbereich zuordnen. Das "Rechtssystem" wäre nichts anderes als die Summe dieser Subsysteme. Man kann sich die ideale Definition als einen großen vollständigen Kreis vorstellen und die Subsysteme als Vierecke, jedes davon kleiner als der Kreis. Wenn wir genug Vierecke der richtigen Form und Größe zusammentragen, können wir ein kreisähnliches Gebilde schaffen. An einigen Stellen werden die Vierecke den Kreis nicht ganz ausfüllen, an anderen hingegen über den Kreisrand hinaus ragen. Geometrisch ist diese Figur grob und unvollständig, für unseren Gebrauch kommt sie aber dem Kreis nahe genug. Kurz, wir geben hier keine eigentliche Definition des Rechtssystems. Es gibt Subsysteme, die allgemein als Bestandteile des Rechtssystems 23 24

Ders., S. 11. Ders., S. 8.

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anerkannt sind. Ihnen ist gemeinsam, daß es sich um Systeme handelt, daß sie mit Normen und Regeln wirken und daß sie mit dem Staat verknüpft sind oder zumindest eine Autoritätsstruktur aufweisen, die dem Verhalten des Staates entspricht. Es ist ohne Belang, ob das, was ein Elternteil tut, um seine Kinder im Zaume zu halten, Teil des Rechtssystems ist, wenn das, was hier gesagt wird, auf diese kleine Welt mutatis mutandis übertragbar ist. Das Fehlen einer genauen Definition wäre wahrscheinlich ein schwerwiegender Mangel, wenn wir an eine spezifische Wissenschaft des Rechts glaubten. Recht ist indessen keine Wissenschaft, wenn "Wissenschaft" bedeutet, daß Rechtsgrundsätze experimentell verifiziert, induktiv hergeleitet oder voneinander abgeleitet werden können, wie in der Geometrie oder Biologie. Die Vorstellung einer "Rechtswissenschaft" ist besonders ausgeprägt von kontinentaleuropäischen Rechtsgelehrten bemüht worden25 • Wir sind der Meinung, daß es eine Wissenschaft über das Recht geben kann, jedoch keine Rechtswissenschaft. Wir verwenden die Begriffe Recht und Rechtssystem parallel zu Begriffen wie Geschäft, China oder Theater. Alle diese Begriffe können Gegenstand der Wissenschaft sein, wie man etwa von der Betriebspsychologie, der sozialen Anthropologie Chinas oder der Betriebswirtschaft des Theaters spricht, aber sie sind selbst keine Wissenschaften. Auch für uns ist das Recht, oder zumindest das Rechtssystem, Gegenstand der Sozialwissenschaft, aber keine unabhängige Sozialwissenschaft, ja überhaupt keine Wissenschaft.

Das Rechtssystem und seine Bestandteile Welchen Charakter man dem Rechtssystem auch immer zuschreibt, hat es Züge, die jedem System oder Prozeß eigen sind. Zunächst gibt es inputs, Rohmaterial, das am einen Ende des Systems eingegeben wird. So nimmt z. B. ein Gericht kein Verfahren auf, bevor nicht jemand eine Klage einreicht. Aber schon vorher diente ein konkretes Ereignis als Auslöser: Ein Polizist verhaftet jemanden, ein Landeigentümer schikaniert seinen Pächter, jemand wird von seinem Nachbarn verleumdet, durch ein fahrendes Auto verletzt, von seiner Frau verlassen. Äußerlich beginnt ein Gerichtsverfahren mit einem Stück: Papier, 25 Vgl. John H. Merryman: The Civil Law Tradition, 1969, S. 66: Das Konzept der Rechtswissenschaft geht von der Voraussetzung aus, daß die Materialien des Rechts (Gesetze, Verordnungen, gewohnheitsrechtliche Normen usw.) natürlich vorkommende Erscheinungen oder Daten sind, deren Studium dem Rechtswissenschaftler erlaubt, gewisse Grundsätze und Beziehungen abzuleiten, so wie der Naturwissenschaftler natürliche Gesetze aus dem Studium physikalischer Daten ableitet; vgl. auch Hans Kelsen: Reine Rechtslehre, 1934, Kap. 3.

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mit der Einreichung einer Klageschrift bei Gericht; ohne dieses Stück Papier ist in unserer Gesellschaft kein Gerichtsverfahren möglich. Der nächste Schritt besteht darin, daß das Gericht, dessen Angestellte und die Streitparteien beginnen, das eingereichte Material zu verarbeiten. Die Richter und Beamten tun etwas: Sie verarbeiten das Rohmaterial in systematischer Weise. Sie beraten, argumentieren, erlassen Verfügungen, ordnen die Akten und führen eine Gerichtsverhandlung durch. Die Streitparteien und die Anwälte spielen ebenfalls ihre Rolle. Schließlich produziert das Gericht einen output, ein Urteil oder einen Gerichtsbeschluß; gelegentlich stellt es gleichzeitig eine allgemeingültige Regel auf. Das Gericht kann zugunsten des Klägers oder des Beklagten entscheiden oder einen Vergleich schließen. In jedem Fall besteht das Resultat in einem output, selbst wenn das Gericht auf die Klage gar nicht eintritt. Dazu kommt, daß das Urteil entweder beachtet oder nicht beachtet werden, große oder geringe Wirkung haben kann. Informationen über die Wirkung fließen in das System zurück. Dieser Prozeß wird feedback genannt26 • In einem allgemeineren Sinn bedeutet feedback die Art und Weise, wie ein Produkt oder output eines Systems in das System zurückgelangt und auf dieses einwirkt. Eine Bürgerrechtsorganisation reicht Klage gegen einen Schulbezirk in den Südstaaten ein. Die Klägerin gewinnt den Prozeß. Andere Personen oder Gruppen erfahren davon und klagen ihrerseits gegen denselben oder einen anderen Schulbezirk oder bezüglich einer ähnlichen Frage. Andere Wirkungen erfolgen bei Gesetzgebern, Polizisten. Bürgermeistern und Chefbeamten. In einem weiten Sinn stellen die inputs eines Rechtssystems Stoßwellen von Forderungen dar, die sich in der Gesellschaft ausbreiten. In einem engeren Sinn sind die inputs Papiere und Verhaltensformen, die ein rechtliches Verfahren auslösen. In vielen Rechtssystemen können sich die Parteien nicht formlos an ein Gericht wenden. Sie müssen einen formellen Schritt unternehmen, z. B. eine Rechtsschrift von bestimmter Art einreichen. Heute spielen Verfahrensformen eine geringere Rolle im Recht, aber die daraus entwickelten Regeln sind immer noch von großer Bedeutung. Sie verteilen Macht (Jurisdiktion) auf die rechtlichen Institutionen. Sie regeln die Rolle der Parteien im Prozeß. Sie erzeugen oder vermindern die Abhängigkeit der Rechtsunkundigen von den Anwälten. Schließlich bestimmen sie auch den Zugang zum Recht und helfen damit, die Machtstruktur in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten oder Änderungen nur in anerkannten und gültigen Formen zu ermöglichen. Das Herz des Systems ist das Verfahren, in welchem es input in output umsetzt. Die Struktur des Rechtssystems ist wie ein gigantisches 26

Vgl. Easton (N. 5), S. 127 - 129.

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Computerprogramm, welches dafür eingerichtet ist, Millionen von Problemen zu behandeln, mit denen die Maschine täglich gespeist wird. Organisationsregeln, Gerichtsbarkeit und Verfahren sind Teil des Programms. Gleich bedeutsam sind die materiellen Rechtsnormen. Sie sind ein output des Systems, helfen aber gleichzeitig mit, zukünftigen output zu formen. Eine traditionelle Betrachtungsweise des Rechtssystems - speziell der Gerichte - wird von der Metapher einer riesigen hochprogrammierten Maschine abgeleitet. Sie betrachtet die Rechtsregeln als ein Rezeptbuch, welches alle, oder zumindest die meisten alltäglichen Situationen behandelt, mit denen das Recht zu tun hat. Diese Betrachtungsweise wird besonders dem späten 19. Jahrhundert zugeschrieben, existiert aber heute noch. Juristen waren der Auffassung, daß das Recht im Idealfall bestimmt, voraussehbar und nicht subjektiv, mit anderen Worten hochprogrammiert sein sollte. Alles andere galt als ungerecht. Diese Idealvorstellung erschien auch als nahezu erreichbar. Wenn ein Gesetz des Kongresses ... angefochten wird, sagte SupremeCourt-Richter Roberts, dann hat die judikative Gewalt im Staat nur eine Aufgabe, nämlich den angerufenen Verfassungsartikel neben den angefochtenen Gesetzestext zu legen und zu entscheiden, ob dieser sich mit jenem verträgt27 • Ein Richter, der dieses Rezept ehrlich befolgt und die beiden Texte nebeneinander legt, wird nach der mechanischen Rechtstheorie voraussichtlich nur eine richtige Antwort geben können. Bei der Herstellung von Plastikspielzeugen kann man genau voraussagen, was herauskommt, wenn man einmal die Maschine, die Rohmaterialien und das Programm der Maschine kennt. Natürlich stimmt dieses Bild nur schwerlich mit dem Rechtssystem überein. Es verkennt den Faktor der Wahl, die Rückschritte, Optionen und irrationalen Momente. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich der legal realism zu einer führenden Schule der amerikanischen Rechtslehre, faßte aber auch in anderen Ländern Fuß. Seine Hauptaussage bestand darin, daß man den output nicht einfach aus der Kenntnis von Struktur und Regel heraus prophezeien könne - zumindest nicht immer28 • Die legal realists vernachlässigten jedoch beinahe gleich wie ihre Vorgänger die input-Seite des Rechts: D. h. sie gingen davon aus, daß der Richter keine Maschine sei, sondern V.S. gegen Butler, 297 V.S. 1, 62 (1936). Einen allgemeinen Überblick gibt Wilfrid E. Rumble, Jr.: American Legal Realism, Skepticism, Reform, and the Judicial Process, 1968; Karl N. Llewellyn: Some Realism ab out Realism, 44 Harv. L. Rev. 1222 (1931), als grundlegender Aufsatz. Über Llewellyn selbst vgl. William Twining: Karl Llewellyn and the Realist Movement, 1973. In Deutschland kann die Freirechtsbewegung als ungefähr entsprechend betrachtet werden; vgl. Klaus Riebschläger: Die Freirechtsbewegung, 1968. 27

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eher wie ein Gott. Die Stoßrichtung ihrer Arbeit ging hauptsächlich dahin, dies zu betonen und den "Gott" zu ennahnen, sich sozialbewußter zu verhalten 29 • Wir können annehmen, daß der Richter weder Gott noch Maschine ist und auch die Struktur des Rechtssystems als Ganzes nicht. Die Grundfrage bleibt: was ist es? Welchen Unterschied macht die Struktur, welchen machen die im Rechtswesen beschäftigten Personen aus? Welche selbständige Rolle kommt dem System bei der Lenkung sozialer Kräfte und der Veränderung der Gesellschaft zu? Soziale Kräfte verwandeln sich in Forderungen, die am einen Ende des Systems einfließen; Entscheidungen und Regeln kommen am anderen Ende heraus. Welches ist das Gewicht der Black box in der Mitte? Wie arbeitet die Maschine und was tut sie? Handelt sie wie eine Membran, durch welche die Kräfte durchfließen, ohne ihre Form zu ändern? Wie wichtig und prägend ist die Tatsache, daß eine Gesellschaft ein Rechtssystem des Typs X, eine andere ein System des Typs Y hat? Welchen Unterschied macht es aus, ob ein System das Institut der Geschworenengerichte kennt oder nicht, ob seine Richter vom Volk gewählt oder von einer Behörde ernannt werden, und schließlich, ob ein föderalistisches System besteht, ob es Berufs- oder Laiengerichte gibt usw.? Diese Fragen betreffen die Rolle der strukturellen Variablen. Struktur ist, um es noch einmal zu betonen, ein grundlegendes und offensichtliches Element des Rechtssystems, die Substanz (die Regeln) ein anderes. Wenn ein Beobachter versucht, ein Rechtssystem in einem Querschnitt zu erfassen, wird er wahrscheinlich von diesen beiden Elementen sprechen. Die Struktur eines Systems ist sein skelettartiges Gerüst, seine feste Gestalt, der institutionelle Körper des Systems, die harten Knochen, innerhalb welcher sich der Verfahrensablauf abspielt. Wir beschreiben die Struktur eines Gerichtssystems, wenn wir von der Anzahl der Richter, der Gerichtsbarkeit, dem Instanzenzug, den Personen, die den verschiedenen Gerichten angehören, und deren Rolle sprechen. Die Substanz besteht aus materiellen Regeln und Regeln über die Verhaltensweisen der Institutionen. H. L. A. Hart ist denn auch der Meinung, daß das wesentliche Merkmal eines Rechtssystems dieser doppelte Regelkomplex ist. Ein Rechtssystem ist eine Einheit von "Primärregeln" und "Sekundärregeln". Primärregeln sind Verhaltensnormen, Sekundärregeln sind Normen über diese Normen, also darüber, ob die Verhaltensnormen gültig sind, wie sie zu vollstrecken sind usw. 30 • 29 Interessanterweise beruhen auch die neueren Versuche von Sozialwissenschaftlern herauszufinden, wie Richter "wirklich" entscheiden, hauptsächlich auf dem Studium der Persönlichkeit des Richters und seiner Wertvorstellungen und vernachlässigen den Druck der Streitparteien und außenstehender sozialer Kräfte, d. h. die input-Seite des Rechts. Vgl. Kapitel VII. 30 H. L. A. Hart: The Concept of Law, 1961, S. 91 f.

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Sowohl Primär- wie Sekundärregeln sind natürlich output eines Rechtssystems. Sie ermöglichen es, das Verhalten des Rechtssystems im Querschnitt zu beschreiben. Streitparteien verhalten sich auf der Basis der Substanz. Sie schafft Erwartungen, auf welche die Parteien reagieren. Die traditionelle Rechtslehre war gewiß vertraut mit der Struktur und den beiden Arten von Substanz. Und doch erscheint in dieser Rechtslehre vieles als kurzsichtig, zumindest für den Laien. Rechtsgelehrte schufen, sprachen von und argumentierten mit Strukturen und Regeln, indem sie deren tatsächliches Vorhandensein als selbstverständlich voraussetzten. Sie neigten dazu, den Unterschied zwischen dem zu verkennen, was die Worte auf dem Papier den Institutionen zu tun vorschrieben, und dem, was diese wirklich taten. In Wirklichkeit gibt es Regeln, die nicht oder falsch angewendet werden, und Strukturen, die gar nicht oder auf ungewohnte Weise vorschriftswidrig funktionieren. Strukturen und Regeln sind zwar wirkliche Bestandteile eines Rechtssystems, aber sie sind bestenfalls ein Entwurf oder Plan, keine funktionierende Maschine. Die Schwierigkeit lag darin, daß Struktur und Substanz in traditioneller Sicht statisch waren, wie eine unbewegliche Fotografie des Rechtssystems, ein lebloses und daher verzerrtes Bild. Es mangelte ihm an Bewegung wie an Wahrheit. Das Rechtssystem, einzig als formelle Struktur und Substanz gesehen, ist wie ein verzauberter Gerichtssaal, versteinert, unbeweglich, unter einem wunderlichen, ewigen Bann. Was dem Rechtssystem Leben und Wirklichkeit gibt, ist die gesellschaftliche Außenwelt. Das Rechtssystem ist nicht abgekapselt und isoliert; es hängt vollständig von äußeren inputs ab. Ohne Streitparteien gäbe es keine Gerichte, ohne Streitfragen und den Willen, sie gerichtlich abzuklären, keine Streitparteien. Diese sozialen Elemente wärmen die Eisschicht auf und setzen das System in Bewegung. Soziale Kräfte wirken ständig auf das Recht ein, zerstören hier, erneuern da, beleben und töten ab. Sie wählen aus, welche Teile des Rechts funktionieren und welche nicht, welche Ersatzlösungen, Umgehungsmöglichkeiten und Umwege sich eröffnen, welche Änderungen sich offen oder im Verborgenen vollziehen. Mangels eines besseren Begriffs können wir einige dieser Kräfte als Rechtskultur bezeichnen. Sie ist das Element der sozialen Haltungen und Werte. Der Begriff der "sozialen Kräfte" ist selbst eine Abstraktion; jedenfalls wirken solche Kräfte nicht direkt auf das Rechtssystem ein. Die Menschen in der Gesellschaft haben Bedürfnisse und stellen Forderungen, welche manchmal ein Rechtsverfahren zur Folge haben und manchmal nicht, je nach der Kultur. Ob eine Gewerkschaft streikt, eine Revolution auslöst, eine Klage einreicht, kollektiv verhandelt oder eine politische Partei gründet, hängt von vielen Faktoren ab. Die Wertvorstellungen und Haltun-

Das Rechtssystem und seine Bestandteile

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gen der Führer und Mitglieder gehören zu diesen Faktoren, da ihr Verhalten von ihrer Einschätzung abhängt, welche Option nützlich und richtig ist. Rechtskultur bezieht sich also auf jene Teile der allgemeinen Kultur - Sitten, Meinungen, Denk- und Handlungsweisen - , die soziale Kräfte zum Recht hin oder vom Recht weg und auf besondere Weise beeinflussen. Der Begriff beschreibt gewissermaßen Haltungen in bezug auf das Recht, etwa analog zum Begriff der politischen Kultur, die von Almond und Verba definiert wird als politisches System, wie es in den Kognitionen, Gefühlen und Bewertungen seiner Bevölkerung internalislert ist31 • Die Grundvorstellung besteht aus Werten und Haltungen, die, wenn sie in Forderungen umgesetzt sind, die Maschinerie des Rechtssystems in Bewegung setzen oder umgekehrt anhalten 32 • Ein Rechtssystem in Funktion ist ein komplexer Organismus, in welchem Struktur, Substanz und Kultur aufeinander einwirken. Um den Hintergrund und die Wirkung eines jeden Teils zu erklären, müssen viele Elemente des Systems berücksichtigt werden. Nehmen wir als Beispiel Vorkommen und Wirklichkeit der Ehescheidung. Sie hängt zunächst vom Recht ab. Die Scheidung ist ein Rechtsbegriff; es gibt Staaten, die sie überhaupt nicht zulassen. Einige Regeln über die Scheidung, wie z. B. die Beschränkung der Scheidungsgründe, lassen einen vor einer Scheidung zurückschrecken. Im weiteren hängt der Gebrauch des Instituts der Scheidung von der Struktur der Gerichte ab. Wenn nahegelegene Gerichte fehlen, die Gerichtskosten hoch sind oder das Gerichtsverfahren übertrieben kompliziert, wird die Anzahl der Scheidungen zurückgehen. Struktur und Substanz sind hier bleibende Merkmale, die langsam durch andauernde soziale Kräfte herausgeschält wurden. Sie verändern gegenwärtige Forderungen und sind ihrerseits das langfristige überbleibsel anderer sozialer Forderungen. Die Rechtskultur kann die Scheidungsrate ebenfalls beeinflussen. So wird beim Entschluß, eine formelle Scheidung anzustreben, auch die Ansicht darüber mitspielen, ob es richtig oder falsch, nützlich oder unnütz ist, vor Gericht zu gehen. Einige Leute werden auch ihre Rechte nicht kennen oder sich fürchten, diese zu benützen. Wertvorstellungen der allgemeinen Kultur, wie die Stellungnahme von Verwandten oder Nachbarn, die Frage des Einflusses auf die Kinder und ihre Spielgefährten, religiöse und moralische Skrupel, werden auf die Scheidungsrate ebenfalls we31 Gabriel Almond und Sidney Verba: The Civic Culture, 1963, S. 14. Der Begriff Rechtskultur kann auch in einem anthropologisc.'1en Sinn verwendet werden und diejenigen Verhaltensweisen und Einstellungen bezeichnen, die das Recht einer Gemeinschaft von dem einer anderen unterscheiden, z. B. das Recht der Eskimos vom französischen Recht, das altrömische vom kambodschanischen. Der Begriff kann in einem etwas anderen Sinn verwendet werden, um die grundlegenden Züge eines ganzen Rechtssystems zu beschreiben, seine tragenden Ideen, seine Würze, seinen Stil. 32 Der Begriff der Rechtskultur wird in Kap. VIII weiter behandelt.

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Kap. I: Das Rechtssystem

sentlich einwirken. Solche Wertvorstellungen sind insgesamt und langfristig verantwortlich für die Ausgestaltung und die Natur der Scheidungsrechte selbst. Rechtsverhalten kann daher einzig in einem größeren, den kulturellen Bereich einschließenden Zusammenhang verstanden werden. Dieser Zusammenhang besteht analytisch gesehen aus vielen Elementen, die manche Arten hypothetischen Verhaltens ergeben. Da sind zunächst die allgemeingültigen Verhaltenslehrsätze - Hypothesen über menschliches Verhalten, die, wenn sie überhaupt zutreffen, überall, jederzeit und für das Verhalten im rechtlichen, ökonomischen und religiösen wie in jedem anderen Bereich gelten. So beeinflussen etwa Belohnungen und Strafen das Verhalten in einer allgemeinen, für alle Kulturen und Zeiten gültigen Weise. Zweitens gibt es weniger allgemeine Verhaltenshypothesen, die auf einzelne Kulturen oder Kulturgruppen beschränkt sind, z. B. bezüglich der Forderungen, welche Geschäftsleute in einem privatwirtschaftlichen System an das Recht stellen. Weniger umfassende Hypothesen versuchen auch, französisches oder amerikanisches Rechtsverhalten zu erklären und vorauszusagen. Viele Arten von Hypothesen sind notwendig, um das Recht irgendeiner Gesellschaft zu behandeln. Ein griechischer Reeder z. B. ist einerseits Mensch, andererseits Grieche und schließlich noch Reeder - und verhält sich auch entsprechend. Die Funktionen des Rechtssystems Der output des Rechts ist schlicht das, was das Rechtssystem als Antwort auf gesellschaftliche Forderungen produziert. Jeder Brief an einen Abgeordneten, jede bei Gericht eingereichte Klage, jeder Telefonanruf an die Polizei ist eine Forderung an das Rechtssystem. Jedes Urteil, jede Verfügung, jede Verhaftung, jedes verabschiedete Gesetz, jede amtliche Liftinspektion ist ein output oder eine Antwort. Es gibt Millionen von Forderungen, die täglich an das Rechtssystem gestellt werden, und auch Millionen von Antworten. Man kann aber auch von Antwort und output in sehr allgemeiner Weise sprechen. Diese allgemeinen outputs sind die Gesamtfunktionen des Rechts, das, was die Gesellschaft vom Rechtssystem erwartet. Das Rechtssystem ist in dieser Beziehung nicht einzigartig. Jedes bedeutende Subsystem einer Gesellschaft, wie die Armee oder die Schule, hat eine besondere Funktion oder Aufgabe. Auf der allgemeinsten Ebene besteht die Funktion des Rechtssystems darin, Werte in einer von der Gesellschaft als richtig empfundenen Weise zu verteilen und diese Verteilung aufrechtzuerhalten. Diese für richtig gehaltene Wertzuteilung ist das, was man gemeinhin als Gerechtigkeit bezeichnet.

Die Funktionen des Rechtssystems

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Aristoteles nahm die berühmte Unterscheidung zwischen der austeilenden und der ausgleichenden Gerechtigkeit vor, zwischen dem Prinzip zur Verteilung von Besitz und Ehren unter die Bürger und demjenigen, wonach bei Rechtsgeschäften und in Prozessen jeder das ihm Zukommende erhält33. Im Kern des Gerechtigkeitsbegriffs liegt die Idee, daß jedem Menschen und jeder Gruppe nicht mehr und nicht weniger zuerkannt werden soll, als sie im ethischen Sinne verdienen. Wieviel dies ist und nach welchen Kriterien es verteilt werden soll, ist ein Problem, mit welchem sich die Rechtsphilosophen seit Jahrhunderten beschäftigen. Wir sind hier an dieser Idee nur insoweit interessiert, als sie eine soziologische Tatsache darstellt, einen Auftrag, der durch die Öffentlichkeit an das Rechtssystem gestellt wird. Das Rechtssystem soll mit anderen Worten die richtige oder die angemessene (oder vielleicht auch nur die am wenigsten anstößige) Verteilung auf Menschen und Gruppen gewährleisten. In einzelnen Gerichtsverfahren und Rechtsgeschäften soll das System die richtige oder angemessene (oder am wenigsten anstößige) Regel anwenden. Natürlich ist der Begriff der Gesellschaft eine Abstraktion, gelegentlich sogar eine gefährliche. Forderungen an das Rechtssystem werden nicht von der Gesellschaft gestellt, sondern von spezifischen Personen, Gruppen, Klassen und Schichten. Das Rechtssystem ist ebenfalls eine Abstraktion, denn es gibt verschiedene Teile in diesem Zusammensetzspiel: Gerichte, Gesetzgeber, Polizei, Stadträte, Parkaufseher und Verwaltungsbehörden antworten zumindest kurzfristig auf verschiedene Forderungen, üben verschiedene Funktionen aus und definieren Gerechtigkeit auf individuelle Art. Demnach mag es einzelnen (oder vielen, vielleicht sogar den meisten) Personen erscheinen, das Rechtssystem produziere im gesamten Ungerechtigkeit. Gesellschaften sind in Schichten aufgeteilt, und das Rechtssystem unterstützt diese Schichtung. Wer die gesellschaftliche Schichtung als ungerecht empfindet, muß das Rechtssystem als eine Ursache der Ungerechtigkeit betrachten. Eine andere, weniger globale Funktion ist die Streitschlichtung. Konflikte gibt es in jeder Gesellschaft. Eine grundlegende Funktion des Rechts ist es, die Mechanismen und Institutionen bereitzustellen, mittels welcher die Menschen ihre Konflikte lösen und ihre Streite schlichten können. Natürlich übt das Rechtssystem in dieser Funktion kein Monopol aus; sie kommt auch Eltern, Lehrern, Pfarrern, Arbeitgebern und anderen zu. Auch legen einige Gesellschaften mehr Gewicht auf diese Funktion als andere. In den westlichen Industriestaaten ist es z. B. nicht üblich, wegen kleiner Meinungsverschiedenheiten mit Nachbarn oder Familienquerelen vor Gericht zu gehen, was in vielen kleinen und älteren Gesellschaften gerade der Fall war. 33

Julius Stone: Human Law and Human Justice, 1965, S. 14.

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Kap. I: Das Rechtssystem

Eine andere grundlegende Funktion des Rechtssystems ist die soziale Kontrolle, im wesentlichen die Durchsetzung der Regeln des richtigen Verhaltens. Polizisten und Richter sind dafür besorgt, daß Diebe gefaßt und bestraft werden. Wir können die Straf justiz als primäre soziale Kontrolle bezeichnen. Die sekundäre soziale Kontrolle - Lehren, Ermahnen, Rehabilitieren - ist aber genauso wichtig. Der vor Gericht gestellte Dieb wird nicht nur in Schranken gehalten, sondern es wird ihm "eine Lektion erteilt" (ob das funktioniert, ist allerdings eine andere Frage). Die Gerichte in aller Welt handeln, oder versuchen es zumindest, als moralische Lehrer, Verbesserer und Wiederhersteller. Diese Funktion bringen wir mit Gerichten in einfacheren und in sozialistischen Ländern in Verbindung. Aber in vielen Staaten wagen sich auch Familie und Jugendgerichte an die sekundäre soziale Kontrolle. Viele Verwaltungsinstanzen versuchen oder sollten versuchen, Sünder zu bessern und Gestrauchelte zu stützen. (In Norwegen z. B. haben sog. Abstinenzkommissionen große Befugnisse, um Leuten mit Alkoholproblemen zu helfen34 .) Der Gefangene in der Zelle ist der "Erziehung" unmittelbar unterworfen, aber das Rechtssystem sieht über ihn hinaus. Es versucht, auch die Zuschauer im Gerichtssaal und sogar diejenigen, die in den Zeitungen vom Prozeß lesen oder auf der Straße davon hören, zu lehren, zu bessern, zu rehabilitieren. Worum es beim Abschrekkungswert des Rechts geht, soll in der Tat noch diskutiert werden. Eine weitere Funktion des Rechts liegt darin, die Normen zu schaffen, die ihrerseits das Rohmaterial der sozialen Kontrolle sind. Soziale Kräfte üben Druck aus. Diese Forderungen "machen" das Recht. Die Institutionen des Rechtssystems speichern die Forderungen, kristallisieren sie und wandeln sie um in Regeln, Grundsätze und Anweisungen an die Staatsbeamten und die übrige Bevölkerung. Dadurch kann das Rechtssystem als Instrument einer geordneten gesellschaftlichen Veränderung wirken, als Instrument des social engineering. Das offensichtlichste Beispiel dafür ist die legislative Funktion. Aber auch Gerichte schaffen Regeln, insbesondere im common-Iaw-Rechtskreis. Es gibt bei der heutigen Staats tätigkeit Dutzende von Behörden, Verwaltungszweigen und Kommissionen, die gesetzgebende Funktionen ausüben; viele davon sind gleichzeitig mit Befehls- und mit Kontrollgewalt ausgestattet. Rechtliche Institutionen haben auch eine Routine- oder Registrierungsfunktion. Sie wirken als Speicher oder Gedächtnis für Abertausende von Rechtsgeschäften, die in der modernen Welt notwendig oder wünschbar sind. Sie ordnen und registrieren, sie reduzieren Rechtsgeschäfte zu effizienter Routine. Wenn jemand ein Rechtsgeschäft beur34 Nils Christie: Temperance Boards and Interinstitutional Dilemmas: A Case Study of a Welfare Law, 12 Social Problems 415 (1965).

Die Funktionen des Rechtssystems

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kunden läßt, ein öffentliches Testament errichtet oder einen Totenschein einreicht, so macht er von dieser Funktion des Rechts Gebrauch. Sie ist hauptsächlich für moderne Rechtssysteme und für die Rechtssysteme der alten Weltreiche bezeichnend, während sie in Stammessystemen kaum oder überhaupt nicht auftritt. Sie wird mehrheitlich von der Verwaltung ausgeübt, in einigen Staaten aber auch von Gerichten und gerichtsähnlichen Institutionen wahrgenommen. Dies geschieht etwa, wenn nur früher oder selten bestrittene Angelegenheiten zu bloßer Routine herabgesunken sind, z. B. Namensänderung, Konventionalscheidung, Beurkundung von Testamenten oder Zahlung einer Ordnungsbuße. Die bisher diskutierten Funktionen sind einfach und tatsächlicher Natur. Recht, Rechtsverfahren und Rechtssystem können auch weniger offensichtliche zweckgerichtete Funktionen ausüben. Das Recht offenbart und definiert die Normen einer Gemeinschaft. Das ist nicht dasselbe wie die lehrende, predigende Funktion des Rechts, weil diese Funktion einen instrumentalen Zweck verfolgt, nämlich Verhalten zu ändern. Soziologen seit Emile Durkheim waren fasziniert von der symbolischen Funktion der Strafrechtsnormen. Gesellschaften, so sagt man, brauchen die Vorstellung abweichenden Verhaltens. Verbrechen und Strafe bezeichnen die moralischen Grenzen einer Gemeinschaft. Ein Verbrechen muß nicht nur deshalb bestraft werden, weil es in sich gefährlich ist, sondern auch, weil es das Solidaritätsgefühl der Gesellschaft verletzt, weil es ein Angriff auf das gemeinsame Bewußtsein ist3 5 • Mit anderen Worten zeigt das Recht an, welches die Regeln und Richtlinien sind, und bestätigt, daß die Gesellschaft Übeltäter (solche, die die Linien überschreiten) bestrafen will und kann. Das Ziel ist nicht Unterdrückung um der Ordnung willen, obwohl dies letztlich doch der Zweck sein dürfte, sondern Unterdrückung, um die Normen im Bewußtsein der Gesellschaft einzuprägen. Es kommt deshalb kaum darauf an, ob einige Unschuldige leiden müssen, solange das, was die Öffentlichkeit sieht, als Gerechtigkeit erscheint36• Ein anderer Gedanke, der gelegentlich geäußert wird, erkennt im Strafrecht eine Art kathartische Funktion. Strafe mag nichts zur Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung beitragen, dient aber der gesellschaftlichen Psychohygiene. Sie ist eine Möglichkeit, um Aggressionen los zu werden und um in kontrollierter und kontrollierbarer Weise die dunkleren Instinkte der menschlichen Rasse zu befriedigen. Das ist natürlich nur eine Theorie. Emile Durkheim: The Division of Labor in Society, 1933, S. 103. Soziale Kontrolle braucht auch nicht vollkommen zu sein. Sie kann einige Irrtümer, Ausrutscher und Entgleisungen tolerieren, einige Unschuldige bestrafen und einige Schuldige unbestraft lassen, solange die Ordnung aufrechterhalten bleibt und die Leute nicht allzu unzufrieden werden. 35 36

Kap. I: Das Rechtssystem

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Es wird andererseits argumentiert, daß "strafende Kontrolle" in Wirklichkeit mehr Aggression erzeugt oder durch ihr Vorbild freiläßt als un terdrückt37 • Recht als Zuteilungs system

Welches ist diese Gerechtigkeit, die das Rechtssystem im weitesten Sinn produzieren muß? Der Begriff ist natürlich äußerst schwierig zu definieren und ist Gegenstand einer umfangreichen philosophischen Literatur. Für unsere Zwecke bezieht er sich auf Erwartungen und Bewertungen. Die Angehörigen einer Gesellschaft erwarten, daß das Recht ihren ethischen Vorstellungen entspricht. Sie werden es danach beurteilen, was es leistet, wobei wir mit leisten hier meinen, wie es die Leute behandelt und Nutzen und Kosten verteilt. Rechtliche Entscheidungen sind ihrem Wesen nach wirtschaftliche Entscheidungen, sie teilen knappe Güter und Dienstleistungen zu. Das Rechtssystem ist in diesem Sinn ein Verteilungssystem. Sein Tun und Sein wiederspiegeln die Machtaufteilung in der Gesellschaft, wer unten und wer oben ist. Das Recht ist auch dafür besorgt, daß diese soziale Struktur stabil bleibt oder sich nur in anerkannter und vorgeformter Weise ändert. Das System gibt Befehle aus, verteilt Vorteile und sagt den Leuten, was sie tun und was sie nicht tun dürfen. In jedem Fall trifft eine Rechtsnorm, wenn sie befolgt wird, die Wahl, wer welches Gut hat, behält oder erhält. Rechtsnormen spiegeln frühere Entscheidungen über Zuteilungen wieder. Konflikte zwischen Personen oder Gruppen traten auf oder drohten aufzutreten, unvereinbare Wünsche wurden geäußert, zwei Männer stritten sich um ein Stück Land, Bauern wollten hohe Preise, Konsumenten tiefe. Der daraus resultierende Rechtsakt (eine Regel oder ein Entscheid) wählt zwischen möglichen Alternativen. Höchstwahrscheinlich wird ein bestimmter Kompromiß erzielt, auf jeden Fall aber eine Zuteilung. Jede Funktion des Rechts, sei sie allgemein oder spezifisch, ist zuteilend. Die soziale Kontrolle das Monopol der Gewalt, die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung - bildet keine Ausnahme. Wer soll z. B. das Recht haben, Gewalt anzuwenden, und wann und warum? Die Regeln, die einmal gemacht und durchgesetzt werden, sind Schablonen, aus welchen andere Regeln und Entscheidungen geschnitten werden. Diese Regeln setzen ältere Zuteilungen fort oder ändern sie in strukturierter Art und Weise, wie wir bereits erwähnt haben. Das Rechtssystem teilt direkt zu, indem es Belohnungen und Strafen zumißt. Es verteilt Barsubventionen und Gefängnisstrafen; aber dies 37

Albert Bandura: Aggression: A Social Learning Analysis, 1973, S. 225-

227. Eine abschließende Behandlung dieser Frage steht allerdings noch aus.

Recht als Zuteilungssystem

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sind nicht seine einzigen Werkzeuge. Es gibt auch den Markt, der durch private Abmachungen Preise festsetzt und Güter und Dienstleistungen verteilt. Das Recht stützt, definiert und begrenzt den Bereich, in dem der freie Markt spielt. Es verbietet bestimmte Arten von Abmachungen: Man kann sich nicht als Sklave verkaufen oder preisbindende Abmachungen treffen38 • In Ländern mit freier Marktwirtschaft oder mit gemischtwirtschaftlichen Systemen legt das Recht fest, welche privatrechtlichen Vereinbarungen durchgesetzt werden können und welche nicht. Einige der grundsätzlichen Regeln sind im Vertragsrecht enthalten; von größerer Bedeutung sind indessen speziellere Rechtszweige, wie z. B. das Arbeitsrecht oder das Gesellschaftsrecht. Das Recht unterstützt den Markt auf noch grundlegendere Weise: Die Institution des Privateigentums steht auf den Säulen des Rechts. Rechtsnormen sorgen für den Grundbucheintrag von Land, für Schenkungs-, Kaufs- und Erbschaftssteuern. Rechtliche Institutionen kontrollieren die Banken, Bankinstrumente, Geld und Kredit, das Funktionieren des Börsenmarktes. Das System der Strafjustiz schützt das Eigentum vor Veruntreuung und Diebstahl. Ein markt- oder gemischtwirtschaftliches System dezentralisiert zahlreiche wirtschaftliche Entscheidungen, aber die unsichtbare Hand wäre gelähmt ohne die Mithilfe rechtlicher Institutionen. Preise und Märkte sind eine Möglichkeit, um Dienstleistungen und Güter zu verteilen. Nehmen wir an, ein bekannter Sänger komme für einen Abend in eine Stadt, um in einem Saal mit 1000 Plätzen aufzutreten, aber zehnmal soviele Leute wollen das Konzert besuchen. Natürlich können die Eintrittskarten an die Meistbietenden versteigert werden; es gibt aber Zuteilungsmöglichkeiten, die nicht vom Geld abhängen39 • Der Konzertmanager kann den Preis festlegen und die Eintrittskarten denjenigen verkaufen, die zuerst kommen. Einige Leute werden vielleicht eine ganze Nacht im Regen Schlange stehen, um eine Karte zu bekommen. Andere werden, wie im wirklichen Markt, nicht mithalten können, weil sie die Zeit für das Schlange-Stehen nicht aufbringen können, weil sie nachts arbeiten, zu weit weg wohnen oder auf kleine Kinder achtgeben müssen, weil sie zu schwach und krank sind, um in der Kälte zu warten, oder weil der Gedanke an eine schlaflose Nacht sie einfach wie ein zu hoher Preis abschreckt. Wenn die Gesellschaft rare Güter vom Markt zurückzieht, werden sie oft auf diesen Markt des Zeitaufwandes verschoben, auf den Markt für Güter ohne Preis, mit festem Preis oder beschränktem Angebot. Ein gutes Beispiel dafür sind die Dienstleistungen der Gerichte: Die Zeit des Richters ist für denjenigen, der sie beansprucht, unentgeltlich, 38 Vgl. dazu im allgemeinen Lawrence M. Friedman: Contract Law in America, 1965, S. 15 - 26. 39 Vgl. Guido Calabresi: The Costs of Accidents, 1970, S. 114 - 116.

3 Friedman

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Kap. I: Das Rechtssystem

aber das Angebot an Richtern ist beschränkt, in den meisten Großstädten der Vereinigten Staaten sogar in krasser Weise. Die Streitparteien müssen deshalb "Schlange stehen", die Gerichtsverfahren werden um Monate oder Jahre verzögert. Mit Geld kann das Verfahren nicht abgekürzt werden (außer wenn das Gericht bestechlich ist). Das System des Schlangestehens ist besonders anfällig für Korruption; so werden reiche Fans versuchen, für das oben beschriebene Konzert Karten auf dem Schwarzmarkt zu kaufen. Regeln, die diese Art von Verteilung vorsehen, wollen ausdrücklich oder stillschweigend Rechte von Leuten mit Geld auf Leute verschieben, die Geduld oder Zeit haben. Dies ist ein übliches, wenn auch nicht das einzig mögliche Ergebnis von Entscheidungen, die darauf hinauslaufen, Güter, Dienstleistungen oder Verfahren zu sozialisieren. Wenn das Angebot groß genug ist, werden die Schlangen kleiner werden oder verschwinden. In einem Markt ist Geld maßgebend, in einer Schlange Geduld und Zeit. Eine weitere Gruppe von Zuteilungsmöglichkeiten beruht auf dem Verdienst, sei dies nun körperliche Schönheit, Stärke, Weisheit, Tugend oder Geschicklichkeit. Beamtenstellen werden denjenigen zugeteilt, die in standardisierten Tests am besten abschneiden; Veteranen erhalten Renten, weil sie Militärdienst geleistet haben. Wieder andere Kriterien können mit Bedürfnis umschrieben werden. Große Familien mit kleinem Einkommen, die wegen eines Straßenbaus ihr Heim verlassen mußten, werden im öffentlichen Wohnungsbauprogramm zuerst berücksichtigt. Weitere Kriterien können als zuweisend bezeichnet werden. Sie beruhen auf Statuseigenschaften, wie Geburt, Geschlecht, Religion, Staatsangehörigkeit, Rasse. Regeln über die Vererbung von Eigentum sind zuweisend. Dasselbe gilt für einige Regeln bezüglich der Staatsangehörigkeit und für die vielen (glücklicherweise im Verschwinden begriffenen) Regeln, die rechtliche Grenzen für oder gegen Rassen, Religionen und Nationalitäten in vielen Ländern der Welt ziehen. Eine weitere Art, Werte und Rechte zuzuteilen oder Lasten aufzuerlegen, ist der Zufallsentscheid. Der Zufall ist ein redlicher, wenn auch unberechenbarer Richter. Im täglichen Leben wirft man oft Münzen auf oder würfelt, wenn man sich nicht entscheiden kann. Torstein Eckhoff berichtet, daß im 18. und 19. Jahrhundert in Schweden und Finnland Gerichte würfelten, um zu entscheiden, welcher von zwei Teilnehmern an einem Mord sterben und welcher eine geringere Strafe erleiden sollte. Dies geschah, wenn das Gericht nicht schlüssig wurde, welcher von beiden tatsächlich den tödlichen Stoß geführt hatte. Die Volksmeinung verlangte, daß jemand als Sühne für den Tod des Opfers sterben sollte, daß es aber ungerecht wäre, mehr als einen Täter zu töten. Das gewählte Kriterium war der Zufall, weil es keine rationale Entscheidungsmöglichkeit gab: Diese Methode befreite den Richter von

Recht als Zuteilungssystem

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der Verantwortung für den schicksalshaften Entscheid und machte gleichzeitig deutlich, daß keine Parteilichkeit im Spiele war40 • Die Lotterie ist eine weitere Möglichkeit, die Gesetze des Zufalls walten zu lassen. Sie bringt die absolute Chancengleichheit jedes einzelnen. Besondere Einsätze - von Geld, Geduld, Zeit oder Arbeit wirken sich nicht auf das Ergebnis aus, insbesondere wenn jeder Teilnehmer nur ein einziges Los kaufen kann. Viele Länder veranstalten Lotterien, um Geld aufzubringen. Andere legale Einsätze des Lotteriesystems sind weniger gebräuchlich. Ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten war die Lotterie bei der militärischen Aushebung. Da mehr Männer das Aushebungsalter erreichten, als die Armee einsetzen konnte, wurden die Tage des Jahres nach dem Lotterieprinzip eingeteilt und nur jene Männer eingezogen, deren Geburtsdatum eine tiefe Lotterienummer hatte. Jede wirklich willkürliche Entscheidung hat dieselbe Wirkung wie eine Lotterie. Wenn Entscheidungen und Regeln rätselhaft sind und die Verfahren dem Laienpublikum als willkürlich erscheinen, kann in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, daß der Zufall das Schicksal bestimme und nicht Grundsätze oder Vernunft. Dem Durchschnittsbürger kann das formelle Recht wie ein Glücksrad vorkommen, wenn er kein Vertrauen in die Autorität hat. Er weiß nicht, was er vom Recht erwarten kann, und wird ein so launenhaftes und unvorhersehbares Verfahren um jeden Preis vermeiden. Die Lotterie ermöglicht Chancengleichheit, aber nicht Gleichheit des Ergebnisses. Eine weitere Zuteilungsmöglichkeit besteht darin, Nutzen und Lasten gleichmäßig aufzuteilen, z. B. mittels einer einheitlichen Kopfsteuer. Ein anderes Beispiel ist das Stimmrecht: Es steht gleichermaßen allen zurechnungsfähigen Erwachsenen zu. Theoretisch haben viele Grundrechte diese Eigenschaft, wie wir sehen werden. Indessen können viele Güter in der Praxis nicht auf diese Weise verteilt werden, selbst wenn man es tatsächlich wollte. Entscheide über Entscheide gehören zum Wichtigsten, das eine Gesellschaft zu tun hat. Jeder solche Entscheid hat seine Gründe, jede Art der Zuteilung hat ihre Vor- und Nachteile. Es wird immer noch heftig debattiert, inwieweit man sich auf den Markt verlassen kann - sogar in sozialistischen Ländern. Das System des Schlangestehens hat seine positiven und negativen Seiten. Lotterien haben ihren eigenen, wenn auch beschränkten Wert, wie Guido Calabresi betonte. Sie implizieren einen Kollektiventscheid, den . . . das Kollektiv ausdrücklich nicht einzelnen Individuen überlassen will, obwohl man keinen hinlänglichen Grund dafür hat, daß die betreffende Tätigkeit nur von bestimmten 40 Torstein Eckhoff: Impartiality, Separation of Powers, and Judicial Independence, 9 Scandinavian Studies in Law 9, 16 f. (1965).



Kap. I: Das Rechtssystem

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Personen ausgeführt wird41 • Die Aushebungslotterie mag vielen Leuten als gerechter erschienen sein als jede Alternative. Wenn jemand aber glaubt, auf irgendein Rechtsgut Anspruch zu haben, wird ihm das Lotteriesystem als äußerst ungerecht erscheinen. Er wird das ihm auf der Grundlage von Verdienst oder Bedürftigkeit Zustehende fordern. Wenn das Recht ein Markt- oder ein System des Schlangestehens auferlegt oder unterstützt, überläßt es jedem einzelnen den Entscheid, zu verhandeln, zu bezahlen oder Schlange zu stehen. Die Regeln, einschließlich jener über die Gerichtsbarkeit, fördern die Wahrscheinlichkeit des einen oder andern Entscheids, ohne aber die Alternativen zu verschließen. Je wahrscheinlicher ein Entscheid ist, desto stärker scheint er "vorgeformt", d. h. eine zwangsläufige Angelegenheit zu sein. Den Extremfall stellen die zuteilenden Regeln dar, die keinen Raum für private Entscheide mehr lassen. Dergestalt sind z. B. die Normen des Strafrechts. Wir werden hier allerdings die Meinung vertreten, daß die Linie zwischen "vorgeformten" und "privaten" Entscheidungen nicht so klar ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Jedermann ist frei, Verträge zu schließen und zu brechen. Mord ist verboten und mit hoher Strafe bedroht; der mögliche Schaden ist außerordentlich hoch. Dennoch kann man sich dafür entscheiden, den Preis zu bezahlen. In jeder Gesellschaft läßt das Rechtssystem ein gewisses Maß an freier Wahl. Es läßt die Leute selbst entscheiden, mit wem sie verhandeln wollen und wann sie rechtliche Verfahren beanspruchen wollen. Das ist sogar in absoluten Monarchien oder in vollständig planwirtschaftlichen Gesellschaften der Fall. Andererseits trifft jede Gesellschaft, wie liberal sie auch sei, gewisse Kollektiventscheide und versucht, den kollektiven Willen mit Gewalt durchzusetzen. In der Tat umfaßt "Recht" unter anderem auch diese kollektiven Regeln und Entscheidungen sowie die Mittel, um sie auszuführen. Der Staat oder das Kollektiv trifft diese Entscheide durch Abstimmung, Amtsgewalt oder Befehl. Eine besondere Art von Regeln, die wir Verfassungsregeln nennen können, bestimmt die Art und Weise, in welcher Entscheidungen getroffen werden müssen. Aber alle Rechtsregeln, wie auch immer sie zustandekommen, sind kollektiv, d. h. sie legen die Zuteilung nach einem bestimmten, vorgeformten Schema fest. Dies gehört zum Wesen einer Regel. Selbst dann also, wenn die Rechtsregeln den freien Markt unterstützen und die individuelle Wahl erlauben oder fördern, sind diese Regeln vorgeformte Entscheidungen, die der Bevölkerung mehr oder weniger auferlegt werden. Heutzutage erscheint die Inflation der Staats41

Calabresi (N. 39), S. 115.

Recht als Zuteilungssystem

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tätigkeit und der Regeln ebenso unausweichlich wie die Inflation der Preise, handle es sich nun um ein sozialistisches, ein kapitalistisches oder ein gemischtwirtschaftliches Land. Der Glaube des 19. Jahrhunderts an die "unsichtbare Hand" hat in dramatischer Weise abgenommen. Was vielleicht noch wichtiger ist, ist schlicht die Komplexität des modernen Lebens. Es bestehen zuviele gegenseitige Abhängigkeiten in der Gesellschaft, als daß sie von selbst funktionieren könnte; sie kann nur durch viel Staatstätigkeit in Gang gehalten werden. Stoplichter und Polizisten sind auf leeren Straßen unnötig. Die Alternativen zum Recht - Gewohnheit, Sitte, Druck der peers, internalisierte Werte, freie Märkte - erscheinen nicht genügend effizient, präzis oder gerecht, um das Verhalten der Massen moderner Menschen zu kontrollieren.

Kapitel II

Über Rechtsakte Im ersten Kapitel verwendeten wir den Ausdruck Rechtsakt, den wir sehr weit definieren wollen: Ein Rechtsakt ist jegliches Verhalten irgend eines Ermächtigten, der innerhalb des Rechtssystems handelt. Viele Rechtsakte sind an ein Publikum gerichtet und fordern ein bestimmtes Verhalten. Es ist ein Rechtsakt, wenn ein Polizist ein Auto stoppt und den Fahrer bittet, seinen Ausweis zu zeigen. Der Fahrer ist Adressat dieses Aktes. Der erste Teil dieses Buches untersucht die allgemeine Frage, unter welchen Umständen Rechtsakte zu Reaktionen führen und gegebenenfalls zu Reaktionen welcher Art. Es gibt verschiedene Formen von Rechtsakten. Einige bestehen aus Worten, andere ergeben sich aus dem Verhalten. Wenn ein Polizist auf einen Randalierer schießt oder einen Bußenzettel ausstellt, so ist dies ein Rechtsakt. Ebenso verhält es sich, wenn die Legislative ein Handelsgesetzbuch erläßt. Verbale Rechtsakte haben eine besondere Bedeutung. Sie geben der Öffentlichkeit allgemeine Anordnungen. Nichtverbale Rechtsakte richten sich im großen und ganzen an diejenigen, die nicht auf Worte hören. Wenn ein Polizist auf einen Mann schießt, der davonrennt, haben sich der Mann, der Polizist oder beide falsch verhalten. Es gibt drei Grundtypen von verbalen Rechtsakten: Entscheidungen, Befehle oder Anordnungen und Regeln. Eine Entscheidung ist eine autoritative Feststellung über die Beziehungen einer, zweier oder einer Anzahl von Personen im Rechtsverkehr. Sie wird normalerweise als Antwort auf eine bestimmte Forderung gefällt und beeinflußt unter Umständen Rechte und Pflichten des Klägers, anderer Parteien und vielleicht all jener, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Gerichtsentscheidungen sind einleuchtende Beispiele. Smith strengt einen Prozeß an, in dem er geltend macht, daß J ones ihm Geld schulde und es ablehne zu bezahlen. Das Gericht würdigt die Beweise und fällt einen Entscheid zugunsten von Smith und gegen Jones. Auf das Urteil folgt eine Anordnung. Das Gericht wird J ones sagen, wie viel er - inklusive Zins - bezahlen muß. Anordnungen sind spezifische Befehle, welche an eine besondere Person oder Gruppe gerichtet sind. Sie können auf allgemeingültigen Normen, d. h. Regeln, beruhen. Entscheide und Anordnungen bilden vielleicht den grundlegenden verbalen output eines Rechtssystems. Es ist möglich, sich ein Rechts-

über Rechtsakte

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system vorzustellen, das Entscheide und danach Anordnungen produziert, aber ohne formelle Regeln auskommt. Die Rechtssysteme vieler kleiner Stammesgesellschaften scheinen von dieser Art zu sein. Auf jeden Fall kennen sie keine formellen, geschriebenen Regeln. Dennoch haben diese Gemeinschaften oft Gerichte und Richter, und deren Entscheide sind keinesfalls willkürlich. Abgesehen von den Mitgliedern dieser Gesellschaften erkennen auch Anthropologen ohne Mühe Regelmäßigkeiten und Muster darin. Die Angehörigen dieser Gesellschaften sprechen von diesen Mustern als Normen, aber die Normen sind kein formeller output des Systems. Sie existieren außerhalb des Rechtssystems als Brauch, dem Gerichte und Führer folgen, ohne Anspruch darauf zu erheben, diese Gewohnheitsregeln zu machen!. Kleine Gesellschaften auf der ganzen Welt kommen ohne Verfassungen, Gesetzbücher und schriftlich niedergelegte Normen aus. Dennoch halten sie sich an Regeln. Eine Entscheidung bezieht sich auf den Einzelfall (A setzt sich gegen B durch), ebenso ein Befehl (gib dem A das Geld oder das Land). Eine Regel ist eine rechtliche Aussage in genereller Formulierung. Sie kann analytisch in zwei Teile zerlegt werden: Erstens in die Feststellung der Tatsachen und zweitens in die Feststellung der Rechtsfolgen, welche sich aus diesen Fakten ergeben oder ergeben können. So legt ein Gesetz in Ohio fest, daß sich "des Mordes zweiten Grades" schuldig macht und zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt wird, wer einen andern Menschen "absichtlich und böswillig tötet"2. In jedem System beruhen Doktrin, Gesetz, Regelsammlung, Kodex und Dekret und jede andere generelle autoritative Zusammenstellung des Rechts auf Aussagen, welche man als Regeln charakterisieren kann. Einige Regeln sind komplizierter als andere und bilden ganze Gedanken- und Aussageketten wie riesige organische Moleküle. Gesetzgeber oder spätere Bearbeiter werden komplexe Regeln in Segmente zerteilen, welche dann wie die Teile eines Puzzles im ganzen Gesetzbuch verstreut sein können. Die Definition des Mordes kann in einem Teil des Strafgesetzbuches erscheinen und die Strafdrohung in einem andern. Ein komplizierter Abschnitt des Strafgesetzbuchs von New York beschreibt, wodurch sich eine Person "des Mordes schuldig macht", und hält fest, daß Mord ein "Verbrechen erster Ordnung" ist. Ein anderer, ebenfalls ziemlich komplizierter Abschnitt sagt, zu welchen Strafen ein Richter jemanden verurteilen darf, der eines "Verbrechens erster Ordnung" überführt ist3• In unserer Terminologie bilden diese zwei Teile eine Regel. ! Siehe auch die Beschreibung der Handelsschiedsgerichtsbarkeit bei Robert L. Bonn: The Predictability of Nonlegalistic Adjudication, 6 Law and Society Rev. 563 (1972). 2 Ohio Rev. Code Ann. § 2901.05. 3 N. Y. Penal Code, §§ 125.25, 70.00.

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Kap. II: über Rechtsakte

Gewöhnlich nennen wir juristische Feststellungen aller Art Normen. Viele davon sind jedoch, gemessen an unserer Definition, nur Stücke oder Fragmente von Normen. Z. B. sprechen Juristen normalerweise von der Norm, wonach Mord vorliegt, wenn ein Mensch vorsätzlich und böswillig getötet wird. Das ist soweit richtig. Um die Norm vollständig zu machen, muß man beifügen, welche Strafe auf Mord steht. (Das zitierte Gesetz aus Ohio hat genau das getan.) Natürlich ist es nur eine Frage der Definition zu sagen, eine Norm sei erst eine wirkliche Regel, wenn sie Konsequenzen statuiert; aber diese Definition ist nicht willkürlich. Warum sollten wir uns darum kümmern, wie Mord definiert wird, wenn dahinter keine Sanktion stünde? Eine Norm ohne Rechtsfolgen ist zwar nicht bedeutungslos; sie kann eine Erklärung für eine Regel darstellen. Dennoch braucht ein komplexes Rechtssystem Regeln in dem Sinne, wie wir das Wort verwenden. Wenn das System in viele Institutionen zerfällt und auf einer Hierarchie von Beamten aufgebaut ist, sind Regeln unerläßlich. Sollten sie keine andere Funktion haben, so leiten sie immerhin Mitteilungen, Programme und Gesetze von oben nach unten. Jedes funktionierende Rechtssystem basiert auf Regeln, und jedes, das eine Hierarchie oder bürokratische Organisation aufweist, wird formelle Regeln irgendwelcher Art besitzen. Viele formellen Normen in einem modernen Gesetz sind sicher ergänzungsbedürftig, da sie die Feststellung der Rechtsfolgen beiseite lassen. Beim Tatbestand der Brandstiftung kann sich das Strafgesetzbuch damit begnügen, die Brandstiftung als Verbrechen zu etikettieren. Was ein Verbrechen ist und was mit einem Verbrecher geschieht, kann anderswo im Gesetz definiert sein. Etwas anders ausgedrückt bilden zweierlei Mitteilungen Gegenstand einer jeden Regel: Die eine ist materieller Natur, die andere betrifft die Rechtsfolgen. Jede Regel macht eine Aussage über irgend etwas; gleichzeitig enthält sie eine Anweisung an eine Behörde, wonach diese etwas tun kann, tun sollte oder unterlassen muß, was sie sonst getan oder auch nicht getan hätte. Diese Anweisung kann deutlich sein. Andererseits wird über die Rechtsfolgen in vielen Normen nichts gesagt, aber sie verstehen sich von selbst. Das gilt für einen großen Teil des Strafrechts. Die Strafgesetze definieren Verbrechen und staatliche Strafen, führen aber typischerweise nicht im Detail aus, wie das eine mit dem andern verbunden werden kann. Ein Dieb kommt aber nicht durch einWlinder ins Gefängnis, sondern unter Mitwirkung von Beamten. Ein schwerfälliges und komplexes System muß in Bewegung gesetzt werden. Die Normen des Strafgesetzbuches enthalten Ermächtigungen von Polizisten, Staatsanwälten, Richtern, Gerichtsvollziehern,

über Rechtsakte

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Angestellten, Wärtern und Henkern. Diese Ermächtigungen sind oft an anderer Stelle im Gesetz niedergelegt und brauchen nicht jedesmal wiederholt zu werden, wenn das Gesetzbuch ein Verbrechen definiert. Der materielle Inhalt einer Norm besteht in einer Mitteilung an das Publikum oder einen bestimmten Teil desselben, derjenige, der die Rechtsfolgen nennt, in einer Anweisung an einen Teil der öffentlichen Verwaltung. Die Mitteilung kann ein Verbot, eine Ermächtigung oder ein Anreiz sein. Die Gesetzesbestimmung über den Mord ist ein einfaches Verbot und richtet sich ganz allgemein an die Öffentlichkeit. Ihre Aussage über das Verfahren wendet sich an die Ausführenden im Rechtssystem, insbesondere an die mit Strafrecht befaßten. Nicht jede Norm berührt die Öffentlichkeit. Als Mörder kommt potentiell jeder in Frage, andere Rechtsnormen tangieren nur besondere Gruppen - Taxifahrer, Stahlwerksbesitzer, Händler, Drogensüchtige, Ladenbesitzer, SeiIfabrikanten. Einige Regeln richten sich überhaupt nicht an den Laien, z. B. jene über die Register, welche Richter führen müssen, oder die Beamtenverordnungen. Dennoch hat jede Regel eine verfahrensrechtliche Seite, d. h. sie enthält - ausdrücklich oder implizit - eine Anweisung an einen oder mehrere Beamte4 • Die hier verwendete Definition der Regel bedeutet natürlich nicht, daß das Recht nur aus Regeln besteht. Da jede komplexe Gesellschaft formelle Regeln besitzt und alle formellen Regeln Sanktionen enthalten, gerät diese Definition in Widerspruch zu derjenigen von Juristen und Gelehrten, die bestreiten, daß Sanktionen einen notwendigen Bestandteil des Rechts darstellen. Zu ihnen gehört Michael Barkun, der Autor von "Law Without Sanctions". Für ihn ist das Recht eher ein System von Symbolen; es dient als Verkörperung, als Modell der Sozialstruktur>. Es stellt eine normative Karte dar, welche den Mitgliedern der "Rechtsgemeinschaft" gemeinsam ist. Zweifellos ist es nützlich, sich eine solche Karte vorzustellen, wenn man an die Realität der Normen denkt. Es hilft erklären, warum die Gesellschaften darauf bestehen, gewisse Regeln aufzustellen und durchzusetzen, während andere toter Buchstabe bleiben oder nur mit großem Aufwand durchsetzbar sind. Für Barkun ist das Recht mehr oder weniger ein Nachschlagewerk richtigen Verhaltens. Die Leute benützen Nachschlagewerke, obwohl niemand deren Richtlinien durchsetzt. Das Recht ist einer von vielen solchen Verhaltenskodexen. Es ist ein Nach4 Die hier verwendete Definition. der Regel hat den Nachteil, daß nichtstaatliche Gesellschaften ohne Richter, Juristen oder Beamte der Regeln entbehren würden. Oft kann ein Beamter gefunden werden, indem der Begriff irgendwie strapaziert wird. Vgl. Kap. 1. Abgesehen davon sind die erörterten Regeln ausschließlich formeller Natur. Jede Gesellschaft folgt irgendwelchen Regeln. 5 Michael Barkun: Law Without Sanctions, 19ß8, S. 92.

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Kap. II: über Rechtsakte

schlagewerk wie die Bücher mit Regeln über Tennis, Bridge oder Patience. Was letztlich ein Gesetzbuch als Kodifikation von Normen von andern Regelbüchern unterscheidet, ist die Sanktion, die Tatsache, daß seine Bestimmungen im Gegensatz zu anderen die Drohung amtlicher Bestrafung oder das Versprechen offizieller Belohnung in sich tragen. Dieser Punkt ist teilweise eine Frage der Form und der Worte. Wenn jemand die Anstandsregeln verletzt - wenn er z. B. mit den Fingern ißt -, ist er nicht gegen Sanktionen gefeit. Handelt es sich um ein Kind, werden die Eltern es schelten oder ihm den Hintern versohlen. Wenn ein Erwachsener schlechte Manieren hat, wird er von Freunden ausgelacht werden. In gewisser Hinsicht unterscheiden sich also Anstandsregeln nicht so sehr von Rechtsnormen. Sie entbehren nur der offiziellen, formellen Sanktionen. Wenn man in die Definition des Rechts nur Prozesse und Regeln einschließt, die von der öffentlichen Verwaltung oder analogen Institutionen kleiner Gesellschaften getragen werden, dann sind Anstandsregeln keine Rechtsnormen. In jedem Fall muß eine Theorie des Rechtsverhaltens Theorie und Praxis der Sanktionen beachten. Ob Sanktionen das Wesen des Rechts sind oder nicht, sind sie reale Erscheinungen dieser Welt, und man kann nicht erklären, wie ein Rechtssystem funktioniert, ohne das Funktionieren seiner Sanktionen zu erklärenf . In modernen Ländern, wie Frankreich, den Vereinigten Staaten oder Indien, produziert und gebraucht das Rechtssystem eine erstaunliche Menge von Normen. Nationale Gesetze, Stadtverordnungen, Administrativvorschriften bestehen alle aus Normen. Die ganze Zahl der in Kraft stehenden Regeln läßt sich kaum feststellen; und die Rechtsprechung fügt noch Tausende hinzu. Es gibt viele Möglichkeiten, diese Regeln zu klassifizieren und auf irgendeine Ordnung zurückzuführen. Die eine besteht darin, sie nach ihrem Gegenstand einzuteilen: Regeln des Strafrechts, des Rechts der unerlaubten Handlung, des Seerechts, Normen über die Lebensmittelinspektion, Verkehrsregeln von Rom oder New York. Eine andere orientiert sich an den Quellen: Bundesgesetze, Verordnungen von Miami, Polizeireglement von Dayton, Rechtsprechung des höchsten Gerichts von Maine. Eine dritte teilt nach formalen Gesichtspunkten ein: Verfassungsrecht, Gesetze, Ausführungsverordnungen, Auslegungsregeln der spanischen Obergerichte. Jede dieser Klassifizierungsmethoden hat ihren Anwendungsbereich. Wer Rechtssysteme beobachtet, stellt auch fest, daß einige Regeln sehr präzis, sehr objektiv sind, während andere bloß vage Allgemeinheiten 6 Wenn man sagt, eine Norm existiere nicht, wenn sie keine Sanktionen statuiere, so bedeutet das nicht, daß die Sanktionen immer angewendet werden. Offensichtlich werden gewisse Gesetze nicht durchgesetzt, und es ist sicher wahr, daß zum Recht mehr gehört als bloß Normen.

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ausdrücken. Die Nonn, welche das Wahlalter auf 18 Jahre festsetzt, ist viel genauer als die Vorschrift, daß ein fahrlässiger Autofahrer demjenigen Schadenersatz schuldet, den er verletzt hat. Extreme Beispiele des zweiten Typs enthalten lapidare Generalklauseln wie die kontinentaleuropäischen Gesetze, welche von Vertragsparteien "guten Glauben" verlangen7 • Unbestimmte Regeln erfordern eine Ennessensausübung, bevor der konkrete Fall entschieden werden kann. Dies sind Normen mit Ermessensspielraum. Einige von ihnen verweisen ausdrücklich auf das Ennessen. Sie lassen den Richter oder Beamten unter A, B oder C wählen oder überlassen ihm die Wahl aus einer unbeschränkten Zahl von Möglichkeiten. Z. B. erlaubt das Gesetz von Connecticut dem Richter, in Scheidungsprozessen "jede passende Anordnung hinsichtlich der Obhut, Fürsorge und Erziehung der Kinder zu treffen" und "jederzeit eine solche Anordnung zu annullieren oder zu verändern"8. Andere Gesetze gewähren das Ennessen implizit. Der Richter wird in einem handelsrechtlichen Fall vielleicht zu entscheiden haben, was "guter Glaube" ist und was nicht, genauso wie Richter und Geschworene darüber geurteilt haben, ob es fahrlässig sei, während eines Schneestunns ein Auto mit 50 km/h zu fahren, oder ob ein verletztes Bein in einer bestimmten Situation 3 000 oder 3 000 000 DM Schadenersatz wert ist. Eine Regel mit Ennessensspielraum ist in gewissem Sinne nicht endgültig, sie bedingt immer eine Art Delegation: Die Macht, Ennessen in Sicherheit zu verw~ndeln, verlagert sich nach unten. Alle Regeln enthalten eine verfahrensrechtliche Seite; daher ist Delegation ein durchgehendes Charakteristikum von Regeln. Aber nicht alle Ennächtigungen sind Ennessensennächtigungen. Nonnen der anderen Art - hier objektiv genannt - sind in gewissem Sinne endgültig. Zwar müssen auch sie von jemandem angewandt werden, aber das kann "mechanisch" geschehen, d. h. die Nonn selbst läßt wenig Raum für die Wahl zwischen Alternativen. Das Stimmrechtsalter liegt bei 18 Jahren und basta. Weder der Registerführer noch der Richter können sagen, daß 17 1/2 Jahre reichen. Viele Nonnen lassen der Fonn nach Ennessen zu, was nicht unbedingt bedeutet, daß bei ihrer Anwendung eine wirkliche Wahl möglich ist. Wie bereits erwähnt, hat jede Nonn einen verfahrensrechtlichen Aspekt. In einem Gesetz kann niedergelegt sein, daß Fabrikbesitzer ihre Räumlichkeiten in sicherem Zustand erhalten müssen. Diese Norm ist in erster Linie konkretisierungsbedürftig. Wahrscheinlich wird das Gesetz für die Inspektion der Fabriken sorgen. Ebenso wahrscheinlich 7 Z. B. ist in Deutschland eine Rechtshandlung gemäß § 138 BGB nichtig, wenn sie gegen die guten Sitten verstößt. Gunther Teubner: Standards und Direktiven in Generalklauseln, 1971. 8 Conn. Rev. Stat. §§ 46 - 23.

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Kap. II: über Rechtsakte

wird die inspizierende Behörde die Kompetenz zum Erlaß von Sicherheitsvorschriften haben. In einem konkreten Fall könnte auch ein Gericht entscheiden, wann eine Fabrik als sicher gilt. Gerichte erlassen aber keine Sicherheitsbestimmungen, sondern entscheiden von Fall zu Fall. Eine Behörde hingegen könnte Vorschriften setzen, was den Begriff der Sicherheit von einiger Ermessensungewißheit befreien würde. Eine Verordnung könnte z. B. eine Liste aufstellen, wonach eine Fabrik als sicher gilt, wenn a) auf sechs Arbeiter mindestens ein Feuerlöscher vorhanden ist ... Kurz, eine Norm mit Ermessensspielraum delegiert die Kompetenz, Entscheide zu fällen. Man muß sich dann weiter vergewissern, ob eine Behörde oder ein Beamter auf einer unteren Hierarchiestufe Unternormen aufstellen kann, die objektiver sind. Bleibt der Ermessensspielraum bis zur Anwendungsstufe erhalten, oder wird die Norm vorher konkretisiert? Später werden wir objektive Regeln und solche mit Ermessensspielraum detaillierter diskutieren, insbesondere wie und warum die eine Art mit der Zeit in die andere übergeht 9 • An dieser Stelle betonen wir vorsichtig, daß die beiden Arten von Regeln oberflächlich betrachtet als zwei verschiedene, ausschließliche Typen erscheinen könnten, einander diametral entgegengesetzt. Tatsächlich aber bilden sie die zwei Enden eines zusammenhängenden Ganzen mit vielen Schattierungen dazwischen. Es gibt weder die vollkommene Ermessensnorm noch die vollkommen objektive Norm. Denn ein Begriff ist weder gänzlich objektiv noch gänzlich blutleer und abstrakt. "Ein Feuerlöscher" ist ein ganz objektiver Ausdruck, aber jeder Rechtsstudent könnte sich leicht eine Situation vorstellen, in welcher die Bedeutung zweifelhaft würde: Genügt ein defekter Feuerlöscher oder ein zwar funktionierender, der aber an der Wand schwierig zu erreichen ist? Andererseits gibt es Situationen, die so unsicher oder unvernünftig sind, daß man sich keinen Zweifel vorstellen kann. "Sicher" ist ein Ermessensbegriff, aber ein Fabrikschuppen aus trockenem, morschem Holz, ohne Feuerlöscher oder Sprühanlage, voller öliger Lappen, mit Böden, die zu schwach sind, um das Gewicht der Arbeiter zu tragen, ist in jedem Fall unsicher. Ermessen in einer Regel ist also eine Frage des Maßes.

über das Ermessen im Recht

Ermessen ist ein Ausdruck mit vielen Bedeutungen. Er verweist normalerweise auf den Fall, in welchem die einer Regel unterworfene Person die Macht hat, zwischen alternativen Handlungsweisen zu wählen. Weil Regeln immer zwei Seiten haben - sie wenden sich sowohl 9

Vgl. Kap. X.

Über das Ermessen im Recht

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an Beamte als auch ans Publikum oder einen Teil desselben -, können sie auch in der einen Hinsicht Ermessen gewähren und in der andern nicht. Daraus ergeben sich vier Typen formeller Regeln. Die einen sind doppelt fixiert; weder die Öffentlichkeit noch der Beamte hat eine Wahl. Im allgemeinen entsprechen die Normen des Strafgesetzbuches dieser Form. Sie verbieten Mord, Brandstiftung und Diebstahl; auf dem Papier sind sie absolut. Wer sie verletzt, muß bestraft werden; d. h. niemand darf sie verletzen, und kein Beamter hat (formell) das Recht, einen Kriminellen laufen zu lassen. Eine andere Art Regel, die wir Ermächtigung nennen können, ist dem Ermessen des Publikums unterworfen, nicht jedoch demjenigen des Beamten. Ein Mann und eine Frau können um die Heiratserlaubnis nachsuchen; jemand kann sich zu einer Klage bei Gericht entschließen. Dies sind aus der Sicht des Rechts persönliche Entscheidungen. Wenn die genannten Personen die rechtlichen Anforderungen erfüllen, haben jedoch die Beamten keine andere Wahl, als in der vorgeschriebenen Art zu verfahren: Der Standesbeamte muß die Heiratserlaubnis erteilen, der Gerichtsbeamte den Fall ins Prozeßregister eintragen. Ein dritter Typ, das Privileg, gewährt in doppelter Hinsicht Ermessen: Eine wählbare Person kann sich nach freiem Willen der Wahl stellen oder nicht, und auch seitens der Behörde besteht freies Ermessen, denn der Bewerber hat keinen Anspruch im technischen Sinne. Privilegien sind im Rechtssystem üblich, besonders bei der Zuteilung von Mangelware. Die Federal Communications Commission erteilt Bewilligungen für den Betrieb von Radiostationen. Niemand muß sich darum bewerben; tut es aber jemand, so handelt die FCC unter einem Schirm von Regeln, die weites, beinahe gestaltloses Ermessen einräumen 10 • Beim vierten Regeltyp ist nur der Beamte ungebunden. Das ist ebenfalls üblich. Strafgesetze z. B. geben dem Richter oft weites Ermessen bezüglich des Urteils und weiterer Anordnungen. Der Schuldige selbst hat dazu nichts zu sagen. Dies sind vier Typen formeller Regeln, d. h. solcher, die nicht nur niedergeschrieben werden können, sondern es auch wurden. Viele Normen sehen auf dem Papier starr aus, sind aber in Wirklichkeit anders. Die Beispiele sind zahllos. Die Polizei nimmt jemanden nicht fest, die Ankläger stellen eine Verfolgung aus diesem oder jenem Grund ein, obwohl dem Gesetz keine solche Befugnis zu entnehmen istl1 • Umgekehrt kann der Richter am Familiengericht nach freiem Ermessen, nur 10 Siehe 47 U.S.C.A. § 309 (a); die Kommission erteilt die Bewilligung, wenn der Radiobetrieb "im öffentlichen Interesse liegt, angemessen ist und einem Bedürfnis entspricht". 11 Wayne R. La Fave: Arrest: The Decision to Take a Suspect Into Custody, 1965; Brian A. Grosman: The Prosecutor, An Inquiry into the Exercise of Discretion, 1969.

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Kap. II: über Rechtsakte

an eine unbestimmte Formel über das Kindeswohl gebunden entscheiden, wem er die Obhut über die Kinder zuteilt. In der Praxis aber bekommt fast immer die Mutter das Sorgerecht zugesprochen 12 • Ebensowenig haben Begriffe wie Mord, Brandstiftung und Diebstahl augenscheinliche Bedeutungen. Es gibt immer Grenzfälle. Diese Tatsache, die wir jetzt ignorieren wollen, ist ganz allgemein und bewirkt einen unvermeidlichen Ermessensanteil in der Handhabung von Regeln. Ein modernes Rechtssystem enthält eine unermeßliche Anzahl von objektiven Normen und solchen mit Ermessensspielraum 13 • Das Verhältnis des einen Typs zum andern ist fast ständigem Wandel unterworfen. Ermessensnormen sind für Rechtsgelehrte interessanter; objektive Normen scheinen primitiv oder formalistisch. Aber ein ganz kursorischer Blick in die Gesetzbücher irgendeines Landes enthüllt Tausende und Abertausende objektiver Normen. Sie sind die Arbeitspferde des Rechts. Moderne Ausführungserlasse verlangen genaue, detaillierte Normen. Eine Ermessensnorm lenkt nicht, sie delegiert nur Befugnisse. Wie oben betont, besitzen Ermessensnormen oft objektive Unter-Normen. Aus der Froschperspektive besehen würden viele Ermessensnormen als solche verschwinden. Wenn unbestimmte Regeln von Stufe zu Stufe heruntergereicht werden, neigen sie dazu, bestimmter zu werden 14 • Das Rechtssystem hat, formal gesehen, mehr sog. Ermessensnormen als Normen, die auch wirklich so funktionieren. Unter einem andern Gesichtspunkt können Rechtsnormen in drei generelle Gruppen eingeteilt werden. Erstens gibt es schlummernde Regeln, die durchzusetzen niemand einen wirklichen Versuch macht. Zweitens gibt es Regeln, die mehr oder weniger dem lebenden Recht angehören, aber geradezu klassische Interpretationsprobleme heraufbeschwören. Was ist eigentlich ihre Bedeutung und wie weit reichen sie? Was macht ein Schiff seetüchtig im Sinne des Seerechtes? Wann ist jemand infolge einer Geisteskrankheit nicht mehr schuldfähig? Viele dieser Regeln, wenn auch nicht alle, sind in der Sprache der Ermessensnormen abgefaßt. Bei einigen existiert die Unsicherheit nicht wegen, sondern trotz des Textes. Was diese Regeln erschüttert, sind soziale Konflikte, Anfechtungen und Begehren. Viele Regeln sind überdies doppelt ungewiß. Das Erste Amendment der Amerikanischen Verfassung verbietet Einschränkungen der Redefreiheit. Niemand kann aber eine exakte Definition der Redefreiheit geben, und das Erste Amendment versucht es gar nicht. Daher ist der Wortlaut selbst nicht frei von 12 Der Grund wird darin bestehen, daß der Richter wie die Öffentlichkeit glaubt, daß Kinder bei ihren Müttern besser aufgehoben seien. 13 Vgl. allgemein zu diesem Thema Lawrence M. Friedman: Legal Rules and the Process of Sodal Change, 19 Stan. L. Rev. 786, 791 f. (19'67). 14 Auch der gegenteilige Prozeß kann sich abspielen.

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Schwierigkeiten. Trotzdem wäre die Bedeutung der Norm klarer, wenn soziale übereinstimmung z. B. über Obszönität oder Aufwiegelung bestünde. Ein dritter, ebenso wichtiger Teil des Rechts besteht aus anerkannten Regeln, d. h. solchen, die leben und funktionieren, die von niemandem in Frage gestellt werden. Es steht außer Zweifel, daß ein gewöhnlicher Scheck übertragbar ist, und daß es für ein Testament in West-Virginia zwei und nicht mehr Zeugen braucht. Anerkannt bedeutet nicht unbedingt, daß die Regel der Form nach objektiv ist. Gewiegte Leute können sich immer einen zweifelhaften oder einen Grenzfall vorstellen. Hat ein Achtzehnjähriger das Stimmrecht, wenn sein Geburtstag auf den Wahltermin fällt? Kann er, wenn er an diesem Tag abwesend ist, den Wahl zettel vor seinem achtzehnten Geburtstag einwerfen, wenn die Stimme erst nach seinem Geburtstag gezählt wird? Anerkannt bedeutet auch nicht, daß die Regel an sich frei von jedem Zweifel ist. Es bedeutet vielmehr, daß die Norm unter der Voraussetzung gewöhnlichen Verhaltens und Verstehens tatsächlich zu keinen Zweifeln Anlaß gibt. In diesem Sinn sind wirkliche, brauchbare Regeln allgemein anerkannt. Das muß auch so sein, denn sonst könnten heute das Zusammenleben der Menschen und die Marktwirtschaft kaum funktionieren. Ein Rechtssystem wäre untragbar, wenn alle Regeln verschiedene Interpretationen erlaubten, wenn sich aus jeder Aussage und jedem Begriff hübsche Streitfragen ergäben. Die Leute müssen wissen, was im alltäglichen Leben erlaubt und was gesetzwidrig ist, was gültig ist und was nicht. Z. B. müssen sie wissen, wie schnell sie ihren Wagen auf der Straße fahren dürfen. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist besser als ein Schild, auf dem zu lesen steht: "Fahre mit vernünftiger Geschwindigkeit." Die Leute müssen wissen, daß durch eine Urkunde, die in einer gewissen Weise ausgefertigt wurde, ein Haus gültig übertragen wird. Der Käufer muß leidlich sicher sein, daß er ins Haus einziehen, darin bleiben, es verkaufen oder damit handeln kann. Die Wirtschaft wäre in ihrer gegenwärtigen Form nicht funktionsfähig, wenn jeder unbedeutende Akt von der Ermessensmacht eines staatlichen Büros abhinge. Eine Marktwirtschaft, ja, in dieser Hinsicht auch eine sozialistische Wirtschaft, verlangen vom Rechtssystem ein großes Maß an Sicherheit - nicht in den abstrakten Normen, welche Juristen diskutieren, sondern in denjenigen Bereichen des Rechts, die Alltagsangelegenheiten regeln. Eine Gesellschaft, welche aus dem Markt eine ihrer zentralen Institutionen macht, hat ein spezielles Bedürfnis, ein System von sauber definierten und gesicherten Erwartungen hinsichtlich der wahrscheinlichen offiziellen und nicht offiziellen Konsequenzen privaten Risikos und privater Entscheidung zu kreieren und zu be-

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halten 15 • Die Wirtschaft ist der offensichtlichste Fall des Bedürfnisses nach solcher Sicherheit. Andere Teile des sozialen Systems, welche das Recht berührt, haben ihr eigenes Verlangen nach Sicherheit, entweder um der Leistungsfähigkeit willen oder um soziokulturelle Bedürfnisse zu befriedigen. Das Bedürfnis nach Rechtssicherheit ist augenfällig, doch die Rechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts haben es allzu sehr betont, wogegen sich dann das Denken des 20. Jahrhunderts wandte. Im 19. Jahrhundert betonte man aus vielerlei Gründen die formalen, mechanischen und deduktiven Aspekte des Rechts. Die legal realists machten sich etwa von 1920 an über den Hunger nach Sicherheit lustig. Jerome Frank, um nur einen zu nennen, bezeichnete es als Illusion oder Mythos, daß das Recht annähernd stationär und sicher ist oder sein kann l6 . Er dachte, daß Juristen und Laien nach einer Vaterfigur ("the child's Father as Judge") suchten, wenn sie von diesem unerreichbaren Ideal träumten. Man beachte, daß Frank Sicherheit und Unveränderlichkeit in einen Topf wirft, obwohl es ganz verschiedene Dinge sind. Vielleicht ist es primitiv, sich das Recht als ewig und unveränderlich vorzustellen. Auf kurze Sicht Beständigkeit und Sicherheit zu wollen, ist jedoch in keiner Weise primitiv. Das heißt nicht, daß perfekte Sicherheit erreichbar wäre, ganz besonders nicht in Fällen, die vor Gericht gelangen. Viele Faktoren lassen sich nicht voraussehen, und je länger und komplizierter der Prozeß, desto häufiger sind sie. Dieser Gesichtspunkt ist noch wichtiger für die Verfahren vor zweiter Instanz. In alltäglichen Angelegenheiten und Routinefällen jedoch ist eine vernünftige Sicherheit erreichbar - und muß es in der Tat auch sein. Das Rechtssystem muß also die Normen mit Ermessensspielraum irgendwie in vernünftigen Grenzen halten. Es sind dies Normen, die nicht direkt lenken; sie geben keine klar gefaßte Anleitung zum erwarteten Verhalten. Wirtschaft und Gesellschaft können einige solcher Regeln als Luxus hinnehmen. Auch g,ibt es Bereiche, in denen nach dem Willen der Gesellschaft die Rechtsanwendung sorgfältig auf den einzelnen Fall abgestimmt werden soll - so bei Mord, aber wohl kaum beim Falschparken. Zur Durchführung von Rechtsgeschäften braucht es im großen und ganzen zugreifende, objektive Regeln. Die Norm, daß es zu einer letztwilligen Verfügung zwei Zeugen braucht, ist starr, unflexibel, primitiv, wenn man so will, aber besser als eine Regel, welche eine "vernünftige" Anzahl von Zeugen je nach Art des Falles fordert. Offene, flexible Regeln sind unbestreitbar gerechter, weniger hart, in größerer Übereinstimmung mit dem Gerechtigkeitsgefühl; aber sie sind 15 J. Willard Hurst: Law and the Conditions of Freedom in the Nineteenth Century United States, 1956, S. 22. 16 Jerome Frank: Law and the Modern Mind, 1930, S. 13 - 21.

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nicht leistungsfähig. Sie überlassen enorm viel an Ermessen - und folglich an Macht - denjenigen Beamten und Richtern, die die Regeln anwenden. Sie begünstigen Korruption und Launenhaftigkeit 17 • In ihrer Anwendung können solche Regeln das Moralgefühl der Gesellschaft eher beleidigen als ihm genügen. Sicherlich hat Festigkeit auch ihren Preis und ihre Grenzen. Das Rechtssystem ist keine Maschine; es wird von Menschen betrieben. In gewissem Sinn gibt die Gesellschaft die Befehle, und die Räder der Maschine tun meist, wie ihnen befohlen. Jede Rechtstheorie jedoch muß eine Menge Flauten, Spielraum, Ermessen und völligen Ungehorsam innerhalb des Systems in Betracht ziehen. Jedes Studium des Rechtssystems bestätigt dies. Ermessen ist natürlich nicht gleichmäßig über das ganze System verteilt; höhere Behörden verfügen manchmal über mehr Ermessen als niedrigere. Der Präsident der Vereinigten Staaten hat eine ehrfurchtgebietende Entscheidungsfreiheit; Postbeamte haben im Rahmen der Postreglemente bloß eine unbedeutende. Verwaltungsbeamte hohen oder mittleren Ranges verfügen normalerweise über ein beträchtliches Maß an Ermessen, während niedrigere Funktionäre meist keine offizielle Ermessensspanne haben, d. h. keine oder nur eine geringe Kompetenz zur Änderung irgendwelcher Regeln18 • Ein absoluter Diktator, dessen Wort Gesetz ist, bildet das eine Extrem; das andere Extrem verkörpert der Standesbeamte hinter dem Schalter, dessen Arbeit klar definiert ist und der die Gesetze als gegeben hinnimmt. Wir behaupten, daß der Beamte kein Ermessen hat. Was bedeutet das? Offensichtlich hat er eine Wahl im physischen Sinne, aber "Wahl" hat auch eine ethische oder normative Bedeutung. Einer Institution oder Person kann in gesetzlicher oder moralischer Hinsicht das Ermessen fehlen. Damit meinen wir, daß der Handelnde, gemessen an irgend einem Standard, sich nur dann adäquat verhält, wenn er sich in genau vorgeschriebener Art benimmt. Wir erkennen gleichzeitig, daß einige Leute sich falsch benehmen. Wir können sagen, ein Polizist sei durch Regeln gebunden, er sei nicht ermächtigt, von sich aus einen Unschuldigen ohne Grund zu verhaften, Gefangene zu schlagen oder Beste17 Straffe Regeln geben natürlich keine Garantie gegen Korruption. Man könnte sogar argumentieren, Korruption trete gewiß auf, wenn die Regeln zu straff sind: Die Rationierung züchtet den SChwarzmarkt. Korruption und Ermessensmißbrauch sind auch von Rechtskultur zu Rechtskultur verschieden, vgl. Kap. IX. Sicher ist nur, daß objektive Normen einem prophylaktischen Zweck dienen. Vgl. Kenneth C. Davis: Discretionary Justice: A Preliminary Inquiry, 1969. 18 Dieser Gesichtspunkt kann überbetont werden. Sogar der Präsident muß sich dem Willen des Kongresses und der Gerichte beugen, während auf der andern Seite der Polizist auf Patrouille in seiner Sphäre über enormes Ermessen verfügt. Wayne R. La Fave: Arrest: The Decision to Take a Suspect into Custody, 1965; Johannes Feest und Erhard Blankenburg: Die Definitionsmacht der Polizei, 1972.

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chungsgelder anzunehmen. Polizisten tun diese Dinge aber bisweilen ungestraft. Dieses Verhalten ist natürlich ungesetzlich. Man betrachtet es als Fehler im System, den man nach Möglichkeit ausmerzen muß. Eine etwas andere Situation ist die folgende: Der Handelnde hat tatsächlich eine Wahl, und es existieren Maßstäbe und Normen über seine Pflichten, dennoch ist "falsches" Verhalten nicht ungesetzlich, nicht widerrechtlich. Diese Situation ergibt sich beispielsweise, wenn ein Appellationsgericht einen Fall "falsch" entscheidet. Damit meinen wir, daß das Gericht die falschen Normen wählte oder sie unkorrekt anwandte oder gemessen an außerrechtlichen Maßstäben einen Fehler beging. Aber selbst wenn wir das Gericht ertappen, können wir weder theoretisch noch praktisch gegen diesen Ermessensmißbrauch vorgehen. Dieses Beispiel weist auf eine wichtige, vielleicht zentrale Bedeutung des Ermessens hin. Wer einen Entscheid fällt, hat das Ermessen, zwischen den Alternativen A und B zu entscheiden, wenn kein anderer berechtigt ist, den Entscheid nach einer überprüfung zu korrigieren, sei er nun gut oder schlecht. So ist es auch gemeint, wenn wir sagen, ein Richter oder die Geschworenen hätten Ermessen über Schuld oder Unschuld oder die Verurteilung einer Person, die eines Verbrechens überführt ist. Es bedeutet, daß es keine Überprüfung in bezug auf diesen Aspekt ihrer Tätigkeit gibt. Natürlich ist die Frage kompliziert, wie weit Richter und Geschworene solche Rechte haben. Von dem, was sie tun, kann vieles überprüft werden, aber es bleibt ein nicht überprüfbarer Anteil, den wir Ermessen nennen. Dies ist eine nützliche Definition des Ermessens, weil sie eher empirisch als normativ ist. Sie ermöglicht vielleicht festzustellen, welche Rolle das Ermessen in einem Rechtssystem spielt. Wir können beobachten, welche Personen und Handlungen überprüft werden können und welche nicht, entsprechend den Regeln des Systems oder sonstigen Verhaltensmustern. Diese Aufgabe wird nie leicht sein, denn die Normen des Systems selbst sind manchmal paradox und widersprüchlich. In den Vereinigten Staaten haben Geschworene wirkliches Ermessen, einen des Mordes Angeklagten in die Freiheit zu entlassen. Urteile der Geschworenen sind nämlich endgültig. Dennoch existiert eine Theorie oder Doktrin, wonach die Geschworenen an die Gesetze gebunden sind und in übereinstimmung mit ihnen entscheiden müssen. Dieser fromme Wunsch als solcher schränkt ihre Macht nicht ein. Urteile eines Geschworenengerichts können nicht in Frage gestellt oder überprüft werden. Also ist es nicht ungesetzlich, wenn ein Geschworenengericht einen Schuldigen freiläßt. Die Geschworenen haben sowohl reales als auch formelles Ermessen. Ein Polizist oder ein Richter kann auf korrupte Weise Ermessen aus-

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üben, das ihm gar nicht zukommt, oder die Korruption kann Ermessen beseitigen, welches das Gesetz formell gewährt. Richter können sich entgegen dem formellen Gesetz verpflichtet fühlen, politische Größen, die Partei oder einflußreiche Personen zu begünstigen. Normen und Werte begrenzen das Ermessen, sogar wenn das formelle Recht dies nicht tut. Die Ermessensausübung ist lediglich eine Art des Rechtsverhaltens, die weder durch formelle Sanktionen noch durch überprüfung kontrolliert wird. Wie wir in späteren Kapiteln ausführlicher darlegen werden, gibt es generell drei Arten der Kontrolle des Rechtsverhaltens. Auch wenn die Sanktion fehlt, bleiben zwei Kontrollarten übrig: Die Meinung bedeutender Drittpersonen und die Werte und Normen des Handelnden selbst. Viele lockere Richtlinien bestimmen das Verhalten trotz gänzlicher Ermessensfreiheit, weil sie die öffentliche Meinung verkörpern oder die Werte und Normen des Handelnden selbst ausdrücken. Es gibt niemanden, der überprüfen könnte, was der Supreme Court oder das House of Lords oder die Cour de Cassation tun. Diese Gerichte haben, anders ausgedrückt, ein enormes Ermessen. Doch sie verhalten sich nicht willkürlich oder wunderlich; sie berücksichtigen in großem Maße Regeln, Wertvorstellungen und Normen. Formelles Ermessen ist demnach von realem Ermessen recht verschieden; das eine läßt sich nicht aus dem andern herleiten. Und doch ist formelles Ermessen eine Angelegenheit von großem Interesse und großer Bedeutung und neigt dazu, Kontroversen hervorzurufen. Ermessen bedeutet in seiner Sphäre ungezäumte Macht. Jedenfalls muß irgendwo im Rechtssystem die endgültige Entscheidungsmacht ruhen. Es braucht diese letzte Zuflucht, sonst könnten sich Streitigkeiten immerfort von einem Gericht zum andern hinziehen. Wo diese Macht liegen und wie groß ihr Einfluß sein soll, wird ständig diskutiert. Die Spitzen der Regierung schaffen unzählige Agenturen, Büros, Ausschüsse und Kommissionen. Sie brauchen alle einen Freiraum, um planen und lenken zu können, scheinen aber auch die Freiheit des Bürgers zu bedrohen, wenn sie nicht kontrolliert werden. Mindestens drei Vorbedingungen sind zur Kontrolle oder Einschränkung des Ermessens notwendig. Primär braucht es einen Normenkatalog im wörtlichen oder übertragenen Sinne. Es ist mit anderen Worten eine Quelle notwendig, welche schlicht und einfach festlegt, was der Handelnde tun muß. Ermessen gedeiht im Rahmen von unbestimmten Normen, die verschiedene Interpretationen zulassen!9. Zweitens braucht es ein Kommunikationssystem von oben nach unten und umgekehrt; also einen Weg, um die Regeln und deren Inhalt dem Anwender nahezubringen, und einen Weg, um herauszufinden, ob er dem Sinn und la

Siehe dazu allgemein Davis lN. 17).

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Geist der Regeln entsprechend handelt. Schließlich braucht es ein Mittel, um den Handelnden bei der Stange zu halten und seine übereinstimmung zu erzwingen. Das würde vor allem Belohnungen und Strafen voraussetzen, obwohl sich ein Vorgesetzter vielleicht des Einflusses der peers oder anderer Mittel bedienen könnte, um eine "freiwillige" übereinstimmung herbeizuführen20 • Diese Methoden und Vorbedingungen sind, wie wir sehen werden, für die Durchsetzung jeglicher Regel dieselben, handle es sich um Normen mit oder ohne Ermessensspielraum. Mit anderen Worten, die Techniken zur Einschränkung des Ermessens sind nur ein Spezialfall eines allgemeineren Problems: Nämlich desjenigen, wie Rechtsverhalten bewirkt, beeinflußt oder geändert werden kann. Weil Verwaltungsbeamte mit weitem Ermessen ein durchgehendes Charakteristikum modernen Lebens sind2 1, ist das Problem besonders akut und dornig.

über Ermächtigungen Nicht alle Regeln sind Anordnungen, Befehle oder Verbote. Einige erteilen Privilegien und ermächtigen zu gewissen Handlungen: Du darfst das tun, wenn du willst. Wie alle Regeln ordnen Ermächtigungen den Feststellungen rechtlicher Tatsachen Konsequenzen zu. Wenn die Bank den Scheck nicht akzeptiert, karn man sie auf Schadenersatz verklagen. Ermächtigungen herrschen im Zivilrecht vor, Verbote im Strafrecht. Alle Rechtsnormen jedoch zielen auf ein Verhalten ab. Regeln drücken im allgemeinen die kollektive Entscheidung aus, daß die Gesellschaft oder deren herrschende Gruppe das Verhalten in eine bestimmte Richtung lenken will. Das Strafgesetzbuch drückt das Ziel aus, die Leute 20 Die Regeln und ihre Durchsetzung sind nicht notwendig von der Regierung gestaltet. Betrachten wir z. B. den Chirurgen eines Anneespitals. Die meisten der für ihn geltenden Regeln sind keine militärischen sondern Berufsregeln, die er mit der Erlernung seines Berufs kennen lernt. Die Wertvorstellungen des medizinischen Berufs, die er in sich aufgenommen hat, tragen viel zur Durchsetzung dieser Regeln bei. Das Rechtssystem braucht Berufsleute in vielen Bereichen - Ärzte, Buchhalter, Krankenschwestern, Ingenieure, Biochemiker. Wenn sie ihre Rollen ausfüllen, wenden sie ihre bekannten und zuverlässigen Vorschriften an. Den Berufsleuten kann zur Ausübung ihrer Berufe Ermessen zum Teil deshalb eingeräumt werden, weil man weiß, daß sie meist bestimmten Regeln folgen und sich durch bekannte Maßstäbe leiten lassen werden. Dieses Ermessen wird ihnen natürlich nur eingeräumt, wenn das System die Berufsregeln und -maßstäbe befolgt wissen will. So will die Armee, daß der Chirurg beim Operieren von Armeeangehörigen wie ein Arzt handelt. Wo Berufsregeln nicht die gewünschten Resultate zeitigen würden, werden sie durch andere Normen überlagert oder ergänzt. 21 Vgl. den scharfsinnigen Essai von J oel Handler: Controlling Official Behavior in Welfare Administration, in Jacobus ten Broek (Hrsg.): The Law of the Poor, 1966, S. 155.

über Ermächtigungen

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am Töten oder Vergewaltigen oder Stehlen zu hindern. Es verleiht seinen Worten mit formellen Sanktionen Nachdruck. Aber Strafe ist nicht der einzige Weg, das Verhalten zu lenken. Einige Gesetze bieten Belohnungen an. Andere Normen und Normsysteme offerieren subtile Mischungen von Strafe und Belohnung. Das Steuergesetz der Vereinigten Staaten z. B. besteuert einige Einkommensarten und läßt andere steuerfrei, gewährt demjenigen Steuervergünstigungen, der nach Öl bohrt oder Geld für wohltätige Zwecke spendet, und bedroht Steuerhinterziehung mit Buße oder Gefängnis. Ein Untersystem von Regeln ist eine komplexe Anordnung, eine Art von juristischem Supermarkt: Eine große Auswahl von Produkten mit verschiedenen Preisen, Pakkungen und Kaufanreizen wird angeboten. Die Freiheit, Äpfel zu kaufen oder nicht, bedeutet nicht, daß ihr Besitzer dem Verkauf gleichgültig gegenübersteht oder daß er nicht mehr Äpfel verkaufen könnte, wenn er den Preis senken oder den Service verbessern würde. Die Regeln des Vertragsrechts sind typisch für das Zivilrecht. Sie enthalten wenig Gebote und Verbote und viele Feststellungen über Pflichten, Rechte, Privilegien und Ermächtigungen. X stimmt dem Verkauf einer Wagenladung Bauholz an Y zu. Er unterläßt es, das Bauholz zu liefern, welches Y dann auf dem freien Markt kauft. Y kann nun Schadenersatz in der Höhe dessen verlangen, was er für das Holz über den Vertragspreis hinaus bezahlt hat. Diese und andere Normen geben den Holzhändlern einen gewissen Anreiz, sich an ihre Abmachungen zu halten, und haben mindestens eine bescheidene abschrekkende Wirkung hinsichtlich des Vertragsbruchs. Dennoch ist der Vertragsbruch nicht verboten. Weder ist es gesetzwidrig die Lieferung des Bauholzes zu unterlassen, noch hat der Käufer eine Pflicht, wegen Vertragsbruch nicht verboten. Weder ist es gesetzwidrig, die Lieferung des Preis des Bauholzes nicht gestiegen ist, hat er keinen finanziellen Anreiz zur Klage. Er kann den Vertragsbruch ignorieren oder die Angelegenheit außergerichtlich regeln. Beide Alternativen sind wahrscheinlicher als der Prozeß. Die Normen über den Vertragsbruch mögen das Vertragsverhalten beeinflussen oder nicht; sicher haben sie einen gewissen Einfluß auf den Entscheid einer Partei zu klagen. Änderungen der Normen können die Klagebereitschaft erhöhen oder vermindern. Normen, welche höhere Schadenersatzsummen in Aussicht stellen, würden zu mehr Prozessen ermutigen. Außergerichtlich beeinflussen die Normen die Verhandlungen und die Schlichtung. Die meisten Fälle von Körperverletzung gelangen nie vor Gericht, doch die Anwälte führen die Normen über die unerlaUbte Handluilg iils Feld und versuchen so, ein günstiges Ergebnis für ihren Mandanten zu erreichen. Wie der (imaginäre) Prozeß ausgehen würde, wirkt sich auf das Kräfteverhältnis unter den Beteiligten

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Kap. II: über Rechtsakte

aus 22 • Kosten- und Zuständigkeitsvorschriften beeinflussen die Verhandlungsposition ebenfalls und wirken als Anreiz oder Abschreckung, Ermächtigungen gleichen andern Normen, nur unterscheiden sich die Anreize, welche sie bieten, und die institutionellen Vorkehren, welche sie einschließen, in ihrer Art mehr oder weniger. Die Hierarchie der Normen Einige Regeln sind, wie Orwells Schweine, gleicher als andere. Regeln können in der Art einer Pyramide verschiedene Ränge einnehmen. Bei Widersprüchen gehen die höheren den niedrigeren vor. In einem konstitutionellen System haben die Verfassungsnormen höhere Geltung als gewöhnliche Gesetzesnormen, und ein Gesetz geht einer Gemeindeordnung oder einer Verwaltungsverordnung vor. Normalerweise bedeutet höhere Geltung nicht, daß die Norm moralisch vollkommener ist, sondern lediglich, daß diejenigen, welche sie aufstellten, in der Regierungspyramide höher stehen. Einige Gelehrte unterscheiden zwischen Prinzipien und Regeln. Prinzipien sind über-Regeln, aus denen man andere Regeln ableitet, also Muster oder Modelle für Regeln. Manche Leute gebrauchen das Wort Prinzip in etwas anderem Sinn. Ein Prinzip dient als Standard, d. h. als Regel, an welcher man den Wert oder die Geltung minderer Regeln mißt. Eine dritte Bedeutung des Wortes Prinzip ist diejenige der induk~ tiven Abstraktion. Ein Prinzip in diesem Sinn ist eine weit gefaßte, generelle Norm, welche viele niedrigere, spezielle Normen zusammenfaßt. Im bekannten Fall Riggs gegen Palmer23 ging es um die Frage, ob ein sechzehnjähriger Knabe, der seinen Großvater vergiftet hatte, diesen beerben könne. Das Gericht verneinte die Frage und verwies auf das "Prinzip", wonach es niemandem erlaubt sei, von seinem Betrug zu profitieren, Vorteil aus eigenem Unrecht zu ziehen, einen Anspruch auf eigenes unbilliges Verhalten zu gründen oder durch ein Verbrechen Besitz zu erwerben. Was macht aus dieser Maxime ein Prinzip? Es passen alle drei erwähnten Bedeutungen: Sie ist vorab eine weit gefaßte Feststellung, aus der eine Anzahl von Unter-Regeln abgeleitet werden könnte, sie bedeutet aber auch ein ethisches Bekenntnis, an welchem man die Geltung von Unter-Regeln prüfen könnte, und ließe sich ebenfalls als eine Induktion darstellen, welche auf höherem Abstraktionsniveau viele vorangegangene Entscheide und Meinungen zusammenfaßt. 22 Alfred Conard u. a.: Automobile Accident Costs and Payments, 1964; H. Laurence Ross: Settled Out of Court, the Social Process of Insurance Claims Adjustments, 1970. 23 Riggs v. Palmer, 115 N. Y. 506,22 N.E. 188 (1889).

über die Realität der Normen

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Die drei Bedeutungen haben einen gemeinsamen Kern: Ein Prinzip ist eine Art Nonn höherer Ordnung. Es gibt gewöhnliche Alltagsnormen, die Arbeitspferde des Rechtssystems, und es gibt Prinzipien von höherer Moral oder mindestens größerer Abstraktion. Wegen ihrer Abstraktheit sind Prinzipien mehr dem Ennessen überlassen als Normen, welche darunter fallen. ("Darunter fallen" bedeutet entweder, daß diese Regeln das Rohmaterial bilden, aus dem jemand das Prinzip abstrahiert hat, oder daß das Prinzip das Modell war, von welchem sie abgeleitet oder an welchem sie geprüft wurden.) Die Feststellung, daß jemand nicht aus eigenem Unrecht profitieren solle, entscheidet einen konkreten Fall nicht automatisch. Eine klare Nonn, daß ein Mörder sein Opfer nicht beerben kann, tut das schon viel eher. Zwischen Prinzip und Entscheidung treten Ennessen und Beurteilung; oder anders ausgedrückt: das Prinzip ist in seiner Anwendung sehr ennessensabhängig. Ein Prinzip ist, kurz gesagt, nichts anderes als eine bestimmte Art Regel, niedergelegt in generell abstrakter Fonnulierung24 • Alle Prinzipien können so charakterisiert werden. Doch sprechen die Leute meist in nonnativem Sinne von Prinzipien als etwas Höherem, Vornehmerem und Feinerem, verglichen mit einer Regel. Ob eine abstrakte Feststellung diese Qualität hat, bestimmt sich nicht nach ihrer Abstraktheit, sondern danach, ob sie Maßstäbe setzt, welche ethische Loyalität in der Gemeinschaft verlangen. Einige Prinzipien und Regeln tun dies, andere nicht. Jene Prinzipien, die es tun, kontrollieren die Anwendung von Regeln, d. h. sie wirken als Standard und Legitimation für die Regeln. Sie sagen uns, warum in einer bestimmten Gesellschaft gewisse Normen gültig sind und andere nicht, warum einige gültiger sind als andere. Das Prinzip, daß niemand aus eigenem Unrecht Nutzen ziehen soll, erklärt die N onn, wonach ein Mörder sein Opfer nicht beerben kann, und verleiht ihr gleichzeitig Geltung. Derartige Prinzipien sind von besonderer Bedeutung bei der Erforschung der Rechtskultur und der Haltung des Volkes gegenüber dem Recht. Ober die Realität der Normen Die an gewandten Nonnen eines Rechtssystems sind größtenteils keine Prinzipien und abstrakten Standards. Das Recht arbeitet mit Nonnen, 24 Zur gegenteiligen Ansicht vgl. Ronald Dworkin: The Model of Rules, 35 U. Chi. L. Rev. 14 (1967), der argumentiert, daß Prinzipien von Regeln wesentlich verschieden seien. Aber Dworkin gebraucht den Ausdruck Regel restriktiver, als er hier verwendet wird. Für ihn wird eine Regel desto "regelhafte);", je objektiver sie ist. Für eine andere Art der Unterscheidung zwischen Normen und Prinzipien vgl. Joseph Raz: Legal Principles and the Limits of Law, 81 Yale L. J. 823 (1972).

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Kap. II: über Rechtsakte

die auf dem Boden der Realität stehen. Aber man kann sogar deren Funktion in Frage stellen, denn man sieht nie eine Norm, sondern nur Verhaltensmuster. Wir können das Verhalten beschreiben und es sorgsam in Regeln kleiden. Es scheint überwiegend mit vor-existierenden formellen Regeln übereinzustimmen. Wie können wir jedoch wissen, ob diese Normen das Verhalten bewirkten? Sie existieren auf dem Papier, aber Papiernormen können ignoriert werden. Das Verhalten steht vielleicht gar nicht in Zusammenhang mit den Normen; diese rechtfertigen es nur nachträglich. Entscheiden die Normen Rechtsfälle? Ein Richter z. B. mag einen Haufen von Normen in seine Urteilsbegründung quetschen oder ganze Abschnitte eines Gesetzes zitieren und geltendmachen, er sei durch diese Regeln gebunden, sein Entscheid werde durch sie diktiert. Wie wissen wir, ob sie wirklich für sein Urteil verantwortlich sind? Weiß es der Richter selbst? Das Rechtsdenken des 19. Jahrhunderts nahm die Realität der Normen und ihre starke Einwirkung auf das Rechtsverhalten ziemlich ernst. Das Denken des 20. Jahrhunderts ist weit skeptischer. In den Vereinigten Staaten ist dieser Skeptizismus mit den legal realists verknüpft, die in den zwanziger Jahren lautstark auf sich aufmerksam machten. Ihr Eifer ist Geschichte, aber einige ihrer Ideen sind in die Köpfe vieler Juristen gedrungen. Karl Llewellyn25 und Jerome Frank~ gehörten zu den bedeutendsten Sprechern des Realismus, der an sich eine sehr komplexe Bewegung war. Die Realisten vereinte die Abneigung gegen die ältere Jurisprudenz, welche sie als "mechanisch" oder "begrifflich" verlachten. Im übrigen hatten die einzelnen Mitglieder der Bewegung wenig Gemeinsames. Skepsis gegenüber Normen gehörte auch zum Wesen realistischen Denkens. Llewellyn legte dar, daß die Realisten den traditionellen Regeln und Begriffen mißtrauten, soweit diese für sich in Anspruch nähmen, das Verhalten von Gerichten und Leuten zu beschreiben. Sie mißtrauten ebenfalls der Theorie, daß die traditionellen, vorschreibenden Normformulierungen den eigentlichen Beweggrund für Gerichtsentscheidungen darstellten 27 • Wer den Normen gegenüber Skepsis beweist, geht mit einer unbestreitbaren Einsicht an die Sache heran: Er sieht, daß einige Normen kaum und andere überhaupt nicht durchgesetzt werden. Er bemerkt auch, daß Richter und Anwälte Normen oft gebrauchen, um vorgege.,. 25 Vgl. z. B.: A Realistic Jurisprudence the Next Step, 30 Colum.. L. Rev. 431 (1930); und:. Some Realism.about Realism, 44 Harv. L. Rev. 1222 (1931); die Bewegung wird allgemein behandelt bei Wilfrid E. Rumble Jr.: American Legal Realism, 1968. 26 Law and the Modern Mind,. 1930. 27 Karl Llewellyn: Some Realism about Realism, 44 Harv. L. Rev.1222, 1236f. (1931); über die instrumentale Betrachtungsweise des Rechts vgl. auch Kap. VIII.

über die Realität der Normen

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bene Tatsachen nachträglich zu rechtfertigen. Viele Normen sind überaus abstrakt oder sogar tautologisch. Sie können kaum das Verhalten von Richtern lenken, welche im Rahmen ihres Ermessens frei auslegen dürfen. Kurz, die Normen herrschen nicht aus sich selbst. Niemand kann aus ihrem Wortlaut auf das Verhalten der Richter schließen. Wollte man diesen Gesichtspunkt auf die Spitze treiben, müßte man sagen, daß Normen nichts bedeuten, daß die Richter ganz einfach tun, was sie wollen. Die Idee mag absurd erscheinen, ist logisch jedoch nicht unmöglich. Sogar wenn die Regeln völlig unbeachtet blieben, würden nicht Zufall und Laune im Gerichtssaal regieren. Es bedeutete nur, daß etwas anderes als offizielle Regeln, z. B. die Anschauungen und Werte der Richter, die Urteile bestimmen würden. Man stelle sich einen im Stillen fanatischen .Marxisten vor, der das Amt eines Richters in einem nicht-marxistischen Land ausübt. Man stelle sich weiter vor, er wäre gesonnen, jeden Fall nach seinem Verständnis des Marxismus zu entscheiden, ohne jedoch entdeckt zu werden. Er würde die bestehenden Normen kaltlächelnd als Rechtfertigung seiner Entscheide gebrauchen, obwohl in Wirklichkeit seine Ideologie die Fälle für ihn entschiede. Was dabei herauskäme, wäre gar nicht zufäIHg, sondern leicht voraus~ zusagen, sobald man einmal seinen Code entschlüsselt hätte. Dennoch würden seine Begründungen nicht anders aussehen als jene seiner Kollegen. Wer diese Ansicht bezweifelt, sollte bekannte Fälle korrupter Richter in Betracht ziehen28 • Bis zu ihrer Entlarvung hielten diese Richter die Rechtsgemeinschaft zum Narren, denn die auf Bestechung beruhenden Urteile überzeugten nicht weniger als die pflichtgemäß ergangenen. Soziologen, welche sich mit Rechtswissenschaft befassen, neigen ebenfalls zum Normenskeptizismus. Sie setzen die Existenz eines Codes voraus und suchen unablässig nach Wegen, ihn zu entschlüsseln. Dabei gehen sie über Normen und geschriebene Urteile hinaus, halten das, was herauskommt, für unumstößliche Tatsachen und erforschen Persönlichkeit, Ansichten und Werte der Richter auf der Suche nach einer Erklärung für die Urteile. Die Resultate sind manchmal interessant, oft aber enttäuschend. Der Fehler des Normenskeptizismus ist, wenn es ihn überhaupt gibt, kein logischer. Er besteht im empirischen Mißlingen. Es scheint eine Tatsache zu sein, daß einige Leute einigen Normen zeitweilig folgen; möglicherweise tun dies sogar alle Leute. Wir sagen "es scheint", weil es schwierig zu beweisen ist. Die meisten Gerichtsbeamten und Prozeßbeobachter merken, daß die Richter meistens ehrlich bemüht sind, Normen zu finden und ihnen zu folgen. Dies ist nur ein Eindruck, eine 28

Joseph Borkin: The Corrupt Judge, 1962.

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Kap. II: über Rechtsakte

ungeprüfte Hypothese. Bei näherer Analyse könnte sie sich als komplett falsch erweisen, aber die Beweislast obliegt jenen, welche den Normen jede Wirksamkeit absprechen. Sicher ist kaum einzusehen, wie die Regierung funktionieren würde, wenn die niedrigeren Beamten nicht in irgendeiner Weise an Regeln gebunden wären. Standesbeamte, Angestellte der Altersversorgung, Fleischbeschauer und Liftinspektoren müssen sich größtenteils an ihr Reglement halten, was sie auch tun oft sogar allzu kritiklos, wenn man den Studien über das Beamtenverhalten glauben will. Einige Normen haben also wirkliche Lenkungsfunktion, jedoch nicht alle; so bleibt immer zu erklären, warum die einen herrschen und nicht die anderen. Der Grund mag Gewalt oder deren Androhung sein - die Furcht des Angestellten, daß er seine Stelle verliert - vielleicht auch Loyalität oder Stolz. Jedenfalls ist die Feststellung, welche Normen wann und warum herrschen, eines der größten Probleme der sozialwissenschaftlichen Erforschung des Rechts. Wie steht es mit den Prinzipien? Da Prinzipien eine Art Regel darstellen, ist es genauso leicht, die Realität der Prinzipien zu bestreiten wie jene der Regeln. Ja es ist noch leichter, da den Prinzipien der Makel der Abstraktheit anhaftet und sie daher weniger wirkliche Macht zur Lenkung des Verhaltens haben. Ein Normen-Skeptiker ist meist auch ein Prinzipien-Skeptiker. Dieser Skeptizismus kann bis zum Exzeß gestrieben werden. In ihrer Rolle als Wächter, Richter und Geltungsmaßstab sind Prinzipien jedoch eine feste soziale Tatsache - wie die soziale Tatsache der Normen oder noch ausgeprägter. Die Realität der Prinzipien, die Frage wie, wann und warum sie herrschen, ist ein weiteres Problem der empirischen Forschung.

Kapitel 111

über die Wirkung des Rechts 1 Eine entscheidende Funktion der Regeln ist die Verhaltenslenkung. Folglich ist es ein wichtiges Ziel jeder rechtswissenschaftlichen Untersuchung, die Wirkung des Rechts auf das menschliche Verhalten zu ergründen2 • Unter welchen Voraussetzungen wird auf Rechtsnormen reagiert, werden sie angewandt; wann werden sie verletzt, mißbraucht oder nicht beachtet? Dieses Kapitel gibt mit einigen Unterscheidungen, Definitionen und Vorschlägen eine Einführung in das Thema. Die folgenden zwei Kapitel befassen sich mit spezifischen Faktoren, die das Rechtsverhalten formen oder verändern. Rechtsakte weisen vielerlei Formen auf. Jeder Entscheid einer zuständigen Instanz, jede neue Norm oder die Bestätigung einer schon bestehenden ist ein Rechtsakt. Er erzeugt eine Wirkung, sofern er in kausaler Verbindung mit dem Verhalten einer Person steht. Rechtsakte gelten als wirksam, wenn das Verhalten in die gewünschte Richtung geleitet wird und die Rechtssubjekte ihnen Folge leisten. An dieser Wirksamkeit mangelt es vielen Normen, deren Befehle mißachtet werden. Selbst absichtlicher Ungehorsam kann Teil eines Verhaltenssystems sein, das sich auf einen Rechtsakt bezieht. Bewaffneter Raub ist beispielsweise verboten. Man kann ihn aber nicht als Teil der Wirkung der ihn verbietenden Norm bezeichnen, wenn das Verbrechen nicht in einer kausalen Verbindung mit der Norm steht. Sie bewirkt jedoch gewisse Unterschiede im Verhalten der Räuber; sie tragen z. B. Masken um zu verhindern, daß sie gefaßt und bestraft werden. Das Tragen von Masken ist in diesem Falle Teil der Wirkung eines konkreten Rechtsaktes. Wirkung ist mit andern Worten mehr als nur ein bestimmter Grad von Gehor;:;am; es ist der gesamte Einfluß eines Rechtsaktes auf das menschliche Verhalten, im positiven und im negativen Sinne3 • 1 Vgl. als frühere Version dieses Kapitels: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3 (1972). 2 Siehe im allgemeinen Harry Jones: The Efficacy of Law, 1969. 3 Eine ständig wachsende Anzahl Werke befaßt sich mit der Wirkung im Recht. In den Vereinigten Staaten untersuchen sie hauptsächlich die Wirksamkeit bestimmter Urteile des Supreme Court. Siehe z. B. Stephen L. Wasby:

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Kap. III: über die Wirkung des Rechts

Wirkung bezieht sich auf ein Verhalten, welches in gewissen Fällen einer quantitativen Messung zugänglich ist. Bei einigen Rechtsakten kann man sogar eine Wirksamkeitsskala konstruieren, die von 100 (vollständig positive Wirkung) bis 0 (vollständige Indifferenz) mit diversen Zwischenstufen reicht. Man stelle sich eine militärische Einheit von hundert Mann vor, die in einer Reihe stehen. Der Kommandant befiehlt, einen Schritt vorzutreten. Falls 65 Soldaten einen vollen Schritt vortreten, hat der Befehl die Punktzahl 65 auf unserer imaginären Skala erreicht. Der Befehl erhält dagegen die Punktzahl null, wenn sich kein Soldat rührt. Möglich sind auch negative Reaktionen, wie Zurücktreten, Davonlaufen oder auf den Kommandanten Schießen. Simple Nichtbefolgung bildet demnach eine Art neutralen Nullpunkt z. B. wenn die Soldaten den Befehl nicht hörten oder darüber nachgrübeln. Eine negative Punktzahl ist den schwereren Fällen von Ungehorsam zuzuordnen, so hauptsächlich dem Zusammenschluß zur Revolte sowie einem Verhalten, das den Befehl zunichte macht. Diese Nichtbefolgung stellt dann einen Angriff auf den Befehl selbst oder auf die Autorität der Person dar, die ihn erteilt. Sie ist vom Standpunkt des Kommandanten aus gravierender und schlichter Ungehorsam. Dieses Beispiel beschreibt eine recht einfache Situation, doch zeigen sich bereits hier enorme Unterschiede in der Art der Nichtbefolgung. Falls einige wenige Soldaten stehen bleiben oder keinen vollen Schritt vortreten, kann das kleine Untersystem vermutlich mit ihnen fertig werden; weniger jedoch, wenn sie davonlaufen, und noch weniger, wenn sie auf den Offizier schießen oder einen Handstreich versuchen. Der Befehl des Offiziers verlangt ein genau definiertes, positives Verhalten. Bei vielen derartigen Befehlen gibt es genau definierte Wirkungsstufen, die von bedingungsloser Befolgung über einfache Nichtbefolgung bis zu Herausforderung und Rebellion reichen. Man kann seine Steuererklärung rechtzeitig und wahrheitsgetreu, zu spät, überhaupt nicht oder betrü,,: gerisch ausfüllen. Nicht jeder Recbtsakt weist diese Charakteristik auf. Einige fordern einzig ein Unterlassen, wie nicht zu rauben, zu morden oder zu vergewaltigen. Bei diesen Normen denken wir normalerweise nicht an verschiedene Abstufungen der Befolgung und Nichtbefolgung. Mord ist ein Gesetzesverstoß, bei dem es kein offensichtliches Äquivalent zur Unterscheidung zwischen einfacher und schwerwiegender Nichtbefolgung gibt4. Es bestehen natürlich Unterschiede zwischen verschieThe Impact of the United States Supreme Court, Some Perspectives, 1970, vor allem Kap. 2. ..... .. . Die Betonung der Wirksamkeit hat auch Kritik hervorgerufen. Vgl. Donald J. Black: The Boundaries of Legal Sociology, 81 Yale L..J. 1086 (1972). 4 Es ist auch schwierig, die Befolgung zu quantifizieren: Wie mißt man die Zahl der Befolgungen der·Norm "Du sollst nicht töten"? Erhard Blankenburg: Die Selektivität rechtlicher Sanktionen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 21. Jg. (1969), 805, 808.

über die Wirkung des Rechts

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denen Mordtaten, die zeigen, wie gut ein System Ungehorsam verkraften kann. Sowohl Mord aus Leidenschaft wie Mord aus politischen Motiven bleiben Morde, ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft können aber sehr verschieden seinS. Befolgung und Abweichung sind manchmal leicht zu unterscheiden und schließen sich gegenseitig aus. Des öftern gestaltet sich diese Unterscheidung jedoch schwierig. Beim Beispiel mit den Soldaten ist klar, daß ein voller Schritt nach vorn Befehlsbefolgung bedeutet, doch gibt es verschiedene Arten von Schritten - halbe, solche zur Seite, widerwillige. Das Rechtssystem erläßt Tausende von Befehlen, viele davon sind sehr subtil und kompliziert. Die Adressaten reagieren in gleicher Weise. Einige Reaktionen sind eindeutig positiv oder negativ, während sich andere in der Mitte halten. So bietet das Ausfüllen der Steuererklärung unzählige Möglichkeiten für Unfug. Ein Normadressat gehorcht, wenn er aufrichtig versucht, den Erwar-:tungen des Gesetzgebers nachzukommen, so wie er sie versteht. Gehorsam ist also wissentliche übereinstimmung mit einer Norm oder einem Befehl6 , ein Beispiel bewußten Rechtsverhaltens im Hinblick auf den Rechtsakt, der es hervorgerufen hat7. Befolgung und Nichtbefolgung sind zwei Pole eines Kontinuums. Beim dazwischen liegenden Rechtsverhalten stellt die Umgehung einen wichtigen Verhaltenstyp dar. Sie vereitelt die Ziele eines Rechtsaktes, verstößt jedoch nicht direkt dagegen. In jedem Rechtssystem gibt es eine Menge von historischen Beispielen dafür. Das Steuerrecht z. B. bietet viele Umgehungsmöglichkeiten. Gerichte und Steuerbehörden sehen sich laufend vor den Entscheid gestellt, ob ein Steuerpflichtiger sich noch innerhalb des Rechts bewegt oder nichtS. Die Begriffe Befolgung, Abweichung und Umgehung passen am besten zu jenem Rechtsverhalten, das sich auf Befehle und Anordnungen bezieht. In vielen wichtigen Rechtsgebieten stellen Normen aber keine Befehle dar, sondern Bewilligungen oder Entwürfe für Struktu5 Vgl. Gusfields Unterscheidung zwischen "feindlichen" und "reuigen" Abweichenden (Kap. V, N. 37). 6 Johannes Feest: Compliance with Legal Regulations: Observation of Stop Sign Behavior, 2 Law and Society Rev. 447 (1968). 7 Manchmal befinden sich der Befehlende und der Untergebene auf verschiedenen Wellenlängen. Im Recht bestehen oft Kommunikationsprobleme. Der Lärm eines Flugzeugmotors kann den Befehl des Offiziers übertönen, so daß ihn die Soldaten nicht hören können. Sie können ihn auch mißverstehen. Untergebene und Befehlende können sich in ihrer Vorstellung von abweichendem Verhalten ohne weiteres unterscheiden. 8 Wie auch immer der Entscheid lautet ist nach unserer Definition das Verhalten eine Umgehung, wenn es hart an der Grenze liegt und zum Ziel hat, den offensichtlichen Zweck der Norm zu vereiteln. Wann dieser Tatbestand erfüllt ist, ist nicht einfach zu entscheiden.

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Kap. III: über die Wirkung des Rechts

ren und Einrichtungen. Alle Normen suchen das Verhalten in bestimmte Bahnen zu lenken, viele sind aber nicht in die Form von Befehls- und Unterlassungsvorschriften gekleidet; ihnen fehlt jede Verweigerungsmöglichkeit. Sie befassen sich beispielsweise mit der Erstellung von Verträgen und Testamenten. Ein Vertrag über den Verkauf einer Liegenschaft bedarf der Schriftlichkeit, ebenso das Testament. Ein mündliches Testament oder ein mündlicher Grundstückkaufvertrag sind ungültig; ein mündliches Testament zu machen oder ohne Testament zu sterben ist aber genausowenig ein Verstoß gegen das Recht wie ein schriftlicher Grundstückkaufvertrag eine Rechtsbefolgung darstellt. Verträge und Testamente sind dem freien Willen des einzelnen überlassen. Die meisten zivilrechtlichen Normen sind keine Befehle; Begriffe wie Anwendung, Nichtanwendung und Fehlanwendung (parallel zu Befolgung, Abweichung und Umgehung) passen daher besser. Sicherlich haben auch diese Normen Einfluß auf das Rechtsverhalten. Auch sie werden angewandt, falsch angewandt oder nicht beachtet'. Das Zivilrecht ist im ganzen gesehen weniger farbig als das Straf- und Maßnahmenrecht, doch kommt der moderne Staat kaum ohne es aus. Wirkung und Begriff der Absicht Der Begriff Wirkung, wie er hier gebraucht wird, bedeutet kausal mit einer Regel oder einem Befehl verbundenes Verhalten, ohne Rücksicht auf die Absicht des Gesetzgebers. Im normalen Sprachgebrauch hat positive Wirkung oder Wirksamkeit jedoch noch eine weitere Bedeutung, die sich auf Sinn und Zweck einer Norm bezieht. Wenn gesagt wird, ein Gesetz habe seinen Zweck erreicht oder nicht erreicht, so wird die Wirkung am Maß der übereinstimmung des Verhaltens mit der Gesetzesabsicht gemessen. übereinstimmung mit der Absicht ist positiv, Abweichung davon negativ; alles übrige Verhalten, auch wenn kausal mit der Norm verbunden, zählt nur, wenn es vom Sinn und Zweck der Norm getragen wird. Somit kann ein Gesetz fehlschlagen, obwohl es vom Adressaten wörtlich befolgt oder angewandt wird, sofern sein Zweck nicht erfüllt ist. Man unterscheidet im allgemeinen auch zwischen dem Sinn und dem Buchstaben eines Gesetzes. Ohne diese Unterscheidung könnte man kaum von Umgehung oder Mißbrauch sprechen, ausgenommen im Sinne von hinterlistiger aber eindeutiger Verletzung. g Die Untersuchungen der Wirkung sind auf dem Gebiet des Zivilrechts ziemlich dünn gestreut; siehe aber beispielsweise Vincenzo Ferrari: Successione per Testamento e Trasformazioni Sociali, 1972; Lawrence M. Friedman: Contract Law in America, 1965; Stewart Macaulay: Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study, 28 Am. Soc. Rev. 55 (1963).

Wirkung und Begriff der Absicht

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Absicht und Ziel sind schwierige Begriffe. Mit Absicht ist in erster Linie jene des Gesetzgebers gemeint. Es ist jedoch schwer genug, die Absicht einer einzelnen Behörde zu kennen. Ein Gesetzeswerk wird von Hunderten von Leuten erstellt. Viele Entscheide werden von Kommissionen und Ausschüssen getroffen. Die Gesetzgeber können somit viele verschiedene Absichten in ein Gesetz hineinlegen, sie können die eine äußern und eine andere meinen. Bedeutet nun Absicht die ursprüngliche Vorstellung des Gesetzgebers bei der Schaffung des Gesetzes, die vielleicht Jahrhunderte zurückliegt, oder sind neue soziale Bedürfnisse und Ideen gleichfalls relevant? Der Begriff der Absicht und seine Tragweite für die Gesetzesauslegung sind in der Rechtsliteratur oft diskutiert worden lO • Der Richter wird bei der Rechtsanwendung damit konfrontiert. Das Problem stellt sich aber auch für die Verwaltung, die Polizei - ja sogar für den Bürger, der im Alltag eine Norm oder einen Befehl befolgen soll. Absicht ist nicht dasselbe wie ein erklärtes Ziel. Der Wortlaut des Gesetzes entspricht oft nicht der effektiven Absicht. Es mag auch Schichten und Hierarchien von Absichten geben. Was sind z. B. die Ziele der Normen über Autounfälle? Ein Ziel, das Guido Calabresi Gerechtigkeit nennt, ist die gerechte Verteilung des Schadens auf die am Unfall Beteiligten. Ein ganz anderes Ziel ist die Verminderung der Zahl und Schwere der Unfälle. Ein weiteres besteht in der Senkung ihrer sozialen Kosten. Ein wichtiger Nebenzweck ist die Reduzierung der Verwaltungskosten für die Behandlung der Unfälle. Die verschiedenen Normen dienen verschiedenen Zwecken. Beispielsweise schließt das Haftpflichtrecht eine Verjährungsbestimmung ein, gemäß welcher der Verletzte den Schädiger nach einer gewissen Zeit nicht mehr belangen kann. Diese Vorschrift verhütet weder Unfälle, noch senkt sie deren soziale Kosten. Sie dient einem administrativen Zweck und stimmt, wenn auch nicht unbestrittenermaßen, mit der allgemeinen Auffassung von Gerechtigkeit übereinll . Auch bei einem einzelnen Rechtsakt kann sich die Frage von Zielkonflikten stellen. Weshalb haben wir Stop-Signale und Verkehrsampeln? Dienen sie der Unfallverhütung, dem Verkehrsfluß, der KlarsteIlung des Vortrittsrechts, all diesen Zwecken zusammen oder einer teilweisen Kombination? Ferner muß zwischen direkten und indirekten Zielen unterschieden werden. Die direkte Absicht ist das spezifische Verhalten, das befohlen oder erlaubt ist. Der darunterliegende Zweck ist die indirekte Absicht. Die Normen enthalten meist beide. Weshalb war es für Arbeiter im 10 Siehe beispielsweise Karl Engisch: Einführung in das Juristische Denken, 3. A. 1964, S. 63 ff.; Charles R. Curtis: A Better Theory of Legal Interpretation, 3 Vand. L. Rev. 407 (1950); Fran!;ois Geny: Methode d'interpretation et sources en droit prive positif,2eme ed. 1954. 11 Guido Calabresi: The Costs of Accidents, 1970, S. 24 - 33.

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19. Jahrhundert gemäß geltendem Recht schwierig, ihre Rechte auf Schadenersatz für Industrieunfälle durchzusetzen? Wir können annehmen, daß die damalige Oberschicht diese Normen für geeignet hielt, neue Industrien vor hohen Schadenersatzforderungen zu schützen und damit das wirtschaftliche Wachstum zu fördern - ein indirektes Ziel von bedeutendem Gewicht12 • Was das Recht erlaubt oder verbietet, stellt das direkte Ziel dar; das indirekte besteht darin, was bei Befolgung· des Gesetzes zu erreichen erhofft wird. Ferner ist zu unterscheiden zwischen primärem, unmittelbarem Verhalten, das die Norm verlangt, fördert oder verbietet, und den unbeabsichtigten Nebenfolgen. Während der Prohibition war der Verkauf von Alkohol in den Vereinigten Staaten illegal. In der Folge übernahmen Verbrech€r den Handel, und die Gerichte wurden mit Prohibitionsfällen überschwemmt. Dies waren Nebenfolgen. Sie brauchen aber nicht in jedem Falle negativ zu sein. Eine positive Nebenwirkung können wir eine Funktion, ein unvorhergesehenes, ungewolltes aber nützliches Resultat nennen 1:!. In den Vereinigten Staaten haben beispielsweisedie Vorschriften über den Führerschein die zusätzliche Funktion, die Leute mit einer praktischen Identitätskarte zu versehen, die im Kredit- und Scheckverkehr 'von Nutzen ist. Joseph Gusfield unterscheidet zwischen symbolischen und zweckgerichteten Absichten einer Norm oder eines Gesetzes 14 • Ein Gesetz ist zweckgerichtet, wenn es auf ein bestimmtes Verhalten hinzielt; es erzeugt wenig Wirkung, wenn es nicht tatsächlich durchgesetzt wird. Symbolische Gesetze hängen für ihre Wirksamkeit nicht von der Durchsetzung ab. Sie erzeugen ihre Wirkung durch Symbolisierung der öffentlichen Meinung in bezug auf soziale Ideen und Normen, wie auch (durch) direkte soziale Kontrolle. Ein Alkoholgesetz hat eine zweckgerichtete Wirkung, sofern die Leute zu trinken aufhören. Es kann auch einen symbolischen Effekt haben, indem es die Leute davon überzeugt, daß es falsch ist zu trinken oder daß die Verhaltensnormen der Abstinenten besser sind als jene der Alkoholkonsumenten. Mit anderen Worten, symbolische Gesetze richten sich an die innere Einstellung des einzelnen, zweckgerichtete an das Verhalten. Vermutlich könnte ein Antialkoholgesetz eine symbolische Wirkung entfalten, auch wenn niemand einen Tropfen weniger tränke; es könnte in seiner Zweck12 Lawrence M. Friedman:A History of American Law, 1973, S. 262. Ob die Normen tatsächlich diese. Wirkung hatten, ist natürlich eine andere Frage. 13 Zur allgemeinen Bedeutung von "function" vgl. Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, 1968, S. 74· 79. 14 Joseph Gusfield: Moral Passage: The Symbolic Process· in Public Designations. ofDeviance, 15 Social Problems 175 (1967); Gusfield behandelt die Alkoholgesetze detaillierter in: Symbolic Crusade, Status Politics and the American Temperance Movement, 1963.

Das Messen der Wirkung

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richtung ein Mißerfolg, symbolisch aber ein Erfolg sein. Andererseits kann sich ein Gesetz in seiner Zweckrichtung durchsetzen und die symbolische Absicht verfehlen. Aus der Unterscheidung von Gusfield ergeben sich Probleme. Hängt sie ganz von der Absicht ab? Kämpften die Führer der Abstinenzbewegung wirklich nur für die Normierung, ohne Rücksicht auf die Zahl der Betrunkenen, oder stellten sie sich fanatisch gegen den Alkoholismus als wirklichen Konsum? Man mag bezweifeln, daß sie einen rein symbolischen Sieg für lohnend angesehen hätten. Soziale Bewegungen, so vermutet man, sind im Grunde auf den praktischen Erfolg ausgerichtet und selten in erster Linie auf symbolische Werte. Immerhin ist der symbolische Zweck wichtig. Die Herrschaft der Normen ist als solche praktisch nützlich. Symbole sind Waffen, wenn auch nicht Ziele. Eine Bewegung, die sich die Kontrolle über die offiziellen Normen verschafft, faßt Fuß auf einem kleinen, aber strategisch wichtigen Feld. Mehr noch, es gibt eine subtile Wechselwirkung zwischen offiziellen Normen und dem, was die öffentliche Meinung als legitimes Recht auffaßt. Am Ende können die Normen eine Art magnetischen Einfluß auf das Verhalten haben. Für den Moment halten wir fest, daß Gusfields Feststellung die Untersuchung über die Wirkung des Rechts noch mehr kompliziert, denn es gibt kein Gerät zur Messung des symbolischen Effekts. Das Messen der Wirkung Viele Probleme können ignoriert oder beiseite gelassen werden, wenn wir zu einem einfacheren Modell der Wirkung zurückkehren. Jedes Verhalten, das kausal mit einem Rechtsakt verbunden ist, ist Wirkung, ungeachtet des Sinnes und Zweckes des Aktes. Sie zu messen ist auch so noch schwierig. Zuerst stellt sich die Frage nach Ursache und Wirkung. Wie können wir wissen, daß die Norm das Verhalten beeinflußte, wie können wir rechtlichen von anderem Einfluß trennen? Das Problem stellt sich hauptsächlich bei alten Gesetzen und solchen, die tief ins moralische Bewußtsein eingedrungen sind. Jeder zivilisierte Staat kennt in irgendeiner Form ein Gesetz, das den Mord verbietet, und eine Behörde, die es durchsetzt. Welche Rolle spielen nun aber das Gesetz, die Justiz und die übrigen Behörden, um die Mordquote tief zu halten? Anders ausgedrückt, welche Wirkung erzeugt das Rechtssystem ? Niemand weiß es bis anhin. Sodann stellt sich das Problem, die verschiedenen Verhaltensformen auseinanderzuhalten und die zutreffende Quote den Rechtsnormen und Institutionen, der Gewohnheit, der übung, dem Gewissen und dem Druck anderer sozialer Kräfte zuzuordnen. Bei neuen Gesetzen, die ein genau bestimmtes Verhalten fordern, ist die kausale Kette oft einfacher 5 Friedman

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Kap. III: über die Wirkung des Rechts

zu rekonstruieren. So ist es möglich zu zählen, wie viele Leute sich um einen Führerschein bewerben, und - wenn auch mit einiger Anstrengung - wieviele ihn bei sich tragen. Es gab keine Regel oder Gewohnheit bezüglich der Führerscheine, bevor das Gesetz in Kraft trat. Wenn Staaten solche Gesetze erlassen, setzen sie einen Prozeß in Bewegung, der eine kausale Wirkung auf das Verhalten der Fahrzeuglenker hat. Natürlich wissen wir nicht, welches Gesetzesmerkmal tatsächlich zur Verhaltensänderung führte. Sicher war es nicht der bloße Akt der Gesetzesannahme oder die bloße Existenz der Norm. Es mag eine Werbekampagne gegeben haben; oder die Sanktionen zur Durchsetzung des Gesetzes können einige Wirkung entfaltet haben. Wir können also nicht einfach sagen, das Gesetz habe die Verhaltensänderung bewirkt. Wir sind aber wenigstens den .meßbaren Daten der Wirkung näher gekommen. Anders gesagt machen zwei Faktoren gewisse Effekte einer Norm relativ leicht meßbar. Erstens muß die Norm ein Verhalten fordern, das einfach zu verstehen und zu befolgen ist. Zweitens muß es möglich sein, das Verhalten unter der Herrschaft der Norm von der Situation bei Nichtexistenz der Norm zu trennen. Wenn wir die Geschwindigkeitsbegrenzung herabsetzen, so muß nicht nur gesagt werden können, wieviele Leute der neuen Norm Folge leisten, sondern auch, wieviele ihr Verhalten geändert haben. Dazu brauchen wir Zahlen vor- und nachher oder einen Ersatz wie die Befragung von Fahrern, Vergleiche zwischen ähnlichen Städten mit unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen usw. Alten Gesetzen und Normen, die im sittlichen Empfinden verwurzelt sind, fehlt es an diesem zweiten Merkmal, nämlich einer Situation ohne Norm. Am Beispiel des Mordes wird dies deutlich, wobei wir wenigstens die ungefähre Quote der Normverletzung als wichtigen Faktor bei der Untersuchung der Wirkung kennen. Viele andere Gesetzesverstöße, obschon meßbar, sind schwer aufzudecken, vor allem die sogenannten opferlosen Verbrechen, deren Dunkelziffer ungewöhnlich hoch ist. Viele Verbrechen werden nicht gemeldet, viele bleiben unaufgedeckt, wie Studien über Ladendiebstähle zeigen '5 . Am schwierigsten ist die Wirkung von Normen zu messen, die unbestimmte Ausdrücke wie "vernünftig", "gefahrlos" oder "gutgläubig" gebrauchen '6. Langzeitwirkung und indirekte Wirkung sind bei allen Normen schwer meßbar. Haben z. B. die Führerschein-Normen einen Einfluß auf die Unfallquote, die Verkehrssituation oder die Gesellschaft im allgemeinen? 15 Erhard Blankenburg: Die Selektivität Rechtlicher Sanktionen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 21. Jg. (1969), 805. 16 Vgl. zu diesem Normentyp Lawrence M. Friedman: Legal Rules and the Process of Social Change, 19 Stan. L. Rev. 786 (1967).

Das Messen der Wirkung

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Wichtig ist zudem der Zeitpunkt, in welchem die Wirkung gemessen wird. Die Befolgung kann vOn der Jahreszeit abhängen oder erst nach einer gewissen Zeit eintreten. Oft sind Verhaltens änderungen subtil und langsam. Werden sie an einem bestimmten Tag gemessen, erhält man ein anderes Resultat als zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt. Die Wirkung des Entscheides im Falle Brown 17 betreffend Rassentrennung in den Schulen hat sich nach zwanzig Jahren noch nicht erschöpft. Was auch immer die erste Wirkung der Führerschein-Normen war, den Führerschein stets bei sich zu tragen wurde zur übung und dann zur fast allgemein akzeptierten Gewohnheit, als Teil des täglichen Lebens und so natürlich wie das Atmen. Im jetzigen Zeitpunkt ist es schwierig festzustellen, was die Wirkung herbeiführte: Kenntnis und Annahme der formellen Norm, Drohung ihrer Durchsetzung, Gewohnheit oder inneres Gefühl für Recht und Unrechtt B• Sicherlich variieren Wirkung und Motive für die Befolgung im Laufe der Zeit, in der ein Gesetz in Kraft steht. Jemand befolgt ein Gesetz nur, wenn er wissentlich und in sichtbarer Weise einen Teil seines Verhaltens ändert. Befolgung ist demnach wissentliches, nicht unbewußtes oder unvermeidbares Verhalten. Wie kön~ nen wir aber das wissentliche vom unwissentlichen, das kausale vom nichtkausalen Verhalten trennen? Die wissenschaftliche Methode bestände im Experiment. Zwar existieren solche Studien über die Einstellung zum Recht19 und einige über Rechtsverhalten20 • Studien über die Wirkung scheitern jedoch normalerweise am Fehlen von Kontrollgruppen. Allgemeine Erfahrung kann manchmal als teilweiser Ersatz für fehlende Kontrollgruppen dienen, zumindest zur Messung genauer,direkter und kurzfristiger Wirkungen. Die amerikanischen Bürger müssen ihre Steuererklärung jährlich bis zum 15. April ausgefüllt haben. Wenn wir die ungefähre Zahl der Leute kennen, die ein deklarationspflichtiges Einkommen haben, so können wir die eingereichten Steuererklärungen zählen und die Menge der fehlenden bestimmen. Wir wissen, daß ohne Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). Harry V. Ball und Lawrence M. Friedman: The Use of Criminal Sanctions in the Enforcement of Economic Legislation: A Sociological View, 17 Stan. L. Rev. 197, 220 (1965). 19 z. B. Leonard Berkowitz und Nigel Walker: Laws and MbralJudgments, 30 Sociometry 410 (1967). 20 Siehe z. B. Richard D. Schwartz und Sonya Orleans: On Legal Sanctions, 34 U. Chi. L. Rev. 274 (1967) bezüglich Befolgung und Umgehung der Einkommenssteuer. In einem interessanten Experiment übet die Frage, wie und warum Normen erstellt werden, schloß sich eine kleine Gruppe in einem Penthouse des Berkeley Campus zum Studium darüber ein, welche Normen sie entwickelten. Walter O. Weyrauch: The "Basic Law" or "Cönstitution" of a Small Group, 27 J. Soc. Issues, no. 2, 49 (1971). 17

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Steuergesetz oder ähnlichen Rechtsakt niemand eine Steuererklärung ausfüllen würde. Somit brauchen wir keine Kontrollgruppe. Wenn das zu untersuchende Verhalten genau bestimmt ist und nur durch das Gesetz veranlaßt wird, können wir uns auf die Erfahrung stützen, um zu wissen, wie die Kontrollgruppe gehandelt hätte. Auch hier ist jedoch Vorsicht am Platze. Es ist nicht sehr aussagekräftig festzustellen, daß das Gesetz die Leute veranlaßte, die Steuererklärung auszufüllen. Es ist nicht der Gesetzeswortlaut, der magisch durch sich selbst wirkt, sondern der Wortlaut zusammen mit Publizität, unterstützenden Institutionen und der Furcht vor Sanktionen. Welches Element in welchem Maße das Verhalten hervorrief, entzieht sich unserer Kenntnis. Auch andere Techniken können fehlende Kontrollgruppen mehr oder weniger ersetzen. Eine davon ist Simulation: Fiktive Gerichte, Scheinprozesse und ähnliches21 • Eine weitere ist das Quasiexperiment. Donald Campbell und Laurence Ross untersuchten die Wirkung von Sofortmaßnahmen bei Geschwindigkeitsexzessen in Connecticut22 • Sie verglichen die Todesziffern vor und nach Einführung der Maßnahmen und mit jenen von Nachbarstaaten. Hier diente der Zustand davor als ungefähre Kontrollgruppe für denjenigen danach, und die Nachbarstaaten lieferten die natürliche Kontrolle für den zu untersuchenden Staat23 • Auch Regierungen führen oft Versuchs- und Modellprojekte durch, die in gewissem Sinne Quasiexperimente darstellen. So machte die Jugendanwaltschaft in zwei kalifornischen Städten folgendes Experiment: Sie teilte männliche jugendliche Delinquenten in zwei Gruppen. In der einen setzte man die Strafe zur Bewährung aus und stellte die Jugendlichen unter intensive Betreuung; die Täter aus der anderen Gruppe wurden den kalifornischen Jugendstrafanstalten überwiesen. Später verglich man die Resultate24 • Auch ein Vergleich von Rechtssystemen und Institutionen wirft Licht auf deren Wirkung. Ebenso kann ein Staat in einer oder mehreren Gegenden Versuche starten. Frankreich führte in den sechziger Jahren eine neue Form des Zivilprozesses stückU Rita J. Simon: Murder, Juries, and the Press, 3 Transaction 40 (1966); dieselbe: The Jury and the Defense of Insanity, 1967; William L. Walker und John W. Thibaut: An Experimental Examination of Pretrial Conference Techniques, 55 Minn. L. Rev. 1113 (1971). Z2 Donald T. Campbell und H. Laurence Ross: The Connecticut Crackdown on Speeding: Time-Series Data in Quasi-Experimental Analysis, 3 Law and Society Rev. 33 (1968). !3 H. Laurence Ross wandte ähnliche Techniken an, um die Ergebnisse des British Road Safety Act von 1967 zu testen: Law, Science, and Accidents: the British Road Safety Act of 1967, 2 J. Legal Studies 1 (1973); siehe auch Gene V. Glass, George C. Tiao und Thomas O. Maguire: The 1900 Revision of German Divorce Laws: Analysis of Data as a Time-SeriesQuasi-Experiment, 5 Law and Society Rev. 539 (1971). U Beschrieben in Martin A. Levin: Policy Evaluation and Recidivism, 6 Law and Society Rev. 17, 32 (1971).

Wirkung: Einige Voraussetzungen

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weise ein, indem er zuerst an einigen Gerichten getestet und dann allgemein in Kraft gesetzt wurde25 • Man kann auch die rechtlichen Erfahrungen ganzer Nationen vergleichen2t• Japan, Frankreich und Australien sind allesamt industrialisierte Staaten mit Marktwirtschaft. Ein Vergleich ihrer Rechtssysteme mag zeigen, welche Normen die Wirtschaft anheizen und welche in dieser Beziehung irrelevant sind. Immerhin können hier soviele Faktoren eine Rolle spielen, daß es derzeit unmöglich ist, wissenschaftliche Exaktheit zu erwarten. Die soziologische Theorie bildet einen wichtigen Ersatz für fehlende Kontrollgruppen. Wenn wir wissen, wie sich etwas verhalten muß, wenn die Faktoren A, B, C und D vorhanden sind, und wir sodann einen Faktor E (und nur ihn) hinzufügen, so können wir jede Veränderung ihm zuschreiben. Wirtschaftswissenschaftler beispielsweise sind sich weitgehend einig über ein paar grundlegende Lehrsätze wirtschaftlichen Verhaltens. Das heißt, daß sie die Theorie als Fundament gebrauchen können. Ein Wirtschaftswissenschaftler weiß oder glaubt zu wissen, wie die Wirtschaft bei völlig freiem Wettbewerb reagieren wird. Es ist ihm daher möglich, auch ohne Kontrollgruppe von Gesellschaften, die keine gesetzliche Wirtschaftslenkung kennen, die Wirkung von rechtlichen Interventionen zu beweisen. Alle Sozialwissenschaften und sogar die Wirtschaftswissenschaft weisen aber große Lücken in ihren Theorien und viele umstrittene Gebiete auf. Sie können daher heute bei vielen Problemen von großer Wichtigkeit und großem Interesse nicht viel zum Studium des Rechtsverhaltens beitragen. Wirkung: Einige Voraussetzungen Um eine Theorie des Rechtsverhaltens aufbauen zu können, muß man mit einer Reihe von Voraussetzungen der Wirkung und einigen empirischen Feststellungen über diese Voraussetzungen beginnen. Eine solche Theorie würde auch - wie wir sehen werden - Lehrsätze über Sanktionen, Rechtskultur, Legitimität, peer-group-Einfluß und andere Faktoren enthalten, die das Rechtsverhalten beeinflussen. Mindestens drei Bedingungen müssen erfüllt sein, bevor ein Rechtsakt seine Wirkung auf eine bestimmte Zielperson haben kann. Erstens 25 Jean Carbonnier: Sociologie Juridique, 1972, S. 246. Siehe auch Richard G. Salem und William J. Bowers: Severity of Formal Sanctions as a Deterrent to Deviant Behavior, 5 Law and Society Rev. 21 (1970), der die Wirkung von Sanktionen auf das Verhalten von Studenten an verschiedenen Colleges verglich. 2tI Vgl. Andreas Heldrich: Sozialwissenschaftliche Aspekte der Rechtsvergleichung, Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht, 34. Jg. (1970),427.

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Kap. III: über die Wirkung des Rechts

muß die Norm dem Adressaten mitgeteilt werden. Zweitens muß es ihm möglich sein, sie zu erfüllen oder, dem Fall entsprechend, nicht zu erfüllen. Drittens muß er die Neigung haben zu erfüllen, sei es aus eigenem Wunsch, Angst oder einem andern Motiv. Die zweite Bedingung ist im Normalfall wohl erfüllt. Ein Gesetz, das den Leuten befiehlt zu fliegen, wäre nämlich sinnlos. Immerhin gibt es Verhaltensbeispiele, etwa Vergewaltigung, bei denen die Täter vielleicht nicht anders können. Darauf ist noch zurückzukommen. Die dritte Voraussetzung, die Neigung zur Erfüllung, ist Inhalt der nächsten bei den Kapitel. Die Sanktionstheorie beispielsweise befaßt sich mit jenen Gesetzestechniken, welche die Adressaten veranlassen, eine Norm zu befolgen, anzuwenden oder zu ignorieren. Etwas muß immerhin noch zur MitteUung der Normen gesagt werden. Sie ist offensichtlich grundlegend für jedes Rechtssystem 27 • Unwiderlegbar ist, daß niemand sein Verhalten nach einem Gesetz richten kann, ohne es zu kennen28 • Das Rechtssystem als Ganzes oder ein Normengebilde innerhalb desselben können, indem sie Symbole, Prozesse oder Strukturen hervorbringen oder bewahren, das Rechtsverhalten ändern, auch wenn derjenige, der sein Verhalten ändert, die Normen nicht kennt. Kurzfristig gesehen ist jedoch ein Mitteilungssystem für bestimmte Normen unerläßlich. Die Mitteilung ist im Rechtssystem eingebaut; Gesetze und Verordnungen werden publiziert, ebenso wichtige Gerichtsentscheide. Zusätzlich zu ihren andern Funktionen sind sie alle auch Mitteilungen. Urteile sind jedoch die hauptsächlichsten Kommunikationsmittel im Rechtssystem29 • Sie können direkt und indirekt Angesprochene haben. Gideon gegen Wainwright z. B.30, ein wichtiger Entscheid bezüglich der Verteidigungsrechte eines Angeklagten, war eine direkte Mitteilung an die Gerichte Floridas, nämlich die Anordnung, Gideon eine erneute Verhandlung einzuräumen. Der Entscheid trug seine Mitteilung ebenfalls, wenn auch weniger unmittelbar, zu Richtern und Gerichtsinstanzen anderer Gliedstaaten wie auch zu Strafverteidigern, als Vorschrift des vom Supreme Court inskünftig erwarteten Verhaltens. Der Leit27 Richard Fagen: Polities and Communieation, 1966; Vilhelm Aubert: Elements of Sociology, 1967, S. 35 - 39. 28 Daniel J. Gifford: Communications of Legal Standards, Policy Development, and Effeetive Conduct Regulation, 56 Cornell L. Rev. 409, 410 (1971); ein spezifisches Beispiel für den Einfluß eines Mitteilungsmangels auf die Wirkung findet sich in John A. Robertson und Phyllis Teitelbaum: Optim'i;ling Legal Impact: A Case Study in Search of a Theory, 1973 Wis. L. Rev. 665, 695 - 699, über neue Verfahren zur Behandlung des Drogenmißbrauchs in Massachusetts. 29 Martin Shapiro: Toward a Theory of Stare Decisis, 1 J. Legal Studies 125, 134 (1972). 30 372 U.S. 335 (1963).

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satz des Falles war, daß die Staaten dem eines schweren Verbrechens Angeklagten von Rechts wegen einen unentgeltlichen Verteidiger beigeben müssen. Der Entscheid erreichte auch alle Angeklagten und potentiellen Angeklagten. Er enthielt aber noch andere, weniger klare Mitteilungen: Hinweise auf die Haltung, die das Gericht in analogen Fällen einnehmen könnte. Dies könnte neue Hoffnung und Furcht bei den Vollstreckungsbehörden, Anwälten und vielleicht sogar bei wirklichen oder potentiellen Dieben hervorrufen. Auch Zivil urteile tragen Botschaften darüber, wie die Gerichte entscheiden mögen bei Fahrlässigkeit, Fälschung, Verleumdung oder Zonenplan-Änderungen, zu Parteien, andern Gerichten und manchmal auch in die Öffentlichkeit. Die übermittlung kann unter Anwesenden oder telefonisch sowie durch indirekte Mitteilung wie Post, Telegramm und persönliche Anzeige in einer Zeitung erfolgen. Sie kann die Leute einzeln ansprechen oder generell überbracht werden durch Lautsprecher, Fernsehen oder Zeitung. Bei gleichen Voraussetzungen besitzen die direkten Kommunikationsmittel die größere Chance, die richtigen Leute in der richtigen Form zu erreichen. Wenn Smith an Jones in dessen Anwesenheit einen Befehl gibt, so kann er sich vergewissern, daß J ones zuhört und versteht. Wenn nötig, kann er das Gesagte lauter wiederholen oder näher erklären. Auf der andern Seite hat eine generelle Mitteilung über Rundfunk auch enorme Vorteile; sie ist billig in ihrer Verbreitung für Tausende von Zuhörern, verwässert jedoch ihre Aussage,. und der Aussender hat eine schlechte Kontrolle über den tatsächlichen Empfang. Die Verbreitung über Rundfunk muß durch Häufigkeit und Intensität wettmachen, was ihr an Treffsicherheit abgeht. Die Situation gleicht dem SexualIeben der Fische, bei dem das Weibchen Tausende von Eiern und das Männchen das Sperma ins Wasser legen und den Rest der Strömung überlassen. Direkte Kommunikation unter Anwesenden ist die übliche Methode in kleinen Gemeinschaften, Untergruppen und Primärgruppen wie die Familie. Direkter Kontakt kennzeichnet sogar die Primärgruppe31. Unmittelbarkeit ist aber nicht unbedingt Zeichen des Kleinen, der Grundform. In den meisten Staaten werden Prozesse unmittelbar geführt, und auch in sehr formalistischen Systemen erfolgen viele Mitteilungen von Rechtsakten durch das direkt gesprochene Wort32 • 31 Der Begriff geht auf Charles Horton Cooley zurück; vgl. L. Broom und P. Selznick: Sociology, 4. Aufl. 1968, S. 120. 32 Common-Iaw-Länder messen der gesprochenen Mitteilung einen besonderen Wert bei, indem sie das gesprochene gegenüber dem geschriebenen Wort als ein Element der Gerechtigkeit im Rechtsverfahren bevorzugen. Das gesprochene Wort ist nicht nur vorherrschend, sondern es gibt auch eine Unmittelbarkeit im Verhältnis zwischen Parteien, Anwalt und Zeugen auf der einen und dem Gerichtskörper auf der andern Seite. Mauro Cappelletti: ProcMure Orale et Proc€dure Ecrite, 1971, S. 102.

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Kap. !II: über die Wirkung des Rechts

Eine andere Dimension einer Mitteilung ist die Allgemeingültigkeit, d. h. der Kreis der wirklich und potentiell Angesprochenen. Viele Befehle, Anordnungen oder Verfügungen sind direkt an eine bestimmte Person gerichtet. Ein Gerichtsurteil bindet die involvierten Parteien zwei, manchmal auch mehr Leute - und eine kleine Anzahl von Beamten, die für dessen Durchsetzung zuständig sind. Seine indirekte Mitteilung gelangt dagegen zu einer größeren Gruppe. Befehle, Anordnungen und Verfügungen sind normalerweise weniger wichtig als generellere Mitteilungen, wie Doktrinen, Gesetze, Prinzipien oder Normen. Immerhin kann eine Verfügung, die einen General ernennt oder entläßt, in Kriegszeiten das Schicksal der ganzen Welt berühren; der Entscheid in einer cl ass action kann für Tausende verbindlich sein; ein Antitrusturteil, das eine große Unternehmung in Teile zerlegt, kann Schockwellen an der Börse auslösen. Eine Verfügung oder ein Befehl trifft den Adressaten sicherer als eine Gesetzesnorm. Spricht man jemanden direkt an, muß er taub sein, um nicht zu hören. Viele Mitteilungen, die durch "Kanäle fließen", werden hingegen verstümmelt, gehen verloren oder werden durch Störungen ausgelöscht. Ist eine Mitteilung spezifisch, so wird der Angesprochene sie aus der Luft aufnehmen wie ein Radio, das auf die richtige Wellenlänge eingestellt ist. Dies gilt auch, wenn eine Mitteilung die Person, die sie empfängt, direkt betrifft. Man hört Mitteilungen nur selektiv zu, wie man auch eine Zeitung liest. Die einen lesen hauptsächlich den Sportteil, die andern die Modeseite und ein Dritter die aktuellen Nachrichten. Einige überfliegen, einige lesen sorgfältig, andere sind zerstreut - alle haben verschiedene geistige Filter. Wenn jemand den eigenen Namen gedruckt sieht oder die Geschichte sein Leben, seine Arbeit, seine Gruppe oder sein Haus anzugehen scheint, so verfolgt er sie mit großem Interesse. Der Tod eines Nachbarn trifft und erschreckt ihn mehr als tausend Tote in Bulgarien. Der Hausbesitzer interessiert sich für Grundstücksteuern; der zum Tode Verurteilte für die Todesstrafe. Diese einfachen Wahrheiten zeigen mit andern Worten, daß es eingebaute Hilfen gibt, um Mitteilungen wirksam weiterzugeben. Bestimmtheit ist eine davon. (Sie kann natürlich andere Nachteile haben.) Wichtigkeit und Einzigartigkeit sind weitere. Wenn jemand glaubt, er sei einer der wenigen Auserwählten, die diese Mitteilung erhalten, so wird er ihr eher seine Aufmerksamkeit schenken. Klarheit der Sprache ist ein weiterer Punkt. Ein Offizier gibt einem Soldaten unter Namensaufruf den Befehl, sich an einem bestimmten Montag an einem bestimmten Ort zum Dienst zu melden. Dies ist das eine Extrem. Eine vage, allgemeine Botschaft, im Gegensatz dazu, mag keine Wirkung erzeugen, auch wenn sie die Angesprochenen erreicht. Sie kann leicht

Wirkung: Einige Voraussetzungen

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mißverstanden werden, niemand mag sich angesprochen fühlen oder etwas damit anzufangen wissen. Ein Gericht stellt bei der Entscheidung eines Falles den Grundsatz auf, daß niemand vom eigenen Unrecht profitieren kann, oder daß Geschäftsleute in guten Treuen miteinander verkehren sollen. Diese Mitteilungen erreichen vermutlich keine Zuhörerschaft, und wenn, so sind sie so farblos und vage, daß sie nach Belieben ausgelegt werden können. Sie sind nicht geeignet, Verhalten zu ändern. Studenten des Rechts richten ihre Aufmerksamkeit gerne auf allgemeine Prinzipien und auslegungsbedürftige Normen. Diese subtilen Sätze und Normen können in vielerlei Hinsicht nützlich sein; sie bieten sich zur logischen Analyse an oder drücken hohe ethische Ideale aus. Aber als Kuriere versagen sie. Zu diesem Zweck sind gewöhnlichere Normen geeigneter, wie beispielsweise eine Geschwindigkeitsbegrenzung, der begriffliche Schönheit abgeht, die jedoch in prägnanter Sprache und großen Buchstaben am Straßenrande plaziert ist. Die Geschwindigkeitsbegrenzung ist eine quantitative Norm und daher schwer mißzuverstehen. Zahlen sind objektive Größen, was bedeutet, daß jedermann dasselbe darunter versteht. Die Vorstellung des einen über die Zahl 16 stimmt mit derjenigen eines andern überein, was bei Ausdrücken wie vernünftig, sicher oder gutgläubig nicht gesagt werden kann. Wenn ein großes Schild anzeigt, die Geschwindigkeit sei auf hundert begrenzt, so kann der Fahrer den Inhalt der Norm kaum mißverstehen. Würde geschrieben stehen "Fahre mit vernünftiger Geschwindigkeit", so könnte der gewissenhafteste Fahrer kaum Unsicherheit vermeiden, noch könnte der Außenstehende mit Sicherheit feststellen, welche Fahrer die Norm verletzt haben - außer in den krassesten Fällen33 • Schlüssel zur Klarheit bilden allerdings nicht die Wörter, sondern das soziale Verständnis. Wer die Verkehrstafel ,,100 km/h" liest, versteht tatsächlich, daß 105 km/h erlaubt sind. Klare Wörter können überdies nicht durch sich selbst eine Botschaft vermitteln; es braucht eine Spur, entlang welcher sie befördert werden. Vilhelm Aubert und seine Mitarbeiter versuchten in einer bekannten Studie, die Wirkung eines norwegischen Gesetzes über die Arbeitsbedingungen von Hausangestellten zu ergründen. Sie fanden heraus, daß die Dienstmädchen einige Verhaltensnormen kannten, nämlich jene, die auf Gewohnheit beruhten. Wesentlich weniger wußten sie über neue, im Gesetz festgehaltene Normen. Die Hausangestellten waren arme, ungebildete Frauen; sie hatten keine Gewerkschaft und arbeiteten im Haus als einem Ort, welcher traditionsgemäß dem Einfluß des Rechts weitgehend entzogen ist. 33

Siehe Kap. X.

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Kap. III: über die Wirkung des Rechts

Das Gesetz sandte nur ein schwaches, flimmerndes Signal; es besaß keinen natürlichen Kanal, um zu den Adressaten zu gelangen. Die Angesprochenen hörten nie davon und konnten es deshalb auch nicht befolgen 34 • Nicht alle Mitteilungen können klar sein. Eine modeme Nation könnte kaum ein Gesetz über Einkommenssteuern erlassen, das so klar und unzweideutig wie eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist. Das Steuergesetz ist so umfangreich und so verflochten, daß der Normalbürger damit nicht zurechtkommt; das ist nur Spezialisten möglich. In der westlichen Welt sind diese Spezialisten Anwälte, die als Vermittler im Kommunikationssystem walten. Sie interpretieren verschwommene und komplizierte Mitteilungen. Der Steueranwalt kennt seinen Weg durch das Gewirr der Steuergesetze; er übersetzt deren Normen in Worte und Anordnungen, die sein Klient versteht. Normen sind, wie man erwarten kann, diffuse Botschaften, die ausgesandt werden. Normalerweise schickt sie der Staat nicht direkt zu den Adressaten - oft weil er sie nicht kennt und weil ihr Kreis ständig Neuzuzüger erhält. Der Anwalt speichert die Mitteilung, bis sie von einem späteren Klienten benötigt wird, und gibt sie durch seine Beratung dann weiter. Dadurch ermöglicht er einen Grad von Erfüllung, der ohne ihn undenkbar wäre. Dabei ist er eine Art Doppelagent: Regierung und Klient hängen von ihm ab - für die eine sichert er die Erfüllung, dem andern dient er als Anwalt und Ratgeber und gelegentlich auch als Träger von feedback-Information. Ohne Zweifel besitzt er damit in einem gewissen Grad unbewußte Macht; er kann, mit oder ohne Absicht, die Botschaft in zwei Richtungen biegen3li • Sein Rat und Einverständnis stehen zwischen Bürger und Staat. Anwälte sind nicht die einzigen, die die Rolle des Mittelsmannes spielen. Einige Gesellschaften kennen keine Anwälte. Dort besitzen die Alten, Weisen und Priester Kenntnisse über die Normen des rechten Verhaltens 36 • In der modemen Gesellschaft ist Rechtskenntnis eine Notwendigkeit. In großen Unternehmen mögen Hunderte von Angestellten 34 Vilhelm Aubert: Some Social Functions of Legislation, 10 Acta Sociologica 98 (1967); neu publiziert auch in Vilhelm Aubert (Hrsg.): Sociology of Law, 1969, S. 116. 35 In Herbert Jacobs Studie über das Konkursverfahren in vier Städten von Wisconsin waren es die Anwälte, die die Schuldner dem Konkurs zuführten. Herbert Jacob: Debtors in Court, the Consumption of Government Services, 1969, S. 62. In einer andern Untersuchung fand Abraham Blumberg heraus, daß es die Anwälte waren, die ihren Klienten in Straffällen als erste vorschlugen, sich im Sinne der Anklage schuldig zu bekennen. Abraham Blumberg: The Practice of Law as Confidence Game: Organizational Cooptation of a Profession, 1 Law and Society Rev. no. 2, 15 (1967). 38 Siehe z. B. Max Gluckman: The Ideas in Barotse Jurisprudence, 1965, S.16f.

Wirkung: Einige Voraussetzungen

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mit Gesetzesregeln arbeiten - indem sie, zumindest als Teil ihrer Aufgabe, sie entgegennehmen, bearbeiten, speichern oder sich nach ihnen richten. Trotzdem werden die meisten Laien und nicht Anwälte sein. Wie man sich denken kann, ist Rechtskenntnis in der Gesellschaft ungleich verbreitet. In einer kleinen, überblickbaren Gemeinschaft kennen vermutlich die meisten die gebräuchlichen Regeln. Dies ist in Ländern wie Frankreich, Mexiko oder den Vereinigten Staaten nicht mehr möglich. Es gibt weite Rechtsgebiete, die nur noch die Fachleute oder kleine, direkt davon betroffene Gruppen kennen. Taxifahrer mögen die Normen über das Taxigewerbe kennen, die Allgemeinheit sicher nicht. Untersuchungen über Rechtskenntnis sind ein wachsendes Feld für Studien37 . Je größer seine Rechtskenntnis ist, desto mehr kann jemand die Vorteile des Rechts nützen. Im allgemeinen wissen die meisten Menschen genug, um ihre Arbeit verrichten und sich gesetzeskonform verhalten zu können. Es ist bekannt, daß Einbruch in ein Haus und Diebstahl von Silber illegal sind, was immer sonst bekannt sein mag über die technischen Einzelheiten des Strafrechts. Viele haben nie von begebbaren Wertpapieren gehört, wissen jedoch, wie und wann ein Scheck indossiert werden muß38. Im allgemeinen ist die Rechtskenntnis bei Schichten mit größerer Bildung und höherem Einkommen besser. Bis anhin haben wir hauptsächlich von Mitteilungen gesprochen, die nach unten fließen, vom Gesetzgeber zum Adressaten. Regierung, Großunternehmen - Institutionen im allgemeinen - überhäufen ihre Untergebenen mit Normen und Befehlen. Die Meinung der Öffentlichkeit, die nach oben dringt, ist diffus, und zwar in solchem Maße, daß Vilhelm Aubert die Wahrscheinlichkeit, daß die Absicht des Aussenders durchkommt, bei der Meldung nach unten für größer hielt als bei jener nach oben39 . Dies mag für Bürokratien richtig sein; ob es für das Recht als Ganzes zutrifft, ist fraglich. Die Begriffe "nach oben" und "nach unten" sind Metaphern, keine wirklichen Fakten. Es gibt viele Kanäle für die Aufwärtsbewegung, wie beispielsweise Appellationen im Gerichts37 über europäische Forschungen wird berichtet in: Adam Podg6recki u. a.: Knowledge and Opinion about Law, 1973. 3B Zur Unterscheidung zwischen "offiziellen" und "populären" Versionen des Rechts siehe Daniel J. Gifford: Cornmunication of Legal Standards, Policy Development, and Effective Conduct Regulation, 56 Cornell L. Rev. 409. 410 - 418 (1971); vgl. die Unterscheidung von Adam Podg6recki zwischen Vertrautheit mit rechtlichen Prinzipien _ d. h. der Natur der grundlegenden Rechte Und Verpflichtungen und weiten Kategorien dessen, was erlaubt und verboten ist - und Vertrautheit mit den Regeln des Rechts, den technischen Normen zur Realisierung dieser Prinzipien. Adam Podg6recki u. a. (N. 37), S.71. 39 Vilhelm Aubert: Elements of Sociology, 1967, S. 38; siehe im allgemeinen Herbert Kaufman: Administrative Feedback, 1973.

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Kap. III: über die Wirkung des Rechts

system. Wenn die Kanäle klar bezeichnet und einfach zu gebrauchen sind, so ist kein Grund ersichtlich, warum Botschaften nicht ebenso gut und leicht in die eine wie in die andere Richtung fließen können. Sicherlich haben die Regierungen oft das Gefühl, sie müßten sich gegen die Flut der Botschaften von unten absichern. Das Sozialgefüge hat die Form einer Pyramide, die Spitze ist weniger bevölkert als die Basis. Wenn jedermann von unten her Botschaften senden würde, könnte der Kreislauf überladen werden. Die Regierung versucht, die Verbindung mit der Öffentlichkeit einzuschränken, und hüllt ihre Handlungen und Entscheide in Schweigen. Sodann ist die Regierung breitgefächert und weist viele Strukturen und Regeln auf, so daß es für den Bürger schwer ist, mit ihr zu verkehren, und umgekehrt. Auch hier erweist sich der Anwalt als wertvoller Mittelsmann. Er kennt den Weg durch das Dickicht der Normen und oft auch durch die Gänge der Macht. In vielen Gesellschaften arbeiten Spezialisten (nicht notwendigerweise Anwälte) für die Entwirrung des Bürokratismus. In Brasilien gibt es den despachante, einen Mittelsmann, der gegen eine Kommission oder Gebühr den zähen Fluß von Brasiliens Administration schmiert, indem er Formulare ausfüllt, die richtigen Leute aufsucht und die nötigen Bewilligungen und Dokumente einholt'°. Auch andere Gesellschaften entwickeln "Untergrundanwälte". Ohne Lizenz und ungeschult haben sie eine Existenz, weil sie eine bestimmte Fähigkeit besitzen oder zu besitzen vorgeben und die Botschaften des Bürgers zu den in Kafkas Schloß sitzenden Regierungsbeamten tragen.

Verhaltenstheorien Mitteilung ist wesentlich für die Wirkung. Sie ist aber lediglich eine Voraussetzung und erklärt nicht, wie und warum die Adressaten auf eine Mitteilung reagieren. Es gibt verschiedene konkurrierende Modelle des Rechtsverhaltens. Eines können wir Kosten-Nutzen-Modell nennen. Es setzt mehr oder weniger vernünftiges Verhalten voraus. Bevor jemand handelt, berechnet er, was er erreichen kann und welches Risiko er eingeht. Er handelt nur, wenn er seiner Meinung nach mit einiger Wahrscheinlichkeit von seinem Verhalten profitiert. Für ihn sind Sanktionen von tragender Bedeutung; er verhält sich im Hinblick auf Belohnung und Bestrafung. Kein Gelehrter wird natürlich versuchen, das gesamte Rechtsverhalten auf diese Berechnung zurückzuführen. Es ist offensichtlich, daß (0 Keith S. Rosenn: The Jeito, Brazil's Institutional Bypass of the Formal Legal System and Its Developmental Implications, 19 Am. J. Comp. L. 514, 536 (1971).

Verhaltens theorien

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soziale Faktoren, "soziale Beziehungen"41 wie Kultur und peer group, das Rechtsverhalten beeinflussen - durch Androhung der Ächtung beispielsweise oder durch Lob und Tadel. Ein drittes Modell erklärt Verhalten auf der Basis von Regeln, die der Handelnde in sich trägt. Wir können dieses dritte Bündel von Faktoren kurz Gewissen nennen. In staatenlosen Gesellschaften können peer group (öffentliche Meinung) und Gewissen die einzigen wirklichen Kräfte der Durchsetzung sein. Es war die peer group, die als Gericht unter Hoebels Eskimos waltete 42 • In jeder Gesellschaft ist sie machtvoll. Das "Gesetz" über sexuelles Mißverhalten wird, sofern überhaupt, mehr durch Kultur, peer group und Gewissen als durch die Polizei durchgesetzt. In einem gewissen Sinne existiert noch eine vierte Verhaltensquelle: Faulheit, Gewohnheit oder Trägheit. Man beschreitet gewisse Pfade des Verhaltens aus Armut an Erkenntnis und weil sie vorgegeben und leicht zu benutzen sind. Es ist der Weg des geringsten Widerstandes. Die Gesellschaft schuf sicherlich ursprüngliche Kanäle, aber ein streng moralischer Hintergrund ist heute nicht mehr vorhanden. Das Gesetz schafft Formen - eine Straße, die Sprache des Schecks, das Steuerformular -, und sie werden angenommen. Manches Rechtsverhalten basiert auf dieser trockenen, bequemen Art. Diese Modelle des Rechtsverhaltens widersprechen sich im allgemeinen nicht. Sie können alle ein Stück weit wahr sein. Die Wirkung einiger Rechtsakte stützt sich mehr auf den einen als den andern Typ. Belohnung und Bestrafung finden sich jedoch überall im Recht. Der Gesetzgeber geht davon aus, daß der Bürger zweimal überlegt, ehe er das Risiko von Gefängnis oder Buße auf sich nimmt, und daß er der Lockung von Geld und anderer Belohnung nicht widersteht. Regierungspropaganda stützt sich auf die Kraft des Gewissens und der öffentlichen Meinung. Das ganze Rechtssystem beruht auf freiwilligem Handeln. Das Geld, welches für Inspektoren, Detektive, Polizei und Gericht ausgegeben oder nicht ausgegel?en wird, setzt voraus, daß die Gesellschaft Erfüllung ohne Gewalt von den meisten Leuten und in der Mehrzahl der Fälle erwartet. Daß das Gesetz sich auf Gewohnheiten stützt und Wege des geringsten Widerstandes gräbt, lässt sich ebenfalls leicht aufzeigen. Gesetzesnormen bezwecken oder kreieren Normalverhalten. Rechtliche Formen reduzieren die Unordnung der unbeschränkten auf wenige begünstigte Möglichkeiten. Was gekauft wird, ist vom Angebot des Marktes beeinflußt; wenige nur produzieren ihre eigene Seife oder weben ihr eigenes Tuch. Auch Rechtsformen wirken stark auf die Kunden und den Markt ein. 41

U

Michael Banton: The Policeman in the Community, 1964, S. 2. Siehe Kap. I.

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Kap. 111: über die Wirkung des Rechts

Es gibt aber auch eine Bedeutung, bei der das strukturierte, gewohnheit'smäßige Verhalten auf den drei andern Motivationstypen aufbaut. Es ist der Rest von einem oder mehreren von ihnen. Bevor Formen für Testamente üblich waren, schufen Handlungen oder rechtliche Verhaltensmuster den Kanal, der später zur Routine wurde, als Reaktion auf einen oder mehrere der lebhafteren Faktoren. Was diese im allgemeinen betrifft, so kann man in einem gewissen Sinne alle zu einer einzigen Theorie von Rechtsverhalten reduzieren oder kombinieren. Auf einer sehr abstrakten Ebene kann jedes Verhalten durch den KostenNutzen-Effekt analysiert werden. Die peer group beispielsweise ist eine Art von Konkurrenzregierung, die ihre eigenen Strafen und Belohnungen festsetzt. Der vernünftig Handelnde schließt daher. die öffentliche Meinung in seine Berechnung ein. Gewissen, der Sinn für rechtes Verhalten, ist die innere Stimme für eine generelle Lebenshaltung. Es ist stark persönlich, doch wächst jeder in einer Gesellschaft auf, und das Gewissen repräsentiert im großen und ganzen einen gesellschaftlichen Kodex für Recht und Unrecht. Jedenfalls ist ein schlechtes Gewissen schmerzhaft, während Tugend Befriedigung erzeugt. Auch strukturiertes Verhalten folgt einer Linie von Berechnung. Jemand überquert einen Fluß auf einer Brücke, da er es vorzieht, nicht zu schwimmen; er gebraucht lieber die üblichen Formen für Testamente und Verträge, als daß er neue erfindet. Dies sind die leichtesten, billigsten und nützlichsten Wege. Bann, Rüge der peers, ein schlechtes Gewissen, die Mühe, neue Pfade zu finden, - alles bedeutet einen großen Aufwand, selbst wenn ihn das Recht nicht aufzwingt und er schwer in Geld zu berechnen und mit Subventionen und Bußen zu vergleichen ist. Mehr noch, soziales Verhalten bedeutet erlerntes Verhalten. Schlagwörter wie Gewohnheit, Gewissen und Gehorsam gegenüber den peers beschreiben, was gesellschaftliches Lernen in jedem bewirkte. Belohnung und Bestrafung, Ansporn und Erwiderung sind letztlich die Mechanismen, die diese Gewohnheiten und Gefühle in den Verstand einpflanzen. Trotz dieses letzten Punktes lohnt es sich, praktisch gesprochen, die Theorien auseinanderzuhalten. Ob sie nun auf einer höheren Abstraktionsebene ineinanderfließen oder nicht, so sind sie hier auf der Erde doch sehr verschieden. Was sie trennt, ist, was sie aussagen über wahrscheinliche und typische Reaktionen auf Rechtsakte: wann ein Rechtsakt Wirkung erzeugen wird und wieviel, auf wen und welcher Art. Gewisse Verhaltensweisen werden besser durch die eine als durch die andere Theorie erklärt, aber keine besitzt den einzig richtigen Schlüssel. Dies wenigstens zeigt der greifbare Befund. Wie Sanktionen arbeiten ist wahrscheinlich einfacher zu zeigen als das Ergebnis von moralischem Druck oder demjenigen der peers. William Chambliss beschrieb eine Studie über Sanktionen. Eine Uni-

Verhaltenstheorien

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versitätsverwaltung setzte Parkregeln sehr large durch und erhob nur kleine Bußen. Später erhöhte die Schule die Bußen und straffte die Durchsetzung. Die Befolgung verbesserte sich drastisch 43 • In jeder Stadt reduzieren mehr Polizei und höhere Bußen oder beides zusammen das illegale Parken. Ein Abschleppverfahren, das die Besitzer den Unannehmlichkeiten und Kosten des Abholens der Wagen aussetzt, erzeugt noch mehr Befolgung. Die Parkstudie zeigt etwas, das fast selbstverständlich ist: Belohnung und Bestrafung haben mindestens eine gewisse Wirkung auf das Rechtsverhalten; aber Sanktionen geben keine totale Rechenschaft über das Verhalten der Fahrzeuglenker. Auch bei niedrigen Bußen und mangelnder Durchsetzung werden einige Leute die Normen befolgen oder zu befolgen scheinen. Die einen löschen ihre Zigarette aus, wenn sie ein Rauchverbot sehen, auch wenn niemand da ist, der die Norm durchsetzt, und die Durchsetzung bloß in einem unwilligen Wort bestehen würde. Die Parkstudie ist instruktiv. Sie zeigt, daß manchmal Verhaltensteile beiseitegenommen und separat gemessen werden können. Parkverhalten ist nicht nur Belohnung und Bestrafung; es ist es aber zu einem Teil, der gemessen werden kann. Eine Sanktionstheorie wird nie alle Geheimnisse des Rechtsverhaltens lüften. Sie wird Randverhalten erhellen, d. h. mehr Einheiten von Belohnung oder Bestrafung werden mehr oder weniger spezifische Verhaltensweisen hervorrufen. Sanktionen erklären jedoch nicht die Grundlage, auf welcher Verhaltensänderungen basieren. Bei der Parkstudie legte die Theorie nahe (und das Experiment bestätigte es), daß höhere Bußen und bessere Durchsetzung die Verletzungen reduzieren würden. Die Studie gibt aber keine Hinweise für die Voraussage, wie viele Leute die Parknormen in New York, London, Athen oder Green Bay, im Sommer oder Winter, verletzen werden, wenn die Buße 2 DM oder 20 DM beträgt und mit großer, mittlerer oder kleiner Strenge durchgesetzt wird. Sanktionen sind wie Preise. Ein höherer Preis für gebratene Ente senkt die Nachfrage nach diesem Produkt; wir können aber nicht sagen, wie stark sie zurückgehen wird, ohne zu wissen, was der Ersatz ist, wer gebratene Ente liebt und warum und welchen Platz sie in der Kultur einnimmt. Eine vollständige Theorie über Rechtsverhalten muß daher mehr als nur die Sanktionstheorie einschließen. Sie muß unter anderem eine Theorie des normativen Verhaltens umfassen 44 • Im rechtlichen Zusam43 William Chambliss: Types of Deviance and the Effectiveness of Legal Sanctions, 1967 Wis. L. Rev. 703. 44 Anders gesagt, eine vollständige Sanktions theorie würde normative Faktoren einbeziehen, und eine vollständige Theorie des normativen Verhaltens würde die Sanktions theorie einbeziehen.

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Kap. III: über die Wirkung des Rechts

menhang bedeutet dies Gewissen und Legitimitätsbegriff. Wir werden diese Begriffe detailliert im V. Kap. behandeln. Im weitesten Sinne enthält eine Legitimitätstheorie eine Theorie über jene kulturellen und psychologischen Elemente, die jemanden zur Befolgung des Gesetzes bewegen (oder, wenn sie nicht gegeben sind, zur Nichtbefolgung), getrennt vom Motiv des persönlichen Vor- und Nachteils. Hier ist die Forschung begreiflicherweise im Rückstand. Es ist schwierig, Probleme auf diesem Gebiet experimentell zu testen. Verglichen mit der Wirkung einer Sanktion sind die Einstellung der peers zur Autorität, die Vorstellungen über Legitimität und die Macht des Gewissens schwierig zu fassen. Diese hängen mehr von Geschichte, Zusammenhang und Tradition ab, und es scheint (abgesehen von einigen unvorhergesehenen Durchbrüchen) im heutigen Zeitpunkt wenig wahrscheinlich, daß sie ihre Geheimnisse in einem quantitativen Test offenbaren. Dies ist natürlich noch kein Grund, die genannten Faktoren als Aspekte des Rechtsverhaltens zu vernachlässigen.

KapiteL IV

Wann ist Recht wirksam? (Teil I) Dieses Kapitel befaßt sich mit Rechtsverhalten, d. h. mit Benehmen, das auf einen Rechtsakt folgt und sich kausal auf ihn bezieht. Streng genommen kann nur ein Verhalten, das nicht absolut, physisch erzwungen wird, Rechtsverhalten sein. Wenn ein Polizist einen Mann, der schreit und mit den Füßen tritt, in einen Polizeiwagen zerrt, ist das Verhalten dieses Mannes kein Rechtsverhalten, jenes des Polizisten hingegen schon. Besteigt der Mann auf Befehl der Polizei den Wagen auf seinen eigenen zwei Füßen, gilt sein Verhalten im vorliegenden Zusammenhang als freiwillig und ist deshalb Rechtsverhalten (selbst wenn er es tut, weil er weiß, daß die Polizei ihn notfalls hineinzerren würde). Obwohl die Begriffe Gewalt und Zwang in Diskussionen über Rechtsverhalten (vor allem über Sanktionen) auftauchen, meinen wir im allgemeinen nicht Gewalt und Zwang selbst, sondern deren Androhung. Das Rechtssystem wendet natürlich Gewalt an. Es steckt Einbrecher und Sexualdelinquenten ins Gefängnis. Viele Systeme richten Menschen hin. Das System bewegt die Leute jedoch hauptsächlich durch die Drohung mit Gewalt. Wir definieren Rechtsverhalten als freiwillig, selbst wenn starke Drohungen auf den Willen des Subjekts einwirken. Was wir hier diskutieren, sind jene Elemente der Rechtsakte, die Verhalten verursachen, d. h. die auf die Motive und den Willen des Subjekts einwirken. Im allgemeinen bewirken Verhaltensregeln an und für sich kein Verhalten; die Leute reagieren nicht automatisch oder instinktiv. Sie reagieren auf Drohungen, Versprechungen und andere Mechanismen. Eine Regel ist also eine Mitteilung, die ein Versprechen oder eine Drohung in sich trägt und sich an eine oder mehrere Personen richtet. Die Adressaten reagieren auf das Versprechen oder die Drohung oder auf die normativen Elemente der Regel oder auf beide oder keines von heiden. Rechtsverhalten entspringt nicht einer einzelnen Motivation. Verschiedene Situationen lösen verschiedene Motive und Reaktionen aus. Da die Leute im allgemeinen nicht sterben wollen, außer in ungewöhnlichen, glorreichen Fällen, ist es nicht schwierig zu erklären, warum die meisten einem Polizisten mit Pistole gehorchen. Dennoch gehen die Meinungen darüber auseinander, worin die dominante Macht eines 6 Friedman

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

Rechtssystems liegt. Ist es die Fülle von Versprechungen und Drohungen, ein Aspekt des Gruppenlebens, der Appell ans Gewissen, oder sind es innewohnende Normen? Die historische Rechtsschule des 19. Jahrhunderts, der Friedrich earl von Savigny (1779 - 1861) als prominentes Mitglied angehörte, unterstrich die normativen, gewohnheitsrechtlichen Elemente im Recht!. Danach bürgen diese grundlegenden Gewohnheiten, nicht formelle Normen und ihre Sanktionen, für ein bestimmtes Verhalten. Bis zum Extrem weitergeführt, würde diese Idee das formelle Recht eliminieren. Wäre das Recht in Gewohnheiten verwurzelt, würde es sich selbst durchsetzen; wäre es nicht darin verwurzelt, könnte es überhaupt nicht durchgesetzt werden. Mit andern Worten wäre das formelle Recht entweder unnötig oder unnütz. Wahrscheinlich hat niemand einen so extremen Standpunkt eingenommen. Die Gewohnheiten allein können eine geordnete Gesellschaft offensichtlich nicht garantieren. Wenn die rechtlichen Zwänge aufgehoben werden und die Vollstreckung zusammenbricht, nehmen Gewalt und Unordnung ungeachtet der Gewohnheiten zu. Genauso wenig können die Gewohnheiten Massenterror und Folter verhindern, wenn Tyrannen einen Staat leiten. Es genügt, Deutschland unter Hitler als Beispiel anzuführen. In der Tat sind nur wenige gesellschaftliche Normen so tief verwurzelt, daß sie sich selber vollständig verwirklichen, ohne Hilfe des Rechts. Das Tabu des Kannibalismus könnte eine solche sein. In den meisten Gesellschaften ist bereits der Gedanke daran ekelerregend. Übertretungen sind selten - beinahe unbekannt. Wenn sie vorkommen, nehmen die Leute fast automatisch an, der Täter müsse geisteskrank sein2 • Gleichwohl hat es Gesellschaften von Kannibalen gegeben; das Tabu ist eine Sache der Kultur und nicht des instinktiven Ekels. Mord, Vergewaltigung und Brandstiftung stoßen den Durchschnittsmenschen ab; doch sie geschehen und müssen ,verhütet werden. Wenn das Strafgesetz wegen irgendeines technischen Irrtums plötzlich suspendiert würde, würden die Leute ohne Zweifel nicht loshetzen, ihre Feinde niederzumetzeln. Starke moralische Fesseln hielten die Menschen mindestens für eine gewisse Zeit unter Kontrolle, jedoch nicht jedermann und in jeder Hinsicht. Gelegentlich macht das Recht tatsächlich Ferien - z. B. wenn die Polizei streikt - und was dann geschieht, wirft indirekt Licht auf die Angelegenheit. Johannes Andenaes hat von einer solchen Episode berichtet. Die Deutschen verhafteten 1944 im besetzten Dänemark 1 Zu den Ursprüngen dieser Schule und der Verwandtschaft ihrer Ideen mit der früheren Naturrechtsschule siehe Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 217 - 252; Roscoe Pound: Interpretations of Legal History, 1923, S. 9 - 20. 2 Anders bei den in den Anden abgestürzten Sportlern, als Menschenfleisch die einzige Nahrung war, die sie vor dem Hungertod rettete.

Sanktionen

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die gesamte Polizei. Bis zum Ende der Besetzung diente ein unbewaffnetes Wachkorps als Notpolizei, ohne jedoch sehr wirksam zu sein. Die Zahl der Raubüberfälle stieg von 10 auf 100 Fälle pro Monat an. Verbrechen wie Unterschlagung und Betrug nahmen nicht zu. Dies sind aber Delikte, bei denen der Verbrecher normalerweise bekannt ist, wenn das Verbrechen selbst aufgedeckt wird3 • Der Fall ist klarer bei den vielen untergeordneten Einzelnormen des modernen Rechts, welchen die starke moralische Unterstützung fehltz. B. bei der Zeitbeschränkung des Parkometers. Der Nicht-Vollzug führt zur Massenübertretung. Deshalb illustrieren jene Rechtstheorien, welche die Rolle der Gewohnheit und der Geschichte bei der Durchsetzung hervorheben, ihren Standpunkt mit "alten" und beinahe universellen Normen (wie jenen über Mord) oder mit Normen, die stark mit Gewohnheit, Religion oder Kultur belastet sind (z. B. Normen über Inzest). Eine instrumentalere Theorie des Rechtsverhaltens, die rationale Berechnungen hervorhebt, sucht Beweise und Beispiele eher in Parkvorschriften als in den Gesetzen über Mord. Die Gelehrten sind sich im allgemeinen jedoch einig, daß eine Theorie des Rechtsverhaltens mannigfaltig sein muß; Rechtsakte wirken auf verschiedene Arten auf den Verstand der Subjekte ein. Wir wiederholen, daß diese Arten in drei Hauptkategorien gruppiert werden können. Erstens gibt es Sanktionen - Drohungen und Versprechen. Zweitens gibt es den (positiven oder negativen) Einfluß der gesellschaftlichen Welt: die peer group. Drittens existieren innere Werte: das Gewissen und verwandte Einstellungen, der Sinn dafür, was rechtmäßig ist und was nicht, was wert oder nicht wert ist, befolgt zu werden. Jeder dieser Faktoren ist komplex. Wir werden sie der Reihe nach untersuchen. Sanktionen

Wir beginnen mit dem Modell des Rechtsverhaltens, das die Reaktionen der Subjekte auf Sanktionen betont. In der einen oder andern Form ist diese Idee grundlegend für das Recht. Die Menschen befolgen und benutzen das Recht zu ihrem eigenen Vorteil oder um Strafen und Nachteile zu vermeiden. Diese gehen nicht immer von der Regierung aus. Eines der wirksamsten Motive für die Befolgung der Geschwindigkeitsbegrenzungen ist die Angst der Leute vor einem Unfall. Dies ist reines persönliches Interesse; es ist aber ebenso wirksam wie irgendeine staatliche Sanktion.

3

Johannes Andenaes: The General Preventive Effects of Punishment, 114

U. Pa. L. Rev. 949, 962 (1966). 6·

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

Natürlich garantiert das persönliche Interesse die Rechtsbefolgung nicht. Dies trifft sicher auf die Geschwindigkeitsbegrenzung zu. Selbst ein vernünftiger Fahrer ist oft bereit, ein geringes Unfall risiko auf sich zu nehmen, um ein Geschäft nicht zu verlieren, ein Flugzeug nicht zu verpassen oder nicht zu spät zum Essen nach Hause zu kommen. Sanktionen sind Wege, eine Norm oder Regel zu verwirklichen. Rechtssanktionen sind Sanktionen, die durch das Recht vorgeschrieben oder gebilligt werden. Jede Rechtsnorm enthält eine Angabe der rechtlichen Konsequenzen. Diese Konsequenzen sind Sanktionen - Versprechen oder Drohungen. Ein großer Teil der gesellschaftlichen Energie des Rechts und der Investierung der Gesellschaft in das Recht dient der Unterstützung des Systems des Auferlegens oder Androhens von Sanktionen: Detektive, die Polizei, Vollstreckungsbeamte, Staatsanwälte und Gefängnisse auf der strafrechtlichen, Gerichte und ein großer Verwaltungsapparat auf der zivilrechtlichen Seite. Gleichwohl steckt die Untersuchung der Rechtssanktionen und ihrer Wirkung auf das Verhalten noch in den Anfängen. Erst in den letzten Jahren ist in diesem Bereich eine fundierte Forschung entstanden. Sie hat sich zum größten Teil auf einen bestimmten Punkt konzentriert, vereinfacht gesagt auf die Frage, ob Bestrafung abschreckt. Fast alle Studien befassen sich mit der Prävention bei Verbrechen oder anderen verpönten Handlungen, wie Mogeln im Examen'. überragende Bedeutung kam der Frage zu, ob die Todesstrafe als Präventionsmittel von großem Nutzen sei. Jede Theorie über Sanktionen muß jedoch von der Annahme ausgehen, daß die Strafdrohung darauf gerichtet ist abzuschrecken, gen au wie Belohnungen darauf abzielen, belohnungswürdiges Verhalten zu fördern 5 • Im allgemeinen wollen die Leute das, was erfreulich und belohnungswürdig ist, und sie vermeiden Kosten, Strafen und Leiden. Diese Aussagen sind grundlegend für das Verständnis der Theorie und für das Studium des menschlichen Verhaltens. Skepsis gegenüber Rechtsstrafen ergibt sich aus der Tatsache, daß unter gewissen Umständen einige Arten von Sanktionen keine große Wirkung hervorzurufen scheinen. Die grundlegende Annahme muß aber als unanfechtbar hingenommen werden. Ein anderer Lehrsatz muß auch als wahr gelten. Angenommen eine Rechtsregel droht für das Verhalten X eine Sanktion an. Wenn wir die Sanktion verschärfen und alle andern Faktoren gleich bleiben, wird das 4 Einen vortrefflichen überblick bietet das Werk von Franklin E. Zimring und Gordon J. Hawkins: Deterrence, The Legal Threat in Crime Control, 1973; grundlegend ist auch der Aufsatz von Johannes Andenaes: The General Preventive Effects of Punishment, 114 U. Pa. L. Rev. 949 (1966); ders.: Deterrence and Speciftc Offenses, 38 U. Chi. L. Rev. 537 (1971). 5 C. J. M. Schuyt: Rechtssociologie, een Terreinverkenning, 1971, S. 142151.

Sanktionen

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Verhalten X abnehmen. Wenn das Recht für das Verhalten X eine Belohnung verspricht und alle andern Faktoren gleich bleiben, wird eine Erhöhung der Belohnung eine Zunahme von X bringen. Dies folgt aus dem ersten Lehrsatz. Niemand bezweifelt, daß ein Händler mehr Suppe oder Seife verkaufen kann, wenn er seinen Preis senkt, und weniger, wenn er ihn erhöht - sofern alle andern Faktoren konstant bleiben. Das Maß der Änderung kann natürlich nicht vorausgesagt werden. Einige Verhaltensarten sind elastisch, andere starr. Es ist nicht möglich, einfach und klar zu sagen, daß 10 Prozent mehr Bestrafung 10 Prozent mehr Prävention hervorruft. Was man sagen kann, ist, daß mehr Einheiten echter Strafen entmutigen und nicht ermutigen werden, welches Verhalten auch immer die Zielscheibe der Sanktion ist. Nehmen wir das einfache Beispiel des Parkverhaltens: Wenn die Buße für verbotenes Parken steigt, nimmt das illegale Parken ab, nicht umgekehrt. Die Grundannahmen haben einen empirischen Hintergrund; sie stimmen mit der allgemeinen Erfahrung und mit der Theorie in andern Zweigen der Sozialwissenschaft überein. Gibt es Ausnahmen von den grundlegenden Sätzen? Gibt es Fälle, in welchen ein Verhalten durch die Strafdrohung gerade gefördert wird? In seltenen Situationen könnte die Sanktion dem Benehmen eine gewisse symbolische Bedeutung geben, die seinen Wert hebt. Vermutlich werden bestimmte Produkte (z. B. Kosmetika) zu einem höheren Preis besser verkauft, weil der Konsument denkt, ein billiges Produkt könne nicht so gut sein. Die Forschung unterstützt in gewissem Maße auch die Idee der "verbotenen Frucht": Weil Pornographie verboten, rar und ein bißchen riskant ist, wird sie erotischer und begehrenswerter. Zumindest sind solche Fälle theoretisch möglich. Die Grundannahrnen setzen einen gewissen Grad an rationalem oder Kosten-Nutzen-Verhalten voraus. Sie gehen nicht davon aus, daß die Menschen gefühllose Maschinen sind. Die Menschen handeln manchmal uneigennützig, manchmal irrational (in jedem Sinn des Wortes). Die Sozialwissenschaft befaßt sich jedoch mit Gruppen- oder Massenverhalten - mit allgemeinen, typischen, modalen Strömungen. Es spielt keine Rolle, wenn einige wenige ohne Rücksicht auf Bestrafung morden, plündern, vergewaltigen, und wenn sie unfähig sind, auf Drohungen zu reagieren. Einige von ihnen betrachtet man als geisteskrank als rechtlich nicht verantwortlich für ihre Taten. Die meisten potentiellen Mörder und Frauenschänder sind nicht außerhalb der Reichweite der Sanktionen. Ebenso kann man nicht von Mord auf weniger "expressive" Verbrechen schließen - Verbrechen ohne Leidenschaft (außer Geldgier), Wirtschaftsdelikte, Verletzungen von Verwaltungs- oder unbedeutenden Ordnungsvorschriften (Überschreiten der Parkzeit, Betreten des Rasens, Verschmutzen der Straßen).

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Der Präventiv- (oder Anreiz-)Effekt der Sanktionen bedeutet vor allem Generalprävention, d. h. die Wahrscheinlichkeit, daß die Bevölkerung oder ein Teil von ihr, welche von einer Sanktion hört oder vielleicht ihre Anwendung sieht, ihr Verhalten entsprechend ändert. Die Generalprävention unterscheidet sich von der Spezialprävention, worunter die behauptete Wirkung (der Strafe), das Begehen künftiger Verbrechen durch den Bestraften zu reduzieren oder zu eliminieren verstanden wirdG• Die Idee der Generalprävention ist die, daß z. B. das Gesetz betreffend den Raub die Leute einschüchtern wird, so daß sie es sich aus Furcht vor Verhaftung, Verurteilung und Gefängnis zweimal überlegen, bevor sie einen Raub begehen. Spezialprävention bedeutet, daß es sich ein Räuber nach einer Gefängnisstrafe doppelt überlegen dürfte, ehe er noch einmal einen Raubüberfall begeht. In beiden Fällen besteht die Prävention hauptsächlich in der Drohung. Ein Räuber im Gefängnis kann natürlich keinen Raubüberfall begehen. Er ist offensichtlich im physischen Sinn abgehalten, d. h. durch Mauern, Gitter, Wachen und Pistolen7 • Die interessanten und wichtigen Fragen befassen sich mit verbalen Rechtsakten. Die Annahme lautet, daß man auf solche Akte reagiert. Wenn wir eine Strafe androhen und sie durchsetzen, mag eine gewisse Abweichung bestehen bleiben, doch andere potentielle Abweicher sind abgeschreckt worden. Kurz gesagt setzen die Lehrsätze eine Verhaltenstheorie voraus, die jener ähnlich ist, welche von der Nationalökonomie vorausgesetzt wird. "Verbraucher" der Rechtsakte habe~ Auswahlmöglichkeiten und Vorlieben. Jedes mögliche Stück von Rechtsverhalten verspricht Kosten und Belohnungen. Eine Veränderung der Kosten bewirkt eine Änderung des gesamten Verhaltens; man kann aber nicht voraussagen, wie jede einzelne Person reagieren wird. Wenn ein Opernhaus seine Billettpreise plötzlich von 40 auf 20 DM senkt, kann es sicher mehr Plätze verkaufen. Trotzdem gehen einige Leute nicht in die Oper, selbst wenn man es ihnen bezahlte; andere sind zu beschäftigt, um zu gehen, zu arm, leben zu weit weg oder bevorzugen eine andere Unterhaltung zum gleichen . oder niedrigeren Preis. Es wird mehr übertreter von Regeln geben, wenn die Bußen niedriger sind, als wenn sie hoch sind. Die Lehrsätze sind, mit andern Worten, Sätze über Randverhalten. Sie geben nicht vor zu sagen, wie ein gewisser Herr Jonas oder eine gewisse Frau Schmidt handeln wird, oder gar wieviele Leute im Grenzbereich ihr Verhalten ändern werden, wenn die Buße steigt oder sinkt. Herbert L. Packer: The Limits of the Criminal Sanctions, 1968, S. 45. Selbst hier ist es die Drohung, die tatsächlich abschreckt. Die Mauern selber sind völlig passiv. Der Sträfling bleibt im Gefängnis, weil er Angst hat, er würde beim Fluchtversuch erwischt, bekäme eine längere Strafe oder würde von einer Wache erschossen. -6

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Prävention und Todesstrafe

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Prävention und Todesstrafe Wenn wir von einem Präventiveffekt der Strafe ausgehen, was sollen wir dann mit der Literatur anfangen, die der Todesstrafe jeden Präventiveffekt abspricht? Wir haben am Argument, daß die Todesstrafe unmoralisch ist, nichts auszusetzen, und es ist sicher möglich, daß sie schädliche Nebenwirkungen erzeugt. In der Tat ist die Ablehnung der Todesstrafe stärker, wenn sie aus moralischen Gründen erfolgt, als wenn gegen jede Vernunft darauf beharrt wird, daß die Androhung der schärfsten Strafe keine Wirkung auf das Verhalten habe. Tatsächlich ist die Todesstrafe in der Hand eines Tyrannen wie Hitler entsetzlich wirksam. Gerade ihre Härte ist ein Argument, um sie den Regierungen und Richtern, die auch nur Menschen sind, zu verweigern. Viele Studien über die Todesstrafe behaupten jedoch, auf empirischen Daten zu basieren. In der letzten Generation nahm die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten drastisch ab. Gleichwohl blieb die Mordrate konstant. Die Zahlen beweisen jedoch so gut wie nichts. Klar geht aus ihnen aber hervor, daß die Todesstrafe außer Mode gekommen ist. Sie wurde eine seltene Form der Bestrafung - so selten, daß sie vielleicht wenig oder gar nichts zum Risiko beitrug, das ein Frauenschänder oder Mörder einging. 1951 wurden ungefähr 7500 Menschen ermordet; es wurden jedoch nur 105 Mörder hingerichtet - ca. 1,4 Prozents. Verschiedene Gliedstaaten hatten die Todesstrafe abgeschafft; einige kannten sie gar nie. Jene, die sie beibehielten, wurstelten mit zahlreichen Berufungen und Aufschüben derart, daß die Verurteilten 10 Jahre und mehr in der Todeszelle verbrachten. Dies schwächte das Risiko noch mehr ab und machte aus den Verurteilten eher Objekte der Sympathie als Objekte des Hasses. Unterschiede im Risiko können wie Preisunterschiede so klein sein, daß sie nicht von Bedeutung sind. Wenn ein Sportwagenhändler den Preis eines Modells von 28000 auf 28100 DM erhöhte, würde man keinen Verkaufsrückgang erwarten. Fluggäste annullieren eine Reise nicht, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Unglücks von 1 zu 10 Milliarden auf 2 zu 10 Milliarden ansteigt. Die Todesstrafe dürfte ein so seltenes und fernes Risiko geworden und zeitlich so weit entfernt sein, daß sie kein zusätzliches signifikantes Abschreckungsmittel mehr darstellt. Jeder potentielle Mörder ging das Risiko der Verhaftung, des Gerichtsverfahrens und einer langen Gefängnisstrafe ein. Ein wirklich winziges zusätzliches Risiko des Todes würde nicht viel bedeuten. Gegen Ende der 60er Jahre konnte man die Todesstrafe dann getrost unter jedem Aspekt ihres Präventionswertes abschaffen. Die Abschaffung änderte die Sache nur wenig, denn der Strafeffekt bestand im Grunde genommen schon nicht mehr. 8 William J. Chambliss: Types of Deviance and the Effectiveness of Legal Sanctions, 1967 Wis. L. Rev. 703.

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Wie gesagt bedeutet Prävention nicht, daß die Menschen ein Gesetz nur befolgen, weil sie eine bestimmte, unmittelbare Strafe befürchten. Sie bedeutet nur, daß ein Steigen der tatsächlichen Kosten und Strafen die Prävention steigert und verbotenes Verhalten vermindert. Die Todesstrafe muß, solange sie einige abschreckt, nicht jedermann abschrecken; und wenn eine Zunahme der Strafe einen Randeffekt hat, genügt dies. Deshalb genügt es nicht zu zeigen, daß viele Leute, die verhaftet und bestraft wurden, erneut Verbrechen begehen. Eine hohe Rückfallquote beweist nicht, daß Abschreckungsmittel ihre Wirkung verfehlen, oder daß Gesetzesbrecher dem Verbrechen so sehr ergeben sind, daß sie nicht entwöhnt werden können. Erstens wissen wir nicht, wie Herbert Packer bemerkt, wieviel höher die Zahl der Rückfälligen wäre, wenn es keine Bestrafung gegeben hätte 9 • Zweitens behandelt die Gesellschaft die Kriminellen rauh, indem sie deren Chance beschränkt, in die Gesellschaft zurückzufinden. Es mag für einen ehemaligen Schwindler eher "logisch" sein zu stehlen, als zu hungern. Der Unbescholtene verliert durch das Verbrechen eher mehr als er gewinnt, nicht jedoch der Ex-Sträfling 10 • Die Rückfallquote sagt im besten Fall etwas über die Spezial- nicht aber über die Generalprävention aus. Die Todesstrafe ist ein perfektes Mittel der Spezial prävention: Der Tote kann keine weiteren Verbrechen begehen.

Die Präventionskurve Auf jeden Fall gibt es kein einfaches, lineares Verhältnis zwischen Sanktionen und verbotenem Verhalten. Angenommen man würde die Zahl der Parkzeitüberschreitungen bei gegebener Höhe der Buße aufzeichnen; bei einer Bußenerhöhung würden wir erwarten, daß die Zahl der übertretungen zurückginge, aber wir erwarten keine vollkommen gerade Linie auf dem Diagramm. Verdoppelt man eine Buße von 10 DM, wird (bei konstant bleibender Vollstreckung) die Befolgung zunehmen, sie wird sich aber nicht notwendigerweise verdoppeln. Die Drohung mit einer 20jährigen Gefängnisstrafe wird wahrscheinlich nicht doppelt so wirksam sein wie die Drohung mit einer 10jährigen. Wir erwarten eine Art kurvenförmiges Verhältnis, ein allmähliches Abflachen. Von einem Herbert L. Packer: The Limits of the Criminal Sanction, 1968, S. 46. Isaac Ehrlich: The Deterrent Effect of Criminal Law Enforcement, 1 J. Legal Studies 259, 264 f. (1972). Vgl. Daniel Glaser's Schlußfolgerung in: The Effectiveness of a Prison and Parole System, verkürzte Ausgabe 1969, S. 337, wonach Besserungsbehandlungen am wirksamsten sind, wenn sie die Möglichkeiten eines Gefangenen erhöhen, legitime Geschäfte zu tätigen, und auch sein Selbstverständnis stärken, falls er sich mit Verbrechensgegnern solidarisch erklärt. Als Bestätigung siehe Harry King zu William J. Chambliss: Box Man, a Professional Thief's Journey, 1972, S. 144 f.; siehe auch Robert A. Stebbins: Commitment to Deviance, The Nonprofessional Criminal in the Community, 1971, S. 93 - 109. 9

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Die Präventionskurve

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gewissen Punkt an würden weitere inputs von Bußen immer weniger zusätzliche Befolgung bewirken, und vielleicht würde man einen NullEffekt erreichen. Dies deshalb, weil es bei Zunahme der Befolgung immer weniger Leute zu beeinflussen gibt, und diese wenigen die schwierigsten Fälle sind. Man nähert sich einem Sättigungspunkt, an dem sich die Erträge vermindern. Dies ist ein weiterer Grund, weshalb die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten so wenig Wirkung zu haben scheint; Mord wird durch die peers, das Gewissen und den Staat so hart verurteilt, daß die Zahl der potentiellen Mörder klein ist. Eine Person oder Gruppe kann auch so übersättigt werden mit Strafreizen, daß nichts Schlimmeres oder Strafenderes mehr möglich ist. Jemand, der demnächst erschQssen werden soll, riskiert alles; er hat nichts zu verlieren. Seine Peiniger haben die Macht eingebüßt, ihn mit zusätzlichen Handlungen oder Drohungen abzuschrecken. Totalitäre Gesellschaften können diesen Punkt erreichen. Gestapo-Taktiken, Konzentrationslager und wahlloses Erschießen können eine Atmosphäre schaffen, in der viele Leute das Leben unerträglich finden und sich nichts Schlimmeres denken können. Deshalb hätte mehr Terror keine Wirkung; er würde die Leute lediglich dazu bringen, sich dem Widerstand anzuschließen. Wenn sogar der Unschuldige sich sinnlosem Terror gegenübersieht, dann scheint die Revolution kaum fürchterlicher als die Risiken des täglichen Lebens. Jeder Rechtsakt wird seine eigene Präventionskurve haben. Wahrscheinlich sind keine zwei Kurven genau gle.ich. D. h. jede Intervention des Rechtssystems - jede Regel oder Verfügung, die an eine oder mehrere Personen gerichtet ist und von einer (positiven oder negativen) Sanktion unterstützt wird - wird das Verhalten mehr oder weniger beeinflussen, entsprechend dem Grad der angedrohten oder versprochenen Sanktion. Viele Faktoren beeinflussen die Steigung und die Form dieser Präventionskurve. Im folgenden sind ein paar grundlegende Faktoren aufgeführt; einige davon werden wir im Detail besprechen. I. Charakteristika der Drohung oder des Versprechens

A. Die Natur der Sanktion. Ist sie eine Belohnung oder Bestrafung? Ist sie leicht oder schwer?

B. Das wahrgenommene Risiko, eine negative Sanktion zu erleiden oder sich einer positiven zu erfreuen. C. Der Zeitpunkt des Eintritts der Sanktion. Ist er nahe oder in ferner Zukunft? H. Charakteristika der einer Sanktion unterworfenen Personen A. Wieviele Personen sind einer Sanktion unterworfen? Es ist z. B. einfacher, einen hohen Verwirklichungsgrad der Regeln zu erreichen, denen nur wenige prominente natürliche oder juristische Personen unterworfen sind.

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I) B. Der Persönlichkeitstypus des Subjekts oder die Kultur, in welcher es lebt.

IH. Charakteristika des zu kontroHierenden VerhaUens A. Wie einfach oder schwierig ist es, das Verhalten mit Strafe zu belegen? Es ist z. B. sehr schwierig, gefährliche Gedanken auszumerzen, und viel einfacher, gefährliche Bücher zu verbrennen. B. Welcher Natur ist die Forderung nach dem zu kontrollierenden Verhalten? Ein gewisses Verhalten ist schwer zu kontrollieren, weil es die Menschen so wünschenswert finden, daß sie es nicht bereitwillig aufgeben, oder weil es so unangenehm ist, daß es vom Gesetz nicht leicht stimuliert werden kann. Die Forderung nach einem bestimmten Verhalten ist stark und relativ unelastisch; Sanktionen haben eine vergleichsweise kleine Wirkung. Ein anderes Verhalten ist ziemlich elastisch und reagiert schnell auf Sanktionen.

Charakteristika der Drohung oder des Versprechens Die Natur der Sanktionen

üblicherweise werden die Sanktionen in zwei große Gruppen eingeteilt: in Belohnungen und Strafen, d. h. positive und negative Sanktionen. Die Idee ist, daß die dem Gesetz Unterworfenen die eine auswählen und die andere vermeiden werden. Die Gesetzgeber nehmen an, daß die als "Strafen" bezeichneten Sanktionen wirklich schmerzlich und die "Belohnungen" wirklich angenehm sind, so daß die gewünschten Verhaltenskonsequenzen mehr oder weniger automatisch folgen werden. Die üblichen Strafformen im Strafrecht sind Bußen und Gefängnis. Körperliche Züchtigung oder andere physische Strafen kamen im älteren Recht oft vor. Die Todesstrafe ist heute selten, wurde aber in der Vergangenheit häufig angewendet. Andere Strafen sind z. B. Verweise, Degradierungen und Verluste von Vorrechten (Verlust des Stimmrechts oder des Führerscheins). Jede Strafe hat ihre eigene Sozialbedeutung. Da die Stärke einer Sanktion davon abhängt, wie die Leute sie auffassen, könnte sie verschieden sein, wenn der Tod durch Erhängen, Erschießen oder den elektrischen Stuhl herbeigeführt wird, und drei Jahre Gefängnis könnten für verschiedene Klassen von Menschen eine unterschiedliche Bedeutung haben. Diese könnte zum Teil auch von der Art des Gefängnisses abhängig sein. Die Geschichte weist viele abgeschaffte und veraltete Präventionsmittel auf: Exil, Auspeitschungspfahl, Kastration. Vorstellungen über die Moral der Strafen wechseln; diese Vorstellungen vermehren oder reduzieren die Optionen, welche dem Rechtssystem offenstehen. In der modernen Welt scheint ein allgemeiner Trend zur Milde zu herrschen. Die Körperstrafe hat abgenommen, zumindest offizielJlt, 11

Diese These gilt jedoch für totalitäre Staaten nicht unbedingt.

Charakteristika der Drohung oder des Versprechens

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und die Gefängnisstrafen sind mit den Jahren kürzer geworden. Strafen sind aber schwierig zu vergleichen - ist eine Prügelstrafe schlimmer oder besser als ein Monat Gefängnis? Ihre Wirkung mag auch mit der Kultur und der Zeit variieren. Auch das Zivilrecht hat eine reiche Auswahl von Strafen. Die bekannteste ist der finanzielle Nachteil, eine andere der Verlust von Privilegien. Eine Körperschaft kann ihre Konzession verlieren; in einem Scheidungsfall verliert der "schuldige" Teil nicht nur den Ehestand, sondern eventuell auch seinen Wagen, die Kinder und das Haus. Zivilgerichte können Verfügungen erlassen, die eine Partei auf das vom Gericht befohlene Handeln verpflichten. Hält die Partei die Verfügung nicht ein, kann sie ins Gefängnis kommen. Jede gerichtliche Anordnung, sei es eine solche Verfügung oder nicht, ist eine Freiheitsbeschränkung, indem die Partei weiteren Strafen (i. d. R. Geldstrafen) ausgesetzt ist, falls sie nicht gehorcht. Die augenfälligste Form der Belohnung ist Bargeld für eine Leistung. Viele Staaten bieten Prämien an für das Töten von Raubtieren Arizona zahlt z. B. bis 100 $ für das Töten eines Berglöwen und 3.50 $ für den Kopf eines Steppenwolfes l2 • Steuergesetze sind durchsetzt mit direkten finanziellen Anreizen. Die Regierungen haben Milliarden von Subventionen bezahlt - z. B. den Farmern für Preisstützungen und Amortisationen von Grundpfandschulden. Positive Sanktionen umfassen auch Titel, Ehren, Medaillen, Machtpositionen, Lächeln, Händeschütteln und Lob. Alles, was einen Wert hat, kann als Anreiz dienen; ein Gefangener kann die vorzeitige Entlassung erlangen, wenn sein Verhalten die zuständige Behörde zufriedenstellt. Die Rechtsgelehrten schenken im allgemeinen den Belohnungen wenig Aufmerksamkeit. Auf den ersten Blick scheint sich das Remtssystem häufiger der Strafen denn der Belohnungen zu bedienen. Die Strafe scheint in einem gewissen Sinne wirksamer. Ihre bloße Androhung hat einen Präventiveffekt, während die Hoffnung auf eine Belohnung ein schwacher Anreiz ist. Eine Subvention könnte mehr Unzufriedenheit als Handlung hervorrufen, wenn sie nur von einem von dreien bezogen wird. (Manchmal rechnen die Leute natürlich auf gut Glück mit einer Belohnung, am auffälligsten ist dies bei Staatslotterien.) Es ist jedoch schwierig, die formellen Strafen und Belohnungen zu zählen und zu vergleichen, um den Nutzen der einen oder andern für das Recht empirisch zu ermitteln. Ein Nachzählen in den Gesetzbüchern sagt uns kaum, welche Technik das Recht häufiger anwendet. überdies beschreiben die Begriffe Belohnung und Strafe nicht sehr gut, wie Regeln das Verhalten außerhalb des Strafremts kanalisieren. Nehmen 12

Ariz. Rev. stat. § 24-821 (1956).

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

wir als Beispiel einmal mehr die Vorschriften über letztwillige Verfügungen. Jeder Staat Amerikas hat ein Gesetz über die Intestaterbfolge, das die Erbteilung beim Fehlen eines Testaments regelt. In Pennsylvania z. B. erhält die Witwe mindestens ein Drittel des Vermögens ihres verstorbenen Gatten und noch mehr, wenn keine Kinder überleben. Andere Familienmitglieder bekommen bestimmte Teile des Vermögens. Das Gesetz stellt auch Regeln auf für das Abfassen eines Testaments. Das Testament muß schriftlich abgefaßt und vom Erblasser unterzeichnet sein, und es braucht mindestens zwei Zeugen. Ein Testament, das diese Regeln befolgt, ist gültig. Eines, das dies nicht tut, ist ein wertloses Papier. Es ist natürlich möglich, diese Gruppe von Regeln als Belohnungen und Strafen zu beschreiben. Man könnte sagen, daß jemand, der die Regeln nicht befolgt - der z. B. nur einen Zeugen benützt - bestraft wird: sein Testament scheitert, seine Wünsche sind unbeachtlich, und die gesetzliche Erbfolge greift ein. Man könnte ebenso gut sagen, daß jemand, der die Regeln befolgt, belohnt wird: er erlangt die Freiheit, das gesetzliche Erbrecht zu ignorieren und sein Vermögen nach seinem Gutdünken zu verteilen. Weil wir die gleichen Tatbestände genauso plausibel als Belohnung oder Strafe beschreiben können, ist der Schluß richtig, daß die Begriffe nicht passen. Diese Zwischen-Stellung, die im Recht üblich ist, enthält kanalisierende Techniken, die keine direkten Strafen oder Belohnungen sind. Sie schafft Strukturen und vereinfacht deren Anwendung. Sie begünstigt Gewohnheiten und Routine. Wer ein Testament errichtet, benützt die Struktur, die vom Gesetz geschaffen wurde. Wir nannten diese Art des Rechtsverhaltens Anwendung und ihr Gegenteil Nichtanwendung. Zumindest formell gesehen ist die Anwendung eine Angelegenheit der Eigenverantwortlichkeit des Handelnden. Das Gesetz kümmert sich nicht darum, ob jemand ein Testament errichtet oder nicht. Man könnte natürlich fragen, warum sich das Gesetz nicht darum kümmert. In einem gewissen Sinne kümmert sich das Gesetz tatsächlich darum; es behandelt die gesetzliche und die gewillkürte Erbfolge nicht mit völliger Gleichgültigkeit. Unter dem gegenwärtigen System werden jedes Jahr eine gewisse Anzahl gültiger Testamente errichtet. Dies mag von einem gewissen Sozial standpunkt aus die richtige Anzahl sein. Wenn dem so ist und wenn mehr Zwang mehr kostete, als vermehrtes richtiges Verhalten wert wäre, dann ist es vorzuziehen, die Dinge so zu lassen, wie sie sind. Wir können kleine Änderungen bewirken, indem wir das Gesetz oder das Verfahren ändern. Wenn wir mehr gewillkürte Erbfolgen wollen, können wir versuchen, die Testamente wünschenswerter zu machen oder die gesetzliche Erbfolge (z. B. mit einer Steuer) zu "bestrafen" oder beides. Der Staat zieht beispielsweise keine Mieten

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für die Hauseigentümer ein; der Vermieter macht es selbst. Er kann den Prozeßweg beschreiten, wenn seine Mieter nicht bezahlen. Oft wird er dies tun. Sein Recht, die Miete auf dem Prozeßweg einzutreiben, ist das Recht, eine Belohnung zu gewinnen und eine Strafe aufzuerlegen. Wenn die Menge der Anwendung durch die Hauseigentümer annehmbar oder optimal ist, können wir die Dinge so belassen. Wir können das Niveau nach oben oder unten anpassen, indem wir mit Regeln oder Verfahrensvorschriften basteln. Wir können es einfacher oder schwieriger machen, jemanden zu exmittieren. Wenn wir bis zum Äußersten gehen, können wir das Nichtbezahlen der Miete als Verbrechen erklären. Dadurch neigt sich die Waagschale noch mehr. Rechtsnormen kanalisieren das Verhalten durch ihren Aufbau und Inhalt mit verschiedenen Erfolgsgraden. Belohnungen und Strafen sind Alternativmethoden des Kanalisierens. Des weiteren beziehen sich die Begriffe Belohnung und Strafe auf beabsichtigte Resultate der Rechtsakte. Es wird angenommen, daß die Meldung für den Absender und den Empfänger dieselbe ist - daß beide Strafen als Strafen und Belohnungen als Belohnungen betrachten. Dies ist gewöhnlich der Fall, doch nicht immer. Gewisse Leute möchten, vielleicht unbewußt, bestraft werden und empfinden die Strafe als Belohnung. Nach gewissen Psychoanalytikern ist die Strafe "ein unbewußter und sehr gefährlicher Anreiz zum Verbrechen. Die verbotene Tat schwächt ... ein übergroßes Schuld gefühl ab. Die Aussicht auf Bestrafung schreckt den Kriminellen nicht ab, sondern führt ihn unbewußt zur verbotenen TaP3." Ein engagierter Revolutionär möchte vielleicht verhaftet werden, um seinem Fall Publizität zu verschaffen und ein Märtyrer zu werden. Prosaischer ausgedrückt möchte ein obdachloser Betrunkener in einer kalten, einsamen Dezembernacht in ein Gefängnis gesteckt werden. Keine Sanktionsform hat also Universalwirkung, wenngleich die Körperstrafe dem nahekommt und Geld immer eine starke Belohnung ist. Die Wirkung einer Sanktion ist eine empirische Frage. Die Leute schätzen Sanktionen unterschiedlich ein. Sie haben unterschiedliche Toleranzen gegenüber dem Schmerz und reagieren verschieden auf materielle Anreize. Der ökonomische Status mag eine Rolle spielen; eine Buße von 2 000 DM ist eine Lappalie für eine große Gesellschaft, eine Härte für einen Arbeiter. Man sagt, die Androhung einer Gefängnisstrafe sei verheerender für einen white-collar-Verbrecher der Mittelklasse als für andere Gesetzesbrecher. Es ist denkbar, daß es Subkulturen gibt, wo Verhaftung und Gefängnis Zeichen der Männlichkeit, nicht der Schande sind. Umgekehrt will nicht jedermann offiziell be13 Theodor Reik: The Compulsion to Confess, On the Psychoanalysis of Crime and Punishment, 1959, S. 295.

Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

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lohnt werden; ein großes Lob des Lehrers könnte einen Knaben in der Klasse in Verlegenheit bringen.

Belohnung contra Strafe Ist Belohnung wirkungsvoller als Strafe? Angenommen die Regierung ist bestrebt, die Rassenintegration in einem Wohnungsprojekt zu fördern. Erzielte man bessere Resultate, wenn den Weißen 20 DM pro Monat bezahlt würden, damit sie in eine solche Wohnung ziehen, oder wenn sie mit 20 DM pro Monat gebüßt würden, falls sie woanders wohnten? Fragen wie diese können nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Aus Tier- und Kinderstudien und aus einem gewissen Wunschdenken heraus haben einige Psychologen geschlossen, die Strafe (ein schmerzliches Reizmittel) sei nicht so gut geeignet wie die Belohnung (oder "positive Bekräftigung"), um ein Lernen oder eine Verhaltensänderung herbeizuführen. Shakespeare's Hermione sagte in "The Winter's Tale": "Eh treibt ihr uns mit einem / sanften Kusse tausend Meilen / als mit dem Sporn zehn / Schritt nur14." Es ist jedoch nicht klar, ob diese Behauptungen auf das Rechtsverhalten zutreffen 15 • Die meisten Studien haben das Verhalten Erwachsener nicht untersucht. In den Studien folgten Belohnungen und Strafen dem Verhalten meist unmittelbar - ein elektrischer Schlag, etwas Futter. Die Strafe im rechtlichen Sinn ist selten gewiß und meist nicht unmittelbar. Wer bei den Einkommenssteuern schwindelt, wird sicher nicht sofort erwischt; der Prozeß und das Urteil mögen Jahre später erfolgen. Viele Belohnungen und Subventionen sind sicher und nahezu unmittelbar; daher ist es schwierig, die Wirkung der beiden zu vergleichen. Es wäre ein realistischerer Vergleich, wenn jede zehnte weiße Familie einen Anspruch auf 20 DM gewinnen würde, zahlbar irgendwann in der Zukunft. Die Strafe gleicht eher einer Lotterie als dem Coupon eines Inhaberpapiers, der an einem bestimmten Datum fällig wird. Und doch gibt es keinen Grund zu glauben, daß aUe Belohnungsformen aUen Strafformen für aUe Taten überlegen sind. Für viele Leute und bei vielen Taten mag die Furcht vor dem Gefängnis eine wirksamere Sanktion sein als Geldversprechen. Jede Verallgemeinerung wird sich ohne Zweifel als falsch herausstellen. Was ist übrigens eine Belohnungs- oder Strafeinheit zum Zweck des Vergleichs? Ist eine Buße von 20 DM die gleiche Sanktionseinheit wie eine Belohnung VOn 20 DM? Wie soll man Einheiten VOn Gefängnisstra14

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The Winter's Tale, Akt I, Szene 2. Barry F. Singer: Psychological Studies of Punishment, 58 Calif. L. Rev.

405, 411 ff. (1970).

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fen oder Schlägen mit Geldeinheiten vergleichen? Wieviele Peitschenhiebe entsprechen einer Tapferkeitsmedaille?

Die Wahrnehmung des Risikos Es versteht sich von selbst, daß keine Prävention erreicht wird, wenn auf dem Papier strengere Strafen geschaffen werden. Viele argumentieren, daß die Strafe wertlos sei, und meinen, daß Worte in einem Gesetzbuch wertlos seien. Dies trifft zu. Der Beweis für den Präventiveffekt von rein formellen Sanktionen ist, wie erwartet, schwach 16 • Der Präventiveffekt rührt von der Kraft einer Drohung her. Eine nicht vollstreckte Sanktion ist ein dürftiges Präventionsmittel, weil sie eine so schwache und kraftlose Drohung ist. Sie kann wirken, aber nur falls die Leute nicht wissen, daß es sich um eine leere Drohung handelt. Es ist oft gesagt worden, daß das Wichtige einer Sanktion ihre Gewißheit sei. Dies macht auch die überwachung so zwingend. Niemand parkt unter den Augen eines Polizisten in einer Parkverbotszone. Es scheint wahrscheinlich, daß weniger Leute betrunken Auto fahren würden, wenn sie sicher wären, daß sie erwischt werden und eine einjährige Gefängnisstrafe bekommen. Eine fünf jährige Gefängnisstrafe wäre noch wirksamer. Wie wirksam, können wir nicht sagen aber annehmen, daß bei einer Erhöhung der Strafe auf fünf Jahre die Chance der Verhaftung und Verurteilung im Verhältnis von eins zu fünf zurückgehen würde. Wir sind nun unsicher, ob wir die Strafe überhaupt erhöht haben. Vielleicht haben wir nur ihre Form verändert. Die Prävention hängt vom wahrgenommenen Risiko ab, daß eine Sanktion tatsächlich jemanden trifft. Indem man den Vollstreckungsgrad erhöht, erreicht man mit der gleichen formellen Strafe eine größere Prävention. Wenn jeder Dieb erwischt und ins Gefängnis gesteckt würde und diese Tatsache bekannt würde, könnte eine kleine Buße und eine einwöchige Gefängnisstrafe ebensoviel General- und Spezialprävention bewirken wie rauhere aber ungewissere Strafen. Im 19. Jahrhundert wurden die Strafgesetze humaner, die Gefängnisstrafen kürzer, und die Todesstrafe verkümmerte zu einem Schatten ihrer selbst. Vielleicht aber wurden die Vollstreckungstechniken verbessert. Die Gesellschaft konnte es sich dann leisten, den vielen Erwischten milde Strafen aufzuerlegen, anstatt den wenigen große Grausamkeit widerfahren zu lassen17 • Was jedoch abschreckt, ist nicht das reale oder objektive Risiko. Es ist das wahrgenommene Risiko - das Risiko, wie es ein potentieller 16 Richard G. Salem und William J. Bowers: Severity of Formal Sanctions as a Deterrent to Deviant Behavior, 5 Law and Society Rev. 21 (1970). 17 J. Tobias: Crime and Industrial Society in the Nineteenth Century, 1972, S.289.

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil 1)

Rechtsbrecher sieht. Diese Tatsache fügt natürlich eine weitere Komplikation hinzu. Sicherlich kann die Strafe Ladendiebe entmutigen; aber nicht alle Ladendiebe werden erwischt, nicht alle vor Gericht gebracht und nicht alle schuldig gesprochen. Was wissen Ladendiebe über ihre Chancen? Verschiedene Typen von Ladendieben haben unterschiedliche Vorstellungen. Professionelle haben eine Vorstellung des Risikos, Amateure (Hausfrauen und Teenager) eine andere. (Auf der andern Seite könnte sich die Hausfrau eher fürchten, erwischt zu werden, als der Professionelle.) Damit die Prävention wirkt, muß die Sanktion also real sein oder real scheinen. Papiertiger beißen nicht und schrecken nicht ab, es sei denn, ihre Schwäche wird geheim gehalten. In einer Studie wurden Studenten in Florida befragt, wie der Besitz von Marihuana ihrer Meinung nach bestraft würde, ob die Täter wohl meist erwischt würden, ob sie Leute kennen würden, die deswegen verhaftet worden seien und ob sie selbst gegen dieses Verbot verstoßen hätten. Gesetzestreue neigten dazu, das Risiko größer einzuschätzen als die Gesetzesbrecher. Dieses Ergebnis würde man von der Präventionstheorie her erwarten. Andere Resultate der Untersuchung wurden weniger klar herausgeschält 18 • Im allgemeinen wissen wir wenig über die Wahrnehmung des Risikos. Sie ist ein vielversprechendes Gebiet für eine Studie. Wir sind auch nicht sicher, wie die Wahrnehmung des Risikos zu beeinflussen ist. Einige Gemeinden kennzeichnen ihre Polizeiwagen deutlich. Damit will man die Polizei so sichtbar wie möglich machen, um das wahrgenommene Risiko bei schlechten Fahrern zu steigern. Man könnte auch ein Argument für nicht bezeichnete Wagen anführen; die Autofahrer stellten sich dann vielleicht vor, die Polizei lauerte überall, und überschätzten das Risiko, erwischt zu werden. Eine Untersuchung der Wirkung bei zahlenmäßiger Erhöhung von Untergrundbahnpolizisten in New York auf das Verbrechen stellte einen "Phantomeffekt" fest - Prävention, von einer Polizeiaktivität hervorgerufen, die in Wirklichkeit gar nicht gegenwärtig ist. Das Verbrechen in der Untergrundbahn nahm selbst während Zeiten ab, als die Polizei nicht dort war, wahrscheinlich wegen einer falschen Einschätzung der Bedrohung mit Verhaftung19 • 18 Gordon P. Waldo und Theodore G. Chiricos: Perceived Penal Sanction and Self-Reported Criminality: A Neglected Approach to Deterrence Research, 19 Social Problems 522 (1972). Die Studie enthält auch Fragen über die Entwendung. Diese Ergebnisse sind schwieriger zu erklären - vielleicht weil das Stehlen in den Köpfen der Leute eine viel unbestimmtere Idee ist als der Genuß von Marihuana. 19 Jan M. Chaiken, Michael W. Lawless, Keith A. Stevenson: The Impact of Police Activity on Crime: Robberies on the New York City Subway System, 1974, S. 23.

Charakteristika der Drohung oder des Versprechens

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Der Zeitpunkt der VoLlstreckung Der Zeitpunkt, an welchem eine Strafe verhängt oder eine Belohnung erteilt wird, ist ebenso wichtig wie ihre Gewißheit und Strenge. Eine unmittelbare Bestrafung oder Belohnung hat eine größere Wirkung als eine verspätete. Eine Mark in der Hand ist eine Mark wert; der Anspruch auf eine Mark morgen, nächste Woche oder nächstes Jahr muß unter Pari angesetzt werden. Das gleiche gilt bei anderen Waren und Diensten - wie auch bei Strafe und Belohnung. Experimente zeigen, daß die Wirkung einer Verspätung die Verminderung der Härte ist und Manipulationen der Härte bei großer Verspätung wenig Wirkung haben. Laborversuche nennen es eine "Verspätung", wenn die Strafe 30 Sekunden nach der zu bestrafenden Tat eintritt. Die Verzögerung im Rechtssystem mag Jahre dauern. Es scheint dennoch logisch, daß eine fünf jährige Strafe, die ein Jahr nach der Tat beginnt, weniger wirksam ist als eine sechsmonatige Strafe, die ohne Verzug angeordnet wird:W. Diese vernünftige Annahme sollte auch auf zivil rechtliche Nachteile anwendbar sein. Die möglichen Kosten eines Vertragsbruches (die Haftung für Schaden) in ferner Zukunft nimmt man auf sich, solange das Loskommen von einem verlustbringenden Geschäft unmittelbare Vorteile hat21 • Deshalb werden sogar großzügig bemessener Schadenersatz für Vertragsbruch und Zinsverpftichtung ab Vertragsbruch nicht sehr wirksam sein, um die Leute zu zwingen, ihre Verträge einzuhalten. Das Vertragsrecht sieht jedoch keine Genugtuung vor - für Schmerz, Leiden oder Unannehmlichkeiten - wie sie das Deliktsrecht enthält. Die Gesellschaft scheint auf eine Prävention des Vertragsbruches nicht so erpicht zu sein; d. h. das Vertragsrecht strebt nicht danach, den Vertragsbruch auszumerzen, während das Deliktsrecht sehr wohl danach trachtet, Unfälle zu reduzieren, und das Strafrecht das Ziel hat, das Verhalten zu kontrollieren und den Hang zum Verbrechen zu unterdrücken. Rechtsgebiete, die sich ernsthaft mit den Gedanken der Prävention befassen, neigen zum "überbestrafen", d. h. sie lassen den Missetäter zahlen, zahlen und nochmals zahlen. Jemand kann für Jahre ins Gefängnis kommen, weil er einen beschädigten, alten Wagen gestohlen hat; er bezahlt einen Preis, der weit über dem Marktwert des Wagens liegt.

20 Barry F. Singer: Psychological Studies of Punishment, 58 Calif. L. Rev. 405, 421 (1970).

21 Natürlich kann es auch unmittelbare Verluste geben tige Geschäfte etc.

7 Friedman

Goodwill, künf-

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

Charakteristika der einer Sanktion unterworfenen Personen

Die Anzahl der Subjekte Ein anderer Faktor, um die Wirksamkeit einer Sanktion festzustellen, ist die Zahl der Personen, deren Gesetzestreue verlangt wird. Ein Rechtsakt erzielt mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Wirkung, wenn ihn nur wenige befolgen müssen, als wenn dies viele müssen. Die Durchsetzung wird billiger sein. Es ist einfacher, fünf Leute zu bewachen als fünfhundert. Diese Tatsache sollte auch der Gesetzgeber beherzigen. Sagen wir, das Ziel ist, die Fahrsicherheit der Autos zu erhöhen und die Zahl der Unfälle zu reduzieren. Nehmen wir an, wir haben zwei Auswahlmöglichkeiten, den Airbag und den Sicherheitsgurt, die Herstellkosten sind gleich hoch, und man erzielt die gleichen Sicherheitsresultate. Unter diesen Bedingungen ist dem Airbag bei weitem der Vorzug zu geben. Er wird in den Wagen eingebaut; also ist die Befolgung der Regel durch wenige Autohersteller nötig und nicht wie beim Sicherheitsgurt durch eine unbestimmte Gruppe von Millionen Autofahrern und Mitfahrern. Um die Qualität des Fleisches zu garantieren, ist es einfacher, Verpackungsanlagen zu inspizieren als Metzgereien. Wenn natürlich die Bestimmungen auf einige wenige beschränkt sind, dann sind diese wenigen meist eine starke Gruppe, deren Widerstandsfähigkeit jene des normalen Bürgers übersteigt. Aber wenn diese wenigen - z. B. große Gesellschaften - gegenüber der Rechtsverwirklichung indifferent sind, ist der Plan der bessere, der weniger Befolger erfordert. Die Persönlichkeit der Subjekte

Die Annahme scheint vernünftig, daß die Persönlichkeit der Subjekte die Wirkung der Sanktionen beeinflußt. Zunächst unterscheiden sich die Leute in ihrer Risikofreudigkeit. Nur wenige würden ein Gesetz verletzen, wenn Aufdeckung und Strafe sicher wären - wenn der Polizist an der Ecke stünde. Auf einer unbedeutenderen Stufe der Rechtsverwirklichung verletzen gewisse Leute die Gesetze selbst dann, wenn die Wahrscheinlichkeit, gefaßt zu werden, sehr groß scheint. Sie sind Risikofreudige, die bewußt eine Chance wahrnehmen; sie spielen Karten, selbst wenn sie wissen, daß die Bank auf lange Sicht nicht verliert. Der tatsächliche Beweis für die unterschiedliche Wirkung der Sanktionen auf risikofeindliche und risikofreudige Menschen ist jedoch ziemlich begrenzt. In der Tat gibt es wenig Material über diesen Unterschied. Es ist klar, daß die Kultur eine entscheidende Determinante des Rechtsverhaltens ist. Moralische und kulturelle Faktoren beeinflussen die Präventionskurve. Dies sind oft die Faktoren, die am

Charakteristika des zu kontrollierenden Verhaltens

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schwierigsten zu beeinflussen oder aufzubauen sind. Soweit hatte William Graham Sumner recht. Verhalten, das in die Sitten eingebettet und von ihnen getragen ist, verändert sich nur langsam und mit Mühe. Da es keine einheitliche Weltkultur gibt, besteht kein Grund zur Annahme, es existiere eine gleiche Präventionskurve für Raub oder Trunkenheit in Ungarn und Honduras. Charakteristika des zu kontrollierenden Verhaltens

Schwierigkeit der Ermittlnug und Vollstreckung Gewisse Normverletzungen sind schwieriger aufzudecken als andere, weshalb ihre Verhinderung schwieriger oder teurer ist. Eine Mark, die ausgegeben wird, um Schnell fahrer auf offener Straße bei Tageslicht zu ermitteln, ist eine produktivere Mark als eine, die ausgegeben wird, um bedingt Entlassene zu fassen oder Monopolinhaber und Sexualstraftäter zu überführen. Viele sog. opferlose Gesetzesverstöße 22 bereiten der Polizei Schwierigkeiten, weil sie hinter verschlossenen Vorhängen begangen werden. Homosexuelle Akte unter Erwachsenen im gegenseitigen Einverständnis z. B. sind sowohlopferlos als auch privat23 • Diese Gesetzesverstöße sind schwierig aufzudecken, weil die Polizei die Arbeit ganz allein tun muß und sich nicht auf Opfer verlassen kann, die Anzeige erstatten 24 • Schwierig ist auch die Vollstreckung der Gesetze, die das Ablassen öligen Bilgenwassers ins Meer verbieten. Der Ozean ist riesig und ein Patroullieren zu teuer; Schiffskapitäne haben unendliche Möglichkeiten, heimlich Schmutz über Bord zu pumpen. Bei gewissen Gesetzen ist ein befriedigender Vollstreckungsgrad nur schwer zu erreichen, weil ihre Verletzung, wenn sie auch selten ist, schwerwiegende Folgen hat und die Prävention nichts nützt, solange sie nicht 100 Ofo erreicht. Luftpiraterie und der politische Mord sind Beispiele. Für gewisse Taten gibt es hingegen viele potentielle Täter, und die Gesetzesübertretung kann an vielen Orten stattfinden. Z. B. ist jeder Fußgänger - ob jung oder alt, Mann, Frau oder Kind - ein möglicher Verkehrssünder im ganzen Straßennetz. Andererseits können nur Bergwerksgesellschaften Minensicherheitsvorschriften verletzen und nur in den Minen. BergSiehe Edwin M. Schur: Crimes without Victims, 1965. Troy Duster: The Legislation of Morality: Laws, Drugs, and Moral Judgment, 1970, S. 26, unterscheidet zwischen "öffentlichen" und "privaten" opferlosen Verbrechen. Jene werden in einer "öffentlichen Arena" begangen, z. B. die Prostitution oder der Verkauf von Alkohol während der Prohibition. Sie sind auch schwierig zu kontrollieren ohne Spitzel und Agents provocateurs, doch sind die "privaten" Taten immer noch schwieriger. 24 Ausgenommen Informanten und Agenten, die Geld kosten. 22

23

Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

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werke sind einfach zu zählen, und die Anzahl der erforderlichen Inspektoren kann leicht errechnet werden.

Die Nachfrage nach dem zu kontrollierenden Verhalten Normen, die ein Verhalten einzuschränken oder zu kontrollieren suchen, sind immer auf ein Verhalten gerichtet, das jemand wünschenswert findet oder finden könnte. Es besteht mit andern Worten eine Nachfrage nach dem Verhalten. Wir können davon ausgehen, daß eine Nachfrage nach Mord, Brandstiftung, Vertragsbruch, verbotenem Parken und Milchpanschen wie nach jeder anderen Tat besteht, die Sanktionen zu erreichen suchen; doch ist die Forderungskurve unterschiedlich für die verschiedenen Verhalten. Einige Wissenschaftler haben versucht, die Typen des Rechtsverhaltens nach den Begriffen ihrer Forderungskurven einzuteilen. Eine solche Anschauung liegt der Verbrechenseinteilung von William Chambliss zugrunde, der zwischen zwei entgegengesetzten Typen unterscheidet, die er "expressiv" und "instrumental" nennt 25 • Ein Verbrechen ist "expressiv", wenn es an sich erfreulich ist - mit andern Worten, wenn es um seinetwillen begangen wird. Er zitiert Vergewaltigung und Rauschgiftsucht als Beispiele. Ein instrumentales Verbrechen - Veruntreuung, Steuerhinterziehung- - ist nur ein Mittel zum Zweck. Nach Chambliss schreckt Strafe bei instrumentalen Verbrechen leichter ab als bei expressiven, was jedoch nicht als absolute Regel gelten kann. Gewisse expressive Taten scheinen ziemlich leicht zu verhindern. Die Leute gehen auf die Jagd wegen des Vergnügens, doch es gibt keinen Grund zu glauben, daß eine rigorose Vollstreckung bei illegaler Hochwildjagd weniger wirksam wäre als beim rein instrumentalen Parkvergehen. Andenaes führt aus, daß die Angst selbst vor milden Sozialsanktionen oft zur Unterdrückung expressiver Taten führt (z. B. Gähnen, Nasenbohren oder zorniges Ausrufen)26. Es wäre besser, zwischen kontrollierbaren und unkontrollierbaren Taten zu unterscheiden. Der Rauschgiftsüchtige muß seine Drogen bekommen; Sexualdelikte können von übermächtigen Trieben herrühren. Wenn dem so ist, dann bedeutet die Unterscheidung nicht viel mehr, als daß die Strafe Abschreckbare abschreckt - kaum eine weltbewegende Entdeckung27 • 25 William J. Chambliss: Types of Deviance and the Effectiveness of Legal Sanctions, 1967 Wis. L. Rev. 703. 28 Johannes Andenaes: Deterrence and Specific Offenses, 38 U. Chi. L. Rev.

537, 538 (1971).

27 Chambliss unterscheidet auch zwischen Tätern mit einer "starken Bindung" ans Verbrechen und solchen mit einer schwachen - d. h. Professionelle und Amateure. Der Amateur ist vermutlich leichter abzuschrecken. Für gewisse Arten von Verbrechen scheint dies hinlänglich klar - z. B. für Ladendiebstahl. Für andere Verbrechen ist es jedoch viel weniger klar - z. B. für

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Chambliss hat aber recht, wenn er versucht, verschiedene Typen von Rechtsverhalten zu unterscheiden, und darauf besteht, daß unterschiedliche Verhaltensweisen unterschiedliche Präventionskurven aufweisen. Die meisten Leute würden zugeben, daß Strafe sehr viele instrumentale Taten verhindert. Expressive Taten werden als Ausnahmen von der Regel betrachtet, außerdem gibt es nur wenige, wenn überhaupt einige rein expressive Taten. Bei Chambliss ist Mord gewöhnlich expressiv. Ein gedungener Mörder ist jedoch ein instrumentaler Mörder; das gilt auch für den Amateur, der um der Versicherungssumme willen seinen Onkel tötet, vielleicht sogar für einen Mann, der seine Frau vergiftet, um den Weg für seine Geliebte frei zu machen. Wenn die Strafe Versicherungsmorde verhindert, dann müßte eine zusätzliche, echte Strafe die Prävention erhöhen, und zwar bis zu dem Punkt, wo die Kurve abflacht und nur ein kleiner Rest expressiver Taten übrigbleibt. Zumindest können wir dies solange vermuten, als nicht das Gegenteil bewiesen ist. Was immer die Probleme mit der Typologie von Chambliss sind, scheint es doch klar zu sein, daß die Nachfrage nach abweichendem Verhalten (der Wunsch oder die Prädisposition zu übertreten) starr oder elastisch sein kann, d. h. empfindlich oder unempfindlich auf Sanktionen. Wo sie elastisch ist, kann eine Verbesserung der Rechtsverwirklichung oder der Vollstreckungstechnologie gute und vielleicht dauerhafte Resultate erzielen. Wenn die Nachfrage starr ist, resultiert aus einer Investition in die Vollstreckung ein dürftiger Ertrag. Die Nachfrage nach verbotenem Parken scheint ziemlich elastisch. Für pressante Autofahrer ist die Versuchung groß, verboten zu parken. Überdies reagiert das Verhalten sensibel auf das Auf und Ab der Vollstreckung und Strenge. Andererseits scheint die Nachfrage nach Vergewaltigung ziemlich starr zu sein, zumindest nach jetzigem Stand28 • Das gleiche scheint für die Nachfrage nach harten Drogen zu gelten. Harte Strafen wirken nicht; sie führen hauptsächlich zu einer Frustration. Es ist, als ob Wasser in ein Sieb gegossen wird. Wenn die Polizei versucht, den Prostituierten das Handwerk zu legen, erhöhen diese ihre Preise oder, was wahrscheinlicher ist, verlegen sich auf Bestechung und Korruption. Hartes Vorgehen in der Drogenszene läßt die Preise für Drogen ansteigen. Die Versorgung läßt nach, und das Risiko für die Händler wird größer. Wenn wir eine Ware als verboten erklären, machen wir den Handel mit ihr schwieriger und widerwärtiger. Dies gibt dem Unternehmer, der willens ist, das Gesetz zu brechen, einen speziellen einen "Amateur"-Mord. Zudem ist die Grenze zwischen Amateuren und Professionellen nicht immer eindeutig. 28 Wir müssen in Betracht ziehen, daß die Nachfrage möglicherweise groß, die Abschreckung durch die Strafdrohung aber leicht war und die Kurve dann abflachte.

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

Profit. Dies nannte Herbert L. Packer in einem vielsagenden Satz den "Verbrechertarif"29. Ähnlich gehen Städte manchmal hart mit Eigentümern von Elendswohnungen um, die Wohnungsbauvorschriften verletzen. Diese Episoden sind in der Regel wirkungslos. In vielen Städten ist das Geflecht der Vorschriften so dicht, daß die Regierung hier auch eine Art Verbrechertarif aufgestellt hat. Die Nachfrage ist relativ starr; die armen Leute müssen irgendwo leben. Der Tarif entmutigt alle Hausbesitzer mit Ausnahme jener, die bereit sind, das Gesetz zu brechen. Wenn sich höhere Kosten ergeben, werden sie die Armen tragen 30• Man sollte jedoch die Kluft zwischen kontrollierbarem und unkontrollierbarem Verhalten nicht überbetonen. Es ist zweifellos leichter, künftig die Parkzeiten einzuhalten als die Rauschgiftsucht aufzugeben. Trotzdem experimentieren einige Leute mit Drogen und behalten dabei die Kontrolle über ihre Gewohnheit. Wenn die Strafen für den Konsum oder Besitz von Drogen sehr sicher und streng wären (Todesstrafe oder Folter), würden sich einige Süchtige anstrengen, davon loszukommen. Die Strafen könnten auch eine starke Wirkung auf potentielle Drogenkonsumenten haben. Jede Strafverschärfung vermindert die Zahl der potentiellen Täter ein bißchen - wie Bieter an einer Auktion, die aufhören, wenn das Gebot steigt. Gewisse Leute sind so reich und so verzweifelt, daß sie jeden Preis bezahlen würden. Der Süchtige betrügt und stiehlt, um Geld für Drogen aufzubringen. Er ist verzweifelt; er ist bereit, sehr weit zu gehen, was aber das Gesetz von Angebot und Nachfrage nicht in Frage stellt. Harte Drogen könnten so teuer werden, daß die Süchtigen buchstäblich unfähig wären, genug Geld zu stehlen. Der Preis könnte (theoretisch) auch so hoch werden, daß alle mit Ausnahme einiger weniger ausscheiden würden. Es bleibt wahr, daß gewisse Arten der Abweichung schwierig zu verhindern sind, weil sie tief in Gewohnheit, Tradition oder Lust verwurzelt sind. Es wäre schwierig, den illegalen Sexualverkehr auszumerzen. Die Prohibition zeigte, daß der Drang zu trinken zumindest in den Vereinigten Staaten kaum zu meistern war. Dies bedeutet nichts anderes, als daß eine Abschreckung nur mittels hoher Intensität der Sanktion möglich ist und der Preis der Prävention in die Höhe steigt. Jede Tat hat (vielleicht) ihren Preis; aber die Preise sind variabel. Chambliss' expressive VerbrechenS!, wie Rauschgiftsucht oder Mord, sind schwierig zu verhindern, weil die Täter so starke Antriebe haben, sie zu begehen. Die Strafe muß dann einen mächtigen Konkurrenten überbieten. Eine 29

282.

Herbert L. Packer: The Limits of the Criminal Sanction, 1968, S. 277-

30 Lawrence M. Friedman: Government and Slum Housing: A Century of Frustration, 1968, S. 39 - 44. 31 Siehe oben bei N. 25.

Charakteristika des zu kontrollierenden Verhaltens

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totale Prävention wäre astronomisch teuer; selbst eine bescheidene Vollstreckung ist enorm kostspielig. Diese Situation beschränkt sich nicht auf expressive Taten. Bankbeamte unterschlagen, weil das Geld verlockend ist. Die Risiken müssen groß sein, um dieses Verbrechen zu verhindern. Wie wir festgestellt haben, ist die Nachfrage nach gewissen Arten des abweichenden Verhaltens stark und starr. Jede Kultur, die im Querschnitt betrachtet wird, d. h. auf einem Schnappschuß von einem bestimmten Zeitpunkt, ist in einem gewissen Gleichgewichtszustand. Es mag tatsächlich schwierig erscheinen, den Grad der Rechtsverwirklichung bei bestimmten Verbrechen zu erhöhen. Wenn wir auf kurze Dauer versuchen, diesen Grad zu erhöhen, werden Mängel in der Durchsetzung unsere Versuche durchkreuzen. Das System gleicht einem durchlöcherten Gartenschlauch. Wenn wir den Druck an einem Ende erhöhen, strömt am andern vielleicht mehr Wasser aus; dies ist von der Anzahl Löcher und vom angewandten Druck abhängig. Die Prohibition war ein sehr undichter Schlauch. Die Behörden erreichten tatsächlich einen gewissen Grad der Durchsetzung. Es wurden Leute verhaftet, abgeurteilt und ins Gefängnis gesteckt; bis 1932 gab es 70 242 Prohibitionsprozesse vor den Bundesgerichten. Dies war natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, verglichen mit der Zahl der übertretungen. Es wurde gesagt, die Maschinerie der Justiz genüge nicht, um ein solches Geschäftsvolumen zu bewältigen, was auf mangelnden Vollstreckungswillen hinweist. Periodisches hartes Durchgreifen brachte geringe Resultate. Die Geschworenen weigerten sich, Leute zu verurteilen, die des Alkoholgenusses überführt waren; die Ankläger drückten manchmal ein Auge zu; die Richter sprachen milde Urteile oder schrieben Verfahren ab; die Bundesbehörden waren bestechlich und korrupt32 . Die Leute verletzten die Prohibitions-Vorschriften, weil sie trinken wollten und sich an der Trinkkultur erfreuten; Millionen dachten, das Gesetz sei töricht oder schädlich. Heute sind die Marihuana-Gesetze .John Kaplan nennt sie die "neue Prohibition"33 - auch unpopulär. Die Zahl der Leute, die Marihuana rauchen, nimmt rasch zu, ebenso die Zahl der Verhaftungen. Doch wird nur ein geringer Prozentsatz der übertreter erwischt, und die Urteile werden milder. Dies ist ebenfalls ein undichter Schlauch. In diesen Fällen befand sich die Gesellschaft im Widerstreit. Fehlende übereinstimmung bedeutete, daß die Gesellschaft nicht einmal versuchte, genügend auszugeben, um den Marihuana-Konsum zu kontrollieren. Es bestand auch keine Einigkeit über die anzuwendenden Methoden; drakonische Maßnahmen fanden nicht genügend Unterstützung. Der Moralkodex hält eine "wirksame" Rechtsver32 Andrew Sinclair: Prohibition: The Era of Excess, 1962. 33 John Kaplan: Marijuana, the New Prohibition, 1970.

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

wirklichung im Zaum. Wenn ein Verhalten stark in der Kultur verwurzelt oder schwierig zu ermitteln ist oder aus anderen Gründen nur träge auf Erhöhungen der üblichen Formen der Vollstreckung reagiert, dann mögen die Gesetze, die dieses Verhalten kontrollieren sollen, mit legalen Mitteln nicht vollstreckbar sein. Die Gesetze könnten vollstreckt werden - mit Mord und Folter beispielsweise - doch ein Rechtsstaat ist nicht bereit, den Preis dafür zu bezahlen und die dazu notwendigen drakonischen Methoden anzuwenden. Techniken des Verhängens der Sanktion Eine Rechtssanktion ist wirksam durch die tatsächliche Anwendung oder durch Drohung oder Versprechen. Die Mittel und das Maß des Verhängens einer Sanktion bilden den Vorgang, der Vollstreckung genannt wird. Das Verhalten kann modifiziert werden durch tatsächliche Vollstreckung, durch Drohung oder Versprechen (Prävention) oder durch indirektere Mittel, z. B. indem die soziale Umgebung verändert wird. Es besteht ein großer Unterschied zwischen der Drohung, die Führer einer Jugendbande ins Gefängnis zu werfen, und dem Eröffnen eines Jugendhauses in der Nachbarschaft. Das Eröffnen eines Jugendhauses ist aber in gewissem Sinne gar keine Methode der Verhaltenskontrolle, sondern gleicht den Formvorschriften für Testamente. Gewisse Rechtsregeln und andere Rechtsakte verfolgen das mittelbare Ziel, die Zahl der Verbrechen zu reduzieren. Wenn wir die Slums zerstören wollten, müßten wir ein Gesetz erlassen, das Leuten Steuererleichterungen gewährt, die billige Wohnungen erstellen. Verbrechenskontrolle könnte dabei ein entferntes Ziel sein, doch das Gesetz würde in erster Linie das Verhalten jener kanalisieren, welche die Wohnungen bauen und finanzieren. Daher können solche indirekten Techniken in andere zerlegt werden: in Prävention, Anreize und verschiedene Arten von staatsunabhängigen überzeugungen. Viele Erörterungen der Sanktionen verwischen den Unterschied zwischen der Sanktion selbst, der Art, wie sie mitgeteilt wird, und der Art, wie sie durchgesetzt wird. Belohnung, Strafe, Buße, Subvention und ähnliche Begriffe beziehen sich auf Endzustände. Was zwischen der Entscheidung, zu bestrafen oder zu belohnen, und dem Verhängen der Sanktion vorgeht, ist entscheidend. Der Prozeß von der Norm über Mord bis zur Ankunft eines Mörders im Gefängnis zieht ein ganzes Sozialsystem nach sich, das signifikant verschieden ist von den Systemen und Prozessen, die andern Rechtsakten folgen. Es ist irgendwie unnatürlich, die einzelnen Teile des Prozesses nicht zu beachten.

Techniken des Verhängens der Sanktion

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Viele Techniken zur Kontrolle des Verhaltens und zur Ausführung der Politik sind halb Mitteilung und halb VollstrEckung. Eugene Litwak und Henry J. Meyer stellten in einem interessanten Aufsatz einige dieser Techniken zusammen, wenn auch ohne speziellen Bezug auf das Recht 34• Eine Organisation kann versuchen, ihr Publikum zu erreichen, indem sie Meinungsführer anwirbt, die Massenmedien benutzt oder Enklaven wie Jugendhäuser aufstellt. Die Organisation könnte auch gemeinsame Boten benutzen, d. h. sie könnte Mitteilungen, die beeinflussen sollen, durch ein Individuum überbringen lassen, das ein Mitglied beider Gruppen ist, der Herrscher und der Beherrschten. Keine dieser Techniken ist an sich eine Sanktion. Jede ist ein System des übermitteIns - ein Weg, etwas mitzuteilen und gleichzeitig zu drohen und zu überreden. Sie haben die Vor- und Nachteile der Kommunikationsarten. Die ständige Anwesenheit eines Polizisten in einer Bar, in welcher Unruhe herrscht, ist teuer - aber wirksamer als ein Polizist, der jede Stunde vorbei schlendert, oder eine Mitteilung des Polizeihauptquartiers über Lautsprecher. Um das Verhalten an einer belebten Straßenkreuzung zu kontrollieren, kann die Stadt Lichtsignale aufstellen oder eine Polizeistreife postieren. Die beiden Techniken verursachen unterschiedliche Kosten; sie erzielen verschiedene Resultate. Im allgemeinen erzeugen Regeln, die durch überwachung unterstützt werden, mehr Befolgung als solche, die zwar mitgeteilt, aber nur durch Stichproben kontrolliert werden 35 • Die Vollstreckung ist so viel wahrscheinlicher, aber die Mitteilung der Norm ist auch wirksamer. Litwak und Meyer sprechen über einzelne Techniken. Man kann auch große Gruppen ähnlicher Techniken zu Grundmechanismen zusammenfassen. Das sind grundlegende Auswahlmöglichkeiten über die Art, wie eine Gesellschaft das Verhalten kontrollieren und kanalisieren und ihre Politik zur Ausführung bringen kann. Der Markt ist einer dieser Mechanismen. Er ist privat, doch die Regierungstätigkeit schafft oder fördert ihn. Das System der Strafjustiz mit seiner strengen Anwendung des Zwanges ist ein anderer Mechanismus. Amtliche Bewilligung und administrative Regulierung ergeben einen weiteren üblichen Mechanismus. Ein vierter Mechanismus ist die Er34 Eugene Litwak und Henry J. Meyer: A Balance Theory of Coordination between Bureaucratie Organizations and Community Primary Groups, 11 Admin. Sei. Q. 31 (1966). 35 über Regeln und Überwachung siehe William A. Rushing-: Organizational Rules and Surveillanee: Propositions in Comparative Organizational Analysis, 10 Admin. Sei. Q. 423 (1966). Es fällt uns als unkorrekt auf, Überwachung und Regeln einander gegenüber zu stellen,als wären dies zwei getrennte Techniken. Ein Aufseher hat Regeln durchzusetzen - und nicht notwendigerweise informelle. Regeln setzen sich nie selbst durch; sie benötigen eine gewisse Aufsicht.

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

laubnis oder Begünstigung von Geschäftsabsprachen zwischen betroffenen Parteien. Noch andere sind die Auswahl durch freie Wahlen und der Zufallsentscheid. Diese Mechanismen sind nicht ausschließlich. Jede größere moderne Gesellschaft macht von ihnen allen Gebrauch. Jede Ersch.einung der Regierung oder des Rechts - die Kartellpolitik, die Fischerei- und Spielkontrolle, die Gesetze betr. die Heilighaltung des Sonntags - ist ein eigenes System mit einer eigenen, einzigartigen und subtilen Mischung von Methoden der überzeugung und Kontrolle 36 • Die Gesellschaften können aber danach klassifiziert werden, ob sie vom einen oder andern Mechanismus mehr auswählen: Das liberale England des 19. Jahrhunderts förderte offensichtlich den freien Markt, während dies das maoistische China nicht tut. Die Mechanismen zerfallen analytisch in einzelne Gruppen von Regeln; jede Regel enthält in sich selbst eine Drohung oder ein Versprechen und ruft ihre Wirkung durch Sanktionen, die peer group oder innere Normen hervor. So waren z. B. die klassischen Vorschriften des Vertragsrechts in Europa und in den Vereinigten Staaten Vorschriften, die sich in der Form nicht von andern Vorschriften unterschieden, selbst wenn ihre Gesamtwirkung die gewesen sein könnte, den freien Markt zu unterstützen und zu fördern. Regeln des Strafrechts (z. B. über Diebstahl) unterstützten diese Regeln. Formell unterscheiden sich solche Regeln wenig von den Vorschriften über den Vertrag und den Diebstahl, die heute in der Sowjetunion den Sozialismus fördern. Ober die Nicht-Verwirklichung der Gesetze: Der Entscheid, in die Rechtswirksamkeit zu investieren Nicht-Durchsetzung ist üblich im Recht, vielleicht ebenso üblich wie Rechtsdurchsetzung. Ja die totale Erzwingbarkeit einer Regel ist beinahe unbekannt. Niedere Vollstreckungs grade gleichen hohe, bloß auf dem Papier stehende Strafen aus. Dafür gibt es unendlich viele Beispiele. Im 18. Jahrhundert war die Todesstrafe in England die offizielle Strafe für die meisten Verbrechen einschließlich Diebstahl, doch wenige Diebe endeten am Galgen. Die Geschworenen weigerten sich, auf schuldig zu erkennen, oder fällten Urteile, die die Täter am Leben ließen. Der gegenteilige Fall ist auch möglich - die Leute können auf Sanktionen reagieren, die illegitim, nicht vollstreckbar oder einfach erfunden sind. Ein Spital droht damit, einen Patienten solange festzuhalten, bis er seine Rechnung bezahlt. Ein Spital ist kein Gefängnis und hat kein Recht, Menschen einzusperren, doch die Patienten wissen dies 36 Vgl. Robert A. Dahl und Charles E. LindbIom: Politics, Economics and Welfare, 1953, eine einsichtsvolle Diskussion dieser Mechanismen.

über die Nicht-Verwirklichung der Gesetze

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vielleicht nicht. Vollstrecktes Nicht-Gesetz - d. h. falsche Sanktionen, widerrechtlich auferlegt unter dem Deckmantel des Gesetzes 37 - haben bei Opfern Erfolg, die machtlos, unwissend oder ungeschützt sind, wie die Patienten im Spital. Bei den Armen liegen die Rechte oft brach; faule oder überbelastete Staatsbeamte sehen es so lieber. Möglicherweise trifft es weniger zu, daß Nicht-Gesetz vollstreckt wird, als daß wahres Gesetz nicht oder nur halbwegs vollstreckt wird. Nicht-Vollstreckung gibt es überall im Rechtssystem. Hunderte von Gesetzen, die auf dem Papier existieren, werden selten oder nie vollzogen - z. B. viele Sexualgesetze. Die Prohibition in den Vereinigten Staaten war ein berühmter Fall der teilweisen Nicht-Vollstreckung. Ein nicht vollzogenes Gesetz, das als solches bekannt ist, muß nicht völlig machtlos sein. Solange es existiert, besteht eine kleine Möglichkeit des Wiederauflebens. Das Gesetz kann symbolische Kraft haben, oder es kann Einfluß auf das Gewissen haben. Die bloße Tatsache der Nicht-Vollstreckung hat dennoch die Tendenz, der Regel den Boden zu entreißen, sie verliert die Legitimität. Man stelle sich einen Raum vor mit einer großen Tafel "Rauchen verboten", die an der Wand hängt. Jemand betritt den Raum und sieht Dutzende rauchen. Dann raucht er auch. Er hat einen Wink bekommen, daß das Rauchverbot nicht wirklich durchgesetzt wird. Die bloße Tatsache, daß die Vorschrift nicht durchgesetzt wird, weist auf einen weiteren Punkt hin: Die Leute, die Gewalt haben - die er sonst respektieren würde - nehmen die Vorschrift nicht sehr ernst. Wenn eine Vorschrift nicht durchgesetzt wird, werden ihre Drohung und ihre Legitimität schwächer. Die bloße Abänderung einer Sanktion auf dem Papier trägt nichts zur normativen Kraft einer Vorschrift bei. Dies ist offensichtlich; eine große Änderung könnte jedoch den Leuten einen Hinweis geben: daß die Gesellschaft dieses Benehmen ernst nimmt (oder ihre Meinung in die entgegensesetzte Richtung geändert hat). Wenn das Gesetz drohte, alle fehlbaren Fußgänger zu hängen, oder wenn Sodomie nur noch mit einer Buße von 1 DM bestraft würde, und wenn die Täter ziemlich sicher von diesen Änderungen wüßten, könnte sich das Verhalten aus zwei Gründen ändern: wegen des Wechsels in der Sanktion und infolge der Meinung der Leute über den Wechsel. Angenommen, ein nicht vollstrecktes Abtreibungsgesetz wird abgeschafft, und die Anzahl der Abtreibungen nimmt zu. War es die Änderung auf dem Papier, die dieses Resultat hervorbrachte - ein Zeichen, daß die Gesellschaft ihre kollektive Meinung geändert hatte, daß sie die einzelnen dazu brachte, die 37 Im Unterschied zu privaten oder illegalen Sanktionen, die auch oft über Hilflose verhängt werden, von denen aber jedermann weiß, daß sie rechtswidrig sind - z. B. das Fernhalten Schwarzer von einer Gemeinschaft durch Zwang und Einschüchterung.

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

Frage selber nochmals zu überdenken? Oder ist es so, daß die Leute die Unwahrscheinlichkeit der Vollstreckung dieses Gesetzes gar nie kannten? Die Nachforschung und sogar die Spekulation ist so schwierig, weil viele Faktoren einen Einfluß haben können. Eine Stadt erhöht die Bußen für Fußgängervergehen. Es wird eine gewisse Propaganda gemacht, Artikel erscheinen in der Zeitung usw., die Durchsetzung bleibt jedoch schwach. Dennoch ist etwas im Gange, sonst hätte die Stadt die formellen Vorschriften nicht ändern wollen. Jemand oder eine gewisse Gruppe muß agitiert haben; irgendein neuer Faktor muß hinzugekommen sein. Wenn die übertretungen der Fußgänger nun abnehmen, können wir nicht sicher sein, ob die neue Regel in einem gewissen Sinne zur Änderung der Einstellung und dann des Verhaltens führte, oder ob die soziale Ursache der Regeländerung (was immer sie war) auch zur Änderung im Verhalten führte. Neuere Untersuchungen der Straf justiz haben einen gesunden Realismus hinsichtlich der Erzwingbarkeit gezeigt. Die Handelnden im System benehmen sich nicht so, wie es die offiziellen Regeln bestimmen. Die Polizei kann nicht jedermann festnehmen, der ein Verbrechen begangen hat; sie versucht es nicht einmal. Sie trifft fortwährend Auswahlen. Im allgemeinen ist aber die Nicht-Vollstreckung sehr umstritten. Eine beachtliche neue Literatur kritisiert sie scharf als übel. Volle Rechtsverwirklichung ist ein Ideal, welches das System anstreben sollte; was nicht vollständig erzwungen werden kann, sollte aufgegeben werden, indem das Verbrechensmerkmal entfernt wird. Nach Herbert L. Packer kann das Schaffen und Aufrechterhalten von Strafgesetzen, die nur vereinzelt vollstreckt werden können, tatsächlichen Schaden zur Folge haben. Der "Respekt vor dem Recht" wird möglicherweise beeinträchtigt; die Vollstreckungsbeamten werden verführt, "widerwärtige Methoden" anzuwenden; Ermessen wird schwerlich in anderer als willkürlicher Art ausgeübt; diese Willkür trägt auf jeden Fall zum unglücklichen Gefühl der Entfremdung jener bei, die sich selbst als ihr Opfer fühlen 3B • Diese Kritik ist um so eindrucksvoller, als es Gesetze über sog. opferlose Verbrechen sind - Ehebruch oder homosexuelle Beziehungen unter Erwachsenen im gegenseitigen Einverständnis -, die eher sporadisch vollstreckt werden als, sagen wir, die Normen über Mord. Diese Verbrechen, so wird argumentiert, verletzen niemanden, und die Gesetze, die sie zu Verbrechen machen, sollten abgeschafft werden. Teilweise Vollstreckung sieht auch nach Unterdrückung aus. Die Verbrecher aus der Mittelklasse werden nicht. erwischt, die aus der unteren Schicht, vor allem die Schwarzen, fallen der Verhaftung zum Opfer. Ein white38

Herbert L. Packer: The Limits of Criminal Sanction, 1968, S. 287.

über die Nicht-Verwirklichung der Gesetze

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collar-Verbrechen wird milder bestraft als ein Verbrechen der Arbeiterklasse 39 • Das ist die Schlußfolgerung. Moralisch ist sie sehr überzeugend, doch einige der Schlüsse - der Verlust des Glaubens ans Rechtbedürfen noch des Beweises. Die Vollstreckung hängt natürlich von den eingesetzten Mitteln ab. Zehn Polizisten können an einer belebten Straße mehr Schnellfahrer erwischen als fünf. Die Vollstreckung gibt eine zweistufige Entscheidung wieder: Zu wieviel Investitionen in die Rechtsverwirklichung ist die Gesellschaft im allgemeinen bereit und, wenn diese Entscheidung einmal gefällt ist, wie werden die Beträge verteilt? Wieviele von zehn Polizisten werden der Verkehrstruppe zugewiesen? Wieviele werden auf die nächtliche Revierstreife geschickt? Wie viele werden helfen, kranke Leute ins Spital bringen? Wie viele werden Spiel und Laster bekämpfen? Jene, die diese Entscheidungen treffen, werden nicht nur den Verkehr gegen den Diebstahl und gegen das Laster abwägen, sie werden auch die Verkehrskontrolle an der Main Street und die Verkehrskontrolle an der Oak Street gegeneinander abwägen. Zweistufige Entscheidungen kommen auch im Zivilrecht vor: wieviele Gerichte und welche werden benötigt, wieviel Unterstützung soll armen Klägern ausgerichtet werden, wieviel soll in Scheidungsgerichte investiert werden, wie stark soll die Justiz dezentralisiert werden usw. Die Qualität und Natur des Justizwesens hängen von diesen Entscheidungen ab. Gewisse Gesellschaften geben mehr aus für die Rechtsverwirklichung als andere, einige geben mehr für die Untersuchung aus (vielleicht um sicher zu sein, daß der Unschuldige nicht leidet) oder für die Polizei, damit sie vermehrt Sozialkontrolle ausüben kann. Die Beträge, die ins Rechtssystem investiert werden, zeigen ungefähr, welche Erwartungen die Gesellschaft an das System stellt und welche Funktionen sie am höchsten bewertet. Das Investment in die Vollstreckung kann viele Formen annehmen. Um das Problem des verbotenen Parkens anzugehen, könnte eine Stadt die Bußen erhöhen oder die Bußen beibehalten und mehr Polizisten anstellen. Der zweite Plan ist teurer, doch könnte er mehr Befolgung bringen oder durch die Bußenerträge selbsttragend sein oder beides. Die Stadt könnte auch neue Techniken versuchen - Gerichtsverfahren beschleunigen, sie verlangsamen, die Leute zwingen, vor Gericht zu erscheinen anstatt per Post zu bezahlen 40 • Die Stadt könnte bei der Ermittlung der übertreter eine gewisse technische Verbesserung prüfen. 39 Edwin Sutherland: White Collar Crime, 1949; Steven Box und Julienne Ford: The Facts Don't Fit: On the Relationship between Social Class and Criminal Behaviour, 19 Soc. Rev. 31 (1971). 40 Die Stadt könnte natürlich auch mehr Parkplätze bauen, die öffentlichen Verkehrsmittel fördern oder Straßen für jegliches Parken sperren.

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

Sie könnte versuchen, Methoden der Schulung oder der Propaganda anzuwenden. Zur Bekämpfung des Diebstahls kann eine Stadt mehr Polizisten anstellen, sie besser auslÜsten, die Straßen besser beleuchten oder Jugendclubs einrichten. Jede Technik hat ihre eigenen Kosten und ihren eigenen Ertrag. Es ist schwierig, in bezug auf Anlagenentscheide allgemeine Schlüsse zu ziehen. Man kann lediglich sagen, daß die Entscheide Wertentscheidungen sind. Die Polizei hat ihre Ermessenszone und ihre Wertvorstellungen; dasselbe gilt für die Gesellschaft selbst. Der Polizeichef kann entscheiden, wann und wo seine Mannschaft aufmarschieren soll. Er kann auch versuchen, daß strenge Vorschriften verabschiedet werden, oder Geld für mehr Polizisten auftreiben. (Eine strenge Vorschrift ist auf den ersten Blick viel billiger als die Bewilligung für mehr Leute.) Seine Investment-Entscheide und jene anderer Kommissionen sind Rechtsakte, die auf der gleichen Grundlage wie andere Rechtsakte, wie die Gesetze selber zu erklären sind. Wenn ein Gesetz unvollständig durchgesetzt wird, liegen die Gründe oft in der Geschichte des Gesetzes und überdies in den sozialen Kräften, die außerhalb in der Gesellschaft tätig sind. Recht häufig wird ein Gesetz als KlÜppel geboren, bestimmt oder verurteilt zur Nicht-Vollstreckung. Wenn dies geschieht, vermuten wir eine gewisse Art von gegenseitiger Absprache, welche den Kampf nach dem Inkrafttreten beendet. Jene, die das Gesetz wollten, bekommen es als symbolischen Akt, aber in einer wirkungslosen oder nicht fundierten Version. Die flÜhen Siedlungsvorschriften in amerikanischen Städten können als Beispiele dienen. Sie setzten oft Mechanismen fest, um zu versöhnen oder vermitteln, aber es fehlte ihnen die Maschinerie der Vollstreckung. Was war geschehen? Die Kräfte auf der einen Seite waren stark genug, um den Erlaß einer Vorschrift durchzusetzen, aber nicht stark genug, auch deren Erzwingbarkeit zu erreichen. Wir vermuten, daß dies ein Grund ist, warum soviele Gesetze in den Gesetzessammlungen lediglich symbolischer Natur sind. Nicht weil die Interessengruppen so gierig auf Symbole sind, sondern weil sie sich mit ihnen begnügen müssen. Viele Kompromisse der Art, wie wir sie diskutieren, sind an der Oberfläche des Rechts ersichtlich. Andere sind Vollstreckungsangelegenheiten. Nichts ist charakteristischer für das Recht als das ständige innere Feilschen um Truppen und Geld. Die Technologie der Vollstreckung Ein Weg, den Vollstreckungsgrad zu ändern, ist die Verbesserung der Technologie. Jemand könnte schließlich einen dichten Schlauch erfinden. Die Gesellschaft als Ganzes mag keine Lust haben, mehr Geld in

Die Technologie der Vollstreckung

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die Rechtsverwirklichung zu investieren, doch könnte ein technologischer Durchbruch möglicherweise mehr Gewinn bringen, genauso wie mit besseren Samen und Maschinen mehr Korn auf einer gleichbleibenden Ackerflächen wachsen kann. Fingerabdrücke, Ballistik, Atemtestgerät, Radar für Geschwindigkeitskontrollen - all diese Dinge haben die Rechtsverwirklichung gefördert, zusammen mit unerlaubten Mitteln wie dem Abhören von Telefongesprächen. Die Technologie ist auch Zivilprozessen behilflich durch die Fotografie, die forensische Medizin, die Blutuntersuchungen für Vaterschaftsprozesse usw. Viele technische Fortschritte sind neutral, d. h. sie beschleunigen die Prozesse oder machen sie fehlerfreier, beeinflussen aber das Ergebnis nicht in bestimmter Richtung. Die Wirkung der Naturwissenschaften auf die Strafjustiz ist jedoch subtil und weitreichend. Moderne Methoden, Verbrechen aufzudecken und Schuldige zu erwischen, bedeuten, daß weniger wirklich zweifelhafte Fälle vor den Richter und die Geschworenen gebracht werden müssen. Richter und Geschworene prüfen Beweise und fällen Urteile über Angelegenheiten, die individueller und ermessensabhängiger sind. Die Kriminalistik wälzt die Straf justiz um. Der Hauptverhandlung vor Gericht kommt seltener die Bedeutung zu, welche sie ein Jahrhundert früher hatte. Die meisten, die eines Verbrechens angeklagt werden, bekennen sich schuldig; die meisten, die vor Gericht kommen, werden schuldig gesprochen. 1850 beispielsweise war das Schuldbekenntnis weniger üblich, und Richter und Geschworene neigten eher dazu freizusprechen als heute41 • Nur einige wenige Großstädte hatten eine Polizei; die Wissenschaft der Fingerabdrücke und die Ballistik waren unbekannt. Die moderne Verbrechensbekämpfung überführt mehr Verbrecher; auch wurden in der Vergangenheit Unschuldige seltener im vorprozessualen Stadium entlastet. Durch die Technologie wurde das Gleichgewicht von den Richtern und Geschworenen zu den Kriminalisten der Polizei verlagert42 • Das soziale Investment in die Vollstreckung ist natürlich nicht statisch oder unveränderlich; die große Beunruhigung wegen des Verbrechens in den Städten hat in der Tat eine Welle großer Aufwendungen für die Polizei und ihre Technologie in Bewegung gesetzt. Das ist wichtig, weil technische Verbesserung kein Zufall ist; sie ist das Resultat der Investition in die Forschung. Gewisse Verbrechen werden ohne Zweifel durch die Technologie beeinflußt, genauso wie gewisse Leiden mit der modernen Medizin gewichen sind. Wir stellten z. B. fest, wie schwierig es ist, 41 Vgl. dazu Lawrence M. Friedman: A History of American Law, 1973, S. 252. Das Beweismaterial ist fragmentarisch. 42 Es ist interessant, daß diese Wechsel ohne kurzfristige Änderungen des formellen Rechts stattfinden können.

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das Verbrechen der Gewässerverschmutzung aufzudecken und zu kontrollieren. Satelliten könnten aber entlang den Seewegen patroullieren. General Electric hat eine Technik entwickelt, um die Ladung von Öltankern mit magnetischem Staub zu kennzeichnen; Schiffe, die den Ozean verschmutzten, würden eine chemische Spur zurücklassen43 • Die Technologie könnte auch Nebenwirkungen gewisser Sanktionen reduzieren oder eliminieren. Im allgemeinen nehmen wir an, daß es gut ist, die Verbrechensbekämpfung wirksamer zu gestalten, daß vermehrte Kontrolle besser ist. Das mag wahr sein für Mord und Vergewaltigung. Technologische Veränderung hat jedoch nichttechnologische Konsequenzen. Sie kann ein empfindliches Gleichgewicht zwischen den Subjekten und den Behörden verändern. Nicht immer wollen die Leute mehr Effizienz. Sie sind gegen die Verwendung des Radars, um Geschwindigkeitsbegrenzungen durchzusetzen. Sie befürworten Geschwindigkeitsbegrenzungen im allgemeinen und unterstützen einen bestimmten Grad der Vollstreckung. Bei diesem Grad werden nur dreiste übertreter verhaftet. Der Radar droht, dieses Gleichgewicht zu stören. Genauso fühlen sich viele Leute unbehaglich beim Gedanken, daß ein Computer ihre Steuererklärung kontrollieren könnte. Sie widersetzen sich nicht der Vollstreckung, doch was genug ist, ist genug. Eine Bemerkung zu Stigma und Scham Die meisten der bis jetzt besprochenen Belohnungen und Strafen sind offen, formell und direkt gewesen. Es gibt andere, inoffizielle Wege, zu strafen und zu belohnen; einige sind beabsichtigt, andere mögen latent oder unbewußt sein. Schande und Erniedrigung sind Formen der Bestrafung. Die Festnahme und das Gerichtsverfahren fügen großes Leiden zu, sogar jenen, die schließlich freigelassen werden. Es ist strafend, in einer schmutzigen Zelle auf das Verfahren zu warten, ängstlich, beschämt, allein, der Brutalität und Teilnahmslosigkeit ausgeliefert, mit schlechtem Essen und abgestandener Luft, von der Familie und den Freunden abgeschnitten, in Furcht vor der Zukunft. Viele Arbeitgeber entlassen einen Arbeiter, der verhaftet wird. Schande, Verlust der sozialen Stellung, Feindseligkeit der Nachbarn und Freunde und persönliches Unbehagen sind übliche Strafen, die zu den offiziellen hinzukommen. Der Staat könnte diese Nebenwirkungen abschaffen. Harold Garfinkel hat das Strafverfahren in einem beeindruckenden Satz eine "Zeremonie der Erniedrigung der sozialen Stellung" genannt44 • Es beNew York Times vom 13. Nov. 1972, S. 73, Spalte 4. Harold Garfinkel: Conditions of Successful Degradation Ceremonies, 61 Am. J. Sociology 420 (1956). 43

44

Eine Bemerkung zu Stigma und Scham

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reitet einen Menschen auf den Abstieg in die Hölle einer niedrigeren, weniger ehrenhaften Existenz vor. Es entzieht ihm zunehmend die Würde. Im Militär wurden einem Soldaten, nachdem er für schuldig befunden wurde, die Rangabzeichen öffentlich von seiner Uniform abgerissen. Das Verfahren als Drama und Ritual führt den Angeklagten feierlich zu seiner niedrigeren sozialen Stellung. Das Stigma ist eine pejorative Etikette, die einer Person oder Gruppe angeheftet wird4.). Die Scham ist der innere Zustand einer stigmatisierten Person46 • Rechtssysteme und Quasirechtssysteme versuchen häufig, die Scham als Sanktion herbeizuführen. Der Verweis ist eine häufige Strafe. Er funktioniert, wenn überhaupt, weil er stigmatisiert (indem er Zuschauer beeinflußt) oder Reue durch Scham hervorruft. Richter wenden ihn auf der ganzen Welt an, anstatt andern Strafformen oder zusätzlich zu ihnen. Maureen Mileski stellte beim Beobachten eines untern Strafgerichtes fest, daß die Richter Sanktionen wie Schelten, Warnen und Verweisen nicht selten anwandten47 • Das Stigma und ähnliche Nebensanktionen sind gefährliche Waffen - um so mehr als sie für den Staat verführerisch sind. übliche Sanktionen kosten Geld. Die Erniedrigung nimmt jedoch die öffentliche Meinung in Anspruch und schafft dadurch eine mächtige Sanktion mit wenig direkten Kosten. Es gibt eine ähnliche Versuchung, Gefängnisse unangenehm zu machen. Natürlich haben die brutaleren Aspekte der Gefängnisse, heute wie früher, viele Erklärungen. Die gesetzgebenden Gewalten waren nie gewillt, für Gefängnisse Geld auszugeben. Die Leute sind abgeneigt, die Verbrecher zu "verhätscheln", und ein unangenehmer Ort schien um so eher abzuschrecken. Vor 1800 war die Gefängnisstrafe nicht so vorherrschend wie heute. Die Gefängnisstrafe nahm zum Teil als Reaktion auf das Abnehmen anderer Mittel, Stigmata zu verhängen, zu. Die frühen amerikanischen Kolonien des 17. Jahrhunderts benutzten das Prügeln, Brandmarken und den Stock, um Rechtsbrecher zu strafen. Das waren natürlich qual45 Siehe Erving Goffman: Stigma, Notes on the Management of Spoiled Identity, 1963. 46 Angeblich berührt die Scham die unteren Klassen weniger als die Mittelklasse, genau wie der white-collar-Verbrecher einen größeren Abscheu vor dem Gefängnis haben soll. Ob dem so ist, bleibt noch zu beweisen. Eine Studie über Männer in der Ausnüchterungszelle in Seattle stellte nämlich fest, daß diese Männer äußerst empfindlich auf Erniedrigungen reagierten. Die Hälfte von ihnen antwortete auf die Frage, was das Schlimmste sei beim Erscheinen vor Gericht wegen Trunkenheit, es sei die öffentliche Demütigung. Einige Tage in der Ausnüchterungszelle zu verbringen, ließe einen ungepflegt, krank und schmutzig aussehen. In dieser Verfassung vor vielen Leuten erscheinen zu müssen, sei sehr demütigend. Man sähe wie ein Stromer aus. James P. Spradley: You Owe Yourself a Drunk, 1970, S. 190 f. 47 Maureen Mileski: Courtroom Encounters: An Observation Study of a Lower Criminal Court, 5 Law and Society Rev. 473, 521 - 531 (1971).

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volle Mittel, aber sie setzten die Bestraften auch der Verachtung der Nachbarn aus. Man dachte und hoffte, daß der öffentliche Skandal die schwarzen Schafe auf den richtigen Weg bringen würde. Man hoffte auch, ein heilsames Maß von Scham zu verursachen. Für Unverbesserliche gab es die Verbannung oder den Tod48 • Das Stigma ist auch ins Verwaltungs- und Zivilrecht eingebaut. Hier hat es ebenfalls soziale und ökonomische Nebentöne. Das Fürsorgegesetz ist ein beachtliches Beispiel. Unter anderen haben politische Führer es für wichtig gehalten, daß die öffentliche Fürsorge schändlich und peinlich bleibt, so daß nur die Ärmsten und Verzweifeltsten willig sind, sie in Anspruch zu nehmen4D • In New York besteht man neuerdings darauf, daß die von der öffentlichen Fürsorge Unterstützten persönlich vorbeikommen müssen, um ihren Check abzuholen. Dies mag genügen, um Tausende davon abzuhalten, ihr Geld zu beziehen. In gewissen Gesellschaften ist es eine Schande, überhaupt zu prozessieren. Die Koreaner z. B. empfinden dies stark: Die riesige Mehrheit der Bevölkerung ... ist nie in einem Gerichtsgebäude gewesen. Überdies waren sie stolz auf diese Tatsache. (Den Gang iin ein Gerichtsgebäude) ... betrachteten sie ... als gleichbedeutend mit dem Gefragtwerden, ob sie je eines Verbrechens schuldig gesprochen worden seien ... Für den Durchschnitts-Koreaner symbolisiert das Gerichtsgebäude ... eine unmenschliche Art des Sanktionierens der öffentlichen Ordnung50• Sogar in den Vereinigten Staaten, wo das Prozessieren üblich ist, haben Scheidung und Bankrott einen gewissen Beigeschmack des Versagens wenn nicht gar des Stigmas und der Scham. Verleumdungsklagen, strittige Scheidungen und Vaterschaftsprozesse können Leben und Karrieren ruinieren. Sie können auch eine öffentliche Rechtfertigung mit sich br,ingen. Zivilprozesse sind auf jeden Fall lästig und zersetzend, was ihr gravierendster Nebeneffekt sein mag. Aus diesen Gründen versuchen die Leute, Prozesse zu vermeiden, wenn sie irgendwie können, ausgenommen dort, wo die Anreize des Geldes überwältigend sind, wie in gewissen Körperverletzungsklagen. Das Stigma und die Scham vermehren oft die Kraft einer Sanktion und schrecken vom Rechtsgebrauch ab. In beiden Fällen spart die Öffentlichkeit Geld. 48 In der Bay Kolonie von Massachusetts wurden unter dem Gesetz von 1648 erstmalige Einbrecher auf der Stirne mit dem Buchstaben B gebrandmarkt. Das zweite Vergehen hatte Auspeitschen und ein weiteres Brandmarken zur Folge; wer zum dritten Mal das Gesetz verletzte, mußte als Unverbesserlicher hingerichtet werden. Vgl. Max Farrand (Hrsg.): Laws and Liberties of Massachusetts (1648), 1929, s. 4. 49 Siehe Joel F. Handler und Ellen J. Hollingsworth: The "Deserving Poor", A Study of Welfare Administration, 1971, S. 164 - 178. so Pyong-Choon Hahm: The Decision Process in Korea, in: G. Schubert und D. Danelski (Hrsg.): Comparative Judicial Behavior, 1969, S. 19, 22.

Eine Bemerkung zu Stigma und Scham

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Stigma und Scham sind Nebenwirkungen der Justizprozesse. Die Wirkung des Stigmas hängt vom Publikum ab. Sein Zweck ist, wie derjenige der Sanktion selbst, als Prävention zu wirken. Eine große Menschenmenge schaute jeweils dem öffentlichen Hängen zu. Vermutlich zogen sie eine Lehre daraus und aus dem Spott und der öffentlichen Schaustellung. Wenn in der Schule ein Kind mit einer Narrenkappe in die Ecke gestellt wird, will man, daß die Scham ihm und das Stigma den Mitschülern eine Lektion erteile. Beim Stigma stellt sich das Problem der übermäßigen Bestrafung, denn als Sanktion ist es schwierig zu kontrollieren. Es hat auch keinen Anfang, keine Mitte und kein Ende wie eine Gefängnisstrafe. Schwartz und Skolnick stellten in einer interessanten Studie des Stigmas fest, daß ehemalige Sträflinge es schwierig hatten, einen Job zu finden. Arbeitgeber wollten sie nicht einstellen. Anderseits hatten Prozesse wegen Kunstfehlern die Karrieren der Ärzte nicht beeinträchtigt; Ärzte, die diese Prozesse verloren, haben in ihrer Praxis keinen Schaden erlitten. Dies deshalb, weil die "institutionelle Umgebung" sie schützte. Andere Ärzte kamen zu ihrer Verteidigung, lokale Ärztegesellschaften unterstützten ihre Prozesse; in einem Fall dachte ein Arzt sogar, daß ihm andere Ärzte aus Sympathie Patienten überwiesen51 • Da das Stigma eine Reaktion der Gemeinschaft ist, ändert es sich mit der Gemeinschaft. Verurteilungen wegen Umgehung der militärischen Aushebung während des Vietnamkrieges schufen wahrscheinlich weniger Stigma als ähnliche Verurteilungen während des Zweiten Weltkrieges. Das Stigma hat ganz bestimmte Grenzen und kann übertrieben werden52 • Wenn eine Person, die zum Dieb gestempelt wird, von der normalen Gesellschaft ausgeschlossen wird, könnte sie soweit getrieben 51 Richard D. Schwartz und Jerome H. Skolnick: Two Studies of Legal Stigma, 10 Social Problems 133 (1962). Kürzlich haben deutsche Kriminologen versucht, den Begriff der Standes erniedrigung empirisch bei einem für Verkehrsdelikte zuständigen Strafgericht zu erforschen - leider kein allzu passender Ort. Karl F. Schumann und Gerd Winter: Zur Analyse des Strafverfahrens, Kriminologisches Journal, 3. Jg. (1971), 136. 52 Die sog. labeling theorists argumentieren im wesentlichen, daß die Abweichung keine Qualität der Tat ist, welche jemand begeht, sondern eher eine Konsequenz der Anwendung von Regeln und Sanktionen auf den Täter durch andere. Howard S. Becker: Outsiders, Studies in the Sociology of Deviance, 1963, S. 9. Sie betonen die Bedeutung des Stigmas. Das Etikettieren macht die Leute zu Außenseitern; dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß sie das Gesetz brechen werden, oder, was ebenso wichtig ist, daß andere sie eher so behandeln werden, als ob sie gegen das Gesetz verstoßen würden. Der Etikettierungsprozeß - die Verwendung des Stigmas - wird oft kontraproduktiv sein; das Stigma bewirkt eher ein Verhalten, welches Stigma verdient, als es zu reduzieren. Sträflinge werden durch das Gefängnis und das anschließende Leben nicht "geheilt", sondern werden im Gegenteil zu "abgebrühten Verbrechern". Ein Grund dafür ist, daß die Gesellschaft sie zu Kriminellen stempelt und ihnen keinen Ausweg läßt.

8'

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Kap. IV: Wann ist Recht wirksam? (Teil I)

werden, daß sie entweder stehlen muß oder verhungert. Das Stigma bedarf eines Publikums. Das Opfer oder seine Gruppe müssen darin übereinstimmen, daß das Verhalten schändlich ist, daß die Strafe erniedrigt. Das Stigma ist stumpf für Leute, die aus Prinzip ins Gefängnis gehen, oder deren peer group die offizielle Bezeichnung nicht übernimmt. Für wen das Gefängnis ein Zeichen der Männlichkeit ist, ist ein Gefängnisprotokoll nicht eine Quelle des Stigmas oder der Scham. Wenn jedermann ins Gefängnis kommt, verliert das Gefängnis auch das Stigma und damit die Schande. Deshalb sind Stigma und Scham irgendwie selbstbegrenzend. Endlich sind Stigma und Scham keine reinen Sanktionen in der Praxis. Das Stigma ist eine Mischung aus offiziellen Sanktionen und sozialem Faktor, die Scham eine Mischung aus offiziellen Sanktionen und innerer Stimme.

KapiteL V

Wann ist Recht wirksam? (Teil II) Die Wirkung des Rechts: Peer groups und Subkulturen Bei der Diskussion der Sanktionen gingen wir eigentlich von einer recht einfachen Situation aus: Eine rechtliche Autorität erläßt Befehle oder Normen, die der Rechtsunterworfene zu befolgen hat. Es ist sicher ganz gut, mit diesem einfachen Modell zu beginnen. Der Unterworfene rechnet bei sich G€winn und Verlust aus und entscheidet über sein Verhalten. Wenn wir seine Verluste heraufsetzen oder den Gewinn ändern, verschiebt er auf dem Schachbrett seine Verhaltensweise von einem Feld auf das andere. Aber das Leben ist bekanntlich selten so einfach. Erstens ist nicht nur das Recht eine Quelle von Strafe und Belohnung. Der Bürger lebt und arbeitet in der Gesellschaft. Er hat eine Familie, Freunde, Mitarbeiter; er ist Mitglied von Kirchen, Klubs, Sippen oder Banden. Alle diese Gruppen strafen und belohnen auch. Zweitens ist er keine Maschine, sondern ein geistiges Wesen mit eigenen Ideen und Wertvorstellungen. Befehle durchlaufen in ihm einen moralischen Filter; sie bleiben nicht unversehrt. Drittens können wir nicht davon ausgehen, daß unser Bürger völlig passiv bleibt. Nicht jeder, der von einem Polizisten angehalten wird, steckt den Bußenzettel brav ein. Man kann sich mit dem Polizisten herumstreiten, kann sich entschuldigen oder eine Bestechung versuchen. Ein solches Verhalten bedeutet weder Befolgung noch Nichtbefolgung. Eher ist es der Versuch, die Strafe in diese oder jene Richtung abzubiegen. Wir können dieses Verhalten Feilschen nennen oder Interaktion. Ein anderer Autofahrer wird die Gelegenheit zu feilschen vorbeigehen lassen, den Bußenzettel nehmen, die Buße bezahlen, sich aber gleichzeitig beim vorgesetzten Polizeichef über seine Behandlung beklagen. Wenn er tief getroffen ist, wird er eine Gesetzesänderung herbeizuführen versuchen; in extremen Fällen kann er zum Anführer einer Revolution werden. Wir nennen diese Reaktionen feedback. Oder er kann sein Benehmen in Anbetracht der Norm auf andere Weise ändern - z. B. Feuer legen, weil Stehlen verboten ist. Das nennen wir Nebenwirkungen. Wir wollen uns zuerst mit den Komplikationen beschäftigen, die daher rühren, daß die Menschen, an die das Gesetz sich wendet, nicht

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Kap. V: Wann ist Recht wirksam? (Teil II)

isolierte, sondern gesellschaftliche Wesen sind. Sie sind den Einflüssen der Gesellschaft ausgesetzt. Wir nennen diese Einflüsse der Einfachheit halber Einflüsse der peer group, was nicht ganz präzis ist, denn die Familie ist kaum eine peer group. In jeder Gesellschaft gibt es Kulturdialekte. In einem großen Land existieren viele Kulturen, d. h. viele verschiedene Bräuche und Normen. Jede Subkultur belohnt und bestraft Verhalten, und eine Subkultur stimmt keineswegs immer mit den anderen Subkulturen oder mit der offiziellen Kultur überein. Oft versucht eine offizielle oder vorherrschende Kultur, ein Verhalten zu bestrafen, das gleichzeitig von einer Subkultur belohnt oder unterstützt wird, oder sie belohnt ein Verhalten, das die Subkultur bestraft. Dafür gibt es zahllose Beispiele. Jeder Guerilla ist für die einen ein Held, für die andern ein tödlicher Feind. Kulturelle Vielfalt ist äußerst verbreitet und ein klassischer Grund für die Undurchsetzbarkeit von Recht. Eine reale Erhöhung von Strafe oder Belohnung sollte eine Verhaltensänderung bewirken. Wenn jedoch eine konkurrierende Kultur ihre eigenen Sanktionen verstärkt, um die offiziellen wettzumachen, ist der Effekt gleich Null. Eine Regierung im Kampf gegen Guerillas bezahlt vielleicht Geld für Information, sendet Truppen aus und bestraft die, welche den Rebellen Nahrung verschaffen. Aber auch die Rebellen können härter werden - Kom abnötigen, Informanten hinrichten usw. Die Regierung kann sich die Drogenhändler vornehmen, Drogenschmuggler verhaften und den Nachschub abschneiden. Die Nachfrage ist nicht beeinflußbar, die Drogensüchtigen bezahlen einfach höhere Preise. Die höheren Gewinne gleichen das höhere Risiko staatlicher Strafe aus. In pluralistischen Gesellschaften ist es wahrscheinlich fast unmöglich, Gesetze gegen den entschiedenen Widerstand einer geeinten Subkultur durchzusetzen. Die Regierung der Sowjetunion mußte dies zu ihrem Leidwesen erfahren, als sie versuchte, die Stellung der moslemischen Frauen in den traditionellen Gesellschaften Zentralasiens zu verbessern!. Wir brauchen keine Subkulturen, um zu diesen Ergebnissen zu gelangen. Die peers sind sogar in homogenen Ländern eine große Macht. Es gibt überall Gruppen und Cliquen: die Zahnarztgesellschaft, die Familie, die Schulkinder, die Gewerkschaft. Jede beansprucht gelegentlich die gleiche Macht, zu strafen und zu belohnen, wie der Staat. Besonders interessant und wichtig ist die Beeinflussung junger Leute auf ein Verhalten hin, das sie dann zu Delinquenten stempelt2 , oder der Gruppendruck im Gefängnis, in der Gesellschaft der Gefangenen, der in mancher Hinsicht den Gefangenen mehr zu schaffen macht als die 1 Gregory J. Massell: Law as an Instrument of Revolutionary Change in a Traditional Milieu, the Case of Soviet Central Asia, 2 Law and Society Rev. 179 (1968). 2 Vgl. z. B. Richard Cloward und Lloyd Ohlin: Delinquency and Opportunity, 1960.

Die Wirkung des Rechts: Peer groups und Subkulturen

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Wärter und Aufseher oder die Außenwelt3 • Besonders die Kleingruppe hat wirksame Mittel zur Hand. Sie hat vielleicht nicht am meisten Macht, aber sie straft und belohnt schnell, effektiv und ohne Papierkrieg. Diese Belohnungen und Strafen üben - theoretisch gesehen - die gleichen Wirkungen auf das Verhalten aus wie die Belohnungen und Strafen, die vom Staat ausgehen. Die Spielregeln sind dieselben. Stärkere Bestrafung durch die peer group wird unter sonst unveränderten Bedingungen das bestrafte Verhalten vermindern. Unsicherheit und Verspätung im Vollzug der Strafe haben die gleichen Wirkungen wie bei staatlichen Strafen. Die umgebende Gesellschaft ist einer kleinen Regierung vergleichbar, und die Wirkungen ihrer "Rechts"-Handlungen können als Kurve dargestellt werden. Auch hier erzeugen verschiedene Verhalten und Gruppen verschiedene Kurven. Lineare Relationen dürften selten sein, die meisten Kurven werden flach auslaufen. Die überlegungen des vorhergehenden Kapitels gelten grundsätzlich auch hier. Wieder zählt weniger die Reaktion der Gruppe als die Art und Weise, wie der Betroffene sie aufnimmt - seine Ängste und Hoffnungen. Und die Sanktion selbst ist weniger wichtig als ihre Androhung4. Die Macht der Gruppe ist ein Gemeinplatz der Soziologie, und jeder, der sich mit dem Recht der Praxis befaßt, erwähnt sie irgendwo. Aber das Thema ist kaum je systematisch behandelt worden, vielleicht, weil Gruppenverhalten von Kultur zu Kultur variiert. Verallgemeinerungen sind heikel. Manche Subkulturen sind wie Schattenregierungen, sie handhaben Belohnung und Strafe gerade wie der Staat. Anderseits fehlen der kleinen Gruppe oder Clique viele der Waffen, die im Arsenal der offiziellen Justiz zu finden sind. Z. B. wird sie kaum Belohnungen oder Bußen in Form von Geld austeilen. Die Macht der peer group gründet manchmal allein in dieser Angst: "Was wird der andere denken?" Die entsprechende Sanktion kann schmerzhafte Wunden zufügen; Ächtung ist von allen bekannten Strafen eine der härtesten. Wie schon gesagt, kann die Wirkung der Scham nur eintreten, wenn der Betroffene auch wirklich Scham empfindet. Hinzu kommt, daß in pluralistischen Gesellschaften gewisse Bindungen, z. B. die religiöse, schwächer sind als in der traditionellen, einheitlichen Gesellschaft; der Abtrünnige kann gehen. Ein Katholik, ein Mormone, ein Jude können in den Vereinigten Staaten aus ihrer Kirche austreten. Dem Staat entzieht man sich weniger leicht. In einer traditionellen Gesellschaft inner3 Gresham Sykes: The Society of Captives, 1958; Stanton Wheeler: Socialization in Correctional Communities, 26 Am. Soc. Rev. 697 (1961). 4 Vgl. besonders Richard D. Schwartz und Jerome H. Skolnick: Two Studies of Legal Stigma, 10 Social Problems 133 (1962).

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Kap. V: Wann ist Recht wirksam? (Teil II)

halb einer Nation entgeht man vielleicht leichter dem Staat als der Sippe, dem Stamm oder der Gruppe. Die Frage ist immer: wer übt auf eine Person einen direkten, stetigen Druck aus? Die Stärke der Gruppe hängt wie die Stärke des Staates zum Teil davon ab, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie abweichendes Verhalten entdeckt. Die Gruppe ist nicht unbedingt fähiger als die Polizei, hinter eine Verletzung des Inzestverbotes zu kommen und seine Beachtung zu erzwingen. Die peers vermitteln nicht nur Sanktionen, sondern auch Vorbilder und Vorstellungen. Wer sich anpassen will, ist stark durch das Verhalten seiner Vorbilder bestimmt, auch wenn diese selbst nicht strafen und belohnen. Zudem richten sich die Leute, wie wir schon feststellen konnten, in der Frage, ob offizielle Normen zu befolgen seien, nach ihrer Umgebung. Der Mann, der in ein Zimmer tritt, wo unter einem Rauchverbot lauter rauchende Männer und Frauen sitzen, wird sich ihnen anschließen, selbst wenn sie ihm fremd sind und ihn nicht beachten. Die juristische Literatur neigt dazu, in der Kultur einen negativen Faktor zu sehen. Es ist allgemein anerkannt, daß die Menschen Gewohnheiten, Sitten und Traditionen haben, und daß es für den Staat schwierig ist, eine tief verwurzelte Gruppengewohnheit auszurotten. Deshalb ist Kultur konservativ und sträubt sich gegen Neuerungen. Es stimmt, daß ein kulturwidriges Gesetz schwer durchzusetzen ist und vermutlich unwirksam bleiben wird. Ein banales Beispiel ist die Prohibition. Aber das Gegenteil ist ebenso wahr. Gesetze, die sich die Kultur zunutze machen und von ihren Kräften profitieren, können ungeheuer wirksam sein. Wenn ein Rechtssystem versteht, mit den Wellen zu reiten, vervielfacht es seinen Wirkungsgrad. Zwang ausüben - sogar Zwang androhen - ist teuer. Würden die Leute aus tiefem Respekt oder unbewußter Tradition heraus die Geschwindigkeitsbeschränkungen einhalten, so könnte die Gesellschaft ein Vermögen an Polizeiwagen und -löhnen einsparen. Das Gesetz, das an eine unterirdische Quelle von Goodwill oder kultureller Kraft rührt, wird für jede Mark ein Vielfaches an Wirkung und tlberzeugungskraft herausholen. Auf die Kultur abstellen bedeutet nicht, von den Leuten verlangen, was sie sowieso gerne tun, z. B. Weihnachtsferien machen, oder Dinge verbieten, die sie gräßlich finden, z. B. den Kannibalismus. Es heißt verlangen, daß sie etwas Neues tun, aber auf angenehme, bequeme Weise. Das Rechtssystem handelt oft und ganz unbewußt so, z. B. wenn es in einer Geldwirtschaft in Form von Geld belohnt. Von Rechts wegen gilt in übereinstimmung mit der religiösen Tradition der Sonntag als Ruhetag. Sobald die Tradition an Boden verliert, tun es auch die Ruhetagsgesetze. Jedes Gesetz appelliert irgendwie an vertraute Gewohnheiten, Institutionen oder Symbole. Damit versucht das Recht, an Bewährtes anzuknüpfen, kostbares Material sinnvoll zu verwerten.

Die Wirkung des Rechts: Peer groups und Subkulturen

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Wie groß ist nun der Einfluß der peer group auf das Rechtsverhalten? Bei einem Experiment konfrontierten die Versuchsleiter englische Collegestudenten mit verschiedenen Thesen, wie z. B.: "Ein Mann, der sich betrunken in der Öffentlichkeit zeigt, handelt unmoralisch, selbst wenn er sich anständig aufführt." Die Studenten wurden gefragt, ob sie einverstanden seien oder nicht. Später wurden dieselben Fragen wiederholt, aber diesmal erhielten einige Studenten zusätzliche Information. Man sagte ihnen, eine Befragung anderer Collegestudenten habe bei bestimmten Thesen heftige Reaktionen ergeben. Einer anderen Gruppe erklärte man, das in gewissen Thesen beschriebene Verhalten sei rechtswidrig. Jetzt neigten die Studenten dazu, ihre eigene Meinung dem Gesetz oder der Meinung der peers anzugleichen. Die Angleichung an die peers war deutlicher 5• Es handelte sich hier natürlich um eine Untersuchung über Meinungsänderungen. Die Meinung selbst stand nicht zur Diskussion. Die Studenten waren lauter Engländer, alle ungefähr gleich alt und entstammten alle einem ähnlichen sozialen Milieu. Hätten Hausfrauen mittleren Alters, Eskimos oder Stahlarbeiter auch so reagiert? Man fragt sich, weshalb eine Meinungsänderung gerade in Richtung der Mitstudenten stattfand. Gingen die Studenten ihre überlegungen mit Rücksicht auf die neue Information noch einmal durch? Oder wollten sie sich einfach anpassen? Ferner: wie waren die Thesen beschaffen und welchen Inhalt hatten sie? Die Information bei der Wiederholung mußte, sollte das Experiment gelingen, wirklich neu und glaubwürdig sein. Die Versuchsleiter mußten deshalb Beispiele von Verhalten wählen, bei welchen Collegestudenten im allgemeinen nicht wissen, ob sie rechtmäßig seien oder nicht und ob für ihresgleichen annehmbar oder abstoßend. Man hätte also nicht fragen können, ob es unmoralisch sei oder nicht, wenn jemand öffentlich seine Mutter mit einer Axt umbringt. Erstens würde bei der Wiederholung dieses Experiments kein einziger Student seine Meinung ändern. Zweitens wissen Studenten, daß Mord rechtswidrig ist. Man könnte ihnen nicht einreden, er sei erlaubt oder achtzig Prozent ihrer Kollegen hätten die Handlung gebilligt. Die Versuchsleiter mußten also ganz nebensächliche - geradezu banale - Behauptungen aufstellen, solche, über die niemand viel nachdenkt oder eine bestimmte Meinung hat. Die Thesen bildeten also keine brauchbare Zufalls- oder Repräsentativauswahl aus der Gesamtheit 5 Leonard Berkowitz und Nigel Walker: Laws and Moral Judgments, 30 Sociometry 410 (1967). Die Arbeit untersuchte, ob zwischen den Meinungsänderungen und den Ergebnissen eines Persönlichkeitstests ein Zusammenhang bestehe. Die Resultate brachten vielsagende Hinweise; z. B. waren "sehr autoritäre" Studenten ziemlich empfänglich für Einflüsse der peers, aber durch Rechtskenntnisse nicht signifikant berührt (S. 422). Vgl. auch D. G. Myers, F. B. Schreiber und D. J. Viel: Effects of Discussion on Opinions Concerning Illegal Behavior, 92 J. Soc. Psychology 77 (1974).

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Kap. V: Wann ist Recht wirksam? (Teil II)

aller moralischen Thesen. Sie repräsentierten eine bestimmte Kategorie. Das Experiment zeigt Möglichkeiten für eine Untersuchung über Einflüsse der peer group auf Meinungsänderungen, aber viele Fragen bleiben offen. Es gibt auch einige Untersuchungen über Verhaltensmuster. Bei einem dieser Experimente wurden Fußgänger in New York City beobachtet. Viele überquerten die Straße bei Rotlicht. Als ein von den Versuchsleitern eingesetztes Vorbild am Straßenrand stand und sich an das Verbot hielt, sank die Verletzungsquote erheblich. Wenn es das Verbot mißachtete, bestand eine leichte Tendenz vermehrter Verletzung. Da in allen Fällen die Wahrscheinlichkeit einer formellen Strafe nahezu gleich Null war, scheint das Vorbild die Abweichung verursacht zu haben. Welcher geistige Mechanismus hier spielt, bleibt unklar. Das Vorbild war eine unbekannte Person und gehörte deshalb nicht eigentlich zu den peers6 . Eine letzte Bemerkung zur peer group. Wir haben gesehen, wie sie als Rivalin des Staats auftritt, wenn sich ihre Sanktionen Leuten mitteilen, welche auch den offiziellen Normen unterworfen sind. Aber umgekehrt läßt die Gruppe auch der Regierung Mitteilungen zukommen. Sie kann z. B. auf die Durchsetzung einer offiziellen Norm dringen. Viele Gesetze setzen Informanten voraus und sind auf sie angewiesen. Bei vielen Verbrechen schreitet die Polizei erst zur Verhaftung, wenn es jemand verlangt. Donald Black stellte fest, daß Verbrechen oft einen moralischen Filter in der Bevölkerung durchlaufen, bevor der Staat die Verfolgung aufnimmt. Die Polizei wird durch einen Reaktionsvorgang ... auf den Plan gerufen 7 • In diesen Fällen ist das Strafrecht nicht sehr verschieden vom Vertrags- oder Haftpflichtrecht, wo die Normen ruhen, bis ein Bürger sie bemüht. Hier haben wir also einen weiteren Fall, in welchem das Rechtssystem seinen Lebensatem von der Kultur empfängt. Der dritte Faktor: Der Einfluß der inneren Stimme

Als dritter wichtiger Faktor bestimmt die innere Stimme den Grad der Befolgung - das Gewissen, moralische Überzeugungen, der Wunsch zu gehorchen, das Wissen um Gut und Böse. Niemand leugnet die Bedeutung dieser Faktoren. Die Leute tun nicht immer das, was ihnen ihr 6 Lionel I. Dannick: Influence of an Anonymous Stranger on a Routine Decision to Act or Not to Act: An Experiment in Conformity, 14 Sociological Q. 127 (1973); Johannes Feest: Compliance with Legal Regulations, 2 Law and Society Rev. 447, 453 (1968), welcher feststellt, daß Fahrer in Begleitung sich eher an Stopsignale halten als solche, die allein sind. 7 Donald J. Black: The Social Organization of Arrest, 23 Stan. L. Rev. 1087, 1104 f. (1971).

Der dritte Faktor: Der Einfluß der inneren Stimme

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Gewissen befiehlt, aber manchmal gehorchen sie ihm doch. Auch hier ist die Literatur reich an Spekulationen und arm an Zahlen und Fakten s. Wir gebrauchen Begriffe wie Gewissen, Gerechtigkeitssinn usw. nicht sehr bestimmt. "Tun was man soll" kann auf verschiedene, wenn auch verwandte Motive hinweisen. Eines von ihnen können wir gemeinnütziges Denken nennen. Es ist dies die Einsicht, daß wir uns, wenn auch nicht im eigenen Interesse, an eine Regel halten sollten, weil es für andere Leute oder für die Allgemeinheit gut ist. Als Moral bezeichnen wir den Drang, eine Norm zu befolgen, weil es Gottes Wunsch ist oder eine Forderung der Ethik oder eine religiöse Pflicht, und nicht weil es uns oder andern nützlich sein könnte. Wieder ein anderes Motiv ist der Sinn für Fairness, die Vorstellung, daß eine Regel oder eine Verhaltensweise aus einem äußeren Grund Treue, Unterstützung oder Gehorsam verdiene, z. B. weil sie für jeden gleichermaßen gilt. Ich könnte mich z. B. entschließen, die Vorschrift "Rasen nicht betreten" zu befolgen ohne Rücksicht darauf, was ich davon denke, sobald ich annehme, daß sie auf mich und auf die andern Personen derselben Kategorie anwendbar sei, und sobald diese andern gehorchen oder gehorcht haben oder allem Anschein nach gehorchen werden; denn es wäre unfair, mich selbst auszunehmen9 • Genau genommen ist die Idee der Fairness nur dann der Grund dafür, daß ich den Rasen nicht betrete, wenn ich darauf verzichte, weil auch andere ihn nicht betreten haben, ohne daß hineinspielt, was ich überhaupt von der Vorschrift halte. Fairness beeinflußt auch meine Meinung über eine Institution - ob ich der Ansicht bin, Gerichte seien im allgemeinen fair, hat Auswirkungen auf meine Meinung über sie 10 und vielleicht auch auf meine Bereitschaft, dem, was sie sagen, Folge zu leisten. Bis jetzt haben wir kein Motiv erwähnt, das auf einer Art allgemeinem Gesetzes- oder Autoritätsglauben beruht. Dieser Glaube kann selbst ein Motiv sein. Vertrauen ist die Vorstellung, daß jene Leute, welche die Macht in Händen haben, wissen, was sie tun, daß sie Exper8 Vgl. immerhin Leonard Berkowitz und Nigel Walker (N. 5); Richard D. Schwartz und Sonya Orleans: On Legal Sanctions, 34 U. Chi. L. Rev. 274 (1967). 9 Fairness ist natürlich ein komplexer Begriff. June L. Tapp und Felice J. Levine fragten Kinder: "Was ist eine faire Regel?" Die Kinder gaben hauptsächlich drei Antworten: Eine Regel ist fair, wenn sie für alle gilt, wenn sie sinnvoll oder vernünftig ist und wenn alle damit einverstanden sind oder beim Erlaß mitwirkten. Tapp und Levine: Persuasion to Virtue, A Preliminary Statement, 4 Law and Society Rev. 565 (1970). In unserer Terminology wäre das Erste Fairness, das Zweite vermutlich einfach materielle Brauchbarkeit, das Dritte Legitimität. 10 Vgl. Richard L. Engstrom und Michael W. Giles: Expectations and Images: A Note on Diffuse Support for LegalInstitutions, 6 Law and Society Rev. 631 (1972).

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ten sind, mehr können, mehr wissen, bessere Ideen haben. Der Präsident mobilisiert Truppen; er muß etwas über die Lage wissen, was wir nicht gemerkt haben. Die Gesundheitsbehörde verbietet bestimmte chemische Lebensmittelzusätze. Sie muß Untersuchungen durchgeführt und den Stoff für gefährlich befunden haben. Die Stadt erklärt eine Straße zur Einbahnstraße. Sie muß einen Verkehrsexperten konsultiert haben. Etwas völlig anderes ist das Vertrauen in Organisations- und Verfahrensformen, also in das, was wir Legitimität nennen. Dieser Begriff verdankt seine Aktualität im Rechtsdenken und in der Politik vor allem Max Weber. Nach Weber sind Vorschriften, Sitten, Ordnungen oder Systeme legitim, wenn sie mit dem Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit auftreten l1 • Einfacher und negativ formuliert: wenn eine Vorschrift respektiert wird, aber nicht aus persönlichem Interesse, Vertrauen oder wegen ihres Inhalts, hat sie Legitimität. Legitimität beschreibt eine Grundeinstellung gegenüber dem Recht, den Normen, dem System. Als solche bezieht sie sich weder auf den Inhalt der Normen noch auf ihre Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Urteile über die Legitimität sind Urteile über Form, Verfahren oder Quelle Urteile über den Werdegang der Norm oder über den Normgeber und seine Berechtigung. Legitimität ist nicht das gleiche wie Vertrauen, weil Vertrauen auf Vorstellungen über Tatsachen beruht. Auch der vertrauensvollste Mensch gesteht zu, daß er sich täuschen kann. Wir können ihn möglicherweise davon überzeugen, daß die Gesundheitsbehörde oder der Präsident Fehler gemacht haben. Legitimität hingegen beruht nicht auf Tatsachen und kann deshalb nicht für einzelne Fälle entkräftet werden. Ein Gesetz z. B. ist legitim, weil es auf dem ordentlichen Rechtsweg erlassen wurde. Die Verurteilung am Ende eines Prozesses ist legitim, weil der Richter und die Geschworenen sich an das Gesetz gehalten haben und der Angeklagte sich rechtmäßig hat verteidigen können!2. Für einen gläubigen Katholiken ist das kirchliche Verbot der Pille eine legitime Norm. Sie wurde vom Papst erlassen, und der Papst ist gemäß seinem Glauben der Stellvertreter Christi. Da Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Aufl. Tübingen 1976, Halbbd. S. 16; vgl. auch Michael J. Petrick: The Supreme Court and Authority Acceptance, 21 Western Pol. Q. 5 (1968); Ted Robert Gurr: Why Men Rebel, 1970, S. 183 - 192. !2 Niklas Luhmann definiert in seinem interessanten Buch: Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 28 Legitimität als eine generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen. Diese Definition stimmt mit unseren Bemerkungen ungefähr überein; Legitimität ist eine Einstellung gegenüber Normen, die in bestimmten Verfahren entstanden sind. Vgl. auch David Adamany: Legitimacy, Realigning Elections, and the Supreme Court, 1973 Wis. L. Rev. 790, 11

1.

801 - 807.

Legitimität und Kultur

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die Norm für ihn zudem einen moralischen Gehalt hat, überschneiden sich hier zwei Kategorien. Die Komponenten des dritten Faktors sind die Einstellungen oder Gefühle, welche zur Befolgung motivieren. Sie haben deshalb alle eine negative Seite - ein Gefühl, welches das Motiv für die Nicht-Befolgung abgibt oder, in schweren Fällen, für den Ungehorsam. Wir nahmen z. B. an, daß manche Leute den Rasen nicht betreten, weil das Gegenteil nach ihrer Ansicht unfair wäre. Diese Haltung hängt von der Fairness der Norm ab; erscheint die Norm als unfair, so kann eine Tendenz zu Ungehorsam oder Nichtgebrauch auftreten. In gleicher Weise könnte man versucht sein, den Gehorsam zu verweigern, weil das Allgemeinwohl oder die Moral den Ungehorsam verlangen, vielleicht, weil die fragliche Vorschrift selber nicht dem Allgemeinwohl dient oder unmoralisch ist. Das Gegenteil von Vertrauen ist Mißtrauen, und das Gegenteil von legitim ist illegitim. Normen, die nicht legitim oder geradezu illegitim sind, erzeugen ganz andere Motivationen als solche, die legitim sind. Legitimität und Kultur Die Elemente des dritten Faktors sind innere Haltungen, und diese sind von Kultur zu Kultur verschieden. So variiert z. B. der Grad an Respekt vor dem Recht von Land zu Land. In einer Umfrage erklärten sich 66 Prozent der befragten Deutschen einverstanden mit der Erklärung: "Man soll Gesetze befolgen, selbst wenn man sie für ungerecht hält." In Holland waren nur 47 Prozent, in Polen nur 45 Prozent mit der gleichen Feststellung einverstanden l3 • Auch Fragen über einzelne Institutionen wie die Gerichte würden wahrscheinlich kulturelle Unterschiede aufdecken. In einer ähnlichen Untersuchung über die Einstellung der Polen zum Recht kam Adam Podgorecki zum Ergebnis, daß Frauen, alte Leute, gebildete und Leute mit Schreibtischberufen im Gegensatz zu Männern, jungen oder weniger gebildeten Leuten und Arbeitern fanden, das Recht sei mehr wegen seiner Geltung zu befolgen als aus praktischen Grunden l4 • Gewisse Untersuchungen weisen darauf hin, daß die Einstellung zur Befolgung im Einzelfall in bedenklich schwacher Weise von der Einstellung zur Befolgung im allgemeinen abhängt, d. h. daß Leute, die dem Interviewer eifrig erzählen, man müsse die Gesetze einhalten oder das Recht sei immer gerecht, ihre eigenen Prinzipien ·verletzen, sobald 13 Wolfgang Kaupen: Public Opinion of the Law in a Democratic Society, in: Adam Podgorecki u. a.: Knowledge and Opinion about Law, 1973, S. 43,

46.

14

Adam Podgorecki: Public Opinion on Law, in: ders. (N. 13), S. 65, 83.

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sie sich in einem konkreten rechtlichen oder ethischen Dilemma befinden 15 • Max Weber unterscheidet drei "letzte Prinzipien" der Legitimation, d. h. drei Typen von gültiger Herrschaft; diese Prinzipien reflektieren Kulturunterschiede. Traditionelle Herrschaft ist z. B. die Herrschaft eines Patriarchen. Der zweite Typ ist die charismatische Herrschaft; sie ist die Hingabe an das Außeralltägliche - Herrschaft, die dem Glauben an ein Charisma entspringt, d. h. an eine Offenbarung oder Gnade, die in einem Retter, einem Propheten, einem Helden Gestalt angenommen hatlil • Die Autorität eines Moses, eines Christus ist Charisma. Die Präsidentschaft, ja der Präsident selbst und Staatsoberhäupter allgemein haben charismatische Züge, vor allem in nichtparlamentarischen Systemen. Aber so wie Weber den Ausdruck gebraucht, bedeutet Charisma eine dramatische persönliche Ausstrahlung, die den Rechtsakten ungeachtet von Tradition und Nutzen Gültigkeit verleiht. Solche Macht ist immer selten gewesen. Webers dritte Kategorie der Herrschaft ist die rationale. Man gehorcht einer Norm, weil sie "Gesetz" ist. Die Gesellschaft stellt Regeln über Normen auf. Die gemäß diesen Regeln erlassenen Normen haben rationale Autorität. Der Ablauf ist "rational", womit einfach "sinnvoll" gemeint ist; zumindest ist er bewußt und überlegt. Wenn die rationale Legitimität ausschlaggebend ist, gilt der Gehorsam mehr der Norm als der Person. Diese Art von Gehorsam ist nicht mystisch. Sie entspringt dem Respekt vor dem zugrundeliegenden Verfahren. Man befolgt das Gesetz, weil es das Gesetz ist. Das bedeutet, daß man allgemein Achtung vor einem Verfahren und vor dem System hat. Man hat irgendwie das Gefühl, daß man gehorchen sollte, wenn der Kongress ein Gesetz verabschiedet, wenn ein Richter ein Urteil fällt, wenn der Stadtrat eine Verordnung erläßt. Würden die Leute nach dem Grund gefragt, so würden sie auf Demokratie und Rechtsstaat oder auf ähnliche populäre Begriffe verweisen, welche das politische System rechtfertigen. Die meisten Leute machen sich natürlich keine großen Gedanken zu diesem Thema. Sie verlassen sich auf die erwähnten abgedroschenen Begriffe und auf die äußeren Anzeichen von Legitimität im Verfahren. Auch beginnt in der modernen Gesellschaft im Bereich der Gerichte und gerichtsähnlichen Institutionen die Grenze zwischen Fairness und Legitimität zu verschwimmen. "Due process" bedeutet sowohl fair als auch legitim. Die unbedingte Hinnahme von Recht hat ihre Grenzen, vermutlich vor allem, wenn die Stimmung eher flau ist. Legitimitätstheorien sind bei kulturellen Umwälzungen in Mitleidenschaft gezogen: 15 Harrell R. Rodgers, Jr., und Edward B. Lewis: Political Support and Compliance Attitudes: A Study of Adolescents, 2 Am. Pol. 'Q. 61 (1974). 16 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1922, S. 612.

Legitimität und Befolgung

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Die Verlagerung von der Tradition auf die Rationalität ist ein Kennzeichen des modernen Rechts. Auch innerhalb einer Kultur beeinflussen Ereignisse und sozioökonomische Veränderungen die Einstellung gegenüber dem Recht. Als sich 1975, nach vielen Jahren eines unpopulären Krieges, in der amerikanischen Politik noch das ereignete, was unter der Bezeichnung "Watergate" zusammengefaßt wird, scheinen sowohl die Legitimität als auch das Vertrauen Schaden genommen zu haben. Legitimität und Befolgung Welche Beziehung besteht zwischen dem Rechtsverhalten und der Einstellung, daß gewisse Normen oder Prozesse legitim, fair oder moralisch seien oder nicht? Man würde denken, daß die Leute eine Vorschrift, die nach ihrer Ansicht auf korrekte Weise erlassen worden ist, eher befolgen als eine andere. Mit andern Worten: Legitimität führt über die Zustimmung zur Befolgung. Eine Befragung amerikanischer Ärzte ergab eine grundlegende Änderung ihrer Einstellung gegenüber einem sozialen Gesundheitswesen, nachdem es Gesetz geworden war; Ärzte, die es bekämpft hatten, waren ihm nun günstiger gesinnt1 7 • Eine andere Untersuchung ergab, daß Studenten ein Verhalten härter beurteilten, nachdem sie erfahren hatten, daß es nicht nur gegen soziale, sondern auch gegen rechtliche Normen verstieß. Z. B. verurteilten mehr von ihnen den Zuschauer, der sich weigert, einen Ertrinkenden zu retten, nachdem man ihnen gesagt hatte, daß das Gesetz eine Hilfspflicht vorsieht1 8 • Diese Untersuchungen befaßten sich nicht ausführlich mit der Legitimität, aber rechtswidrig heißt ja, durch eine gültig erlassene, also eine legitime Norm verboten. Diese Arbeiten lassen immerhin darauf schließen, daß die Legitimation durch das Verfahren letztlich zu einer materiellen Zustimmung führt oder zu dem, was wir Vertrauen nennen. Eine solche Aussage muß natürlich näher belegt und erklärt werden. Die Öffentlichkeit verläßt sich in gewissen Lebensbereichen eindeutig auf ihre Experten, in anderen nicht. Viele Leute glauben dem Surgeon General gerne, daß Rauchen gesundheitsschädlich sei. Aber dieselben Leute verwahren sich vielleicht gegen die Meinung von Experten, wonach Pornographie unschädlich sein soll. Diese unterschiedlichen Reaktionen müssen auf vorgegebenen Vorstellungsinhalten beruhen. Die Amerikaner wollten nicht glauben, was ihnen die Experten über Pornographie sagten. Auch un17 John Colombotos: Physicians and Medicare: A Before-After Study of the Effects of Legislation on Attitudes, 34 Am. Soc. Rev. 318 (1969). 18 Harry Kaufman: Legality and Harmfulness of a Bystander's Failure to Intervene as Determinants of Moral Judgment, in: J. Macaulay und L. Berkowitz (Hrsg.): Altruism and Helping Behavior, 1970, S. 77.

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terscheiden sie zwischen Ärzten, Ökonomen, Psychiatern und Soziologen. Jedenfalls kann Legitimität ebensosehr variieren wie Vertrauen. Sie gilt als starke gesellschaftliche Macht. Die Leute akzeptieren das Recht. Sie halten sich an Regeln und Befehle, soweit sie diese verstehen, wenn der Befehlende korrekt eingesetzt oder gewählt wurde und er selbst sich an die vorgeschriebenen Formen hält. Viele Leute werden über die Auswirkungen schimpfen, aber gleichzeitig zugestehen, daß die Gesellschaft um der Stabilität willen in ihre Institutionen Vertrauen haben muß. Manche Institutionen ernten jedoch mehr Lob als andere. Die Leute sind durchaus im Stande, den Kongreß für ehrenwert und den Stadtrat für eine Räuberbande zu halten. Wir haben Legitimität als etwas grundsätzlich Verfahrensmäßiges definiert - d. h. als den Glauben an Verfahren und Institutionen, unabhängig davon, wie der Prozeß ausgeht oder was die Institution tut. Was aber, wenn das Resultat gänzlich gegen die Interessen oder die Moral einer Person verstößt? Was geht in einem loyalen, rechtstreuen Puritaner vor, wenn in einem Fall nach dem andern Nacktshows, Obenohne-Bars und schmutzige Bücher erlaubt werden? Was geht in einem weißen Rassisten vor, wenn der Supreme Court ständig zugunsten der Rechte der Schwarzen entscheidetl 9 ? Mit andern Worten: Man wundert sich, wie tief Legitimität sitzt. Wie stark unterscheidet sie sich vom Vertrauen? Glauben die Leute an das Recht, weil sie im allgemeinen das Gefühl haben, die Regierung handle richtig? Schließlich hat niemand Zeit, Lust und Energie, jedes Problem selbst zu untersuchen. Man muß sich in vielem auf andere verlassen. Ein Klempner flickt seinen Wasserhahn selbst, nimmt aber bei Bedarf Ärzte, Anwälte oder Schreiner in Anspruch. So auch in politischen Angelegenheiten: Die Leute fühlen sich durch das Grundsatzprogramm einer Partei angesprochen; steigen sie einmal ein, so befolgen sie oft die ganze Parteilinie, vielleicht aus Zweckmäßigkeit, vielleicht aber auch aus Vertrauen. Einige Aspekte des Programms gefallen ihnen, und sie gehen davon aus, daß der Rest ebenso gut sein müsse. überhaupt gibt es viele verschiedene Gründe, welche die Leute dazu führen, dem Recht Folge zu leisten. Die Legitimität durch das Verfahren kann auch nur das Mittel sein, mit dessen Hilfe man Gesetze erkennen kann, welche erfahrungsgemäß in Ordnung sind. Der wirkliche Grund ist vielleicht gar kein verfahrensmäßiger, sondern ein materieller, nämlich, daß wir Gesetze befolgen sollten, weil sie im allgemeinen 19 In einer kalifornischen Umfrage fanden mehr Liberale als Gemäßigte und Konservative, der Supreme Court leiste "ausgezeichnete" oder "gute" Arbeit - 40 Ofo verglichen mit 28 G/ o• San Francisco Chronicle, 14. Dez. 1971, S. 16, Spalte 1.

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vernünftig sind oder weil sonst Gewalt und Anarchie herrscht. Oder die Leute ahnen vielleicht, daß die Gesetze im ganzen gesehen ihren Interessen oder den Interessen ihrer Gruppe dienen; da dem so ist, unterstützen sie das Recht, selbst wenn es hin und wieder zu ihren U ngunsten ist. Diese These ist, falls sie stimmt, recht subversiv. Sie bedeutet, daß sich hinter "selbstlosen" Meinungen eine raffinierte und geduldige Selbstsucht verbirgt. Der Liberale glaubt an die Meinungsäußerungsfreiheit - selbst für Leute mit erschreckenden Ansichten - aber in Wirklichkeit hofft er, daß die Meinungsäußerungsfreiheit den liberalen Ansichten zum Sieg verhelfen wird. Er fürchtet, ein restriktives Regime würde zunächst einmal ihn selbst einschränken. Wenn er wirklich sicher wäre, daß der Staat nur Faschisten und Rassisten unterdrückte, würde er dann nicht seine Prämissen ändern? Viele Liberale finden die Zensur erträglich, solange sie nur "Schmutz" erfaßt. Tatsächlich haben viele Leute eine selektive Sicht der Grundrechte. Theoretisch befürworten sie sie, machen aber lauter Ausnahmen, sobald Schaden oder Gefahr droht20 • Möglicherweise lebt die Legitimität (was immer die Leute auch sagen) von der behaglichen überzeugung, daß die legitimen Institutionen auch immer das Richtige hervorbringen, obwohl wir sie als richtig oder falsch bezeichnen; sie polstern unser Nest. Sind sie einmal lange im Unrecht gewesen, so beginnt die Legitimität zu wanken. Kultivierte Leute geben natürlich kultivierte Gründe für ihren Rechtsgehorsam an und gewiß nie eindeutig persönliche Interessen. Untersuchungen über die Sozialisation von Kindern lassen darauf schließen, daß diese Art von Raffinement sich mit der Zeit entwickelt. Mit zunehmendem Alter geben die Kinder komplexere Gründe für ihren Rechtsgehorsam an21 • Aber solche Erklärungen sagen vielleicht nur die Hälfte. Wie verhält es sich mit Leuten, die wirklich mit dem Recht in Kontakt treten? In drei deutschen Städten wurde eine aufschlußreiche kleine Untersuchung über Prozesse zwischen Mietern und Vermietern durchgeführt. Gewinner und Verlierer wurden interviewt, und ihre Einstellung wurde beurteilt. Wie erwartet war die große Mehrheit der Gewinner (78 Prozent) mit dem Ausgang ihres Prozesses durchaus zufrieden. Die Interviewer fragten die Parteien, ob ihre persönlichen Er~o Vgl. Samuel A. Stouffer: Communism, Conformity, and Civil Liberties, 1955. Im gleichen Sinne ergab eine Studie über Heranwachsende, daß zwar eine starke Mehrheit die Meinung vertrat, man müsse die Gesetze in jedem Fall befolgen und alle Gesetze seien gerecht, daß aber die Einstellung in einzelnen bestimmten Situationen ganz anders sein konnte. Harrell R. Rodgers, Jr., und Edward B. Lewis: Political Support and Compliance Attitudes: A Study of Adolescents, 2 Am. Pol. Q. 61 (1974). 21 June L. Tapp und Lawrence Kohlberg: Developing Sens es of Law and Legal Justice, 27 J. Soc. Issues, Nr. 2, 65 (1971).

9 Frledman

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fahrungen ihr Vertrauen zur Justiz gestärkt oder geschwächt hätten; bei keinem einzigen Verlierer war das Vertrauen gestärkt; bei 67 Prozent war es schwächer geworden, der Rest war indifferent22 • All dies scheint selbstverständlich, ja trivial; aber wie ist es in Einklang zu bringen mit dem herkömmlichen Wissen um die Macht der Legitimitätsidee? Die Einstellung gegenüber der legitimen Herrschaft kann recht schwankend sein. Wen das System schädigt, der verliert das Vertrauen in die Institutionen, welche ihm Unrecht taten - wie auch immer er vorher gedacht haben mag. Die deutsche Studie zeigt, daß das Umgekehrte merkwürdigerweise nicht im gleichen Maße gilt: Die Gewinner wurden in ihren Gefühlen weniger bestärkt als die Verlierer geschwächt23 • Vielleicht rechnet man mit der Rechtfertigung, und nur das Verlieren ist eine überraschung. Inwiefern können wir diese Untersuchungen verallgemeinern? Was bedeutet es für das Verhalten, wenn jemand ein Gesetz für unfair oder eine bestimmte Rechtshandlung für illegitim hält? Oder findet, gewisse Vertreter des Rechts hätten sich seines Vertrauens nicht würdig erwiesen? Wir müssen auf jeder Stufe der Durchsetzung mit einer verminderten Befolgung rechnen. Mit andern Worten: die Herrschenden müssen nach einem Glaubens-, Vertrauens- oder Legitimitätsverlust die Verhängung der Sanktionen verstärken, wenn sie den gleichen Grad von Befolgung wie bis anhin erhalten wollen. Dann gibt es noch das ernst zu nehmende Phänomen, das wir überlauf-Effekt nennen wollen. Wie weit reicht die Enttäuschung einer Person, die in einem Fall Ungerechtigkeit, Illegitimität oder Vertrauensmißbrauch erlebt hat? Wieviel von dieser Einstellung fließt in andere Lebensbereiche und in ihr Verhalten ein? Es wird behauptet, die Heuchelei und Ungerechtigkeit der Prohibition hätten das ganze Rechtssystem in Verruf gebracht. Gewisse RechtswissenschaftIer vertreten die Ansicht, daß das Marihuanaverbot den Zerfall der Rechtsachtung vorantreibe 24 • Aber Zerfall in welchem Ausmaß? Und wo? Und mit welchen Folgen? Die Befolgung selbst ist selektiv; es gibt, wie Harry Jones bemerkte, Bankräuber, die die Verkehrsregeln einhalten, und Einbrecher, 22 Hartmut Koch und Gisela Zenz: Erfahrungen und Einstellungen von Klägern in Mietprozessen, in Manfred Rehbinder und Helmut Schelsky (Hrsg.): Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 3 (1972), S. 509, 527 f. 23 Herbert Jacob berichtet in einer Untersuchung der Gefühle von Schwarzen und Weißen aus Milwaukee gegenüber der Polizei von einer ähnlichen Beobachtung: "Befriedigende Erfahrungen verbessern das Ansehen der Polizei nicht. Anderseits scheinen schlechte Erfahrungen das Urteil über sie stark zu beeinflussen." Herbert Jacob: Black and White Perceptions of Justice in the City, 6 Law and Society Rev. 69, 78 (1971). 24 Herbert Packer: The Limits of the Criminal Sanction, 1968, S. 340; John Kaplan: Marijuana, The New Prohibition, 1970, S. 30.

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die ihre Schulden bezahlen25 • Wer die Brutalität der Polizei oder die selektive Anwendung der Drogengesetze verurteilt, muß nicht zwangsläufig auch den Supreme Court oder das Amt für zivile Luftfahrt ablehnen. Und wird er deswegen betrügen, vergewaltigen oder Steuern hinterziehen? Ansichten über Gerechtigkeit sind ein dankbares Forschungsobjekt. Harry Ball fand bei einer Untersuchung über Mietzinskontrolle auf Hawaii heraus, daß Vermieter, die zu hohe Zinsen verlangten, auch der Ansicht waren, die Kontrollgesetze seien unfair26 • Wichtig ist, daß man durchaus dieser Ansicht sein konnte; das Urteil, die Polizei sei brutal und unfair, reflektiert vielleicht die Tatsache, daß sie so sein kann. Natürlich bleibt die Frage offen, wie sich diese Einstellungen im einzelnen in Verhalten umsetzen, und es ist nicht klar, in welche Richtung sich die Kausalkette bewegt. Brachen z. B. in Balls Untersuchung diejenigen Vermieter das Gesetz, die es für unfair hielten, oder erklärten diejenigen, die das Gesetz brachen, es im nachhinein für unfair? Vielleicht hatten Vertrauen und Legitimität in der traditionellen Gesellschaft eine Macht, die ihnen heute abgeht. Die Vermutung der Legitimität wird dem Mitglied der traditionellen Gesellschaft mit der Sozialisation eingeimpft; manchmal braucht es viel überredungskunst oder Beweismaterial, um sie zu überwinden. In der modernen Gesellschaft ist man skeptischer, "rationaler"; Vertrauen und Legitimität sind deshalb anfälliger und mehr vom Ergebnis her bestimmt.

In unserer Gesellschaft ist wahrscheinlich das Gefühl der Legitimität aufs Engste mit Rechtsgebieten von persönlichem Interesse verbunden oder mit solchen, die Vorteile oder mindestens keine Nachteile erzeugen. Legitimität läßt die Leute das Wirken des Systems befürworten. Dies bedeutet Unterstützung27 ; es ist aber zu beachten, daß mit Unterstützung nicht Rechtsgehorsam gemeint ist, sondern eine Art Sympathie für Gesetze im allgemeinen oder für solche, die nur die andern betreffen. Wir halten diese Unterstützung wie gesagt für etwas Anfälliges. Der Rechtstreue und Rechtdenkende wird wankend unter den Schlägen nachsichtiger Urteile. Ein paar Fehler sind erträglich, aber wenn die falschen Entscheidungen sich zu häufen beginnen, wird er sich überlegen, ob das zweifelhafte System seine Unterstützung weiterhin verdient, - vielleicht denkt er sogar an Ungehorsam. Beim Enttäuschten Harry Jones: The Efficacy of Law, 1969, S. 8I. Harry Ball: Social Structure and Rent-Control Violations, 65, Am. J. Sociology 598 (1960); vgl. auch N. Fiedland, J. Thibaut und L. Walker: Some Determinants of the Violation of Rules, 3 J. Applied Soc. Psychology 103 (1973). 27 Sheldon Goldman und Thomas P. Jahnige: Eastonian Systems Analysis and Legal Research, 2 Rutgers-Camden L. J. 285, 291 (1970); David Easton: A Systems Analysis of Political Life, 1965, S. 273. 25

26



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hängt viel davon ab, ob er das Gefühl hat, das Recht seI 1m großen Ganzen in Ordnung. "Laßt Gerechtigkeit walten, auch wenn die Himmel fallen." Sind wir wirklich einverstanden ? Wenn der Himmel einzustürzen drohte, das Pflaster auseinanderbräche, die Teller zerschellten, die Wände bebten, würden wir uns da nicht fragen, ob Gerechtigkeit solch schrecklichen Preis wert sei? Vbereinstimmende und gegensätzliche Faktoren Es ist leicht einzusehen, daß die offiziellen Normen und eine Subkultur, die das gleiche Verhalten belohnen oder zu belohnen versprechen oder bestrafen oder zu bestrafen drohen, sich gegenseitig kräftig unterstützen. Noch stärker ist der Effekt, wenn auch noch ein moralischer Faktor am selben Strick zieht. Beispiele sind leicht zu finden. Der Staat, die Bande, die Familie, die Arbeitskollegen, jede ethnische Gruppe und Kultur und fast jedes Individuum verurteilen den Mutterrnord. Eine so allgemein anerkannte Vorschrift hat eine geringe Verletzungsquote. Wenn jeder Faktor außer einem neutral ist, wird sich dieser eine wahrscheinlich durchsetzen. Wenn also die Gesellschaft, unsere Umgebung und unser Gewissen sich zu Geschwindigkeitsübertretungen nicht äußern, wird das Verhalten außergewöhnlich fein auf Verstärkung oder Reduktion von Sanktionen reagieren. Die Frage ist: welches sind die stärksten Faktoren? Welche überwiegen im Konfliktsfall? Die vorhandene Literatur gibt keine befriedigende Antwort. Ob es überhaupt eine allgemeine Antwort gibt, ist fraglich. Vielps hängt von der betreffenden Person und vom betreffenden Verhalten ab. Zudem ist es in den meisten Fällen schwierig, staatliche mit nicht-staatlichen Sanktionen zu vergleichen. Dodge City bietet für Auskünfte, die zur Verhaftung eines Viehdiebes führen, 1 000 $ Belohnung an. Aber die Stadtbewohner ächten jeden Informanten. Wir können nicht im voraus sagen, welche Maßnahme sich bei irgend jemandem oder bei den Leuten im allgemeinen als stärker erweisen wird. Wenn wir wissen, daß 1 000 $ Belohnung eine bestimmte Menge Information erzielen, können wir annehmen, daß es bei 2 000 $ etwas mehr sein wird. Aber wir können nicht sicher sein, daß die höhere Summe eine verstärkte Drohung von seiten der Bevölkerung aufwiegen kann. Richard Schwartz und Sonya Orleans versuchten in einer bemerkenswerten Arbeit herauszufinden, ob Strafdrohungen oder Appelle an das Gewissen eine bessere Befolgung der Einkommenssteuergesetze bewirkten. Sie kamen zum Ergebnis, daß im ganzen gesehen Appelle an das Gewissen wirkungsvoller zu sein schienen28 • Dieser Schluß hängt 28 Richard D. Schwartz und Sonya Orleans: On Legal Sanctions, 34 U. Chi. L. Rev. 274 (1967).

übereinstimmende und gegensätzliche Faktoren

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jedoch an einem recht dünnen statistischen Faden29 • Es ist auch nicht sicher, ob man diese Ergebnisse verallgemeinern kann. Die Testpersonen waren Amerikaner der Mittelklasse. Vielleicht haben Steuergesetze eine spezielle Präventions- und Gewissenskurve. Fast sicher würden weitere Untersuchungen nicht ergeben, daß das Gewissen unabhängig von Zeit, Ort und Person immer stärker ist als Strafdrohungen. Schwartz und Orleans ließen ihre zwei Faktoren nicht gegeneinander antreten. über das Problem von Konflikten von Faktoren weiß man noch weniger. Wird eine Norm beachtet, wenn das Gewissen und der Staat, nicht aber die peer group sie unterstützen? Der Staat wird Mühe haben, eine Norm gegen das Gewissen und die peer group durchzusetzen. Weiter kommt man auch mit Vermutungen nicht. Zudem ist es eine grobe Vereinfachung, von drei Faktoren zu sprechen. Jeder Faktor besteht in Wirklichkeit aus Unterfaktoren; und auch Unterfaktoren können divergieren. Wer in Birmingham, Alabama, lebt, wird vielleicht durch Stadtverordnungen in die eine, durch gliedstaatliche oder Bundesgesetze in die andere Richtung gewiesen. Seine Familie unterstützt eine Norm, seine Mitarbeiter eine andere. Die Mitglieder seiner Kirche, seine Freunde, seine Nachbarn, alle treten sie für Normsysteme ein, und keineswegs für dieselben. Manche Gruppen gehen vielleicht untereinander oder mit einer oder mehreren der offiziellen Normen einig; nicht alle kennen eigene Sanktionen. Innerhalb des dritten Faktors unterschieden wir gemeinnütziges Denken, Moral, Legitimität und Vertrauen. Auch unter ihnen entstehen Konflikte. Moral, Legitimität und Vertrauen müssen nicht unbedingt die gleichen Ansprüche stellen und tun es auch oft nicht. überall, wo das Recht mit Situationen des realen Lebens konfrontiert wird, stellt sich immer wieder diese andere Frage: Welcher Faktor oder Unterfaktor erklärt ein Verhalten? Nehmen wir ein ganz einfaches Beispiel: Ein Armeeoffizier befiehlt der Truppe, einen Kilometer entlang einer staubigen Straße zu marschieren. Manchmal gehorchen die Männer schnell und pflichtbewußt. Am Ziel wartet die Verpflegung, und sie sind hungrig. Wer nicht gehorcht, muß, wie sie wissen, mit dem Kriegsgericht rechnen. Sobald ein Teil der Männer zu gehen beginnt, fühlen sich die zurückgebliebenen verunsichert. Zudem scheint der Befehl vernünftig; und sie haben gelernt zu tun, was der Offizier befiehlt. In diesem Fall verstärken sich alle Motive gegenseitig: Die Männer marschieren und basta. Wenn jeder Faktor vertreten ist und mit den andern zusammenwirkt, läuft die Maschine der sozialen Kontrolle rei29 Vgl. die Bemerkungen von Stewart Macaulay in Lawrence M. Friedman und Stewart Macaulay: Law and the Behavioral Sciences, 1969, S. 262 - 267.

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bungslos und effizient. Mit jedem Faktor, der ausfällt oder geschwächt ist, wird es schwieriger, die Männer zum Marschieren zu bringen. Wenn sie gleichgültig sind (der Marsch ist nicht besonders mühsam oder gefährlich, aber sie sehen keinen Vorteil), wenn sie nicht gerne gehorchen, wenn es spät ist und sie müde sind, wenn sie den Offizier nicht kennen und den Befehl überhaupt für ungerechtfertigt halten - dann wird sich der Offizier vermutlich nur noch durchsetzen, wenn er den Männern droht. Vielleicht muß er zum Beweis seines Durchsetzungsvermögens einen Leutnant vorbeischicken oder einen oder zwei Widerspenstige bestrafen. Der Marsch kommt so unweigerlich teurer zu stehen. Schließlich können die Männer richtig rebellieren. Sie wissen, daß die Straße eine Minenfalle ist; aus irgendeinem Grund halten sie den Befehl für völlig illegitim; sie hassen das Leben in der Armee; sie haben in einem radikalen Kaffeehaus in der Nähe des Standquartiers subversive Ideen aufgeschnappt, und der erste, der gehorcht, wird von seinen Kameraden zum Verräter gestempelt werden. Hier kann nur ein ungeheurer Aufwand an Mitteln die Männer zum Marschieren bewegen im Notfall Gewalt; oder sie müssen einzeln ans Ziel geschleppt werden. Das wäre schrecklich teuer und die erzwungene Befolgung zudem nutzlos. Das Beispiel ist extrem, aber der Grundgedanke ist klar. Unsere Art von Recht basiert auf freiwilligem Gehorsam, d. h. auf Befolgung, welche von der Kultur oder vom dritten Faktor oder von beiden unterstützt wird. Die Herrschenden sind auf diese Art der Befolgung angewiesen. Gewaltanwendung ist im großen und ganzen Verschwendung. Wenn jedermann ein Steuerbetrüger wäre oder niemand eine Steuererklärung einreichen würde, müßte die Regierung das Eintreiben von Steuern vielleicht einfach aufgeben. Einige Länder scheinen wirklich in dieser Situation zu sein. Ein klassischer Fall von Massenungehorsam war, wie wir gesehen haben, die Prohibition; weitere wären leicht zu finden. Diese allgemeinen Beobachtungen sind jedoch schwer in überprüfbare Thesen zu verwandeln, zumal sich Verhalten nicht je nach Fall mit Anschriften wie Gewalt, peer group, Gewissen versehen läßt. Präzise Information über den Anteil, den. jeder Faktor beisteuert, ist selten. Ein polnischer Soziologe fragte verschiedene Leute, ob sie bei Rotlicht die Straße überquerten, wenn keine Autos in der Nähe seien. 40 Prozent sagten, sie täten es nie, 32 Prozent nur gelegentlich. Beobachtungen des tatsächlichen Verhaltens an Kreuzungen bestätigten diese Aussagen: das Verhältnis war etwa richtig. Dann fragte der Soziologe, weshalb sie gehorchten. 16,3 Prozent sagten, sie fürchteten eine Buße; 36,5 Prozent taten es um der Ordnung willen; 19,6 Prozent hielten es für Gewohnheit - sie waren daran gewöhnt, das Lichtsignal zu beach-

Übereinstimmende und gegensätzliche Faktoren

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ten30 • Wenn diese Aussagen stimmen, haben wir für diesen einen Fall einige Hinweise auf eine Mischung von Sanktion, Legitimität und Gewohnheit (was immer das heißen mag), welche eine bestimmte Art von Rechtsverhalten erzeugt. Sicher variiert die Mischung je nach Gesetz. Das typische "alte" Gesetz (z. B. das Tötungsverbot) wird getragen von der Kultur, von seiner legitimen Entstehung, von seiner Moralität und von der Achtung durch das Gewissen jedes einzelnen. Die Androhung von Gewalt ist ein Schäferhund, der höchstens den Rand der Herde zu kontrollieren hat. Neue Gesetze, Ausführungsgesetze, Gesetze ohne Geschichte oder moralischen Gehalt erzeugen eine andere Verhaltensdynamik. Bei ihnen könnte ein völliger Verzicht auf Zwang zu massiven Verletzungen führen. Damit wäre sicher zu rechnen, wenn eine Stadt auf die Durchsetzung ihrer Parkvorschriften verzichtete. Die Automobilisten als Gruppe werden vermutlich zugestehen, daß Parkvorschriften legitim sind; ja sie werden sie wahrscheinlich für vernünftig halten, weil sie zur Aufrechterhaltung des Verkehrs und der Parkordnung notwendig sind. Aber das moralische Element fehlt oder ist schwach. Die Annehmlichkeit, länger als erlaubt oder auf dem Fußgängerstreifen parken zu können, hat bei den meisten Leuten leichtes Spiel mit den Forderungen der Legitimität und des Gewissens. Hier kann nur die Aussicht auf Strafe den gewünschten Erfolg herbeiführen. Mit andern Worten: eine tiefverwurzelte moralische überzeugung bewirkt eine bessere Befolgung als gewöhnliche Legitimität ohne Hilfe von andern Faktoren. Die Moral schützt uns viel besser vor Morden als das Strafgesetzbuch; wenn Moral und Legitimität sich widersprechen, wird das legitime Gesetz nachgeben müssen. Natürlich ruhen nicht alle Gesetze auf einem moralischen Fundament. Die meisten sind legitim, aber nicht in jeder Hinsicht von den Säulen der Kultur getragen. Moral und Gewohnheit schreiben nicht vor, daß die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Elm Street 35 m.p.h. oder der Anteil an Milchfett in Eis nicht weniger als so und so viel Prozent sein solle. Im modernen Staat gibt es Tausende von solchen Alltagsregeln. Legitimität und Vertrauen unterstützen sie tatkräftig, aber nicht bis ins kleinste Detail hinein und nur, wenn die Norm nicht einem lebenswichtigen Bedürfnis zuwiderläuft. Normalerweise halten sich die Leute aus Angst vor einer Buße an ein Parkverbot. Im Notfall parken dieselben Leute ihre Autos am Straßenrand zwei Reihen tief. Zwar unterstützen Legitimität, gemeinnütziges Denken und Vertrauen diese Regeln, doch die peers scheinen 30 Jerzy Kwasniewski: Motivation of Declared Conformity to a Legal Norm, Polish Soc. Bull. Nr. 1, 74, 76 (1969); 21,6 Prozent gaben andere Grunde an, aber es handelte sich dabei vor allem um Leute, welche manchmal bei Rotlicht überquerten, und sie gaben die Gründe dafür an.

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eher gleichgültig zu sein. Die Verletzungsquote solcher Vorschriften ist elastisch, und ein verstärktes Beharren auf Durchsetzung hat eine beträchtliche Wirkung. Zwang, Meinungen und Gewissen leben nicht in getrennten Handlungswelten. Sie befinden sich in ständiger Wechselwirkung. Wir haben das Beispiel eines Mannes gebraucht, der in einem Zimmer mit Rauchverbot die Leute rauchen sieht. Was er sieht, sagt ihm, daß niemand die Norm erzwingt und daß, wer sie erzwingen könnte, die Norm nicht ernst nimmt. An diesem Punkt beginnt die Legitimität der Norm zu wanken. Jetzt können die Raucher die Einstellungen und letztlich das Verhalten von Leuten, die neu in das Zimmer treten, beeinflussen. Wenn niemand die Vorschrift durchzusetzen sucht, dann meint "man" es vielleicht nicht ernst; es ist kein richtiges Gesetz, niemand mehr befolgt es. Besonders in Gesellschaften mit Vorstellungen von Mehrheitsentscheiden kann eine vernachlässigte Norm mit der Zeit ihre Legitimität und damit ihre Existenz verlieren.

Das Recht als Lemprozeß Legitimität ist die Bezeichnung für eine Einstellung; eine Einstellung, die nach unserer These ceteris paribus das Verhalten der Leute verändert. Man gehorcht dem legitimen Gesetz. Ein mögliches Modell der Wirkungsweise des Rechts wäre also, daß es eine Einstellung - die Legitimität - erzeugt und diese ihrerseits ein neues Verhalten 31 • Aber Legitimität ist offenbar nicht angeboren, und Ansichten über Regierung und Recht kommen nicht aus dem Nichts. Ein Regime erwirbt erst Legitimität, nachdem es bei der Bevölkerung eine längere Probezeit bestanden und sie seinerseits erzogen und symbolisch beschenkt hat32• Kurz, Legitimität muß errungen und erlernt werden; sie gehört zu den Dingen, welche die Rechtssysteme zu lehren versuchen. Die Abläufe beim Lehren und Lernen von Legitimität - wie sie dargestellt, mitgeteilt, verstärkt, ausgelöscht und ausgeglichen wird - hätten Erforschung bitter nötig. Ei"n Weg, sie zu erlernen, führt über das Verhalten. Gesetze, die mit Zwangsandrohungen ausgestattet sind, erzeugen ein Verhalten. Wenn es oft genug wiederholt, genug vertraut wird, verwandelt es sich in eine Gewohnheit; es entsteht eine Art von Korallenriff aus Einstellungen. So kann man von einer sich von Generation zu Generation verstärkenden Tendenz, das geforderte Verhalten auch für moralisch zu halten, 31 Vgl. William K. Muir, Jr.: Prayer in the Publie Schools, Law and Attitude Change, 1967, Kap. 8. 3! Richard M. Merelman: Learning and Legitimaey, 60 Am. Pol. Sei. Rev. 548, 552 (1966).

Der dritte Faktor und der Staat

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sprechen83 • Viel modernes Recht, das uns heute so vertraut ist wie die Luft, die wir atmen, war einmal neu und umstritten - z. B. das Zahlen einer Einkommenssteuer. Die Steuerbelastung hat sich mit der Zeit stufenweise erhöht. Die Steuergesetze und die, welche für ihre Durchsetzung sorgten, lösten einen Prozeß aus, bewirkten ein Verhalten, das schlecht und recht zur Gewohnheit wurde und (schließlich) das Bewußtsein veränderte 34 • Die Leute schimpfen immer noch über die Steuern oder über Einzelheiten der Steuergesetze, aber sie akzeptieren das Prinzip der Besteuerung ohne weiteres. Wenn die Regierung den Amerikanern in einem Gesetz vorschreiben würde, daß sie eine Identitätskarte auf sich tragen müßten, gäbe es viel Gerede über die Privatsphäre und den Big Brother. Aber Führerscheine, Militär- und Sozialversicherungsausweise haben den Weg für die Identitätskarte schon geebnet (sie vielleicht sogar überflüssig gemacht). Rechtliche Institutionen wirken, fast ohne es zu merken, als Lerntheoretiker. Sie erzeugen Verhalten mehr oder weniger als konditionierte Reflexe. Dazu kommt der Einfluß von Beobachtungen über das Verhalten anderer, das sog. Lernen aus zweiter Hand 35 • Anderseits kann ein Prozeß des Verlernens stattfinden, wenn das Recht nicht durchgesetzt wird. Jemand kann die Gewohnheit verlieren, ein Gesetz zu befolgen; aber wie gerät er auf die schiefe Bahn? Nehmen wir als Beispiel die weit verbreitete Angewohnheit, schneller als erlaubt zu fahren. Die meisten Leute fahren nicht aus Prinzip zu schnell, aber in vielen Städten gibt es Stellen, wo nach allgemeinem Konsens das erlaubte Tempo unverhältnismäßig tief ist und wo jedermann mit 70 km/h statt mit 50 fährt. Das Verhalten ist leicht zu beobachten, aber wie begann es? Wie verbreitet es sich? Ist es einfach Nachahmung? Wie rechtfertigen die Leute ihr Verhalten? Verändert ihre Einstellung und ihr Verhalten ihre Vorstellung von der Legitimität dieser Geschwindigkeitsbeschränkung, oder von Geschwindigkeitsbeschränkungen oder Gesetzen im allgemeinen? Der dritte Faktor und der Staat Internalisierte Werturteile werden für gewöhnlich der verschwommenen Größe "Gesellschaft" zugeschrieben, aber ihr Ursprung kann 33 Harry V. Ball und Lawrence M. Friedman: The Use of Criminal Sanctions in the Enforcement of Economic Legislation: A Sociological View, 17 Stan. L. Rev. 197,221 (1965). 34 Diese Feststellung ist eine Vereinfachung. "Recht" im eigentlichen Sinn des Wortes verändert keine Einstellungen und kein Verhalten. Es muß mitgeteilt werden. Kommunikation setzt Institutionen und Verhalten voraus, und diese Aspekte des Rechts sind es, welche in Wirklichkeit das Verhalten beeinflussen. 35 Richard Schwartz: A Learning Theory of Law, 41 So. Ca!. L. Rev. 548, 578

(1968).

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Kap. V: Wann ist Recht wirksam? (Teil II)

auch beim Staat liegen. Beamte und Behörden versuchen, das Gewissen, den Sinn für Legitimität, das Vertrauen usw. anzuregen oder zu beruhigen. Der moderne Staat verwendet beträchtliche Summen für Erziehung oder, besser gesagt, für Propaganda. Zur Förderung des Rechtsgehorsams versucht er dem Bürger klar zu machen, daß Anpassung und Anschluß an die öffentliche Meinung zu seinen Pflichten gehörten. Der Staat erwirkt auf diese Weise größere Konformität als mit Sanktionen allein. Im Rechtsverhalten stimmt also die Grenze zwischen dem Einfluß des Staates und den Einflüssen anderen Ursprungs nicht genau mit der Grenze zwischen sozialen Kräften und Sanktionen überein. Abweichung und Interaktion Wir haben gesehen, daß die Leute, auf die eine Regel Anwendung findet, nicht immer passiv bleiben. Sie können aus verschiedenen Gründen gehorchen oder nicht, aber sie können auch aktiv mit den Behörden interagieren oder kommunizieren. Einer versucht vielleicht, die Norm zu ändern; das haben wir feedback genannt. Ein anderer feilscht auf irgendeine Art mit den Normgebern oder -anwendern. Bestechung und Korruption sind Formen des Feilschens, ebenso das Betteln um Gnade. Private feilschen miteinander, wenn sie, statt zu klagen, einen Streit außergerichtlich beilegen. Zwang oder Drohung können Handlungen von Drittpersonen auslösen oder beim von der Norm Betroffenen ein Verhalten bewirken, das nichts mit Befolgung, Umgehung, Nichtbefolgung, Feilschen oder Interaktion zu tun hat. Das sind Nebeneffekte. Wenn sich die Leute während der Prohibition dem Kaugummi, anderen Getränken oder dem organisierten Verbrechen zuwandten, handelte es sich dabei um Nebeneffekte. Jede dieser Erscheinungen ist für sich allein ein wichtiges Thema. So ist z. B. die Frage der Nebeneffekte untrennbar verknüpft mit der Frage nach den Wirkungen des Rechts überhaupt (außer man spreche von Wirkungen im engsten Sinne). Belohnung und Strafe haben viele indirekte Folgen. Wenn ein Dieb ins Gefängnis gesteckt wird, kann er keine Häuser ausräumen; anderen potentiellen Dieben wird eine Lektion erteilt. Anderseits muß ein Gefangener auf Staatskosten ernährt werden; die Gesellschaft hat eine Arbeitskraft und eine Familie den Ernährer verloren; seine nun vaterlosen Kinder werden vielleicht zu Delinquenten. Auch Belohnungen können ernst zu nehmende Nebeneffekte haben; die Preisstützung für Erdnüsse und Baumwolle verfälscht den Markt, hält die Lebensmittelpreise hoch, stört das Handelsgleichgewicht selbst wenn das System bei den Bauern das gewünschte Verhalten bewirkt. Wenn die Rechtsordnung versucht, ein Verhalten zu verbieten

Abweichung und Interaktion

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oder zu unterbinden, das die Leute angenehm oder einträglich finden, müssen wir mit einer Gegenbewegung rechnen. Um ein überangebot an Getreide zu verhindern, entschädigt der Staat die Bauern, wenn sie die Produktion auf einem Teil ihres Bodens aufgeben. Diese lassen das schlechteste Land brach liegen und erzielen mit dem Rest eine Rekordernte. Das genannte Beispiel beschreibt eine typische Art von Nebeneffekten: Der Zweck einer Norm wird vereitelt, weil der Betroffene zwar "gehorcht", aber eine Ersatzlösung findet. Eine Razzia gegen eine gefährliche Droge erhöht Preis und Risiko und bewirkt, daß die Süchtigen den Markt nach einer anderen Droge absuchen. Manchmal können wir, wie hier, aus der Erfahrung einige Nebenwirkungen vorhersagen. Wo die Neigung zum abweichenden Verhalten stark oder das Verhalten sehr lohnend und Ersatz vorhanden ist, greifen die Leute zum Ersatz, gerade wie sie statt Rindfleisch Schweine- oder Lammfleisch essen, wenn jenes zu teuer wird. Nebeneffekte müssen nicht unbedingt schlecht sein. Die Literatur betont vor allem die negativen Nebeneffekte des Strafrechts. Die Gefängnisstrafe ruiniert das Leben des Gefangenen und reißt seine Familie auseinander; aber sie kann auch dem Opfer und dessen Familie ein Gefühl der Genugtuung und einem möglichen Opfer ein (vielleicht falsches) Gefühl von Sicherheit verleihen. Fairneß und wissenschaftliche Ehrlichkeit verlangen den Einbezug dieser Faktoren. Tatsächlich waren die Nebeneffekte ein Hauptargument im Kampf gegen die Todesstrafe. Bei vielen Rechtsakten - Verbot der Rassendiskriminierung, Umverteilung des Einkommens, Reinhaltung von Luft und Wasser, Ausscheidung von Grünzonen - bilden die erhofften Nebeneffekte ja gerade den Kern der Sache. Auch Feilschen und Interaktion haben je eine positive und eine negative Seite und können legitime und illegitime Formen annehmen. Interaktion kann abweichend sein oder nicht, d. h. illegal oder nicht. Wer wegen Tätlichkeit verhaftet wird, kann um Gnade bitten - oder ein Bestechungsgeld offerieren. Unter welchen Umständen haben wir mit abweichender Interaktion zu rechnen? Und unter welchen Umständen wird Feilschen erfolgreich sein? Es braucht zwei, wenn ein erfolgreicher Handel zustandekommen soll; die offizielle Seite muß ihn dulden. Manchmal tut sie es, weil sie korrupt ist. Manche Rechtskulturen sind korrupter als andere; aber oft finden wir zusammen mit der Korruption auch das "Schlauchlöchersyndrom" - den Auftrag an das System, Normen durchzusetzen, die mit einem einträglichen oder angenehmen oder unvermeidlichen Verhalten unvereinbar sind. Auch widerspiegelt die Interaktion oft die Tatsache, daß Herrscher und Beherrschte aus irgendeinem Grund voneinander abhängig sind, vielleicht,

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weil es an den zur Durchsetzung nötigen Mitteln fehlt. Der Kuhhandel mit Geständnissen im Strafprozeß kommt zum Teil daher, daß sich die Strafverfolgungsbehörden nicht in jedem Fall einen vollwertigen Prozeß leisten können. In seiner Arbeit über ein Gefängnis in New Jersey stellte Gresham Sykes dar, wie die Wächter mit den Gefangenen feilschen und interagieren, indem sie manche übergriffe übersehen, andere nur leicht ahnden und auch Vorteile gewähren. Die Gefangenen waren in der überzahl und die Wächter auf ihre Kooperation angewiesen; anders wäre es nicht möglich gewesen, die Ordnung aufrechtzuerhalten31l • Schon viel ist geschrieben worden über die sog. Einnahme der kontrollierenden Verwaltungsbehörden durch die Industrien, welche kontrolliert werden sollten. Das ist ein wichtiges Beispiel von Interaktion. Im Grunde geschieht hier genau das, was Sykes für das Gefängnis beschrieben hat. Die Behörde muß Tag für Tag mit ihrem Industriezweig zusammenarbeiten. Wenn die Industrie nicht mitmacht, kann das Amt seine Aufgabe nicht erfüllen. Wenn die Bestimmungen zu streng werden, können die Unternehmungen an den Kongreß oder an die Presse gelangen. Diese Form von feedback könnte einer Behörde, welche Anonymität bevorzugt, das Leben sauer machen. Hier bietet Feilschen die Möglichkeit, um eine unerwünschte Art von feedback zu verhindern. Joseph Gusfield hat die verschiedenen Bezeichnungen für abweichendes Verhalten in einer Weise klassifiziert, die zum Verständnis der abweichenden Interaktion beiträgt37. Gusfield bemerkte, daß die Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem Außenseiter von der Einstellung des Außenseiters gegenüber der verletzten Norm abhängt. Ein reuiger Außenseiter ist einer, der die Norm anerkennt. Ein fahrlässiger Verkehrsteilnehmer z. B. anerkennt die Legitimität der Verkehrsregeln; vielleicht tut ihm die Regelwidrigkeit sogar leid. Er hat moralisch versagt und fällt in Ungnade. Zwischen dem Beurteilenden und dem Abweicher besteht ein Konsens. Dann gibt es den kranken Außenseiter. Alkoholiker und Zugehörige sexueller Minoritäten, die eine solche Bezeichnung akzeptieren, gleichen dem Reuigen in einem wichtigen Punkt: sie stellen die Norm, die sie verletzen, nicht in Frage und widersetzen sich ihr nicht. Zum dritten Typ des zynischen Außenseiters gehört z. B. ein professioneller Dieb. Er stellt die Norm zwar nicht in Frage, verletzt sie aber ohne Reue und Gefühl. Der feindliche Außenseiter schließlich 36 The Society of Captives, 1958, S. 55 - 58. Die Wächter waren sich auch einer eventuellen Abhängigkeit bewußt. Wäre je eine Revolte ausgebrochen, so hätten sie in die Hände von rebellierenden Gefangenen fallen können. Für den Wächter, der zuviel Zorn auf sich geladen hätte, wäre die Abrechnung böse ausgegangen. 37 Joseph R. Gusfield: Moral Passage: The Symbolic Process in Public Designation of Deviance, 15 Social Problems 175 (1967).

Abweichung und Interaktion

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akzeptiert überhaupt keine solche Bezeichnung. Er ist weder reumütig noch krank. Statt dessen vertritt er eine gegenteilige Ansicht. Er hält sein Verhalten für richtig und setzt die eigene über die allgemeine Norm. Die Bezeichnungen sind nicht statisch; sie verschieben sich in ZeHen moralischer Durchbrüche. Homosexualität war einst als entehrendes Verbrechen verschrien; später hielt man Homosexuelle allgemein für krank. In den letzten Jahren haben jedoch viele Homosexuelle diese Bezeichnung zurückgewiesen und eine Bewegung ins Leben gerufen. Jetzt arbeiten sie auf eine Gesetzesänderung hin. Von der N onn aus gesehen sind sie feindliche Außenseiter geworden. Der Typus des Abweichens bestimmt die Feilsch- und Interaktionstechnik. Um Gnade bitten oder sich schuldig bekennen sind Fonnen von reuiger Interaktion. Sie können äußerst wirksam sein. Den Richtern sind Leute lieb, welche die Nonnen bestätigen, selbst - oder gerade - reumütige Verbrecher. Als Individuum ist der reumütige Außenseiter asozial, aber er bedroht die Normativordnung nicht. Reue ist konservativ und individualistisch, nicht gesellschaftlich und reformistisch. Vom Standpunkt der Herrschenden aus gesehen sind zynische und feindliche Außenseiter für die Gesellschaft bedrohlicher. Aber der zynische Außenseiter verletzt einfach Regeln und ist nicht in einer Bewegung organisiert. Sein Verhalten wird nonnalerweise erst gefährlich, wenn es zuviele seiner Art gibt. Ein Einbrecher oder auch tausend Einbrecher bringen den Staat nicht zu Fall. Ein feindlicher Außenseiter hingegen ist ein Rebell und mindestens für die Nonn eine Bedrohung. Gusfields Begriffe sind nicht in jeder Hinsicht ideal. Das Wort zynisch ruft die Vorstellung eines abgebrühten Berufsverbrechers hervor; der feindliche Außenseiter erinnert an einen Revolutionär. Es wäre vielleicht besser, in etwas anderen Kategorien zu denken. Manche Leute leugnen die allgemeine Gültigkeit einer Nonn; manche leugnen nur, daß sie in ihrem Fall anwendbar sei. Einige behalten die Idee für sich; andere verbreiten die Botschaft oder bilden Organisationen für die Aufhebung oder Abänderung der Norm oder schließen sich solchen an. Mit andern Worten: Manche Außenseiter treten nicht miteinander oder mit den Behörden in Verbindung oder interagieren nur persönlich und als Individuum; wenn es dazu kommt, fonnen sie eine Gruppe so leise und geheim als möglich38 • Im Gegensatz dazu waren die sit-ins im Süden Amerikas Teil einer Bewegung. Wenn Mitglieder dieser Bewegung der Polizei Widerstand leisteten, so war das eine Fonn von Interaktion. Gleichzeitig setzten sie sich auch außerhalb der lokalen Behörden ein; 38

Vgl. Howard S. Becker: Outsiders, Studies in the Sociology of Deviance,

1963, S. 67 - 69.

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sie kämpften vor Gericht und über das Parlament für die Aufhebung des Gesetzes; sie organisierten eine Kampagne; all das war feedback. Feindliche Abweichung ist also gleichbedeutend mit Feedback- oder Interaktionsabweichung, wenn sie durch eine Bewegung oder eine Subkultur unterstützt wird. Wir kennen aus der Geschichte viele Beispiele von moralischen Durchbrüchen (Gusfield) bei denen, die urteilen. Was einst als Sünde galt, wird zur Krankheit. Ebenso wichtig ist der moralische Durchbruch bei denen, die beurteilt werden. Sie ändern ihr Selbstverständnis und ihr Verhalten. Die Reumütigen oder Kranken verlieren den Glauben an die Norm, zuerst innerlich, dann aktiv, als Teil einer Gruppe. Sie werden zu feindlichen Außenseitern. Was löst diese Kette aus? Manche feindlichen Außenseiter gehören zu fest umschriebenen Gruppen mit eigenen, im Widerspruch zum Staat stehenden Normen. So stand im späten 19. Jahrhundert jeder strenggläubige Mormone wegen der Polygamie im Kreuzfeuer der Meinungen. Feindliche Abweichung ist also oft ein Widerstreit zwischen offiziellen und nichtoffiziellen Normen. Vom einen oder andern Standpunkt aus wird die Person dazwischen in jedem Fall zum Abweicher. Welcher sich durchsetzen wird, hängt davon ab, wo die Sanktionen kräftiger sind und welche Normen in ihrem Innern tiefer verwurzelt sind. Die Kirche der Mormonen war stark und durchstrukturiert. Es ist faszinierend, aus viel bescheidenerem Material eine Bewegung entstehen zu sehen, z. B. die der unorganisierten, unterdrückten sexuellen Minderheiten. Die Information spielt eine wichtige Rolle. Isolierte Außenseiter können nicht zu einer Gesellschaft von Außenseitern - zu einer Subkultur - werden, wenn sie sich der Normen ihrer Gruppe gar nicht bewußt sind. Deshalb kann schon die Ausbreitung von Information langfristig gesehen große Wirkungen entfalten. Als der Kinsey-Report das sexuelle Verhalten der Amerikaner enthüllte, entdeckten die Leute, vielleicht zu ihrer eigenen Verwunderung, daß ihre geheimen Laster gar nicht besonders ausgefallen oder selten waren. Sie hatten nicht mehr das Gefühl, allein zu sein; manche begannen vielleicht, sich zu fragen, ob die Vorschriften, welche sie zu Kriminellen oder Kranken stempeln, überhaupt berechtigt seien. Diese ersten Wahrnehmungen sind sicher nur eine Etappe auf dem Weg zum feindlichen Außenseiterturn. Etwas muß eine Bewußtseinsveränderung, eine Bewegung auslösen. Aber zuerst kommt die Information. Die Intellektuellen des 19. Jahrhunderts, welche Sprache und Kultur von unterdrückten Völkern wie den Tschechen oder den Basken wiederbelebten, waren, ob sie wollten oder nicht, Träger der Revolution. Das Bewußtsein eines gemeinsamen Erbes verwandelte Untertanen in Subkulturen. Diese Leute lebten in den Städten und Dörfern in ge-

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schlossenen Gebieten. Ganz anders muß der Strom von Information und Meinungen beschaffen sein, den es braucht, damit Homosexuelle sich einer Befreiungsbewegung anschließen oder Nonnen und Mönche sich über ihren Bischof hinwegsetzen oder damit der dumpfe Groll in einer Strafanstalt sich in Krawallen und Revolten entlädt. Solche Revolten scheinen in der modernen Welt mit ihrem schwindenden Autoritätsglauben auf fruchtbaren Boden zu fallen. Auch der Informationsfluß mit Nachrichten von und über andere fließt schneller und reibungsloser. Aber immer noch muß eine Untergruppe ihre Mitglieder bestrafen und belohnen oder sich auf die Macht der Gruppenrneinung oder auf das Legitimitätsgefühl ihrer Anhänger verlassen. Keine Bewegung überlebt ohne diese Elemente. Die Gesellschaft reagiert verschieden auf Angriffe gegen ihre N ormen. Nicht alle Angriffe sind gleich bedrohlich. Ein modernes System akzeptiert die Erkenntnis, daß Normen in ständigem Wandel begriffen sind, ohne weiteres. Es erwartet die Veränderung und bereitet sie vor. Es toleriert also den Angriff auf gewisse Normen. Jedermann, der sich einer Norm widersetzt, ist in einern gewissen Sinne ihr Feind; aber erst, wenn er sie verletzt, wird er zum feindlichen Abweicher. Jedermann hat das Recht, eine Gesetzesrevision zu fordern, aber kein Recht, das Gesetz in der Zwischenzeit zu brechen. Doch gerade im Falle einer absterbenden Norm ist Ungehorsam sehr häufig. Viele Leute sehen nicht ein, weshalb sie sich an eine Norm halten sollten, die ihre Normativität eingebüßt hat. Im Zweiten Weltkrieg hätte niemand zugegeben, daß er sich um den Militärdienst drücke; während des Vietnamkrieges gaben die Leute diesen Verstoß offen zu und waren sogar stolz darauf. Jede bestehende Norm ist in gewissem Sinne ein Teil des status quo. Aber manche Normen bedeuten den Herrschenden mehr als andere. Manche Teile des status quo sind anfälliger als andere. Das System enthält ein gutes Stück Nachgiebigkeit und Spielraum. Als die Studenten gegen ihre Universitäten zu revoltieren begannen, verlangten sie gemischte Wohnhäuser für Studenten beider Geschlechter, mehr Freiheit im persönlichen Leben und ein Mitspracherecht in den Fakultäten. In den Fragen des Privatlebens gaben die Universitäten schnell und leichten Herzens nach, aber sie wehrten sich verbissen dagegen, die Kontrolle der Fakultäten aus den Händen geben zu müssen. Es ist nicht immer leicht vorauszusagen, wo die Leine locker ist. Oft bringt erst eine richtige Schlacht ans Licht, wo die leicht besetzten Außenposten liegen und wo die Festung selbst. Die Elite erträgt im allgemeinen das feindliche Außenseiterturn schlechter als jedes andere. Eine Gesellschaft kann eine ganze Menge Geschwindigkeitsübertretungen verkraften. Die meisten Täter sind,

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was Gusfield reuig nennen würde. Fahren in übersetztem Tempo ist häufig. Absolut gesehen gibt es täglich Millionen von Übertretungen. Zu schnelles Fahren ist gefährlich und teuer, aber wir leben damit. Feindliches Außenseiterturn hingegen muß bekämpft und unterdrückt werden, oder die Norm ändert sich. Die gesellschaftliche Reaktion gegenüber feindlichen Außenseitern ist im allgemeinen heftiger als bei andern Formen von Abweichung, auch wenn die betreffenden Handlungen als gleich bedenklich erscheinen. Die Gesellschaft toleriert nicht viele Morde; Morde gefährden die gesellschaftliche Ordnung, ungeachtet dessen, was der Mörder vom Strafrecht hält oder damit anfängt. Aber bei Morden mit politischem oder revolutionärem Hintergrund ist die Toleranzgrenze noch tiefer. Die meisten Leute gehen davon aus, daß Verbrechen und Abweichung absolut schlecht sind und wie Armut und Krankheit überwunden werden müssen. Aber man kann durchaus der Ansicht sein, Abweichung sei unvermeidlich. Jede Gesellschaft und jede soziale Gruppe hat Regeln und Normen. Die meisten Leute sind durchschnittlich konform. Die Verhaltenskurve ist glockenförmig, also eine Normalkurve. Es werden also bei jeder beliebigen Norm einige Leute unter dem Durchschnitt bleiben und andere, verglichen mit dem Rest, Heilige sein. Das hat nichts mit einer guten oder bösen Gesellschaft zu tun. Ein Kloster voller Nonnen wird gewisse, aus weltlicher Sicht triviale Handlungen als abweichend bezeichnen. Manche Nonnen werden sie dennoch vornehmen, und die glockenförmige Kurve sieht der Kurve für Rechtsgehorsam außerhalb der Klostermauern recht ähnlich. Aus dieser Argumentation, welche z. T. dem soziologischen Denken von Emile Durkheim entstammt, folgt, daß keine Gesellschaft das abweichende Verhalten ausrotten kann. Abweichung ist unvermeidlich - vielleicht sogar eine feste Größe3U und hat eine Trennungsfunktion: sie definiert die Grenzen der Gruppe. Mit den Worten Kai Eriksons: "Moralität und Immoralität treffen sich auf der Tribüne der Öffentlichkeit, und während dieses Treffens wird die Grenze zwischen ihnen gezogen 40 ." Streben die Abweichungsquoten aller Gesellschaften einer festen Größe zu? Diese verblüffende These wäre geeignet, empirisch überprüft zu werden. Sie gilt jedoch nicht für jede Art von Abweichung. Die feindliche Abweichung gehorcht nicht der normalen Verteilungsregel. Sie ist das gewaltsame, unvorhersehbare Element, der Motor des gesellschaftlichen Wandels. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, daß die Quote der feindlichen Abweichung in allen Gesellschaften etwa gleich sei. Im Kloster existiert sie vermutlich gar nicht. In Rußland tobte 1917 3g Kai Erikson: Wayward Puritans, 1966, S. 13; Edwin H. Schur: Labeling Deviant Behavior, Its Sociological Implications, 1971, S. 147. 40 Erikson (N. 39), S. 12.

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die Revolution; Dänemark war im Jahre 1974 ein ruhiges Land. Auf jedem Schiff (und in jedem Staat) ist nach der Theorie mit abweichendem Verhalten zu rechnen. Aber eine Meuterei gibt es nur auf der Bounty und nur, wenn Kapitän Bligh das Kommando führt. Der zivilrechtliche Aspekt

Die meisten Beispiele zur Diskussion der letzten zwei Kapitel waren dem Strafrecht entnommen. Aber eine Theorie des Rechtsverhaltens sollte auch auf das Verhalten in zivilrechtlichen Angelegenheiten anwendbar sein. Wenn wir uns fragen, durch wen und wann eine Norm angewendet wird, sollten die Antworten grundsätzlich recht ähnlich aussehen wie die Antworten auf Fragen wie: wen hält die Strafe vom Verbrechen ab? Und wann? Grundsätzlich bewirkt eine effektive Verstärkung der Vorteile eine Verstärkung der Anwendung, aber nur am Rande. Höhere Landwirlschaftssubventionen bringen mehr Getreide, machen aber nicht jedermann zum Bauern. Die einfache und billige Scheidung ruiniert keine glückliche Ehe. Im britischen Gesundheitssystem ist der Arztbesuch unentgeltlich, aber es gibt keinen Massenansturm auf die Arztpraxen. Der Gang dahin kostet immer noch Zeit und Mühe, und die Leute haben immer noch Hemmungen, die Zeit des Arztes zu verschwenden. Aber am Rande beeinflussen veränderte Kosten und Gewinne das Rechtsverhalten schon. Die nicht-strafrechtlichen Normen unterscheiden sich natürlich in vielem von den Normen des Strafgesetzbuches. Zum einen hat der Staat bei diesen fast die gesamten Kosten der Durchsetzung übernommen. Die öffentliche Hand bezahlt Polizisten, Detektive, Geschworene und Gefängnisse. In Zivilsachen belasten die Kosten eher den einzelnen, was vor allem im Zivilprozeß zum Ausdruck kommt. Der Staatsanwalt wird die Gerichts- und Anwaltskosten kaum berücksichtigen, wenn er entscheiden muß, ob er noch in einem weiteren Raubfall Anklage erheben solle. (Hingegen muß er sich Gedanken machen über Budget und Personal.) Für den gewöhnlichen Kläger - sei er eine Einzelperson oder eine Firma - kann im Einzelfall der Aufwand an Zeit und Geld, Gewinn oder Verlust, beträchtlich sein. Die öffentliche Hand entlöhnt die Richter und trägt die allgemeinen Gerichtskosten; der Rest muß von privater Seite bezahlt werden. In einem Fall des Handelsrechts, des Haftpflicht- oder des Grundstückrechts muß der erwartete Gewinn sehr groß sein, damit er die Kosten und das Risiko eines verlorenen Prozesses aufwiegt. Die Kosten sind ein Hindernis auf dem Weg zum Gericht. Prozessieren kann ganz abgesehen von den Ausgaben sehr belastend sein. Macaulay hat gezeigt, wie Geschäftsleute davor zurückschrecken, und 10 Friedman

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das mit guten Gründen. Rechtsstreite wirken zersetzend. Geschäftsleiter und Techniker müssen vielleicht ihre gewöhnliche Arbeit unterbrechen, um vor Gericht zu erscheinen. Zwei Firmen, die feste Geschäftsbeziehungen pflegen, ziehen einen Komprorniß und die Fortsetzung der Beziehungen dem Rechtsstreit vor4 1• Auch gewöhnliche Bürger vermeiden den Gang zum Richter aus guten Gründen. Er kostet Zeit, Geld und Nerven. Es ist, als ob die Gesellschaft zum Schluß gekommen sei, Prozessieren sei ungesund und die Leute müßten deshalb mit hoch bemessenen Preisen davon abgehalten werden42 • Aber in vielen einfachen Gesellschaften sind die Gerichte beliebt, immer beschäftigt und für jedermann offen. Die Stammesgerichtsbarkeit ist in doppelter Hinsicht zugänglich. Sie ist erstens vielerorts völlig kostenlos. (Die Richter sind Laien, und es gibt kein Personal zu entlöhnen.) Zweitens ist es keine Schande, vor Gericht zu gehen. Lloyd Fallers nennt bei der Behandlung der Sogas in Uganda ihr Recht populär und zugänglich 43 • Dorfgerichte sind auf der ganzen Welt populär und zugänglich. Sie müssen es sein, wenn sie ihre Funktion erfüllen, Streit schlichten und den gesellschaftlichen Frieden erhalten wollen, wenn Haß ihn zu zerstören droht. Diese Gerichte haben die Aufgabe, das Gleichgewicht herzustellen. Der Ausdruck stammt von Laura Nader. Sie gebraucht ihn, um den Rechtsstil der Zapotecs von Oaxaca in Mexico zu beschreiben44 • Die westlichen Gerichte haben viele Funktionen, aber unter zankenden Nachbarn oder Verwandten den sozialen Frieden wiederherzustellen gehört kaum dazu. Ein Polizist auf seiner Runde in der Großstadt hat wahrscheinlich mehr Ähnlichkeit mit einem Zapotecgericht als das lokale Gericht. Kurz, die westlichen Gesellschaften fordern durch Entscheidungen über Strukturen und Institutionen zum Gebrauch gewisser Normen auf und unterbinden ihn bei anderen. Die hohen Kosten erzeugen eine selektive Abschreckung. Es ist zu beachten, daß die Gerichte teuer sind. Der Friedensrichter verheiratet jedes Paar für eine bescheidene Summe; einen Vertrag öffentlich beurkunden lassen, ist vergleichsweise billig; die Ausrichtung einer Alterspension beantragen kostet gar nichts. Eine Norm oder eine Institution wird natürlich häufiger angesprochen, wenn ihr Gebrauch billiger wird. Gerichts- und Anwaltskosten sind ziemlich 41 Stewart Macaulay: Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study, 28 Am. Soc. Rev. 55 (1963). 42 Vgl. Lawrence M. Friedman: Legal Rules and the Process of Social Change, 19 Stan. L. Rev. 786, 798, 798 - 810 (1967). 43 Lloyd A. Fallers: Law Without Precedent, 1969, S. 313. 44 Laura Nader: An Analysis of Zapotec Law Cases, 3 Ethnology 404

(1964).

Der zivilrechtliche Aspekt

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fix und auf den ersten Blick erschreckend hoch. Aber die Kosten sind auch eine Funktion der Gewinnchancen. Das Gericht wird leichter beansprucht, wenn der Sieg wahrscheinlicher wird oder der erwartete Gewinn sich vergrößert (z. B. weil das Recht zusätzlichen Schadenersatz oder Schadenersatz mit Strafcharakter vorsieht). Dasselbe geschieht, wenn ein Gericht seine Rechtsprechung in einer Weise ändert, die für eine bestimmte Klägergruppe von Vorteil ist. Die Änderung einer Norm kann, wenn sie überhaupt Wirkungen entfaltet, für die von ihr Betroffenen das Verhältnis von Kosten und Nutzen ändern. Rechtsregeln verbieten gewisse Aktivitäten, beschränken andere, drohen für noch andere mit unangenehmen Folgen. Das Recht verhindert selten die physische Handlung selbst. Im allgemeinen droht es mit einer Sanktion, welche auf die Handlung folgt. Das Gesetz, das den Mord verbietet, macht ihn nicht unmöglich; es verlangt nur einen schrecklichen Preis dafür. Man kann das Gesetz ignorieren, den Preis bezahlen und die Tat begehen. Diese Analyse läßt die Grenze zwischen zivil- und strafrechtlichen Sanktionen verschwimmen. Ein Vertragsbruch ist kein Verbrechen, nicht einmal eine Sünde, aber man setzt sich damit der Gefahr einer Schadenersatzklage aus. Theoretisch erhöht dieses Risiko den Preis für Vertragsbruch und macht ihn ein bißchen weniger lohnend. Die Vorschriften des Zivilrechts gehen also wie das Strafrecht, wenn nicht noch mehr, vom Kosten-Nutzen-Modell aus. Dasselbe gilt für Normen, welche das Verhalten steuern, ohne den Leuten vorzuschreiben, was sie tun sollen. Unser Beispiel war das Recht des Testamentes 45 • Jede Änderung einer Norm kann das Kosten-Nutzen-Verhältnis ändern und damit das Ausmaß oder die Art ihrer Anwendung. Das Zivilrecht beruht natürlich nicht nur auf Sanktionen, d. h. auf dem Kosten-Nutzen-Verhältnis. Es ist, um wirksam zu werden, auch auf innere Tatsachen und auf die öffentliche Meinung angewiesen. Eine Norm des Zivilrechts ist erfolgreich, wenn sie dazu anspornt, von ihr Gebrauch zu machen. Ansporn und Entmutigung müssen nicht unbedingt vom Staat kommen. Ein bekanntes Beispiel: Viele unglückliche Ehefrauen schrecken aus religiösen Gründen, oder weil sie sich schämen, vor einer Scheidung zurück. Auch hier ist die Rechtskultur am Werk. Dem Zivilrecht geht der z. T. emotionell gefärbte Ton gewisser Normen des Strafrechts auf weite Strecken ab. Selbst das Deliktsrecht, das im Gegensatz zum Vertragsrecht Schadenersatz mit Strafcharakter und Genugtuung für ausgestandene körperliche Schmerzen und seelische Unbill kennt, ist eine recht trockene Angelegenheit. In den meisten 45

10'

Siehe Kap. 111.

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Kap. V: Wann ist Recht wirksam? (Teil II)

Fällen geht es um Geld, nicht um Moral und Empfindungen. Aber wie wir gesehen haben, verletzt auch nicht jedes Verbrechen innerste moralische Empfindungen. Das Strafrecht hat nicht das Monopol der moralischen Entrüstung, und nicht jedes "verbrecherische" Verhalten bringt das Blut zum sieden. Strafrecht ist unter anderem Recht. dessen Durchsetzung der Staat oder die Allgemeinheit besorgt. Im Zivilrecht ist die Initiative grundsätzlich dem einzelnen überlassen. Oft ist ein Vergehen eine Mißachtung von Ordnungsvorschriften, welche von privater Seite nicht verhindert werden kann oder will. Wenn ein Ladeninhaber zehn Körbchen faule Erdbeeren verkauft, so findet nicht ein Käufer, geschweige denn zehn, die Angelegenheit eine Zivilklage wert. Lebensmittelgesetze sind als öffentliches Recht viel wirksamer, unabhängig von der Frage, ob es verwerflich sei, faule Früchte zu verkaufen46 • Einige Teile des Zivilrechts - z. B. Scheidung und Konkurs - sind mit einem Stigma behaftet. Aber im großen Ganzen spielen Stigma und Scham im Zivilprozeß eine kleine Rolle. Diese Tatsache ist vielleicht von Bedeutung. Eine Buße von 1 000 DM und eine Schadenersatzpflicht von 1 000 DM sind nicht genau dasselbe. Die Strafe wirkt bei vielen Gruppen und Individuen stärker, weil sie inoffizielle Strafen nach sich zieht. Aber es gibt keineswegs eine scharfe Grenze.

48

Vgl. Lawrence M. Friedman: A History of American Law, 1973, S. 258.

Kapitel VI

über den Ursprung von Recht und Gesetzen Frühere Kapitel behandelten die Bedingungen, unter denen Gesetze mehr oder weniger wirksam werden. Dieses Kapitel stellt die in gewisser Hinsicht vorgängige Frage: Woher kommen Gesetze? Welche sozialen Kräfte erwirken Recht, die Gesetze, das Rechtssystem und Rechtsveränderung? Diese Frage kann nur ganz allgemein beantwortet werden. Gesetzgeber, Gerichte und Verwaltungsbehörden erlassen täglich viele neue Normen. Jeder Rechtsakt, jedes Fragment eines Rechtsverhaltens hat eine ihm eigene Entstehungsgeschichte, ist so einmalig wie ein Fingerabdruck. Nichtsdestoweniger fallen Rechtsakte in Gattungen, Muster kehren wieder, und einige Verallgemeinerungen sind möglich. Zwei Fragen können unterschieden werden. Die erste ist die nach dem Ursprung des Rechts im allgemeinen, unabhängig von einer bestimmten Gesellschaft oder einem bestimmten System. Doch alle modemen Gesellschaften und viele Subsysteme haben bereits Rechtssysteme. Für diese ist die zweite Frage bedeutsamer: Welche Kräfte bewirken oder verhindern Veränderungen im Recht? Was bringt neue Rechtsakte zustande oder hält alte Regeln und Institutionen wirksam? Es gibt viele allgemeine Theorien über den Ursprung des Rechts, doch lassen sich diese auf einige wenige Grundtypen zurückführen. Einige davon haben heute geringe Verbreitung. So glauben heute im Westen nicht viele, daß Gott - durch Offenbarung und Erleuchtungdie unmittelbare Quelle ihres Rechts ist. Solche Rechtstheorien waren einst sehr wichtig und sind heute z. B. in traditionellen Moslemstaaten noch bedeutsam. In der europäischen Geschichte gab es viele Naturrechtslehren. Ihnen gemeinsam war die Vorstellung eines Rechtskörpers, der außerhalb jedes geschichtlichen und sozialen Wandels stand. Sie identifizierten Recht mit natürlicher Vernunft oder mit vorgegebenen Ideen, eingegeben durch Gott oder ein höheres Wesen. Manche Spuren dieser Ansichten sind im modemen Rechtsdenken verblieben. Im allgemeinen aber beginnen und enden modeme Rechtstheorien mit den Menschen; Philosophen mögen sich metaphysischer Konzepte bedienen, um die Gesetze zu beurteilen, aber nicht, um diese selbst zu

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Kap. VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

erklären. Herrschende Ansicht ist, daß das Recht eine menschliche Schöpfung ist und es immer war. Tatsächlich braucht es keine besondere Fähigkeit, um festzustellen, daß die Gesellschaft das Recht dauernd beeinflußt. Jede Tageszeitung ist voller Beispiele, besonders für das Gesetzesrecht. Die Frage ist, wie viel dieses Geschehens durch soziale Kräfte erklärt wird und was allenfalls übrigbleibt. Unter den Rechtsgelehrten herrscht die starke Tendenz, die Wichtigkeit außerfachlicher Kräfte herunterzuspielen und die Rechtsentwicklung innerfachlich, bezogen auf Rechtskonzepte und juristische Denkgewohnheiten, zu erklären. Man betrachtet diese, als wären sie gesellschaftlichem Drucke gegenüber gewissermaßen resistent, irgendwie unabhängig von fachfremder, sozialer Kraft. Wer so denkt, setzt voraus, daß das Recht - wie die Sprache - ein gewisses Eigenleben hat; daß rechtliche Phänomene wie jene der Chemie oder der Geologie eine äußere Realität aufweisen und zum Objekt der Wissenschaft gemacht werden können. Wenn das Recht eine Wissenschaft ist, kann man seine Lehrsätze unabhängig von jedem gesellschaftlichen Zusammenhang lernen, und neue Generationen werden ständig neue Entdeckungen machen1 • Wir haben unsere Bedenken gegenüber dieser Auffassung von der Rechtswissenschaft schon oben geäußert2 • Ähnliche Ansichten waren jedoch im 19. Jahrhundert vor allem in Europa weit verbreitet. Sie sind heute noch lebendig. Auf weniger rigorose - und vielleicht bedeutsamere - Art sind diese Theorien im täglichen Denken, Schreiben und Sprechen über das Recht implizit enthalten. Selbst in modernen Kulturen ist es Allgemeingut, daß das Recht gewissermaßen hinter der Kultur steht und sicherlich außerhalb von Ebbe und Flut der momentanen öffentlichen Meinung ist oder sein sollte. Juristen pflegen zu denken oder zu sagen, das Recht transzendiere Raum und Zeit. Immerhin, dieser Gedanke bläht ihre Bedeutung und die Bedeutung des Rechts auf. Sie sind lieber Kunsthandwerker und Fachleute als Händler, Politiker oder Puppen der Geschichte. Vielleicht ist diese Art von Theorie für die öffentliche Achtung vor dem Recht essentiell. Denn eine Institution, die gerecht, idealistisch und dauerhaft ist sowie außerhalb des Eigennutzes der Politiker und der Wirtschaft steht, sollte große Achtung erheischen. Achtung aber bedeutet - vermutlich - Legitimität. Und obgleich wir im letzten Kapitel bezweifelten, daß sich Legitimität ohne Bewährung längerfristig erhalten kann, kann sie, solange sie währt, eine kraftvolle Stütze der sozialen Ordnung sein. 1 Das Recht ist offensichtlich keine experimentelle WiSsenschaft; die Geometrie mag daher ein besseres Modell sein als irgendeine Naturwissenschaft. Geometrie ist rigoros, deduktiv und - zumindest vordergründig nicht kulturgebunden. 2 Siehe Kap. I.

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Jedenfalls setzen juristische Schriften gewöhnlich die zweite allgemeine Theorie voraus: Die Unabhängigkeit des Rechts von Politik und Kultur. Diese Ansicht kommt zum Ausdruck, wenn ein Autor in irgendeinem Zusammenhang behauptet, daß juristische Geschicklichkeit (oder Schlauheit) als solche für einen wesentlichen und permanenten Unterschied verantwortlich gewesen sei und eine Wirkung auf die Gesellschaft durch ihre eigene inhärente Kraft gehabt habe. Als ein Beispiel könnte man die sog. Konspirationstheorie zum 14. Amendment der Verfassung der Vereinigten Staaten anführen. Dieser Zusatzartikel, erlassen nach Beendigung des Bürgerkriegs, untersagte den Staaten, in Leben, Freiheit und Eigentum einer Person ohne ordnungsmäßiges Rechtsverfahren einzugreifen. Der Zusatzartikel war Teil einer Vorlage, die als ein Ziel die Garantierung der Rechte der ehemaligen Sklaven hatte. Eine Generation später aber bildeten der Supreme Court und einige Gerichte der Bundesstaaten ein ganzes Theoriengebäude aus den Worten "due process of law". Dieser Ausdruck wurde gebraucht, um die Wirtschaft gegen unangenehme Bestimmungen zu schützen. 1905 erklärte der Supreme Court z. B. ein Gesetz für verfassungswidrig, das die Maximalarbeitszeit für Bäcker festlegte 3 • Wie war es zu dieser sonderbaren Umformung gekommen? Die Konspirationstheorie brachte vor, daß das 14. Amendment den Schutz der Wirtschaft bezweckte. Das Wort Person wurde unbemerkt in den Text eingefügt, vermutlich weil es - eher als das Wort Bürger - allgemein genug war, um das Großunternehmertum mitzuenthalten. Dort wartete es einem ruhenden Sämling gleich auf die rechte Zeit zur Keimung. Es ist stark umstritten, ob die Konspirationstheorie die Verfassungsrevision von 1868 erklärt 4 • Eine ganz andere Frage ist, ob die Gedanken und Hoffnungen von 1868 das Ergebnis des 1905 verhandelten Falles bestimmen konnten. Der Disput setzt voraus, daß die Absicht der Verfasser von 1868 im Jahre 1905 die Sache wirklich änderte, daß die dueprocess-Klausel als eine Art Träger für die späteren Entscheidungen diente und daß die Ergebnisse dieser späteren Fälle irgendwie latent oder inhärent im Text waren. Diese Annahme verkennt oder spielt die konkreten sozialen und ökonomischen Kräfte herunter, die zwar nicht 1868 aber 1905 auf die Gerichte wirkten. Eine soziologische Theorie über Rechtsveränderung würde weniger Aufmerksamkeit dem Text, mehr aber den sozialen Kräften widmen. Sie ginge von der Annahme aus, daß die Kräfte, die 1905 wirkten, die Hauptverantwortung für die Rechtsakte von 1905 tragen, und daß es diese Kräfte waren, die den Schutz der Unternehmen in das 14. Amendment hineininterpretierten, 3 4

Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905). Howard Jay Graham: Everyman's Constitution, 1968, bes. Kap. 1 u. 2.

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Kap. VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

unabhängig davon, ob dieser Schutz tatsächlich im Gesetzestext enthalten war oder nicht 5 • Die Konspirationstheorie ist als Theorie eine seltsame Mischung. Im wesentlichen behauptet sie, daß eine einzige soziale Kraft (das Großunternehmertum) das Recht durch Einbringen des 14. Amen(Unent auf gerissene Art erfolgreich formte. Als dann die Worte auf dem Papier standen, begannen sie ein Eigenleben zu führen. Die meisten gängigen Rechtstheorien sind Mischungen dieser Art, d. h. eher widerspruchsvoll. Ein orthodoxer Marxist sollte sich im Prinzip eine streng soziologische Rechtstheorie zu eigen machen, doch der weniger rigorose Linke hat eine weniger rigorose Ansicht. Man hört, daß das Recht starr, ungerecht, rücksichtslos, reaktionär und unempfänglich sei; stillschweigend folgt daraus, daß es selbst auf die Gesellschaftsführung nicht reagiert und nützlich nur für Juristen ist, die an seinen Fäden ziehen. Wer darin übereinstimmt, verwirft insoweit die soziologische Rechtstheorie. Allgemeine Rechtstheorien haben politische Konsequenzen. Theorien sind an sich weder progressiv noch reaktionär, doch ihre Konsequenzen mögen von Zeit und Ort abhängig sein. Einige sowjetische Juristen vertreten heute die Meinung, daß das Recht unpersönlich, in sich geschlossen und von der Regierung unabhängig sein sollte. Sie sehen im Recht einen Weg, um die übermacht des Staates auszugleichen6 • Anderseits kämpften amerikanische Liberale in den 1930er Jahren für eine soziologische Rechtstheorie. Sie wollten das Recht von den konservativen Richtern befreien, deren Neutralität eine Abneigung gegen fortschrittliche Sozialreformen verbarg. Die Rechts- und Gesellschaftstheorien sind in Wirklichkeit breite begriffliche Schirme. Unter jedem ist eine Unzahl von Denkern versammelt. Die moderne Soziologie, die sich mit dem Recht befaßt, hält eine gewisse Form von soziologischer Theorie für selbstverständlich. Dies trifft sicher bei Arbeiten über die Wirkung von pressure groups auf die Gesetzgebung zu. Ebenso verhält es sich mit Verhaltensstudien bei Gerichten. Politologen versuchten, ernsthaft beginnend in den 1960er Jahren7 , das Rätsel zu ergründen, warum Richter so entscheiden, wie sie es 5 Für Beispiele dieser Analyseart siehe Arnold M. Paul: Conservative Crisis and the Rule of Law: Attitudes of Bar and Bench 1887 - 1895, 1960, und Lawrence M. Friedman: Freedom of Contract and Occupational Licensing, 1890 - 1910: A Legal and Social Study, 53 Calif. L. Rev. 487 (1965). 6 Auch einige deutsche Juristen verwerfen die Theorie, daß das Recht allein sozial und utilitaristisch sei. Die Idee, daß das Recht nur soziale Kräfte widerspiegelt, ebnete - so meinen sie - den Weg für die Immoralität der NaziJustiz. Vgl. z. B. Ilse Staff (Hrsg.): Justiz im Dritten Reich, 1964, S. 11 - 16. 7 Den Beginn machte C. Herman Pritchett: The Roosevelt Court: A Study in Judicial Politics and Values 1937 - 1947, 1948, welches - nach Ansicht von Glendon Schubert - den ersten wirklich bedeutenden Bruch mit der Vergangenheit vollzog. Glendon Schubert: Judicial Decision-Making, 1963, S. 2.

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tunS. Sie untersuchten hauptsächlich die Tätigkeit des Supreme Court der Vereinigten Staaten. Ihre Techniken sind, jedenfalls für Rechtsuntersuchungen, sehr fachmännisch, reichen sie doch von der surveyUntersuchung über die Skalogramm-Analyse bis zur Spiel theorie. Diese Untersuchungen, so mannigfaltig sie auch sind, verwerfen im allgemeinen die Ansicht, daß Richter primär dem Recht gemäß entscheiden, indem sie dem Diktat früherer Lehrmeinungen und Entscheide folgen. Sie suchen den Schlüssel zum richterlichen Verhalten eher in des Richters Herkunft, seiner Einstellung oder seiner Rollenvorstellung. Nur wenige moderne Wissenschaftler meinen wirklich, daß soziale Kräfte jeden Rechtsakt bestimmten. Man nimmt an, daß juristische Erfahrung, juristisches Gedankengut und juristische Begriffe einen gewissen Einfluß haben. Das Recht selbst, vom Mittelpunkt der Theorien verbannt, schleicht sich eher heimlich unter dem Decknamen Richterrolle wieder ein. D. h. man glaubt, daß Richter Rollenspieler sind, und daß die Rolle, die sie spielen, oft danach ruft, dem Recht zu folgen. Gesamthaft aber bestimmt die soziologische Theorie diese Arbeiten. Soziologische Erklärungen herrschen auch in marxistischen Rechtstheorien. In der marxistischen Theorie ist das Recht die Summe der Verhaltensnormen ... , den Willen der herrschenden Klasse ausdrükkendo Die Anwendung dieser Normen wird durch die Zwangsgewalt des Staates gewährleistet und erlassen zwecks Sicherung, Festigung und Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Zustände, die der herrschenden Klasse genehm und vorteilhaft sind9 • Eine soziologische Betrachtungsweise ist aber auch in mehr bourgeoisen Kreisen üblich. Sie ist ein Faktor der Historischen Rechtsschule, die im frühen 19. Jahrhundert durch den deutschen Juristen Savigny begründet wurde. Savigny betonte, daß wahres Recht in der Geschichte und dem Geist des Volkes begründet lag10 • Die amerikanischen Vertreter dieser Schule, William Graham Sumner und James C. Carter, waren die reine Verkörperung des späten viktorianischen Konservatismus l1 • Wie wir sehen 8 Die Literatur ist umfangreich. Siehe Glendon Schubert: Quantitative Analysis of Judicial Behavior, 1959; ders.: The Judicial Mind, 1965; Joel Grossman: Role Playing and the Analysis of Judicial Behavior: The Case of Mr. Justice Frankfurter, 11 J. Pub. L. 285, 293 (1962); Theodore L. Becker: Political Behavioralism and Modern Jurisprudence, 1964; ders.: Comparative ,Judicial Politics, the Political Functionings of Courts, 1970. 9 S. A. Golunskii und M. S. Strogovich: The Theory of the State and Law, in Soviet Legal Philosophy, übersetzt von Hugh W. Babb, 1951; K. Zweigert und H. Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. I, 1971, S. 349 - 358. ]0 Siehe Julius Stone: Social Dimensions of Law and Justice, 1966, S. 86111. Doch seltsam genug, daß sich Savignys eigene Untersuchung nicht auf das deutsche Gewohnheitsrecht bezog, sondern auf das römische Recht, und zu den Begriffsexzessen der Pandektistenschule führte. K. Zweigert und H. Kötz (N. 9), S. 170 - 172. II Siehe Kap. IV.

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Kap. VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

werden, war die Popularisierung soziologischer Theorien nach 1800 eine verständliche und vorhersehbare Entwicklung12 • Theoretiker, die die sozialen Kräfte betonen, weichen voneinander auch in der Frage ab, welche sozialen Kräfte das Recht beeinflussen und in welchem Ausmaß. Die Marxisten betonen die Wirtschaft. Die Eigner der Produktionsmittel formen das Recht, um ihre Interessen zu schützen. Das Wirtschaftssystem ist die Basis der Gesellschaft; das Recht ist Teil des überbaus. Selbst Nicht-Marxisten bestreiten den mächtigen Einfluß der Wirtschaft auf das Recht kaum. Unbestreitbar scheint auch, daß die Kultur im weitem Sinne das Recht formt. Anthropologische Rechtsstudien zeigen eine Rechtsvielfalt erstaunlichster Art, scheint doch jede Kultur ein ihren Vorstellungen entsprechendes Rechtssystem zu schaffen, eines, das ihrem Stil angepaßt ist und ihren Bedürfnissen wie ein Maßanzug entspricht. Psychologische Gesetze und Impulse, die der Menschheit im allgemeinen gemeinsam sind, bilden eine andere Erklärungsquelle13 • Vermutlich steckt in beiden wichtigen Rechtstheorien ein Stück Wahrheit. Doch teilen sie die Wahrheit gleichmäßig? Hätten wir eine allgemeine Rechtstheorie zu wählen, müßte es eine soziologische Theorie sein. Sicherlich ist das Recht - langfristig gesehen - ein Produkt von Kultur und Gesellschaft; kurzfristig bringt es regelmäßig den Einfluß gegenwärtiger sozialer Kräfte, gegenwärtiger Zwiste zum Ausdruck. Auch die Wertvorstellungen und die Rechtskonzepte stammen von der Gesellschaft; im besondern sind es die Wertvorstellungen und Konzepte der Mächtigen und Einflußreichen. Wäre dem anders, widerspiegelte das Rechtssystem andere Wertvorstellungen als die Wertvorstellungen jener, die das politische, soziale und wirtschaftliche System kontrollieren, zeitigte es dauernd "falsche" Resultate - falsch vom Standpunkt der Mächtigen aus. (Wären sie immer "richtig", wäre die Annahme einer Verbindung zwischen sozialen Kräften und den Ergebnissen des Rechtssystems einleuchtend.) "Falsche" Resultate dürften während einer Weile und in gelegentlichen Fällen oder in unbedeutenden Angelegenheiten tragbar sein, solange sich die RechtsinstitutioSiehe Kap. VIII. Jerome Frank, der in den 1930er Jahren schrieb, stellte in "Lawand Modern Mind" (Anchor ed., 1963) fest, daß Richter ihre Entscheide nicht unter Bezugnahme auf das Recht fällen, sondern Emotionen und der Intuition folgen. Daß das Recht unerschütterlich und bestimmt festgelegt ist oder so gemacht werden kann, ist ein "Mythos", das Produkt eines kindlichen Bedürfnisses nach einem autoritativen Vater. Er glaubte, daß sich juristische Fakultäten und Richter mit der menschlichen Natur... auseinandersetzen sollten (S. 21, 22, 156, 158). über die psychologische Veranlagung von Juristen vgl. Walter O. Weyrauch: The Personality of Lawyers, 1964, und Wolfgang Kaupen: Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969; beide behandelten die Situation in Westdeutschland. 12

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nen, die die "falschen" Resultate bewirken, auf einen Vorrat an Entgegenkommen oder Legitimität stützen können. Doch langfristig könnte diese Art Wohlwollen das System kaum funktionsfähig erhalten. Diese Beziehung zwischen Legitimität und Ergebnis wurde im letzten Kapitel aufgezeigt oder behauptet. Sie ist vermutlich im modemen Recht besonders ausgeprägt. Modemes Recht ist zutiefst utilitaristisch und instrumental. Recht ist richtig, weil es nützlich ist. Weshalb sollten sich Herrscher, Machthaber oder Einflußreiche mit dem Recht abfinden, wenn es durchwegs falsch wäre? Ein Diktator könnte das Recht seinen Wünschen anpassen. Ebenso könnten es gewählte Gesetzgeber. Weniger offensichtlich ließe es sich auch durch Richter bewerkstelligen. Es ist denkbar, daß die Machthaber davon aus irgendeinem Grunde absehen um Schwierigkeiten zu vermeiden, um tugendhaft zu scheinen, um zu betonen, daß ihre eigene Position gerecht und friedfertig war. Doch die Beweislast liegt bei jenen, die meinen, die Mächtigen förderten ihre wahrgenommenen Eigeninteressen normalerweise nicht. Wenn sie behaupten, Rechtskonzepte setzten sich über persönliche Interessen - wie die Bevölkerung sie versteht - hinweg, tragen sie tatsächlich eine schwere Last. Eine Form soziologischer Theorie muß einen Zentralpunkt in der Rechtstheorie bilden. Soviel wird grundsätzlich zugestanden; der Streit dreht sich um Einzelheiten. Tatsächlich muß man die letztliche Abhängigkeit des Rechts von der Gesellschaft anerkennen. Keine andere Ansicht ergibt einen Sinn. Römisches Recht paßte zur römischen Gesellschaft; mittelalterliches Recht war mittelalterlich; islamisches Recht war islamisch; das sowjetische Recht ist auf das entsprechende Gesellschaftsmodell zugeschnitten. Die Rechtstradition vermag eine einzelne Entscheidung am besten zu erklären, doch kaum einen Trend oder eine Strömung. Wir erwähnten in Kap. I, daß verschiedene Rechtstheorien eigene Ansichten darüber hatten (oder implizit enthielten), woraus das Recht besteht und wie weit sein Herrschaftsbereich geht. Soziologische Rechtstheorien sind am geeignetsten für ganze Rechtssysteme und für lange Zeitspannen. Soziologische Theorien passen auch recht gut für Anordnungen und verwaltungsrechtliche Bestimmungen. Heikler ist der Fall für Juristenrecht und richterliche Doktrin. Anderseits erklären Geschehnisse und Vorstellungen gänzlich innerhalb des Rechtssystems gewisse untergeordnete und kurzfristige Rechtsakte recht gut. Doch was einleuchtend ist, mag zutreffen oder auch nicht. Wir vermuten, daß viele Teilrechtsänderungen an der Oberfläche' mehr rechtlich scheinen, als sie es würden, wüßte man, was sich darunter abspielt.

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Kap. VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

Die Quellen des Rechts im allgemeinen Jede Gesellschaft und selbst jede Gruppe braucht Wege, um Streitigkeiten beizulegen und wichtige Nonnen durchzusetzen. Wahrscheinlich braucht auch jede Gesellschaft Mechanismen, um Normen zu ändern und sie veränderten Situationen anzupassen. Wenigstens in diesem Sinne hat jede Gruppe oder Gesellschaft ein Recht. Anderseits haben viele einfache Gesellschaften weder Gerichte noch Richter oder Anwälte, ebensowenig die meisten Schulen, Unternehmen, Familien und Vereine. Ihnen fehlt ein Rechtssystem im Sinne von fonnellen Institutionen, die sich besonders verlegen auf Regeln, auf die Beilegung von Disputen und das Ausüben sozialer Kontrolle. Bei welcher Lebensstufe erscheinen formelle Institutionen? Gesellschaften kommen so lange ohne formelle Kontrollen aus, als informelle Kontrollen reibungslos wirken. Wenn das gesellschaftliche Leben sehr vielschichtig wird, kann die Allgemeinheit Nonnen nicht länger ausschließlich mittels fonnlosem Druck und eingebürgerten Nonnen durchsetzen. An diesem Punkt mag die Gruppe das Bedürfnis nach fonnellen Strukturen verspüren. Für die meisten Gemeinschaften sind die Quellen des Rechts in diesem Sinne in tiefer Vergangenheit versunken. In einer eindrücklichen Studie gibt uns Richard Schwartz einen flüchtigen Einblick in diesen Prozeßl4. Schwartz verglich zwei israelische Siedlungsformen, einen Moschav (Genossenschaft) und eine Kwuzah (eine kollektive Gemeinschaft). Der Moschav hatte eine fonnelle Rechtsstruktur, die Kwuzah nicht. In der Kwuzah wurden die Kinder gemeinsam erzogen und die Mahlzeiten in einem gemeinsamen Speisesaal eingenommen. Der Moschav war weniger ideologisch strukturiert: Die Mitglieder lebten und aßen mit ihren eigenen Familien in kleinen Häusern, abgeschinnt durch Buschzäune und Fruchtbäume. Der Moschav besaß ein Richterkollegium, das Streitigkeiten unter den Mitgliedern behandelte. Die Kwuzah kannte diese Einrichtung nicht; ihr Mittel zur Durchsetzung war die öffentliche Meinung - informelle Kontrollen. Im Moschav hatten sich informelle Kontrollen als wirkungslos erwiesen; die Mitglieder verspürten das Bedürfnis nach rechtlichen Kontrollen. Solche Kontrollen entwickeln sich denn - so Schwartz -, wo störendes Verhalten ohne die Hilfe des Rechts nicht hinreichend fonnlos kontrolliert werden kann. 14 Richard D. Schwartz: Social Factors in the Development of Legal Control: A Case Study of Two Israeli Settlements, 63 Yale L. J. 471 (1954). Eine interessante theoretische Abhandlung über den Fonnalisierungsprozeß des Rechts und seine Gründe findet sich bei Austin T . Turk: Legal Sanctioning and Social Control, 1972. Turk nennt den Prozeß "legalization".

Die Quellen des Rechts im allgemeinen

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Die Folgerungen aus dieser Studie sind offenkundig. Kleine Gemeinschaften kommen oft ohne formelles Recht aus. In diesen Gemeinschaften sind sich die Leute über die Normen im allgemeinen einig. Sie zeigen gemeinsame Loyalität gegenüber den Verhaltensnormen, die H. L. A. Hart Grundverbindlichkeitsnormen nannte15 • Wie klein die Gemeinschaft auch ist, informelle soziale Kontrolle w,irkt nicht ohne Konsens über die Normen. Wenn der Konsens zerfällt, kann die öffentliche Meinung (die peer group) die Regeln nicht durchsetzen und verirrte Schafe nicht bestrafen. Eine Gesellschaft ohne formelles Recht, die lediglich Grundverbindlichkeitsnormen kennt, braucht den Konsens, weil solche Normen - wie Hart ausführt - statisch (sie entwickeln sich zwar, doch können sie sich nicht rasch anpassen), unbestimmt (es gibt keine Mechanismen, um Zweifel über ihren Umfang und ihre Anwendung zu lösen) und unwirksam sind (es gibt kein Verfahren, um einen Streit ein für allemal beizulegen)16. Fehlt der Konsens über die Normen, kann er durch den Konsens über die normsetzende Instanz oder die Autoritäten - kurz: die Legitimität - ersetzt werden. So braucht eine Familie kein formelles Recht, wenn sich die Familienmitglieder über die Regeln einig sind oder wenn gänzliche übereinstimmung über die Autorität besteht - wenn beispielsweise die Kinder die Worte ihrer Eltern als Recht akzeptieren 17 • Informelle Systeme wirken also nicht in einer unausgewogenenzusammengesetzten Gesellschaft. (Hier stellt sich die Frage, wie gut formelle Systeme wirken.) Sie funktionieren nicht bei Klassenkämpfen oder bei stark streitsüchtigen ethnischen Gruppen. Sie spielen auch nicht in Gesellschaften mit Bevölkerungswechsel, wo die öffentliche Meinung keine Macht hat, und die gewarnten, bedrohten oder "erzogenen" Menschen schon morgen weit weg sind, ersetzt durch neue, unerfahrene und ungewarnte Bevölkerungsschichten. Der Polizeichef einer kleinen Gemeinde in Massachusetts mit 6 000 Einwohnern soll angeblich das Ausfällen von Verkehrsbußen nicht für notwendig halten; es genüge, den Verkehrssündern eine Strafpredigt zu halten und ihnen im Wiederholungsfall den Entzug des Führerscheins anzudrohen 18 • Doch in einer Großstadt mit vielen Fremden wirkt diese Taktik nicht. H. L. A. Hart: The Concept of Law, 1961, S. 89. Ders., S. 89 - 91; vgl. Stuart A. Schlegel: Tiruray Justice, 1970, S. 54 - 57. 17 Aus diesem Grunde existieren viele einfache Gesellschaften, die formeller Institutionen zur Durchsetzung entbehren, aber Vermittler oder andere Drittpersonen mit "Heiligkeit" ausstatten und deren Entscheide gläubig annehmen. Vgl. John H. Hamer: Dispute Settlement and Sanctity: an Ethiopian Example, 45 Anthropological Q. 232 (1972). 18 John A. Gardiner: Traffk and Police, Variations in Law Enforcement Policy, 1969, S. 147 f. 15

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Konflikt und Wettbewerb sind an sich nicht verhängnisvoll für die formlose soziale Kontrolle. Eine Gesellschaft kann so lange Konflikt und Wettbewerb haben und kontrollieren, als sich die Leute über Ziele und Mittel allgemein einig sind - über welche Dinge und auf welche Art man sich konkurrieren und streiten darf. So setzt die freie Marktwirtschaft beispielsweise harten Konkurrenzkampf voraus. Dies kann so lange ohne zu viele formelle Bestimmungen angehen, als sich die Kaufleute über die Spielregeln einig sind und darüber, was mit jenen geschieht, die diese Regeln verletzen. Wettbewerb ist, nach den Worten Vilhelm Auberts, ein Interessenkonflikt 19 • Zwei Unternehmer wollen z. B. einen Vertrag über die Lieferung von Stahl mit einem Brückenbauer abschließen. Sie konkurrieren miteinander, stimmen aber in den Wettbewerbsbestimmungen überein. Unterbieten ist zulässig, ebenso Werbung, Erpressung (gewöhnlich) nicht; des Gegners Fabrik zu bombardieren ist - wahrscheinlich genauso aus moralischen Gründen wiE' aus Angst VOr strafrechtlichen Sanktionen - nicht gestattet. Die beiden Unternehmer sind sich - ausdrücklich oder stillschweigend - auch darin einig, daß Bieten erlaubt ist, um zum Auftrag zu kommen. Sie akzeptieren den Wert des Spiels als Ganzes und seine Teile zusammen mit den es fördernden Institutionen. Ob informelle Systeme funktionieren, ist natürlich eine Frage des Mehr oder Weniger. Informelle Sanktionen haben selbst in komplexen Gesellschaften voller Uneinigkeit eine gewisse Wirkung. Tatsächlich könnte, wie wir angedeutet haben, ein Rechtssystem ohne gewisse Unterstützung durch soziale Gruppen kaum funktionieren. Die Frage lautet: Ist die Unterstützung durch die Gruppe so gut, daß formelle Sanktionen nicht benötigt werden? D. h. gewährleistet formloser Druck die Durchsetzung so weit, daß die Gemeinschaft sie als für ihren Bedarf gut genug erachtet? Die Beobachtungen von Schwartz fügen sich mit denen von Joseph Gusfield gut zusammen. Gusfield untersuchte die amerikanischen Alkohol- und Drogengesetze. Diese Gesetze waren das Produkt moralischer Kreuzzüge. Sie bewirkten starke Gegenbewegungen. Die Abweichler schlugen zurück; sie bedrohten die gesamte Legitimität der Normen. Diese Auseinandersetzung diente jenen als Ansporn, die das Bedürfnis nach einer symbolischen, gesetzlichen Umformulierung der umstrittenen Norm verspürten. Als die Auseinandersetzungen erbitterter wurden, wurden als Reaktion auf die Drohung mehr Alkoholgesetze erlassen. Diese Gesetzesaktivität war kein Zeichen eines Konsenses innerhalb 19 Vilhelm Aubert: Competition and Dissensus: Two Types of Conflict and Conflict Resolution, 7 J. Conflict Resolution 26 (1963). Ein Interessenkonflikt ist von einem Konflikt über Wertvorstellungen, Tatsachen oder Glauben zu unterscheiden. Siehe Kap. IX.

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der Gemeinschaft. Eher enthüllten die Rechtsnormen Sprünge im sozialen Panzer. Der Druck, Rechtsnormen aufzustellen, scheint am größten, wenn ein Konsens am wenigsten zu erzielen ist20 • Gusfields Ansicht erhellt einen wichtigen Prozeß. Man kann ihn beispielsweise bei der Schul gesetzgebung beobachten. Amerikanische Schulen kamen - im ganzen gesehen - mit wenigen formellen Regeln aus. Sie brauchten nicht viele Regeln, solange sich Schüler und Lehrer über die Grundwerte einig waren - oder über die Leitung übereinstimmten. Wenige Schulen hatten formelle Bekleidungsvorschriften. Die Schüler kleideten sich so, wie es von ihnen erwartet wurde. Doch dann begannen die Schüler, ihr Haar wachsen zu lassen und Hippie-Kleidung zu tragen. Einige Lehrer fühlten sich verletzt. Die Schüler begannen auch, weniger Ehrerbietung zu zeigen. Jetzt merkten Schulen und Schulbehörden, daß sie bestimmte Regeln festzulegen hatten. An diesem Punkt fing auch der Streit an, und langes Haar an Schulen wurde zur juristischen Streitfrage. Die Schulen hatten sich vorher über Verfahrensfragen - Verhöre, Regeln, Richter - niemals Sorgen gemacht. Disziplin war Disziplin, und Lehrer und Schulrektoren erfüllten ihre Aufgabe. Als die Disziplin nachließ, mußten die Schulen, teils unter Druck, auf ihre Formen und Formalitäten achtgeben 21 • Hier sieht man wiederum, wie formelles Recht und Rechtsinstitutionen an einem kritischen Punkt gediehen, halbwegs zwischen zwei "Naturzuständen" der Primärgruppe, kontrolliert durch formlose Mittel, und der Gesellschaft revolutionärer Anarchie, wo jeder macht, was ihm beliebt. Für Gesellschaften insgesamt ist keiner dieser beiden Pole üblich. Doch gibt es Kleingruppen und Subsysteme, die mit einem dieser Idealtypen übereinstimmen. Normen eines modernen Rechtssystems sind zur Hauptsache keine akzeptierten Normen; dies in zweierlei Hinsicht. Erstens gibt es Kulturgegensätze in jeder modernen Gesellschaft. Jedes Land hat ethnische Minoritäten oder wenigstens Klassen, Interessengruppen und verschiedene Bevölkerungsschichten. Einige Gesetze - über Ehebruch, Mord, Polygamie, Vergewaltigung - basieren auf akzeptierten Normen, doch selbst diese sind kaum universal. So bildete Polygamie in den Vereinigten Staaten einst eine brennende Streitfrage; heute ist sie ein Streitpunkt in afrikanischen Staaten mit moslemischen Minderheiten. Auch die Ansichten über Ehebruch gehen weit auseinander. Und einige Gruppen halten die Tötung aus Rache nicht für Mord. 20 Joseph R. Gusfield: Moral Passage: The Symbolic Process in Public Designations of Deviance, 15 Social Problems 175 (1967). 21 Vgl. auch den Fall der California Industrial Accident Commission, der bei Philippe Nonet: Administrative Justice, 1969, S. 174 - 175, beschrieben ist; hier mußten informelle Verfahren unter dem Druck von Interessengruppen durch mehr "legalistische" ersetzt werden.

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Kap. VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

Dazu kommt, daß in modernen Staaten buchstäblich Tausende von gesetzlichen Bestimmungen ausschließlich technischen Inhalts sind. So durfte unter amerikanischen Bundesbestimmungen kein Produkt als "ice cream" bezeichnet werden, wenn es nicht mindestens 10 Gewichtsprozente an Butterfett enthielt22 • Dieser Prozentsatz war kaum eine akzeptierte Norm. Es gab nicht einmal eine akzeptierte Norm, daß Eiscreme reichhaltig, geschmackvoll und fetthaltig zu sein hatte. Die Bestimmung über den Fettgehalt war natürlich nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Ihre Vertreter gründeten ihre Entscheidung auf bekannte Kriterien. Diese Kriterien beruhten wahrscheinlich auf weitgehender Einigkeit. Zweifellos sind die Leute im allgemeinen der Ansicht, daß Nahrung bekömmlich und vollwertig sein sollte, daß Nahrungsmittelhersteller die Öffentlichkeit nicht betrügen sollten, daß die Regierung das Recht und die Pflicht hat, die Industrie an diese Grundsätze zu binden, und daß sie sich bei der Nahrungsmittelgesetzgebung wissenschaftlicher Methoden bedienen sollte. Gleichzeitig aber sind diese Grundsätze nicht präzis, detailliert und konkret genug, um jedes Einzelproblem zu lösen. Niemand könnte aus ihnen den genauen Prozentsatz an Butterfett ableiten. Dieser ergibt sich nicht einmal aus einer wissenschaftlichen Norm. Der Ausdruck akzeptierte Norm scheint sich auf einen moralischen Grundsatz zu beziehen, der inhaltsbezogene Legitimität hat. In Wirklichkeit aber weisen die meisten Bestimmungen diese Qualität nicht auf - oder zumindest nicht in genügendem Maße, um den Halt zu haben, der bei einer akzeptierten Norm vorausgesetzt wird. Die Leute glauben, Nahrung sollte gesund sein, und sie stimmen darin überein, daß Cyclamate aus Diät-Mineralwasser verbannt werden sollten, doch nur falls diese Stoffe tatsächlich eine Gefahr für die Gesundheit darstellen. Man wird die Regeln unterstützen und biUigen, wenn man Vertrauen in die rechtssetzende Instanz hat und in den Weg, wie die Regeln zustandekamen, soweit man ihn kennt. Der Inhalt der Regeln ist keineswegs akzeptiert oder gar universal. Im Gegenteil: Diese Regeln sind oftmals umstritten oder - wie die Alkoholgesetze - aus einer Konfliktsituation heraus entstanden. Formelles Recht setzt die Konfliktsituation voraus; moderne Gesellschaften erfüllen dieses Kriterium leicht. Es besteht kein Zweifel, daß Recht im formellen Sinn in modernen Gesellschaften existiert; es ist sogar eine überwältigende soziale Tatsache. Für diese Gesellschaften können wir also von der allgemeinen zur spezifischen Frage übergehen - zu den Quellen der Rechtsakte.

22

21 C.F.R. 20.1 (a).

Die Quellen des Rechts im besondern

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Quellen des Rechts im besondem Jede Form soziologischer Rechtstheorie enthält ein fundamentales Prinzip: Das lebendige Recht, beobachtet im Querschnitt zu irgendeinem Zeitpunkt, zeigt die Prägung jener sozialen Kräfte, die tatsächlich auf das Rechtssystem einwirkten. Jeder neue Rechtsakt resultiert aus jenen sozialen Kräften, die sich bemühten, ihn zu erwirken, zu verhindern oder zu ändern, und reflektiert sie auch. Wo das Kräftependel zugunsten der Veränderung ausschlägt, findet sie statt; wo nicht, bleibt der alte Systemzustand. Allgemein ausgedrückt: Ein Blick auf das Recht als Ganzes oder auf einen wesentlichen Teil ist gleichsam wie ein Querschnitt durch die Erde; Steine und Fossilien zeigen, welche Kräfte die Landschaft formten. Wenn wir einen bestimmten Teil des Rechtsverhaltens - beispielsweise ein wesentliches Gesetz - analysieren, können wir den Kern klarer erfassen. Ein komplexes Gesetz kann in kleinere Teile zerlegt werden, wovon sich jeder zu einer Ja-Nein-Entscheidung eignet. Kleine, nicht weiter zerlegbare Teile scheinen Entweder-Oder-Entscheidungen zu sein. Es kommt zur Abstimmung; eine Seite gewinnt, die andere verliert. In Wirklichkeit aber existieren die Teilchen nicht isoliert; die eir-zeInen Stücke stehen in einer Wechselbeziehung. Einzelakte sind Teil einer Kette; gegenseitige Absprachen und Kompromisse sind immer möglich. Ein wichtiges, seitenlanges Gesetz kann vom Gesetzgeber in kleinere Abschnitte aufgeteilt und jeder Abschnitt getrennt der Abstimmung unterstellt werden. Bei der Schlußabstimmung steht oder fällt dann das Gesetz als Ganzes, doch jede starke Minorität hat es durch Zusatzartikel, Änderungen und Kompromißbestimmungen beeinflußt. Die Endfassung wird nicht allein zeigen, welche Gruppe die Oberhand behielt; sie wird auch den Einfluß der Verlierer zum Ausdruck bringen, soweit diese Macht zur Einflußnahme hatten und sie auch ausübten. Die Endfassung wird zeigen, wer das Spiel spielte, wie stark die Spieler waren, und in welchen Teams sie mitwirkten. Ein Hauptpunkt soziologischer Rechtserklärung sollte hervorgehoben werden. Soziale Kräfte in ihrer Abstraktheit erwirken kein Recht. Sie müssen durch Erheben von Forderungen auf das System wirklich einwirken. Wer die Sozialstrukturen einer Gesellschaft kennt, kann daraus das Rechtssystem noch nicht ableiten. Unter die Sozialstruktur, die sozialen Kräfte und das Recht mischt sich eine komplexe kulturelle Variable. Wir nennen sie kurz Forderung. Mit anderen Worten, bloße Kräfte und Interessen machen kein Recht; was Recht bewirkt, sind Kräfte und Interessen, die Forderungen ausdrücken. Eine Gruppe kann Macht haben, doch beschließen, sie nicht 11 Friedman

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Kap. VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

anzuwenden; sie kann auf die Verfolgung ihres wahren Interesses (wie andere es sehen) verzichten. Macht und (objektives) Interesse sind für das Recht irrelevant, bis sie sich zu Forderungen verdichten. Hier hat die Ideologie eine entscheidende Wirkung auf das Recht. Die Arbeiterklasse hatte im 19. Jahrhundert in vielen Ländern das Wahlrecht. Sie hätte sich in Machtpositionen wählen und das Einkommen neu verteilen können. Das schienen ihre wichtigsten Interessen. Selbstverständlich gab es viele Gründe, weshalb eine solche Revolution nicht stattfand, doch einer könnte der gewesen sein, daß viele Arbeiter die herrschenden Ansichten ihrer Zeit zutiefst teilten. Viele waren überzeugt, daß nur eine Marktwirtschaft dauernden Wohlstand bringen konnte. Sie war die Gans, die goldene E1er legte. Es gab verbreitete Auffassungen über die praktischen und moralischen Grenzen von Forderungen. Diese Auffassungen, welches auch immer letztlich ihre Gründe waren, übten kurzfristig eine starke Wir~ung auf die Forderungsstrukturen aus. Auffassungen und Ideale bewegen die Menschen. Sie formen die ganze Art, wie Menschen ihre Interessen sehen. Sie ändern letztlich die Regierungs- und Rechtsstruktur und prägen die Rillen, in denen die Interessenvorstellungen verlaufen. Die Menschen meinen, ihren Idealen folgen zu müssen. Sie glauben auch, sie sollten ihre Interessen in idealistische Verkleidung stecken. So redete man über die Rechte der Bundesstaaten, über Dezentralisation, staatliche Kontrollen der Schulen, Abschaffung der Geschworenengerichte oder deren Erweiterung usw. als echte Rationalisierungsmaßnahmen. Was man jedoch wollte, waren besondere Ergebnisse, die man nicht immer offen zugeben konnte. Politiker sprachen von den Rechten der Bundesstaaten, als s1e die Schwarzen in ihrer untergeordneten Stellung halten wollten, und die Zuhörer verstanden. Doch das Debattieren mit solchen Ausdrücken könnte einige Leute beeinflussen, besonders noch unentschiedene. Schließlich haben Auffassungen und Ideale Macht, weil sie zwischen objektiven Interessen und tatsächlichen Forderungen stehen. Jemand kann die Macht zu Veränderungen haben, doch diese wegen Ansichten und Idealen nicht ausüben. Soziologische Rechtserklärungen setzen daher die Existenz von Interessen voraus, die zu Forderungen umgewandelt werden und dann im Rechtssystem Reaktionen hervorrufen. Es ist die Rechtskultur, die über die Umwandlung von Interessen in Forderungen bestimmt. Die Reaktion im System hängt von der Struktur des Rechtssystems selbst (wir wollen dies strukturelle Variable nennen) und von der Struktur der gesellschaftlichen Umgebung ab, d. h. von der Verteilung von Macht und Einfluß. Die Rechts~ultur wird in Kap. VIII behandelt. Wir wollen

Ein Interessenkatalog

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nun kurz auf die Interessen und die strukturelle VariabLe eingehen. In Kap. VII behandeln wir dann Macht, Einfluß lund die Beziehung zwischen Recht und Klassenstruktur. Ein Interessenkatalog Wir haben summari:sch von Interessen gesprochen, ohne klarzustellen, was wir darunter verstehen. Interessen kommen in verschiedenen Typen und Formen vor 23 • Erstens gibt es direkte Interessen, hauptsächlich wirtschaftlicher Art. Eine Person hat ein direktes Interesse an jedem vorgeschlagenen Rechtsakt, der ihr Geld einbringt oder wegnimmt. Wenn der Kongreß eine einprozentige Steuererhöhung vorschlägt, um die Pensionen für Kriegsveteranen sicherzustellen, hätte ein Kriegsveteran ein direktes (negatives) Interesse wegen der Steuerlast und ein direktes (positives) Interesse an der Pension. Sein positives Interesse wird wahrsch,einlich das negative bei weitem überwiegen. Je größer das direkte Interesse ist, desto eher wird jemand soziale Kraft für oder gegen einen vorgeschlagenen Rechtsakt ausüben. Es gibt direkte Interessen, die weniger ausgesprochen ökonomischer Art sind. Individuen und Gruppen unterstützen Maßnahmen, die ihre Macht, ihr Prestige und ihr Gefühl auf Wohlsituiertheit fördern; dies sind Institutions-, Bürokratie- oder Status-Interessen. Juden, Unternehmer, Schwarze, Schauspieler - jede Gruppe - neigen dazu, Maßnahmen zu unterstützen, die für andere Juden, Unternehmer usw. vorteilhaft sind, auch wenn sie selbst keinen Gewinn daraus ziehen. Andere Interessen sind viel indirekter. Keine scharfe Linie trennt ein direktes von einem indirekten Interesse. Eine Stadt stellt einen Stadtreformplan auf. Ein Bauunternehmer hat ein direktes Interesse, einen Vertrag zum Bau eines Appartement-Hauses zu erhalten. Er hat ganz allgemein ein indirektes Interesse am Reformplan, weil er Unternehmern helfen, die Wirtschaft anJmrbeln und seine Stadt beleben wird. Er mag keine Garantie haben, daß er das Geschäft tatsächlich zugeschieden erhält. Selbst ein kühler Rechner hat Schwierigkeiten mit indirekten Interessen; sie sind schwierig abzuschätzen. Der Bauunternehmer weiß, daß er Steuern für die Finanzierung der Reform bezahlen muß. Dies ist ein direktes Interesse und spricht gegen den Plan. Die Vorteile sind latent und entfernt. Wie kann er wissen, wie Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen sind? Alle andern Interessen nennen wir Reforminteressen. Ein Reformer ist eine Person, die Energie für etwas aufwendet, woran sie keinerlei 23 Vgl. Lawrence M. Friedman: Government and Slum Housing: A Century of Frustration, 1968, S. 184 - 186.

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persönlichen Vorteil hat - weder ein direktes noch ein indirektes Interesse. In modernen Gesellschaften ilst das Reforminteresse allgemein verbreitet und wesentlich. Nichtsdestoweniger meinen wir, daß als Faustregel für die große Mehrheit der Menschen und in den meisten Fällen gilt, daß direkte Interessen stärker sind als indirekte, Reforminteressen schwächer als direkte und vie1e indirekte. Selbst Reformer können sich nur einem oder zwei Reformgebieten widmen; auf den andern bestimmen die direkten Interessen weiterhin. Für den tagtäglichen Lauf der Menschheit ist Reform ein Luxus, den sich nur wenige leisten können: "Die Erfahrung zeigt, daß ein Gesetzentwurf, der die Alkoholverkaufsgeschäfte abschaffen will, von den Eigentümern dieser Geschäfte bekämpft wird. Wenn ein Vorschlag zur Errichtung einer 8spurigen Alutobahn durch Manhattan gemacht wird, werden Ladenbesitzer, die ihre Geschäfte verlieren würden, dagegen opponieren, selbst wenn die Autobahn langfristig ,gut für die Wirtschaft' ist. Ein Arbeiter einer Kupfermine, der aus ideolog,ischen Gründen gegen den Krieg ist, wird möglicherweise die staatliche Lagerhaltung von Kupfer ,~u Verteidigungszwecken' unterstützen, wenn dies bedeutet, daß sein Arbeitsplatz gesichert wird"24. Diese Beobachtungen gelten als allgemeine Regel. Interessen sind nicht immer offenkundig. Die Menschen können über ihre persönlichen Interessen völlig im unklaren sein - und sind es vielfach auch. Sie mutmaßen über ihre Interessen; vielfach raten sie falsch. Soll Kalifornien die Elektriker staatlich lizenzieren? Soll in Nordminnesota ein Nationalpark errichtet werden? Sollen die Vereinigten Staaten das metrische System einführen? In jedem dieser Fälle haben nur wenige ein ausgeprägtes direktes Interesse - die Elektriker in Kalifornien, die Landeigentümer in Nordminnesota, die Herausgeber mathematischer Fachbücher. Die Interessen anderer bestehen zwar, sind aber sehr gering. Der Park würde etwas Steuergeld kosten; viele Menschen werden ihn vielleicht besuchen und sich ergötzen. Lizenziert Kalifornien die Elektriker, dürften die Installationskosten steigen. Das metrische System würde die Gewohnheiten einer Generation ändern, wäre aber langfristig einfacher und würde sich positiv auf den internationalen Handel auswirken. In Wirklichkeit würden sich Leute, die an diesen Plänen wenig oder kein Interesse haben, darum nicht kümmern. Ein Kongreßmitglied aus Florida wird das Recht - und die Pflicht - haben, über den Park in Minnesota abzustimmen. Er mag dabei der Parteilinie folgen oder mit der Delegation aus Minnesota über ein Gesetz verhandeln, das Florida betrifft, oder so oder anders stimmen, um sich künftigen Kredit zu ver24

Lawrence M. Friedman: Government and Sium Housing, 1968, S. 186.

Ein Interessenkatalog

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schaffen. Die Leute, die den Park sehr wünschen, bilden eine Minderheit; um zu gewinnen, müssen sie verhandeln und sich um eine MehrheitskoalitJion bemühen. Dasselbe trifft auf die Leute zu, die dagegen sind. Wo ein Fall eine kleine Minderheit direkt betrifft, haben Parteigänger und Reformer eine besondere Gelegenheit und Rolle. Sie versuchen, die Neutralen- jene mit brachliegender Macht und ungenutztem Einfluß zu überreden, ihre Mittel für diese oder jene Seite einzusetzen. Einige Neutrale sind Leute, die zwar meinen, das Gesetz werde -s ie betreffen, die aber nicht sicher sind, ob die Wirkung gut oder schlecht sein wird. Andere sehen so oder anders für sich keine Vorteile. Parteigänger und Reformer werden versuchen, die erste Gruppe vom Zaun herunterzulocken und die zweite aufzurütteln. Sie mögen eine Mischung aus moralischen und ökonomischen Argumenten verwenden. Sie werden den Leuten zeigen, was das Gesetz für sie bedeuten könnte. Sprecher für die Elektriker werden behaupten, die Öffentlichkeit erhalte bessere elektrische Installationen, wenn das Lizenzierungsgesetz erlassen werde. Naturschützer werden über das Bedürfnis nach Wildnis, freien Räumen und Nationalparks sprechen. Von anderer Seite mag man von arbeitslos gewordenen Holzfällern hören. Gewerkschaften mögen sich der Solidarität wegen oder zwecks künftiger Unterstützung durch die Holzarbeiter auf deren Seite stellen. Allgemein werden die Argumente darauf zielen, den schlafenden Riesen - unerkannte Wahrnehmung latenter Interessen - zu wecken. Diese Bemühungen gehen unaufhörlich weiter. Sie sind Teil des Lebenszyklus der meisten Gesetzgebungen. Der Erlaß eines Gesetzes ist nur der Beginn. Gesetzesdynamik wirkt auch fort, wenn ein Gesetz schon lange erlassen ist. Reformer und Parteigänger wecken Erwartungen und Interessen, wovon jedoch v;iele diffus und unstet sind. Die Argumente sind übertriebene Schätzungen. Recht erweist sich in der Praxis oftmals als sehr verschieden von den glitzernden Versprechungen und der farbenprächtigen Verpaclmmg. Die Realität setzt neue Kraftfelder frei. Die Leute verlangen Lohn-PreIs-Kontrollen zur Bekämpfung der Inflation. Ein Gesetz wird -e rlassen, doch Engpässe treten auf, und der Schwarzmarkt blüht. Nun wird die Änderung oder Aufhebung des Gesetzes verlangt. Viele meinten, die Prohibition sei eine ausgezeichnete Idee; ,i n der Praxis erwies sie sich als Monster. Die Menschen ändern gewöhnlich auch ihre Ansichten darüber, wo ihre Interessen liegen. In den Vereinigten Staaten zog die Stadtreform ihre politische Kraft aus den Erwartungen der gehobenen Mittelschicht, daß solche Pläne neues Leben in ihre Städte bringen werde. Die Straßen würden zum Gehen sicher sein, die toten Stadtteile zu neuem Leben

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erwachen und die Armenviertel verschwinden. Doch als sich herausstellte, daß ihre Nachbarschaft möglicherweise zerstört würde, wandten sich viele, die den Plan unterstützt hatten, der Gegenseite zu. Die Qualität eines Kuchens zeigt sich schließlich erst beim Essen 25 • Andererseits entwaffnen viele Programme, die vor der Inkraftsetzung heftig umstritten waren, die Opposition danach aus dem einfachen Grund, daß der Himmel nicht einstürzt. Die Bestimmungen erweisen sich als nicht beschwerend; Neuheiten werden zu Gewohnheiten. In Schweden sprachen sich bei einer Abstimmung im Jahre 1955 82,9 (J/o der Stimmenden gegen den Wechsel vom Links- zum Rechtsverkehr aus. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen vollzog man den Wechsel, er wurde zum fait accompli, die Knitik nahm ab. Offenkundig wird man mit der Zeit weniger und weniger über die alte Fahrweise hören2ti • Dazu kommt, daß die soziale Kraft, die das Recht erwirkt, selbst recht flüchtig ist. In jeder Gesellschaft liegt eine ungeheure Menge an sozialer Energie brach. Innerhalb gewisser Grenzen kann diese Energie aber durch feurige Reformer mobilisiert oder durch einen Skandal oder ein anderes Ereignis zum Leben erweckt werden. Brutale, abscheuliche Verbrechen lösen die Forderung nach harteren Gesetzen aus 27 • Wenn das Geschrei verhallt, treten sehr unterschiedliche Dynamiken auf. Aus vielen Gründen verläuft der Weg der Rechtsentwicklung nicht geradlinig. Es gibt wenige gerade Linien und selbst wenige langgezogene Kurven. Ungleichmäßige Entwicklung bedeutet aber nicht, daß Rechtsinstitutionen für soziale Kräfte 'unempfänglich sind. Sie sind im Gegenteil äußerst empfänglich und empfindsam. Diese Empfänglichkeit läßt die Entwicklung einen Zick-Zack-Kurs einschlagen, der die Komplexität und den ständigen Wandel des s02Jialen, politischen und ökonomischen Lebens widerspiegelt.

25 Zwei Wissenschaftler untersuchten die Einstellung gegenüber einer Mehrwertsteuer in Holland. Eine geringe Mehrheit der erfaßten Personen befürwortete das Gesetz vor seiner Inkraftsetzung. Doch später waren viele darüber erbittert. Die Regierungskampagne zum Ankurbeln der Unterstützung für die Steuer war erfolgreich gewesen, doch der Einfluß erhöhter Kenntnis verliert seine Bedeutung und Kraft, wenn die tatsächlichen Auswirkungen des Gesetzes spürbar werden; Cees J. M. Schuyt und Joop C. M. Ruys: Die Einstellung gegenüber neuen sozialökonomischen Gesetzen, in: Zur Effektivität des Rechts, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd.

3, 1972, S. 565, 582.

26 Vgl. die Auseinandersetzung bei Britt-Mari P. Blegvad und Jette Moller Nielsen: Recht als Mittel des sozialen Wandels, in: Zur Effektivität des Rechts (N. 25), S. 430. 27 Edwin H. Sutherland: The Diffusion of Sexual Psychopath Laws, 56 Am. J. Sociology 142 (1950). '

Die strukturelle Variable

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Die strukturelle Variable Wenn wir sagen, soziale Kräfte machen das Recht, meinen wir nicht, daß ein bestimmtes Recht, Wort für Wort, das einzig mögliche Produkt oder Resultat der sozialen Kräfte ist. Zufall und Wahl wirken innerhalb gewisser Zwänge - auferlegt durch soziale Kräfte - weiter. Soziologische Theorien führen hauptsächlich bei langfristigen Strömungen und Rechtsakten, die die größte soziale Wirkung aufweisen, zu befriedigenden Antworten. Untergeordnete und kurzfristige Geschehnisse mögen nach untergeordneten, kurzfristigen Erklärungen rufen. Einige davon können strukturell sein, und selbst der Zufall kann zu Hilfe genommen werden. Wenn die Frage lautet, warum der Kongreß gestern kein nationales Gesundheitsgesetz erließ, ist es gerechtfertigt, darauf hinzuweisen, daß gestern Sonntag war und der Kongreß nicht tagte. Es ist nicht nötig, das Großunternehmertum, Ärzte-Gruppen oder gar die Rechtsdoktrin zu bemühen 28 • Kurzfristig drücken Form und Struktur des Rechtssystems, die strukturelle Variable, den Geschehnissen den Stempel auf. Nur langfristig fällt sie als kausaler Faktor weg. Aus diesem Grunde ist die Zeit eine wichtige Variable in der Hechts- und Gesellschaftstheorie. William F. Ogburn, der in den 1920er Jahren schrieb, vertrat die Ansicht, daß oftmals, wenn ein Teil der Kultur ändert (beispielsweise infolge neuer Technologie), andere Teile der Kultur nicht unmittelbar mithalten. Es entsteht eine Periode der Verzögerung oder Wiederanpassung. Ogburn stellte z. B. eine fünfzigjährige Verspätung zwischen der Zeit fest, als das Problem der Arbeitsunfälle auftauchte, und der Zeit, als Schadenausgleichsgesetze in den Vereinigten Staaten erlassen wurden. Während dieser Zeitspanne überlappte die alte ... Kultur ... nach Änderung der materiellen Bedingungen29 • Viele - mit dem Recht vertraut oder nicht - stimmen darin überein, daß das Recht oder einzelne Teile der Zeit hintan, archaisch und in aktuell sind oder sein können. Daher lautet die allgemeine Bemerkung, daß der Unterschied der Rechtsstruktur besonders bei der Verzögerung von Veränderungen wesentlich sei. Wenn jedoch die Grundstruktur der soziologischen Theorie richtig ist, müssen wir gegenüber jeder Hypothese über kulturelle Verspätung des 28 Obwohl die Tatsache, daß der Kongreß den Sonntag einhält, letztlich nach einer sozialen Erklärung ruft. 29 William F. Ogburn: Social Change with Respect to Culture and Original Nature, 1950, S. 199 - 280; vgl. auch Yehezkel Dror: Law and Social Change, 33 Tulane L. Rev. 787 (1959); Lawrence M. Friedman und Jack Ladinsky: Social Change and the Law of Industrial Accidents, 67 Colum. L. Rev. 50, 72 - 77 (1967).

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Rechts skeptisch sein. Nicht, daß die Idee der kulturellen Verspätung gänzlich unnütz ist. Sie drückt einen moralischen Gesichtspunkt aus. Sie beschreibt Verzögerungen und Hindernisse für Lösungen, die nach Ansicht ihres Vertreters fairer oder gerechter wären. An dieser Auffassung ,ist nicht der moralische Ton falsch, sondern die Annahme, daß etwas im Rechtssystem, etwas Strukturelles, einige lose Bolzen in der Gesetzesmaschinerie das System unempfänglich oder naturgemäß langsam für Veränderungen machen und es von der Anpassung an gesellschaftliche Forderungen abhalten. Dies zu vertreten heißt, ein Bild des Rechtssystems als eine Art Hindernis heraufzubeschwören, das Bild eines schwergewichtigen Mannes, der auf der Straße zusammengebrochen ist, den Verkehr blockiert und zu schwer zum Wegtragen ist. Darin steckt ein Stückchen Wahrheit, doch nur ein kleines. Nicht das Rechtssystem selbst, nicht die Struktur oder das Netzwerk von Rechtsbegriffen hält "veraltete" Gesetze lebendig, verhindert Kontrollen über Lärm oder Rauch, bewahrt die Klassenstruktur und hält ein unmenschliches Strafvollzugssystem aufrecht, sondern es sind reale Kräfte, reale Menschen - die konkrete Opposition von Interessengruppen, die sich durch das oder im Rechtssystem ausdrückt. Jede soziologische Rechtstheorie muß bei der Zuordnung von Begriffen wie unempfänglich zum Rechtssystem oder ZlU einzelnen Teilen davon sehr vorsichtig sein. Es ist unschwer aufzuzeigen, daß das System sehr schnell und empfänglich ist, wenn niemand im Wege steht. In den Vereinigten Staaten wird der Kongreß oft als engstirnig und in seinen Strukturen immobil bezeichnet. Doch im Dezember 1941, als die Japaner Pearl Harbor angriffen, erklärten beide Abgeordnetenhäuser den Krieg mit unglaublicher Schnelligkeit - nicht in Jahren, Monaten oder Tagen, sondern in Stunden. Diese Schnelligkeit zeigt, daß die Struktur unter idealen Bedingungen unwesentlich sein und der Hemmschuh des Rechtssystems, sein Widerstand gegen gesellschaftliche Änderungen, wie Butter zergehen kann. Welches sind diese Bedingungen? Grundsätzlich: wo keine Opposition ist. Wenn die gesamte Kraft auf ein Ziel gerichtet ist, zerbröckeln die Strukturen; oder besser: auch sie wirken auf das eine Ziel hin. Ein Konsens unter den Mächtigen kann nicht gestoppt werden. Die Strukturen können sich nicht dazwischenstellen und tun es auch nicht. Welche Rolle spielt also die Struktur des Rechtssystems? Man kann sie im weitesten Sinn mit dem Seil beim Tauziehen vergleich'en. Angenommen, zwei Teams ziehen am Seil, jedes an einem Ende. Das stärkere Team zwingt das schwächere gegen seinen Willen nach vorn. Das Seil bewirkt diese Bewegung nicht. Es ist nur ein Instrument, ein Mittel. Sicherlich könnte das Spiel ohne Seil nich,t stattfinden; es ist das Me-

Die strukturelle Variable

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dium, durch das die Kraft fließt. Das Rechtssystem ist ein solches Medium. Extreme soziologische Theorien behandeln das Rechtssystem als einen Kanal, ein Medium, eine Art durchlässige Membrane. Gesellschaftliche Forderungen fließen auf einer Seite hinein, Rechtsakte, Rechtsverhalten bewirkend, kommen auf der andern Seite heraus. Das Medium beeinflußt das Ergebnis oder die Meldung nicht. Die klassische Rechtstheorie neigte zu einer überschätzung des Rechts als unabhängige Variable wenigstens in zweierlei Hinsicht: erstens als ein System, das seine eigenen Wertvorstellungen und Formen auf die Außenwelt übertrug; zweitens als ein System, das die durchfließenden Energien ablenkte und zerstörte. Niemand bestreitet jede eigene Kraft des Systems. Kurz- und mittelfristig muß die strukturelle Variable von Bedeutung sein. Selbst das Seil in unserer Metapher des Tauziehens hatte eine Funktion, und seine physisch,en Eigenschaften - Rauheit, Dicke, Materialart - beeinflußten die Chancen der Spieler. Das Rechtssystem stellt eine Struktur dar, durch welche Forderungen in Regeln und Entscheidungen umgesetzt werden. Es ist wie eine Art umgekehrtes Prisma. Es nimmt die verschiedenen Lichtfarben, die Regenbogenfarben, auf und wandelt sie in ein einziges weißes Lichtbündel um. Dies jedoch sind Metaphern. Selbstverständlich hat die Rechtsstruktur eine Bedeutung. Wie groß diese ist, wissen wir allerdings nicht genau. Fände man zwei Gesellschaften, deren gesellsch,aftlich.e Forderungen an das Rechtssystem identisch, deren Strukturen aber verschieden wären, und stellte man verschiedene outputs und Wirkungen fest, könnte man sie der Struktur zuschreiben. Solche Gesellschaften aber gibt es nicht. Die Strukturen selbst resultieren aus der Geschichte, Kultur und Tradition, d. h. aus vergangenen und gegenwärtigen sozialen Kräften. Wo die gesellschaftlichen Forderungen identisch sind, sollte die Struktur allmählich zu ähnlichen Formen finden. Strukturen ändern sich, kurz gesagt, mit der Gesellschaft und beeinflussen sich ständig gegenseitig mit andern Kräften, andern Institutionen. Die Menschen haben nebst den Interessen auch Wertvorstellungen. Die Struktur mag den Wertvorstellungen an strategischen Punkten kurz- und mittelfristig freie Herrschaft gewähren. Ein Kongreßabgeordneter stimmt aus ethischen Gründen für ein Gesetz, selbst wenn es den Wählern 2Jutiefst zuwdder ist. Dieser Kongreßabgeordnete ist nicht ein bloßes Medium. Betrachteten wir seinen sozialen Hintergrund genau ge.., nug, fänden wir vielleicht heraus, daß seine Wertvorstellungen das überbleibsel alter, verborgener und erstarrter Interessen oder Einflüsse sind. Auf jeden Fall stellt sich die Frage, wie oft Kongreßabgeordnete im öffentlichen Interesse und nach ihrem Gewissen handeln und wie

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oft als gewiegte Politiker mit Blick auf die nächsten Wahlen. Langfristig werden die guten Medien wiedergewählt. Wer zu mutig vorgeht, verliert seinen Sitz; kurzfristig aber erlaubt die Struktur viele Abtrifts. Die Untersuchung der strukturellen Variablen stellt daher einen wesentlichen Teil der Untersuchung über das Rechtsverhalten dar. In der einen oder andern Gestalt erscheinen diese Fragen in der Literatur: Welchen Unterschied macht der Föderalismus? Welches ist die Wirkung eines aktivistischen Gerichts? Welches die einer Legislativen mit nur einer statt zweier Kammern? Welches die eines durch Juristen beherrschten Verwaltungsdienstes3°? Welches die von Kollegialgerichten im Verhältnis zu Einzelrichtern? Es hält schwer, mehr als reine Spekulationen anzustellen. Experimente sind selten und schwierig. Es gibt so viele Faktoren, die hartnäckig darauf bedacht sind, die Kristallkugel zu vernebeln. Es existieren aber einige VeI'suche; so verglich z. B. ein Team der Universität von North Carolina mittels gestellter Prozesse das Zweiparteienverfahren mit dem inquisitorischen Verfahren31 • Die meisten dieser Untersuchungen erstrecken sich auf einen Teil oder ein Element der Rechtsstruktur. Das Rechtssystem eines Landes besteht aber aus zahllosen Strukturelementen. Föderalismus z. B. ist ein Strukturbündel; dasselbe gilt beispielsweise bei einem Vergleich zwischen dem französischen Rechtssystem und dem System Englands oder J apans. Ganze Bücher sind über solche stI'ukturellen Variablen wie Föderalismus geschrieben worden. Eine bescheidene Aussage kann gemacht werden: Föderalismus ist beides, Grund und Wirkung. Er ist sicherlich eine Wirkung der Kultur, besonders soweit er ein gelebter Organismus ist. Föderalismus kann aber auch eine Tatsache sein; seine Ideen und Formen werden Teil des gemeinsamen Grundstocks von Glauben und Erwartungen. Die Menschen nehmen das föderalistische System an und handeln danach, weil sie etwas anderes unbegreiflich finden. Struktur wird, kurz gesagt, Brauch und Gewohnheit. Dies bedeutet, daß die Schwelle zu Zweifel und Rebellion um so höher ist. Wir erwarten, daß der Föderalismus in den Vereinigten Staaten überlebt und das Leben beeinftußt: Doch wie? Und wie stark? 30 Gerhard Brinkmann: Die Diskriminierung der Nicht-Juristen im allgemeinen höheren Verwaltungsdienst der Bundesrepublik Deutschland, Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft, Bd. 129 (1973), 150, stellte diese Frage für Westdeutschland. Er behauptet, dies mache einen wesentlichen Unterschied aus; doch er bringt keine Beweise für diesen besonderen Punkt. über die Wirkung oder Wirkungslosigkeit von Juristen auf die Gesetzgebung vgl. Heinz Eulau und John D. Sprague: Lawyers in Politics, A Study in Professional Convergence, 1964. 31 John Thibaut, Laurens Walker und E. Allan Lind: Adversary Presentation and Bias in Legal Decisionmaking, 86 Harv. L. Rev. 386 (1972).

Die soziologische Rechtstheorie: Einige Fragen und Antworten

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Innerhalb jedes Rechtssystems haben lebende Institutionen und Strukturen ihre Geschichte und bedeuten den Menschen etwas. Diese Bedeutungen ändern, von einigen traumatischen Ausnahmen abgesehen, nur langsam. Der Supreme Court der Vereinigten Staaten ist eine strukturelle Tatsache, eine Institution mit Körper und Form; er hat soziale und psychologische Grenzen und ist kurzfristig sicherlich nicht unbeschränkt formbar. Dies deshalb, weil soziale Bedeutungen an jeder Struktur hängen. Der Supreme Court bedeutet Würde des Rechts, Marmorsäulen, Roben, Prestige, ein Konzept, ein Image. Strukturen haben sozial-psychologische und kulturelle Grenzen. Deshalb mag es kurzfristig Konsequenzen haben, wenn eine Aufgabe von einer Institution auf eine andere übertragen wird - wenn die Fälle der Frachtgebühren von den Gerichten auf die Interstate Commerce Commission übertragen werden. Nichts Gerichtsspezifisches macht die Gerichte für diese Aufgabe ungeeignet. Die Kommissionsmitglieder wissen über Eisenbahnen besser Bescheid, doch könnten Richter dies auch lernen, wenn sie es versuchten oder gewohnt wären. Der Unterschied liegt in den sozialen Bedeutungen, die den Institutionen anhaften. Gerichte haben eine soziale Bedeutung, welche sie kurzfristig weder abschütteln wollen noch können. Dies ist mehr als nur eine Ettikettierung. Es ist eine Angelegenheit der Kultur, welche Richter und andere Juristen teilen und welche ihr Verhalten beeinflußt. Wenn die Gesellschaft die Aufgabe X der Institution Z überträgt, beabsichtigt sie damit gewöhnlich, einen Unterschied zu machen. Eine Art der Einwirkung sozialer Kräfte auf das Recht besteht darin, Funktionen von Gerichten zu Kommissionen, zur Polizei, zum Präsidenten und wieder zurück zu schieben. Die soziologische Rechtstheorie: Einige Fragen und Antworten Wenn die Metapher vom Seil die Rolle des Rechtssystems treffend beschreibt und der Begriff der kulturellen Verspätung nicht paßt, weshalb sind dann gegensätzliche Ansichten so weitverbreitet? Ein Grund liegt im alten Problem des Wortes Recht oder des Begriffs Rechtssystem. So wird von Recht oder Rechtssystem gesprochen, wenn nicht das Ganze, sondern nur ein Teil gemeint ist. Soziale Kräfte mögen eine unterschiedliche Wirkung auf verschiedene Rechtsakte - formelle Gesetze, Fallrecht und Verwaltungsverfügungen - haben. Das Rechtssystem als Ganzes wird recht genau die Verteilung der gesellschaftlichen Macht widerspiegeln, obwohl nicht jeder Teil des Rechtssystems selbst ein kleiner Spiegel der Gesellschaft zu sein braucht. Die Teile sind wie die Figuren auf dem Schachbrett; sie können verschiedene Bewegungen ausführen und unterschiedliche Rollen spielen. Deshalb können sie verschiedenen Herren dienen. Die Polizei hat ihre Anhänger, ebenso der

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Kap. VI: über den Ursprung von Recht und Gesetzen

Supreme Court, der Kongreß und der Präsident. Es ist nicht die Struktur, die diese anzieht; der output zählt. In den Vereinigten Staaten finden die Schwarzen z. B. den Supreme Court sympathischer als die weißen Bürgerräte der Südstaaten. Die Vorliebe der weißen Oberschicht ist umgekehrt. Beide Institutionen erlassen Rechtsakte. Ein zutreffendes Gesamtbild des Rechtssystems enthielte beide. Juristen aber sind hauptsächlich an Juristenrecht interessiert: in common-Iaw-Ländern vor allem an Gerichtsentscheiden; im kontinental-europäischen Raum an Gesetzbüchern und Kommentaren. Diese Gewohnheit ist ein natürliches Resultat ihres Lernens, doch es beeinflußt auch andere Wissenschaftler, die ihren Einblick in das Recht mittelbar durch juristische Fachbücher erhalten. Die Betrachtung des Rechts unter einem beschränkten Gesichtswinkel versperrt die Sicht auf die Beziehung zwischen Recht und Gesellschaft. Z.weitens muß sich der Begriff Rechtssystem auf das tatsächlich gehandhabte Rechtssystem beziehen, nicht auf das formelle. Es gibt sicherlich Verspätung im formellen Rechtssystem. In vielen Rechtssystemen finden sich leicht nutzlose überbleibsel aus der Vergangenheit. Doch was bedeuten sie? Ein führendes amerikanisches Werk über das Sachenrecht hält ausdrücklich fest, daß in einigen Bundesstaaten eine Form des im Mittelalter verbreiteten fee-taU noch existiert32 • Doch die Frage ist: Wie existiert es? Ärzte und Farmer in diesen Staaten vermachen oder verschenken ihren Nachkommen kein Land in fee-tail. Dieses überbleibsel überlebt durch Nichtanwendung. In der Praxis ist es tot, doch aus irgendeinem Grunde bemühte sich niemand, es aus den Gesetzbüchern zu entfernen. Das common law ist in solchen Dingen bekanntermaßen nachlässig; im Gegensatz zu kodifizierten Systemen ist es im Begraben seiner Toten langsam33 • Diese überbleibsel bUden anschauliche Beispiele und geben einigen Aufschluß über die Rechtskultur. Vielleicht werden sie in common-IawRechtsschulen überbetont. Die überbleibsel sammeln sich gewöhnlich in Rechtsgebieten ,a n, welche die archaischste Sprache haben und am wenigsten durch formelle Gesetze geregelt sind - so z. B. im Sachenrecht. Anderseits sind die kontinental-europäischen Gesetzbücher trügerisch 32 1 Am. Law of Property § 2.13. Land in fee-tail vererbt sich den Nachkommen des Eigentümers. Im mittelalterlichen Recht konnte solches Land nicht verkauft, verschenkt oder letztwillig vennacht werden. 33 Eine klassische Einrichtung des englischen Rechts war das Gerichtsverfahren mit Zweikampf, dieser Hauptgegenstand mittelalterlicher Liebesromane. Ausdrücklich abgeschafft wurde es erst 1819, nachdem eine Prozeßpartei durch einen Fehler im Plädieren zufälligerweise das Recht zum Duell angerufen hatte. Ein verlegenes Parlament hob es dann auf. Theodore T. F. Plucknett: A Concise History of the Common Law, 5th ed., 1956, S. 118; vgl. auch Kap. x.

Sind soziologische Theorien Tautologien?

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rational. Sie sind Juristenwerke für Juristen. Sie betonen Klarheit, Eleganz und Systematik. Doch kann man aus den Gesetzbüchern nicht ableiten, wie das Recht in der Praxis tatsächlich gehandhabt wird man kann dies nicht einmal anhand der Bemerkungen der Gerichte dazu. In jedem ausgereiften westlichen System ist das tatsächliche Recht vom geschriebenen verschieden. Beides sind soziale Fakten, doch die soziologische Theorie versucht vor allem das tatsächlich angewandte Recht zu erklären. Noch ein anderer Punkt ist der Erwähnung wert. Jede allgemeine Rechtstheorie, die Interessengruppen und soziale Kräfte betont, muß Raum lassen für Richter und Anwälte als eigene Interessengruppe. Diese Berufsgruppe hat Wertvorstellungen, Traditionen, Gewohnheiten sowie starke wirtschaftliche Interessen und politische Stärke. Juristen sind, gesamthaft betrachtet, wohlsituiert, wortgewandt und einflußreich. In den Vereinigten Staaten sind sie in großer Zahl in der Legislative vertreten 34 • Einige Archaismen oder Verspätungen im Recht sind nichts anderes als das Resultat orthodoxen Interessengruppenverhaltens von Richtern und Anwälten. Diese lautstarke, zahlreiche Gruppe, gewandt im Verteidigen ihrer wirtschaftlichen Interessen, kämpft gegen die Kausalhaftpflichtversicherung für das Auto und focht in der Vergangenheit ähnliche Gefechte zur Sicherung ihrer Honorare aus. Auch die Verwaltungin modernen Staaten stellt mit ihren Millionen Angestellten eine starke Interessengruppe dar. Die Bürokratie kämpft für ihre Interessen genauso heftig wie jede andere Wirtschaftsgruppe. Sind soziologische Theorien Tautologien? In gewisser Hinsicht können große soziologische Rechtstheorien nicht bewiesen werden, weil ihre Argumentation zirkelschlüssig ist. Man kann kaum beweisen, daß der Social Security Act, ausgearbeitet in den 1930er Jahren, in allen seinen Einzelheiten genau jene sozialen Kräfte widerspiegelt, die im Kongreß genau zu jener Zeit dafür und dagegen wirkten. Wenn wir dies auch zugeben, können wir aus Form und Umfang des Gesetzes doch aufzeigen, welche Kräfte es gewesen sein müssen. Das 1935 erlassene Gesetz35 erlaubte es Pensionierten nicht, mehr als ein kleines Arbeitseinkommen zu haben. Es war erlaubt, Einkommen aus Aktien, Obligationen, Renten oder Geschenken von Kindern zu haben, doch nicht Einkommen aus einer Erwerbstätigkeit. Zu dieser Zeit herrschte große Arbeitslosigkeit. Die Arbeiterschaft wollte ältere Ar34 Siehe Heinz Eulau und John D. Sprague: Lawyers in Politics, A Study in Professional Convergence, 1964; J. Willard Hurst: The Growth of American Law: The Lawmakers, 1950, S. 47.

35

42 U.S.C. § 403.

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beitnehmer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden; daher reflektieren die Maßnahmen die Macht und die Interessen organisierter Arbeitnehmer. Diese Begründung ist natürlich zirkelschlüssig. Doch die Hauptaufgabe der Theorie ist nicht das Beweisen, sondern das Aufstellen von Hypothesen und das Aufzeigen von Strategien für Untersuchungen. Angenommen, die Frage lautet: Warum nahm eine bestimmte Rechtsregel eine bestimmte Form an? Wie untersucht man diese Frage? Worauf schaut man zuerst? Welches ist die Grundhypothese? Wenn sozialer Druck Rechtsänderung herbeiführt, dann beginnt man hier und nicht mit Rechtsbegriffen, formellem Rechtsdenken, logischen Analysen des vormaligen Rechtszustands; man fängt auch nicht mit der Struktur oder der Geschichte im dogmatischen Sinne an. Die Überlegung ist, daß es zu den besten, einleuchtendsten Ergebnissen führt, wenn man beim Suchen nach Erklärungen bei der Gesellschaft beginnt. Soziologische Theorien sind denn nützliche Rahmenkonzepte für die Untersuchung rechtlicher Phänomene. Die soziologische Rechtstheorie erklärt das Rechtsverhalten nicht aus sich selbst. Sie mag nicht einmal den Namen Theorie verdienen. Alternative Wege der Rechtsbetrachtung leiden jedoch an gravierenderen Mängeln und erzielten keine befriedigenden Ergebnisse. Die soziologische Theorie ist eine Einstellung, eine Methode, ein Rahmenkonzept, ein Beginn zur Bildung von Erklärungen von Rechtsakten und Rechtsverhalten. Es ist nicht notwendig, andere Lehrmeinungen, Rahmenwerke oder Theorien völlig zu verbannen. Die Tatsachen mögen ihnen so stark recht geben, daß wir uns ihnen nicht verschließen können. Doch das kommt - wenn überhaupt - später. Eine vollständige Rechtstheorie wäre weitgehend eine soziologische Theorie, doch würde sie die gesellschaftliche Struktur und die vom Gesetzgeber vertretenen Wertvorstellungen berücksichtigen. Denn letztlich erzeugt die Kultur die Wertvorstellungen, welche die Menschen auswählen, oder die ihnen von Eltern und Lehrern eingepaukt werden. Wertvorstellungen und Ideale sind wie Kleider an einem Ständer im Geschäft. Die Menschen wählen, was sie in ihrer Größe mögen; das Geschäft und die Hersteller setzen die kurzfristigen Auswahlmöglichkeiten; der Käufergeschmack hat eine Langzeitwirkung. Die Struktur ist letztlich auch ein Kulturprodukt. Die Strukturen sind Verhaltensmuster, die die Zeit überdauern - Gefäße oder Behälter, welche die Kultur langsam zu Formen schmiedet. Langfristig werden Struktur, Wertvorstellungen und soziale Kräfte eins. Doch der Ausdruck langfristig ist nicht sehr genau. Aus praktischen Gründen können und sollten die drei Begriffe Struktur, Wertvorstellung und unmittelbare soziale Kraft auseinandergehalten werden.

Recht und öffentliche Meinung

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Recht und öffentliche Meinung Man hört gemeinhin, daß das Recht die öffentliche Meinung widerspiegelt (oder nicht widerspiegelt). Der Ausdruck öffentliche Meinung kann irreführend sein. Die Meinung der Mehrheit bewirkt das Recht nicht wie die Mehrheit der Stimmen einen Präsidenten wählt. Es wäre naiv anzunehmen, die Meinung der Mehrheit der Durchschnittsbürger werde automatisch Gesetz. Autoritäre Staaten geben nicht einmal vor, dies sei so. Aber auch in parlamentarischen Systemen herrscht trotz der Wahlen weitgehende Ungleichheit. Das Rechtssystem widerspiegelt diese Ungleichheit an Reichtum, Macht und Prestige getreu. Überdies haben die Menschen unterschiedliche Ausdrucksfähigkeiten und Intensitäten der Ansichten. Sie mögen sich entscheiden, auf einigen Gebieten Einfluß auszuüben, auf andern nicht. Die in einer Umfrage festgestellte öffentliche Meinung würde die tatsächUchen sozialen Kräfte auf das Recht selbst in einer vollkommenen Demokratie mit Einkommensgleichheit nicht zum Ausdruck bringen. Untersuchungen über das Recht und die öffentliche Meinung sind selten. Eine bekannte Studie wurde von Julius Cohen, Reginald A. Robson und Alan P. Bates erarbeitet36 • Sie waren am moralischen Empfinden der Gesellschaft interessiert. Sie interviewten einen BevölkeI'ungsquerschnitt von Nebraska. Sie stellten Fragen über Rechte und Pflichten von Eltern und Kindern und stellten einige imaginäre Situationen zur Diskussion. So fragten sie beispielsweise, ob man der Ansicht sei, die Eltern sollten die Religion ihrer Kinder bestimmen können, oder ob es Eltern erlaubt sein sollte, ihre Kinder zu enterben. Sie werteten die Antworten aus und verglichen sie mit dem tatsächlichen Rechtszustand. Sie behaupteten, einen breiten Graben zwischen der festgestellten öffentlichen Meinung und dem Recht - wie sie es verstanden - gefunden zu haben. So gesteht z. B. das Recht Nebraskas wie allgemein das amerikanische Recht - Eltern die beinahe unbeschränkte Freiheit zu, ihre erwachsenen Kinder zu enterben. Doch beinahe 2/3 der Bevölkerung von Nebraska hielt dies für falsch, und 93,4 Ofo meinten, das Gesetz sollte Eltern nicht gestatten, minderjährige Kinder zu enterben, obwohl dies tatsächlich gemacht werden kann. Cohen und seine Mitarbeiter maßen sicher eine Art öffentlicher Meinung, doch nicht die öffentliche Meinung, welche die Quelle des Rechts ist oder sein könnte. Sie wählten ihre Subjekte rein zufällig aus; sie stellten abstrakte Fragen und berücksichtigten nicht, ob die Antwortenden Kinder hatten, ob sie Erfahrungen mit dem Familienrecht hatten, und ob sie bis zur Umfrage überhaupt eine Meinung über diese 38

Parental Authority: The Community and the Law, 1958.

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Gebiete hatten. Wie wirklich waren diese Probleme für die Befragten? Hatten sie oder ein Verwandter je daran gedacht, ein Kind zu enterben? Hatten sie genügend Geld, um dies überhaupt zu einer Streitfrage werden zu lassen? Was wußten sie über Religionskonflikte zwischen Eltern und Kindern? Zweifellos hatten viele bis zur Umfrage überhaupt keine Meinung gehabt. Latente Meinung ist keine soziale Kraft; und soziale Kraft bewirkt das Recht. Wie wir dargelegt haben, ist es irreführend anzunehmen, alle Menschen seien rechtlich und politisch gleich. Gleichheit ist ein ethisches Postulat, doch nicht Realität. Wenn wir die Leute fragten, welche Produkte sie am liebsten kauften, erhielten wir eine Liste von bevorzugten Artikeln. Dies sagte uns etwas über die Konsumentenwünsche, doch um ihr Verhalten vorauszusagen, müßten wir auch wissen, was sie sich leisten können. Wir müßten wissen, wi:e viel sie für einen neuen Wagen oder einen Farbfernseher ausgeben würden, und welche Wahl sie bei einer Kollision zweier Wünsche treffen würden. Der Markt widerspiegelt individuelle Vorlieben. Dazu kommt, daß einige Leute mehr Geld verbrauchen können als andere. Daher zählt - offen gesagt - ihre Meinung mehr. Ähnlich verhielte es sich, wenn man den Spielplan eines Opernhauses erklären oder vorherbestimmen wollte. Es wäre absurd, eine Umfrage zu machen. Die öffentliche Meinung beeinflußt den Spielplan. Indes haben Leute, die Musik hassen und 1 000 km vom Opernhaus entfernt wohnen, nichts zu sagen. Es ist sinnlos, ihnen eine Meinung abzuschwatzen. Anders verhält es sich mit reichen Gönnern. Ihr Einfluß ist natürlich auch größer als der armer Studenten, die Musik zwar lieben, doch gerade genug Geld zusammenkratzen können, um einmal im Jahr eine Stehplatzkarte zu erstehen. Die öffentliche Meinung, die das Recht beeinflußt, ist wie die wirtschaftliche Macht, die den Markt bestimmt. Dies trifft in zwei bedeutsamen Aspekten 2JU: Einige Leute, doch nur einige, haben ein ausreichendes Interesse an jedem einzelnen Gebrauchsartikel, um ihr Gewicht spürbar werden zu lassen. Sodann gibt es Menschen, die mehr Macht und Reichtum als andere haben. Am einen Ende des Spektrums stehen Figuren wie der Präsident der Vereinigten Staaten und jener von General Motors, am andern Gelegenheitsarbeiter, Kleinkinder und Gefangene. Doch selbst wenn jedermann dasselbe Einkommen hätte, würden die Leute ihr Geld nicht für dieselben Güter und Dienstleistungen verwenden. Einer würde mehr Kleider kaufen, ein anderer vielfältige re Nahrung. Gleich verhielte es sich in einer perfekten Demokratie, wo jeder den gleichen potentiellen Anteil an Einfluß hätte. Die Leute würden ihren Einfluß (innerhalb gewisser Schranken) für verschiedene, ihnen

Recht und öffentliche Meinung

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gutscheinende Angelegenheiten verwenden. Die Leute mögen (und tun es auch) ihre Macht vermehren, horten oder ausgeben wie sie ihr Geld vermehren, horten oder ausgeben. Zwei Personen mit derselben politischen Energie und Macht könnten diese ganz unterschiedlich anwenden. Der eine mag nichts tun, der andere schreiben, schmeicheln, Reden halten und Kampagnen führen. Die Gesetzgeber sind sich natürlich wohl bewußt, daß einige ihres Geldes, ihres Talents oder ihrer Wahl wegen gleicher sind als andere. Sie wissen, daß 100 reiche, mächtige Wähler, die leidenschaftlich gegen eine Sozialmedizin sind, tausende armer, schwacher Wähler aufwiegen, die für die Sozialmedizin sind. Die meisten Menschen machen sich nicht lautstark bemerkbar, noch drohen sie oder schreiben Protestbriefe. Sie verhalten sich still und unauffällig, bis eine Volkszählung an den Tag bringt, daß sie auch noch da sind. Sie bilden dte schweigende Mehrheit. Paradoxerweise zählt diese Gruppe nur, wenn sie ihr Schweigen bricht - wenn sie sich mobilisiert oder andere sie mobilisieren. Der Fehler von Cohen, Robson und Bates ist, daß sie die Ungleichheit und die Intensität übergehen. Ihre öffentliche Meinung ist ein Konzept ohne Beachtung der Intensität37 • Ihre Daten würden nur dann die öffentliche Meinung und ihren Einfluß messen, wenn jede öffentliche Angelegenheit durch ein Referendum entschieden würde, wenn alle Fälle voneinander unabhängig wären, keine Stimm-Absprachen erlaubt wären, jedermann stimmen müßte, das einfache Mehr entschiede und daher das Verfahren notwendigerweise von den unterschiedlichen Intensitäten der Vorliebe unter den Wählern absehen würde38 • In einer Gesellschaft, die alle Geschäfte auf diesem Weg entschiede, könnte man eine Art kulturelle Verspätung vermuten, wenn Recht und öffentliche Meinung stark voneinander abwichen. Selbstverständlich aber gibt es keine solche Gesellschaft. Rechtsakte stehen in einer Wechselwirkung, und die Intensitäten zeigen eine Wirkung auf das Recht3u • Die Untersuchung über Nebraska ignorierte auch das Problem der Struktur. Die Fragen mußten so gestellt werden, daß institutionelle Probleme außer acht blieben. Beispielsweise wurde den Leuten nicht gesagt, welches die Folgen der Regeln für die Strukturen wären, die sie durch37 Siehe Walter J. Blum und Harry Kalven, Jr.: The Art of Opinion Research: A Lawyer's Appraisal of an Emerging Science, 24 U. Chi. L. Rev.

1, 15 - 19 (1956). 38

James Buchanan und Gordon Tullock: The Calculus of Consent, 1962,

S.132.

39 Welcher Ansicht man über die Ungleichheit von Einkommen und Macht auch ist, ethisch kann gesagt werden, daß jene, die sich sehr interessieren, ihre Stimmen sollten häufen können. Gleichheit meint gleiche Stimmkraft, aber nicht, daß der Staat jemanden zwingen kann, seine Stimme auf bestimmte Art zu verwenden.

12 Friedman

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zuführen hätten. Da die Leute sehr wenig darüber wissen, was das Rechtssystem funktionsfähig macht, ist es schwierig, genau zu sagen, was ihre Antworten bedeuteten. Fragte man, ob es ein Gesetz gegen obszöne Bücher geben sollte, würden wahrscheinlich die meisten mit Ja antworten. Dieselben Leute würden aber nicht notwendigerweise mit Ja antworten, wenn man sie fragte, ob ein Dreierkollegium bestehend aus zwei pensionierten Polizisten und einer Nonne alle Filme und Bücher vorgängig begutachten und das Recht haben sollte, Anstößiges zu v,erbieten. Wollten sie alle, die anstößige Bücher lesen, zum Tode verurteilt sehen? Wünschten sie die Gerichte als Zeitschriften-Zensoren? Was würden sie zu jeder der Dutzenden von strukturellen Alternativen sagen? Strukturelle Folgen einer Rechtsänderung sind nicht irrelevant. Sie sind das eigentliche Herz des Rechtssystems. Berücksichtigt man das nicht, ist das, was man mißt, nicht die Haltung dem Rechtssystem gegenüber, sondern die Haltung etwas Unbestimmtem, Körperlosem, Künstlichem - man mag es Norm nennen - gegenüber, das für sich allein nicht bestehen kann - eine bloße Retortenschöpfung. Natürlich dürfte ein Fragebogen, der alle strukturellen Alternativen berücksichtigt, 100 Seiten lang werden. Die Leute von Nebraska oder anderswo könnten damit nicht fertig werden. Diese Tatsache, traurig aber wahr, zwingt zu einem ernstlichen Vorbehalt gegenüber der Meinungsforschung. Sie stellt aber auch einen zwingenden Vorbehalt gegenüber der Wirksamkeit der öffentlichen Meinung selbst dar40 •

40 über den strukturellen Gesichtspunkt vgl. Luke Cooperriders Rezension von Cohen, Robson und Bates, 57 Mich. L. Rev. 1119 (1959). Alan Milner, der die Untersuchung in 21 U. Pitt. L. Rev. 147 (1957) besprach, bezweifelte den Wert von Untersuchungen über die Einstellung anstelle des tatsächlichen Verhaltens.

Kapitel VII

Recht, Macht und Sozialstruktur Recht richtet sich nicht nach der öffentlichen Meinung im Sinne, wie Cohen, Robson und Bates diesen Ausdruck verwenden, sondern nach dem tatsächlichen sozialen Druck. Was aber ist sozialer Druck? Worin besteht der Druck? Es existiert kein gängiger Begriff für eine Einheit rechtlicher oder politischer Stärke. Die Einheit der wirtschaftlichen Stärke ist einfach: es ist das Geld. Die rechtliche oder politische Einheit ist unbestimmter, abstrakter. Macht, Einfluß und Stärke sind wirkliche Erscheinungen. Gesellschaftliche Kräfte, Macht und Einfluß nehmen Größe und Gestalt an; wir können sie miteinander vergleichen. Wir können von ihnen als groß und klein, als mehr oder weniger sprechen. Wir können Macht, Einfluß und sozialen Druck in nicht gänzlich imaginäre Einheiten getrennt darstellen. Diese Einheiten hätten - ähnlich dem Geld in bestimmter Hinsicht - ein paar spezielle Charakteristika. Einige könnten nur einmal verwendet werden, wie ein Dollarschein oder der Stachel einer Biene. Andere wiederum könnten nochmals verwendet oder - wie Batterien - wieder aufgeladen werden. Ein Brief an einen Kongreßabgeordneten hält den Verfasser nicht davon ab, einen weiteren zu schreiben - mit gleicher Wirkung bis zu einem gewissen Punkt. In manchen Fällen sind die Stärke einheiten wie Wählerstimmen, also einzelne, einmalige Rechte. In anderen Fällen gleichen sie einer physischen Kraft - einem Faustschlag oder einem Klaps -, der, wenn auch nicht unbegrenzt, wiederholt werden kann. Diese Einheiten können wie Geld ausgegeben, gehortet oder investiert werden. Ständigen Geldbesitz bezeichnen wir als Reichtum. Reichtum ist einflußreich; er begründet Kreditwürdigkeit. Ein Reicher kann ohne Barzahlung Güter erwerben, weil er eine hohe Kreditwürdigkeit hat. Ein mächtig,er oder beeindruckender Mann genießt eine ähnliche Kreditwürdigkeit. Ein Gesetzgeber wird zögern, einen Gesetzentwurf einzubringen, zu verfechten oder dafür zu stimmen, wenn er glaubt, der Entwurf würde mächtige Wähler schädigen oder verärgern, selbst wenn diese Gruppe bis jetzt noch keine Kräfte gegen die Vorlage mobilisierte, oder wenn sie von der Existenz der Vorlage noch gar keine Kenntnis erlangte. Diese Tatsache macht - nebst anderen - Macht und Einfluß zu schwer erfaßbaren Untersuchungsobjekten. Max Weber umschrieb Macht 12"

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Kap. VII: Recht, Macht und Sozialstruktur

als die Wahrscheinlichkeit, mit der ein innerhalb einer sozialen Beziehung Handelnder in der Lage sei, seinen eigenen Willen trotz Widerstand durchzusetzen 1 . Edward Banfield definierte Einfluß als Fähigkeit, andere zum Handeln, Denken oder Fühlen dessen zu veranlassen, was man will 2 • Trotz dieser Definitionen - es gibt natürlich noch andere und einer Anzahl von interessanten Untersuchungen über Macht und Einfluß bleiben viele Fragen offen. Zumindest in einer Hinsicht ist Macht aber zu schwer erfaßbar, um gemessen werden zu können. Ein Beobachter kann Vorgänge in einer Stadt sehen und spüren, er kann Zeitungen lesen und die Namen jener Personen notieren, die anscheinend die Macht haben, einen Müllarbeiterstreik beizulegen, einen neuen Flughafen zu blockieren oder irgend etwas anderes vorzukehren. Dennoch kann er die unsichtbare Macht übersehen, jene Macht, welche die wahre Struktur der Gemeinschaft bestimmt, welche die wirkliche Tagesordnung von Alternativen am Diskussionstisch bestimmt3• Macht läßt manche Ideen und Pläne unvermeidlich, andere wieder undenkbar erscheinen. Niemand in den Vereinigten Staaten wird ernstlich vorschlagen, Warenhäuser zu beschlagnahmen oder alle Polizeichefs zu verbannen. Niemand in der Sowjetunion wird vorschlagen, Stahlwerke an japanische Investoren zu veräußern. Solche Pläne geraten nie ins Rampenlicht. Kein mit Macht Ausgestatteter braucht auch nur einen Finger zu rühren, um ihnen vorzubeugen. Die Machtstruktur, zusammen mit dem herrschenden System von überzeugungen, schreibt vor, welche Interessen und Erwartungen zu wirklichen Forderungen werden. Innerhalb des Rechtssystems existieren Abläufe und Vorschriften, welche die Sozialstruktur schaffen und erhalten. Diese Vorschriften stammen von der Gesellschaft; die Gesellschaft ist sozusagen ihr Verfasser. Gleichzeitig helfen sie, die Gesellschaft auf ihrer Bahn zu halten. Diese Bahn kann revolutionär oder konservativ sein. In westlichen Ländern garantieren die Verfahrensweisen und Vorschriften das zum Gedeihen des Wohlstandes notwendige Klima. Die Rechtsvorschriften erlauben es, Geld zu erben und weiteren Generationen zu vererben; sie gestatten das Bestehen einer Börse und bieten im allgemeinen dem Privateigentum bequemen Unterschlupf. Selbstverständlich sind moderne Gesellschaften nicht einfach oder statisch; diese Länder kennen z. B. Sozialleistungen, 1 Max Weber: The Theory of Social and Economic Organization, ed. Talcott Parsons, 1964, S. 152; in bezug auf die verschiedenen Definitionen der Macht siehe James T. Tedeschi u. a.: Power, Influence and Behavioral Compliance, 4 Law and Society Rev. 521 (1970). 2 Edward C. Banfield: Political Influence, 1961, S. 3. Beachte den Unterschied zwischen den zwei Definitionen: Einfluß heißt nicht Widerstand. 3 Robert Alford: Bureaucracy and Participation: Political Cultures in Four Wisconsin Cities, 1969, S. 194.

Verhalten der Justiz

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und in den meisten von ihnen besitzt die Mittelklasse beträchtliche Macht und ansehnlichen Wohlstand. Gesetzliche Regeln und Abläufe sind, um es zu wiederholen, Ergebnisse der Macht. Sie umschreiben auch die Macht selber und setzen Richtlinien für ihren Gebrauch. Im Kern dieses Systems ruhen jene Verfahrensweisen und Regeln, die Machteinheiten verteilen, ihre Verteilung gutheißen und ihren Anwendungsbereich umschreiben. Sie erlauben oder verbieten den Menschen, Machteinheiten anzuhäufen, zu verkaufen, mit ihnen zu handeln oder sie zu verschenken, und sie bestimmen auch, unter welchen Umständen solche Handlungen vorgenommen werden können. Unter normalen Wahlbedingungen wählt die Bevölkerung Vertreter; diese stellen dann die Normen auf. (Zwar gibt es Referenden über bestimmte Streitfragen, doch ist dies nicht die Regel.) Um es abzurunden und zusammenzufassen: es gibt kurz- und langfristige Druckmechanismen im Recht. Einige soziale Kräfte arbeiten langsam, indem sie Strukturen und Institutionen schaffen, Vorbilder und modale Persönlichkeiten hervorbringen. Kurzfristige Druckmechanismen spielen sich flüchtig ab wie Blitze, schlagen direkt in Form von festumrissenen, greifbaren Forderungen ein. Kurzfristiger Druck gleicht dem Wetter, ein langfristiger hingegen dem Klima. Schließlich sind aber Luft, Wasser und Wind Bestandteile von beiden. Verhalten der Justiz Es liegt keine Täuschung vor, wenn man bei gewählten Körperschaften sozialen Druck am Werk sieht. Lobbyisten schwirren im Saal umher. Gesetzgeber machen Wahl versprechen. Wähler treten direkt an Abgeordnete heran. Sie drohen einem Kongreßabgeordneten offen mit politischen Vergeltungsschlägen, wenn dieser seine Stimme für etwas abgibt, was ihrer Meinung nach falsch ist. Gewerkschaften, Landwirte, Fabrikarbeiter und Konsumenten verkünden freimütig den Preis für ihre Unterstützung. Bei Gericht hingegen äußern sich die Parteien nicht über ihre Interessen. Sie drohen dem Richter nicht oUen, auch nicht einem gewählten Richter. Die Streitparteien befolgen genaue Spielregeln. Sie rufen "das Gesetz" an und verbergen ihre Beweggrunde hinter Rechtssätzen. Dieser Stil verbirgt soziale Fragen und Forderungen. Oberflächlich betrachtet scheinen andere Faktoren für die Verhaltensweise der Justiz zu zählen - z. B. die strukturelle Variable -, d. h. die Verfahrens- und Rechtsprechungsvorschriften, das Zeremoniell und die Gerichtsusancen. Ein weiterer Faktor ist das Recht selbst. Der Richter sucht nach der

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rechtlich korrekten Norm oder schenkt dem rechtlich besseren Argument Gehör. Zweifellos sind diese Faktoren in einzelnen Fällen und auf kurze Dauer gesehen wichtig. Vielleicht werden sie dort sogar überschätzt, verglichen mit der Wirkung von Wertvorstellungen und Einstellungen des Richters sowie mit dem Druck von Interessen und Ereignissen. Langfristig gesehen sind diese Faktoren bedeutungslos: die Wertvorstellungen des Richters, die Verfahrensvorschriften, die Gewandtheit der Anwälte und die Logik des Rechts. Übrig bleibt die Gesellschaft: konkrete soziale und ökonomische Kräfte. Im Grunde gilt hier die gleiche Argumentation wie hinsichtlich der Gesetzgebung. Aus welchen Gründen sollte eine Gesellschaft ein Gerichtssystem dulden, welches laufend "falsche" Ergebnisse hervorbringt? Rechtsgelehrte, speziell in common-Iaw-Ländern, bringen viel Zeit damit zu, die Arbeit der Gerichte zu untersuchen. Ihr Fachgebiet ist die analytische Erfassung der Normen, wie sie durch die Appellationsgerichte verkündet und geändert werden. Sie neigen dazu, die Wichtigkeit von Fällen und Richtern aufzubauschen. Ein gutes Beispiel dafür war der Fall MacPherson v. Buick Motor CO.4. In diesem berühmten Fall verlor MacPhersons Wagen ein Rad; er selbst wurde verletzt und klagte den Produzenten ein. Benjamin Cardozos Urteilsbegründung im New Yorker Appellationsgericht weitete die Haftung der Produzenten aus. Dieser Fall fand sofortige Anerkennung und wurde innerhalb von 40 Jahren zum allgemeinen Recht der USA5. Das sind die nackten Tatsachen. Die Produktehaftpflicht wurde unleugbar im 20. Jahrhundert explosionsartig ausgeweitet. Das Recht schützt immer mehr den Konsumenten gegenüber dem Produzenten. Wäre jedoch die Produzentenhaftung schon im Keime erstickt worden, wenn der Buick Motor Co.-Fall eine andere Wendung genommen hätte? Warum beeinflußte Cardozos Begründung andere Gerichte, wenn sie dies überhaupt tat? War es die Kunstfertigkeit der Begründung? Oder war es einfach das Resultat? Wir kennen die Antworten nicht, können aber Vermutungen anstellen. Cardozo war ein geschickter, berühmter Richter, aber stumpfsinnige Urteile wurden in vielen Rechtsgebieten zu Präzedenzfällen erhoben. Arthur Goodhart schrieb: "So paradox es klingen mag, das Recht verdankt seinen schwachen Richtern oft mehr als seinen starken. Aus einem schlechten Anlaß entsteht oft gutes Recht6 ." Vielleicht war auc.~ die Zeit für eine Produktehaftpflicht einfach gekommen. Für die er• 217 N. Y. 382, 111 N. E. 1050 (1916). 5 8

William Prosser: Handbook of the Law of Torts, 3. Aufl., 1964, S. 661. Arthur L. Goodhart: Determining the Ratio Decidendi of a Case, 40 Yale

L. J. 161, 163 (1930).

Theorien der richterlichen Entscheidungsfindung

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zeugten Güter wird auf nationaler Ebene Reklame gemacht, daher kommen neue Ansichten auf über die Haftungsverteilung in Schadenfällen, welche durch die Produkte hervorgerufen werden. Sollte dies wirklich der Fall sein, dann war Cardozos Begründung nur Nebenumstand. Sie hat vielleicht der Bewegung einen leichten Drall in eine bestimmte institutionelle Richtung gegeben, aber nichts weiter. Cardozos Begründung mag mit anderen Worten sehr zur Rhetorik im betreffenden case law beigetragen haben - zur Auswahl der Argumente. Sie mag Einfluß darauf genommen haben, wie weit sich Gerichte im Gegensatz zu Gesetzgebern und anderen Behörden bei der Schaffung der Normen über die Produktehaftpflicht vorwagten. Dies ist nicht trivial, aber dennoch fernab von social engineering. Theorien der richterlichen Entscheidungsfindung

Welche Kriterien bestimmen die Entscheidung eines Cardozo oder anderer Richter in einem solchen Fall? Wie erwähnt, hat die moderne politische Wissenschaft versucht, an die Beantwortung dieser Frage mit wissenschaftlicher Strenge heranzugehen. Die Wissenschaftler konzentrierten sich auf den Suprerne Court der Vereinigten Staaten und bedienten sich einer Fülle von Methoden und Unterlagen. Einige haben von Dokumenten der Richter und anderen Archiven Gebrauch gemacht7. Insgesamt gesehen sind diese Quellen jedoch sehr beschränkt. Das Gericht arbeitet unter Ausschluß der Öffentlichkeit, und die Richter geben auch nur ungern Interviews; dies gilt auch für die Beantwortung von Fragebogen, so daß sich den Erforschern von Gerichten als Quellen hauptsächlich Fallreportagen anbieten. Politische Wissenschaftler, welche sich der Verhaltenstechniken bedienen, verwerfen die herkömmlichen rechtlichen Denkmodelle fast einmütig. Sie lehnen es ab, daß Rechtsvorschriften automatisch oder sonstwie entscheiden, wie ein Fall endet. Lieber sehen sie im Richter selbst den Schlüssel, in seiner Geisteshaltung und seinen Wertvorstellungen. Sie versuchen, die Richter zu kategorisieren oder nach ihrer Einstellung zu etikettieren. Hierauf verifizieren sie die Etikette, indem sie kontrollieren, wie der Richter in einem Fall stimmt, der ebendiese Geisteshaltung ausdrücken müßte. Angenommen, wir etikettieren Richter X als einen Sympathisanten der Bürgerrechte und Richter Y als einen Gegner. (Diese Etiketten finden wir, wenn wir ältere Fälle lesen, oder wenn wir über die Richter etwas erfahren, das sieb außerhalb des Gerichtshofes abspielt.) In einer Reihe von Fäller werden wir herausfinden, daß Richter X durchwegs in der Richtung stimmt, welche wir als bürgerrechtsförderlich betrachten würden, und daß Richter Y dage7 Siehe z. B. Walter Murphy: Elements of Judicial Strategy, 1964; David Danelski: A Supreme Court Justice is Appointed, 1964.

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gen stimmt. Das verifiziert die Etikettierung. Gleichzeitig bestätigt es auch unsere Meinung, daß die Einstellung des Richters für das Ergebnis des Falles von entscheidender Bedeutung ists. Es gibt aber auch andere Datenquellen. Einige Forscher haben Fragebogen versandt oder in anderer Weise Lebensumstände und Parteizugehörigkeit der Richter untersucht9 • Die Ausleuchtung der Lebensumstände der Richter bringt uns im allgemeinen nicht viel weiter. Die Tatsache, daß Richter Republikaner, Katholiken, Wirtschaftsjuristen oder Rechtsprofessoren sind, meint J oel Grossman, gibt uns nur über einen Teil der ganzen Geschichte Aufschluß. Überdies haben die Forscher die Einstellungen ziemlich unreflektiert betrachtet und einstimmige Fälle übergangen, die eine überwiegende Mehrheit zumindest an den Gerichten der Gliedstaaten darstellen lo . Die Unzulänglichkeiten von Untersuchungen über Einstellungen spornen jene an, die nach anderen Kriterien für das Zustandekommen der Entscheidungen Ausschau halten. Einige vertreten z. B. die Ansicht, es sei an der Zeit, das Recht selbst als Einflußkriterium wieder zu überprüfen. Wie wir bemerkten, wird der Begriff Recht als Faktor oftmals heimlich auf den Begriff Rolle reduziert. Richter haben Werte, Einstellungen und Meinungen, aber sie haben auch die Rolle des Richters akzeptiert; und diese Rolle fordert von ihnen, daß sie sich an die Spielregeln des Gesetzes halten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, sind Richter ebensosehr Produkte ihrer beruflichen Stellung wie ihres persönlichen Hintergrundes ll . Die Auffassung der Richter über ihre Rolle mag sie auch dazu veranlassen, eine Geisteshaltung der Einschränkung einzunehmen, indem sie sich anderen Behörden beugen. Richter, welche eine solche Rolle der Zurückhaltung spielen, sind wenig beweglich und bleiben bei einmal gefällten Entscheidungenl !. Zweifelsohne spielen manche Richter eine rechtliche Rolle; ebenso überzeugen manchmal auch Rechtsanwälte die Richter mit streng rechtlicher Argumentation. Aber nicht alle Richter spielen die rechtliche 8 Siehe Kenneth N. Vines: Federal Distriet Judges and Raee Relations Cases in the South, 26 J. Politics 337 (1964). Siehe allgemein Glendon Schubert: The Judicial Mind, 1965; John D. Sprague: Voting Patterns of the Uni ted States Supreme Court, 1968. 9 Siehe Joel B. Grossman: Social Backgrounds and Judicial DecisionMaking, 79 Harv. L. Rev. 1551 (1966); S. Sidney Ulmer: Social Background as an Indieator to the Votes of Supreme Court Justices in Criminal Cases: 1947 - 1956 Terms, 17 Am. J. Pol. Sei. 622 (1973). 10 Grossman (N. 9), S. 1563 - 1564. 11 Dorothy B. James: Role Theory and the Supreme Court, 30 J. Polities 160 (1968). 12 Siehe Joel B. Grossman: Role-Playing and the Analysis of Judicial Behavior: the Case of Mr. Justiee Frankfurter, 11 J. Publie L. 285 (1962); David J. Danelski: Confliet and Its Resolution in the Supreme Court, 11 J. Confliet Resolution 71, 76 - 79 (1967).

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Rolle, und selbst übertriebene Rollenspieler spielen ihre Rolle nicht in jedem Fall. Wenn dem wirklich so ist, was veranlaßt dann einen Richter, einmal seine Rolle zu spielen und ein anderes Mal nicht? Vielleicht seine Mittelmäßigkeit oder seine Unentschlossenheit. Richter verhalten sich nicht in allen Fällen gleich. Leidenschaft, Gewissen oder ein sonst außerhalb des Rechtes liegender Grund mag für einen wichtigen Fall ausschlaggebend sein - eben für jenen Fall, der für Schlagzeilen sorgt oder der aufsehenerregende Fragen aufwirft. Hierauf kommt wieder ein kleiner Fall oder ein verstrickter Wirtschaftsfall, in welchem es nur um Tatsachen geht. Nun ist der Richter verwirrt und gelangweilt. Er entschließt sich, nach dem Recht zu entscheiden -- der Sieg wird also bei jener Partei liegen, welche gewandter ist und ihm zeigen kann, wo das Recht liegt. Nicht alle Richter werden darin übereinstimmen, was langweilig, wichtig, trivial, entscheidend oder was auch immer ist. Ein Richter mag sich vielleicht für Kriminalfälle nicht begeistern, wird aber jede Einzelheit des Steuergesetzes auskosten. Ein anderer Richter verhält sich genau gegenteilig. So wird es typische oder atypische Modelle geben. Natürlich werden auch die Vorkommnisse in der Gesellschaft den Richter beeinflussen. Jeder Richter wird Dramatik und Bedeutung eines Falles erkennen, in dem Abtreibungsgesetze angegriffen werden oder in dem versucht wird, den Präsidenten unter Strafandrohung vorzuladen. Wenn das soeben beschriebene Modell in irgendeiner Weise richtig ist, dann können wir die soziologische Theorie leicht mit den Beteuerungen der Richter vereinbaren, daß sie meistens - wenn auch nicht immer - das Recht zu befolgen trachten. Was analytisch, wenn auch nicht psychologisch eintritt, ist ein doppeIgleisiger Prozeß: Die grundlegende Wahl liegt darin, daß man sich für eine Befolgung des Rechts entscheidet oder nicht. Diese Wahl wird durch Geisteshaltung, Werte und die konkrete soziale Umgebung bestimmt. Die zweite Wahl liegt in der tatsächlichen Entscheidung. Für den Richter will es scheinen, daß er durch das Recht gewöhnlich gebunden ist. Wissenschaftler haben auch den strukturellen Faktoren in der Entscheidungsfindung Beachtung geschenkt. Berufungsfälle werden natürlich nicht vorn Einzelrichter, sondern von einern Kollegialgericht entschieden. Der Supreme Court z. B. besteht aus einem Neunerkollegium. Für eine Entscheidung müssen mindestens fünf Stimmen vorliegen. Es ist nicht einfach, die Stimmen von fünf oder mehr vernünftigen, willensstarken und individualistischen Richtern für eine Ansicht, die von einem von ihnen vertreten wurde, zu gewinnen 13 • Richter gehen Koalitionen ein und bilden Gruppen. Dieser Vorgang sanften Kampfes und 13 Walter F. Murphy: Elements of Judicial Strategy, 1964, S. 23; Eleanor C. Main und Thomas G. Walker: Choice Shifts and Extreme Behavior: Judicial Review in the Federal Courts, 91 J. Soc. Psychology 215 (1973).

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gütlicher Einigung kann durch eine sorgsame Untersuchung der Stimmpraktiken aufgedeckt werden. Gerichte sind auch Bestandteile eines Justizsystems. Es gibt niedrigere und höhere Gerichte. Das höhere Gericht prüft und beaufsichtigt die Arbeit der niedrigeren Gerichte, bedarf jedoch auch deren Mitarbeit. Diese Tatsachen beeinflussen das Spiel der Rechtsprechung. Es gibt überraschend wenig Studien über den wahrscheinlich ausschlaggebendsten Faktor: den Druck der Umwelt. Die Untersuchungen haben sich auf intervenierende Variablen beschränkt: auf die Persönlichkeit des Richters, seine Werte, Einstellungen, das Rollenspiel im einen oder anderen Sinn, das Kompromißschließen bei Kollegialgerichten. Diese Variablen repräsentieren auch soziale Kräfte, die sich jedoch nur langsam bewegen und weniger vergängliche Formen annehmen. Schließlich gleichen die Wertmaßstäbe eines modernen polnischen Richters nicht denen eines Richters im mittelalterlichen Islam, doch tritt beim einzelnen Richter eine Wertverschiebung nicht von einem Tag zum andern ein. Soziologische Theorien behaupten, Richter seien gegen gängige soziale Kräfte nicht gefeit, auch nicht gegen Umwälzungen, die sich vor ihren Türen abspielten. Die Gesellschaft bereitet den Gerichtskalender für die Richter vor. Die Fälle sind nicht imaginär. Sie sind aus Lebenssituationen herausgegriffen, und Entscheidungen haben eine Auswirkung auf lebende Streitparteien, auch wenn sie sonst nicht weitergehen. Bei manchen Gerichten ist der soziale Druck ganz vordergründig in Form von Testfällen zu sehen, Fällen, die durch Interessengruppen aufgerollt wurden, aber es gibt nur sehr wenige bis gar keine Untersuchungen darüber. Die Tatsache, daß die Verhaltensforscher soviel Zeit für nicht einstimmige Berufungsfälle aufwenden, ist ein beunruhigendes Zeichen. Sie haben ihr Hauptaugenmerk auf die Unterschiede unter den Richtern gelenkt. Damit haben sie die Möglichkeit außer acht gelassen, daß die sozialen Kräfte alle Richter in eine bestimmte Richtung treiben könnten. Richter mußten auf Krieg, Depression und Unruhen reagieren. Sie haben sich einer Straße entlang bewegt, manche übereifrig, andere nur zögernd, aber sie haben sich bewegt, durch die Ereignisse gezwungen. Wenn man sich einen längeren Zeitraum zur Betrachtung heranzieht und die maßgeblichen Trends verfolgt, kann man kristallklar erkennen, daß die Geschichte bei der Fällung der richterlichen Urteile Beihilfe leistet. Es ist nicht ganz einfach, die Wirkung der sozialen Kräfte zu messen, weshalb sich Forscher von diesem Gebiet ferngehalten haben. Aber eine umfassende Theorie über die richterliche Entscheidungsfindung kann die sozialen Kräfte nicht unbeachtet lassen. Urteile sind Rechtsakte, so wie es Gesetze auch sind. Die gleiche fundamentale Regel sollte für alle Rechtsakte gelten, wonach Rechtsakte Antworten auf

Theorien der richterlichen Entscheidungsfindung soziales Kräftespiel sind, das momentan auf die Akteure Fall die Gerichte - einwirkt.

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in diesem

Eine durch unmittelbare soziale Kräfte herbeigeführte Entscheidung bedeutet eine Entscheidung, an welcher die Wertungen der Richter und die Strukturen des Gerichts nur wenig beteiligt sind. D. h. daß alle Richter, die in einer solchen Gesellschaft leben, außer vielleicht den eigensinnigsten, auf die Tatsachen des Falles sehr ähnlich reagieren würden. Fälle dieser Art mögen sehr wohl einstimmig sein, im Gegensatz zu jenen, die von Staatswissenschaftlern untersucht wurden. Und viele Fälle mögen so eindeutig sein, so selbstverständlich für die Richter, daß sie alle übereinstimmen. Was für die eine Epoche klar ist, erweist sich aber für eine andere als unklar oder undenkbar. Eine Untersuchung über das Recht, das durch soziales Kräftespiel geformt wird, würde das Hauptgewicht auf die Fälle insgesamt legen, weniger aber einen Fall nach dem anderen oder in kleinen Gruppen untersuchen. Die sozialen Kräfte arbeiten am Recht in Form von unwiderstehlichen Bewegungen. US-Gerichte entschieden im 19. Jahrhundert, niemand könne ein Spital oder eine andere wohltätige Einrichtung wegen einer unerlaubten Handlung einklagen. Im 20. Jahrhundert wurde diese Doktrin langsam aufgegeben, in konservativen wie liberalen, in republikanisch wie demokratisch beherrschten Bundesstaaten. Die Produktehaftpflicht zieht immer weitere Kreise. Ein verschrobener Richter oder ein verschrobenes Gericht kann sie vielleicht einen Tag oder ein Jahr lang aufhalten. Letzten Endes überschwemmt sie aber die Gerichte wie eine Flutwelle. Noch bedeutungsvoller ist, daß Gerichte in verschiedenen Ländern mit verschiedenen Gesetzestexten alle zum gleichen Ergebnis gelangen. Wenn man das Deliktsrecht Frankreichs und jenes der USA mit ähnlichen Fällen konfrontiert, ergeben sich verdächtige Ähnlichkeiten. Natürlich ist es nicht notwendig, so scharfe Grenzen zu ziehen zwischen jenen Entscheidungen, die von sozialen Kräften herbeigeführt wurden, und jenen, die aus der eigenen Wertung der Richter hervorgingen. Soziale Kräfte wirken selten wie eine Pistole, die an den Kopf eines Richters gehalten wird. US-Bundesrichter sind auf Lebenszeit im Amt. Europäische Richter sind gesicherte Staatsbeamte. Der Richter und der Gesetzgeber sind sozialen Kräften in unterschiedlicher Weise ausgesetzt. Dann bedarf es einiger begrifflicher Vorarbeit. Was ist eine soziale Kraft? Was genau ein Wert? Wir wissen, daß sich soziale Trends in verschiedener Stärke bei den Gerichten auswirken, indem sie in irgendeiner Weise den Richter in diese oder jene Richtung drängen; oder weil die Streitparteien das Gericht mit Fällen attackieren, in welchen sie Änderungen verlangen und sich weigern, eine Ablehnung als

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Kap. VII: Recht, Macht und Sozialstruktur

Antwort zu akzeptieren; oder auch weil sich der Denkrahmen des Richters mit der Zeit verschiebt. In den meisten Fällen verflechten sich diese Vorgänge. Beispielsweise haben US-Gerichte in der rechtlichen Besserstellung der Schwarzen einen unheimlichen Schritt vorwärts getan. Aber die Richter setzten darin nicht den Anfang. Die Schwarzen und ihre Anwälte rollten die Fälle auf. Sie setzten sich in Autobusse, sie hämmerten an Schulhaustüren, sie schrien um ihr Stimmrecht, und sie prozessierten hart und unablässig 14 • Mit anderen Worten bestand ein ununterbrochener Druck gegen das Rechtssystem, der aus einer ernsthaften sozialen Bewegung hervorkam und das Klima in der Öffentlichkeit mitsamt dem Wetter im Gerichtssaal veränderte. Die neuen Richter, die bei Gericht eingesetzt wurden, waren nicht gleich jenen, die sie ersetzten. Sie neigten eher als ihre Vorgänger dazu, den Anliegen der Farbigen den Vorzug zu geben, und dies aus einer Reihe von Gründen, letztlich aus sozialen. Schließlich mögen auch Richter, die noch im Amt verblieben, ihre eigenen Wertordnungen angesichts der gravierenden Vorfälle und unter dem dauernden Druck der Bürgerrechtsfälle in ihren Prozeßregistern neu überdacht haben. Natürlich gibt es bei Richtern und Gerichten große Unterschiede, die sich aus ökonomischen, sozialen oder politischen Grenzlinien ergeben. Manche Gerichte neigen zur Einführung von Neuerungen, andere bloß zur Nachfolge. Desgleichen variieren die Vorstellungen der Richter über ihre Rollen - ihre Legitimitätstheorien, ihre Einstellungen gegenüber Präzedenzfällen - von Ort zu Ort. Sozioökonomische Unterschiede und Verschiedenheiten in der Tradition mögen einige Veränderungen erklären, bei weitem aber nicht alle. Es ist nicht einfach, sich in den Richter hineinzudenken. Eine Untersuchung von Henry R. Glick setzte einen hoffnungsvollen Anfang. Glick interviewte Richter der vier obersten Gerichte von New Jersey, Massachusetts, Louisiana und Pennsylvania 15 • Sie unterschieden sich in ihren Haltungen gewaltig. Glick fragte beispielsweise: "Wie steht es mit der Beeinflussung durch außerrechtliche Faktoren bei der Entscheidungsfindung? Welche Bedeutung kommt ihnen zu?" Jeder einzelne Richter des obersten Gerichtes von New Jersey meinte: "Sehr bedeutend." In Louisiana erhielt er mit einer Ausnahme die Antwort, diese Faktoren hätten überhaupt keine Bedeutung 111 • Aus Glicks Interviews konnte man sich ein Bild über die vier Gerichte machen. New Jersey 14 Siehe allgemein Loren Miller: The Petitioners. The Story of the Supreme Court of the United States and the Negro, 1966. 15 Henry R. Glick: Supreme Courts in State Politics, an Investigation of the Judicial Role, 1971. 18 Ders., S. 83.

Recht und Klassenstruktur

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war eine Brutstätte des legal realism. Die Richter der drei anderen Staaten hatten im großen und ganzen eine konservativere Haltung. Natürlich spannt sich zwischen Einstellung und Verhalten, zwischen Stil und Ergebnis eine große und bisher unergründete Kluft.

Recht und Klassenstruktur Die soziologische Rechtstheorie basiert auf einer grundsätzlichen Annahme: Wirtschaft und Gesellschaft bilden das Recht. Recht ist nicht unparteiisch, zeitlos, klassenlos, es ist nicht wertfrei. Es spiegelt die Machtaufteilung wider. Die sozialen Kräfte lenken es der Straße entlang. Heißt dies nun, daß in einem Staat wie den USA das Recht nur einer kleinen, aber dominierenden Elite dient? Wer ist am nationalen Warenhaus der Macht beteiligt? Nach der Ansicht von Robert A. Dahl beispielsweise sind die USA eine "pluralistische Demokratie"17. Keine einzelne Gruppe bildet die Dominante. In den meisten Fällen gibt es keine klare Mehrheit. Jede Gruppe befindet sich in der Minderheit und muß mit den anderen verhandeln. Das Ergebnis ist eine Art Komprorniß. Niemand würde die Resultate als ideal bezeichnen, doch das System funktioniert. Niemand bekommt genau, was er möchte, aber es wird auch niemand gänzlich übergangen. Dieses pluralistische Bild war in den 1950er Jahren populär. Dann begannen die Staatswissenschaftler selbst, die Welt mit skeptischerem Blick zu betrachten 18. Das pluralistische Weltbild verbleibe allzu willig beim status quo. Pluralistiker vertraten die Ansicht, mehr Menschen würden eher bekommen, was sie wollten, als in anderen Systemen. Natürlich enthielten die Theorien einen größeren Funken Wahrheit. Keine Gruppe befindet sich völlig an der Spitze, keine ist gänzlich ohne Macht. Die Frage, ob das System ideal ist oder nur erträglich, kann nicht theoretisch entschieden werden. Die Frage ist, ob es befriedigend ist. Wenn der Zufriedenheitsgrad sinkt, so könnte die pluralistische Lösung nicht mehr die beste sein. Kritiker heben auch die großen Unterschiede bei Macht und Reichtum hervor. Sie sind es, die im Spiel der Interessengruppen die Karten zinken. Mit dem Pluralismus verhält es sich genauso wie mit dem freien Markt. Der Markt wird theoretisch die Befriedigung der Bevölkerung maximieren, er kann aber nie eine gerechte Einkonunensvertei17 Robert A. Dahl: Pluralist Democracy in the United States: Confiict and Consent, 1967. 18 Die Kritik geht mindestens zurück auf C. Wright Mills: The Power Elite, 1956; dieses Werk stellt noch immer einen klassischen Angriff der Linken dar. Heute kommen die Angriffe aus allen Richtungen: Theodore J. Lowi: The End of Liberalism: Ideology, Policy, and the Crisis of Public Authority,

1969.

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lung garantieren. Pluralismus ist ein Marktsystem, in welchem verhandelt wird, Stimmen gehandelt, Kompromisse geschlossen, Preise und Bedürfnisse einander angepaßt werden. Dies gibt auch einen Sinn und mag ideal sein, aber nur unter der Voraussetzung, daß die Verteilung von Reichtum und Macht in irgendeiner Weise gerecht ist. Die soziologische Rechtstheorie nimmt an, daß das Rechtssystem von marktähnlichen Vorgängen bestimmt ist. Die Menschen handeln um ihre Interessen genauso, wie sie um Waren auf dem Markt feilschen. Die Rechtsordnung gleicht mehr oder weniger einem Katalog von Abkommen und Prioritäten, die im Verkehr und in der Nachfrage so empfindsam reagieren wie die Tageskurse an der Börse. Manche beginnen mit mehr Geld als andere und spielen mit anderen Regeln. Die Markttheorie bedeutet nicht, daß das Recht nie Werte und hohe Bestrebungen ausdrückt. Sie bedeutet nicht, daß jeder ein rationaler Rechner ist, daß niemand Opfer bringt, Vergnügen zurückstellt oder im öffentlichen Interesse - also selbstlos - handelt. Eine Person oder eine Gruppe kann sich zum Kampf für soziale Gerechtigkeit entschließen, ebenso wie eine andere sich entschließt, ihre wertvollen Energien im Kampf um höhere Löhne einzusetzen. In der Tat nehmen Reformgruppen immer einen bestimmten Platz ein. Menschen beschließen gemeinsam, daß ein größerer Anteil am Sozialprodukt den Armen zugute kommen sollte - sogar aus ihren eigenen Taschen19 • Es gibt keinen Grund zur Annahme, alle Gesellschaften seien in gleicher Weise selbstlos oder selbstsüchtig. überall ringen Ideale gemeinsam mit niedrigeren Interessen um Macht. In einem solchen Kampf verdrehen die Menschen Ideale zu Interessen. Der politische Prozeß ist in gewisser Weise blind. Er kann nicht Auskunft darüber geben, ob ein Kampf selbstsüchtig ist oder nicht. Wer mit einem gewissen Kraftaufwand kämpft, um sein Nest mit Federn zu schmücken, erzielt die gleiche Wirkung auf das Recht wie jemand, der für die Unterstützung hungriger Menschen gleich große Kräfte verwendet oder dafür, daß die Wälder vor den Holzbaronen gerettet werden, oder der für die Verbesserung eines wissenschaftlichen Unterrichtes in den Schulen streitet. Interesse und Gleichheit Macht ist ungleich verteilt und wird ungleich ausgeübt. Die Rechtsordnung widerspiegelt diese Verteilung und unterstützt sie auch. Zwischen potentieller Macht und ihrer tatsächlichen Ausübung liegen Ideologie und Kultur. Theoretisch könnte der Durchschnittsbürger für die Enteignung der Reichen stimmen, doch er tut es nicht. Vor allem 19 Die Grunde sind manchmal rein utilitaristischer Natur. Soziale Reform stellt eine Möglichkeit dar, einer Revolution zuvorzukommen. Vermutlich war dies der Grund, weshalb Deutschland unter Bismarck: in den 1880er Jahren auf dem Gebiet der Sozialversicherung Pionierarbeit leistete.

Interesse und Gleichheit

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mag er, wie wir schon oben bemerkten, Angst haben, die Gans, welche goldene Eier legt, zu töten. In den westlichen Ländern bekommt der Durchschnittsbürger bessere Lebensmittel und kann sich mehr leisten als frühere Generationen; er neigt dazu, eine weitere Erhöhung seines Lebensstandards zu erwarten. Diese Erwartungen dienen der Aufrechterhaltung des bestehenden Systems. Viele dieser Vorteile widerspiegeln die Ausübung der Macht in der Vergangenheit. Der Mittelstand des 19. Jahrhunderts war nicht scheu: er bog sich die Gesetze nach seinen Interessen zurecht. Der Wohlfahrtsstaat ist ein Produkt des Druckes durch den Mittelstand. Die laissezfaire-Ideologie hat nie völlig dominiert, auch nicht in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie warf einen weiten Schatten auf die Vorschläge für eine zaghafte Neuverteilung des Einkommens und für die Entwicklung sozialen Wohlstandes. Ex post ist ganz klar ersichtlich, von welchem Vorteil die Ideologie für Wirtschaftsinteressen und Machtträger war. Die Ideologie war ein Instrument, Mittelstand und Arbeiterklasse davon abzuhalten, von ihrer gesamten formalpolitischen Macht Gebrauch zu machen. Nicht jedermann kam das System zugute, insbesondere nicht Minderheiten, welche die dominante Bevölkerung aus diesem oder jenem Grund ökonomisch und sozial brandmarkte und diskriminierte. Dieses Problem bleibt in den meisten Ländern offen. Diese Gruppen umfassen Rassenminderheiten, wie Schwarze, Mexicoamerikaner und Indianer in den USA, die Farbigen in Großbritannien, ethnische Minderheiten, linke Extremisten in vielen Ländern, Gastarbeiter in der ERD und der Schweiz, Kriminelle, sexuelle Minderheiten, Schwache, Alte und Geisteskranke, Hippies, die unbeliebte, rebellische Jugend. Die westliche Theorie des Rechts betont die Reinheit und Unparteilichkeit der Justiz, doch liegen Klassenstruktur, Macht und Einfluß inmitten der Rechtsordnung. Es ist also nicht verwunderlich, wenn viele Gelehrte und Laien daran Zweifel hegen, daß die Rechtsordnung wirklich ihrer Rolle als Schützerin der Armen und Machtlosen gerecht wird. Das Recht diskriminiert - oder, neutraler gesagt, reflektiert die bestehende Sozialstruktur - auf zwei unterschiedliche Weisen. Erstens sind die Vorschriften als solche - das offizielle Gesicht des Rechts auf keinen Fall ganz unparteiisch, auch dann nicht, wenn sie unparteiisch angewandt werden. Sie sind das Ergebnis eines Machtkampfes, die dominante Meinung gestaltet sie. Rassentrennung ist Gesetz in Südafrika; vor nicht allzu langer Zeit war sie auch im Süden der Vereinigten Staaten noch Gesetz. Strafgesetze erklären "widernatürlichen" Sex zum Verbrechen. Die Rechtsordnung bestraft Aufwiegler und Rauschgiftsüchtige. Chinesen waren durch die amerikanischen Einwanderungsgesetze ausgeschlossen; das Bodenrecht beutete die indianischen

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Ureinwohner unbarmherzig aus; die Wohlfahrtsgesetzgebung brachte Härten für die Armen. Dies alles sind augenscheinliche Beispiele, welche in vielen Gesellschaften vorkommen können. Von noch größerer Bedeutung ist die Grundstruktur des Rechts. Die Steuergesetze sind, wie die Wirtschaftsgesetzgebung überhaupt, den Bedürfnissen und Interessen der besitzenden Klasse angepaßt. Vertrags- und Handelsrecht sind oberflächlich gesehen neutral und scheinen dem Durchschnittsmenschen die wahre Gerechtigkeit und der gesunde Menschenverstand schlechthin zu sein, aber sie stellen den Gerechtigkeitsbegriff und den gesunden Menschenverstand der westlichen Gesellschaft, ihrer Wirtschaft und ihrer dominanten Völker dar. Das kaiserliche Rom, die Cheyenne und Maos China bedienten sich unterschiedlicher Vorschriften. Sicherlich unterstützt jedes Rechtsgebiet - Boden-, Familien- und Schadenersatzrecht - die Gesellschaft, welche die Regeln aufstellte und zur Anwendung brachte. Eine andere Unterstellung stünde mit unseren Kenntnissen über den sozialen Ursprung des Rechts im Widerspruch. Viele Regeln erscheinen jedoch zeitlos und neutral, als Ausdruck beständigen Vertrauens und hoher Ideale. Die Art ihrer Durchsetzung ist eine andere Frage. Die Justizverwaltung ist mit raffinierten und eklatanten Formen sozialer Kontrolle durchzogen, welche das offizielle Recht ignoriert. Einerseits können es sich die Armen einfach nicht leisten, Anwälte zu nehmen, die sie zur Geltendmachung ihrer Rechte gegenüber den Vermietern, den Verkäufern und der Regierung in Zivil_ 20 und Strafsachen benötigen würden. Die Nachteile zeigen sich auf viele Arten. Geschworenen steht es frei, ihre Vorurteile auf das Recht zu übertragen; wenn sie es tun, so bleibt dies unbemerkt21 • Auch Richter haben Vorurteile. Nach allgemeiner Ansicht handelt die Polizei leichthändiger, wenn es darum geht, Schwarze, Hippies oder andere Minderheiten anzuhalten, zu belästigen oder einzusperren. Ein Polizeioffizier aus Albany berichtet: "In früheren Zeiten wurde jeder Neger, der widersprach, auf den Kopf geschlagen, ob er recht oder unrecht hatte, und niemand machte sich Gedanken darüber22." Schwarze waren ständig die Hauptopfer lynchender Meuten. Schwarze waren in den Vereinigten Staaten überproportional von der Todesstrafe erfaßt. Allgemein leuchtet es ja ein, daß man die Gerichtsbarkeit nicht für so blind und klassenlos halten kann, wie sie zu sein behauptet. Sie schielt in eine Richtung23. Henry Mayhew schrieb Mitte des 19. Jahr20 Siehe allgemein Jerome E. Carlin, Jan Howard und Sheldon L. Messinger: Civil Justice and the Poor, Issues for Sociological Research, 1967. 21 über die Vorurteile der Geschworenen siehe allgemein Harry Kalven und H. Zeisel: The American Jury, 1966. 2! James Q. Wilson: Varieties of Police Behavior, 1968, S. 170. 23 Siehe Karl F. Schumann und Gerd Winter: Zur Analyse des Strafverfahrens, Kriminologisches Journal, 3. Jg. (1971), 136, mit Angaben aus einer

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hunderts in Großbritannien, daß noch keine zehn Jahre alte Knaben wegen der abscheulichen Vergehen des Steinewerfens, des Blockierens von Landstraßen oder des gesetzwidrigen Klopfens an Türen zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden - also wegen Vergehen, welche dieselben Obrigkeiten, die nun die Jugendlichen verurteilten, selbst in ihrer Kindheit begangen hatten24 • Macht, meint man, wird jede Reform entstellen und färben, einfach um die Sozialstruktur aufrecht zu erhalten und die Interessen der maßgebenden Kreise zu wahren. Dieser Mißbrauch kann durch historische Analyse vieler sog. Reformen untermauert werden. Die Jugendgerichtsbarkeit scheint, oberflächlich gesehen, jungen Gesetzesbrechern das Stigma des Verbrechertums und den Schrecken der Gefängnisse ersparen zu wollen25 • Doch war das Jugendgericht von Beginn um die Jahrhundertwende an ein Gericht für den niederen Stand. Die Reichen konnten sich private Fürsorge für ihre Sorgenkinder leisten und wußten im schlimmsten Falle, an wen sie sich wenden, welche Fachleute sie beiziehen und wie sie sich vor Gericht verhalten mußten. Die Kinder, welche vor Gericht gestellt wurden, und deren Eltern waren machtlose Leute ... , die es nur wenig verstanden, ihre Forderungen vor Gericht zu artikulieren26 • Richter und Sozialarbeiter besaßen einen unterschiedlichen Klassenhintergrund. Aus Routine nahm das Gericht an, daß die Jugendlichen in bezug auf die ihnen vorgeworfenen Taten schuldig waren. Die Jugendlichen wurden in Anstalten gesteckt, die mindestens so schlecht wie die herkömmlichen Gefängnisse waren - manchmal sogar schlechter. Ihre Vergehen waren oftmals trivial - wie die "Verbrechen", die von Mayhew im viktorianischen London beobachtet worden waren - oder zumindest nicht kriminell, doch fiel das Verhalten in solch weitläufige Kategorien wie unverbesserlich oder in schlechter Gesellschaft befindlich. Im Fall Gault 27 entschied der Supreme Court, daß das Prozedere am Jugendgericht dem verfassungsmäßigen Standard genügen müßte. Jugendliche Täter hätten beispielsweise ein Anrecht auf einen Anwalt. Der Gault-Fall wurde gerade zu einer Zeit aktuell, während welcher deutschen Studie über Straßenverkehrsdelikte; Edward Green: Inter- and Intra-Racial Crime Relative to Sentencing, 55 J. Crim. L., C. & P. S. 348 (1964) widerspiegelt einen anderen Gesichtspunkt. 24 Zitiert in J. J. Tobias: Crime and Industrial Society in the Nineteenth Century, 1972, S. 65. 2.6 Siehe Anthony M. Platt: The Child Savers: The Invention of Delinquency, 1969; vgl. auch Sanford J. Fox: Juvenile Justice Reform: An Historical Perspective, 22 Stan. L. Rev. 1187 (1970). 26 Edwin M. Lemert: Social Action and Legal Change: Revolution Within the Juvenile Court, 1970, S. 26. 27 387 V.S. 1 (1967). 13 Friedman

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man in Reformen und in reformerische Anwälte Geld zu stecken begann. Höherer Einsatz würde größere Verbesserungen erzielen. Bis dahin würde das Gericht, ungeachtet aller schriftlichen Versprechen, ein Ergebnis liefern, welches eher den Wünschen der Gesellschaft oder engagierter Fachleute entspricht, als den Bedürfnissen und Wünschen jenes Standes, dessen Kinder sich vor Gericht verantworten müssen. Die Präsenz eines Rechtsanwaltes hingegen bringt eine andere Situation, nicht so sehr wegen seiner rechtlichen Argumente, sondern vielmehr, weil er durch seine Anwesenheit zeigen soll, daß das Vorgehen seinem Mandanten gegenüber nicht demütig hingenommen wird. Eine Untersuchung über die administrative Anstaltseinweisung von Thomas Scheff unterstreicht diesen Punkt2B • Wer wurde gegen den eigenen Willen in Anstalten für geistig Abnorme eingesperrt? Scheffs Untersuchung zeigte, daß viele Eingewiesene auch nicht entfernt als geisteskrank bezeichnet werden konnten; sie bedeuteten weder für sich selbst noch für andere eine Gefahr. Viele von ihnen waren einfach alte Leute, leicht seltsam in ihren Gewohnheiten, deren Familien keine Geduld oder keinen Platz mehr für sie aufbrachten. Mit geringerer Wahrscheinlichkeit wurde ein Mörder lebenslang eingesperrt als jemandes senile Tante. Wie kam dieses grobe Versagen des due process zustande? Scheff bezog seine Informationen aus einem liberalen Bundesstaat. Das Gesetz schrieb ein sorgfältig durchdachtes Verfahren vor. Drei Bürger hatten das Untersuchungsgericht zur Abklärung anzurufen, ob die Person zurechnungsfähig war. Ein Anstaltspsychiater mußte den Patienten testen. Hierauf sollten zwei vom Gericht berufene Psychiater den Betreffenden ein zweites Mal einer Prüfung unterziehen. Dann hatte das Gericht einen Beistand zu bestellen, der ein Gespräch mit dem Patienten führte. Schließlich hatte der Richter ein Hearing abzuhalten, wo er alle notwendigen Anordnungen und Entscheidungen traf. Aber diese sorgfältig ausgearbeitete Verfahrensweise hatte keine richtige due-process-Wirkung. Die von Scheff untersuchten Gerichte wandten pro Person durchschnittlich 1,6 Minuten auf. Psychiater brachten nicht einmal 10 Minuten auf, ehe sie entschieden hatten, ob ein Patient in eine Anstalt eingewiesen werden sollte oder nicht. Im Gegensatz zur Jugendgerichtsbarkeit vor dem Gault-Fall war formell am Prozeßverfahren nichts unkorrekt, doch bestand eine gähnende Kluft zwischen der Macht des Patienten und jener der anderen Beteiligten. Auf der einen Seite standen Richter, Psychiater und Familienangehörige des "Geisteskranken", auf der anderen Seite stand ein Mensch im Dickicht des Verfahrens, der typischerweise arm oder alt war, oft 28 Thomas Scheff: Being Mentally Ill: A Sociological Theory, 1966; eine andere Studie ist: Civil Commitment of the Mentally Ill, 14 U.C.L.A. L. Rev.

823 (1967).

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etwas benebelt, meist unartikuliert. Unter diesen Umständen führt due process zu einer bedeutungslosen Komödie. Um es nochmals zu sagen, der Mangel lag nicht in der Struktur oder der Anlage des Verfahrens, sondern im richtigen Machtausgleich. Vor dem Gesetz - so lautet die Legalmaxime - wird jedermann bis zum Beweis des Gegenteils für zurechnungsfähig gehalten. Scheff fand aber heraus, daß die Praxis genau das Gegenteil zeigte. Jeder, der in das Netz hineingezogen worden war, wurde wie ein Verrückter behandelt. Ähnlich wird in der Theorie jedermann bis zum Beweis des Gegenteils für unschuldig gehalten. Tatsächlich nehmen Richter, Rechtsanwälte, Psychiater, Polizei und die Öffentlichkeit genau das Gegenteil an. Das Strafrechtssystem predigt die Vermutung der Unschuld, handelt aber nicht danach. Die Gesellschaft ist nicht bereit, eine hohe Geldsumme für das gesetzliche Verfahren bereitzustellen. Ein Großteil der Inhaftierten und Angeklagten werden letzten Endes für schuldig befunden oder bekennen sich schuldig. Die meisten sind tatsächlich schuldig, zumindest in einem Sinn: Sie haben wirklich die Bank ausgeraubt, das Haus in Brand gesteckt, sind ins Geschäft eingebrochen oder haben ihren Schwager erdolcht. Der wirksamste Weg, um diese Menschen in den Griff zu bekommen, wäre, sie alle einzusperren oder ohne weiteren Prozeß an die Wand zu stellen. Klarerweise würde dies mit den Schuldigen auch einige Unschuldige treffen, und Ungerechtigkeit in großem Maße könnte Zynismus, Angst, Gewalttätigkeit und sogar Aufstand hervorrufen. Diese Nebenwirkungen können unter Kontrolle gehalten werden, wenn das System nur jene Leute schlecht behandelt, die schon abtrünnig sind, oder solche, die unfähig sind, Schwierigkeiten oder Aufruhr anzuzetteln. Kurz gesagt, wenn die Mittel knapp sind und die Rechtsprechung in Routine ausartet, wendet sich das Ergebnis eher gegen die Armen und Schwachen als gegen die Öffentlichkeit insgesamt. Und warum sind die Mittel so knapp? Der Gesellschaft liegt nichts daran, Geld für ein System auszugeben, welches zu feine Unterscheidungen macht. Es würde viel Geld kosten, jedermann due process zu gewährleisten oder unparteiische Rechtsprechung zugute kommen zu lassen. Da das Recht die Eliten mit Samthandschuhen anfaßt, haben sie nur wenig Anreiz, es zu verbessern. Dies allein würde die Erscheinungen, die Scheff beschreibt, erklären. Aber bemerkenswert sind noch andere Faktoren: Recht ist vor allem ein Instrument der sozialen Kontrolle, was bedeutet, daß die Masse der Bevölkerung in Ruhe gehalten werden muß. Ein Hauch von Angst erledigt die Aufgabe besser als reine Gerechtigkeit. Daher unterstützen die Eliten eine gewisse Rücksichtslosigkeit im Rechtssystem. In der liberalen Mittelstandsgesellschaft sind diese Mißbräuche weniger ver13·

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breitet. Angst ist weniger nützlich. Nun kann sogar in diesen Gesellschaften ein gewisses Maß an Härte in der Strafgerichtsbarkeit der Masse der Leute ein Gefühl der Sicherheit geben, trotz dem einen oder anderen unschuldigen Opfer. Die Rechtstheorie mag behaupten, sie ziehe es vor, zehn Schuldige in Freiheit zu lassen, als einen einzigen Unschuldigen zu verurteilen. Aber das Rechtssystem verhält sich nicht so, und auch hier sagt das Verhalten, wie so oft, mehr über die öffentliche Meinung und den sozialen Druck aus als alle edlen Worte. Eine der auffallendsten Tatsachen in bezug auf moderne Rechtssysteme ist die weite Kluft zwischen ihren Aussagen (was sie als Ideale ausgeben) und ihrer tatsächlichen Funktionsweise. Dafür gibt es viele Grunde. Einer liegt darin, daß es für die Elite nützlich ist, wenn ihr System klassenlos und gerecht erscheint. Ein gewisses Maß an Heuchelei ist doppelt nützlich. Der zweifache Standard arbeitet zum Wohl derer an der Spitze. Gleichzeitig verbirgt er die Wirklichkeit vor dem Rest der Gesellschaft. Das Recht, schreibt Edgar Z. Friedenberg, ist vor allem darauf zugeschnitten, gewöhnlichen Leuten Fehlurteile aufzuerlegen, ohne diese Tatsache jedoch zuzugeben. Schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft ist der Zutritt zum Recht nicht verwehrt - was die integrative Macht des Mythos von einer gleichen Gerechtigkeit vor dem Gesetz zerstören würde -, doch zeigt es sich als viel schwerfälliger für ihre Verteidigungszwecke, als es sich in den Händen ihrer Angreifer erweist 29 • Die Justiz ist, kurz gesagt, klassengebunden. Die Gegenansicht ist ein Mythos. Doch ist die grundsätzliche Beziehung zwischen Wirtschaft oder Regierungsform und Justiz nicht so einfach, wie manche linken Kritiker es haben möchten. Recht wird nicht durch Interessen, sondern durch Forderungen bestimmt. Deklarierte Ideale können also die gegenüber dem Rechtssystem erhobenen Forderungen beeinflussen. Die augenscheinlichsten Beispiele sind die Ideale, die wirksam sind, aber die Armen zum Narren halten, indem sie sie niederhalten. Allerdings funktioniert das Verfahren auch auf die andere Seite. Hochgestochene Ideale können Druck auf die Bemittelten ausüben. Durch ununterbrochenes Einhämmern in Schulen, Zeitungen, Fernsehen glauben die Menschen dann tatsächlich an ihre Mythen und handeln vielleicht sogar danach. Es könnte ein leichter Zug bestehen, sich konform zum offiziellen Gesetzbuch zu verhalten. Auch in westlichen Ländern, die sich als Rechtsstaaten sehen, diskriminiert das System die Armen und Schwachen in gewisser Weise. Totalitäre Staaten schenken rechtlichen Idealen noch weniger Beachtung. Doch ist die genaue Beziehung zwischen politischen und gesetzn Edgar Z. Friedenberg: The Side Effects of the Legal Process, in Robert Paul Wolff (Hrsg.): The Rule of Law, 1971, S. 37, 40 - 41.

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lichen Systemen komplex. In einem interessanten Essay vertritt Elliott Currie die Ansicht, daß "repressive" Länder dazu neigen, eine ungewöhnlich große Zahl von relativ reichen und/oder mächtigen Leuten und im allgemeinen soliden Bürgern als abweichend zu bezeichnen. Das ist teilweise darauf zurückzuführen, daß diese Leute bessere Beute liefern. Currie führt die Hexenproze~se der Renaissance an, doch sind die Säuberungsaktionen und Enteignungen durch die Diktaturen des 20. Jahrhunderts näher liegende Beispiele30• Ganz offensichtlich kann eine repressive Gesellschaft nicht die ganze Oberschicht in Beschlag nehmen, doch steht es den Herrschern frei, gefährliche Elemente dieser Klasse zu liquidieren. Vielleicht liegt dies darin, daß in Rechtsstaaten wichtige Leute die staatliche Gewalt mehr oder weniger zu ihrem Vorteil nutzbar machen; Macht und Reichtum ziehen einander an, und die Regierung wird von ihnen kontrolliert. In repressiven Staaten ist die Regierung ein . Götze, der keinen äußerlichen Einschränkungen unterliegt. Und sogar die Reichen, die sich ein Vergehen gegenüber dem Staat leisten, müssen erkennen, daß sie sich ihren Weg in die Freiheit nicht erkaufen können. Reform und Reforminteressen in der heutigen Weit In den westlichen Ländern können allgemeine Ideale - sofern sie überhaupt eine Wirkung zeitigen - sowohl in der obersten als auch in der untersten Schicht wirken; in der obersten Schicht wie ein Stachel für das Gewissen, in der untersten sowohl wie ein Versprechen als auch wie eine Waffe. Der status quo ist keinesfalls versteinert. Die Armen und Schwachen haben in jüngster Zeit vermehrt Anzeichen eines Zusammenschlusses gezeigt, um gemeinsamen Druck gegen das System auszuüben. Der erste Schritt ist ein psychosozialer. Eine Gruppe, welche sich unterdrückt fühlt,muß die Idee verwerfen, daß sie ihre Lage verdient hat, oder daß die Vorschriften, die sie dahin bringen, wo sie nun ist, gerecht, begründet oder legitim seien. Sklaven müssen spüren, daß Sklaverei falsch ist oder daß es nicht richtig ist, daß sie Sklaven sind. An diesem Punkt wird Handeln möglich, und zwar auf der ganzen Bandbreite von orthodoxer Politik bis zurRe,b ellion. Natürlich wird es einer unterdrückten Gruppe meistens an StatuS und Geld mangeln, und sie wird oft versuchen, ihren Mängel an Mitteln durch Heftigkeit wettzumachen. Ein Aufruhr ist in einem gewissen Sinn eine intensive Form der Forderung an das System von denen, die glauben, keine Alternative mehr zu haben. Die arn, Aufruhr Beteiligten erhöhen den Preis für Ordnung und Unterwerfung für die übrige Gesellschaft. in

P. Curie: Crimes Without Criminals: Witchcraftand Its Contro! Renaissance Europe, 3 Law and Society Rev. 7 (1968).

30 ~lliott

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Zweifelsohne erzielt diese Taktik der "direkten Aktion" oder die Drohung mit einer solchen Taktik sehr oft Ergebnisse. Dramatische Gesten erkaufen ebenso politische Güter, die sonst viel Geld kosten würden. Presse, Rundfunk und TV-Kameras werden dem, der eine tote Ratte in den Gerichtssaal bringt, der sich selbst an einen Baum kettet oder der sich opfert, freie Publizität garantieren. Das Problem ist natürlich, daß manche Publizität schlecht ist, und ein Aufruhr ge-: nauso geeignet ist, eine Repression zu entfesseln wie Ergebnisse zu erzielen. Trotzdem, als in den 1960er Jahren die Unterprivilegierten der US-Gesellschaft die Forderungen nach Gerechtigkeit auf verschiedene Arten steigerten, erzielten sie einige beachtenswerte Erfolge. Laute Klagen über die Versäumnisse der Justiz sind selbst Zeichen einer Bewegung. In der heutigen Zeit gewinnt das Reforminteresse zusehends an Bedeutung. In wohlhabenden Gesellschaften leben immer mehr Menschen in überfluB an Geld und Zeit. Sie verwenden diesen überfluß auf viele Arten, vom Sonnenbaden über das Markensammeln bis zur Revolution. Manchmal sieht es aus, als kämen die Radikalen vorwiegend aus den oberen Schichten. Dieses Paradoxon mag deshalb auftreten, weil sich nur Menschen mit viel Freizeit Ideologien und Hobbies leisten können. Die meisten werden zufrieden sein, ihre Freizeit mit der Jagd nach dem Glück zu verbringen. Einige wenige werden sich etwas aktiver engagieren. Je mehr Menschen viel Freizeit haben, desto mehr Reformer wird es in absoluten Zahlen geben, wenn auch derselbe große Prozentsatz weiterhin Golf spielt und Ferien macht. Es gibt sozusagen Berufsreformer; von diesen wiederum sind ein paar außergewöhnlich erfolgreich, wie z. B. Ralph Nader; doch spielen auch Amateure eine wesentliche Rolle. So waren Hausfrauen aus Beverly Hills die Anführerinnen im Kampf um eine Smogkontrolle in Kalifomien. Frauen aus der Oberschicht, von der langweiligen Hausfrauenarbeit befreit, stellen einen bedeutenden Anteil der Freizeitklasse. Wilensky und Lebeaux betonen, daß man von einer Frau traditionsgemäß erwartet, daß sie sich um die Kinder, die Alten und Kranken sorgt und daß sie gefühlvoll, sanft, freundlich und empfindsam ist31 • Immerhin erklärt dies hauptsächlich die Richtung, in welche manche Frauen ihre Kräfte lenken. Die Bedeutung der Frau bei der Sozial reform ist ein Zeichen der Beziehung zwischen Freizeit und Reform. Ein weiteres Beispiel ist die Bedeutung des Adels bei der Entwicklung des britischen Wohlfahrtsstaates. Kohlearbeiter hatten weder die Gewandtheit noch die Zeit, für 31 Harold L. Wilensky und Charles N. Lebeaux: Industrial Society and Social Welfare, 1958, S. 322.

Reform und Reforminteressen in der heutigen Welt

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eine soziale Veränderung zu arbeiten, geschweige denn einen Zugang zur Macht. Da der Wohlstand sich in der Gesellschaft ausbreitet, ist für Refonn mehr und mehr Zeit und Kraft in den westlichen Ländern frei. Die Richtung der Reform ist eine andere Frage. Als Reform haben wir jeden Anstoß zur rechtlichen Erneuerung definiert, welcher nicht durch persönliche Interessen erklärt werden kann. Diese Definition ist politisch neutral. Die Rechte kann ebenso für Refonnen agitieren wie die Linke. Wahrscheinlich folgen die meisten Reformen dem, was man als liberal bezeichnen würde. Warum dem so ist, kann man nur erraten: aufgrund der Erziehungsweise der Freizeitklasse oder des Einflusses der Ideale, der in Schulen, Kirchen und durch die Medien ausgeübt wird. Refonn bedeutet Veränderung und daher Unzufriedenheit. Öffentliche Refonn ist vielleicht ebenso bedeutend geworden wie private Refonn. Unter öffentlicher Refonn meinen wir Refonnbestrebungen der Regierung, d. h. ein Handeln, welches nicht bloß eine Antwort auf den Druck von Interessengruppen darstellt und welches auch nicht durch die inneren Kräfte der Bürokratie ausreichend erklärt werden kann. In der heutigen Zeit beginnt die Regierungsmaschinerie mit offensichtlich wachsendem Tempo - sogar als Massenproduktion - , Programme, Veränderungen und Reformen herzustellen. Viele sind dem Druck von außen zuzuschreiben, aber bei manchen Reformen sind pressure groups kaum sichtbar. Jedes Jahr speien Dutzende von Ämtern und Behörden in den USA einen endlosen Strom neuer Ideen, Programme, Entwürfe und Vorschläge aus. Sind sie alle Produkte von Gruppenkonflikten? Es beginnt so auszusehen, als wäre die Maschine außer Kontrolle geraten. Wie ein Computer in einem Zukunftsroman hatte die Maschine begonnen, selbst zu denken, wie Daniel Moynihan es ausdrückt32 • Wenn man Recht und Regierung grundsätzlich nur als Kanäle, als Strukturen sieht, dann sollten sie antworten, nicht einleiten, reagieren, nicht produzieren und vorwegnehmen. Im allgemeinen erweist sich dies als wahr. Eine Regierung ist normalerweise passiv, sie wartet auf Probleme, die erledigt werden müssen33 • Heute jedoch findet man immer mehr handlungsfreundliche Zellen in der Regierung, besonders in den oberen Rängen. Vor allen Dingen ist die Regierung in der heutigen Gesellschaft so gewaltig, daß sie selbst eine große Interessengruppe darstellt. Ihre Arbeitnehmer bilden eine echte pressure group. Sie fordern weniger Arbeit und höhere Löhne wie alle Berufsgruppen. 32 Daniel Patrick Moynihan: Maximum Feasible Misunderstanding: Community Action in the War on Poverty, 1969, S. 23. 33 Herbert J. Gans: The Levittowners, Ways of Life and Politics in a New Suburban Community, 1967, S. 333.

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Kap. VII: Recht, Macht und Sozialstruktur

Sie zeigen auch Interesse für eine große, wachsende Regierung. Natürlich wird jede Behörde um die Erhaltung, und wenn möglich auch um die Ausweitung ihrer Autorität kämpfen. Ein neues Programm, eine Veränderung oder eine Reform stellt eine ausgezeichnete Entschuldigung dar. Sicherlich bedeutet dies nicht, daß die Dringlichkeit der Reform nicht echt ist, aber sie wird durch die institutionellen Notwendigkeiten verstärkt. Besteht auch ein Druck auf die Regierung, welcher nach Reform ruft, nicht nach einer einzelnen, sondern nach Reform im allgemeinen? Neben dem Durcheinander spezifischer Forderungen nach Subventionen für Baumwolle, niedrigeren Steuern auf Zigaretten sowie Plänen für heiße Mahlzeiten an Schulen, scheint es einen grundsätzlichen Ruf an die Regierung zu geben, tätig zu werden und für das Gemeinwohl zu arbeiten. Die öffentliche Meinung, die die modeme Rechtskultur widerspiegelt, erwartet offenbar eine aktive Regierung. Die Regierung soll Programme haben. Von den Behörden erwartet man, daß sie etwas tun und auf ein Ziel zugehen. Eine Regierung ohne Programme ist eine schlechte Regierung, eine Behörde ohne Programme eine schlechte oder stagnierende Behörde. Die Regierung unternimmt also große Anstrengungen zu zeigen, was sie tut. Eine Menge neuer Programme wird jedes Jahr angekündigt, welche Hilfe für die Nation oder die Welt verheißen. Bei einem neuen Regierungsantritt oder wenn ein neuer Mann die Führung einer Behörde übernimmt, wird die Programmkrämerei wieder vermehrt akut. Dies mag möglicherweise auch auf einen neuen Oberrichter zutreffen, obwohl Richter zu den wenigen Staatsbeamten gehören, von denen das Vorliegen eines neuen Programmes durchaus nicht erwartet wird. Welche Art von Programmen entwerfen die Behörden? Meistens gibt es natürlich keinen Mangel an Möglichkeiten. Interessengruppen sind froh, Vorschläge unterbreiten zu können; aber manchmal befinden sich die Gruppen in einem hoffnungslosen Konflikt. Da es ja eines Programms bedarf, kann das Programm mehr oder weniger aus dem Stoff einer reinen Reform gesponnen werden. Manche Interessengruppen sind schwach und drücken sich schlecht aus. Für gewöhnlich werden ihre Forderungen ignoriert. Wenn die Behörde ein Programm haben muß und die Opposition schwach ist, nimmt die Behörde die Rolle eines Stellvertreters oder eines Bevollmächtigten der Schwachen ein. Daraus wird ein Programm entstehen, das zumindest Spuren von reiner Re~ form aufweist. Die Regierungen der Industrienationen sind auch groß und wohlhabend. Wie reiche Private spüren sie ein Gefühl des überflusses. Sie können sich Luxus leisten. Der überschuß kann in Reform investiert werden, so wie es die Bürokraten als geeignet erachten. Dieser Prozeß

Reform und Reforminteressen in der heutigen Welt

201

braucht sich auf keinen speziellen Druck von außen zu stützen. Der überschuß könnte z. B. für Denkmalbauten oder Mondfahrten verwendet oder einfach verschwendet werden. Zweifellos ist Verschwendung sehr verbreitet, doch gibt es auch echte Reform. In den modernen Staaten sind immer mehr Staatsbeamte Berufsleute - Juristen, Ingenieure, Ökonomen und Sozialarbeiter. Berufsleute verfolgen wirtschaftliche und gruppenstatusbezogene Interessen. Sie sind auch darauf eingestellt, auf solch rationale Ziele hin zu arbeiten, wie sie von ihrem Beruf definiert werden. In ihrem Geist trennen sie scharf zwischen wissenschaftlich oder professionell und bloß politisch. Ein Autobahn-Ingenieur weiß, daß eine Autobahn mitten durch New Orleans laufen sollte - allein aus technischen Gründen, was auch immer die Politiker davon halten. Die Regierung zieht auch richtige Reformer an - Männer und Frauen, die mehr als das gewöhnliche Maß an Eifer in sich haben. Natürlich sind die meisten Staatsbeamten Menschen, die einfach ihre Arbeit machen. Aber zu gewissen Zeiten ist die Regierung für Idealisten besonders attraktiv. Der Beginn des New Deal von Roosevelt war eine solche Periode, die Kennedy-Administration vielleicht eine andere. Manche Programme - wie z. B. jene der Civil Rights Division des Justizministeriums - ziehen Idealisten besonders an. Ihre Ideale formulieren sich zu Vorschlägen und Reorganisationen um. Nicht alle Aktionen der Regierung können mittels der Interessengruppen-Theorie erklärt werden. Aber wir sollten uns in acht nehmen, die Wirkung der Reformanstrengungen nicht überzubewerten. Viele werden keinen Erfolg haben oder sich in kraftlose Kompromisse verwandeln. Viele werden zu zaghaft und zuwenig begründet sein. Die Bürokratie kann nie allzuweit von der Feuerlinie des sozialen Druckes abweichen. Das Maß der Erträglichkeit für Eliten und ausschlaggebende Gruppen setzt die Grenzen, innerhalb welcher sich Reformen abwickeln müssen. Innerhalb dieser Grenzen denkt und handelt die Maschine für sich selbst. Aus augenfälligen Gründen teilt das Gerichtssystem diese Züge nur schwach und versteckt. Unsere traditionellen Gerichte sind passiv; sie sitzen und warten auf Fälle. Sie rufen sie nicht selbst hervor. Es steht ihnen jedoch frei, Forderungen nach neuen Rechtsprinzipien Folge zu leisten oder sie abzulehnen. Höhere Gerichte kontrollieren die anhängigen Rechtsfälle. Gelegentlich bringen sie eine Doktrin in ihre Entscheidungen ein, welche von keinem Rechtsanwalt .erörtert oder auch nur angedeutet worden war. Und ein aktivistisches Gericht kann die Ansichten reformwilliger Streitparteien aufgreifen und der . Erneuerung auf diese Weise Antrieb geben.

Kapitel VIII

Über die Rechtskultur Die hauptsächlichen Ausführungen dieses Buches bezogen sich auf Rechtsakte, rechtliche Wirkungen und deren gegenseitige Beziehung. Kurz gesagt sind es drei Gruppen von Faktoren, welche die rechtlichen Wirkungen bestimmen: Sanktionen, gesellschaftliche oder peer-groupEinflüsse sowie innere Werte (Gewissen, Legitimitätsvorstellungen). Es sind vornehmlich gesellschaftliche Kräfte, welche das Recht (Rechtsakte) erzeugen, aber rein gesellschaftliche Kräfte sind zu unbestimmt, um direkt auf das Rechtssystem einzuwirken. Einzelne wie' auch Gruppen haben Interessen; solche Interessen müssen jedoch in Forderungen umgesetzt werden, bevor sie für das Rechtssystem von Bedeutung sind. Wohl sind die Gesetze (Rechtsakte) das Produkt gesellschaftlicher Kräfte und das Ergebnis von Druck, Feilschen, Kämpfen usw., wie diese eben auf die rechtlichen Institutionen einwirken. Doch die Einstellungen und Gefühle, welche Gruppen und Individuen veranlassen, für oder gegen das Recht zu sein, stellen gewichtige dazwischentretende Variablen dar. Ähnlich verhält es sich mit Bezug auf das Rechtsverhalten. Reines Rechtsverhalten hängt offensichtlich von Gefühlen und Einstellungen ab; diese sind auch in bedeutsamem Maß darüber bestimmend, ob die Rechtssubjekte Gruppen bilden, Druck ausüben, um das Recht zu ändern, als feindliche Abweichende handeln, usw. Es muß deshalb, was wir als Rechtskultur bezeichnen, immer mit in Betracht gezogen werden. In der Tat läßt sich die grundlegende Aussage über die Erzeugung des Rechts wie folgt neu formulieren: Gesellschaftliche Kräfte, nämlich Macht und Einfluß, wirken auf das Rechtssystem ein und bewirken Rechtsakte, wenn die Rechtskultur Interessen in Forderungen umwandelt oder diese Umwandlung zuläßt. Der Begriff Rechtskultur wurde in weitem Sinne verwendet, um eine Anzahl zusammenhängender Phänomene zu bezeichnen. Erstens bezieht er sich auf die allgemeinen Kenntnisse vom und die Einstellungen und Verhaltensweisen gegenüber dem Rechtssystem. Fühlt und handelt die Bevölkerung, als ob die Gerichte fair entschieden? Wann sind die Leute bereit, sich dem Gericht anzuvertrauen? Welche Teile des Rechts halten sie für legitim? Was wissen sie über das Recht im allgemeinen!? Diese I Betreffend Kenntnis und Einstellung siehe Adam Podg6recki u. a.: Knowledge and Opinion about Law, 1973; sowie die Abhandlungen von Berl Kut-

über kulturelle Besonderheit

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Stellungnahmen sind verschieden von einer Person zur andern, aber es läßt sich auch von der Rechtskultur eines Landes oder einer Gruppe sprechen, falls sich gewisse Muster finden lassen, welche diese Kultur von derjenigen anderer Länder oder Gruppen unterscheiden. Eine besonders wichtige Art der Rechtskultur einer Gruppe ist diejenige der juristischen Berufsleute - die Wertungen, Ideologien und Grundsätze von Anwälten, Richtern und anderen, welche innerhalb des magischen Zirkels des Rechtssystems tätig sind 2 • Das Verhalten und die Einstellung von Fachleuten haben eine große Wirkung auf die an das System gestellten Forderungen. Insoweit scheint das Rechtssystem wirklich mehr zu sein als ein Durchleitungskanal. Aber auch die Handlungen der Berufsleute sind erklärbar: Ein Richter wird in seinem Entscheid dann den an ihn gestellten Forderungen entsprechen, wenn dies in seinem Interesse liegt oder wenn seine peers oder Wertvorstellungen es gebieten. Die Wertvorstellungen aber sind, so sagen wir, der langfristige Rest einer Sozialstruktur, welcher alte Macht und früheren Einfluß verkörpert; und der Druck der peers hängt davon ab, wer diese sind z. B. von der Art der Rekrutierung in den Beruf, einem Faktor, der weit davon entfernt ist, politisch neutral zu sein. Das vielschichtige Verhalten von Fachleuten, die Rechtskultur der Insiders, ist demzufolge keineswegs eine selbständige Größe und damit keineswegs eine Ausnahme von der generellen Behauptung, daß die Gesellschaft gegenüber dem Recht den Vorrang einnehme. Ober kulturelle Besonderheit Wie kulturell spezifisch ist das Recht? In welchem Maße ist die Rechtskultur Frankreichs eine Besonderheit von Frankreich und der französischen Kultur? Es ist klar, daß rechtliche Verfahren in verschiedenen Gesellschaften verschieden aussehen. Die dem Gerichtssaal des englischen Richters in seiner weißen Perücke eigene Welt zeigt ein recht verschiedenes kulturelles Bild von demjenigen der Volksgerichte del Sowjetunion und der Gerichte der Lozis und Zapotecs. Das Recht jede:;; Staates ist einzigartig genug, um sein besonderes Studium erforderlich schinsky, Klaus Makela, Jan Gorecki und Adam Podg6recki in: Britt-Mari P. Blegvad (Hrsg.): Contributions to the Sociology of Law, 1966. 2 Dies war schon ein fruchtbares Gebiet für Sozialforschung über das Recht. Es existieren verschiedene Studien über Anwälte und Richter - ihren Hintergrund, ihre Verhaltensweisen, sozialen Eigenschaften und Einstellungen. über amerikanische Anwälte siehe beispielsweise Jerome Carlin: Lawyers on Their Own, A Study of Individual Practioners in Chicago, 1962; Joel F. Handler: The Lawyer and His Community, The Practicing Bar in a Middle-Sized City, 1967; Erwin O. Smigel: The Wall Street Lawyer, 19tH. Italien betreffendes Material wird besprochen in Renato Treves: Giustizia e Giudici nella Societa Italiana, 1972; solches über Deutschland in Wolfgang Kaupen: Die Hüter von Recht und Ordnung, 1969.

204

Kap. VIII: über die Rechtskultur

zu machen. Dies legt nahe, daß Rechtskulturen Massen von Brauch und Sitte darstellen, die mit der Kultur als Ganzem organisch verbunden sind, und nicht etwa neutrale Kunstprodukte, welche eine Gesellschaft sich aussuchen oder kaufen kann, und die nicht das Entstehungsmerkmal einer ganz bestimmten Gesellschaft tragen. Es bestehen auch Familien-Ähnlichkeiten zwischen Ländern mit gemeinsamem rechtlichen Erbe. Verschiedenheiten können natürlich auch irreführen; die weiße Perücke des englischen Richters kann bloßer Schmuck sein. In der modernen Welt lassen sich starke Argumente gegen die kulturelle Eigenart finden. Es bestehen außerordentliche Ähnlichkeiten zwischen Staaten, welche sich auf ungefähr demselben Entwicklungsstand befinden. Viele Länder - so Japan, die Türkei, Äthiopien - haben ganze Gesetzeswerke von andern Staaten übernommen. übernahme ist in der Tat ein Hauptthema des modemen Rechts. Die Kolonialreiche zwangen ihre Gesetze den Kolonien auf; die Kolonien haben viel von diesem Gesetzesbestand auch nach Erreichen ihrer Unabhängigkeit behalten. Die Übernahme oder das Behalten eines fremden Gesetzeswerkes legt nahe, daß das, was übernommen oder behalten wurde, nicht kulturell eigen im Sinne eines Brauches ist, sondern vielmehr eine Art Werkzeug darstellt, ein Stück Technologie - wie Düsentriebwerke, ComputerHardware oder eine Getreidekreuzung -, welches in einem Land verpackt und in ein anderes verschickt werden kann. Auf der andern Seite ist die übernahme eine Frage des offiziellen Rechts; wir wissen nicht, ob übernommene Gesetze und Regeln im nationalen Verhalten wirklich Wurzeln schlagen. Einige Wissenschaftler äußern sehr große Zweifel: Robert Seidman spricht sogar vom "Gesetz der Nichtübertragbarkeit des Gesetzes". Von einer Norm, die von einer Kultur zur andern übertragen 'wurde, kann (einfach) nicht erwartet werden, daß sie dieselbe Art der Rollen-Erfüllung herbeiführt, wie sie dies am Ort ihres ... Ursprungs getan hat 3• Überdies ist kulturelles Sich-näher-Kommen für einen Teil der Übernahme verantwortlich. Kapitalistische Wirtschaftssysteme brauchen kapitalistisches Recht; sozialistische Wirtschaftssysteme brauchen sozialistisches Recht; fortschrittliche Gesellschaften bedürfen fortschrittlichen Rechts - Normen und Institutionen, um mit Düsentriebwerken, Computern und Getreidekreuzungen umgehen zu können. Der leichteste Weg, um die geeigneten Gesetze zu erhalten, besteht darin, sie von einer geeigneten Quelle zu. übernehmen. So wie ähnliche Gesellschaftssysteme ähnliches Recht hervorbringen, so werden voneinander verschiedene Sozialstrukturen und 3 Robert B. Seidman: Administrative Law and Legitimacy in Anglophonic Africa: A Problem in the Reception of Foreign Law, 5 Law and Society Rev.

161, 200 - 201 (1970).

Rechtliche Subkulturen und rechtlicher Pluralismus

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Volkswirtschaften eine Verschiedenartigkeit des Rechts hervorrufen, jedoch wird diese Verschiedenartigkeit keine Sache der Kultur i. S. von Gebräuchen und Stil sein. Wir erwarten große rechtliche Verschiedenheit zwischen einer Stammes gesell schaft und Italien, viel weniger zwischen Japan, Frankreich und Finnland, obwohl diese drei Länder in einiger Hinsicht, so z. B. in bezug auf die Sprache, überhaupt nichts Gemeinsames haben.

Rechtliche Subkulturen und rechtlicher Pluralismus Rechtlicher Pluralismus bedeutet das Bestehen verschiedener Rechtssysteme oder -kulturen innerhalb einer einzelnen politischen Gemeinschaft. Pluralismus erscheint in vielen Formen. Er kann horizontal sein, was bedeutet, daß die Subkulturen oder Subsysteme gleichen Status oder gleiche Legitimität haben, oder vertikal, was bedeutet, daß sie mit einem "höheren" und einem "niedrigeren" Rechtssystem oder einer "höheren" und einer "niedrigeren" Rechtskultur hierarchisch geordnet sind. Pluralismus kann von kultureller, politischer und sozialökonomischer Art sein; siehe Tafel 1. Zwei Formen von horizontalem Pluralismus sind:

1. Der kulturelle Föderalismus Einige Nationen oder Reiche enthielten und erlaubten verschiedene rechtliche Subkulturen. Das ottomanische Reich ist ein klassisches Beispiel: Innerhalb des einen Reiches besaßen Moslems, Juden und Christen je ein eigenes Gerichtssystem für familienrechtliche und andere Angelegenheiten. Das heutige Israel hat einige Aspekte von kulturellem Föderalismus behalten. In Israel ist das Familienrecht mitsamt der Zuständigkeit des Gerichtes immer noch abhängig von der Religion des Betreffenden; die Anordnungen für Moslems, Christen und Juden sind voneinander verschieden4 • In Indonesien haben sich islamische Gerichtshöfe neben den staatlichen Zivilgerichten erhalten6 •

2. Der strukturelle Föderalismus Die USA sind vielleicht das beste Beispiel dieses Typus. Jeder der 50 Gliedstaaten hat bedeutende rechtliche Eigenständigkeit bewahrt. Die Staaten sind mehr oder weniger souverän in bezug auf Handels-, Familien-, Straf-, Haftpflicht-, Vertrags- und Bodenrecht. Die Schweiz, Kanada und Australien sind auch föderalistisch organisiert. Viele Bun4 Siehe Amnon Rubinstein: Law and Religion in Israel, in Haim H. Cohn (Hrsg.): Jewish Law in Ancient and Modern Israel, 1971, S. 190. 5 Daniel S. Lev: Islamic Courts in Indonesia, 1972.

Kap. VIII: über die Rechtskultur

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Tafel 1: Typen des Rechtspluralismus mit Beispielen Horizontal

Vertikal

Kultureller Pluralismus

Östliche Reiche

Koloniale Rechtssysteme

Politischer Pluralismus

Föderalismus

Hierarchische Rechtssysteme

Sozialökonomischer Pluralismus

Einige Formen von Status-GruppenPluralismus

"Zwei-Nationen"Pluralismus

desstaaten sind sowohl kulturell als auch strukturell verschiedenartig. Kulturelle Verschiedenartigkeit ist oft sogar die Entschuldigung für strukturelle Autonomie: die "autonomen Regionen" der Sowjetunion, das Südtirol in Italien. Die Differenz zwischen Nord-Dakota und SüdDakota ist jedoch schwerlich eine Differenz kultureller Art. In Kanada ist die Grenze zwischen Quebec und Ontario sowohl kultureller als auch politischer Art, die Grenze zwischen Saskatchewan und Alberta allein politischer Natur. Der vertikale Pluralismus läßt sich gleichermaßen in zwei Typen einteilen:

1. Koloniale Rechtssysteme In den Kolonien des 19. Jahrhunderts war oftmals ein offizielles, üblicherweise westliches Rechtssystem auf die "europäische" Bevölkerung der Hauptstadt und der größeren sonstigen Städte anwendbar. Einheimisches Recht war im Hinterland in Kraft. Es war jedoch immer klar, daß das westliche System das herrschende war. Im Falle eines Konfliktes hatte das einheimische Recht zu weichen. Auch unabhängige Nationen können "kolonial" sein. K. Ishwaran berichtet, daß Einwohner eines indischen Dorfes Gewohnheitsrecht anwenden, oder, wenn sie es als passend erachten, das "modeme, vom Staat in Geltung gesetzte Recht". Im Falle eines Konfliktes geht jedoch das modeme Recht vor6. Eine ähnliche Situation ist bei den Mayas in Mexico zu finden 7 , und ganz generell in kulturell viels~ichtigen Staaten mit einer kolonialen Geschichte.

2. Hierarchische Rechtssysteme Koloniale Rechtssysteme sind in gewisser Hinsicht gleich dem kulturellen Föderalismus, nur vertikal geordnet mit einem Boden und einer 6

K. Ishwaran: Customary Law in Village India, 5 Int'l J. Comp. Sociology

7

Jane F. Collier: Law and Social Change in Zinacantan, 1973.

228 (1964).

Rechtliche Subkulturen und rechtlicher Pluralismus

207

Spitze. Hierarchische Rechtssysteme sind die vertikale Seite des strukturellen Föderalismus. In den USA z. B. gibt es gliedstaatliches und bundesstaatliches Recht, wenn aber zwischen dem Recht Michigans und dem Recht der bundesstaatlichen Regierung ein Konflikt entsteht, so ist das bundesstaatliche Recht vorrangig.

Pluralismus von Status-Gruppen In vielen Rechtssystemen, insbesondere in denjenigen vor der Neuzeit, war das in bezug auf ein bestimmtes Individuum angewendete Recht abhängig von dessen Stand oder sozialer Klasse. In England fand Rittergutsrecht Anwendung auf die Bauern und Arbeiter, welche auf den großen Landgiitern lebten. Ritter und Adlige gebrauchten die königlichen Gerichtshöfe und das common law. Kaufleute hatten ihre eigenen Normen und Gerichte. Der Pluralismus der Statusgruppen war zu einem großen Teil vertikal, es bestanden aber innerhalb einer gegebenen Schicht auch horizontale Aspekte. Spuren von Status-Gruppen-Pluralismus überleben immer noch, beispielsweise in besonderen Normen für Kaufleute und besonderen Handelsgesetzbüchern in Kontinentaleuropa. Im allgemeinen geht jedoch die Richtung des modernen Rechts dahin, den Status-Gruppen-Pluralismus auszumerzen. Spezial recht besteht in reichem Maße, die Status sind jedoch, wie Max Weber feststellte, formell und generell allen Personen zugänglich8 • Das bedeutet, daß - zumindest formell - jedermann entscheiden kann, ein Kaufmann zu werden. Die Gesetze der modernen Länder enthalten Dutzende die Rechte und Pflichten von Apothekern betreffende Normen, trotzdem ist der Apotheker kein feststehender oder ererbter Status. Es handelt sich einfach um eine Beschäftigung, um eine Rolleo. Das moderne Recht schenkt der Geburt oder anderen Statusmerkmalen keine große formelle Beachtung; es regelt vielmehr besondere Rollen.

"Zwei-N ationen" -Pluralismus Dieser Typus findet sich wahrscheinlich in einem gewissen Grade in jedem modernen Rechtssystem versteckt. Das offizielle Rechtssystem betrifft und regiert mehr oder weniger die Wohlhabenden; die Armen stehen außerhalb dieses Rechtes. Das formale Recht macht keine Unterscheidung zwischen reich und arm. Das Recht der Armen ist formlos, nicht offiziell - und nachteilig. Eine gewisse Form des Pluralismus scheint unvermeidlich in jedem komplexen System. Ein Rechtssystem Max Weber: Rechtssoziologie, hrsg. v. J. Winckelmann, 1960, S. 105 ff. Manfred Rehbinder: Status, Contract and the Welfare State, 23 Stan. L. Rev. 941 (1971). 8

B

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

ist immer plural, wenn sich das offizielle, formale Recht in bedeutendem Maße vom gelebten Recht unterscheidet. Es ist dies ein allgemeiner Umstand nationaler Rechtssysteme. Struktureller und kultureller Pluralismus werden einander, obwohl sie verschieden sind, meist beeinflussen. Martin Levin konsultierte Daten über das Verhalten von Richtern bei Strafurteilen in den beiden Städten Minneapolis und Pittsburgh10 • Er befragte die Richter auch. Levin fand Verschiedenheiten im Verhalten und in der Einstellung. Pittsburgher Richter auferlegten z. B. leichtere Strafen als die Richter von Minneapolis. Die Richter von Minneapolis waren mehr auf die Gesellschaft und deren Schutzbedürfnisse sowie auf die Ziele ihrer Berufskollegen ausgerichtet als auf die Angeklagten. Ihre Entscheidungsfindung war formalistisch. Die Pittsburgher Richter andererseits waren mehr auf den Angeklagten ausgerichtet als auf Bestrafung oder Abschreckung l l . Es handelt sich um Einstellungen, einen Aspekt der Kultur, und sie lassen sich in klarer Weise auf das Verhalten der Richter beziehen, welche diesen Einstellungen Ausdruck gaben. Aber Levin entwickelte seine Studie nicht als eine solche über Einstellungen. Es war die Struktur, welche ihn faszinierte. Pittsburghs Richter waren aus den Reihen aktiver Parteimitglieder ausgewählt worden. Sie bewarben sich um das Amt in Parteiwahlen. Die Richter von Minneapolis bewarben sich in nicht mit der Partei zusammenhängenden Wahlen. In Minneapolis hatte der örtliche Anwaltsverband eine entscheidende Mitsprache bei der Auswahl der Richter; politische Parteien hatten keine. In Pittsburgh bestand die gegenteilige Situation. Levins Untersuchung legte deshalb eine innere Beziehung zwischen Struktur und Rechtsverhalten nahe. Niemand beabsichtigte, in den zwei Städten verschiedene Lösungen zu bewirken. Die Kultur der Richter war eine dazwischentretende Variable. Jedoch führten strukturelle Entscheidungen zur Wahl von Richtern mit materiell verschiedener Rechtskultur.

Vber die Einteilung von Rechtssystemen Der Begriff der Rechtskultur legt nahe, daß jedes Land oder jede Gesellschaft zumindest in gewissem Sinne eine eigene Rechtskultur besitzt, und daß nie zwei von genau gleicher Art sind, ebenso wie zwei Gesellschaften nie genau übereinstimmen in bezug auf Politik, Sozialstruktur und allgemeine Kultur. Und doch stehen einige Gesellschaften 10 Martin A. Levin: Urban Politics and Judicial Behavior, 1 J. Legal 8tudies 193 (1972). 11 Ders., S. 202 - 203.

über die Einteilung von Rechtssystemen

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in einem näheren Verhältnis zueinander als andere. Vielleicht verhält es sich gleich mit Bezug auf Rechtskulturen. Ist es möglich, Gesellschaften oder Länder entsprechend ihrer Rechtskulturen zu klassifizieren? Tatsächlich ist vielfach versucht worden, Rechtssysteme zu klassifizieren. Die Resultate sind nicht sehr brauchbar aus der Sicht der Sozialwissenschaften. Das Problem stellt sich bezüglich der Grundlage der Einteilung. Die Juristen teilen die Rechtssysteme herkömmlicherweise in Familien, Kreise oder Gruppen ein!2. Familie, Kreis oder Gruppe enthalten diejenigen Rechtssysteme, welche als am meisten miteinander verbunden erachtet werden. Die Glieder einer Familie haben einen gemeinsamen Vorfahren; sie stammen von diesem Vorfahren ab oder haben seine Rechtsinstitutionen übernommen. Das Modell für dieses Schema ist mehr oder weniger dasjenige der Einteilung der Tiere, Sprachen und Pflanzen!3. Wissenschaftler auf dem Gebiet der Rechtsvergleichung stimmen darin überein, daß verschiedene Familien die Rechtswelt beherrschen. Eine große Gruppe, der kontinentale Rechtskreis, wurde stark geprägt durch das klassische römische Recht und neigt zur Kodifizierung. Westeuropa, Lateinamerika und das französisch sprechende Afrika werden dieser Familie zugeordnet. Viele afrikanische Länder haben einiges von ihrem Gewohnheitsrecht bewahrt, der französische Einfluß ist jedoch sehr stark in den vormaligen Kolonien. Schottland, Louisiana und Quebec haben gleichfalls einen größeren oder kleineren Verwandtschaftsgrad mit der Welt des kontinentalen Rechts. Einige Wissenschaftler unterteilen den kontinentalen Rechtsbereich in französische und deutsche Unterfamilien. Die skandinavischen Rechtssysteme stehen etwas außerhalb der andern Glieder dieser Gruppe, obwohl sie viele Merkmale mit den kontinentalen Systemen gemeinsam haben!4. Die Länder der common-Iaw-Familie umfassen Großbritannien, dessen Kolonien, frühere Kolonien und Kolonien früherer Kolonien: USA und Kanada (ausgenommen in gewisser Hinsicht Louisiana und Quebec), Australien, Neuseeland, Jamaica, Trinidad, Barbados, sowie die Bahamas und andere. Das common law bildet sodann ein bedeutendes Element in Kenya, Ghana und Nigeria, in andern vormaligen Kolonien in Afrika und in Liberia. Der Einfluß des common law ist auch stark in Indien, Pakistan und Malaysia. 12 Siehe beispielsweise Rene David und John E. C. Brierley: Major Legal Systems in the World Today, 1968, S. 9 - 20; Konrad Zweigert und Hein Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. I, 1971; Ake Malmström: The System of Legal Systems, 13 Scandinavian Studies in Law 127 (1969). 13 Siehe Lawrence M. Friedman: Legal Culture and Social Development, 4 Law and Society Rev. 29 (1969). 14 Zweigert und Kötz (N. 12), S. 339 - 349.

14 Friedrnan

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

Einige Wissenschaftler betrachten die sozialistischen Rechtssysteme Europas - die Sowjetunion und die Volksdemokratien Osteuropas als eine eigenständige Familie 15 • Diese Gruppe hat jedoch eine starke Verwandtschaftsbeziehung mit der Welt des kontinentalen Rechts. Die muslim ischen Länder bilden eine andere, verschiedene Familie. Der ferne Osten ist mehr oder weniger eigenständig. Das japanische Recht ist eine einzigartige Mischung aus kontinentalem Recht und einheimischen Eigenschaften mit einem Schuß von neuerern amerikanischem Einfluß. Das heutige Indien und Israel haben vermischte Rechtssysteme, in welchen Elemente von hinduistischem bzw. jüdischem Recht Schulter an Schulter stehen mit Überlagerungen aus modernem westlichem Recht. Viele Systeme sind untergegangen und haben Überreste hinterlassen - alte Bücher, Inschriften, Papyri. Die Einordnung der Stammessysteme ist fast vollständig unentwickelt. Rechtssysteme auf diese Weise (in Familien) einzuteilen heißt vorauszusetzen, daß das Rechtssystem eines Landes etwas mehr ist als die Summe seiner Teile, daß es einen bestimmten Charakter und Stil besitzt, daß dieser Charakter andauert und durch Ableitung vom Vorfahren entstanden ist. Was die Rechtssysteme zu Gliedern einer einzelnen Familie macht, das sind gewisse grundsätzliche Merkmale, die ihnen gemeinsam sind. Es sind nicht abgesonderte Merkmale; sie hängen zusammen und bleiben über Zeiten hinweg bestehen; sie durchdringen die rechtlichen Institutionen eines Landes und geben ihm seinen kennzeichnenden Charakter. Was sind nun diese Merkmale HI ? Klassifizierer, wie solche, die Einteilungen in anderen Gebieten vornehmen, suchen einige Kernmerkmale, welche sie für Diagnose und Unterscheidung gebrauchen können. Die angewendeten Merkmale sind zumeist rechts technischen Bereichen entnommen, die vorab die Anwälte interessieren und die für äußere soziale Kräfte sehr wenig zugänglich sind. Oder es handelt sich um Teile des Rechtssystems, welche aus bestimmten historischen oder traditionellen Gründen in den Köpfen der Juristen großen Platz einnehmen oder auf 15 So beispielsweise David und Brierley (N. 12), S. 17; Zweigert und Kötz (N. 12), S. 349 ff. Die Teilung Deutschlands in einen sozialistischen und einen nicht-sozialistischen Teil liefert ein interessantes "natürliches" Experiment über die Einwirkung von ost-europäischem Sozialismus auf ein gegebenes Rechtsdenken. Siehe Inga Markovits: Sozialistisches und Bürgerliches Zivilrechtsdenken in der DDR, 1969. 16 David und Brierley (N. 12) stellen die Frage, was denn eine Familie überhaupt zu einer Familie macht. Sie schlagen als ein Kriterium vor, ob jemand, welcher in Studium und Praxis Ausbildung in einem Recht erhalten hat, ohne große Schwierigkeiten ein anderes Recht "handhaben" kann. Ein weiteres Kriterium ist, ob zwei miteinander verglichene Rechte auf gegensätzlichen philosophischen, politischen oder ökonomischen Prinzipien fußen, und ... zwei voneinander vollständig verschiedene Gesellschaftstypen zu verwirklichen suchen (S. 12).

über die Einteilung von Rechtssystemen

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welche in der juristischen Schulung Wert gelegt wird, unabhängig von ihrem praktischen Gewicht. Für viele Rechtswissenschaftler sind z. B. die common-Iaw-Systeme von Ontario oder Pennsylvania ganz andere Welten als die kontinental rechtlichen Systeme von Bolivien und Frankreich. Die stare-decisis-Doktrin, die Geschworenen in Zivilsachen und gewisse Begriffe und Institutionen (the trust, the doctrine of consideration) sind dem common law eigen. Das kontinentale Recht andererseits hat sein eigenes Arsenal von Begriffen, eine römisch-rechtliche Grundlage und in den meisten Ländern eine Gesetzeskodifikation. Unsere imaginären Rechtswissenschaftler haben jedoch diese Merkmale nicht etwa ausgesondert, weil sie besonders vitale Teile des lebendigen Rechts darstellten oder viel mit der Rechtswirkung zu tun hatten. Tatsächlich sind die Geschworenen im Zivilprozeß in England beinahe verschwunden; die doctrine of consideration hat allenthalben nur geringe praktische Bedeutung. Eine Einteilungsphilosophie, welche für die Biologie geeignet ist, mag nicht geeignet sein mit Bezug auf das Recht. Die Evolutionstheorie schafft einen Ausgangspunkt und einen Rahmen für die Klassifikation in der Biologie. Es besteht hingegen keine analoge Theorie für das Recht. Natürlich trifft zu, daß das amerikanische Recht in einem interessanten Sinne aus dem englischen Recht hervorgeht, und daß das Recht von Louisiana in gewissem Sinne dem kontinentalen Recht Spaniens oder Frankreichs ähnlich ist. Aber diese tatsächlich bestehende historische Verwandtschaft vermag nicht viel herzugeben. Die klassische Typologie erklärt sehr wenig, ausgenommen die formale Herkunft der als Basis verwendeten Merkmale. Diese werden jedoch eben gerade als grundlegende Merkmale ausgewählt, weil sie ein Einteilungsschema ermöglichen. Falls wir wissen, zu welcher Familie ein Land gehört, was wissen wir mehr über die betreffende Gesellschaft? Ist es uns möglich, etwas vorherzusagen über seine Politik, Gesellschaft oder Wirtschaft, seinen Entwick:lungsstand? Die Aussage ist angebracht, daß nichts bewiesen worden ist. Ein Problem stellt sich mit Bezug auf die Merkmale selber. Wir kennen z. B. die Wirkung der Jury nicht. Hat das Geschworenen-System politische Konsequenzen? Begünstigt es die Demokratie? Es wäre vorschnell, die Frage mit Ja zu beantworten. Viele Systeme, welche die Jury nicht kennen, scheinen ebenso demokratisch zu sein wie die common-IawLänder. Einige Länder mit Jury scheinen weniger mitwirkungsträchtig zu sein als andere Länder ohne Jury. Es besteht kein Zweifel, daß das Mitwirken auf einer Geschworenenbank Einstellung und Verhalten einer Person beeinflussen könnte. Aber wir wissen nicht, von welcher Bedeutung die Stellung ist, welche die Jury im rechtlichen und sozialen Leben des Gemeinwesens einnimmt oder welche funktionelle Äquiva14·

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

lente anderswo existieren. Wir könnten ähnliche Fragen stellen über andere diagnostische Merkmale und über die Merkmale insgesamt. Es ist ganz einfach nicht möglich zu sagen, es habe das common-IawSystem, wie es sich in England entwickelte, bei der Errichtung der parlamentarischen Regierung eine Rolle gespielt. Noch weniger würde man sagen wollen, daß es etwas mit dem Ausbruch der industriellen Revolution zu tun gehabt habe. Wäre es möglich, etwas zu sagen über das common law selbst als bewegende Ursache von wirtschaftlichen und politischen Wechseln? Was vermag das common law heute für ein Land zu tun? Was würde es tun für Burma oder Iran? Es ist zu beachten, daß unser Skeptizismus der Vorstellung einer common-Iaw-Familie gilt. Englisches Recht hat ganz gewiß die Geschichte Englands beeinflußt. Die englische Gesellschaft hat das englische Recht hervorgebracht, und das englische Recht hatte wiederum rückwirkenden Einfluß auf die englische Gesellschaft. Unter englischem Recht verstehen wir dessen Gesamtheit, einschließlich der Normen und Institutionen, welche die Juristen in Rechtsschriften normalerweise nicht beachten - im modemen Recht insbesondere Verordnungen und Verwaltungsvorschriften. Das englische Recht war auch ein wichtiger Teil der Grundlage des amerikanischen Rechts. Engländer brachten es hinüber, englische Beamte wendeten es an, und Richter und Anwälte, die kein anderes Modell kannten, kopierten es und folgten ihm. Natürlicherweise bleibt ein großer Teil dieses common-Iaw-Substrates bestehen. Amerikanisches Bodenrecht hat einen deutlichen englischen Anstrich. Vertragsund Haftpflichtrecht haben in den zwei Ländern im 19. Jahrhundert stark aufeinander eingewirkt und bewahren gewisse familiäre Ähnlichkeit. Es ist im ganzen gesehen einfach, das historische, in diesem Fall englische Element im amerikanischen Recht zu übertreiben; ebenso leicht ist es, den Einfluß des alten englischen Rechts im modemen England zu sehr herauszuheben. Seit sich die beiden Länder politisch trennten, liefen auch ihre Rechte verschiedene Wege. Auf wichtigen Gebieten des modemen Rechts - Stadt- und Regionalplanung, Steuerrecht, Gesellschaftsrecht, Wohlfahrtsrecht - sind die zwei Rechte dermaßen auseinandergewachsen, daß sie sich zueinander wie zwei gegenseitig unverständliche Dialekte verhalten. Einem amerikanischen Juristen ist es kaum möglich, die englischen Gerichtsfälle und Gesetze zu verstehen und umgekehrt. Auf dem Gebiet des Rechts sind Form und Ausdrucksweise oft recht willkürlich. Es bedarf einer Bezeichnung für eine Grunddienstbarkeit, aber solange jeder Betroffene sie kennt, spielt ihr Name kaum eine Rolle. Das Recht hält sich aus reinen Nützlichkeitserwägungen an her-

Die Kultur der Modernität

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gebrachte Wörter. Die Rechtssprache der USA ist natürlich Englisch. Weshalb sollte man also die Bezeichnung des Klägers (plaintiff) ändern oder die unerlaubten Handlungen (torts) anders nennen? Auch teilen die zwei Länder eine Sprache und zu einem gewissen Grad eine Kultur. Beide haben mit andern modernen Nationen zusammen eine industrielle Revolution durchgemacht; beide haben urbanisiert; beide haben die Gaben der Wissenschaft und der Technologie aufgenommen. Beide haben immer größeren Teilen der Bevölkerung das Stimmrecht gegeben. Beide haben Kriege und Depressionen erlitten. Beide haben sich daran gemacht, die Wirtschaft zu regulieren; beide ziehen aus ihren Bürgern jedes Jahr Milliarden in Form von Steuern; beide haben, wenn sich diese im Detail auch stark unterscheiden, komplizierte Programme der sozialen Wohlfahrt aufgebaut. Kurz, man würde eine enge Beziehung zwischen dem Recht dieser zwei Länder erwarten, sogar ohne daß eine gemeinsame Mitgliedschaft in einer Familie des common law gegeben wäre. Eine ähnliche Geschichte und ähnliche ökonomische Bedingungen sollten eine auffallende Ähnlichkeit in der Rechtskultur bewirken. Warum ist dann das französische Rechtssystem so verschieden? Frankreich hat in der Neuzeit ähnliche Erfahrungen gemacht. Tatsächlich haben sich das französische und das englische Recht zweifellos um einiges angenähert, falls man eher das lebendige Recht als die diagnostischen Merkmale betrachtet. Natürlich könnte niemand die Rechtskultur eines englischen Barristers mit derjenigen eines französischen Avocats verwechseln, aber die Annäherungen sind genau dort sehr auffällig, wo die nationalen Erfahrungen am ähnlichsten sind, wie z. B. im Wirtschafts recht. Es überrascht nicht, daß die Länder sehr verschieden bleiben in bezug auf die Terminologie und viele eher unbedeutende Regeln. Diese, sowie die Bräuche der Juristen bewahren einen fremden Anschein, der bis zu einem gewissen Grad täuschen mag. Die Kultur der Modernität

Es läßt sich über Rechtskultur auf vielen Stufen der Abstraktion sprechen. Auf einem hohen Abstraktionsniveau mögen beispielsweise kulturelle Merkmale existieren, die allen modernen oder industrialisierten Nationen gemeinsam sind. (Unter modern verstehen wir nichts anderes als ein in einer industrialisierten Gesellschaft funktionierendes System.) Einige Wissenschaftler glauben, solche Merkmale zu erkennen. Insbesondere sehen sie ein allgemeines Muster der Rechtsentwicklung von tieferen zu höheren Stufen, von vor-modernen zu modernen. Mit diesen

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

Theorien befaßt sich Kap. X. Hier halten wir die allgemeine Idee fest, daß das moderne Recht, sagen wir seit der industriellen Revolution, etwas ganz besonderes, ganz von den Systemen der vor- und nichtmodernen Gesellschaften Verschiedenes ist. Die Normen und die Institutionen sind selbstverständlich verschieden, aber so sind auch die zugrundeliegenden Einstellungen, kurz die Kultur l7 • Die überlieferten Rechtssysteme haben besondere Theorien über die Legitimität, welche sie vom modernen Recht trennen. Sie akzeptieren die Idee der Rechtsänderung nicht leichthin. In vielen alten Systemen war das Recht göttlicher oder transzendenter Natur, ein Teil eines Gottesgeschenkes oder Gottesbefehls, durch die Gottheit selbst oder durch Stellvertreter, Propheten und Orakel überliefert. In anderen Systemen bestand das Recht aus althergebrachtem Brauch - traditionellen Methoden, der Nachwelt aus unvordenklicher Zeit überliefert und heilig aufgrund ihres Alters. Das nicht-moderne Recht betrachtete, kurz gesagt, das Recht nicht als veränderbares Menschenwerk. Selbstverständlich gab es auch früher Veränderungen. Einige geschahen allmählich, fein und unbemerkt. Andere Gesetzesänderungen, wie im mittelalterlichen deutschen Recht, waren als Berichtigungen und Wiederherstellungen von grundsätzlich unveränderbarem Recht verkleidet l8 . In einigen alten Gesellschaften schufen Könige und Häuptlinge gelegentlich neue Regeln, oder sie verkündeten Erlasse mit oder ohne die Zustimmung eines Senates oder Ältestenrates 19 • In einigen änderten charismatische Führer das Recht in dramatischen Streichen, sich oft auf direkte Offenbarung berufend. Eine Änderung war also möglich; aber sie war außergewöhnlich und nie ein Teil des üblichen Rechtsverlaufs. Das moderne Recht kehrt demgegenüber die grundlegende Vermutung um. Es ist in stetem Fluß. Einige Teile des Rechts enthalten zeitlose Werte, aber die Hauptmenge des Rechts ändert sich und ändert sich oft, zumindest in seiner äußeren Aufmachung. Die Bevölkerung weiß, daß vieles oder alles Recht weder ewigdauemd noch göttlich ist. Große Teile des Rechts sind nicht mehr als sittlich neutrale Werkzeuge, Mittel für einen bestimmten Zweck. Das Recht ist "gut", wenn es einen nützlichen Zweck fördert. Der Wechsel von den hergebrachten zu den instrumentalen Theorien des Rechts war grundlegend und bedeutend. Unter instrumentalen Theorien verstehen wir, daß das Recht grundsätzlich Menschenwerk ist, 17 Niemand kann die in ganzen Gesellschaften vorhandenen Einstellungen wirklich messen - ganz gewiß nicht in vergangenen Gesellschaften. Aussagen über die Rechtskultur beruhen deshalb bestenfalls auf wackeligen Beweisen. 18 Wilhelm Ebel: Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, 2. Auf!., 1958, S. 15 - 20. 19 T. O. Elias: The Nature of African Customary Law, 1956, S. 191 - 206.

Die Kultur der Modernität

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geschaffen von der Gesellschaft, um einen gewissen Zweck zu erfüllen, und daß es geändert werden kann, um seinen Zweck besser zu erreichen. Die Änderung geschah nicht isoliert, nur im Recht zum Ausdruck kommend. Vielmehr handelte es sich um die rechtliche Phase einer kulturellen Revolution. Die moderne Gesellschaft ist von der vergangenen in mancher Hinsicht verschieden, was von Weber in einem einzigen Begriff zusammengefaßt wurde: das Rationale. Die moderne Gesellschaft ist eine Gesellschaft, die nach Vernunft strebt. Arbeitsteilung, wissenschaftliche Spezialisierung und technische Differenzierung haben die moderne Welt gänzlich umgewandelt; trotz Ausnahmen, überbleibseln und Gegenbewegungen sind Leistungsfähigkeit und Produktivität zu bedeutenden gesellschaftlichen Werten geworden 20 • Solch ein großer, grundsätzlicher Wandel hat weder über Nacht stattgefunden, noch wurde er von einem einzelnen Mann oder einer einzelnen Schule ausgedacht. Es scheint natürlich, die industrielle Revolution als den Prozeß anzusehen, welcher mehr denn jeder andere die Änderung auslöste; und man erinnert sich natürlich der englischen Utilitaristen, welch.e die moderne Rechtstheorie sehr ausdrücklich aufzeigten. Die großen Rechtsphilosophen sind aber im allgemeinen diejenigen, welche Ideen über das Recht und rechtliche Vorgänge in einer eleganten, systematischen Weise erklären. Aber die wesentlichen Lehrsätze der Jurisprudenz stammen wahrscheinlich von weniger zusammenhängenden, weniger systematischen Ideen, die in einer gewissen Periode in der Luft schweben. Die Bedürfnisse des juristischen Berufsstandes stellen einen weiteren Anreiz für diese Lehrsätze dar. Gleichzeitig ist das rechtliche Denken, wie edel, anregend und ethisch vernünftig es auch ist, notwendigerweise an seine Kultur gebunden. Die Kultur gibt den Rahmen, innerhalb dessen sich das rechtliche Denken bewegen kann. Die Kultur ist ebenfalls dafür weitgehend bestimmend, welche der wetteifernden Lehrmeinungen zu einer gewissen Zeit und bei wem am meisten Achtung erringen kann. Die instrumentale Rechtstheorie hatte ihre Grundlage zweifellos in der öffentlichen Meinung. Unter öffentlicher Meinung verstehen wir natürlich nicht eine einfache Zählung nach Köpfen21 , sondern eher die Einstellungen der Macht- und Einflußreichen - was die Meinungsführer dachten und was andere Personen von ihnen übernahmen. Der Ausdruck andere Personen bezieht sich in diesem Zusammenhang beispielsweise für 1800, 1820 oder 1850 auf den gewöhnlichen Kaufmann, Landeigner oder Geschäftsmann22 • Julien Freund: The Sociology of Max Weber, 1968, S. 18. Siehe Kap. VI. 22 In diesem Sinne wird der Ausdruck öffentliche Meinung gebraucht in Albert V. Dicey: Lectures on the Relation between Law and Public Opinion 20

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

Änderten sich die Ideen über das Recht zur Zeit der industriellen Revolution in bedeutender Weise? Das Rechtsdenken als solches bietet einen, zwar nicht zweifelsfreien, in diese Richtung weisenden Beleg. In Europa war dies die Zeit der großen Kodifikationen. Land um Land machte sich daran, neue, systematische, rationale und von Menschen geschaffene Gesetze zu erarbeiten. Natürlich standen hinter diesen Kodifizierungen starke intellektuelle Bewegungen und Regungen von seiten der Wirtschaft2 3 ; was auch immer die Ursache war, scheint jedoch der Wechsel der Haltung unverkennbar. Die neue Rechtskultur hat, obwohl von durchdringender Art, ältere Haltungen nicht gänzlich zum Verschwinden gebracht. (Auch das alte Recht wies Einschlüsse von vernünftigem und utilitaristischem Gedankengut auf.) Traditionelle und sakrale Theorien färben immer noch auf das Recht ab - so beispielsweise im Verfassungsrecht allgemein und bei den Grundrechten. Es wäre nicht zutreffend, jedes nicht strikte instrumentale Element im Recht ein überbleibsel der Vergangenheit zu nennen. Dies würde in sich schließen, daß diese Elemente zum Aussterben verurteilt wären oder daß fortschrittliche Gesellschaften sie ausmerzen sollten. Das Verfassungsrecht in den USA ist ein dynamisches Rechtsgebiet und ein Vehikel für dramatische soziale Veränderungen. Dieser Zweig des Rechts hat überlebt, blühte und war nützlich, obwohl (oder weil) seine Macht teilweise in der Anrufung von Zeitlosem, Traditionellem, von Moral und Idealen liegt. Modernität im Recht und Modernität in der Gesellschaft: Ursache und Wirkung Es kann zwar argumentiert werden, die modernen Anschauungen über das Recht seien Kinder der industriellen Gesellschaft, oder das moderne rechtliche Gedankengut und die moderne industrielle Gesellschaft seien zur selben Zeit entstanden, vielleicht verursacht durch einen gewissen dritten, unbekannten Faktor. Eine ganz andere Sache aber ist es zu behaupten, es hätten die neuen Formen des Rechts oder neue Ideen über das Recht selber zur Ankündigung der neuen Welt beigetragen, oder sie seien eine Art Voraussetzung dafür gewesen. Dies ist weitgehend eine Frage der strukturellen Variablen. Es ist zudem eine Frage der Beziehung zwischen rechtlichen Familien und wirtschaftlicher Entwicklung. Nach konventioneller Anschauung begann die industrielle Revolution in England. Dabei taucht natürlich die Frage auf, welche Rolle das common law spielte. in England during the Nineteenth Century, 1905. Vgl. die Erörterungen über den Positivismus in Niklas Luhmann: Rechtssoziologie, Bd. 2, 1972, S. 207 - 217. 23 Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1952, S. 197 - 216.

Modernität im Recht und Modernität in der Gesellschaft

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Talcott Parsons behandelt eine Seite dieser Frage. Das englische Rechtssystem war, wie er sagt, ein integriertes System von umfassenden Normen; die moderne Wirtschaft und Gesellschaft konnten sich nicht ohne ein solches System entwickeln24 • Max Weber vertrat einen andern Standpunkt. Industrie und Wirtschaft rufen nach einem gewissen Grad der Vernünftigkeit; aber Weber war beeindruckt von der Tatsache, daß das common law weniger rational als andere europäische Systeme war und ist. Weber hielt dafür, daß der Kapitalismus beinahe trotz des Rechtssystems nach England kam. Tatsächlich blüht der Kapitalismus ebenso und zeigt auch im wesentlichen gleiche ökonomische Merkmale unter Rechtssystemen, welche zumindest aus juristischer Sicht deutlich verschiedene Normen und Institutionen enthalten25 • Der letzte Satzteil: "aus juristischer Sicht" ist jedoch entscheidend. Die juristische Sicht ist, worauf wir schon viele Male hingewiesen haben, eng und verzerrt. Sie bezieht sich hauptsächlich auf die die Juristen interessierenden Rechtsgebiete eher rechtstechnischer Art. Dieser Teil des Rechts mag oder mag nicht wichtig sein, nimmt man als Standpunkt die wirtschaftliche Entwicklung. Wie wir aufzeigten, vermag allein die Mitgliedschaft in einer Familie von Rechtssystemen den Kapitalismus (oder den Sozialismus) kaum zu fördern oder zu hemmen. Die Glieder großer Familien bilden eine sehr verschiedenartige Menge: Haiti und Frankreich zählen beispielsweise zur selben Familie. Jede Familie scheint anpassungsfähig zu sein an jeden Stand der Kultur, ebenso wie sich jede Sprache jedem Thema, jeder Wissenschaft, jeder Kunst anpassen kann. Dies will nicht sagen, daß es keine Merkmale gibt, welcher ein modernes Rechtssystem, ein System, das in einer industrialisierten Gesellschaft existiert, bedarf. Gewiß, ein Rechtssystem, welches keine Elastizität aufweist, welches sich mit den ändernden Zeiten nicht zu ändern im Stande ist, welches in Wirtschaftsangelegenheiten keine vernünftige Verläßlichkeit gewährt, wird im 20. Jahrhundert nicht funktionieren. Es ist nicht schwer, diesen Ansprüchen gerecht zu werden; jedes Rechtssystem scheint sie zu erfüllen, wenn sich die Notwendigkeit stellt. Es ist klar, daß Voraussehbarkeit und Flexibilität keine Eigenschaften des formalen Rechtssystems zu sein brauchen. Es wäre ein Fehler, Rechtssysteme allein auf Grund von formalen Merkmalen als mehr oder weniger entwickelt, mehr oder weniger modern, mehr oder weniger funktionell einzuordnen. Maßgebend ist, wie das System im wirklichen Leben funktioniert. Dies wirft die Frage nach Ursache und Wir24

Talcott Parsons: Evolutionary Universals in Society, 29 Am. Soc. Rev.

25

Max Weber: Rechtssoziologie, hrsg. v. J. Winckelmann, 1960, S. 284.

339 (1964).

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

kung auf. Vielleicht verhält es sich so, daß soziale Vorgänge auf einer gewissen wirtschaftlichen Wachstumsstufe das benötigte Recht automatisch bewirken oder zu bewirken versuchen. Falls das formale System den Ansprüchen nicht nachkommt, wird es das informelle tun. Ober nationale Rechtskultur: Mit spezieller Bezugnahme auf die USA und Großbritannien Jede Nation besitzt, so haben wir gesagt, eine unterschiedliche Rechtskultur. Aber es ist schwierig, die Rechtskultur zu erforschen, und es existieren nur wenig systematische Unterlagen über Kulturvergleiche. Es bleiben uns somit wenig mehr als Eindrücke. Gibt es eine spezifisch amerikanische Rechtskultur - Haltungen und Wertvorstellungen, welche der Nation als einer Gesamtheit gemein oder leidlich gemein sind und sich von Haltungen und Wertvorstellungen anderer Länder unterscheiden? Die Antwort ist keineswegs klar. Eine nationale Kultur ist eine Art Anhäufung, schwer vergleichbar mit anderen Anhäufungen. Auch Vergleiche von Teilen der Kultur sind verzwickt. Französische und amerikanische Bauern mögen dem Recht gegenüber verschieden eingestellt sein; wenn jedoch die zwei Gesellschaften den Begriff des Bauern anders bestimmen, und wenn die Bauern in den zwei Ländern verschiedene soziale Rollen einnehmen, so mag der Vergleich als solcher irreführend sein. Neuste Forschungen haben die Unterschiede in bezug auf' die Rechtskenntnisse und die Einstellung gegenüber dem Recht auf nationaler Ebene zu untersuchen begonnen26 • Selbstverständlich sind Einstellungen erst ein Teil der Angelegenheit. Die Rechtskultur ist von Bedeutung, weil die Einstellungen an das Rechtssystem gerichtete wirkliche Forderungen schaffen helfen. Was zählt sind Einstellungen, die sich in einem Verhalten manifestieren. Die Kultur bildet Strukturen; Strukturen ihrerseits bewirken Einstellungen, weil sie bestimmen, was möglich ist, festsetzen, was gebräuchlich ist, und den Kreis beschreiben, innerhalb dessen sich der Verstand in dieser Kultur bewegen muß. Darüber hinaus ist die Struktur gültiger Beweis für die Einstellung. Eb folgerichtiges strukturelles Muster verrät und beschreibt die zugrundeliegenden Einstellungen wie eine Kleidung, die der Form des Körpers folgt. Einstellungen und Strukturen wirken gegenseitig aufeinander ein. Das Recht der Testamente und der Erbfolge vermag beispielsweise sehr viel über soziale Einstellungen zum Eigentum, zur Familie und zum Tod auszusagen. Die Struktur des Erbrechts beschreibt andererseits die Art und 26

Siehe z. B. Adam Podg6recki u. a.: Knowledge and Opinion About Law,

1973.

über nationale Rechtskultur

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Weise, wie wir auf den Tod über unser Eigentum verfügen; andere Arten werden undenkbar. Wo die Menschen an die Idee des Prozesses gewöhnt sind, d. h. an die Idee, daß man Streitigkeiten einem Gericht vorlegt, werden die Gerichte beschäftigt und in Ansehen sein. Die Menschen nehmen dann die Gerichte als beschäftigt und im Ansehen stehend wahr; dies wirkt sich auf ihre eigene Meinung aus. Und so geht es weiter. Einige Eigenschaften des amerikanischen Rechtslebens sind Beobachtern als einzigartig oder als von einmaliger Wirkung aufgefallen. Eine ist die Gewaltenteilung. Die USA nahmen ihren Anfang mit einer Revolution gegen die Vorherrschaft einer entf'ernten Monarchie. Die Verfassung von 1787 war von der Idee des Gleichgewichts der Kräfte eingenommen; der Plan der Regierungsform war föderalistisch. Die Staaten behielten bedeutende Gewalt. Politische Denker des späten 18. Jahrhunderts fürchteten konzentrierte Gewalt. Kaufleute, Landbesitzer, Kirchenleute und Juristen stimmten überein. Die grundsätzliche Haltung scheint bis heute fortzudauern. Die Verfassung war die Folge und nicht die Ursache dieser Haltung; sie mag jedoch dazu verholfen haben, diese Haltung am Leben zu erhalten. Wir müssen uns aber in Erinnerung rufen, daß andere Länder dem Gleichgewicht der Kräfte ebensolche Bedeutung beimessen - auf dem Papier, während die Worte in der Praxis kein Gewicht haben 27 • In den USA ist die Philosophie des Gleichgewichts der Kräfte so auffällig, daß man sie als unterscheidendes Merkmal der Rechtskultur bezeichnen kann. Das Mißtrauen einflußreicher Amerikaner gegen konzentrierte Gewalt ist eine Haltung, nicht eine Philosophie, nicht eine systematische, folgerichtige Weltsicht. Die Einstellung zeitigt strukturelle Folgen: Amerikaner tolerieren oder bilden politische Strukturen, welche den Pluralismus zulassen, nämlich geteilte Autorität und mannigfaltige VetoGruppen. Die amerikanische Regierung und das amerikanische Recht sind organisiert auf Grund dessen, was man ein Kriegsherren-System nennen könnte 28 • Beinahe jedes Bollwerk formeller Gewalt wird ausgeglichen durch eine gewisse Gegenrnacht. Der Föderalismus selbst ist ein Zeichen dieser Kultur. Sogar das gerichtliche System offenbart dieses Merkmal, und ebenso ist es mit den gewöhnlichen Rechtsbereichen, beispielsweise dem Beweisrecht. Wohl kein Land der Welt besitzt ein dermaßen 27 Die sowjetische Verfassung beispielsweise gibt jeder Republik das Recht, sich frei von der UdSSR zu trennen. Siehe Dieter Blumenwitz: Das Sezessionsrecht innerstaatlicher Rechtsgemeinschaften, Verfassung und Recht in Übersee, Bd. 3, 429, 436 f. (1970). 28 Siehe Lawrence M. Friedman: Law, Order and History, 16 S.D. L. Rev. 242 (1971).

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kompliziertes Beweisrecht. Weshalb hat Amerika keine einfachen, vernünftigen Regeln, wie sie die europäischen Nationen haben? Der Mahnfinger wird normalerweise auf die Jury gerichtet. Die Jury ist eine angesehene Institution, andererseits kann ihr auch nicht zu sehr vertraut werden. Die Regeln halten alle Beweise, die nicht vorgekaut, vollkommen und frei von Vorurteilen sind, von den Ohren der Geschworenen fern; auf der andern Seite liegt der Wert der Jury gerade in der Art und Weise, wie sie die Macht des Richters, und durch diesen des Staates, ausgleicht. Ein Netzwerk von gleich ausgearbeiteten Regeln knebelt deshalb den Richter zugunsten der J ury 29. Was ist der Grund der Einstellungen, welche diesem übermäßigen Wachstum der Struktur zugrundeliegen? Der Instrumentalismus bildet offensichtlich ein Element. Das Recht ist ein Mittel zu einem bestimmten Zweck, ein zu gebrauchendes Werkzeug; und die Leute gebrauchen es. In einer rein instrumentalen Welt halten Tradition und Brauch eine Interessengruppe nicht vom Versuch ab, andere zu verschlingen. Kulturelle Elemente stellen eine Hilfe dar; von einigen haben wir schon gesprochen. Aber sie mögen nicht weit genug gehen. Ein Weg, das Recht des Dschungels zu meiden, ist die verfassungsmäßige Lösung: dies bedeutet, im voraus gewisse Regeln des Spiels zu vereinbaren, welche alle vor allen schützen werden. Viele dieser Regeln sind verfahrensund strukturmäßig. Die Grundrechte sind eine solche Vereinbarung: die Mehrheit kann, so lautet die Annahme, eine Minderheit nicht durch den Gebrauch einer Mehrheitsregel vernichten. Andere Normen schaffen Verteidigungsstrukturen, Enklaven, in denen eine Gruppe für sich selber eine Festung bauen kann, die sicher ist vor Einbrüchen aus der äußeren Welt. Eine eingemeindete Vorstadt stellt so eine Festung dar, wenn sie die Landnutzung innerhalb ihrer Grenzen bestimmen kann. Das zugrundeliegende Problem ist allen modernen Gesellschaften gemeinsam. Es mag jedoch in den USA besonders schwerwiegend sein. Die USA entschieden sich relativ früh in ihrer Geschichte für Gleichheit und Bewegungsfreiheit. Die Gleichheit war stets eine Frage des Mehr oder Weniger, und ebenso verhielt es sich mit der Mobilität. Es gab Reiche und Arme und sogar solche, die mit Gewalt in Sklaverei gehalten wurden, aber verglichen mit Europa war das Land offen und frei, ein revolutionäres Land, in welchem die Mittelklasse am Wohlstand und an der Macht teilhatte. Das amerikanische Experiment bewirkte eine Kettenreaktion von unberechenbaren Folgen. Das Land sah sich einem grundlegenden Problem gegenüber: Wie waren Regierung und Recht auszurichten, um eine so breitgefächerte Macht mit einer Kultur in Einklang zu bringen, die den Gebrauch der Macht für 29

Lawrence M. Friedman: A History of American Law, 1973, S. 134 - 137.

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private Zwecke nicht mißbilligte. Das Kriegsherren-System war eine bedeutende Reaktion darauf. Die Prozeßbereitschajt ist ein anderer Aspekt der amerikanischen Rechtskultur. In anderen Kulturen scheut man sich vor Prozessen. Auf einer Skala über die streitlustige Verfechtung von Rechten scheinen die Amerikaner, zumindest unter modernen Nationen, einen hohen Rang einzunehmen. Die Amerikaner fürchten sich nicht, und es fehlt ihnen auch der Wille nicht, ihre Rechte vor Gericht geltend zu machen. Vieles spricht jedenfalls für diese These. In den USA Prozesse zu führen, ist teuer, was die Prozeßrate tiefer hält, als sie sonst sein könnte. Gleichwohl ist eine Art des Prozesses, die gerichtliche Überprüfung von Regierungshandlungen, von außergewöhnlicher Wichtigkeit, auch wenn sie absolut gesehen nicht häufig vorkommt. Richter können bedeutende politische und wirtschaftliche Anordnungen umstürzen, und sie tun dies manchmal auch. Kürzlich beseitigte der Supreme Court alle bestehenden Gesetze über die Todesstrafe und strich ein Jahr später Dutzende von Abtreibungsgesetzen aus den Gesetzbüchern 30• Prozeßwillige Streitparteien bringen Fälle vor verständnisvolle und aktivistische Richter; die beiden Gruppen bestärken sich gegenseitig. Sogar in nahe verwandten Rechtskulturen wie derjenigen von Großbritannien fügen sich die Gerichte viel mehr der Regierung. Der britische Bürger mag ehrerbietiger und weniger prozeßbereit sein als der amerikanische 31 , aber es bestehen auch wichtige strukturelle Verschiedenheiten zwischen den zwei Rechtssystemen. Die britische Anwaltschaft ist wenig zahlreich und eine Elite; die Richter stammen aus einer dünnen Innengruppe der Barristers. Der Gerichtshof und die Anwaltschaft bilden mehr ein Ganzes als dies in den USA der Fall ist. Barristers sehen kaum einen Klienten, es sei denn zusammen mit einem Solicitor; sie mischen sich nicht in die Angelegenheiten ihrer Klienten ein; Barristers werden nicht zu Advokaten für Klienten und Klagen außer im engsten technischen Sinne. Ihre Loyalität gehört ihrem Berufsstand, und doch haben sie allein das Recht, einen Fall in den oberen Gerichten vorzubringen 32 • Die Richter besitzen dieselbe übertriebene Loyalität zu Furman v. Georgia, 408 U.S. 238 (1972); Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973). Siehe diesbezüglich W. G. Runeiman: Relative Deprivation and Social Justice: A Study of Attitudes to Social Inequality in Twentieth-Century England, 1966; Robert McKenzie und Allan Silver: Angels in Marble, Working Class Conservatives in Urban England, 1968; eine kürzlich durchgeführte Umfrage über britische Einstellung gegenüber Gerichten und Recht findet sich in Brian Abel-Smith, Michael Zander und Rosalind Brooke: Legal Problems and the Citizen, A Study in Three London Boroughs, 1973, Anhang III, S. 249 - 250. 32 Michael Zander: Lawyers and the Public Interest, 1968, Kap. 12. 30

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ihrem Berufsstand. Gerichte sind kaum Brutstätten für soziale Änderungen. Der Staat, welcher mit einer Hand Anordnungen trifft und mit der andern Wohlfahrtsleistungen erbringt, geht an den Gerichten vorbei. Die Richter sitzen stolz in ihren Roben und Perücken; die wirkliche Regierungstätigkeit ignoriert sie jedoch fast vollständig. Es gibt wenig politischen Gebrauch der Gerichte. Diese Bemerkungen vermögen, wie wir gesagt haben, kaum über Behauptungen und Eindrücke hinauszureichen. Die Rechtskultur vergleichende Untersuchungen sind jedoch schon im Gange. Es werden strengere Methoden verwendet, und man wird in den kommenden J ahren sicher an Wissen gewinnen. Aspekte der modernen Rechtskultur

Änderungen in den grundlegenden Theorien über die Legitimität haben massive Wirkungen in jeder Gesellschaft. Neue Einstellungen und Ideen betreffend das Recht sind, wie interessant sie auch immer sein mögen, nur von Bedeutung, wenn sie zu einem verschiedenen Verhalten führen. In einem früheren Kapitel untersuchten wir die Legitimität als eine Wurzel der Befolgung. Eine Änderung in den grundlegenden Legitimitätstheorien sollte die Verhaltensmuster von Gehorsam und Ungehorsam verändern. In traditionellen Gesellschaften befolgen die Leute Regeln mehr oder weniger auf Grund von Brauch oder Glauben. In modernen Gesellschaften kommt dem Glauben immer weniger Bedeutung zu. Sanktionen müssen eingesetzt werden, damit ein befriedigender Grad der Befolgung erreicht wird. Zur Führung eines modernen Staates bedarf es eines bedeutenden Aufwandes an Vollstreckung und sozialer Kontrolle. Es müssen unter Umständen Gesetze geändert werden, um mehr Befolgung herbeizuführen. Jedenfalls setzt die neue Meinung über die Legitimität einen Zyklus sozialer Veränderung in Gang. Die instrumentale Theorie hat eine verheerende Wirkung auf die Schaffung des Rechts. Falls das Recht Menschenwerk ist, ein gewöhnliches Mittel für einen bestimmten Zweck, so besteht wenig Grund, davon nicht Gebrauch zu machen. Traditionelle Legitimitätstheorien schützten die Gesellschaft vor dem nackten Spiel der Interessen. Dem modernen Staat mangelt dieser Schild. Änderungen in den Legitimitätstheorien brachten auch auffällige Änderungen im Stil mit sich - eine Abnahme der rechtlichen Fiktionen und die Entstehung und den Niedergang der Begriffsjurisprudenz. Davon wird im nächsten Kapitel die Rede sein. Die Änderung bezüglich der Legitimität zeigt sich auch in einem allgemeinen Zerfall der Autorität. Achtung vor dem Status und der Auto-

Aspekte der modernen Rechtskultur

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rität waren das eigentliche Herzstück der traditionellen Gesellschaft. Wer als Bauer geboren wurde, starb auch als Bauer. Er träumte niemals davon, daß er in der Gesellschaft aufsteigen könnte. Wahrscheinlich akzeptierte er die soziale Ordnung, glaubte an sie und brachte ihr seinen totalen Gehorsam entgegen. Jedenfalls hatte er in dieser Sache keinerlei Wahl. In der modernen Gesellschaft kommt der Autorität eine schwierigere Aufgabe zu; sie muß sich sachlich rechtfertigen, wenn nicht zu aller Zeit für alle Leute, so doch für bestimmte Leute zu bestimmter Zeit. Selbstverständlich besitzt jede Gesellschaft eine Autoritätsstruktur, und sie könnte ohne eine solche wahrscheinlich nicht überleben. Und die Autorität hängt ab von der Legitimität und dem Vertrauen. Aber es handelt sich hierbei heutzutage um widerlegbare Vermutungen. In modernen Zeiten hat sich die politische Macht schrittweise nach unten ausgedehnt. Einst führten eine Handvoll Adliger die Gesellschaft, danach die Adligen zusammen mit den Reichen. Als nächstes trat der Mittelstand auf die Bühne. Jede neu zur Macht gekommene Gruppe weigerte sich, die Rolle eines gewöhnlichen Untertanen oder das Etikett einer tiefieren Klasse zu tragen. Die Bande des Glaubens zwischen Bürger und Staat schwächen sich allmählich ab. Um ihres eigenen Interesses willen streben Gruppen nach Macht und Vorteilen. Letztlich schließen sich sogar die am meisten Benachteiligten dem Gerangel an - Schwarze, Arme, Strafgefangene und linke Splittergruppen zusammen mit solch unwahrscheinlichen Bettgenossen wie katholischen Militanten, Frauen und lange Zeit versteckt gebliebenen sexuellen Minderheiten. Der Prozeß scheint sich in jeder modernen Nation abzuspielen, wenn auch in verschiedenen Schritten und Formen. Überall vervielfachen sich die Interessengruppen, und es verschärft sich der Wettbewerb um die knappen Ressourcen. Innerhalb bestimmter Grenzen mag dieser Zustand der Gesellschaft zum Wohle gereichen, aber um eine funktionsfähige Gesellschaft von Interessengruppen zu gewährleisten, müssen die Verlierer die Spielregeln anerkennen. Starke Enttäuschung über das Ergebnis schwächt jedoch die Legitimität. In extremen Fällen kann es zur Gewalt oder zum Krieg kommen. Selbstverständlich haben Gewalt, Verbrechen und Unordnung viele Ursachen. Verbrechen hängen mit starker Mobilität und einer wechselnden Bevölkerung zusammen. Eine Schwächung traditioneller Bande ist teils Ursache, teils Wirkung der großen, fließenden Bevölkerungsbewegung. Menschen ziehen in die Städte und werden dort zu einer wurzellosen städtischen Masse. Unordnung gedeiht unter den Umhergeschobenen. Wenn die traditionelle Autorität schwindet, muß sich die Rechtskultur eines neuen Legitimitätsprinzips besinnen. Der ausschlaggebende

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

Grundsatz heißt nun Rationalität: Das Gesetz ist gültig, welches auf gültige Weise zustandegekommen ist, und welches die richtigen Ergebnisse zeitigt. Ein Rechtssystem kann nicht auf dieser Basis zusammenhängen, ohne daß allseitige, wirkliche übereinstimmung oder eine Interessengemeinschaft besteht. Falls keine solche vorhanden ist, müssen andere Grundsätze die Einwilligung herbeiführen - Grundsätze, welche den Rechtshandlungen Gültigkeit verschaffen, auch wenn sie keine richtigen Resultate zeitigen. Dies ist, genau gesprochen, Legitimität. Aber in modernen Zeiten werden sogar Verfahrensgrundsätze instrumental gewertet. Hier liegt, so denken wir, eine Quelle großer Unbeständigkeit. Der Begriff der Wissenschaft bildet einen Angelpunkt im modernen Recht. Da das moderne Recht instrumentalen Charakters ist, muß es rationale Mittel gebrauchen, um seine Zwecke zu erreichen. Wissenschaft bedeutet Vernunft. Sie bedeutet überprüfte, empirische Methoden, um zur Wahrheit zu gelangen. Wissenschaft gibt dem Recht Gültigkeit. Sie ist die Grundlage, auf welcher das Vertrauen ruht. Das moderne Recht macht starken Gebrauch von Experten und beugt sich ihrem überlegenen Verstand. Experten leisten die meiste Arbeit bei der Schaffung und Anwendung des Rechts. Im modernen Verwaltungsstaat entscheiden Ärzte, Ökonomen, Ingenieure und andere Techniker Tausende von Angelegenheiten, die sich, falls sie in der Vergangenheit überhaupt aktuell waren, im Bereich der Anwälte, Richter und Politiker befanden. Selbstverständlich werden Experten manchmal lediglich als Schutzschirm, als rechtfertigender Kniff, verwendet. Psychiater spielen diese düstere Rolle, wie wir festgestellt haben, in Fällen administrativer Anstaltseinweisungen33 • Im ganzen gesehen akzeptiert das moderne Recht jedoch die Wissenschaft als Prüfstein der Wahrheit. Es akzeptiert Bluttests, Ballistik und Fingerabdrücke als schlüssige und unfehlbare Beweise. Sogar diejenigen, welche die Experten angreifen, setzen ein tiefes Vertrauen in die Wissenschaft voraus und begrenzen ihre Vorwürfe auf das, was sie als betrügerische Wissenschaften, wie Soziologie oder Psychiatrie, ansehen oder auf Experten, welche sich nach dem Willen anderer richten. Der Begriff der Wissenschaft hat im modernen Recht noch eine andere, besondere Rolle. Er hilft, die Stellung von Anwälten und Richtern in der Gesellschaft zu schützen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Richter Neuerungen bewirken, d. h. Recht schaffen. Die Rechtstheorie verneinte jedoch diese Tatsache im 19. Jahrhundert vehement. Dennoch bestand 33 Thomas Scheff: Being Mentally Ill: A Sociological Theory, 1966, weiter vorne besprochen. Dies ist anscheinend nicht nur ein amerikanisches Problem. In der Schweiz findet ein ähnlicher Prozeß statt. Peter Aebersold: Die Verwahrung und Versorgung vermindert Zurechnungsfähiger in der Schweiz,

1972.

Aspekte der modernen Rechtskultur

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diese richterliche Macht, und es war schwierig, sie zu rechtfertigen. Der Begriff der Rechtswissenschaft war eine Lösung. Die Richter brauchten eine Rechtstheorie, welche Änderungen als gültig erklärte und zugleich ihre Kontrolle über das Recht rechtfertigte. Das Wissenschaftsmodell, so wie es volkstümlich verstanden wurde, erfüllte seine Aufgabe auf vollkommene Art. Wissenschaftliche Regeln stellen Wahrheiten der wirklichen Welt dar. Sie beschreiben eine äußere Realität. Sie sind nicht der Laune eines einzelnen unterworfen. Aber nur die Wissenschaftler haben die Fähigkeit, mit der Wissenschaft umzugehen, neue Grundsätze zu finden und bisherige anzuwenden. Eine Rechtswissenschaft wäre wie eine Naturwissenschaft zusammentragend und fortschreitend und würde durch die Juristen kontrolliert. Rechtswissenschaft ist überhaupt keine Wissenschaft, sondern nur eine Nachahmung einer Wissenschaft. Zum einen ist sie nicht experimentell oder empirisch, sondern höchstens deduktiv. Euklid war eher ein Vorbild als Pasteur oder Galilei. Aber es war den Anwälten und Richtern wichtig, das Recht wie eine wahre Wissenschaft zu behandeln. Der Begriff der Rechtswissenschaft förderte das Ansehen des Rechts und der rechtlichen Gelehrsamkeit; gleichzeitig bestätigte er, daß das Recht unabhängig und von der Politik, dem Nützlichkeitsdenken und den Vorstellungen des Durchschnittsbürgers verschieden war. Die Begriffsjurisprudenz war eine weitere Verteidigung gegen die Bedrohung der rechtlichen Unabhängigkeit. Die typische rechtliche Begründung des späten 19. Jahrhunderts wurde auf eine Weise abgefaßt, welche Karl Llewellyn als formalen Stil bezeichnete34 - schwerfällig, technisch, unpersönlich und der Methode der stare decisis ergeben. Die Fälle sind langweilig zu lesen, aber dieses Laster bedeutet eine Tugend. Die Fälle machten keine gefährlichen Ansprüche auf Erneuerung geltend. Sie behandelten das Recht gleich einem selbständigen Königreich; die Richter entdeckten und verkündeten nur vorbestandene Rechtsgrundsätze. Die Begriffsjurisprudenz wurde jedoch ihrerseits durch die Bewegung der legal realists zum Rückzug gezwungen. Heute müssen sich die Entscheidungen mehr als früher mit politischen überlegungen rechtfertigen. Sich einfach auf die Vergangenheit, auf einen Präzedenzfall zu berufen, ist keine genügende Legitimation mehr. Was legitimiert, ist eine rationale Politik; ein Rechtsakt muß den Interessen oder Zielen eines gewissen Individuums, einer Gruppe oder Gesellschaft dienen. Dies bedeutet nicht, daß Bezugnahmen auf die Vergangenheit wertlos oder illegitim seien. Die Lehre von der stare decisis ist in instrumentaler Hinsicht nützlich. Sie begrenzt den Ermessensbereich der Entscheiden3( Karl Llewellyn: Remarks on the Theory of Appellate Decision, 3 Vand. L. Rev. 395 (1950).

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den. Auch dies ist funktional. Ein System kann nicht mehr als emlge wenige Philosophen-Könige verkraften. Um der Effizienz und der Fairness willen ist es besser, wenn sich untergeordnete Funktionäre, einschließlich der Richter unterster Gerichte, an die alten und abgedroschenen Pfade halten. Vom Beamten, welcher die Heiratsscheine abgibt, wird nicht erwartet, daß er neue Normen einführe oder entscheide, ob dieser Mann und jene Frau füreinander geschaffen seien. Eine Lehre der stare decisis, die auf Grund ihrer Nützlichkeit überlebt, ist nicht länger eine Lehre blinden Festhaltens an der Vergangenheit. Alte Entscheidungen verlieren ihre bestimmende Bedeutung, wenn ihre Nützlichkeit entfällt. Wenn eine Regel oder Doktrin unter Beschuß gerät, so muß sie nicht allein mit Zitaten, sondern durch Bezugnahme auf einen gewissen Wertmaßstab verteidigt werden. Ein talentierter Richter oder Anwalt wird gewöhnlich eine Verteidigung finden. Wird dies jedoch einmal sehr schwierig oder ist der äußere Druck heftig, so werden die Gerichte sich über bestimmte Entscheide hinwegsetzen. In moderner Zeit, besonders in der jüngsten Vergangenheit, wird der Richter eher eine Regel offen umstoßen, als daß er sie mittels einer Fiktion umgeht oder durch Differenzieren in den Hintergrund drängt. Diese neue Technik ist für die Richter etwas gefährlich. Die Türen des Systems stehen halb offen; die Richter können, wenigstens manchmal, einen Fall offen unter Berufung auf außerhalb der formalen Rechtsquellen liegende Tatsachen entscheiden: Wissenschaft, gegenwärtige Ethik, Vorstellungen über das öffentliche Interesse oder gemeine überzeugung. Die Frage ist, weshalb man diese Fälle, wenn sie nicht rein rechtlicher Natur sind, den Richtern zum Entscheid überlassen soll. Chemiker entscheiden darüber, welche Stoffe kanzerogen sind. Ökonomen, Ingenieure, Ärzte, Bodenspezialisten entscheiden innerhalb ihrer Spezialgebiete. Es gibt natürlich heikle Entscheide, welche alle Expertenbereiche übersteigen: Entscheidungen über Werte und politische Vorstellungen; hiefür ist der gewählte Beamte die richtige Behörde, da er, zumindest in der Theorie, dem Volk verantwortlich ist. Welche Rolle bleibt da dem Richter? Es gibt keine einfache Antwort. Die Gerichte haben tatsächlich zugunsten der Experten an Boden verloren. Dienststellen der Verwaltung sind offenkundig zweckgerichteter und sachkundiger als Gerichte; sie haben weite Entscheidungsbereiche übernommen. Gleichwohl sind Gerichte keine altmodischen Einrichtungen. Ihr Niedergang ist relativ und wurde durch eine neue und dramatische Rolle teilweise verborgen: durch die Aufgabe, individuelle Rechte und benachteiligte Minderheiten gegen die große Verwaltung und die gefühllose Mehrheit zu schützen. Hier begegnen die Gerichte wenig Experten

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und Rivalen. Diese Rolle hat heute, besonders an Appellationsgerichten in den großen industrialisierten Staaten, größere Bedeutung erlangt, und zwar in Strafprozessen, welche verfassungsrechtliche Fragen aufwerfen, sowie bei der gerichtlichen überprüfung von Regierungshandlungen. Was für Kriterien wenden die Gerichte in solchen Fällen an? Gesunden Menschenverstand, Meinungen von Experten und die Verfassung selber - eine merkwürdige Kombination von geheiligtem, beinahe unveränderlich,e m Text und nicht-rechtlichen Lehrsätzen. Im berühmten Brown-FaIPs, welcher die Rassentrennung in den Schulen für ungesetzlich erklärte, erwähnte das Gericht die Werke von Soziologen und Psychologen in einer Fußnote. Dies löste eine Kontroverse aus, welche bis heute nicht beigelegt ist. War es richtig, sich auf diese Weise außerhalb des Rechtes zu begeben? Waren die zitierten Untersuchungen stichhaltig? Gebrauchte sie das Gericht bloß als Lückenbüßer3 6? Um die Bedeutung eines Gesetzes zu erfassen, können die amerikanischen Gerichte Kommissionsprotokolle und sogar in der Gesetzgebungsdebatte vorgebrachte Argumente zu Rate ziehen, was sie auch tun. Die britischen Gerichte sind demgegenüber viel zurückhaltender. Die maßgebende britische Lehrmeinung geht dahin, daß Kommissionsprotokolle, Debatten und Ähnliches keinen relevanten Beweis für die wirkliche Meinung des Parlaments liefern. In den Vereinigten Staaten kann die Gesetzesentstehung aus jedem Gebiet stammende und nicht allein rechtliche Meinungsäußerungen enthalten; daher stellt die offene Haltung gegenüber der Gesetzesentstehung einen weiteren Weg dar, um nichtrechtliche Gesichtspunkte an der formalen Wirkung des Rechts teilnehmen zu lassen. Pluralismus und die Modernisierung des Rechts Eine andere Eigenschaft der modernen Rechtskultur ist ihre Abneigung gegen kulturellen Pluralismus, ihre Neigung zur Einheitlichkeit. Weshalb sollten Zufälligkeiten wie Geburt oder Ort darüber bestimmen, welches Recht auf eines Menschen Leben und Unternehmungen Anwendung findet? Die traditionelle Gesellschaft stellte sich nicht einmal eine entsprechende Frage; die moderne Gesellschaft fragt und verlangt nach der richtigen Antwort. Weshalb sollte jemand eine längere Zeit im Gefängn~s zubringen müssen, weil er ein Haus in Minneapolis ausraubte und nicht in Pittsburgh? Weshalb sollte eine Handlung für Weiße zulässig, für Schwarze hingegen ungesetzlich sein? 35 36

15·

Brown v. Board of Education, 347 U .S. 483 (1954). Edmond Cahn: Jurisprudence, 30 N.Y.U. L. Rev. 150 (1955).

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Ermessen führt zu Pluralismus, wenigstens auf formlose Weise, und die sich ergebende Ordnung scheint nach moderner Ansicht unfair. Der kulturelle Pluralismus befindet sich denn auch im Rückzug. In einer der großen weltlichen Strömungen der Rechtsgeschichte haben Zentralregierungen um die Kontrolle und Einschränkung von rechtlichem Pluralismus jeder Art gerungen. Ein moderner Nationalstaat spürt ein Bedürfnis nach einem einzigen nationalen Recht. In seinen frühen Phasen war die Bewegung, das Recht zu vereinheitlichen, vernünftig und vielleicht unvermeidbar. Das mittelalterliche Recht war ein Mischmasch. In vielen europäischen Ländern war das Recht in Dutzende und Dutzende von lokalen Ausprägungen zersplittert. Dies galt auch für England, wo das königliche common law für eine schmale Handvoll Leute, die Adligen und die Grundherren, von Bedeutung war. Die große Masse der Bevölkerung kam wenig damit in Berührung, und es bestanden unzählige lokale Bräuche, wovon viele eine gewisse offizielle Anerkennung genossen. Nach der industriellen Revolution mit ihrem Aufstieg der Marktwirtschaft vervielfachte sich die Zahl der Benützer des Handelsrechts, des Haftpflichtrechts und sogar des Familienrechts. Das Recht mußte neu gefaßt werden, damit es den Bedürfnissen des aufstrebenden Mittelstandes gerecht werden konnte. In den USA nahmen beispielsweise 1820 oder 1850 Hunderttausende von Leuten in einer Weise am Marktgeschehen teil, wie dies in England niemals der Fall gewesen war. Diese gewaltige Armee von Rechtsbenützern besaßen Land, handelten mit Land, kauften und verkauften Land, gaben Zahlungsversprechen ab und erhielten solche, belasteten ihre Häuser mit Hypotheken, schrieben Testamente und schlossen Verträge. Alte, langsame und schwerfällige Institutionen konnten mit der Großzahl von Transaktionen nicht fertig werden. Im Zuge der Anpassung wurden das Bodenrecht und das Handelsrecht mehr vereinheitlicht und schablonisiert; Formen und Formalitäten wurden vereinfacht und alte Schnörkel und Gebräuche wurden unbarmherzig ausgemerzt. Von Ort zu Ort bestehende Verschiedenheiten im Brauch beeinträchtigten die Voraussehbarkeit und Effizienz und mußten eingeebnet werden. Dieser Vorgang dauert bis heute an. Niemand plant ihn; er spielt sich ganz einfach ab, indem gesellschaftlich bedeutsame Gruppen an das Rechtssystem Forderungen stellen und die Institutionen darauf reagieren. Die arbeitende Klasse und schließlich auch die Armen wurden in den Hauptstrom des Rechts miteinbezogen wiederum als Ergebnis konkreten gesellschaftlichen Druckes. Die Verringerung des Pluralismus stellt somit einen natürlichen historischen Prozeß dar. Sie ist aber auch Teil des Programmes von Juristen. Juristen glauben im allgemeinen, daß ein Rechtssystem einheitlich, ge-

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ordnet und systematisch sein sollte; je mehr es diese Ziele erreicht, desto besser oder moderner oder entwickelter und wahrscheinlich auch nützlicher für die Gesellschaft als Ganzes soll es sein. Diese Annahmen betreffend eine rechtliche Rationalität sind bisher kaum untersucht worden, und es kann ihnen in vielerlei Hinsicht nicht das Gewicht einer bewiesenen Tatsache zukommen. Schließlich ist das Recht der USA auf einer Skala der juristischen Rationalität auf niedriger Stufe einzureihen. Sogar nach einem Jahrhundert Rechtsreform ist es unsystematisch und ungeordnet, wenig ist kodifiziert und nach kontinentaleuropäischen Maßstäben ist der begriffliche Apparat primitiv. Aber stört die nach dem Gefühl der Juristen bestehende Irrationalität des amerikanischen Rechts in irgendeiner Weise die Wirtschaft? Macht sie das gesellschaftliche Leben schwieriger? Zweifellos brauchen die moderne Gesellschaft und die Wirtschaft eine rechtliche Ordnung. Eine Gesellschaft von Räuberbaronen wird kein großes Sozialprodukt haben. Im Kapitalismus wie im Sozialismus müssen die Wirtschaftsorganisationen im voraus planen; sie brauchen angemessene Gewißheit über die künftige Rechtssituation. Was jedoch gebrauch,t wird, ist wirkliche und nicht nur auf dem Papier stehende Ordnung. Ein großartiges Gesetzbuch kann einen Zustand der Anarchie verbergen. Andererseits kann hinter einer komplexen, pluralistischen Ordnung, sogar wenn diese die Feingefühle der Professoren verletzt, eine wirksam arbeitende Realität liegen. Wirklichkeit und nicht Form ist das, was zählt. Auch auf internationaler Ebene hat sich die pluralistische Unordnung etwas verringert. Die mehr und mehr eine Einheit darstellende Weltwirtschaft verlangt, wie sie dies immer getan hat, in gewissem Maße nach wirtschaftlichem Gleichschritt. Sich überwölbende politische Strukturen wie der gemeinsame Markt fördern die Einheitlichkeit des Wirtschaftsrechtes zwischen den Mitgliedern. Einige Wissenschaftler stellten fest oder meinten festzustellen, daß sich verschiedene Rechtssysteme aufeinander zu bewegen. Kontinentales Recht und common law rücken sich näher. Beide lassen einige ihrer Eigenschaften zugunsten von Merkmalen der andern Familie fallen. Das common law kodifiziert sein Handelsrecht; die kontinentale Geschworenenbank verschwindet. Deutschland und Italien haben andererseits eine Art judicial review angenommen37 ; die Vorliebe des kontinentalen Rechts für geschriebene Dokumente gegenüber mündlichem Zeugnis schwächt sich ab38 • Erneuerungen und Näherrücken wuchern auch 37 Siehe im allgemeinen Mauro Cappelletti: Judicial Review in the Contemporary World, 1971. 38 Mauro Cappelletti: Procedure Orale et Procedure Ecrite, 1971.

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in den Ländern der Dritten WeW 9 • Einheimische Rechtssysteme verfallen; nichtwestliche Länder leihen sich Recht vom Westen 40 • Einiges dieses Näherrückens stellt bloße Form, anderes Substanz dar. Etne die Welt umspannende Rechtskultur würde, was ganz natürlich ist, weitgehendes Zusammenrücken bewirken, und die moderne Rechtskultur dehnt sich langsam über die Welt. Wissenschaft und Technik achten keine politischen Grenzen. Es ist kein Platz für lokale Bräuche im Kontrollturm eines Flughafens, und Bankgeschäfte, Impfungen und Dammbau sind ähnlich auf der ganzen Welt. Allgemeine Bedürfnisse und Institutionen erzeugen eine gewisse Vereinheitlichung des Rechts. Anderes Sich-näher-Kommen ist jedoch lediglich formaler Natur und deshalb in seiner Art falsch. Die Bewegung der Erneuerung des Rechts in der Dr.itten Welt und die Reformbewegung des Rechts in den entwickelteren Nationen laufen mehr oder weniger parallel. Rechtsreform im Sinne der Juristen bedeutet, das Recht in Ordnung zu bringen - ihm inneren Zusammenhang und System zu geben. Rechtsreform dieser Art hat wenig oder keine soziale Wirkung. Sie hat jedoch einen gewissen symbolisch€n Wert. Damit sich die Regierung am Ruder halten kann, muß sie auf einflußreiche Gruppen eingehen. Einige Ministerien und Dienststellen sind ehrgeizig; sie sind mit Selbsterhaltung nicht zufrieden, sondern fühlen einen Drang zur Vergrößerung. In vielen Ländern ist die Regierung von der Leidenschaft ergriffen, das Land zu zentralisieren und zu vereinheitlichen. Ein allgemeiner Ruf nach Modernisierung wird laut von seiten der gebildeten Elite. Ein einfacher Weg, dieser Forderung zu genügen, besteht im Erneuern und Vereinheitlichen des Rechts. Ein neues französisches Gesetzbuch ist viel billiger als ein Stahlwerk, eine nationale Fluggesellschaft oder irgendein Programm, das Steuern braucht, und es ist weniger zersetzend als ein Programm, das Macht oder Geld umverteilen will. Antony Allott schrieb zutreffend: "Was auch immer den afrikanischen Ländern auf dem Weg zu modernen Armeen, einer gebildeten Bevölkerung, einer angemessenen Infrastruktur, bedeutenden finanziellen Ressourcen und einem geübten Kader von Führungskräften auf allen Stufen fehlen mag, ein Ding haben sie alle, das ebenso rasch und billig wie Papiergeld hergestellt werden kann, und welches dieselbe verführerische Eigenschaft besitzt, 39 Siehe Lawrence M. Friedman: On Legal Development, 24 Rutgers L. Rev. 11 (1969); David M. Trubek: Toward a Social Theory of Law: An Essay on the Study of Law and Development, 82 Yale L.J. 1 (1972). 40 Die Türkei übernahm unter Atatürk eine Version des schweizerischen Zivilgesetzbuches; Athiopien beauftragte einen französischen Rechtswissenschaftler, ein auf europäischen Vorbildern basierendes Gesetzbuch zu entwerfen; siehe Rene David: A Civil Code for Ethiopia: Considerations on the Codification of the Civil Law in African Countries, 37 Tul. L. Rev. 187 (1963).

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zur Lösung aller Probleme benutzbar zu scheinen; dies ist die Fähigkeit, Gesetze zu erlassen 41 ." Sicher würden gewisse Arten der Reform und Erneuerung des Rechts an den Grundfesten der Gesellschaft rütteln; reine Rechtsreform jedoch ist harmlos, was direkte Wirkungen betrifft, und Nebeneffekte, Äußerlichkeiten und latente Schädlichkeit sind nicht meßbar und werden daher vernachlässigt. Die Vorteile, falls es solche gibt, sind gleichfalls nicht faßbar 42 , aber sie haben zumindest eine Tugend: die Juristen glauben an sie. Die Idee der Nationenbildung zieht sich wie ein roter Faden durch die Literatur der politischen Erneuerung. Es kann nicht geleugnet werden, daß viele neue Nationen eine Identitätskrise spüren. Ihre Grenzen haben wenig oder nichts mit Stammes-, Sprach- oder sozialen Grenzen zu tun; sie sind ganz einfach von den Zänkereien der Kolonialmächte übriggeblieben. Viele neue Nationen sind deshalb in ihrer Sprache, Kultur und Religion hoffnungslos zersplittert. Ihre Führer fühlen, daß sie Einheit und Stolz - kurz, Nationalismus - nötig haben, um die Teile zusammenzuschweißen. Logischerweise sollte ein einziges, einheitliches Rechtssystem als Werkzeug der Vereinheitlichung wirken; gleich -einer gemeinsamen Sprache oder Flagge sollte es helfen, eine Nation aus dem Durcheinander von Klassen oder Stämmen zu machen. Welche Art Recht könnte dies sein? Entliehenes modernes Recht, gewöhnlich aus kolonialer Zeit übernommen, scheint vernünftig, allgemein und wissenschaftlich; sicherlich ist es frei von lokalem oder stammesmäßigem Einfluß. Die neue Nation wird vom Zentrum aus aufzubauen sein. Das Zentrum wird auf Kosten der Provinzen, lokalen Eliten und außerhalb gelegenen Kulturen wachsen müssen. In Wirklichkeit würde ein einzelnes, vom Zentrum aus wirkendes System das Rechtsleben revolutionieren, aber nicht auf Grund des Inhalts des Rechts und ebenso wenig auf Grund seiner Struktur oder Form. Die Revolution würde in der Wirkung des Rechts auf die nationalen Machtmittel Liegen. Neues Recht würde altes Recht ersetzen; Dorfgewaltige und Älteste, die ihr Recht kannten und anwendeten, würden ihrer Macht beraubt. Ihr Wissen würde nutzlos, ihre Autorität untergraben. Staatsbeamte würden nun an die Macht kommen. Rene David, der französische Wissenschaftler, welcher ein Zivilgesetzbuch für Äthiopien erarbeitete, war der überzeugung, daß Äthiopien sich nicht leisten konnte, auf das für seine Kultur geeignete Recht zu warten. Er schätzte, daß es mehrere hundert Jahre dauern würde, um 41 Antony Allott: The Unification of Laws in Africa, 16 Am. J. Comp. L. 51 (1968). 42 Siehe Albert Hirschman: Development Projects Observed, 1967, S. 9 - 21.

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Kap. VIII: über die Rechtskultur

ein einheitliches System äthiopischen Rechts "in empirischer Art" zu sch,affen. Es schien besser, ein vorhandenes System zu übernehmen, das so bald wie möglich eine minimale Sicherheit in den rechtlichen Beziehungen gewährleisten würde43 • David ging in der Folge davon aus, daß Äthiopien solche Sicherheit nicht garantieren konnte, wenn einheimisches Material verwendet würde. Führer der Dritten Welt, wie stark national sie auch fühlen, scheinen gleicher Ansicht zu sein. Je moderner das Recht ist, d. h. je mehr es mit den europäischen Vorbildern übereinstimmt, desto besser muß es der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung dienen. Wir stehen deshalb einem Paradoxon gegenüber: Eifrige Nationenbildner in Afrika und Asien, welche in vielerlei Hinsicht anti-westlich eingestellt sind, weisen ihre eigenen rechtlichen Traditionen zurück und bauen Rechtssysteme auf aus importierten Luxus-Gütern. Diese Führer akzeptieren die Theorie der Rechtsentwicklung, mit der Rechtswissenschaftler in den Universitäten hausieren. Diese Theorie legt Wert auf Einheitlichkeit, Ordnung und System. Wissenschaftler und Führer nehmen diese Theorie - eine Theorie, wonach europäisches Recht überlegen sei - an Universitäten zu Hause wie im Ausland auf. Ob ein im juristischen Sinne hochentwickeltes Recht irgend etwas mit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung zu tun hat, ist eine von niemandem beantwortete Frage. Nicht ein Stückchen eines wirklichen Beweises stützt diese Theorie, auf welcher die heutige Politik zu ruhen scheint.

43

Rene David (N. 40), S. 188 f.

Kapitel IX

über die interne Rechtskultur In einem früheren Kapitel erörterten wir den Begriff einer Forde-

rung an das Rechtssystem in allgemeiner Form. Ein Begehren um Haft-

prüfung, ein Brief an ein Kongreßmitglied, ein Hilfeschrei nach der Polizei nachts in einer dunklen Straße - dies alles sind Forderungen an das Rechtssystem. Hinter jeder Forderung steht ein konkretes Interesse und eine kulturelle Neigung, solche Forderungen an einen bestimmten Teil des Systems zu richten. Die Leute mögen ähnliche Bedürfnisse oder Interessen haben; infolge kultureller Verschiedenheiten oder Unterschieden im Aufbau des Rechtssystems stellen sie jedoch verschiedene Forderungen. Außerdem betrachtet jemand, der jeden Tag "seinem" Kongreßmitglied schreibt, dies nicht im selben Sinne als Rechtsverhalten wie die Führung eines Prozesses. Dieselbe kulturelle Einstellung braucht nicht beide Handlungen zu befürworten. Wir können zwischen einer externen und einer internen Rechtskultur unterscheiden. Die externe Rechtskultur ist die Rechtskultur der allgemeinen Bevölkerung; die interne Rechtskultur ist die Rechtskultur derjenigen Gesellschaftsmitglieder, welche besondere rechtliche Aufgaben erfüllen. Jede Gesellscha~t verfügt über eine Rechtskultur, aber nur Gesellschaften mit Rechtsspezialisten haben eine interne Rechtskultur. In Gang gebracht wird ein rechtliches Verfahren durch eine Forderung an das System. Interessen müssen in Forderungen umgewandelt werden; Einstellungen und Verhaltensweisen, welche zur externen Rechtskultur gehören, müssen ein Verfahren durchlaufen, damit sie den Erfordernissen der internen Rechtskultur entsprechen. Wenn sozialer Druck in der Luft liegt, ist das nur insoweit eine Forderung an das Rechtssystem, als dieser Druck einer Rechtsinstanz - einem Richter, Gesetzgeber oder Anwalt - mitgeteilt wird. Manche Forderungen können ganz formlos vorgebracht werden (der Brief an das Kongreßmitglied, der Hilfeschrei) ; andere müssen in die angemessene rechtliche Form umgesetzt werden (das Begehren um Haftprüfung). In diesem Kapitel werden wir einige Aspekte formeller Forderungen an das Rechtssystem erörtern, im besonderen wie diese Forderungen durch die interne Rechtskultur gestaltet werden. In jeder Gesellschaft sind manche Forderungen legitim und manche illegitim. Legitimität kann entweder im sozialen oder im rechtlichen

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Sinne bestehen - als Angelegenheit der äußeren Betrachtungsweise oder der Einstellungen innerhalb des Rechtssystems bzw. der externen oder internen Rechtskultur. In den meisten westlichen Ländern ist das Führen eines normalen Prozesses sowohl intern wie extern legitim. Es wird akzeptiert, daß jemand eine Haftprüfung verlangt oder ein Autobusunternehmen wegen Fahrlässigkeit verklagt. Weder die Rechtsordnung noch die Umwelt mißbilligt die Forderung, ob sie nun durchgesetzt werden kann oder nicht. Einen Kameraden bei der Polizei zu verraten und Denunziation sind sozial illegitim, aber die Polizei selbst wird sie billigen. Wenn eine Kultur das Führen eines Rechtsstreites energisch mißbilligt, kann sogar ein ganz normaler Prozeß sozial illegitim sein. Manch ein Verhalten kann auch formell illegal sein, aber sozial gebilligt werden. Dies trifft auch auf die Korruption - Bestechung und Nepotismus - in einigen Gesellschaften zu. In andern Gesellschaften, z. B. in Schweden, sind Bestechung und Korruption megal, sozial illegitim und werden vermutlich auch von der internen Rechtskultur mißbilligt. Die Korruption ist von Gesellschaft zu Gesellschaft sehr verschieden und variiert auch innerhalb einer Gesellschaft. England und die meisten andern europäischen Länder scheinen weniger korrupt zu sein als die Vereinigten Staaten. Andererseits sind viele der unterentwickelten Länder für Nepotismus und Schlimmeres zugänglich. Unterschiede entstehen durch den sozialen Status der Korruption. Sie wird dort auftreten, wo die öffentliche Meinung sie nicht verurteilt. James C. Scott hat einige soziale Gründe für die Korruption in nichtwestlichen Ländern zusammengestelItl. Ein Grund liegt in der Tradition, Geschenke zu überreichen, ein anderer in der Beständigkeit der verwandtschaftlichen Loyalität. Schwach sind andererseits die Bindungen an den Staat. Außerdem stellt die Regierungstätigkeit in vielen jungen Ländern eine der wenigen Quellen des Reichtums dar; eine Tätigkeit bei der Regierung bildet eine der wichtigsten Leitern zum Erfolg; und Beamte können Geschäftsabschlüsse oder Karrieren durch ihre Entscheidungen machen oder zerstören. Diese Tatsachen schaffen eine Lage, in der die Versuchung beinahe unwiderstehlich ist. Die Erklärungen für die Korruption enthalten also sowohl strukturelle wie auch kulturelle Elemente. Wo die Legitimität des formellen Rechtssystems gering ist, blüht die Korruption. Hat die Korruption einmal begonnen, ist sie schwer wieder auszurotten; sie wird zu einer gebilligten Verhaltensweise. "Verliert" ein Gerichtsangestellter in Chicago immer wieder die Prozeßakten, außer wenn der Anwalt bezahlt, wert

James C. Scott: Comparative Political Corruption, 1972.

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den die Anwälte, die ihr Auskommen haben wollen, fortfahren müssen zu bezahlen. Die Öffentlichkeit sieht die Bestechung und gewöhnt sich daran. Die Leute wissen nicht einmal, daß die Dinge in London oder Milwaukee anders liegen. Sie verlieren ihr Verlangen und ihre Fähigkeit, sich aufzulehnen. Das formelle Recht, die interne Kultur und die öffentliche Meinung können sich auch im Inhalt der Forderungen unterscheiden. Alle drei sind sich darüber einig, daß der verwundete Kriegsveteran seine Rente beantragen sollte. Aber in vielen Situationen wird es einem einzelnen oder einer Gruppe an einem Recht fehlen, welches nach dem Gefühl eines Teils der Öffentlichkeit gerechtfertigt wäre, oder umgekehrt (Shylocks Forderung nach einem Pfund Fleisch). Diese Ungereimtheiten entstehen aus verschiedenen Gründen; einer davon ist der kulturelle Pluralismus. Manchmal unterstützt die Kultur die Anwendung einer allgemeinen Regel in einem normalen Fall, aber dieselbe Regel scheint ungerecht in einem außergewöhnlichen Fall. Wie oft dies vorkommt, ist eine offene Frage. Zumindest die modernen Rechtssysteme sind reichlich mit Fluchtwegen versehen. Die Generalklauseln der kontinentaleuropäischen Gesetzbücher erlauben es den Richtern, harte Ergebnisse zu vermeiden; die Richter in Ländern des common law können Unterscheidungen machen, Urteile umstoßen oder auf allgemeine Rechtsgrundsätze zurückgreifen. Auch das Jury-System läßt zu, daß Normen und Regeln unverändert bleiben, während ständige, kleine Anpassungen im Verborgenen vorgenommen werden 2 • Vilhelm Aubert unterscheidet in einem interessanten Aufsatz 3 zwischen zwei Arten von Forderungen: Interessen und Rechtsansprüchen. Zwei Personen stehen in einem Interessenkonflikt, wenn sie beide dasselbe wertvolle Objekt haben möchten: zwei Männer lieben dieselbe Frau, zwei Politiker kandidieren für dasselbe Amt, zwei Städte wetteifern um eine Tagung. Interessenkonflikte entstehen aus Mangelsituationen. In den angeführten Beispielen haben beide Parteien einen legitimen Anspruth, und es besteht kein Konflikt über Werte oder Grundsätze. Die Konflikte entstehen in Wirklichkeit aus einer gewissen gemeinsamen Grundlage. Beide Männer lieben die Frau, beide Kandidaten möchten den Senatssitz. Ein Rechtsanspruch dagegen drückt sich durch die Begriffe Recht und Unrecht aus. In einem Prozeß beansprucht jede der beiden Parteien das Recht auf dasselbe Stück Land. Jede Partei wird 2 Vgl. zu dieser Frage im allgemeinen Harry Kalven und Hans Zeisel: Thc American Jury, 1966. 3 Competition and Dissensus: Two Types ofConflict and of Conflict Resolution, 7 J. Conflict Resolution 26 (1963); vgl. auch Torstein Eckhoff: The Mediator, the Judge and the Administrator in Conflict-Resolution, in BrittMari Blegvad (Hrsg.): Contributions to the Sociology of Law, 1966, S. 148.

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in den Verhandlungen darauf bestehen, daß ihre Forderung gerechtfertigt und diejenige der andern Partei ungerechtfertigt sei, daß der Prozeßgegner die Tatsachen oder die Normen falsch auffasse. Die Streitfrage wird mit Rechtsbegriffen - Tatsachen, Normen, dem Recht formuliert und nicht mit Interessen. Der Unterschied zwischen Rechtsansprüchen und Interessenkonftikten hat Konsequenzen. Die Parteien können leicht einen Kompromiß schließen bei Interessenkonflikten, weniger leicht fällt dies bei Streitigkeiten über Werte oder Tatsachen. Ein Vertrag ist in gewissem Sinne die Lösung eines Interessenkonfliktes. Jemand möchte zu einem günstigen Preis ein Pferd kaufen; ein anderer möchte eines verkaufen, aber zu einem hohen Preis. Beide Seiten feilschen und einigen sich, wenn sie glauben, daß sie alles herausgeholt haben, was sie konnten. Normalerweise ist keine der beiden Parteien moralisch involviert. Die Gerichte lösen keine Interessenkonflikte. Eine Partei müßte ihre Forderung in einen Wert- oder Tatsachenkonflikt umwandeln, ehe sie vor Gericht gehen könnte. In einem Grundstücksprozeß würde der Kläger seine Zeit verschwenden, wenn er darlegte, er brauche das Land, um Geschäfte zu tätigen, als Wohnsitz oder weil es ihm gefällt. Diese Angaben über seine Interessen sind irrelevant. Er wird sich auf irgendeinen Wert oder eine Norm berufen müssen, um seine Forderung zu rechtfertigen. Ein Wert- oder Tatsachenkonflikt muß nach Aubert von einem Dritten, einem Vermittler gelöst werden, der den Parteien lediglich hilft, eine Einigung zu erzielen; er entscheidet die Streitfrage nicht selbst. Ein Richter entscheidet die Fälle auf der klaren Grundlage des Alles-oderNichts; eine Partei gewinnt, die andere verliert. Zum Teil ,ist dies so, weil der Dritte (der Richter) zeigen muß, daß er unabhängig, moralisch über den Parteien stehend und unparteiisch ist und sich an Regeln hält, die hoch über dem kurzlebigen Einzelfall schweben. Aubert sieht in der Rechtsgeschichte eine Fortentwicklung. Einst bestand die Hauptaufgabe des Rechts in der Beilegung von Interessenkonflikten; später dominierten die Wertkonflikte; die Schlichtung entwikkelte sich zum Urteil. Eine Drittperson kann einen Interessenkonflikt nicht auf autoritative Weise lösen. Sie kann nicht zwischen A und B entscheiden, wenn beide einfach dasselbe Stück Land möchten. Aus Interessen allein ergibt sich nie eine Norm. Die Drittperson muß sich daher auf Tatsachen, Normen und Standards berufen. Um beide Parteien zu verpflichten, muß sie unabhängig, unparteiisch und stark erscheinen. Auberts Analyse hängt, so scheint es, von Merkmalen der externen und internen Rechtskultur ab. Man kann sich offen mit Interessenbegriffen an einen Gesetzgeber wenden, aber um einen Prozeß in die Wege zu

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leiten, muß eine Partei ihre Interessen in Forderungen umwandeln und diese in Form von Rechtsansprüchen oder strittigen Tatfragen vorbringen. Dies mag lediglich ein formeller Schritt sein, aber die Kultur verlangt ihn. Viele der bei Gericht vorgebrachten Forderungen sind lediglich Interessenforderungen, welche auf dem Papier in Rechtsansprüche umgewandelt wurden. Die wahren Gründe, weshalb jemand ein bestimmtes Grundstück möchte - es ist fruchtbar, bringt ein gutes Einkommen, es ist angenehm, darauf zu leben -, sind keine Gründe, von denen man erwartet, daß das Gericht sie sich anhört. Ist es im Prinzip leichter, einen Komprorniß über Interessenforderungen zu schließen als über Wertforderungen? Bei manchen Interessenkonflikten ist ein Kompromiß gänzlich ausgeschlossen: bei zwei Freiern, zwei Senatskandidaten. Das Gut, das sie wollen, ist zufälligerweise unteilbar. Ein anderer Faktor ist die subjektive Stärke der Forderung. Wenn das Verlangen des einen stärker ist als dasjenige des andern, könnte er - theoretisch - den andern mit Geld abfinden. Dies gilt für Konflikte jeder Art, Wert- und Interessenkonflikte. Der dritte Faktor ist die objektive Stärke der Anwärter. Wenn sich zwei Personen bei einer Auktion um ein Gemälde bemühen, wird derjenige mit weniger Geld aufgeben müssen. über ausgewogene Wertforderungen werden oft Kompromisse geschlossen. Natürlich ist es im allgemeinen l'ichtig, daß das Ziel des Gerichtsverfahrens nach westlichem Recht nicht das Schließen eines Kompromisses ist, sondern daß damit nur Gewinner und Verlierer bestimmt werden sollen. Diese Tatsache kann den Konflikt verschärfen. Macaulay und Walster weisen darauf hin, daß z. B. das Haftpflichtrecht den Schädiger dazu anspornt, sein Opfer herabzuwürdigen, und ihm die Möglichkeit gibt, sich der rechtlichen Haftung zu entziehen, indem er seine Verantwortlichkeit bestreitet4 • Kompromisse werden überall und rund um den Gerichtssaal herum geschlossen, aber selten in ihm selbst. Haben die Parteien einmal das Stadium des Gerichtsverfahrens erreicht, neigen sie dazu, die Streitfragen in Schwarzweiß-Technik darzulegen. Meistens ist dies Täuschung oder Strategie. Dennoch gibt es so etwas wie subjektives Rechtsgefühl, welches sich von einem Interesse oder Verlangen unterscheidet. Die innere Bezeichnung braucht dabei nicht notwendigerweise dieselbe zu sein wie die äußere. Ein unterbezahlter Arbeiter mag fühlen, daß er ein "Recht" auf mehr Geld hat; dieses Gefühl kann lebendig und echt sein und ihn kämpferisch stimmen, auch wenn es sich nicht um ein subjektives Recht handelt. 4 Stewart Macaulay und Elaine Walster: Legal Structures and Restoring Equity,27 J. Soc. Issues, no. 2, 173, 180 (1971).

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'Ober die subjektiven Rechte Wir sollten nun unsere Begriffe definieren. Was ist nach alledem ein Recht? Rechte sind die Grundbausteine der Rechtsordnung; ein Gericht behandelt Rechtsansprüche; die Rechtsdoktrin besteht im wesentlichen aus Lehrsätzen über Rechte. In der Alltagssprache hat das Wort Recht eine ganze Anzahl von Bedeutungen 5 • Ein Recht ist zuerst einmal ein durch oder gegen eine öffentliche Instanz geltend gemachter Anspruch. Ein Recht ist ein Anspruch gegenüber dem Staat. Die Leute sprechen viel eher von ihren Rechten gegenüber andern Leuten als gegenüber dem Staat. Ein Käufer hat einen Anspruch aus Vertragsbruch; er betrachtet dies als ein Recht, vom Verkäufer, welcher eine Wagenladung Bauholz zwei Monate zu spät lieferte, Schadenersatz zu verlangen. Frau X hat einen Anspruch auf Scheidung gegen Herrn X. P hatte einen Unfall; jetzt hat er einen Haftpflichtanspruch gegen das Busunternehmen, dessen Fahrer fahrlässig handelte. Wir können die meisten Rechtsregeln auf diese Weise beschreiben - als Zweierbeziehungen: das Recht eines Vermieters gegen den Mieter, dasjenige des Mieters gegen den Vermieter; das Recht eines Kindes gegen seine Eltern, dasjenige der Eltern gegen ein Kind; jemandes Recht gegen seinen Pfandleiher, Arbeitgeber, Gläubiger, Treuhänder und umgekehrt. Nachdem sie bemerkt hatten, wieviele Normen in Zweierbeziehungen ausgedrückt werden können, kamen einige Rechtsgelehrte zur Überzeugung, daß ein Recht immer eine Zweiparteien-Beziehung in sich schließe, daß jede Norm darauf reduziert werden könne. Ist jemand Eigentümer eines Grundstückes, so bedeutet dies also, daß er das Recht hat, A, B, C, D . . . . n, d. h. jedermann auf der Welt - einen nach dem andern - vom Besitz und Genuß auszuschließen6 • Natürlich kann man Rechte auf diese Weise beschreiben, aber man kann sie ebenfalls auf eine ganz andere Art darstellen - nicht als Forderungen gegen eine zweite Partei, sondern als Forderungen gegen den Staat. Ein Recht gegen eine einzelne Person stellt eine Art Ausweis dar, welcher den Inhaber berechtigt, die Rechtsordnung (d. h. den Staat) anzurufen, ihn zu schützen oder in seinem Interesse irgendwie vorzugehen. Das Recht von Frau X auf Scheidung gegen Herrn X ist in diesem Sinne ein Recht, die Gerichte bestimmte Handlungen vollziehen zu lassen, nach deren Abschluß sie von Herrn X rechtlich frei sein wird, sich wieder verheiraten kann und außerdem einen Anteil an seinem Geld be5 Vgl. Lawrence M. Friedman: The Idea of Right as a Social and Legal Concept, 27 J. Soc. Issues, no. 2, 189 (1971). 6 Diese Ansicht vertrat Wesley N. Hohfeld: Some Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning, 23 Yale L.J. 16 (1913).

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kommt. Aufgrund seines Rechtes gegen das Busunternehmen kann P sich auf die Macht eines Gerichtes stützen, um das Unternehmen zur Zahlung zu zwingen. Eigentum bedeutet eine Forderung des Eigentümers gegen den Staat, seine Interessen gegen konkurrierende Beansprucher, Rechtsverletzer und andere zu schützen. Offensichtlich haben Rechte einen staatlichen Aspekt. Sie verteidigen und erzwingen sich nicht von alleine; sie hängen von staatlichen Instanzen ab. Der Inhaber eines Rechts muß also seine Rechte durchsetzen wollen. Ein abstraktes Recht beeinflußt das Rechtssystem ebensowenig wie ein Interesse; von Bedeutung sind nur die Forderungen. Der Inhaber eines Rechts muß es durch,setzen und die Rechtsinstanzen benutzen wollen. Oft nehmen wir diesen Willen als gegeben an. Als Frau X und ihr Gatte über eine Scheidung diskutierten, werden sie vielleicht besprochen haben, wie hoch die Kosten sein werden, was die Nachbarn denken mögen, wie Frau X alleine zurechtkommen und wie das Schicksal der Kinder aussehen wird, aber über die Bereitschaft, vom Recht Gebrauch zu machen, werden sie kaum diskutiert haben. Dennoch mußte dieses Element im Hintergrund vorhanden sein. Dies ist also ein Aspekt eines Rechtes: Es ist ein gegen oder durch eine Behörde durchsetzbarer Anspruch. In zweiter Linie ist es ein Anspruch, welcher - wenn es sich wirklich um ein Recht handelt - gewährt werden muß. Die Behörden dürfen das Recht einem Bürger nicht verweigern. Dies liegt im Kern der Bedeutung des Wortes. Ein Recht ist erklärtermaßen keine Angelegenheit des Ermessens. Nach volkswirtschaftlichen Begriffen sind freie Güter jene Güter, deren Erzeugung kostenlos ist; Herstellung und Verbrauch der Güter verringern ihr Angebot und auch dasjenige anderer Güter nicht. Ein Recht gehört zu dieser Art von magisch-en Gütern. Anders ausgedrückt ist ein Recht ein Anspruch auf ein Gut, welches - zumindest theoretisch und auf jeden Fall ethisch - in unbeschränkter Menge vorhanden ist. Ein Recht ist nicht rationiert. Dies meinen wir, wenn wir sagen, daß die Bürger, welche erwachsen sind und sich eintragen ließen, das Recht haben, den Präsidenten zu wählen. Die Rechtsordnung stellt keine Höchstgrenze der Anzahl Wähler auf. Falls mehr Leute mündig werden und sich eintragen lassen, dürfen mehr Leute wählen. Die Regierung kann sozusagen ohne Höchstgrenze Wahlausweise ausgeben. Sie läßt soviele drucken, wie gebraucht werden. Die Redefreiheit und andere Grundrechte haben dieselbe Eigenschaft. Wenn A, Bund C ihr Recht auf freie Rede ausüben, berührt dies die Rechte von D, E und F, es ihnen gleichzutun, in keiner Weise. Dasselbe gilt für die Rechte auf bestimmte Unterstützungsgelder oder Renten. Jeder Berechtigte hat einen Anspruch, unabhängig von den Ansprüchen aller andern Berech-

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tigten. Theoretisch ist es nicht von Bedeutung, wieviele Leute ihr Recht in Anspruch nehmen. Wenn eine bestimmte Anzahl von Personen die Bedingungen erfüllt, d. h. wenn ihre Rechte fällig werden, erhält die gleiche Anzahl regelmäßige Zahlungen. Es ist dies keine Frage des Verdienstes, des "Wer-zuerst-kommt-mahlt-zuerst"; es ist absolut - kurz, eine Frage des Rechts. Es ist also deutlich ersichtlich, wie sich ein Rechtsanspruch von einer auf einem Interesse beruhenden Forderung unterscheidet. Wenn Arbeiter streiken, wissen sie, daß sie keinen absoluten Anspruch oder ein Recht auf mehr Geld, Ferien und Sozialleistungen haben. Sie müssen ihre Gründe anführen und um ihren Anteil kämpfen; sie wissen auch, daß Gewinne manchmal auf Kosten von jemand anderem erworben werden - vielleicht auf Kosten der Konsumenten, der Aktionäre oder des Managements. Diese Forderungen sind - zumindest kurzfristig - Teil eines Nullsummenspiels. Selbstverständlich führen die Interessengruppen aus, daß ihnen zukomme, was sie verlangen, daß ihre Forderungen gerechtfertigt seien, daß sie eine Art Recht auf mehr Geld oder Macht hätten. Aber sie meinen ein Recht im moralischen Sinne, nicht als subjektiven Rechtsanspruch. Das innere Gefühl, welches mit einem Rechtsanspruch übereinstimmt, lehnt Einschränkungen ab, es leugnet die Tatsache, daß des einen Forderung auf Kosten eines anderen erfüllt wird. Dieser subjektive Aspekt eines Rechts ist in gewisser Hinsicht objektiv falsch. In Wirklichkeit gibt es keine freien Güter im Rechtssystem. Bei allen Dingen von Wert besteht nur ein beschränktes Angebot. Was die Regierung gewähren oder erlauben kann, ist niemals absolut. Dies trifft sogar auf solche Grundrechte wie die Redefreiheit zu. Normalerweise denkt man nicht an ein "Angebot" an freier Rede. Theoretisch kann jedermann sagen, was ihm gefällt und wann und wo es ihm beliebt. In Wirklichkeit hängt die Realität dieses Rechts von Angebot und Nachfrage ab. Wenn fünf Millionen Leute sich dazu entschlössen, von ihrer Redefreiheit auf dem Times Square an einem Dienstagmittag Gebrauch zu machen, wÜl'den sie eine unmögliche Situation heraufbeschwören, und die Stadtverwaltung von New York würde das auch nicht zulassen. Man könnte sagen, daß hier ein Recht, die Redefreiheit, mit andern Rechten oder mit den Erfordernissen der öffentlichen Sicherheit und der Verkehrsüberwachung in Konflikt gerät, so daß eine Art Ausgleich nötig wird. Aber dies ist tatsächlich die übliche Situation. Wenn von den Rechten mehr Gebrauch gemacht wird, als der Staat oder die Öffentlichkeit erwartet und geplant hat, dann ist ein Recht geeignet, mit andern Rechten, einer politischen Zielsetzung oder einer Rechtsnorm in Konflikt zu geraten. Subjektiv gesehen ist ein Recht absolut; objektiv gesehen können nur wenige oder gar keine Rechte absolut sein, nicht aus theoretischen, aber aus praktischen Grunden7 •

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Normalerweise entstehen aus der Ausübung von Rechten keine Probleme. Das Volk und die Regierung lernen, welcher Umfang und welche Spitzen an Geschäftslast zu erwarten sind. Das Angebot wird der mutmaßlichen Nachfrage angepaßt. Die Veränderungen des Angebots hinken hinter den Veränderungen der Nachfrage nach, wenn diese zu plötzlich erfolgen. Mit der Ausübung von Rechten ist es wie mit dem Verkehrsfluß in einer Stadt. Nur eine plötzliche Zunahme führt zu einer Verkehrsstockung. Wenn der Verkehr langsam zunimmt, kann die Stadtverwaltung mehr Polizisten einstellen, die Verkehrsvorschriften ändern, die Zufahrt zu einigen Straßen einschränken, Einbahnstraßen einführen, das Parken verbieten, und (falls es die Zeit erlaubt) breitere Straßen bauen. Das Recht auf einen Verhandlungstermin verursacht Verkehr in den Sälen der Justiz. Theoretisch besteht dabei keine Beschränkung; Klagegründe gibt es unendlich viele. A:ber der Staat stellt nur soundsoviele Richter, Anwälte und Gerichtssäle bereit. Wieviele hängt unter anderem von früheren Erfahrungen und einer Schätzung der zukünftigen Nachfrage ab. Wenn die Anzahl der Prozessierenden plötzlich anstiege, würde das System arg gestört; die allmähliche Interaktion von Angebot und Nachfrage würde nicht länger funktionieren. Lange Schlangen und Verzögerungen könnten zu Spannungen und Beschwerden, vielleicht sogar zu größeren Reformen oder Anpassungen führen. Es könnte eine Krise entstehen, auch wenn niemand wirklich eine Veränderung des Systems verlangt hat, sondern nur seine altehrwürdigen Rechte. Der Stand der Forderungen nach Fürsorgerechten, Renten und anderen Leistungen schafft auch ein Modell der Erwartungen. Die Regierung stellt das Geld nicht bereit, indem sie die potentiellen Unterstützungsempfänger errechnet, sondern indem sie bereits gemachte Erfahrungen berücksichtigt. Nicht jeder Berechtigte verlangt sein Geld. Es würde zu einer gefährlichen Umwälzung kommen, wenn dies plötzlich alle täten. Wenn Rechtsanspruche plötzlich oder mit großer Heftigkeit geltend gemacht werden, kann es' vorkommen, daß die Institutionen einfach außerstande sind, die Forderungen zu erfüllen; sie können es sich nicht leisten. Eine Stadtverwaltung läßt zweimal die Woche den Müll einsammeln. Sie hat sich auf ein bestimmtes Budget eingestellt; sie ist wie gewöhnlich knapp bei Kasse. Die "besseren" Gegenden genießen die beste Bedienung teilweise deshalb, weil die Leute, die dort wohnen, sich über Ausfälle am heftigsten beklagen. Die Stadtverwaltung läßt den Müll in den "armen" Gegenden weniger regelmäßig und mit weniger Sorgfalt einsammeln. Aber dann organisiert sich die Bevölke7 Sogar eine große Wahlbeteiligung kann so lange Menschenschlangen zur Folge haben, daß das Wahlsystem durcheinandergebracht wird.

16 Friedman

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rung der annen Gegenden und pocht auf ihr Recht auf die städtischen Dienstleistungen. Zumindest fürs erste wird es der Stadtverwaltung schwer fallen, den Forderungen nachzukommen. Es stehen nur soundsoviele Müllastwagen und Müllmänner und nur soundsoviel Geld aus der Stadtkasse für die Müllabfuhr zur Verfügung. Die Stadtverwaltung kann die Situation nicht verbessern, es sei denn, sie schränkt die Müllabfuhr in den Gegenden des Mittelstandes ein. Kurzfristig betrachtet ist die Müllbeseitigung ein Nullsummenspiel. Die Stadtverwaltung hat politisch gesehen ein ernsthaftes Problem auf dem Halse. Welchen Weg sie auch immer einschlägt, irgendeine Gruppe wird in hohem Maße unzufrieden sein. Doch die Armen haben nicht mehr als Gleichheit, nicht mehr als ihre Rechte verlangt. Im Moment scheinen die Vereinigten Staaten eine Zeit erhöhter Forderungen und vulkanartiger Ausbruche von Rechtsansprüchen zu durchlaufen. Die Forderungen entstehen aus sozialen Konflikten und erzeugen auch selbst welche. Die Bewegung hat zumindest die Führer der von jeher Benachteiligten - eine Minderheit unter Minderheiten beeinflußt. Eine dauerhafte Gesellschaft ist jedoch auf mehr als die Billigung durch eine einfache Mehrheit angewiesen; sie braucht überwältigende Einwilligung. Ohne Zerrüttung kann die Gesellschaft nur wenige aktive Rebellen und feindlich gesinnte Abweichler ertragen, sowohl in absoluten Zahlen wie in Prozentsätzen, besonders wenn die Rebellen wichtige Werte oder Einrichtungen angreifen. Die "Explosion der Rechte" oder die "Gesetzesexplosion" ist wichtig, auch wenn sie statistisch gesehen klein bleibt. Die "Explosion der Rechte" ist revolutionär, aber auf eine besondere Weise. Viele der "Rebellen" fühlen sich selbst überhaupt nicht rebellisch. Sie verlangen nur, was ihnen rechtlich oder ethisch zukommt. Die Minderheiten fordern hauptsächlich, daß die Gesellschaft die Schranken entfernt, die sie vom Genuß ihrer Rechte abhalten. Die Forderung ist nur deshalb revolutionär, weil ein ganzes Sozialsystem unter der Annahme heranwuchs, daß diese Minderheiten bestimmte Rechte nicht beanspruchen würden. Dennoch ist ein Rechtsanspruch zumindest in einem wichtigen Sinne gewaltlos: Er ist eine Alternative zur Gewalt. Die amerikanischen Eliten predigen andauernd, man solle bestehende Bahnen benutzen, man solle seine Beschwerden vor Gericht bringen und nicht auf die Straßen tragen. Die Rechtsbewegung tut genau das; zumindest tat sie es in ihrem Anfangsstadium. Ein Rechtsanspruch trägt überdies ein besonders sittliches, sogar konservatives Gewand. Eine Interessenforderung ist eine Forderung nach neuen Werten: höheren Löhnen, Steuererleichterungen, polizeilichem Schutz, besseren Schulen. Rechtsanspruche kommen in altmodische Redensarten gekleidet daher. Sie verlangen,

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was bereits sein sollte, oder fordern die Wiedereinführung von Rechten, die ungerechtfertigterweise aufgehoben wurden. Das bedeutet nicht, daß eine Gesellschaft, in der die Unzufriedenen Rechtsansprüche als Kampfmittel anwenden, vor gewaltsamen Veränderungen sicher ist. Die amerikanischen Kolonisten forderten die alten Rechte der Engländer, welche ihnen, wie sie sagten, von George In. weggenommen worden waren. Da sie nicht zufriedengestellt wurden, begannen sie den Krieg. Wenn ein Rechtsanspruch verweigert oder ignoriert wird, folgt daraus oft Gewalt. Versagen die Rechte, ist es möglich, daß Gruppen, die sich stark betroffen fühlen, einen weniger gesetzmäßigen Weg wählen. Ihr Gefühl der Gerechtigkeit ihrer Sache unterstützt sie auf diesem Weg. Wie wir festgestellt haben, bestehen auch Rechte, welche man (aus moralischen Gründen) nicht beanspruchen dürfte, aber die meisten Rechte sind moralisch gut, und beinahe alle sind legitim. Dies war die logische Grundlage für Auberls Voraussage, daß die Leute nicht geneigt seien, über Werte oder Rechte Kompromisse zu schließen, im Gegensatz dazu aber über Interessen und Wünsche. Wie wir darlegten, ist die Angelegenheit nicht dermaßen einfach, aber Auberts Hypothese hat eine gewisse äußere Wahrscheinlichkeit. Wenn jemand eifrig nach Verwirklichung seiner Rechte strebt, ist das in gewissem Sinne ein aggressives Verhalten; und manche Persönlichkeitstypen sind vermutlich aggressiver und eher prozeßbereit als andere. Offensichtlich beeinflussen soziale Faktoren die Prozeßwilligkeit. Eine Bürgerrechtsbewegung könnte kaum aus einem passiven, in der Tradition verwurzelten Volk hervorgehen. Andererseits sind Rechtsansprüche seltsam förmlich.e und legitime Formen der Aggression, falls sie überhaupt als Aggression gelten können. Die Sprache eines Rechtsanspruchs ist oft kalt und unpersönlich. Gegner ist eher der Staat, die Regierung - ein abstraktes Wesenals die bösen Menschen. Aber auch das ist von Fall zu Fall verschieden. Selbstverständlich können wir einen Rechtsanspruch nicht immer zum Nennwert nehmen. Im Gerichtssaal ist ein Rechtsanspruch in erster Linie eine Frage der Prozeßführung; er zeigt nicht immer die wahre Absicht des Klägers. Das Hauptmotiv besteht oft schlicht und einfach aus einem Interesse - einem ganz gewöhnlichen Bedürfnis. Die Anwälte verwandeln es in Rechtsansprüche, um den Fall in der richtigen Form vor Gericht zu bringen. Nicht alle Rechtsprozesse sind verkleidete Streite um Interessen. In der Bürgerrechtsbewegung z. B. ist zwar das Interessenelement sehr stark, jedoch auch die Unterströmung des Glaubens, das Gefühl für moralisches und subjektives Recht ist intensiv. Unruhe ist natürlich etwas auf der ganzen Welt und bei allen Arten von Rechtssystemen Vorkommendes, ob diese eine bestimmte Rechtsstruktur haben oder 16"

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nicht. Die genaue Form einer gesellschaftlichen Forderung ist je nach Rechtskultur verschieden. Warum z. B. müssen Forderungen in Klagebegehren umgewandelt werden, bevor sie das Gericht entgegennehmen und behandeln kann 8 ? Es besteht kein solches Erfordernis, um eine Forderung vor die Legislative zu bringen. Der legitime Wirkungsbereich von Gerichten ist enger als derjenige von Legislativen. Diese Einengung ist den Gerichten nicht inhärent; sie folgt aus den die Grundlage ihrer Legitimation bildenden sozialen Vorstellungen über die richtige Rolle von Gerichten. Der Rechtsanspruch ist eine alte Idee, welche im westlichen Recht tief verankert ist. Ein hoher Grad an Streitbarkeit bringt jedoch das Gleichgewicht des Rechtssystems auf zwei Arten in Unordnung: Erstens führt er zu einer unerwartet großen Geschäftslast; zweitens, und dies ist wichtiger, verlangen die Gruppen jetzt bedeutende gesellschaftliche Veränderungen, und sie fordern sie mit rechtlichen Gründen. Die protestierenden Gruppen können arm oder unterdrückt sein, sie brauchen es aber nicht zu sein. Reiche Ha1,lsbesitzer z. B. können im Kampf gegen eine neue, durch ihre Gegend führende Autobahn recht militant werden. Die Streitbarkeit des Mittelstandes und der Rechtsgerichteten war ein wichtiger Faktor im Deutschland der Vorkriegszeit, in Chile vor dem Staatsstreich von 1973 und in zahllosen andern Gesellschaften. Die Prozeßsucht von Bürgerrechtsgruppen scheint der westlichen Gesellschaft eigen zu sein und hat anscheinend ihren wichtigsten Brennpunkt in den Vereinigten Staaten. Sicher hat die geschichtliche Erfahrung zu dieser besonderen Einstellung den Rechten gegenüber geführt: z. B. die Tradition des Naturrechts und die Französische und die amerikanischen Revolutionen. In den Vereinigten Staaten wären starke Bürgerrechtsbewegungen undenkbar ohne die geschriebene Verfassung, ein aktives Bundesrichterkollegium und die Doktrin der gerichtlichen überprüfung. Es scheint eine eingefleischte amerikanische Gewohnheit zu bestehen, politische und volkswirtschaftliche Streitfragen vor ein Gericht zu bringen. Mit andern Worten, die Amerikaner spezialisieren sich darin, aus Interessen Rechtsansprüche zu machen. Grundrechtsbewegungen sind aber auch in Ländern ohne geschriebene Verfassung möglich. In den Vereinigten Staaten hatten viele gewichtige Forderungen - etwa nach verbesserten städtischen Dienstleistungen, nach einer Beendigung des Krieges in Vietnam, nach besserer Fürsorge - wenig oder gar nichts mit der Verfassung zu tun. Die amerikanische Art der gerichtlichen Überprüfung ist seit dem Krieg in Deutschland und Italien in Erscheinung getreten9 • Bei dieser Entwicklung waren die Vereinig8 Natürlich behandeln nicht alle Gerichte Fordenmgen, indem sie ihnen die rechtliche Form im modernen westlichen Sinne geben. 9 John H. Merryman und V. Vigoriti: When Courts Collide: Constitution and Cassation in Italy, 15 Am. J. Comp. L. 665 (1967).

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ten Staaten Vorbild; dennoch muß etwas auf dem Grund der Weltkultur in Bewegung sein, das das Anwachsen der Rechtsansprüche fördert. Die Inanspruchnahme von Rechten lebt von ihren eigenen Erfolgen. Erfolg bei einer Forderung bestärkt und ermutigt zu weiteren Forderungen und ist anderen Vorbild und Erfolgshoffnung. Daher kann erwartet werden, daß sich der Vorgang fortsetzt und weiterentwickelt, bis er durch einen noch unbekannten Faktor aufgehalten wird. Ober die rechtliche Begründung Vor Gericht gehen kann man nur auf eine bestimmte, förmliche Weise, indem man die Regeln der Prozeßführung befolgt und die Streitfragen als Rechtsansprüche formuliert. Die Antwort des Gerichts erfolgt ebenfalls in einer spezialisierten Form. Alle Institutionen, die als Gerichte bezeichnet werden, sind gewöhnlich an bestimmte Regeln der Rechtsprechung und des Verfahrens gebunden und von den Rollenvorstellungen der internen Rechtskultur beeinflußt. Ein besonderes Merkmal der Berufungsgerichte in vielen Ländern stellen die begründeten, schriftlichen Urteile dar. Diese Gerichte liefern Entscheide, welche den Streit zwischen den Prozeßparteien beilegen; sie verfassen und veröffentlichen aber auch Darlegungen, welche den Entscheid rechtfertigen und beschreiben sollen, wie die Richter zu ihren Schlußfolgerungen gelangten. Wir brauchen diese Darlegungen nicht zum Nennwert zu nehmen, wie es viele Juristen tun, aber es ist auch nicht nötig, ins andere Extrem zu verfallen und vollständig zu ignorieren, was die Richter sagen, und nur darauf Wert zu legen, wie die Fälle entschieden werden. Die rechtliche Begründung und die juristische Ausdrucksweise sind wichtige soziale Fakten - ob sie nun echte Anhaltspunkte darüber liefern, was die Richter denken, oder nicht. Die rechtliche Begründung muß also erklärt und ihre Bedeutung dargelegt werden. Sie ist ein Bestandteil der internen Rechtskultur und offensichtlich von Bedeutung, weil sie eine Art Rechtsakt darstellt, welcher Regeln und Auslegungen von Gesetzen erzeugt. Schriftliche Urteilsbegründungen verbreiten die Doktrin an untere Gerichte, Anwälte und wichtige Mitglieder der Öffentlichkeit, einschließlich der Legislative. Warum begründen Gerichte ihre Entscheide, und was versteht man unter rechtlicher Begründung 10 ? Im anglo-amerikanischen Recht bezieht sie sich hauptsächlich auf eine Art von Rechtsakten: die Begründung 10

Lawrence M. Friedman: On Legalistic Reasoning: A Footnote to Weber,

1966 Wis. L. Rev. 148.

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Kap. IX: über die interne Rechtskultur

von Berufungsgerichten. In diesem Kapitel wollen wir den Begriff rechtliche Begründung nur für eine förmliche, autoritative Erklärung verwenden, welche zeigen soll, wie und weshalb eine Entscheidungsinstanz zu ihren besonderen Schlußfolgerungen gelangte. Auf viele rechtliche Argumentationen trifft diese Definition nicht zu. Die Beweisführungen von Rechtsgelehrten in ihren Abhandlungen werden nicht als bindend betrachtet, sie sind nicht autoritativ, obwohl sie die Richter beeinflussen. In einem Rechtssystem, in welchem den Abhandlungen Autorität zukommt, wäre die Beweisführung in einer Abhandlung eine rechtliche Begründung im definierten Sinne. Förmlichkeit ist ebenfalls Teil der Definition. Jede menschliche Handlung oder Entscheidung, welche bewußt vorgenommen wird, kommt durch Argumentation in irgend einer Form zustande. Der Herzschlag eines Menschen und das Flattern der Augenlider vollziehen sich ohne bewußten geistigen Vorgang; aber wenn jemand die Straße überquert, muß er zumindest in einer rudimentären Weise darüber nachdenken. Eine förmliche rechtliche Begründung - gewöhnlich in schriftlicher Form - hat keinen notwendigen Zusammenhang mit einem tatsächlichen geistigen Vorgang. Eine schriftliche Urteilsbegründung ist keine Fotografie und kein Röntgenbild der Gedanken eines Richters. Früher nahmen die Juristen vielleicht eine Form der RöntgenbildTheorie ernst, heute ist dies aber nicht mehr der Fall. Die Frage bleibt: Was ist der Zweck dieser förmlichen äußeren Schale? Es ist interessant, fürs erste einige Behörden besonders zu erwähnen, die keine förmliche Begründung geben. So ist es z. B. bei der Legislative. Gesetze bilden eine Hauptrechtsquelle, aber sie kommen als n2ckte Befehle zur Welt. Einige beginnen mit einer Grundsatzerklärung; andere haben weder eine Präambel noch eine Grundsatzerklärung. Natürlich finden im Parlament oft Debatten über einen Gesetzesentwurf statt. Befürworter und Gegner führen Gründe für die eine oder die andere Seite an, doch ist dies für den Lauf des Gesetzes nicht wesentlich. über manche Gesetze wird gar nicht debattiert. Entscheidungsgründe werden dem Gesetz nicht beigefügt. Einige Behörden geben also Gründe bekannt, andere nicht. Die Erklärung muß in den Theorien über die Legitimität liegen, die die verschiedenen Institutionen tragen. Wir können zwei Arten von Legitimität innerhalb eines Rechtssystems unterscheiden. Primäre Legitimität ist die Legitimität der höchsten Autorität. Jede Gesellschaft verfügt über eine höchste Autorität. Irgendeine Person, Institution oder ein Verfahren besitzt die Macht und das Recht, selbständig Recht zu setzen oder abzuändern, und zwar ohne daß dazu eine Delegation durch eine andere Autorität oder Institution oder ein anderes Verfahren erforderlich ist. In einer absoluten Monarchie sind die Worte des Königs

Über die rechtliche Begründung

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Gesetz; der König verfügt über primäre Legitimität. In Großbritannien besitzt das Parlament die primäre Gewalt. In manchen Gesellschaften steht die primäre Legitimität keiner rein menschlichen oder weltlichen Autorität zu. Endgültige Autorität kommt dort einem Buch, einem Gesetz, Gott oder der Tradition zu. Eine über primäre Legitimität verfügende Autorität braucht keine Begründungen zu geben. Der König kann in einer absoluten Monarchie Recht durch Dekret setzen; er braucht keine Begründungen beizufügen. Parlamentsgesetze benötigen ebenfalls keine besondere Rechtfertigung. Die Zehn Gebote waren nackte Befehle. Was auch immer Grundlage der primären Legitimität ist - charismatische, traditionelle oder rationale Herrschaft, um Webers Begriffe zu verwendenl l - , irgendeine Form davon ist gewöhnlich in jeder Gesellschaft vorhanden. Alle andern Behörden verfügen über abgeleitete Macht und abgeleitete Legitimität. Sie müssen ihre Handlungen rechtfertigen oder eine Verbindung zu einer höheren Autorität oder Legitimität vorweisen. Es bestehen zwei Arten von solchen Verbindungen: generelle und spezielle. Ein Polizist trägt eine Uniform und besitzt eine Dienstmarke; wenn er jemanden verhaftet, hat er einen Haftbefehl bei sich. Dienstmarke, Haftbefehl und Uniform sind Behelfe oder Kennzeichen legitimer Autorität, was sie auch immer sonst noch sein mögen. Dienstmarke und Uniform bringen die generelle Ermächtigung des Polizisten zum Ausdruck; der Haftbefehl ist die Ermächtigung, eine spezielle Handlung vorzunehmen. In einem komplizierten Rechtssystem mit vielen Lücken, Plätzen und Ämtern stehen gewöhnlich auch viele Behelfe zur Verfügung, um Rechtsakte mit einer höheren Autorität in Verbindung zu bringen. Die rechtliche Begründung ist einer dieser Behelfe - einer der wirksamsten und wichtigsten. Sie ist ein Zeichen der speziellen Legitimität, d. h. sie ist eher mit einem Haftbefehl als mit einer Dienstmarke zu vergleichen. Ihr Zweck ist es, Schlußfolgerungen und Entscheide des Richters mit einem höhersteheriden System von allgemeinen Rechtsgrundsätzen oder mit einer Behörde oder Institution mit primärer Legitimität zu verbinden. Richter verfügen wie Polizisten über abgeleitete Legitimität. Sie haben sich selten, wenn überhaupt jemals, die Befugnis angemaßt, neues Recht frei zu setzen wie ein König oder ein Parlament. Sie brauchen daher bei allem, was sie tun, einen verbindenden Behelf. Das Urteil mit seiner Begründung sorgt für eine solche Verbindung. Natürlich wendet nicht jedermann, der über abgeleitete Legitimität verfügt, das Mittel der rechtlichen Begründung an. Die unteren Ge11

Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Auf!., 1976, S. 124 ff.

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richte in den Vereinigten Staaten verzichten normalerweise darauf; und Polizisten händigen keine schriftlichen Begründungen aus, wenn sie einen Einbrecher auf frischer Tat ertappen. Der Beruf eines Polizisten verlangt manchmal schnelles Handeln. Gelegentlich wird der Polizist seine Handlungen rechtfertigen müssen. Falls jemand Einsprache erhebt, wird er beweisen müssen - nötigenfalls in fonneller Weise -, daß er zur Handlung wirklich ermächtigt war. Er wird einen Haftbefehl vorweisen müssen. Ohne Haftbefehl vorgenommene Verhaftungen werden möglicherweise gerichtlich angefochten. Anfechtung ist ein Schlüsselbegriff bei der Erklärung der rechtlichen Begründung. Typischerweise muß nur bei angefochtenen Rechtsakten dargelegt werden, wie sie mit einer höheren Autorität verbunden sind. In jedem Berufungsverfahren ficht der Berufungskläger eine von einem unteren Gericht vollzogene Handlung an; daher rührt die Bedeutung der Urteilsbegründung12 • Eine rechtliche Begründung erscheint in logischer Form; sie kann in Lehrsätze rechtlicher und in solche tatsächlicher Art gegliedert werden. Manche Lehrsätze werden als Prämissen, andere als Schlußfolgerungen verwendet. Die Grundbausteine einer rechtlichen Begründung bilden Lehrsätze, welche als Prämissen dienen. Wie gelangt nun die Entscheidungsinstanz zu ihren Prämissen? Wir wollen ein fonnelles System als geschlossen bezeichnen, wenn die Entscheidungsinstanzen im allgemeinen glauben, daß sie ihre Entscheidungen nur auf rechtliche Prämissen stützen dürfen. Das bedeutet, daß sie die Gesamtheit der Lehrsätze in zwei Teile aufteilen. Ein Teil besteht aus rechtlichen Lehrsätzen; nur diese können auf legitime Weise als Prämissen bei der rechtlichen Begründung mitwirken. Es gibt nur eine beschränkte Anzahl davon, und es ist möglich zu sagen, welche Lehrsätze rechtliche sind und welche nicht. Jedes System, welches diese Trennlinie nicht zieht, welches keine Unterscheidung zwischen rechtlichen und andern Lehrsätzen macht, ist ein offenes System. Ferner akzeptieren manche Rechtssysteme Neuerungen - sie erwarten, daß neue rechtliche Prämissen entstehen. Andere Systeme lehnen Neuerungen ab 13 • Durch Kombinieren dieser zwei Unterscheidungen sondern wir vier idealtypische Rechtssysteme aus. Weil die rechtliche Begründung ein Rechtfertigungsbehelf ist, eine Verbindung zwischen abgeleiteter und primärer Legitimität, führen unterschiedliche Einstellungen zur Legitimität in einer Gesellschaft zu besonderen, unterschiedlichen Stilen bei der rechtlichen Begründung. Den vier System12 Die Entscheidung des unteren Gerichts wird eventuell gerechtfertigt. Die Rechtfertigung aber nimmt das obere Gericht vor. 13 Dennoch akzeptieren viele dieser Systeme die Idee einer gelegentlichen außerordentlichen Veränderung.

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typen entsprechen daher vier Idealtypen der rechtlichen Begründung, welche Aspekte der Rechtskultur in den einzelnen Gesellschaften widerspiegeln. Die vier Typen werden in Tafel 2 schematisch dargestellt. Wir wollen sie uns hier etwas näher ansehen. Tafel 2: Vier Typen von Rechtssystemen eingeteilt nach Formen der rechtlichen Begründung

Liste der rechtlichen Lehrsätze geschlossen offen Neuerungen verweigert akzeptiert

System des religiösen Rechts

auf Gewohnheitsrecht beruhendes System

rechtswissenschaftliches System

instrumentales System

1. Manche Rechtssysteme verfügen über ein geschlossenes Instrumentarium von Prämissen und lehnen jede Neuerungsidee ab. Eine konservative Buchreligion mit einem einzigen heiligen Text käme diesem Idealtyp nahe, besonders wenn kein Glaube an eine neue Offenbarung besteht. Die Gesellschaft müßte ihre gesamte Rechtsordnung aus einem heiligen Buch herauspressen; alle Entscheidungen müßten mit dem Text verbunden werden. Das klassische jüdische und mohammedanische Recht waren diesem Systemtyp eng verwandt. Unter den nachbiblischen Juden bildete die Bibel die grundlegende Rechtsquelle. "Wende sie, und wende sie immer wieder", erklärte ein Talmud-Gelehrter, sich auf die Thora beziehend. "denn alles kann darin gefunden werden14." Antworten auf rechtliche Fragen sind in den Worten der Bibel versteckt. Im Islam bildeten der Koran und die Worte des Propheten primäre Rechtsquellen. In beiden Systemen war Legitimität nie eine besonders einfache Angelegenheit; Gewohnheitsrecht und Gesetzgebung waren ergänzende Rechtsquellen. Im Islam waren auch die überlieferten Reden des Propheten und seiner Gefährten, die Analogie und der Konsens der Gemeinschaft maßgebend. Beide Buchreligionen verfügten jedoch über viele Elemente eines geschlossenen Systems dieses ersten Typs. Die heiligen Bücher dieser Religionen waren voll göttlicher Bedeutung; es war daher der Mühe wert, den letzten Tropfen möglicher Folgerungen daraus herauszuziehen. Die jüdischen Weisen debattierten endlos über Rechtsfragen, sie stritten um jedes Wort des Textes und machten keinen großen Unterschied zwischen wirklichen und imaginären Fällen. Die Mischna-Gelehrten stellten sich bei der Diskussion des Scheidungsrechts die Frage, ob ein Ehemann seine Frau verstoßen könne, indem er den Scheidebrief auf das Horn einer Kuh schreibt und If

Michael L. Rodkinson: The Babylonian Talmud, 1916, Bd. 5, S. 133.

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ihr die Kuh übergibt, oder indem er ihn auf die Hand eines Sklaven schreibt und ihr den Sklaven schenkt. Dies seien, entschieden die Weisen, rechtsgültige Wege, um einen Scheidebrief zu übergeben; ein Rabbiner war jedoch der Ansicht, ein Scheidebrief könne nicht auf etwas Lebendes geschrieben werden l5 • Mohammedanische Gelehrte erörterten Fragen wie den genauen Zeitpunkt, in dem die Erbfolge gegenüber einer durch den Teufel zu Stein verwandelten Person eröffnet wird H1 • Sowohl im mohammedanischen wie im jüdischen Recht war der religiöse Text starr und abgeschlossen oder wurde es zu bestimmter Zeit. Nachträglich konnten keine neuen Prämissen geschaffen werden, "die Tore der Gesetzgebung" waren geschlossen 17 • Natürlich veränderten sich die Verhältnisse laufend, und fortwährend entstanden neue soziale Bedingungen. Die alten Texte veralteten immer mehr. Dadurch wurde die rechtliche Begründung sehr erschwert. Beide Systeme entwickelten sich stark in Richtung Kasuistik, Positivismus und rechtliche Fiktion, und ein üppiges Anwachsen der Begründungen durch Analogieschluß begann. Das Wort talmudisch wurde sogar zur Bezeichnung für eine bestimmte Pathologie der rechtlichen Begründung. Die talmudische Rechtsbegründung war manchmal grotesk, aber die Weisen standen eben vor dem Dilemma eines geschlossenen Rechtssystems. In Wirklichkeit milderten freier Gebrauch von Analogie und Fiktion und die in der Bibel glücklicherweise vorhandenen vagen allgemeinen Klauseln, die den Generalklauseln moderner Gesetzbücher gleichen, die talmudische Rechtsfindung. Das klassische common law, eine seltsame Kreuzung, glich in gewisser Hinsicht einem System religiösen Rechts. Gewiß, es existierte kein religiöser Text, aber das common law verweigerte im großen und ganzen Neuerungen. Die Liste der Prämissen war alles in allem eher geschlossen als offen. Die all eine gültigen Prämissen waren die allgemeinen Rechtsgrundsätze und Lehrmeinungen des common law, wie sie in aufgezeichneten Fällen gefunden werden konnten. Natürlich veränderte sich die Liste langsam im Laufe der Zeit. Das common law war nie dermaßen starr oder geschlossen wie die Systeme religiöser Rechte. Es besaß zwar Dogmen der Starrheit; die stare-decisis-Doktrin wurde, so wie sie sich entwickelte, zu einem bedeutenden Pfeiler der Beständigkeit. In erster Linie legte die Doktrin darauf Wert, daß relevante, legitime Prämissen nur in früheren Fällen gefunden werden könnten l8 • Herbert Danby (Hrsg.): The Mishnah, 1'933, S. 308. Noel James Coulson: A History of Islamic Law, 1964, S. 81. 17 Haim H. Cohn: Secularization of Divine Law, in Haim H. Cohn (Hrsg.): Jewish Law in Ancient and Modern Israel, 1971, S. 1,32. 18 Obwohl gelegentlich Fälle mit neuartigen Problemen entstehen dürften. 15 16

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Die Juristen in Ländern des common law hatten im allgemeinen wenig Sinn für die Rechtsphilosophie und erarbeiteten nie eine ausführliche Theorie der legitimen Entscheidung. Zwei Punkte waren vor dem 20. Jahrhundert gemeinhin selbstverständlich. Erstens lehnten es Richter und andere Juristen strikte ab, daß Gerichte die Befugnis hätten, Recht zu setzen; zweitens behandelten die Juristen die Regeln des common law im allgemeinen nicht als instrumentale, als rein zweckbestimmte Regeln. Das Recht als ein System von Nonnen nahm eine höhere Legitimität in Anspruch als ein bloßes technisches Instrument. Die Grundsätze des common law verkörperten Gerechtigkeit und Vernunft. Sie waren das Destillat der Weisheit des Volkes, durch die Zeit geprüft und durch Erfahrung vervollkommnet. Dies war weit weniger extrem als die Ansprüche eines Systems des religiösen Rechts, wo Gott selbst oder seine Stellvertreter Schöpfer des Rechts waren, aber es war solide genug, um das Prinzip fest zu verankern. Der Richter hatte die richtige Nonn zu finden und anzuwenden, nichts anderes. Das späte 19. Jahrhundert brachte den Höhepunkt - oder den Tiefpunktder mechanistischen Jurisprudenz, sowohl im common law wie im kontinentaleuropäischen Recht.. Es entstand eine Deduktivtheorie der richterlichen Entsch.eidfindung, nach welcher, um Wasserstroms Formulierung zu gebrauchen, folgendes galt: "Alle Fälle werden entschieden durch Anrufung von Nonnen, die bestimmt und unveränderlich sind und deren Anwendung perfekt vorausgesagt werden kann I9 ." Dies mag eine Karikatur sein, gibt aber eine Einstellung gegenüber dem von Richtern geschaffenen Recht wieder, die immer noch recht lebendig ist. Dieser Einstellung wegen sahen sich die Richter manchmal Problemen gegenüber, die kaum anders als diejenigen waren, mit denen die Entscheidungsinstanzen in einem System des religiösen Rechts konfrontiert waren. Um den Anschein einer Neuerung zu venneiden, mußten sich die Richter dem Positivismus, rechtlichen Fiktionen und überspannten Analogien aller Art zuwenden. 2. In einem System des religiösen Rechts lag die Autorität eines Richters oder eines Weisen in der Heiligkeit, Weisheit und in religiösen Institutionen begründet. Was bildete aber die Grundlage der Autorität für die Richter des common law? Blackstone nannte die Richter bezeichnenderweise "lebende Orakel" des Rechts 20 • Wie Orakel fanden die Richter das Recht mittels eines beinahe einer Prophezeiung gleichkommenden Vorganges. Blackstones Idee aus dem 18. Jahrhundert paßte jedoch nicht ins 19. Jahrhundert. Nach modernerer Vorstellung waren die Richter die Kunsthandwerker des Rechts. Das Recht war 19 Richard A. Wasserstrom: The Judicial Decision, Toward a Theory of Legal Justification, 1961, S. 15. 20 1 Blackstone Commentaries, 69.

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eine Wissenschaft; Richter waren ausgebildet in der Wissenschaft oder Kunst, Rechtsgrundsätze zu finden und anzuwenden. Diese besondere Fertigkeit unterschied sie von den Laien. Die Idee der Rechtswissenschaft war ein geeignetes Modell für das Recht. Nach einer weitverbreiteten Meinung ist Wissenschaft kumulativ; sie baut auf ihrer Vergangenheit auf - auf den Schultern von Giganten. Sie bewegt sich stetig vorwärts, immer fortschreitend, aber was neu ist, wurde nicht vom Menschen geschaffen. Die neuen Lehrsätze bestehen aus Regeln, die die reale Welt beherrschen; sie brauchen nur entdeckt zu werden. Wenn das Recht eine Wissenschaft wäre, würde folglich das System der Lehrsätze auf natürliche Weise sich verändern und wachsen, die Veränderungen hingen jedoch weder von Politik noch vom Willen oder der Laune eines Richters ab. Die Juristen spielten eine wissenschaftliche Rolle; sie würden die Lehrsätze des Rechts entdecken, vervollkommnen und analysieren. Der Durchschnittsbürger - oder der Politiker - hätte über Rechtswissenschaft nicht mehr zu entscheiden als über Biologie oder Physik. Systeme, die unter den zweiten unserer vier Idealtypen fallen, können als rechtswissenschaftliche Systeme bezeichnet werden, weil Rechtssysteme, in denen die Idee der Rechtswissenschaft stark ist, ihr so nahe kommen wie nichts anderes. Bei diesem Typ ist die Liste der Prämissen geschlossen, das System akzeptiert jedoch Neuerungen. Oberflächlich betrachtet scheint dies logisch unmöglich. Wenn die Liste der Prämissen geschlossen ist, wie kann es dann Neuerungen geben? Das Konzept der Rechtswissenschaft liefert so etwas wie eine Antwort: Kurzfristig ist die Liste der Prämissen starr; die bekannte Liste der Prämissen ist jedoch nicht dieselbe wie die potentielle. Die Juristen können neue Lehrsätze entdecken, alte verbessern und neue Beziehungen aufzeigen. Das rechtswissenschaftliche Konzept war schon immer besonders offenkundig in den kontinentaleuropäischen Ländern und beeinflußt deren rechtliche Begründungen und deren Forschung21 • In der Theorie sind die Gesetzbücher die einzigen Rechtsquellen; die Richter müssen jede Entscheidung mit einem konkreten Gesetzestext in Verbindung bringen. Die Gesetzbücher sind nicht heilig und werden häufig geändert. Dennoch ist ihr Text vorläufig festgelegt; die Richter müssen vielleicht fünf gerade sein lassen, wenn sie den zu entscheidenden Fall mit einer Gesetzesnorm in Zusammenhang bringen. Aus diesem Grunde haben Rechtsbegründungen im common law und im kontinentaleuropäischen Recht manche gemeinsamen Elemente22, und beide haben bis zu einem John H. Merryman: The Civil Law Tradition, 1969, S. 65 - 72. Vgl. John P. Dawson: The Oracles of the Law, 1968, eine interessante Vergleichsstudie über die Behandlung des Fallrechts in Deutschland, Frankreich und England. 21

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bestimmten Maße Merkmale, die am besten mit Hilfe dieses zweiten Typs beschrieben werden. 3. Die dritte Kategorie besteht aus Systemen, bei welchen die Liste der Prämissen offen ist, Neuerungen aber nicht wirklich akzeptiert werden. Dies ist ein weitverbreiteter Typ, den wir als auf Gewohnheitsrecht beruhendes System j:lezeichnen können. Auf Überlieferung oder Gewohnheitsrecht beruhende Rechtssysteme fallen fast alle in diese Kategorie. Als ein Beispiel können wir die Lozi Nord-Rhodesiens anführen, deren hochentwickeltes Rechtssystem von Max Gluckman beschrieben wurde 23 • Die Lozi-Richter waren geschickt im Entscheiden von Fällen und erklärten ihre Entscheidungen sorgfältig. Dennoch waren ihre rechtlichen Begründungen kaum positivistisch. Die Richter waren nicht berufsmäßig ausgebildet; sie waren Adlige, Berater, Weise, Älteste, Männer mit Erfahrung. Sie schufen kein neues Recht, das Recht bestand schon. Es bestand aus den Sitten, der Gewohnheit, dem Sinn für die Gemeinschaft. Die Lozi glaubten, daß ihr Königreich von einem Sohn Gottes gegründet worden sei und dieser ihnen das Recht gegeben habe - ein ganzes System von Regeln, das Rechte und Pflichten definierte und das Verfahren bestimmte, in welchem beim König um Gerechtigkeit nachgesucht werden konnte. Das hauptsächliche Rechtssystem existierte also schon seit unvordenklicher Zeit; die Richter waren bloß dessen Sprecher. Die Liste der rechtlichen Begründungen war offen. Die Richter nahmen Gewohnheit, Erfahrung, gesunden Menschenverstand, Sittenlehre - alle vernünftigen und geeigneten Lehrsätze - in Anspruch. Es gab keinen Text, kein Gesetzbuch, keine Beständigkeit, kein Gefühl, daß Rechtsregeln von allen andern Regeln getrennt und nur einem dafür ausgebildeten Verstand zugänglich seien. Ein ähnliches System veranlaßte J an Vansina zu der eher seltsamen Schlußfolgerung, daß das von ihm studierte Volk, die Kuba, keine Rechtsnormen besäße. Er meinte damit, daß sie über keine spezifisch rechtlichen Lehrsätze verfügten. Rechtsnormen, schrieb er, sind Sozialnormen und nichts anderes 24 • Dies ist bloß eine andere Methode, um ein offenes System zu beschreiben, und gilt allgemein für das Recht eines Volkes ohne schriftliche überlieferung. 4. Beim vierten Systemtyp werden Neuerungen akzeptiert, und die Liste der Prämissen ist offen. Wir können dies ein instrumentales System nennen. In ihm können die "Richter" Entscheidungen fällen, ohne 23 Max Gluckman: The Judicial Process among the Barotse of Northern Rhodesia, 1955. 24 Jan Vansina: A Traditional Legal System: The Kuba, in Hilda Kuper und Leo Kuper (Hrsg.): African Law: Adaptation and Development, 1965, S. 97, 109.

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an rechtliche Nonnen gebunden zu sein. Diese Richter können sich auf allgemeine soziale Standards berufen, und sie können die Nonnen oder deren Anwendung so verändern, wie es die Standards vorschreiben. Die rechtliche Begründung in einem solchen System wäre dem ähnlich, was Max Weber materiale Rationalität nannte. In einem material-rationalen System entscheidet der Richter auf der Grundlage von "ethischen Imperativen oder utilitarischen oder anderen Zweckmäßigkeitsregeln oder politischen Maximen", anstelle von Normen, die durch "logische Generalisierung von abstrakten Sinndeutungen" gefunden werden 25 • Zwei ziemlich unterschiedliche Rechtssysteme der realen Welt nähern sich diesem vierten Idealtyp. Einen dieser Untertypen können wir als revolutionäre Legalität, den andern als Wohlfahrts-Legalität bezeichnen. In den Frühstadien einer Revolution - in Castros Kuba oder der Sowjetunion im Jahre 1918 - beseitigt das neue Regime bisweilen das alte Rechtssystem. Die Herrscher setzen Revolutionsgerichte ein, deren Richter diensteifrige Laien sind. Diese Gerichte handeln schnell und entschieden. Vielleicht begründen sie ihre Entscheidungen, aber sie entnehmen ihre Begründungen nicht den alten Gesetzbüchern. Eher werden die Entscheidungen mit revolutionären Grundsätzen und der Zweckmäßigkeit begründet. Die Volksgerichte in der Sowjetunion im Jahre 1918 wurden angewiesen, in Situationen, welche nicht durch Erlaß der Regierung geregelt waren, dem revolutionären Rechtsbewußtsein zu folgen. Besondere Revolutionstribunale behandelten Sabotage und Rebellion. Diese Tribunale erzwangen, nach Harold Bennan, was offiziell Roter Terror genannt wurde. Sie waren angewiesen, sich ausschließlich von den Umständen des Falles und dem revolutionären Bewußtsein leiten zu lassen. Die alten Gesetzbücher und Gerichte und der alte Beruf des Juristen wurden abgeschafft2il • Die sowjetischen Tribunale sollten das Recht freimütig als Werkzeug zum Bau einer neuen Gesellschaft verwenden. Nichts könnte auf unbannherzigere Weise modem sein, aber diese Tribunale und die Lozi hatten etwas Gemeinsames: Beiden fehlte ein geschlossenes Prämissensystem. Ein Gericht geht von einer, wie wir sie nennen, Wohlfahrts-Legalität aus, wenn es sich offenhält gegenüber Veränderungen im Lichte vieler, nicht nur rechtlicher Kriterien. Ein solches Gericht würde als Ausgangspunkte der rechtlichen Begründung staatspolitische Normen aller Art, wissenschaftliche Erkenntnisse und fortschrittliche EntscheidungsMax Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., 1976, S. 397. Harold J. Berman: Justice in the U.S.S.R., 1963, S. 31 f. Zur ähnlichen Periode im maoistischen China vgl. Jerome A. Cohen: The Criminal Process in the People's Republic of China 1949 - 1963, An Introduction, 1968, S. 9 f. Vgl. auch Jesse Berman: The Cuban Popular Tribunals, 69 Colum. L. Rev. 1317 (1969). 25

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begründungen zulassen. Berücksichtigt würde alles, was dem Gericht helfen würde, zu einem besseren Ergebnis zu gelangen, das mit der staatlichen Politik, der allgemeinen Wohlfahrt oder dem sozialen Nutzen eher übereinstimmt. Jede einzelne Norm hätte ihr Ziel oder ihren Grund, welcher ihren Platz innerhalb des allgemeinen Gefüges der Sozialpolitik festlegt. Rechtliche Begründungen wären frei, offen und rational, nie formalistisch oder positivistisch. Dies ist die Art und Weise, in welcher die Regierungen im Idealfall allgemein vorgehen, wenn sie ihre Politik entwerfen, und welche fortschrittliche Schlichter befolgen. Westliche Gerichte sind in viel größerem Maße durch die Tradition gelähmt. Doch in den Vereinigten Staaten scheinen sich ein paar Gerichte, meist Berufungsgerichte, langsam in diese Richtung zu bewegen. Ein schwedischer Gelehrter entdeckte auch bei den Gerichten seines Landes eine Bewegung zur offenen Rechtsbegründung 27 • In den Vereinigten Staaten sind diejenigen Gerichte offen, die weniger an common-Iaw-Präzedenzfälle gebunden sind als die Gerichte vergangener Generationen. Sie bringen anerkannten rechtlichen Lehrsätzen nur eine beschränkte Achtung entgegen. Ihre Richter fühlen sich frei genug, um gesunden Menschenverstand als Prüfstein zu verwenden - zumindest in manchen Fällen -, um sich von ethischen oder sozialen Normen führen zu lassen oder dem zu folgen, was nach ihrem Gefühl die öffentliche Meinung war. Ein Richter eines solchen Gerichts hat daher weniger Bedenken wegen des geschlossenen und begrenzten Instrumentariums rechtlicher Lehrsätze. "Ich brauche nicht zu heucheln, etwas als Richter nicht zu wissen, was ich als Mensch weiß." Diese Worte schrieb 1960 ein New Yorker Richter eines Berufungsgerichts28 • Eine strenge Trennung zwischen Richter und Mensch war genau das, was die Rechtstheorie einst forderte. Es war nicht der Richter als Mensch oder Bürger, der über den zu behandelnden Fall entscheiden mußte, es war eher das Recht. Die meisten amerikanischen Gerichte unterscheiden immer noch scharf zwischen diesen beiden Bereichen29 • Wir sprachen über die vier Typen auf der Ebene ganzer Rechtssysteme. Die Einteilung eignet sich ebensogut oder noch besser, wenn sie auf Teile von Rechtssystemen angewendet wird. Der positivistische Stil, der in Systemen des religiösen Rechts gefunden werden kann, kommt wahrscheinlich auch in Untersystemen vor, die über abgeleitete Legitimität und eine starre Liste von Prämissen verfügen und Entscheide 21 Per Olof Bolding : Relianee on Authorities or Open Debate?: Two Models of Legal Argumentation, 13 Seandinavian Studies in Law 59 (1969). 28 Hofstadter, J., abweichende Meinung in New York City Housing Authority v. Watson, 27 Mise. 3d 618, 620, 207 N. Y. S. 2d 920, 923 (Sup. ct., 1960). 29 Richard A. Daynard: The Use of Social Poliey in Judicial DecisionMaking, 56 Cornell L. Rev. 919 (1971).

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fällen und begründen müssen. Das sind die üblichen Verhältnisse in einer Bürokratie, wie auch immer das ursprüngliche System sein mag. Ein Beamter verfügt über beschränkte Amtsgewalt. Man erwartet von ihm, daß er sich strikte an seine Vorschriften hält. Er muß imstande sein, seine Entscheidungen mit Prämissen höherer Ligitimität zu verbinden - mit einer Regelsammlung, einer Dienstvorschrift oder einem Gesetz. Daher pflegen sich Bürokraten oft so positivistisch zu verhalten, wie das zu einem geschlossenen System passen würde. Die Legitimitätskonzepte bestimmen die Art und Weise der rechtlichen Begründung, und unterschiedliche Teile des Rechtssystems hängen von unterschiedlichen Legitimitätstheorien ab. Daher kann ein Untersystem des einen Typs im ursprünglichen System eines ganz anderen Typs vorkommen. In den westlichen Nationen handelten die Gerichte im späten 19. Jahrhundert im allgemeinen, als ob das System geschlossen wäre, oder gaben zumindest vor, so zu handeln. Zur selben Zeit setzten die Legislativen frei und offen Recht. Während der turbulenten Periode des Kriegskommunismus in der Sowjetunion, kurz nach der Revolution, hatten die Gerichte die Erlasse der Regierung auf den Buchstaben genau zu befolgen; die Volkstribunale dagegen verfügten über freie Vollmacht in Bereich.en, die nicht durch Erlasse geregelt waren. Die amerikanischen Jugendgerichte waren Musterbeispiele für freies Ermessen, für eine Art Wohlfahrts-Legalität, innerhalb des starreren Rahmens des common law. Das amerikanische Verfassungsrecht ist ein ziemlich geschlossenes Untersystem, welches jedoch seltsame, eigenständige Merkmale aufweist. Jede Entscheidung muß mit dem Verfassungstext in Verbindung gebracht werden. Der Verfassung können keine Prämissen hinzugefügt werden, es sei denn auf die schwerfällige und außergewöhnliche Art des Amendments. Die Verfassung bildet die alleinige legitime Quelle jener Lehrsätze, die den Bundesgerichten ihre dramatischste Macht verleihen. Ein aktivistisches Gericht dehnt den Text mit Fiktionen und Analogien. Nicht jedes Problem muß eine verfassungsrechtliche Lösung finden. Ein Gericht kann bestreiten, daß ein verfassungsrechtliches Problem vorliege, und die Streitfrage einfach ins ordentliche Rechtssystem zurück verweisen. Die Merkmale eines geschlossenen Systems zeigen sich nur dann, wenn das Gericht auf der Grundlage der Verfassung entscheiden will und keine einschlägige Stelle im Verfassungstext findet. Was die Juristen rechtliche Begründung nennen, ist streng genommen ein Merkmal geschlossener Systeme vom klassischen römischen Recht und den alten Buchreligionen bis zu den kontinentaleuropäischen Gesetzbüchern und dem common law. Die Idee der rechtlichen Begründung hängt von einem geschlossenen Instrumentarium von Prämis-

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sen ab - von der Vorstellung, daß manche Lehrsätze rechtliche Lehrsätze sind und andere nicht, und daß darin ausgebildete Menschen die einen von den anderen unterscheiden können. In einem völlig offenen System gibt es keine rechtlichen Lehrsätze als solche, deshalb auch nichts Derartiges wie Spezialisten in rechtlichen Lehrsätzen - keine Juristen oder rechtlich ausgebildete Richter. Der revolutionäre Positivismus will und braucht als offenes System keine Juristen; er braucht Revolutionäre. Einige moderne Revolutionäre waren tatsächlich Juristen, Fidel Castro z. B., aber die Juristen als Ganzes haben ihr Auskommen durch das Recht eines bestimmten Regierungssystems. Bei einer Revolution leiden sie am Stigma einer umgestürzten Rechtsordnung. Eine totale Revolution läßt außerdem Juristen unnötig werden - anfangs. Ein Jurist ist in einer Gesellschaft nützlich, weil er die Liste der rechtlichen Lehrsätze kennt. In einem offenen System hat er keine Funktion. Wenn ein revolutionäres Regime sich einrichtet und eine eigene Liste rechtlicher Lehrsätze entwickelt, neigt es dazu, Juristen wieder zu benötigen. Dies geschah natürlich auch in der Sowjetunion3o • Viele Prämissen des sowjetischen Rechts sind tatsächlich alte Prämissen des kontinentaleuropäischen Rechts; einige sind verknöcherte Stückchen marxistischer Doktrin, andere wiederum von der Revolution hinterlassene Vorschriften, die in ein Dogma verwandelt wurden. Was Quelle der Prämissen war, ist nicht entscheidend. Alle rechtlichen Lehrsätze stammen letzten Endes aus der sozialen Welt, genauso wie alle juristischen Wörter ursprünglich Wörter der nichtjuristischen Sprache waren, und jeder Lehrsatz kann ein rechtlicher sein, vorausgesetzt er wird in die Normensammlung vollständig aufgenommen. Das Besondere der rechtlichen Lehrsätze ist ihr Anspruch auf Legitimität und die Fertigkeit, die nötig ist, um sie richtig anzuwenden. Als die sowjetische Regierung ihre Normen kodifizierte, schloß sich ihre Liste langsam. Ein neuer Juristenberuf entstand in der Folge. Die neuen Juristen taten, was die alten früher getan hatten, indem sie viele der alten Methoden anwandten3 !, aber die Prämissen und Lehrsätze waren umgestaltet worden, und selbstverständlich dienten die Juristen neuen Herren. Nur Systeme, die mehr oder weniger geschlossen sind, brauchen einen Berufsstand der Rechtskundigen. Umgekehrt haben professionelle Fachleute ein wirtschaftliches und soziales Interesse an der Erhaltung eines geschlossenen Systems. Wenn gesunder Menschenverstand oder Mutterwitz zu ebenso guten Antworten führt, wie sie die Juristen zu geben vermögen, dann können Leute mit gesundem Menschenverstand oder Harold J. Berman (N. 26). Und natürlich wurden sie auf ganz andere Weise organisiert und bezahlt als die Juristen vor 1918. 30 31

17 Friedrnan

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Mutterwitz genausogut Fälle erörtern und entscheiden. Revolutionäre handhaben revolutionäres Recht sogar besser als die Juristen. Oder wenn keine spezifisch rechtlichen Lehrsätze bestehen, können andere Fachleute - Ärzte, Ingenieure, Volkswirtschaftler, Ballistikexperten, sogar Soziologen - innerhalb ihres Kompetenzbereiches bei Entscheidungen mitwirken. Bei einem geschlossenen System ist es einleuchtend einzuwenden, daß niemand ohne richtige Fachkenntnis, Ausbildung und Beherrschung der Kunst juristische Fragen korrekt handhaben und Rechtsfälle entscheiden könne. In einem System weltlichen Rechts bedeutet dies Juristen und juristisch ausgebildete Richter; in einem System religiösen Rechts bedeutet es Priester, Rabbiner, Imams. Damit der Juristenstand gedeihen kann, darf das System nicht lediglich geschlossen sein, sondern es muß auch als rechtlich und geschlossen definiert sein. Wenn Entscheidungen durch Experten getroffen werden, heißt das, daß die Entscheidungen innerhalb eines geschlossenen Systems fallen, das System braucht aber nicht das Recht zu sein. Es kann die Medizin, die Biologie, das Ingenieurwesen, die Städteplanung oder sonst etwas sein. Der Jurist ist eine dermaßen vertraute moderne Figur, daß man leicht annimmt, er komme überall auf der Welt vor. Das Recht ist vielleicht weltumfassend, nicht aber die Juristen. In Wirklichkeit verfügten nur wenige Gesellschaften in der Weltgeschichte überhaupt über Juristen. Nur komplexe Gesellschaften - urbanisierte Gesellschaften mit schriftlicher überlieferung - kennen berufsmäßige Juristen32 , und sogar in diesen komplexen, urbanen Gesellschaften bearbeiten Juristen und juristisch ausgebildete Richter nur einen schmalen, beschränkten Bereich sozialer Probleme. Sie besitzen nicht das Monopol der Gesetzesauslegung. Spezialisten schaffen die meisten Regeln des modernen Lebens und wenden sie an, aber nicht Rechtsspezialisten. Es genügt, auf das unbändige Wachstum von Behörden, Tribunalen, Ämtern und Ausschüssen hinzuweisen - alle üben innerhalb und außerhalb des Rechts Macht aus und alle sind mehr oder weniger besetzt mit Spezialisten in nichtjuristischen Disziplinen, mit Juristen, die nicht als solche tätig sind, oder mit völligen Laien. Vilhelm Aubert behauptet, daß die Bedeutung der Juristen im 19. Jahrhundert einen gewissen Höhepunkt erreicht habe und in höher entwickelten Ländern nun in eine Phase langsamen Niedergangs getreten sei 33 • In modernen Gesellschaften glaubt man an rationale Entscheidungen - kurz, an ge32 Vgl. Richard D. Societal Complexity, 33 Vilhelm Aubert: Small Industrialized Society, 1969, S. 282.

Schwartz und James C. Miller: Legal Evolution and 70 Am. J. Sociology 159 (1964). Law as a Way of Resolving Confiicts: The Case of a Society, in Laura Nader (Hrsg.): Law in Culture and

Positivismus

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schlosse ne Systeme; die Experten sind jedoch spezifischer ausgebildet und brauchen nicht Rechtsexperten zu sein. Positivismus Nach Judith Shklar ist Positivismus die ethische Haltung, welche sittliches Benehmen für eine Frage der Normenbefolgung hält. Peter Blau spricht von Positivismus als einer Form von Verdrängung der Ziele des Rechts durch die Techniken zu deren Verwirklichung. In ähnlicher Weise findet Philippe Nonet Positivismus dort, wo das Beharren auf Rechtsnormen, Rechtsbräuchen oder rechtlicher Begründung dazu neigt, die Ziele der öffentlichen Ordnung zu vereiteln34 • Im normalen Sprachgebrauch hat dieser Begriff keine praZ1se, objektive Bedeutung. Er wird vielmehr sehr unbestimmt als Ausdruck der Geringschätzung oder Klage verwendet. Im Grundsatz bezieht er sich auf sklavischen, buchstabengetreuen Normenkult. Natürlich befolgt jedermann Normen zu gewissen Zeiten buchstabengetreu. Die zentrale Bedeutung des Begriffs Positivismus weist auf eine bestimmte Art von mißbräuchlicher Normanwendung hin. Die Ansicht darüber ist subjektiv; was dem einen Positivismus ist dem andern Idealismus. Wenn ein Berufungsgericht einen Angeklagten einer formalen Einzelheit wegen auf freien Fuß setzt, so ist dies je nach Standpunkt Positivismus oder strikte Gerechtigkeit. Positivismus ist also eine Sache der Bewertung; was man jedoch als positivistisch bezeichnet, ist weder zufällig noch unwichtig. Es werden anscheinend zwei verschiedene Verhaltensarten als positivistisch bezeichnet. Die erste ist eine übertriebene Beachtung der buchstäblichen Bedeutung eines Wortes ohne Berücksichtigung des Kontexts - wenn etwa ein Gericht bei der Auslegung eines Textes sich weigert, über die Wörterbuchbedeutungen hinauszugehen und die zugrundeliegende Politik, den Zweck sowie den Kontext zu beachten. Smith v. Hiatt, ein Fall aus Massachusetts aus dem Jahre 1952 35 , ist ein Beispiel dafür. Ein Gesetz in Massachusetts verlangte von einem Unfallopfer, welches eine Stadt für seine Verletzungen einklagen wollte, die durch Schnee oder Eis verursacht worden waren, die sofortige Anzeige der Verletzung, andernfalls es das Klagerecht verlor. Ein anderer Artikel des Gesetzes auferlegte dieselbe Pflicht denjenigen, welche private Grundstückseigentümer aus dem gleichen Grund einklagen wollten. Die Familie Hiatt stellte die Kinderschwester Smith an, um 34 Judith Shklar: Legalism, 1964, S. 1; Peter Blau: The Dynamics of Bureaucracy, 1963, S. 239; Philippe Nonet: Administrative Justice, 1969, S. 265.

35

17'

329 Mass. 488 (1952).

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ihr neugeborenes Baby zu betreuen. Mrs. Hiatt taute ihren Kühlschrank auf, wobei etwas Eis auf den Fußboden fiel. Die Kinderschwester ging in die Küche, rutschte auf dem Eis aus und verletzte sich. Der Unfall geschah im Juli in Mrs. Hiatts unmittelbarer Anwesenheit. Die Kinderschwester und ihr Anwalt unterließen die im Gesetz verlangte spezielle Anzeige. Auf ihre Klage antworteten die Hiatts, der Unfall sei durch Eis verursacht worden und die Kinderschwester Smith habe ihre Rechte verwirkt. Erstaunlicherweise stimmten die Gerichte von Massachusetts zu. Eis bleibt Eis. Eine andere Art von Positivismus könnte etwa als Positivismus zum Zwecke der Normumgehung bezeichnet werden. Das ist gewissermaßen das Gegenteil des Falles Smith v. Hiatt. Die Entscheidungsinstanz verzerrt die Bedeutung gebräuchlicher Wörter, um ein von ihr gewünschtes Resultat zu erhalten oder ein schmerzliches Ergebnis zu verhindern, auf das der Wortlaut klar hinzuweisen scheint. Die Verdrehung von Wortbedeutungen tritt in common-Iaw-Fällen häufig dort auf, wo sich die Richter an älteres Recht gebunden fühlen, jedoch die sich daraus ergebenden Resultate nicht gerne sehen. Sie verdrängen dann das ältere Recht durch überspitzte Unterscheidungen, durch den Umgehungspositivismus. In beiden Fällen heißt Positivismus rechtliches Begründen, das gegen die allgemeine Auffassung der Logik verstößt. Anders ausgedrückt erfüllt der Positivismus die Anforderungen nicht, die an Begründungen im außerrechtlichen Bereich gestellt werden. Der Begriff und die entsprechenden Erscheinungen treten deshalb praktisch nur in Systemen oder Subsystemen mit geschlossenen oder teilweise geschlossenen rechtlichen Prämissen auf. Folglich ist der Positivismus untrennbar mit Berufsanwälten und -richtern verbunden. In einer Gesellschaft mit offenen Prämissen dagegen wird in übereinstimmung mit dem gesunden Menschenverstand begründet, d. h. gemäß herkömmlicher, alltäglicher Denkweise und der Alltagssprache. Aus bereits genannten Gründen sind Systeme religiösen Rechts positivistisch. Hier spielen die Religionsführer dieselbe Rolle wie die Juristen in geschlossenen weltlichen Systemen. Die Responsa der Rabbiner auf Fragen des Religionsrechts erscheinen aus unserer Sicht in hohem Maße positivistisch. Die betroffene Gemeinschaft dachte darüber jedoch anders. Die Juden akzeptierten die Argumente der Rabbiner - nicht als Positivismus, sondern als Wahrheit -, weil sie glaubten, die Rabbiner seien Weise, die den Schleier des Rechts und des göttlichen Gebots zu durchschauen vermöchten. Es ist demnach klar, welche Rechtssysteme positivistisches Begründen begünstigen. Welche Situationen innerhalb solcher Systeme bilden jedoch die Ursache dafür? Rechtsnormen geben nicht auf alle möglichen

Positivismus

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Fragen klare Antworten. Diese Schwierigkeit tritt insbesondere in einem geschlossenen System auf, bei welchem der alte Normenbestand den neuen praktischen Problemen nicht gerecht wird. Und doch müssen Probleme gelöst werden, und zwar durch das Recht selbst, nicht durch das Aufwerfen einer Münze oder durch Anrufung außenstehender Grundsätze. Dieses Problem stellt sich auch im common law. Daher tauchte der Positivismus in den Begründungen vieler Fälle auf, sogar in Präzedenzfällen. Wann wird z. B. ein Vertrag verbindlich, den zwei Parteien auf dem Postweg schließen - wenn die eine die Annahmeerklärung in den Briefkasten wirft oder wenn die andere sie erhält? Oder angenommen, in einer letztwilligen Verfügung werde dasselbe Stück Land in verschiedenen Klauseln irrtümlich zwei verschiedenen Personen vermacht; geht dann die erste Klausel der zweiten vor oder umgekehrt, falls keine anderen Anhaltspunkte vorliegen? Als diese Fragen erstmals auftauchten, gab es dafür keine klare Antwort. Weder eine Norm noch ein Fall oder die Doktrin schrieben ein klares Ergebnis vor oder wiesen auch nur logisch auf ein solches hin; überdies bestand keine offensichtliche Politik in diesen Fragen. In gewissen Fällen gibt es zwar gute Gründe für eine Entscheidung, diese sind jedoch nicht genügend rechtlich, um offen angeführt zu werden. In anderen Fällen mag es überhaupt keine Gründe geben, doch muß die Sache durch eine klare Regel entschieden werden, wobei es nicht darauf ankommt, wie diese Regel lautet. Dieses Problem würde sich etwa bei der Frage stellen, ob auf der rechten oder linken Straßenseite gefahren werden muß, sofern noch keine Norm oder Gewohnheit besteht. Wenn ein Richter diese Frage ausschließlich auf Grund der Prinzipien des common law - oder noch schlimmer, des Koran - zu entscheiden und zu begründen hätte, würde sein Entscheid kaum anders als positivistisch ausfallen. Die Legislative könnte durch Machtspruch entscheiden; eine Privatperson würde in einem ähnlichen Zwiespalt eine Münze aufwerfen. Tatsächlich sind bei solchen Fragen positivistische Entscheide so zufällig wie der Entscheid durch die Münze. Das Ergebnis hängt von Unvorhersehbarem ab: etwa von der Intelligenz des einzelnen Richters, von seinen Neigungen und seiner Phantasie. Diese Zufälligkeit ist dann unerheblich, wenn das Ergebnis sich als sozial befriedigend herausstellt oder wenn die zu entscheidende Frage zwar geregelt werden muß, jedoch alle Lösungen gleich gut sind. In solchen Situationen ist die zufällige Wahl vollkommen zweckdienlich. Die Entscheidung bleibt bestehen und erwächst zum Präjudiz.

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Rechtsfiktionen Eine bekannte Erscheinungsform des Positivismus zum Zwecke der Normumgehung ist die Rechtsfiktion36 • In einem Lehrsatz eines Richters oder einer anderen Rechtsinstanz wird dabei etwas zur Tatsache erklärt, das keineswegs eine Tatsache ist - was auch jedermann weiß. Es handelt sich, kurz gesagt, um ein rechtliches So-Tun-als-ob. Im mittelalterlichen common law wurde häufig von Fiktionen Gebrauch gemacht. Common-Iaw-Gerichte verwendeten im späten Mittelalter beispielsweise eine Rechtsfiktion, um die Rechtsprechung über Verträge für sich zu beanspruchen, welche in übersee vollzogen wurden. Die Prozeßparteien brachten in ihren Plädoyers vor, der Vertrag (welcher in Wirklichkeit in Frankreich oder den Niederlanden geschlossen worden war) sei in England zustande gekommen: "to wit, in the parish of St. Mary le Bow in the Ward of Cheap" ("und zwar in der Pfarrei St. Mary le Bow im Bezirk Cheap"). Die Gerichte behandelten diese Behauptung als unwiderlegbar, d. h. sie lehnten es ab, den Beklagten bestreiten zu lassen, daß Paris in diesem Bezirk der Stadt London liege37 • Rechtsfiktionen erscheinen uns merkwürdig und etwas erzwungen. Die Literatur über Rechtsfiktionen neigt stark zu deren Mißbilligung. Bentham definierte eine Fiktion als bewußte Unwahrheit mit dem Ziel, gesetzgeberische Macht zu stehlen 38 , und noch schonungsloser als eine Warze, die das Gesicht des Rechts verunstaltet, eine Syphilis, die in jede Ader dringt39 • Sir Henry Maine betrachtete die Fiktionen eingehender und von einem gemäßigteren Standpunkt aus. Jedes Rechtssystem, so glaubte er, benötige eine Einrichtung zur Erhaltung seiner Anpassungsfähigkeit, um das Recht in Einklang mit den herrschenden sozialen Bedürfnissen zu bringen. Soziale Notwendigkeiten und soziale Ansichten, so schrieb er, liefen dem Recht immer mehr oder weniger voraus. Er nannte drei Mittel zur Harmonisierung: Fiktionen, Billigkeitsrecht (equity) und Gesetzgebung. Für ihn war die Fiktion eine Annahme, welche verbirgt oder zu verbergen sucht, daß eine Rechtsnorm einer Veränderung unterzogen worden ist, wobei ihr Wortlaut zwar unverändert bleibt, ihre Handhabung sich jedoch ändert. Er war dp.r Ansicht, die Rechtsfiktion sei das früheste und primitivste der drei Mittel - primitiv, weil Fiktionen einem abergläubischen Widerwillen gegen Veränderungen entstammten. Reifere Rechtssysteme bedienten Dazu allgemein Lon L. Fuller: Legal Fictions, 1967. William S. Holdsworth: History of English Law, 1924, Bd. V, S. 140. 38 C. K. Ogden: Bentham's Theory of Fictions, 1951, S. XVIII. 39 Zitiert in Oliver R. Mitchell: The Fictions of the Law: Have They Proved Useful or Detrimental to its Growth?, 7 Harv. L. Rev. 249, 250 (1893). 36 37

Rechtsfiktionen

263

sich des Billigkeitsrechts und der Gesetzgebung, um das Recht mit der Gesellschaft in Einklang zu bringen4o • Ethnographische Erhebungen aber, welche Maine noch nicht kannte, zeigen, daß Fiktionen im Gewohnheitsrecht zwar auftreten, jedoch viel seltener sind als z. B. im mittelalterlichen englischen Recht. Sie sind ferner auch in revolutionären Rechtssystemen nicht nachzuweisen. Fiktionen sind eine Form von rechtlicher Begründung im engen Sinne und treten deshalb in Systemen oder Subsystemen auf, welche Neuerungen ablehnen oder begrenzen. Es kann sich um auf Überlieferung beruhende Systeme handeln, jedoch vor allem um geschlossene Rechtssysteme, wo das Bedürfnis, Änderungen hinauszuzögern, vorzugeben und zu verbergen, besonders groß ist. Fiktionen gehören deshalb nicht zu einem bestimmten Stand der Rechtsentwicklung, sondern können immer dort auftreten, wo gewisse spezifische, konkrete Bedingungen zusammentreffen - sei dies in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Welche Funktion kommt der Rechtsfiktion zu? Sie beeinflußt zweifellos die Machtverteilung innerhalb eines Rechtssystems. Viele commonlaw-Fiktionen betrafen die Gerichtsbarkeit. Gerichte verwendeten Rechtsfiktionen oder reagierten auf solche im Bestreben, ihre eigene Gerichtsbarkeit zu erweitern oder einzuschränken. In England nahm sich der Court of Exchequer ursprünglich der Fälle an, die Schulden gegenüber der Krone betrafen. Später dehnte dieses Gericht seine Rechtsprechung auf Streitfälle zwischen gewöhnlichen Parteien aus. Der Kläger behauptete, er schulde dem König Geld und sei weniger gut in der Lage, dieses zu bezahlen, weil der Beklagte ihm, dem Kläger, eine Schuld nicht begleiche. Die Schuld gegenüber dem König war reine Fiktion, doch der Court of Exchequer machte davon bereits im 14. Jahrhundert Gebrauch und übernahm damit die Gerichtsbarkeit über gewöhnliche Schuldrechtsfälle41 • Machtausdehnung stellt oft eine Herausforderung an diejenigen Autoritäten dar, welche sich auf der Verliererseite befinden. Diese können sich der Usurpation fügen oder sich ihr widersetzen. Die Institution, welche eine Fiktion verwendet, will ihre Macht erweitern, glaubt, daß eine normale rechtliche Begründung dazu nicht ausreicht und vermutet, daß die Verwendung einer Fiktion zum Erfolg führt. Die Fiktion wird so formuliert, daß es den Anschein macht, das Gericht beschreite nur alte und legitime Wege. Die Fiktion paßt in dieser Weise Ungewohntes an Gewohntes, Neues an Altes an. Das Verbergen der Veränderung sorgt für einen sanften Übergang. Die meisten Veränderungen dieser Art sind zwar nur klein, ihre kumulative Wirkung kann jedoch erheblich sein. 40 fl

Sir Henry Maine: Ancient Law, 1861, S. 24, 26. William S. Holdsworth (N. 37), 1922, Bd. I, S. 240.

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Die britische Regierung übt ihre Tätigkeit im Namen der Königin aus, als ob diese über große Macht verfügte. In Wirklichkeit hat die Krone keine Macht; sie verlor sie in einer langen Reihe kleiner Veränderungen. Die äußeren Formen haben artig überlebt. In einer Gesellschaft tendiert die Ideologie, einschließlich der rechtlichen Legitimitätstheorien, auf lange Sicht wahrscheinlich dahin, die herrschende Sozialstruktur, d. h. die reale Machtverteilung zu verteidigen und zu stützen. Rechtsfiktionen bilden eine Brücke zwischen Ideologie und Wirklichkeit, wenn eine Institution geltend macht, daß weniger oder mehr Veränderungen stattgefunden hätten, als dies in Wirklichkeit der Fall ist42 • Falls plötzliche Änderungen gewollt auftreten, sind Fiktionen nicht erforderlich. Revolutionäre Ideologien können sich gegenüber alten Fiktionen und Formen ziemlich gleichgültig verhalten. Die Sowjets sahen keine Notwendigkeit, den Zaren als Gallionsfigur zu behalten oder den Putz des alten Rechtssystems zu bewahren. Ganz im Gegenteil; sie waren bestrebt, die totale Revolution zu verkünden. Dies war die erste, radikalste Phase. Später ließen sie zu oder förderten es, daß im Recht ein neues System von Fiktionen entstand; daß die Arbeiter und Bauern Rußland regieren, ist ebenso ein Märchen wie die Behauptung, Königin Elisabeth die Zweite regiere die Engländer. Historisch betrachtet betreffen viele, aber längst nicht alle Fiktionen die Gerichtsbarkeit. Ein gutes Beispiel einer materiellen Fiktion ist die aus dem Fall Jee v.Audley43 abgeleitete Norm. Sie gehört zum Rechtsgebiet, welches endlos fortdauernde Verfügungen beschränkt, d. h. den Zeitpunkt festsetzt, in welchem alle Rechte endgültig an bestimmte Begünstigte übergehen müssen. In diesem Fall bejahte das Gericht als Rechtstatsache, daß eine Frau jeden Alters Kinder gebären könne 44, obwohl dies biologisch betrachtet Unsinn ist. Trotz ihrer lächerlichen Form konnte die Norm in ihrem Ergebnis als vernünftig betrachtet werden und hätte nicht als Fiktion formuliert werden müssen45 • Eine materielle Fiktion ist mit anderen Worten eine Rechtsnorm, welch,e im Stil einer Fiktion ausgedrückt w,ird. Fiktionen dieser Art geraten schnell außer Gebrauch. Sie können nur überleben, solange man sich mit ihrem Stil abfindet; dies ist nicht mehr der Fall. Doch auch wenn die Fiktion verschwindet, mag die in ihr ausgedrückte Norm in vernünftiger Fassung weiterleben. Lon L. Fuller (N. 36), S. 58 - 70. Jee v. Audley, 1 Cox Eq. Cas. 324 (1787). 44 Vgl. 1 Blackstone's Commentaries, 457. 45 Sie hätte beispielsweise als Norm über die Auslegung von letztwilligen Verfügungen und Übertragungsurkunden sowie über die Folgen einer bestimmten Art von Unklarheit formuliert werden können. 42

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Begründung mittels Analogie und stufenweise Fortentwicklung (incrementalism) Begründung mittels Analogie46 ist ein Merkmal v,i eler common-lawFälle. Jeder Band der Entscheidungssammlung enthält unzählige Beispiele, was keineswegs überrascht. Die Analogie ist ein ehrenhaftes, typisches und dem gesunden Menschenverstand entsprechendes Begründungsinstrument; viele Rechtssysteme weisen der Analogie formal einen Platz in der Jurisprudenz ZU47 . Im common lawerhält die Analogie im wesentlichen wenig formelle Anerkennung; es fehlt sogar eine offizielle Bezeichnung dafür. Dennoch ist die Analogie der eigentliche Kern oder Ursprung der Entwicklung des common law. Normen ändern sich langsam, indem Gerichte sie unter Verwendung von Analogien ausdehnen oder einschränken. Ein common-law-Richter vergleicht die ihm vorgelegten Fälle mit den Umständen vergangener Fälle, die unter einen ähnlichen Grundsatz oder eine ähnliche Norm fallen. Oft genug stimmen der Musterfall und der anstehende Fall nicht genau überein. Oft genug auch stehen Musterfälle bzw. Normen in Konkurrenz. Die Gerichte müssen dann entscheiden, welche Analogie näher liegt. Auch diejenigen, welche neue Normen schaffen, können Analogien dazu verwenden, die Normen zu rechtfertigen, zu erläutern oder ihre Beziehungen zu andern Grundsätzen und Normen darzustellen. Diese Vergleiche treten nicht als formelle Begründungen auf, wenn die Situation es nicht erfordert. Kongreßmitglieder argumentieren mit Analogien wie jedermann, ihre Argumente erscheinen jedoch nicht in den Gesetzestexten. Wenn Gel'ichte Normen durch Verwendung von Analogien ändern, so sind die Veränderungen in der Regel klein, weil sonst die Analogien nicht passen würden. Begründungen mittels Analogien bewirken deshalb eine stufenweise Fortentwicklung. Ein Richter, der aufrichtig daran glaubt, daß er keine gesetzgeberische Macht habe, und der versucht, sich so nahe wie nur möglich an bekannte Regeln und Grundsätze zu halten, wird sich mittels Analogien nur in kleinen Schritten voran bewegen, wenn überhaupt. Das heutige Verhalten der amerikanischen Gerichte weicht zur Hauptsache nicht sehr von ihrem Verhalten im späten 19. Jahrhundert ab, als die stare-decisis-Idee und der Grundsatz der Selbstverleugnung noch stärker waren. Damals wie heute betreiben die Gerichte eine nur stufenweise Fortentwick:lung, meist mittels Analo46

Vgl. dazu allgemein Edward H. Levi: An Introduction to Legal Reasoning,

1949.

47 So der Islam; Joseph Schacht: The Origins of Muhammadan Jurisprudence, 1953, S. 98 f.; zum jüdischen Recht vgl. H. L. Strack: Introduction to the Talmud and Midrash, 1959.

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gien. Damals wie heute sind kühne Sprünge nach vorn selten. Einst verbargen Fiktionen einige der kühneren Sprünge, während die heute vorkommenden offenkundiger sind. Kurz, die Gerichte schreiten in der Regel vorsichtig, in kleinen Schritten voran. Sie machen sich gemäßigte, auf kurze Dauer angelegte Lösungen zu eigen und ändern in ihrer üblichen Tätigkeit die herrschenden Zustände nur wenig 48 • Ihre Vorsicht ist außerdem eine sich aus dem politischen Gefüge, in welchem sie arbeiten, ergebende Notwendigkeit. Kühne Schritte sind gefährlich für das Gericht. Wenn es zu schnell voranschreitet, wird es zwar für manche zum Helden, riskiert jedoch auch Entrüstung, Kontroversen und Legitimitätsverlust - so meinen mindestens die Richter. Gefahr droht auch von konkurrierenden Institutionen oder von organisierten Gruppen, deren Interessen durch die Entscheidungen des Gerichts Schaden leiden und die gegen das Gericht aufgebracht werden. Stufenweise Fortentwicklung ist also nicht nur eine Strategie oder (wie gewisse Rechtsdenker glauben) eine Tugend; die Struktur der Gerichte und ihre Stellung in der Gesellschaft führen zu dieser Technik. Begründungen mittels Analogien stellen, wie ausgeführt wurde, eine stufenweise Fortentwicklung dar. Die vorherrschende Geisteshaltung der Richter begünstigt die Zurückhaltung der Gerichte, die Fortentwicklung in kleinen Schritten und die Begründungen mittels Analogien. Das Benehmen erscheint beinahe so vorsichtig wie die Geisteshaltung. Theorien kommen und gehen; die wirkliche Rolle der Gerichte innerhalb des Rechtssystems ändert sich ganz langsam. Es war immer eine beschränkte Rolle 49 • Manchmal übten Gerichte zwar starken Druck auf ein oder ein paar Gebiete aus. Die Hauptströmungen waren jedoch vorsichtig. Eine auffällige Ausnahme stellt der Supreme Court der Vereinigten Staaten dar. In den meisten Ländern, wenn nicht in allen, können die Gerichte keine wesentlichen Lenkungsfunktionen im ökonomischen und politischen Leben ausüben und wünschen dies auch nicht. Ihre Rolle verlangt charakteristischerweise von ihnen, daß sie Bestehendes umarbeiten, nicht Initiativen ergreifen; was sie tun, tun sie als Antwort auf den Druck von Prozeßparteien. Die Verwendung von Analogien ist 48 Vgl. dazu Martin Shapiro: Stability and Change in Judicial DecisionMaking: Incrementalism or Stare Decisis?, 2 Law in Transition Q. 134 (1964). 49 Es wird oft gesagt, das common law sei im Grunde durch Richter geschaffen worden und sie seien es, welche die grundlegenden Rechtsregeln entwickelten. Dies hängt davon ab, was man als grundlegend ansieht. Die Gerichte erfanden niemals die Struktur des Rechtssystems oder seine wesentlichenVerfahren. Zuzeiten arbeiteten Gerichte viele der Prinzipien des Privatrechts aus; ob dies grundlegend war oder nicht, ist Ansichtssache. Jedenfalls waren es in der Regel andere, welche die Tätigkeit der Gerichte festlegten, welche die Grenzlinien absteckten. Die durch Zuständigkeits-Fiktionen gemachten Fortschritte blieben Ausnahme.

Auslegungsregeln

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also mehr oder weniger eine funktionelle Notwendigkeit für moderne Gerichte. Die Aussage, Gerichte seien aus Tradition vorsichtig, bedeutet etwa dasselbe. Tradition meint dabei einfach stark empfundene Grenzen der Gerichtsbarkeit, die sich nicht leicht in einem formellen Dokument finden lassen. Eine Begründungsmethode hat dann die beste Überlebenschance, wenn die maßgebenden Leute sie für nützlich und legitim halten. Die Analogie ist natürlich beides und zudem überzeugend und wirksam. Sie bringt Unbekanntes in Beziehung zu Bekanntem, neue Dinge zu alten. Sie ist bequem anzuwenden, da sie innerhalb der Legitimitäts-Sicherheitszone bleibt. Gleichzeitig führt sie zu einer kolossalen Zeitersparnis, weil sie Präzedenzfälle als Basis, als Ausgangspunkt verwendet. Das Festhalten am Vergangenen ist einfacher, effizienter als ein Neubeginn. Stereotype Logik, Grundregeln, Abkürzungen und Analogien sind in jedem Entscheidungssystem wertvoll. Stare decisis ist eine Form von stereotyper Logik; sie stützt die Legitimität des Gerichts, da sie eher seinen Respekt vor der Vergangenheit zeigt als etwa Machtgelüste. Indem ein Gericht ein Gesetz auslegt, rechtfertigt es seine Begründung sozusagen in vertikaler Richtung, da es seine Tätigkeit nach oben mit dem betreffenden Gesetz verbindet. Eine Entscheidung, die auf einem Präzedenzfall basiert, rechtfertigt sich in horizontaler Richtung, indem sie sich auf eine bereits gerechtfertigte Entscheidung bezieht und damit letztlich entweder auf ein Gesetz, oder, falls nötig, auf Gewohnheit, den Volkswillen, natürliche Gerechtigkeit oder einen Maßstab, dessen Richtigkeit nicht in Frage steht. Der Präzedenzfall ist für die Richter und die Gesellschaft derart wertvoll, daß das Prinzip des stare decisis, obwohl es der Strenge und der Magie beraubt worden ist, dennoch als Gewohnheit und Notwendigkeit überlebt 50 • Auslegungsregeln

Viele Rechtssysteme besitzen Regeln der Logik und Auslegung - zur Handhabung der Prämissen rechtlicher Begründung - sowie Verfahrensregeln und materielle Rechtsregeln. Auslegungsregeln können, wie materielle Prämissen, offen oder geschlossen sein. Ein geschlossenes Auslegungssystem besitzt spezielle Regeln für rechtliche Begründungen, welche außerhalb des Rechts ungebräuchlich sind. Offene Systeme lassen jede Form von Begründung, jede Strömung der Logik in der Gemeinschaft zu, ob sie speziell rechtlich sei oder nicht. Geschlossene Begründungsregeln treten nur in geschlossenen Systemen auf, doch auch dort unterscheiden sich die Regeln der Rechtslogik nie vollständig 50

Shapiro (N. 48).

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von den gewöhnlichen Folgerungsregeln. Alle Rechtssysteme, ob offen oder geschlossen, machen Gebrauch von der gewohnten Logik. Dennoch sind oft spezielle Regeln rechtlicher Logik in verschiedenartigen Erscheinungen und Formen aufgetreten. Der Talmud enthält viele Regeln, wie aus den heiligen Texten ein Sinn abzuleiten ist. In einer ersten Periode führten die Weisen sieben Regeln an, später dreizehn und schließlich zweiunddreißig. Einige davon entsprachen der einfachen Vernunft oder der Volksweisheit - die Analogie z. B. Andere waren eher mystischer Art und stellten mehr oder weniger Wünschelruten zum Aufstöbern von Textgeheimnissen dar. Gematria z. B. war eines dieser Werkzeuge, welches von der Tatsache ausging, daß die hebräischen Buchstaben auch als Zahlen dienen. Jedes hebräische Wort hat demnach einen Zahlenwert. Mittels Gematria schlossen die Weisen vom Zahlenwert biblischer Wörter auf deren BedeutungSI. In rationaleren Rechtssystemen, alten oder neuen, kann nichts so Dramatisches gefunden werden, wie es die Regeln des Talmud darstellen, spezielle Regeln der Logik sind jedoch nicht ungewöhnlich. In gewisser Weise ist in der bloßen Tatsache, daß ein System geschlossen ist, eine spezielle Logik mitenthalten. Ein geschlossenes System zieht um die Folgerungselemente in einer Art und Weise eine Schlinge, die gewöhnliche Leute befremdet. Häufig finden sich Regeln darüber, wie zu entscheiden sei, wenn Normen untereinander in Konflikt stehen. Diese Regeln setzen Prämissen der Rangordnung - hoch, mittel und tief. Sie können den Einfluß verschiedener Autoritäten festlegen. Das Zitiergesetz im römischen Kaiserreich (426 v. ehr.) zählte fünf Juristen als grundlegende rechtliche Autoritäten auf - Papinian, Paulus, Ulpian, Modestin und Gaius s2 • Die Doktrin des Präzedenzfalls, stare decisis, ist selbst eine Regel dieser Art. Die Doktrin des Supremats des Gesetzgebers ist eine andere. Es kann sich aber auch um Normen handeln, die Konflikte zwischen anderen Normen lösen. Um die Frage der Gesetzesaus1egung herum ist ein ganzer Rechtsbereich entstanden. Die Normen umfassen die sog. Auslegungsregeln z. B. die Regel eiusdem generis. Einige dieser Regeln waren von außerordentlicher rechtshistorischer Bedeutung. Eine solche ist der Grundsatz, daß Strafrechtsgesetze genau, d. h. eng auszulegen sind. In den Ländern des kontinentaleuropäischen Rechtssystems schenken die Juristen wegen der bevorzugten Stellung der Gesetzeswerke den Auslegungsregeln besondere Beachtung53 • 51

Hermann L. Strack: Introduction to the Talmud and Midrash, 1959, S.

93 - 98.

52 H. F. Jolowicz: Historical Introduction to the Study of Roman Law, 1954, S. 472.

Auslegungsregeln

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Woher kommen die besonderen Regeln der rechtlichen Logik und was ist ihr Zweck? Da diese Regeln eine spezielle Logik auferlegen, gehen sie vor allem davon aus, daß der Laienverstand und der Rechtsverstand verschieden arbeiten. Dies ist von gewissem Wert für das Prestige der Juristen in weltlich regierten Ländern und der Deuter des religiösen Rechts in theokratischen Ländern. Ferner können die Regeln beim Lösen der Schwierigkeit der geschlossenen Systeme hilfreich sein, indem sie den kleinen Grundstock von Prämissen erweitern. Die Weisen des Talmud beispielsweise mußten viele Streitfragen aus dem Leben, der Religion und der Ethik ausschließlich mit einem kleinen Grundstock von Prämissen lösen. Wie die Betonung bei chinesischen Wörtern die Anzahl der Silben vervierfacht, so vergrößerten die Begründungsregeln des Talmud den Spielraum und die Anzahl der Folgerungen, welche die Weisen aus den heiligen Texten ziehen konnten. In den USA würde das Lesen der Verfassung mit gesundem Menschenverstand nicht sehr weit führen. Spezielle Regeln, Techniken, Annahmen und Analogien erlaubten den Gerichten, durch die Jahre hindurch, Fall für Fall, ein riesiges Rechtsgebäude aufzubauen, obschon der zugrundeliegende Text immer derselbe bleibt. Drittens dienen die Begründungsregeln als Waffen im Kampf der Institutionen. Die Rechtsprechung im weiten Sinne ist dynamisch. Aktive, ehrgeizige Behörden testen die Grenzen benachbarter Behörden und suchen nach weichen Stellen, Schwächen, durch welche ihre Macht sickern kann. In den common-Iaw-Ländern v,erwendeten die Gerichte Regeln der Gesetzesauslegung, um Machtansprüche über gesetzgebende Körperschaften geltend zu machen. Einige dieser Regeln waren nachgiebig, andere angriffig, wie etwa der Grundsatz, welcher eine enge Auslegung im Strafrecht verkündet. Der Gesetzgeber mußte lernen, die Gesetze so abzufassen, daß die Macht der Gerichte niedergehalten wurde. Es ist natürlich nicht möglich, ein Gesetz so zu entwerfen, daß es auf jede relevante Situation anwendbar ist. Wörter haben keine feststehenden Bedeutungen; unvorhergesehene Situationen tauchen auf. In Wirklichkeit erfolgt die Konzipierung oft sorglos und ungenau. Es schleichen sich trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Fehler ein. Rechtstheoretiker neigen speziell im common law dazu, die Unsicherheit zu übertreiben. Bei vielen Gesetzen gibt es einen klaren Sinn, und das Ziel des Gesetzes ist ebenfalls ziemlich klar erkennbar. Irgend jemand kann sich. immer einen Zweifelsfall ausdenken, was nichts daran ändert, daß im praktischen Leben der Anwendungsbereich des Gesetzes zweifelsfrei feststeht. Ein Gericht kann aufrichtig mit gesundem Menschenverstand nach der 53 Vgl. etwa Karl Engisch: Einführung in das Juristische Denken, 4. Aufl., 1956.

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klaren Bedeutung suchen. Dies zu tun bedeutet, sich dem Gesetzgeber zu unterwerfen - nicht seinem Willen, aber seiner Macht. Die Gerichte in der Welt des common law waren gewöhnlich nicht willens, sich zu unterwerfen. Sie verwendeten Auslegungsregeln, um eine Art Vorrang zu beanspruchen. Die Auslegungsregeln waren nicht empirische, wörterbuchgemäße Regeln, nicht Regeln darüber, wie die Leute ihre Wörter meist gebrauchen. Es Wlaren vielmehr Regeln, die oft den Sinn verdrehten. Daß Strafgesetz·e eng auszulegen sind, beruht nicht auf einer Beobachtung darüber, wie die Leute ihre Wörter verwenden, sondern ist eine politische Norm sowie eine Norm, die das Machtverhältnis zwischen Institutionen betrifft. Spezielle Regeln der Logik haben aber noch einen anderen Zweck. Die Vorstellung eines objektiven, unparteiischen Rechtsgebäudes ist für die Richter vorteilhaft. Sie können das Recht für unpopuläre und schwierige Entscheidungen verantwortlich machen anstelle ihrer eigenen Willensakte. Niemand wird einem Arzt die Schuld für die Krankheit seines Patienten geben. Wissenschaftliche Regeln der Rechtslogik bringen denselben Nutzen wie ein wissenschaftliches Konzept im materiellen Recht. Zudem haben geschlossene Regeln der Logik, wie geschlossene Prämissen im allgemeinen, eine gewisse Durchschlagskraft. Sie erleichtern die Aufgabe des Richters, und das Recht wird vorhersehbarer - mindestens theoretisch. Das common law war im ganzen gesehen bezüglich der Prämissen und der Auslegungsregeln eher geschlossen als offen. Ein common-IawRichter fühlte sich nicht berechtigt, kühne Veränderungen vorzunehmen, wenn er einen gewöhnlichen Fall entschied. In einem Gesetzesrechtsfall stellt der Wortlaut des Gesetzes die Prämisse zur rechtlichen Begründung dar. Dieser Wortlaut ist fest. Der Richter kann innerhalb weiter, aber definierter Grenzen auslegen. Er kann innerhalb der Legitimität nicht allzu weit gehen oder sich nicht allzu kühn verhalten, mindestens nicht zu oft. Der durchschnittliche Beamte hat eine noch eingeengtere Rolle. Erlasse, Vorschriften, Regelbücher binden ihn strikt54 • Dies ist nicht nur normal, sondern geradezu unabdingbar in einer modernen Regierung. Eine komplizierte Gesellschaft kann nicht jedermann das freie Recht gewähren, Normen aufzustellen. Sie muß diese lebenswichtige, jedoch mächtige Waffe unter Kontrolle halten. Etwas anderes grenzt an Anarchie. Zwischen harten, neuen und sozial wichtigen Fällen einerseits (welche die Gerichte zu Änderungen drängen) und den festen Grenzen ande54 Wenn er aus der Reihe tritt, werden ihn seine Vorgesetzten wieder dahin zurückstellen und ihn vielleicht bestrafen. Dies bekräftigt seine Ängstlichkeit ebenso sehr wie irgendein Rollen-Verständnis.

Sprache und Stil

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rerseits, welche die Gesellschaft der legitimen Rechtsprechung auferlegt, besteht eine Spannung. Formelle Rechtsprechung ist statisch. Sie bewegt sich unbeholfen und ruckweise voran. Autorität, wirkliches Regieren ist dynamisch. Sein Lauf ist glatt und reagiert auf die Veränderung von Forderungen und auf die realen Zustände. Wie wird dieser Widerspruch gelöst? Ein Weg dazu ist, wie wir gesehen haben, die Verwendung von Kunstgriffen bei rechtlichen Begründungen, nämlich Analogie, Rechtsfiktionen, Positivismus. Die Ansichten über die Legitimität in der Gesellschaft und allgemein die Rechtskultur bestimmen, wann und wie die verschiedenen Techniken verwendet werden können. Der Court of Exchequer hätte nicht offen seine Gerichtsbarkeit erweitern können, doch tat er dies unter dem Deckmantel einer Fiktion. Die Fiktion war durchsichtig, und es ist anzunehmen, daß die andern Machtträger in gewisser Hinsicht ins Ergebnis einwilligten.

Sprache und Stil Die Rechtskultur - insbesondere die Legitimitätstheorien - beeinflußt die Sprache und den Stil des Rechts ebenso wie die Formen rechtlicher Begründung. Außerhalb eines geschlossenen Systems kann ein spezieller rechtlicher Stil kaum bestehen. In einer interessanten Studie verglich J. Gillis Wetter die Stile von Berufungsgerichten in Schweden, Deutschland, zwei amerikanischen Gliedstaaten (Arkansas und Kalifornien), England, Kanada und Frankreich 55 • Die Unterschiede waren eindrucksvoll. Der französische Cour de Cassation z. B. gebrauchte eine knappe, technische und unpersönliche Ausdrucksweise. Die Urteilsbegründungen waren außerordentlich sparsam. Es gab keine Feststellungen zum Tatbestand. Im wesentlichen enthielt die Begründung wenig mehr als den Hinweis auf die genauen Zusammenhänge zwischen den Gesetzesartikeln und den Ergebnissen der Fälle. Die Urteile seien konzentriert und beinahe schroff in ihrer strengen Kürze. Sie sprächen Recht für Rechtskundige - in keiner Weise richteten sie sich an Laien oder die Parteien. Dies ist, so glaubt Wetter, kennzeichnend für eine bürokratisch organisierte Gerichtsbehörde oder für Rechtskundige, die in einer strengen, quasi-wissenschaftlichen Rechtsatmosphäre ausgebildet worden sind56 • Der Stil paßt folglich zu den anscheinend vorherrschenden Theorien rechtlicher Legitimität in Frankreich. Dort stehen die Gesetzbücher zuoberst, und die Richter sind streng untergeordnet, bürokratisch und anonym. Richter tre55 J. Gillis Wetter: The Styles of Appellate Judicial Opinions, a Case Study in Comparative Law, 1960. 56 Ders., S. 30 f.

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ten nicht als Individuen hervor (die Fälle werden nicht unterzeichnet) und entsagen jeglicher Berechtigung, Rechtsnormen zu schaffen57 • Englische Gerichte haben einen g,anz andern Stil. Der Ton ist zwanglos, fast gesellig. Hier seien Menschen, nicht Gerichtshöfe am Werk. Man bekomme den Eindruck einer Gruppe von einsichtigen, behutsamen Gentlemen, die untereinander schwierige Probleme diskutieren. Dieser eigentümliche Stil, meint Wetter, widerspiegle den Platz der Anwälte und Richter in der Gesellschaft. Bench and bar stellt eine eng verknüpfte, kleine Gruppe dar. Das Recht der Londoner Gerichte ist das Recht einer Zunft58 • Nach englischer Auffassung schuf im wesentlichen die bewährte und traditionsgebundene Erfahrung der besseren Leute das common law. Der Richter ist ein Fachmann. Er hat die spezielle Gabe, gerade zu wissen, wie das Rohmaterial des Rechts bearbeitet werden muß, um zu weisen, gerechten und korrekten Ergebnissen zu gelangen. Als Gruppe bilden die Richter eine würdevolle, gelehrte Elite; sie reden in einer ordentlichen, zivilisierten Art über das Recht, wie Leute grundsätzliche Angelegenheiten untereinander diskutieren. Der amerikanische Gerichtsstil liegt irgendwo zwischen dem englischen und dem französischen. Er ist weniger gesprächig als der englische Stil, jedoch viel persönlicher als der französische. In Frankreich sind die Urteilsbegründungen nicht unterzeichnet; sie legen einfach das Recht dar; es gibt keine abweichenden Meinungen. Im House of Lords geben die Richter ihre Meinungen seriatim ab, d. h. einer nach dem andern. Die Mehrheit gewinnt, doch gibt es streng genommen keine Mehrheitsmeinung. In den USA veröffentlichen die oberen Gerichte die Meinungen der Mehrheit und der Minderheit. Typischerweise ist die Mehrheitsmeinung unterzeichnet und auch die Meinung des Gerichts. Abweichende (dissenting) und übereinstimmende (concurring) Meinungen trifft man beim Supreme Court und einigen gliedstaatlichen Gerichten häufig an. Der Gerichtsstil bleibt nicht fest. Er ändert sich mit der Gesellschaft und der Rechtskultur. Karl Llewellyn äußerte sich über die Stilunterschiede zwischen verschiedenen Zeitabschnitten der amerikanischen Geschichte. Der Stil der Grand Tradition stand vor dem Bürgerkrieg in Blüte. Er wurde abgelöst durch den Formal Style im späten 19. Jahrhundert. Der dritte und jüngste Stil stellte mehr oder weniger eine Rückkehr zur Grand Tradition dar. Dieser Stil stützte nach Llewellyn Entscheide mehr auf Grundprinzipien ab als auf Präzedenzfälle59 • Der 57 K. Zweigert und H. Kötz: Einführung in die Rechtsvergleichung, Bd. 1, 1971, S. 140 f. 58 Wetter (N. 55), S. 32. sv Karl N. Llewellyn: The Bramble Bush: On Our Law and Its Study, 1951, S.157.

Die Rechtssprache

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Formal Style war verworren und technisch; er war positivistisch, besessen von Präzedenzfällen; es mangelte ihm an Würde und Größe. In der Tat sind die historischen Unterschiede der Stile evident. Die berühmten Richter der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieben in einem deutlich anderen Stil als spätere Richter um 1900. Die ersteren zitierten in ihren Urteilsbegründungen kaum viele Präzedenzfälle und bauten ihre Entscheide aus großen Blöcken fundamentaler Grundsätze auf. Die Vernunft, die Logik und das Argument zählten dabei mehr als die Tradition als solche. Die letzteren dagegen ließen sich in minutiöse und langweilige Analysen älterer Fälle ein. Natürlich beeinflussen viele Faktoren den Stil. So gibt es praktische technische Faktoren: Wer kann abschätzen, welchen Einfluß die Schreibmaschine auf die Arbeitsweise der Richter hatte? Die Anzahl der Gerichtsangestellten ist ein weiterer Faktor, wie auch die Zeit, welche der Richter für einen Fall aufwenden kann. Die Terminkalender der Gerichte tendierten in der Zeit zwischen 1820 und 1900 zu größerer Auslastung. Der Arbeitsanfall stieg schneller als die Bereitschaft der Öffentlichkeit, Geld für Richter und Gerichte auszugeben. Richter, die nicht die Muße haben, ihren Stil wieder und wieder zu polieren, verwenden nicht den Stil der Grand Tradition. Vielleicht auch war der Berufungsrichter der Jahre 1800, 1820 und 1840 eher ein gebildeter Gentleman als der Richter von 1900, der in sein Amt gewählt wurde und den Hintergrund lokalpolitischer Erfahrung hatte. Doch alles in allem widerspiegeln Stiländerungen Veränderungen der Legitimitätstheorie. Richter, welche sagen oder glauben, die einzig gültigen Prämissen rechtlicher Begründungen seien ältere Fälle, werden in einer dem Formal Style ähnlichen Art schreiben. Die Richter der Grand Tradition nahmen die stare-decisis-Doktrin nicht allzu buchstäblich. Für sie war das common law ein Gebäude von Grundprinzipien. Dem Fallrecht lagen umfassende, weittragende Prinzipien zu Grunde, welche es erst rechtfertigen. Ein solcher Standpunkt führt zum Stil der Grand Tradition. Die moderne Rückwendung zur Grand Tradition ist nicht so sehr eine wirkliche Rückkehr als vielmehr die Wirkung des Rationalismus und des legal realism auf das Rollenverständnis des Richters. Die Rechtsspracheoo

Juristen sprechen und schreiben in einer eigenen Art. Die Rechtssprache hat zwar zu Schmähschriften inspiriert, doch kaum zu systema60 Vgl. David Mellinkoff: The Language of the Law, 1963; Lawrence M. Friedman: Law and Its Language, 33 Geo. Wash. L. Rev. 563 (1964).

18 Friedman

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tischen Studien. Einige wenige Punkte jedoch scheinen augenfällig. Zunächst kann nur in geschlossenen Systemen überhaupt von Rechtssprache die Rede sein, also in Systemen, worin die Wendung rechtlicher Lehrsatz eine spezielle Bedeutung hat. Nur in einem geschlossenen System gibt es einen Rechtsberuf und rechtliche Fachwörter. Einige Laien glauben, die Juristen sprächen und schrieben in einem Jargon veralteter Ausdrücke und lateinischer Redewendungen. In Tat und Wahrheit sind weder das zeitgenössische Recht noch seine Fachausdrucke besonders alt. Zonenplan und bargeldlose Gehaltszahlung sind neue Ausdrücke. Die meisten heutigen Juristen bevorzugen keine alten, lateinischen Wörter. Viele verstehen kein Latein, können es nicht aussprechen und empfinden seine Verwendung als störend. Wenn sie die Wahl haben, verschmähen sie fremdartige Ausdrücke zugunsten von einfacheren. Sie ziehen den Begriff Dienstbarkeit dem alten Ausdruck Servitut vor. Freilich sind viele Rechtsausdrücke und Redewendungen älterer Herkunft. Einige kommen aus der Umgangssprache oder sind in diese eingegangen: Richter, Urteil, Kläger, Vermächtnis. Die Juristen erfinden ihr Vokabular im großen und ganzen, indem sie herkömmliche Wörter mit speziellen Bedeutungen ausstatten: Antrag und Annahme, Haftpflicht, Fahrlässigkeit. Der Jurist verwendet juristische Redewendungen nicht, weil diese dem Laien schwer zu erklären sind, sondern als eine Art Abkürzung. Jede Berufsgruppe benützt Abkürzungen - wie überhaupt jede Gruppe, welche gleiche Erfahrungen teilt. Die meisten Rechtsausdrucke sind einfache Kurzfassungen. Eine Fachsprache ist für die Fachleute effizient. Dies ist im Recht nicht anders als in anderen Gebieten. Wenn Ausdrücke wie Idealkonkurrenz oder conditio sine qua non aufgegeben werden müßten, würde die Rechtssprach.e schwerfällig. Einige dieser Wörter sind natürlich im strengen Sinne fachlich: Sie beschreiben Vorstellungen und Institutionen, die außerhalb des Rechts nicht existieren: Naturalrestitution, Indossament, Parteifähigkeit. Der Gebrauch solcher Wörter ist so selbstverständlich und unvermeidlich wie die Verwendung der Begriffe Natriumhydroxid oder Monochlamydeen in anderen Gebieten. Die Rechtssprache dient auch anderen, weniger nüchternen Zwecken. Wenn Wörter, Wendungen und Ausdrucksweisen innerhalb einer Gruppe geläufig, jedoch außerhalb der Gruppe unbekannt sind, hilft die spezielle Sprache dazu, die Grenzen der Gruppe zu definieren, indem sich ihre Mitglieder von der Umwelt abheben. Die Rechtssprache ist etwas Besonderes; also ist der Berufsstand auch etwas Besonderes. Die Ausbildung in einer Kunstfertigkeit verwandelt eine Beschäftigung in einen Berufsstand. Die Fachsprache hat also Symbolwert. Sie ist ein Status-

Die Rechtssprache

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zeichen und ebenso eine Kommunikationshilfe. Überdies leiten sich die speziellen Ansprüche der Juristen aus ihrer Geschicklichkeit im Umgang mit Wörtern ab. In früheren Zeiten und in anderen Gesellschaften wurden die Juristen als Lehrlinge anderer Juristen ausgebildet. Die modernen Juristen gehen zur Schule. In beiden Fällen stellt die gemeinsame Ausbildung eine Bindung zwischen ihnen her. Wie Angehörige desselben Glaubens verstehen sie sich nicht nur in ihren Begriffen, sondern auch gefühlsmäßig. Nur wenige können bei ihrer Tätigkeit mit dem Putativnotstand etwas anfangen oder verdienen ihr Brot mit Fragen der Mentalreservation. Doch diese wundervollen Wendungen erwecken Gefühle der Zusammengehörigkeit und Erinnerungen aus der Ausbildungszeit. Die Juristen haben eine Kultur und einen Stil gemeinsam. Wörter und Wendungen - und Erinnerungen - verbinden und einigen den Stand. Rechtsstil und Vokabular sind folglich in einem zweiten Sinne ökonomisch, indem dadurch der Zusammenhalt und das Prestige des Berufsstandes gesichert wird. Dieser zweite Nutzen erklärt jedoch spezielle Elemente des juristischen Stils nur wenig. Jeder von den Juristen für sich beanspruchte und der Öffentlichkeit unbekannte Jargon würde diesem Zweck dienen. Dieser zweite Gesichtspunkt der Rechtssprache bringt weder rechtliche Begriffe noch einen Rechtsstil hervor. Er mag jedoch hin und wieder Wörter und Gewohnheiten am Leben erhalten, auch wenn diese nicht mehr funktionell im nüchternsten Sinne sind. Der Rechtsstil hat überdies eine rituelle Funktion. Im Recht gibt es viele rituelle Wendungen - z. B. die Eidesformel: the truth, the whole truth, and nothing but the truth. Heutzutage sind die Unterschiede zwischen truth und whole truth vergessen, doch die klingende Wendung lebt weiter. Sie vermittelt etwas von der Magie und der Größe eines Eides. Solche Ausdrucksweisen übertragen, wenn sie an den Laien gerichtet sind, außer Angst, Erhfurcht und Achtung keine Information. Rituelle Wendungen sind wirksam; wie Kinderreime und Sprichwörter sind sie leicht zu behalten und nachzusprechen. Wahrscheinlich machte das ältere Recht mehr von rituellen Ausdrücken Gebrauch als die in hohem Maße rationalen Systeme von heute. Kulturen, deren Sprache nicht geschrieben wird, überliefern das Recht mündlich und direkt. In reifen Rechtssystemen dagegen, welche Juristen und Fachausdrücke besitzen, verringert sich die Anzahl magisch-poetischer Wendungen; Legitimitätstheorien legen Gewicht auf Nützlichkeit und Vernunft. In einigen Winkeln der Rechtsordnung überlebt die rituelle Sprache, aufbewahrt für feierliche Akte wie den Eid. Auch die typische letztwillige Verfügung ist feierlich, ritualistisch und in hohem Maße formell; es werden dazu häufig archaische, monotone Wendungen benutzt. 18·

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Die juristische Art zu schreiben ist als unbestimmt und weitschweifig getadelt worden. Natürlich sind die Juristen nicht die einzigen, welche eine verschwommene oder schwülstige Sprache schreiben, und vielleicht ist dies bei Juristen verzeihlicher als bei Ärzten, Erziehern oder Beamten. Unbestimmtheit ist nicht immer ein Laster. Bei einem Gesetz delegiert Unbestimmtheit die Verantwortung an eine untergeordnete Instanz, welche seine Bedeutung herausschälen muß. Diese Unbestimmtheit ~ann aber auch ein Verzögerungsmittel sein. Der Supreme Court benutzte die Wendung "with all deliberate speed" in seinem Entscheid zur Hassentrennung in der Schule61 • Diese unbestimmte Anordnung schob die Last der Detailausarbeitung den unteren Bundesgerichten zu und verzögerte die Anwendung des Entscheides. Absichtliche Unbestimmtheit ist im Recht nicht ungewohnt. Die Gesetzgeber ziehen es oft vor, einer Behörde das größtmögliche Ermessen zuzugestehen. Beim Verleihen von Radiokonzessionen muß sich die Federal Communications Commission vom öffentlichen Vorteil, Nutzen oder Bedürfnis leiten lassen, und sie muß für eine offene, wirksame und unparteiische Verbreitung des Radiodienstes sorgen62 • Der Sherman Act von 1890 erklärte jeden Vertrag oder Zusammenschluß ... mit Behinderung des Handels zwischen mehreren Gliedstaaten für ungesetzlich und fügte nur wenige Details hinzu 63 • In beiden Fällen war die Unbestimmtheit kein Zufall oder Fehler, sondern eine wohlerwogene Taktik zur Delegation und Verzögerung aus politischen Gründen. Auch Anwälte, welche letztwillige Verfügungen, Urkunden und Verträge aufsetzen, lassen absichtlich mittels unbestimmter und zweideutiger Sprache gewisse Fragen offen. Dies gibt dem Willensvollstrecker oder der Partei die Möglichkeit, Lücken zu füllen, weitere hbmachungen zu treffen oder unter dem allgemeinen Rahmen des Dokuments zu handeln. In Verträgen kann die unbestimmte Sprache dazu dienen, kontroverse Punkte, welche in der Praxis nie zur Sprache kommen mögen, zurückzustellen oder zu umgehen64 • Die entgegengesetzte Unart, Weitschweifigkeit, ist ebenfalls mehr als ein bloßer Zufall oder Fehler. Anglo-amerikanische Gesetze sind sehr wortreich. Sie scheinen nie nur ein Wort zu verwenden, wenn dafür sechs aneinander gereiht werden können. Es ist, als ob der GesetzesVerfasser von Besorgnis ergriffen würde und er den Text deshalb Brown v. Board of Education, 349 U.S. 294, 301 (1955). 48 Stat. 1083, rev. Fassung, 47 U.S.C. § 307 (a), (b) (1936). 63 26 Stat. 209 (1890); vgl. William Letwin: Law and Economic Policy in America, the Evolution of the Sherman Antitrust Act, 1965. 64 Stewart Macaulay: Non-Contractual Relations in Business: A Preliminary Study, 28 Am. Soc. Rev. 55 (1963). 81

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mit Vorbehalten und Einschränkungen überladen würde65 • Wie wir bemerkt haben, lasen die common-law-Gerichte gewisse Gesetze so, daß sie erfolgreich die Befugnis für sich beanspruchten, Erlasse des britischen Parlaments zu überarbeiten und neu zu formulieren. Die Gerichte zollten der Auslegungspflicht, der Pflicht, sich dem Willen des Gesetzgebers zu beugen, Lippenbekenntnisse. Falls ein Gesetz vernünftigerweise auf drei Situationen anwendbar, aber nur eine davon ausdrücklich erwähnt war, konnte ein Gericht, wenn es wollte, das Gesetz unter dem Deckmantel der Auslegungsregeln auf diesen 'einen Fall beschränken. Theoretisch war diese Macht bloß eine Befugnis auszulegen. War der Wortlaut ungewohnt klar, so war es für ein Gericht schwierig, dessen Bedeutung zu entstellen. Die Verfasser von Gesetzen waren sich der Macht der Richter, in willkürlicher Weise auszulegen, wohl bewußt. Sie wußten auch, daß, falls die Maschen des Wortlauts eng genug waren, die Gerichte zu tun gezwungen werden konnten, was ihnen aufgetragen war. In der Folge ließen sich die Gesetzesverfasser dazu verführen, Synonym auf Synonym zu häufen im Versuch, jede Ritze zu stopfen und jede Hintertüre zu versperren. Der Stil von Kodifikationen des kontinental europäischen Rechtssystems unterscheidet sich erheblich von demjenigen der common-lawGesetze. In Ländern des kontinentaleuropäischen Rechtssystems stellt niemand den Vorrang der Gesetze in Frage. Sie enthalten daher eher weite, allgemeine Lehrsätze. Der Code Napoleon von 1804 zielte auf allgemeine Grundprinzipien, die reich an Folgen waren, und vermied es, sich in Einzelheiten einzulassen66 • Common-law-Gesetze dagegen sind Mosaike, Flickwerk, zusammengesetzt aus Dutzenden von pedantischen Ausdrücken und Wendungen67 • Was für Gesetze galt, traf auch auf andere Rechtsdokumente zu: letztwillige Verfügungen, Verträge und Treuhandverwaltungen. Die Gerichte legten in historischer Zeit die Befugnisse des Treuhänders sehr eng aus, um die Rechte des Begünstigten zu schützen. Heutzutage haben Banken und Treuhandgesellschaften einen vorherrschenden Teil der Treuhandverwaltung inne. Sie wünschen keine aufdringlichen Gerichte und Begünstigte, die bei jeder Kleinigkeit Klage erheben. Die GesellHenrich Triepel: Vom Stil des Rechts, 1946, S. 90. Dies war die Ansicht der Verfasser,. zitiert in P. A. Fenet: Reeueil Complet des Travaux Preparatoires du Code Civil, Bd. 1, 1827, S. 470. 67 Der Vergleich ist nicht ganz fair. Wie hervorgehoben wurde, gibt es in der eommon-Iaw-Welt viele umfassende, unbestimmte Gesetze. Überall müssen wirkliche Regelungen entweder in Gesetzen oder in Verordnungen dazu ausführlich formuliert werden. Wie stark weichen die Steuergesetze oder die Parkvorschriften moderner Staaten stilistisch voneinander ab? 65

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schaften bestimmen über die Abfassung ihrer Treuhandverträge. Sie verwenden dabei zwei Methoden, um ihre Interessen sicherzustellen erstens eine Ausdrucksweise, die ihnen freien Ermessensspielraum gewährt, und zweitens eine sehr weitschweifige und spezielle Sprache. Die beiden Methoden werden häufig kombiniert. Der Treuhandvertrag spricht dem Treuhänder freies Ermessen zu, nach seinem Gutdünken zu investieren, und führt dann die erlaubten Anlagen sehr detailliert auf: Aktien, Obligationen, Schuldbriefe, Liegenschaften, Hypotheken usw. Diese Aufzählung wäre unnötig, wenn man die Generalklausel für bare Münze nähme. Beides, die Unbestimmtheit und die neurotische Hypertrophie von Synonymen sind Versuche, den Einfluß der Gerichte fernzuhalten und die Begünstigten von Prozessen abzuschrecken. Die Rechtssprache ist, wenn sie einmal eine feste Form hat, konservativ. Common-Iaw-Gerichte legten in der Vergangenheit Gewicht auf den Wortlaut, d. h. die tatsächlich niedergeschriebenen Wö,rter, und ließen darüber hinaus weder Zweck noch Bedeutung gelten. In unzähligen Fällen betreffend letztwilliger Verfügungen, Treuhandverträgen, Urkunden, Statuten und Verträgen ignorierten sie die Zusammenhängedas Verhalten der Parteien. Im Recht der letztwilligen Verfügungen hörten die Gerichte das Zeugnis über die Worte des Toten nicht; die Bedeutung des Testaments hatte sich aus dem Wortlaut zu ergeben, aus den vier Ecken des Dokuments, wie man sagte. Vielleicht sollten diese Regeln den Gerichten die Arbeit der Entscheidfindung erleichtern. Zugleich hatte die Betonung des Wortlauts einen ökonomischen Zweck. Die Sprache konnte gefestigt und standardisiert werden. Standardisierte Sprache wiederum führte zu verläßlicher, vorhersehbarer - und standardisierter - Auslegung 68 • Gerichte, welche diese Anschauung vertraten, schenkten der Ausdrucksweise große Beachtung. Falls ein Verfasser von den herkömmlichen Worten abwich, mochte sich ein Gericht fragen, weshalb dies so sei. Ein Anwalt überlegte es sich deshalb zweimal, bevor er die Sicherheit des Gewohnten aufgab. Sicherheit war ein oder zwei zusätzliche Wendungen wert. Das common law machte von Formen Gebrauch, um Verhalten in Bahnen zu lenken. Es verwendete Zauberworte. Wenn im Mittelalter und bis in die neuere Zeit hinein jemand ein frei übertragbares Grundstück (fee simple) veräußern wollte, mußte die Urkunde auf den Namen des Begünstigten und den seiner Erben lauten69 • Sogar wenn es hieß: "Ich übertrage dieses Grundstück zu unbeschränktem Eigentum und für immer auf Smith, der nach seinem Willen darüber verfügen kann", 68 Lawrence M. Friedman: Law, Rules, and thc Interpretation of Written Documents, 59 Nw. U. L. Rev. 751 (1965). 69 '2 Blackstone's Commentaries, 107.

Die Rechtssprache

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erhielt Smith kein Eigentum im Sinne des fee simple. Der Veräußerer mußte sagen "auf Smith und seine Erben". Dies erscheint pedantisch und sogar lächerlich. Doch es gab einen vernünftigen Aspekt: Das vollständige Beharren auf der Form lief auf die Standardisierung solcher übertragungen hinaus und reduzierte das Chaos der Formulierungen auf ein erträgliches Maß. Diese Grundidee ist heute noch zutreffend. Bei einem Bankscheck, der standardisiert sein muß, verwendet man die Zauberworte Order oder Inhaber und läßt keine Abweichungen zu. Extreme Fachsprache und Formanforderungen erfüllen ihren Sinn natürlich nur, wenn Fachleute, welche die Bedeutung ihres Tuns kennen, die Texte aufsetzen. Bei Schecks sind die Zauberworte aufgedruckt. Auflassungsurkunden werden nur von Rechtsanwälten oder Notaren aufgesetzt. Die Lektion der Rechtsgeschichte scheint klar gewesen zu sein. Zusätzliche Wörter kosten nichts, das Weglassen von Wörtern jedoch heißt, das Unheil herausfordern. Wo die Juristen die Zauberworte kannten, verwendeten sie diese, woraus sich eine lobenswerte Kürze ergab. Wo sie jedoch nur im Geringsten unsicher waren, welches nun Zauberworte und welches einfach Wörter waren, häuften sie ein Durcheinander von Ausdrücken an und hofften, durch puren Zufall Rumpelstilzchens Namen zu treffen.

Kapitet X

Sozialer Wandel und Rechtswandel In den vorhergehenden Kapiteln wurden die Rechtssysteme in statischem Zustand untersucht. Sie wurden im Querschnitt, so wie sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt darbieten, betrachtet. Selbstverständlich sind Rechtssysteme nicht statisch. Sie sind immer in Bewegung, verändern sich dauernd. Es ist notwendig, soziale Systeme im Ruhezustand zu untersuchen, aber in Wirklichkeit sind sie ständigen Konflikten und Veränderungen ausgesetzt 1• Eine allgemeine Aussage über Rechtswandel lag den vorgehenden Kapiteln stillschweigend zugrunde. Sie besagt, daß bedeutendere Änderungen des Rechts von sozialen Änderungen verursacht werden und deshalb von ihnen abhängig sind. In einem Rechtssystem ist nicht jede Änderung von Bedeutung, die meisten sind vielmehr unwesentlich. Denn sogar im Hinzufügen eines Kommas bei einem Satz eines Gesetzestextes manifestiert sich ein Rechtswandel. Viele dieser Änderungen dürfen deshalb nicht als Resultate der Einwirkung von sozialen Kräften gedeutet werden. Es sind Änderungen, die nur von rechtstechnischem Interesse sind, mit denen sich darum auch nur Juristen befassen. Theoretisch können vier Typen des Rechtswandels unterschieden werden. Wesentlich für die Unterscheidung ist der Entstehungspunkt des Wandels und sein Wirkungspunkt 2 • 1. Der Wandel entsteht außerhalb des Rechtssystems in der Gesellschaft, hat

ausschließlich Auswirkungen auf das Rechtssystem und bleibt dort wie eine verschossene Kugel liegen. 2. Der Wandel entsteht außerhalb des Rechtssystems, geht durch dieses hindurch (wird modifiziert oder nicht) und gelangt zu seinem Wirkungspunkt außerhalb des Rechtssystems, in der Gesellschaft. 3. Der Wandel entsteht innerhalb des Rechtssystems und verbraucht auch all seine Wirkung innerhalb des Rechtssystems. 4. Der Wandel entsteht innerhalb des Rechtssystems, geht durch das Rechtssystem hindurch und endet mit seiner Wirkung außerhalb, in der Gesellschaft. 1 William J. Chambliss und Robert B. Seidman: Law, Order and Power, 1971, S. 18. 2 Vgl. Lawrence M. Friedman: Law Reform in Historical Perspective, 13 St. Louis U.L.J. 351 (1969); siehe auch Joel B. Grossman und Mary H. Grossman (Hrsg.): Law and Change in Modern America, 1971, S. 1 - 10.

Sozialer Wandel und Rechtswandel

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Wir beginnen mit dem dritten Typus, den formalen internen Änderungen. Viele Rechtsänderungen scheinen dieser Kategorie zuzugehören. Sie entstehen und enden innerhalb des Rechts, ohne daß sie eine Stoßrichtung oder Wirkung nach außen haben. Jedes Jahr begnügen sich in jedem Rechtssystem Hunderte von Gesetzen und Rechtsakten damit, Details des Prozeßrechtes zu verbessern oder Änderungen in Materien vorzunehmen, welche nur Juristen interessieren. Parlamente heißen Gesetze gut, mit welchen zum Teil völlig unbedeutende rechtstechnische Änderungen vorgenommen werden: ein "und" wird durch ein "oder" ersetzt, offensichtliche Redaktionsfehler werden berichtigt. Andere Gesetze hingegen werden unter dem Titel der Rechtsrefonn erlassen und beanspruchen damit eine gewisse Bedeutung. Rechtsrefonn ist eine wichtige Beschäftigung der Juristen. Rechtsgelehrte stellen Recht zusammen, klassifizieren und kodifizieren es. Refonnorganisationen arbeiten an der Revision von Gesetzen, mit dem Ziel, eine bessere oder logischere Ordnung zu erreichen. Sie kodifizieren obskure Doktrinen und vereinigen verstreute Normen zu einem sinnvollen Ganzen. Sie verbessern rechtliche Fonnen und Fonnalitäten. Sie systematisieren das Recht im allgemeinen ohne große materielle Änderungen. Sie bemühen sich darum, wie den praktisch tätigen Juristen bei der Beschaffung von Infonnationsmaterial geholfen werden kann und wie die Effizienz der Gerichte verbessert werden kann. Sogar Gerichte können mit ihren Entscheiden eine Rechtsrefonn im technischen Sinne vornehmen. Ein Gericht kann Recht zusammenfassen und klassifizieren, eine Doktrin verbessern, Rechtsfragen besser fonnulieren oder eine "line of holdings" revidieren. Im allgemeinen wird bei der Revision des Rechts die Wirkung wenig beachtet. Die Rechtsrevisoren nehmen mehr oder weniger an, daß bessere Gesetze ernstzunehmende Auswirkungen in der Welt des Verhaltens haben werden. Viele systematische Gesetzbücher haben wenig Auswirkungen auf die Gesellschaft. So konnte z. B. das deutsche BGB die ersten Jahre von Hitlers Regierung, eine Zeit von fundamentalen und revolutionären Änderungen in den Staats- und Regierungsstrukturen, grundsätzlich unverändert überleben. Dies zeigt, daß die sozialen Konsequenzen des BGB als Kodifikation äußerst unbedeutend waren oder geworden warens. Selbstverständlich beschränkt sich nicht jede Rechtsrefonn auf rein Formales. Fragen der Gerichtsorganisation führten auch schon zu Volksunruhen. Die Forderung nach Kodifikation kann von großer politischer Bedeutung sein. Kodifikation kann ein Mittel zur Kontrolle von 3 Hellmut G. Isele: Ein halbes Jahrhundert deutsches Bürgerliches Gesetzbuch, Archiv für die civilistische Praxis, Bd. 150 (1948), 1, 15 - 20.

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Kap. X: Sozialer Wandel und Rechtswandel

absoluter Macht sein. Bevor das Recht der Massachusetts Bay Colony kodifiziert wurde, gab es für die Machtausübung der Behörden wenig Schranken. Der politische Kampf führte zur Schaffung kolonialer Gesetzbücher, welche die Rolle von Verträgen zur Festsetzung der Befugnisse der Magistraten spielten4 • Ebenso hatte der Code Napoleon eine politische Zielsetzung: Er war Teil der Bewegung, welche die Macht der Richter zugunsten der Macht der revolutionären Gesetzgeber einschränken wollte 5 • Aber moderne Rechtsreform ist meist nur Reform im engen Sinne, so wie sie von den Gesetzesredaktoren verstanden wird. Die Juristen sind in gewisser Hinsicht kurzsichtig. Juristen, welche Leben und Karriere buchstäblich der Reform opfern, ebenso wie berufsmäßige Rechtsreformer und Gesetzesrevisoren, werden zwangsläufig die Wirkung ihrer Arbeit überschätzen. Die Früchte ihrer Arbeit müssen das menschliche Verhalten ändern. Aber selbst ein Jurist, der bezweifelte, daß Reform etwas in der Welt verändert, würde mit seiner Arbeit fortfahren wollen. Das Recht in ästhetischer oder systematischer Hinsicht zu verbessern, entspricht einern beruflichen Bedürfnis, unabhängig davon, ob ein soziales Bedürfnis besteht. Ein Berufsstand muß sich selbst rechtfertigen. Er muß die Pose der Sorge um das allgemeine Wohl einnehmen. Ebenso wie Ärzte sich um arme Patienten kümmern, widmen sich Juristen der Rechtsreform. Geben die Juristen zu, daß das Recht reformbedürftig ist, und führen sie die Reform selber durch, so verteidigen sie sich: dadurch gegen die Kritik von außen. Sie wischen vor der eigenen Türe. Rechtsreform ist Juristenarbeit, nur sie sind hiezu fähig. Die Juristen bestätigen also mit Rechtsreform ihren Anspruch auf das Berufsmonopol. Auf eine Art rein formaler Änderung muß noch hingewiesen werden. Es gibt Rechtsakte, welche schon bestehende soziale Zustände, Verhaltensregeln oder Einstellungen sanktionieren. Wir wollen bei diesen Rechtsakten von Ratifikation sprechen. Die Aufhebung von "totem Recht" ist ein Akt der Ratifikation. Eine Norm, welche nicht angewendet wird, ist nur im technischen Sinne in Kraft, wie wichtig sie in der Vergangenheit auch gewesen sein mag. Die Entfernung einer solchen Leiche aus den Gesetzbüchern ist eine rein formale Rechtsänderung. Sie kann natürlich eine nützliche, wenn auch unbedeutende Funktion haben. Jemand könnte unglücklicherweise über die Leiche stolpern und sich verletzen. Totes Recht kann auch schlechte Reklame für das Rechtssystem sein. So war es beim wager of law, einern berühmten Beispiel George Haskins: Law and Authority in Early Massachusetts, 1960, S. 123. John H. Merryman: The Civil Law Tradition, 1969, S. 29 - 31; Jacques Godechot: Les Institutions de la France sous la Revolution et l'Empire, 2. Aufl., 1968, S. 691 - 696. 4

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Sozialer Wandel und Reehtswandel

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eines lebenden Fossils. Im mittelalterlichen englischen Recht konnten die Beklagten Eidhelfer beiziehen, welche schworen, daß der Eid des Beklagten rein und wahr sei. Bei bestimmten Prozeßarten genügte dies für die Verneinung einer Haftung des Beklagten. Dieses Institut, seit Jahrhunderten obsolet, war nie formell abgeschafft worden. Von Zeit zu Zeit machten Anwälte den Fehler, ihre Behauptungen so zu formulieren, daß sie dem Beklagten das (theoretische) Recht zum wager of law gaben. Ein solches Mißgeschick ereignete sich 1824, als ein Beklagter dieses Recht beanspruchte, die Eidhelfer beibrachte und den Prozeß gewann. Dieser Prozeß war ein Glied in der Kette von Ereignissen, welche schließlich das Parlament dazu bewegten, 1833 das Land von der Leiche des wager of law zu befreien6 • Dies war nur die Ratifikation einer Rechtsänderung, welche tatsächlich schon viele Jahrhunderte vorher stattgefunden hatte. Auch der Entscheid eines Prozesses durch Zweikampf wurde formell erst 1819 abgeschafft, nachdem 1818 ein Prozeß gezeigt hatte, daß dies immer noch ein zulässiges Beweismittel vor der Berufungsinstanz in einem Mordprozeß war7 • Diese Ereignisse zeigen, daß vieles, was im common law archaisch ist, bestehen bleibt und abgesehen von gelegentlichen Unglücksfällen völlig unschädlich ist. Das common law konserviert gewisse Fossilien des materiellen und prozessualen Rechtes. Es bewegt sich von Fall zu Fall vorwärts, manchmal ziemlich langsam. Es hat die Tendenz, überholte Institutionen eher zu umgehen als abzuschaffen. Das ganze englische Regierungssystem ist, wenigstens auf dem Papier, ein Relikt aus der Zeit der absoluten Monarchie. Die Überreste haben im großen Ganzen wenig Auswirkungen auf das Verhalten. Die juristische Schulung neigt dazu, das lebende Recht nicht zur Kenntnis zu nehmen und darum die Bedeutung dieser Überreste zu überschätzen. Niemand nimmt diese Relikte so wichtig, daß er sich bemühen würde, sie zu reformieren - außer professionellen Rechtsreformern, welche dafür mehr Zeit aufwenden, als diese Materie wahrscheinlich verdient. Im europäischen Rechtsbereich gibt die Ideologie der Rechtswissenschaft den Juristen einen mächtigen Ansporn, an ähnlichen Problemen zu arbeiten. Ganze Armeen von Professoren können Schlachten schlagen, in denen es um unbedeutende dogmatische Fehler oder Risse in der Architektur der Gesetzbücher geht. Eine Rechtsreform kann also durch ein Ereignis ausgelöst werden, welches die Aufmerksamkeit auf ein schädliches oder unbequemes Rechtsrelikt lenkt. Oder professionelle Rechtsreformer können aus eigener Initiative im Namen der Gerechtigkeit oder Effizienz die Auf3 and 4 Will. IV, eh. 42 § 13. William S. Holdsworth: History of English Law, 3. Aufl., 1922, Bd. I, S. 310. Der Prozeß war Ashford v. Thornton, 1 B. and Ald. 457 (1818). 6

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Kap. X: Sozialer Wandel und Rechtswandel

gabe von Aufräumern übernehmen. In Ländern des common law spielt das bestimmte Ereignis wohl eine größere Rolle als im kontinentaleuropäischen Rechtskreis, wo die Juristen das kodifizierte Recht immer wieder von neuem analysieren. In beiden Rechtsgebieten ergreifen die Juristen die Initiative zu Rechtsreformen in besonderem Maße seit dem Aufstieg der Rechtsfakultäten. Sie suchen nach archaischem Recht und korrigieren es. Die Kodifikationen des 20. Jahrhunderts sind Früchte ihres Fleißes. Eine andere häufige Erscheinung kann als versteckte Ratifikation bezeichnet werden. Für die USA findet sich ein Beispiel dafür im Vermögensrecht verheirateter Frauen. Nach common law erhielt der Mann durch die Heirat die Kontrolle über das Eigentum der Frau. Sie konnte selbständig nichts kaufen, verkaufen oder tauschen. Mit den Married Women's Property Acts bekam sie das Recht, selbst über ihr Eigentum zu verfügen. Im Jahre 1839 erließ der Staat Mississippi das erste dieser Gesetze. In den nächsten Jahrzehnten folgten andere Staaten mit ähnlichen Erlassen. Diese Gesetze schienen grundlegende Änderungen im rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Status der Frau mit sich zu bringen. Darum würde man annehmen, daß sie Gegenstand heftiger Debatten waren. Die sorgfältige Untersuchung ihrer Entstehungsgeschichte zeigt jedoch, daß dies nicht der Fall war. Die Gesetze schienen aus dem Nichts gekommen zu sein. Sie verursachten keine Diskussion, keine Reaktion und keinen Aufruhr in der Presse. Diese merkwürdige Tatsache läßt vermuten, daß die Änderungen, welche die Gesetze brachten, nicht so plötzlich eintraten, wie es schien. In Wirklichkeit hatten verheiratete Frauen schon lange selbst über ihr Eigentum verfügt. Vor allem in England hatten sie das Recht mit komplizierten Methoden umgangen, was jedoch sehr aufwendig war. Das war auch in den USA möglich. Die Landeigentümer bildeten aber eine weit größere Klasse als in England, und es gab wenige Rechtskundige. Die Gesetze räumten diese künstlichen Gebilde weg. Nun konnten die Frauen einfach und direkt tun, was sie vorher nur auf kompliziertem, indirektem Wege erreichten. Die Gesetze waren nicht bedeutungslos, aber sozial gesehen eher Ratifikation als NeuheitS. Eine Rechtsänderung greift oft mitten in eine Abfolge von Geschehnissen ein. Dann ratifiziert sie Schritte, welche schon getan wurden, und macht die noch nicht vollzogenen oder scheint es zu tun. Welche Rolle das gesetzte Recht in dieser Abfolge genau spielt, ist oft schwer zu sagen, sowohl was den Entstehungspunkt wie die Wirkung betrifft. Ein Ge8 Kay Ellen Thurman: The Married Women's Property Acts, M.LL. thesis, University of Wisconsin Law School, 1966.

Der formale Rechtswandel mit sozialen Folgen

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richt entscheidet, die Todesstrafe sei rechtswidrig, aber schon längere Zeit vorher wollte der betreffende Bundesstaat mysteriöserweise die Todesstrafe nicht mehr anwenden. Ein anderer Bundesstaat schafft seine nicht angewendeten Ehebruchsgesetze ab. Wieviel an diesen Rechtsakten ist Neuheit, wieviel Ratifikation? Hat die Aufhebung toten Rechtes eine katalytische oder symbolische Wirkung? Zu wenig ist über die Wirkung des Rechtsverhaltens bekannt, viel zu wenig über die langfristigen sozialen Änderungen, als daß zuverlässige Antworten für einen bestimmten Fall gegeben werden könnten. Der formale Rechtswandel mit sozialen Folgen Kann rein formaler Rechtswandel wichtige soziale Folgen haben? Im allgemeinen wird dies angenommen. Der Kongreß revidiert eine Norm in der Absicht, nur eine Klarstellung oder eine Wortänderung vorzunehmen, aber ein Unfall bei der Formulierung verursacht unerwartet große Folgen. Auf den ersten Blick: scheint dies auch so zu sein; aber gibt es einen Beweis dafür? Der Rechtswandel ist vielleicht nur Werkzeug, er gibt nur die Gelegenheit. Der soziale Wandel rumort schon unter der Oberfläche, der Durchbruch wäre so oder so gekommen. Wo er dann tatsächlich geschah, ist ziemlich belanglos. Würden wir das Gegenteil annehmen, so würde damit der grundlegende Satz jeder soziologischen Rechtstheorie abgelehnt, und abstrakte Regeln und Konzepte würden ihr eigenes überragendes Gewicht haben. Das Recht ist ein Teil der allgemeinen Kultur, aber es ist gewöhnlich nicht der tonangebende Teil. Die Unfall-Hypothese ist theoretisch gesehen falsch, darum muß für die Existenz eines konkreten, historischen Beispiels ein zwingender Beweis vorliegen. Die Eigenart des juristischen Argumentierens kann hier irreleiten. Ein Jurist braucht für seine Argumente rechtliche Aufhänger. Will oder muß sein Klient die Klage auf die Verfassung stützen, so hat der Jurist eine Bestimmung der Verfassung zu finden, welche dies erlaubt. Die Verfassung kommt ihm hier entgegen. Sie enthält unzählige vage Formulierungen. Worte und Lehrmeinungen haben natürlich ihre Bedeutung. Die amerikanische Geschichte hätte einen etwas anderen Verlauf nehmen können, wenn andere rechtliche Argumente gebraucht worden wären oder wenn die Prozesse anders entschieden worden wären. Aber wie weit wäre sie anders verlaufen? Es ist unwahrscheinlich, daß zufällige Formulierungen und Lehrmeinungen die Sozialpolitik beeinflussen. Die Welt des Rechtes ist voll von Formulierungen und Argumenten. Paßt das eine nicht, so paßt das andere.

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Kap.

X:

Sozialer Wandel und Rechtswandel

Sozialer Wandel mit rein rechtstechnischen Wirkungen

Ein anderer Typus des Rechtswandels kommt ebenfalls häufig vor. Von außerhalb kommende Kräfte wirken auf das Rechtssystem ein, das Resultat ist jedoch ein rein formaler, rechtstechnischer Wandel, der die Gesellschaft nicht berührt. Heftige Stürme knicken kaum einen Halm in der Domäne des Rechts. Es fragt sich, wie dies zu erklären ist. Eine mögliche Erklärung ist mit der theoretischen Grundhaltung dieses Buches unvereinbar. Nämlich die, daß das Recht typischerweise unempfänglich für soziale Forderungen ist, weil nichts seine für immer vorgezeichnete Bahn verändern kann. Soziologische Rechtstheorien sehen jedoch diesen dritten Typus des Rechtswandels beim Vorliegen bestimmter Umstände tatsächlich vor. Wenn zwei oder mehr soziale Kräfte, die mehr oder weniger gleich stark sind, widersprüchliche Forderungen an das Rechtssystem stellen, ist das rechtliche Resultat gleich Null. Null kann im Rechtssystem buchstäblich Null sein (überhaupt kein Wandel), oder es kann zielloser, rein rechtstechnischer oder wirkungsloser Wandel sein. Verschossene Kugeln lassen dann nicht darauf schließen, daß das System nicht reagiert, sondern weisen auf einen unentschiedenen Ausgang hin: am Seile haben zwei gleich starke Mannschaften gezogen. Recht und bedeutender sozialer Wandel

Es bleibt noch ein letzter Typus zu untersuchen. Soziale Forderungen bewirken einen Rechtswandel, der seinerseits zu einem bedeutenden sozialen Wandel führt. Der Motor dieses Vorganges ist in neuerer Zeit vor allem die Legislative, obwohl manchmal auch ein Gerichtsentscheid (der Fall des Schwangerschaftsabbruchs z. B.) diese Rolle übernimmt. In den USA schienen die fugitive slave laws (Gesetze über die flüchtigen Sklaven), der Social Security Act (Sozialversicherungsgesetz), die Gesetze über die Einkommenssteuern und der Economic Opportunity Act (Gesetz zur Bekämpfung der Armut) zu sozialem Wandel zu führen oder ihn zu kanalisieren. Noch mehr Gewicht hat ein Komplex von zusammenwirkenden Gesetzen oder Normen, wie z. B. der New Deal oder die Gruppe von Gesetzen, welche in England den sozialen Wohlfahrtsstaat begründeten, vielleicht auch das System der Haftpflichtnormen, welches im 19. Jahrhundert für Industrieunfälle geschaffen wurde. In einigen Ländern sind Verordnungen der Exekutive wichtige Träger sozialen Wandels. Es kann natürlich endlos darüber gestritten werden, ob in einem bestimmten Falle der Wandel bedeutend war. Normalerweise entwickelt sich der Rechtswandel, im besonderen der von Gerichtsentscheiden getragene, in kleinen Schritten9 • Es gibt jedoch auch revolutio9 Vgl. Martin Shapiro: Stability and Change in Judicial Decision-Making: Incrementalism or Stare Decisis?, 2 Law in Transition 'Q. 134 (1964); Lawrence

Recht und bedeutender sozialer Wandel

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nären Wandel - gewolltes und massives social engineering durch das Recht. Revolutionärer Wandel im und durch das Recht ist eine äußerst weitläufige Materie. Wir wollen nur ein paar wenige Fragen aufwerfen. Beim bedeutenden Wandel können zwei Typen unterschieden werden, Planung und Zerschlagung, d. h. positiver und negativer Wandel. Unter Zerschlagung verstehen wir einen Wandel, der durch die Zerstörung oder den Abbruch einer etablierten rechtlichen Ordnung erreicht wird. Planung ist ein Wandel, der eine neue rechtliche Ordnung einführt. In Wirklichkeit sind beide Typen gewöhnlich miteinander verbunden. Unter Revolution wird im allgemeinen beides verstanden, sowohl die Zerstörung des Alten wie die Geburt des Neuen. Beide Aspekte sind auch bei der Rechtsrevolution zu finden. Als die Regierung der Sowjetunion das Familienleben und das Familienrecht der zentralasiatischen Mohammedaner verändern wollte, versuchte sie sowohl die alten mohammedanischen Traditionen zu zerschlagen, wie auch an deren Stelle die Sowjetgesetzbücher einzuführen 1o • Planung im eigentlichen Sinne ist eine Erscheinung, welche überall in der modernen Welt anzutreffen ist. In sozialistischen Staaten versteht sich dies von selbst, aber auch die westlichen Industriemächte und die neuen Nationen machen in mehr oder weniger großem Ausmaße von der Planung Gebrauch. Heute scheint jede Gesellschaft an die Nützlichkeit einer massiven, vom Zentrum aus geleiteten Infusion von Recht zu glauben. Der Versuch, mit Hilfe des Rechtes sozialen Wandel zu erreichen, ist ein Grundzug der modernen Welt. Revolution im eigentlichen Sinne ist die auffallendste und lebendigste Form der Zerschlagung. Mildere Formen lassen sich jedoch überall finden. Die richterliche Kontrolle von Staatsakten hat oft Züge der Zerschlagung. Rechtliche Zerschlagung kann illegale Formen annehmen: Straßen werden blockiert, Blut wird über die Akten von militärischen Aushebungsbehörden gegossen. Gewisse Formen zivilen Widerstandes sind ebenfalls illegal. Ein legales und legitimes Mittel ist die gerichtliche Klage. Reformer sind oft vor Gericht gegangen, um alte und etablierte Einrichtungen umzustürzen. Dieser Gebrauch des Gerichtsverfahrens entspricht einer älteren amerikanischen Haltung, welche im Kapitel über die Rechtskultur schon besprochen wurde. Die bekanntesten Prozesse finden vor Bundesgerichten statt und drehen sich um verfassungsrechtliche Streitfragen. Aber die Bewegung hält sich nicht in dieM. Friedman und Jack Ladinsky: EI Derecho como Instrumento de Cambio Social Incremental, Derecho, no. 27, 22 (Lima, 1969). 10 Gregory Massell: Law as an Instrument of Revolutionary Change in a Traditional Milieu: the Case of Soviet Central Asia, 2 Law and Society Rev. 179 (1968).

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Kap. X: Sozialer Wandel und Rechtswandel

sen Grenzen. Man beschreitet den Prozeßweg ebenso zur Verhinderung des Baus von Autostraßen und Flughäfen wie zum Kampf gegen Brutalitäten der Polizei und die Rassentrennung. Die Gefahr der Bewegung liegt in der Tatsache, daß sie zersetzend ist. Gerichte können wohl Entwicklungen stoppen, aber sie können diese Entwicklungen nicht durch andere ersetzen oder in andere Bahnen lenken. Sicher haben Bundesgerichte die Grenzen von Schuldistrikten festgelegt, die Schulen angewiesen, Kinder mit Bussen von einem Ort zum andern zu transportieren, die Grenzen von Bundesstaaten neu festgelegt und auch konkursite Eisenbahngesellschaften verwaltet. Wichtiger ist jedoch, daß sie Fehdehandschuhe geworfen hatten, welche die Verwaltungsbehörden aufheben mußten. In dieser Weise macht Zerschlagung den Weg für die Planung frei. Der Supreme Court von Kalifornien zerstörte die rechtliche Basis des Finanzierungssystems für die Schulen dieses Staates l l . Das war eindeutig ein Akt der Zerschlagung, aber er zwingt Kalifornien vielleicht, eine alternative Lösung zu planen. Die Zerschlagung durch Gerichte wurde gelobt und getadelt. Sie wird vermutlich andauern - unabhängig von der politischen Einstellung neuer Richter. Die Annahme einer aktivistischen Haltung scheint keine bloße Laune des Supreme Court zu sein; es ist eine grundlegende Entwicklung. Auch wenn sich die meisten Richter nicht als Aktivisten betrachten, tut dies doch eine gewichtige Minderheit unter ihnen, und solange es Kunden gibt, welche diese Haltung ausnützen wollen, werden die aktivistischen Richter immer wieder Gelegenheit zu deren Anwendunghaben. Wird sich diese amerikanische Erscheinung auch auf andere Länder ausbreiten? Kreative Zerschlagung durch Gerichte setzt eine Anzahl von Bedingungen voraus, welche selten zusammentreffen. Einmal muß der juristische Berufsstand eine aktivistische Haltung einnehmen. Es gab immer schon politische Juristen in den USA, ihre Zahl vergrößerte sich jedoch in den 1960er Jahren dank der Unterstützung und Finanzierung durch die Bundesregierung und private Stiftungen. Das Geld war wichtig. Ein Jurist hatte als Preis für die Verwirklichung seiner Ideale nicht mehr mit einem in mühseliger Armut verbrachten Leben zu zahlen. Die zweite Voraussetzung sind aktivistische Richter. Neben den USA gibt es wenige Länder, welche diese Voraussetzung erfüllen können. Ein aktivistischer Richter ist nicht notwendigerweise ein liberaler Richter. Er ist ein Richter, der keine Angst davor hat, eine Rechtsregel zu ändern oder ein System umzustoßen. Die meisten amerikanischen Richter. Er ist ein Richter, der keine Angst davor hat, eine Rechtsregel zu stens in kleinen Schritten, aber eine Minderheit war aktivistisch. 11

Serrano v. Priest, 5 Cal. 3rd 584, 487 P. 2d 1241 (1971).

Recht und bedeutender sozialer Wandel

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Die dritte Voraussetzung ist eine echte soziale Bewegung, deren Werte zumindest von einigen der Richter für maßgebend gehalten werden. Dies ist eine Voraussetzung, welche leicht erfüllt werden kann und die auch die meisten Gesellschaften erfüllen. Die letzte Voraussetzung wird vielleicht am schwersten erfüllt. Die Träger der Macht, die Eliten, müssen die Resultate der zerschlagenden Rechtsprechung akzeptieren - ob sie sie billigen oder nicht. Kein sozialistisch oder autoritär regiertes Land wird deshalb etwas tolerieren, was auch nur im entferntesten der amerikanischen Form richterlicher Kontrolle von Regierungsakten gleicht. Noch weniger würden krassere Formen der Zerschlagung geduldet. Die Rechtsstrukturen jener Länder erlauben solche Verhaltensmuster nicht. Die Struktur ist aber nicht das allein Entscheidende. Als das oberste Gericht von Südafrika sich in geringem Maße in die Rassenpolitik der Regierung einzumischen schien, entzog ihm diese die entsprechende Entscheidungskompetenz 12• Auch dominierende Mehrheiten in den USA könnten die Arbeit von Gerichten zunichte machen, wenn sie genügend aufgebracht wären. Von Zeit zu Zeit haben sie dies auch getan. Erstaunlich ist, wie selten eine solche Konterrevolution Erfolg hat. Meistens läßt sich die Mehrheit, der manchmal reiche und mächtige Leute angehören, von den Gerichten herumstoßen. Die meisten Leute sind entweder der Ansicht, daß die Tätigkeit der Gerichte ihnen oder ihrer Gruppe im Gesamten gesehen Vorteile bringt, oder sie vertrauen den Gerichten oder glauben an eine unabhängige richterliche Gewalt. Oder sie wollen nichts riskieren, weil die Alternativen unbekannt oder undenkbar sind. Das Einverständnis kann sogar trotz gegenteiliger Interessen der Mehrheit bestehen. Aber Interessen sind, wie wir oft gezeigt haben, keine Forderungen. Die Entscheidung, ein Interesse durchzusetzen, es zu einer Forderung zu machen, hängt von der Rechtskultur ab, d. h. von den Vorstellungen darüber, wann es nützlich und richtig ist, eine bestimmte Art von Forderungen ans Recht zu stellen. Liberale Theorien halfen im 19. Jahrhundert mit, die Arbeiter davon abzuhalten, ihre latent vorhandene Macht zu einer für ihre Interessen günstigen Reform des Staates zu gebrauchen. Der Glaube an die Nützlichkeit eines gemäßigten Wohlfahrtsstaates vermag die Mittelklasse oder sogar die machtvolle Oberklasse vielleicht davon zu überzeugen, daß es besser ist, zerschlagende Reformen durch die Gerichte zu dulden. 12 Im Jahre 1952 erklärte die Berufungsabteilung des südafrikanischen Supreme Court ein Gesetz, welches das Stimmrecht der "Cape Coloureds" einschränkte, für verfassungswidrig. Das süd afrikanische Parlament erließ ein Gesetz, welches ihm selbst die Kompetenz gab, als höchste Instanz zu entscheiden, und machte das Urteil rückgängig. Spätere Gesetze schränkten die richterliche Kontrolle weiter ein. Internationale Juristenkommission: South Africa and the Rule of Law, 1960, S. 15 f.

19 Frledman

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Kap. X: Sozialer Wandel und Rechtswandel

Die Macht der Richter ist vielleicht auf Sand gebaut. Immer wird sie sicher nicht bestehen. Eine bestimmte Grenze werden die Gerichte nicht überschreiten; täten sie es, so würden sie auf den Widerstand von dominierenden Interessen stoßen. Es ginge dann um etwas Einschneidenderes als den Standort von neuen Flughäfen. Das Einverständnis mit den Gerichten ist jedoch eine wichtige soziale Tatsache. Es ist eine Voraussetzung für den von Gerichten getragenen sozialen Wandel, welche wenige Gesellschaften erfüllen oder erfüllen werden. Die amerikanischen Gerichte haben, unter Benützung von alten und konservativen Formen, eine erstaunliche Kraft in der Verursachung und Kanalisierung sozialen Wandels gezeigt. Die Herstellung dieser Revolution dauerte lange und hat viel gekostet, ein Export ins Ausland wird darum sehr schwierig sein. Rechtswandel im großen: Theorien über die Evolution des Rechts 13 Bis jetzt wurde nicht diskutiert, in welcher Richtung sich der Rechtswandel bewegt. Können Muster erkannt werden? Kann man von einer EvoZution des Rechtes sprechen, von einer Evolution der ganzen Rechtssysteme, der einzelnen Rechtsregeln oder der Regelsysteme? Gibt es "Gesetze" der Rechtsentwicklung? In der Literatur wird die Rechtsevolution seit mehr als einem Jahr~ hundert behandelt. Es ist jedoch fraglich, ob der Begriff der Evolution in bezug auf das Recht verwendet werden kann. Evolution bedeutet ein Fortschreiten von einer niedrigeren oder weniger komplexen zu einer höheren oder komplexeren Form. In der Biologie ist Evolution ein natürlicher, automatischer Prozeß. Weder die Protozoen noch der Mensch, noch die sie verbindenden Zwischenglieder, beabsichtigten eine solche Entwicklung. Es kommt auch nicht zwangsläufig zu biologischem Fortschritt. Neben und manchmal im Menschen hat die Amöbe überlebt. Eine evolutionäre Theorie des Rechtes würde voraussetzen, daß erstens höhere und niedrigere Stadien der Entwicklung des Rechts (A, B und C) unterschieden werden können, und daß zweitens eine empirisch nachprüfbare Aussage über die Abfolge oder Ordnung dieser Stadien gemacht werden kann. Das heißt nun nicht, daß alle Rechtssysteme das höchste Stadium C erreichen müssen, aber daß sie, wenn sie es tun, zuerst die Stadien A und B durchlaufen haben 14• Schon vor Darwin begann man nach solchen Stadien oder Erscheinungsformen des Rechts zu suchen. Sir Henry Maines Ancient Law, ein 13 Vgl. Lawrence M. Friedman: On Legal Development, 24 Rutgers L. Rev. 11, 16 ff. (1969); Leopold Pospisi1: Anthropology of Law: A Comparative Theory, 1971, Kap. 5; Niklas Luhmann: Rechtssoziologie, 1972, Bd. I, S. 132 ff. 14 Richard Schwartz und James C. Miller: Legal Evolution and Societal Complexity, 70 Am. J. Sociology 159 (1964).

Rechtswandel im großen: Theorien über die Evolution des Rechts

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bahnbrechendes Werk, erschien 1861. Maine war der Ansicht, daß sich die Rechtssysteme nach einem bestimmten Muster, in einer bestimmten Folge entwickelten. Er zeigte diese Entwicklung von der ersten römisChen Kompilation, dem Zwölf tafel gesetz, bis zu seinem eigenen Recht des 19. Jahrhunderts auf. Die Hauptumrisse des Verlaufes sind klar zu erkennen. Sir Henry bezeichnete das frühe Recht als patriarchalisch. 'l'räger von Rechten und Pflichten war nicht das Individuum, sondern die Familie 15 • Aus der Familie heraus entwickelte sich der Staat. Der Häuptling oder König bildete seine Macht nach dem Vorbild der patriarchalischen Gewalt aus. Die Stellung innerhalb der Familie und die Stellung der Familie innerhalb der sozialen Ordnung bestimmte die nechte und Pflichten einer Einzelperson. Die rechtliche und soziale Stellung eines Individuums wurde durch seine Geburt unabänderlich festgesetzt. Die frühe Gesellschaft war eine Status-Gesellschaft. Dieses Frühstadium bildete den Ausgangspunkt der Entwicklung. Eine berühmt gewordene Passage Sir Henrys lautet: "The movement of the progressive societies has been uniform in one respect ... The individual is steadily substituted for the Family, as the unit of which (:ivil laws take account." (In einer Hinsicht haben sich die progressiven Gesellschaften gleichartig entwickelt ... Im Privatrecht wurde die Familie als rechtliche Einheit durch die Einzelperson ersetzt.) Der Status als Basis der sozialen Organisation wurde verdrängt. An seine Stelle trat der Vertrag, "the free agreement of Individuals", (das freie gegenseitige Einverständnis der Individuen). In der modemen Gesellschaft entschied Leistung und nicht Geburt, individueller Erfolg und nicht Status oder Zuschreibung. Das Ergebnis, ja das Ziel dieser Jahrhunderte dauernden Evolution war die Aufwertung der Leistung, des Vertrages und des Individuums. ,,(T)he movement of the progressive societies has hitherto been a movement from Status to Contract", lautet der berühmte Satz Sir HenrysHI. (Die progressiven Gesellschaften haben sich bis jetzt vom Status weg zum Vertrag hin bewegt.) Sir Henry war nicht der einzige Sozial theoretiker, welcher in der Geschichte der Rechtsinstitutionen ein Muster dieser oder ähnlicher Art sah. Emile Durkheim hat in seinem berühmten Werk "De la division du travail social" eine Theorie der Rechtsentwicklung entworfen. Frühes Recht war hauptsächlich Strafrecht. Das Recht war einfach und repressiv, die Institutionen waren undifferenziert. Die ganze Gemeinschaft setzte das Recht entweder selbst oder mit Hilfe von Institutionen durch, welche die gesamte Gemeinschaft repräsentierten. Die moderne Gesellschaft wird von der organischen Solidarität zusammengehalten. Diese beruht auf der gewollten Arbeitsteilung und 15 18

19·

Maine: Ancient Law, z. B. S. 244 - 303. Ders., S. 170.

292

Kap. X: Sozialer Wandel und Rechtswandel

damit der gegenseitigen Abhängigkeit der Gesellschaftsmitglieder. Die Gesellschaft ist komplex, ihre Teile erfüllen hoch speziahsierte Funktionen. Das Hauptinteresse des modemen Rechts gilt dem Vertrag. Die unzähligen, komplexen Beziehungen untereinander regeln die Menschen mit Hilfe des Vertrages. Da der Vertrag und das Vertragsrecht zentrale Bedeutung für die Gesellschaft haben, setzt das Zivilrecht die meisten rechtlichen Sanktionen fest. Diese Sanktionen sind deshalb meist wiedergutmachend, ihr Ziel ist nicht Bestrafung, sondern nur Rückkehr zum früheren Zustand 17 • Auch Weber hat sich ausführlich mit der Entwicklung des Rechts befaßt. Er hat allerdings keine eigentliche Theorie der Evolution des Rechts entwickelt. Ihn interessierte der grundlegende Unterschied zwischen den modernen westlichen Gesellschaften und den früheren Gesellschaftsformen. Er sah seine Lebensaufgabe darin, das Geheimnis der westlichen Welt und ihrer besonderen sozialen und wirtschaftlichen Ordnung Zu erforschen. Für Weber prägte die Rationalität die modeme, westliche, kapitalistische Gesellschaft1 8• Rationalität durchdrang die Religion, die Regierungsform, das Wirtschaftsleben und das Recht. Weber unterteilte die Rechtssysteme in vier (ideale) Grundtypen. Rechtsschöpfung und Rechtsfindung können in materieller oder formeller Hinsicht rational oder irrational sein. Die Rechtstechnik war in formeller Hinsicht irrational, wenn die Methode der Entscheidungsfindung nicht durch den Verstand kontrolliert werden konnte. Ein Orakel spricht, gibt aber keine Begründung. Es ist unberechenbar und unkontrollierbar. Die zehn Gebote entstanden auf formell irratlOnalem Wege. Moses, der sich auf eine direkte Offenbarung berief, präsentierte die Tafeln und verkündete: "Dies ist das Recht." Zweikampf oder Gottesurteil sind irrationale Methoden der Streitschlichtung. Aus ihren Resultaten kann keine allgemeine Regel abgeleitet werden. Der Ausgang der Streitschlichtung kann mit Hilfe des Intellektes nicht vorausgesagt werden. Weber stellte fest, daß auch das englische Schwurgerichtsverfahren einen irrationalen Beigeschmack habe. Denn der Entscheid der Jury entzieht sich, wie das Orakel oder das Gottesurteil, der Kontrolle durch den Intellekt l8 • 17 Der Soziologe Ferdinand Tönnies machte eine der Durkheimschen ähnliche Unterscheidung zwischen der Gemeinschaft (dem GebIet des intimen, privaten und exklusiven Zusammenlebens) und der Gesellschaft (dem öffentlichen Leben, einer gedachten und mechanischen Struktur). DIe Gemeinschaft war alt, die Gesellschaft sowohl als Name wie als Erscheinung neu. Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. Auf!., Nachdruck 1963, S. 8 - 83. 18 Vgl. Kap. VIII. Zum Begriff der RationalItät in Webers Werk vgl. Talcott Parsons Einführung zu Max Weber: The Theory of Social and Economic Organization, 1964, S. 80. ID Max Weber: Rechtssoziologie, hrsg. v. J. Winckelmann, 1960, S. 183 f. Für Weber waren Rechtsschöpfung und Rechtsfindung in materieller Hinsicht

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Rechtsschöpfung und Rechtsfindung sind rational, wenn allgemeine Prinzipien oder Regeln angewendet werden. Der rationale Jurist gebraucht keine Magie, wird nicht von ihr beeinflußt und läßt sich auch nicht von den konkreten Faktoren des Einzelfalles lenken. Das Leitmotiv des modernen Rechts ist die formelle Rationalität, "eine spezifisch fachmäßige juristische Sublimierung des Rechts". Das moderne Recht berücksichtigt ausschließlich eindeutige, generelle Tatbestandsmerkmale. Allgemeine Prinzipien bilden seine Grundlage. Im formell rationalen Recht werden die rechtlich relevanten Tatbestandsmerkmale durch die logische Analyse des Sinnes gewonnen. Daher werden hoch abstrakte Regeln, welche auf bestimmten Rechtskonzepten beruhen, formuliert und angewendeFo. Das rationale Rechtssystem ist universalistisch, das irrationale ist partikularistisch. Das rationale Rechtssystem ist nicht auf Status, sondern auf Vertrag ausgerichtet21 • Weber behauptet nicht, das rationale Rechtssystem sei besser als das irrationale oder das irrationale sei eine niedrigere Form. Dem irrationalen Rechtssystem fehlen jedoch die begriffliche Kraft und die Grundprinzipien; es kann deshalb kein klares, berechenbares Rechtschaffen und ist für die moderne, bürokratisch und geschäftsmäßig organisierte Welt wenig geeignet. Das moderne Recht ist rational, das vormoderne, das antike und das Recht der Urgesellschaften war irrational oder stand zumindest auf einer niedrigeren Stufe der Rationalität. irrational, wenn "ganz konkrete Wertungen des Einzelfalls, seien sie ethische oder gefühlsmäßige oder politische, für die Entscheidung maßgebend sind, nicht aber generelle Normen". Max Weber, ebd. S, 102. Weber machte eine parallele Unterscheidung zwischen formeller und materieller Rationalität bei wirtschaftlichen Vorgängen, Max Weber (N. 18), S. 184 f. 20 Nach Weber gibt es zwei Typen des rechtlichen Formalismus. Beim einen sind die rechtlich relevanten Tatbestandsmerkmale sinnlich· wahrnehmbarer Natur, z. B. eine Unterschrift; Max Weher (N. 19), S. 102. Der zweite ist der im Text diskutierte Typus. Der Leser wird bemerkt haben, daß Webers Beschreibung der formellen Rationalität besser zum kontinentaleuropäischen Recht als zum common law paßt. Der Rationalitätsgehalt des common law ist tatsächlich, wie Weber erkannte, geringer. Die materielle Rationalität gibt den ethischen. Imperativen, utilitaristischen und anderen zweckbezogenen Postulateri und politischen Maximen, welches die Quellen seiner Normen sind,eine dominierende Stellung. . 21 Talcott Parsons: Evolutionary Universals in Society, 29 Am. Soc. Rev. 339 (1964). Harry Johnson erklärte. den Unterschi,ed zwischen, Universalismus und Partikularismus in der folgenden Weise: Einige Pflichten gegenüber bestimmten Personen sind in der Art der sozialen Stellung dieser Personen begründet ... So beruhen die Pflichten eines Sohnes gegenüber seinem Vater auf dessen sozialer Stellung im Verhältnis zum Sohne. Die Eigenart des Vaters als Mensch hat wenig Einfluß aufdiePflichteri des Sohnes. Solche Pflichten sind partikularistisCh ';' .. Ein RiChter spielt im Gerichtssaal dagegen eine stark universalistisCheR61le. Von ihm wird erwartet, daß er sein Urteil unabhängig von der.sozialen Stellung der Personen, welche vor den Schranken stehen, aufgrundabsolut unpersönlicher Gesichtspunkte der Gerechtigkeit fällt. Harry M. Johnson;,Sociology: A Systematic Introduction, 1960, S.138.

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Die Meinung, daß das moderne Recht im allgemeinen rationaler als das ältere sei, ist weit verbreitet. Taleott Parsons ging noch einen Schritt weiter. Er sieht in der Rationalität des Rechtes eine Ursache oder Voraussetzung und nicht eine Wirkung der Modernisierung. EiQ universalistisches Rechtssystem sei ungeheuer wichtig für die fort:schreitende Evolution der Gesellschaft, meint Parsons22 • Ein allgemeines Rechtssystem (general legal system) ist ein Evolutionsuniversal und für bestimmte höhere Stadien allgemeiner Anpassungsfähigkeit notwendig. Parsons definiert das allgemeine Rechtssystem als ein zusammenhän:' gendes System universalistischer Normen ... inhaltlich von sehr abstrakten Prinzipien und Standards geprägt. Das System ist relativ unabhängig, sowohl von den religiösen Institutionen, welche die norma" tive Ordnung der Gesellschaft legitimieren, wie auch von den etablierten Interessengruppen des operativen Sektors der Gesellschaft, im besonderen der Regierung. Die Charakteristika, welche von dieser Definition umfaßt werden, sind in der Mehrzahl formale Charakteristika des Rechts. Im großen Ganzen sind sie Variationen über das Thema, das Weber formelle Rationalität nannte2 3• Richard Schwartz und James C. Miller24 versuchten, aufgrund anthropologischer Daten ein System der evolutionären Entwicklung des Rechtes aufzuzeigen. Anhand von Daten über einundfünfzig Gesellschaften zeigten sie, daß es möglich ist, die Entwicklungsstufen von rechtlichen Institutionen zu bestimmen. Einige der Gesellschaften der niedrigsten von vier Entwicklungsstufen hatten keine Polizei, keine Anwälte und keine bestimmten Formen der Vermittlung. In der obersten Stufe waren alle drei Reehtsinstitutionen vorhanden. Als erstes schienen die Gesellschaften bestimmte Formen der Vermittlung zu entwickeln, dann eine Polizei und zuletzt die Anwaltschaft. Keine Gesellschaft hatte wohl Rechtsvertreter, aber weder eine bestimmte Form der Vermittlung noch eine Polizei. Wenige Gesellschaften hatten zwar eine Polizei, aber keine bestimmte Form der Vermittlung. Nur sieben der untersuchten Gesellschaften (darunter das kaiserliche Rom, England unter Elisabeth 1. und die Tschechoslowakei) hatten die Entwicklungsstufe des Rechtsvertreters erreicht. Die meisten dieser einundfünfzig Gesellschaften hatten noch keine schriftliche überlieferung. Die sicher interessante Studie vermag also wenig über Rechtsevolution in geschichtlichen ZeitabschnitParsons (N. 21), S. 339, 340 - 341, 351. Mare Galanter versuchte eine Definition dessen, was ein Rechtssystem modern macht. Er beschrieb elf Charakteristika, welche seiner Ansicht nach Eigenheiten bilden, die ungefähr die Rechtssysteme der industrialisierten Gesellschaften des letzten Jahrhunderts prägten. Mare Galanter: The Modernization of Law, in M. Weiner (Hrsg.): Modernization, 1966, S. 153, 154 - 156. 24 Legal Evolution and Societal Complexity, 70 Am. J. Soe. 159 (1964); ihre Arbeit wurde von Howard Wimberley weitergeführt in: Legal Evolution: One Further Step, 79 Am. J. Soe. 78 (1973). 22

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ten auszusagen. Sir Henry Maines Werk begann dort, wo Schwartz und Miller aufhörten. Philip Selznick entwarf eine Theorie über das, was man Mikroevolution nennen könnte: wie sich das Recht in Organisationen entwickelt, die nur Teile des Gesellschaftsganzen sind. Selznick ist der Ansicht, das eigentliche Ziel jeden Rechtssystems oder rechtlichen Subsystems sei die Legalität2$. Die Legalität fehlt den Systemen, in welchen die Regeln willkürlich festgesetzt werden, d. h. ohne Berücksichtigung der relevanten Interessen; ebenso den Systemen, in welchen keine klare Beziehung zwischen der bekanntgemachten Regel und ihrem offiziell gewollten Zweck besteht, wo die Regeln widersprüchliche Zielsetzungen widerspiegeln oder auf Unwissenheit und Irrtum basieren. Ein System, welches den von Selznick als formelle Gerechtigkeit bezeichneten Anforderungen genügt, ist bürokratisch und positivistisch. Formelle Gerechtigkeit ist ein besseres Stadium, erreicht aber die volle Legalität noch nicht. Dieses höchste und nur selten erreichte Stadium liegt dann vor, wenn das Recht sich mit echter Problemlösung beschäftigt und eingeschworen ist auf Rationalität, Selbstbestimmung des Menschen und ziemlich allgemeine soziale Ideale 26 • Sowohl Teile der Gesellschaft, wie auch die Gesellschaft als Ganzes, können die Stufen der zunehmenden Legalität hinaufsteigen. Dieselbe Entwicklung ist beim "Rechtssystem" einer Fabrik, einer Schule, eines Spitals oder eines Gefängnisses, wie auch bei einer ganzen Nation möglich.

In der Literatur über die moralische Entwicklung der Kinder wurde eine Theorie entwickelt, auf welche sich Selznick zumindest im Sinne einer Analogie abstützen kann. Einige Wissenschaftler sind der Ansicht, der Lernprozeß bei Kindern bezüglich der Verhaltensregeln führe über bestimmte Stadien. Jedes Stadium besitzt seinen eigenen Stil des Argumentierens und Urteilens über moralisches Verhalten27 • Schon sehr kleine Kinder verstehen, daß sie bestraft werden können, wenn sie sich schlecht aufführen. Größere Kinder begreifen die subtilere Idee des Begriffs von Ruhe und Ordnung. Die Verhaltensregeln müssen nicht eingehalten werden, weil sonst die Gefahr einer Bestrafung besteht, sondern weil ohne sie die Gesellschaft auseinanderfallen würde. Noch später lernen und akzeptieren einige der Kinder autonome re moralische Prinzipien28 • 25 Selznicks Theorie hat einen stark normativen Geschmack, ebenso wie auch einige andere Evolutionstheorien. Offenbar kann der Idee, daß das Moderne und Rationale besser ist als das Alte und Irrationale, schwer widerstanden werden. 26 Philip Selznick: Law, Society and Industrial Justice, 1969, Kap. 1, Law, Society and Moral Evolution. 27 Die Pionierarbeit leistete Jean Piaget: Le jugement moral chez l'enfant, 3. Aufl., 1969.

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Man ist versucht, diese Theorien zu verallgemeinern. Bestimmte Rechtsformen und bestimmte Haltungen gegenüber dem Recht sind "primitiver", kindlicher, andere sind reifer oder fortschrittlicher. Es gibt also eine natürliche Entwicklung oder Evolution des sozialen Lebens und des Rechts. Ein paar kritische Worte sind jedoch angebracht. Die Entwicklung des moralischen Urteils von Kindern erlaubt nicht ohne weiteres die Erklärung des Rechtsverhaltens von Erwachsenen. Auch wissen wir nicht, ob die Normen, welche als Testmaterial für die Einstellung der Kinder dienten, inhaltlich einem guten Querschnitt aus der Gesamtheit der gesetzlichen Normen entsprachen. Viele Normen, Parkvorschriften z. B., verbleiben wahrscheinlich auf einer "primitiven" Kosten-NutzenStufe. Normen über Mord, Brandstiftung und Vergewaltigung mögen für den Erwachsenen wegen der moralischen und traditionellen Haltungen mehr Gewicht haben. In diesem Buch wurde betont, daß N ormen und Regeln sehr verschiedenartig sind. Sie werden in verschiedenen Verpackungen unter verschiedenen Markenzeichen der Legitimität an den Mann gebracht. Die Methoden für ihre Durchsetzung werden mit unterschiedlicher Dosierung angewendet. Selznick nimmt offenbar an, nur eine einzige Art der Legalität sei die beste. Diese Art passe zu jeder Institution, welche genügend groß und komplex ist. Dies ist nicht mehr als eine Annahme, die sich auf keine empirischen Grundlagen stützen kann. Wenn der Ausgang der Entwicklung tatsächlich nicht zweifelhaft wäre, wenn Legalität ein automatischer Prozeß und nicht das Ergebnis eines andauernden Kampfes wäre, so hätte es keinen Sinn, die Menschen und Institutionen anzuspornen, nach diesem Ziel zu streben. Die Theorie wäre dann kaum normativ, sondern vielmehr deskriptiv. Einige Probleme der Evolutionstheorien Die Evolutionstheorien kranken an verschiedenen Problemen allgemeiner wie spezieller Art. Eines ist, daß sie nur einen beschränkten Kreis von rechtlichen Gegebenheiten berücksichtigen. Die Theorien stützen sich auf die Teile des Rechts ab, welche am formalsten sind. Es ist schwierig, etwas anderes zu tun. Nichtformales Verhalten ist nicht haltbar, wie das Fleisch toter Tiere verschwindet es mit der Zeit. Den Historikern wie Paläontologen verbleiben nur die Skelette zur 28 Lawrence Kohlberg: Development of Moral Character and Moral Ideology, in M. Hoffman und L. Hoffman (Hrsg.): Review of Child Development Research, Bd. I, 1964, S. 383; June L. Tapp und Lawrence Kohlberg: Developing Senses of Law and Legal Justice, 27 J. Soc. Issues, Nr. 2, 65 (1971).

Einige Probleme der Evolutionstheorien

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Untersuchung. Webers Typologie beruht hauptsächlich auf der fonnalen Seite des Rechtsdenkens. Die Vorschriften über den Straßenverkehr von London oder München sind sicher auch Teil des Rechtssystems von England oder Deutschland. Dennoch sind sie nicht rational im Sinne Webers. Er hat sich auch kaum mit ihnen beschäftigt. Die Linie zwischen modernem und nichtmodernem Recht verschwimmt, wenn man die Rechtssysteme als Ganzes betrachtet. Das moderne Recht ist sicher bürokratischer, es neigt weniger zur Magie und zum Ritual. Ist es aber rationaler im Sinne Webers als das Recht der Antike? In Sir Henry Maines geflügeltem Wort über die Bewegung vom Status zum Vertrag ist deutlich der Geschmack des Liberalismus des letzten Jahrhunderts zu spüren. In einer Zeit aktiver Verwaltungstätigkeit haben einige eine Rückkehr zum Status gesehen. Das zwanzigste Jahrhundert, jenes nach Sir Henry, hat sich kaum in die Richtung des freien Vertrages bewegt. Im viktorianischen England - zumindest, wie es sich damals selbst gesehen hat - schien der Vertrag eine größere Rolle zu spielen als in den heutigen Staaten mit teilweiser oder umfassender Planwirtschaft. Ist die nächste Stufe der Rechtsevolution also die Planwirtschaft? Die modernen Wohlfahrtsstaaten, wie die skandinavischen Staaten oder England, kehrten nicht zum Status im eigentlichen Sinn zurück. Und doch wird das Schlagwort der Vertragsfreiheit der heutigen Situation nicht gerecht. Manfred Rehbinder ist der Ansicht, nicht der Status, sondern die Rolle stehe im Brennpunkt des modernen Rechts. Das auf sich allein gestellte Individuum als Vorstellung des 19. Jahrhunderts ist gestorben; an seiner Stelle steht der Rollenspieler, der Mensch in sozialer Interaktion29 • Die Wissenschaftler des letzten Jahrhunderts mußten sich auf ihre begrenzten Kenntnisse abstützen. Neue Kenntnisse haben dazu geführt, daß heute die Richtigkeit der Grundlagen, auf welchen Durkheim und Maine aufbauten, bezweifelt wird. Die Anthropologen haben die Patriarchatstheorie aufgegeben30 • Untersuchungen konnten die These Durkheims, daß das Recht einfacher Gesellschaften zum größten Teil Strafrecht sei, nicht bestätigen. Das grundlegende Problem der Evolutionstheorien ist die Frage von Ursache und Wirkung. Wie soll man die Charakteristika des modernen Rechts auffassen? Sind sie Ursachen oder Wirkungen? Die Evolutionstheoretiker haben sich wenig um das Kausalproblem gekümmert. Parsons z. B. betont, daß das englische Rechtssystem eine 29 Manfred Rehbinder: Status. Contract and the Welfare State, 23 Stan. L. Rev. 941 (1971). 30 Vgl. Robert Redfteld: Maine's Ancient Law in the Light of Primitive Societies, 3 Western Pol. Q. 574 (1950).

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fundamentale Voraussetzung für die Modernisierung war, daß es kein Zufall war, daß die Industrielle Revolution dort begannst. Er beweist diese Behauptung jedoch nicht. Möglich ist aber auch, daß die Charakteristika des modernen Rechts nichts mit der Modernisierung zu tun haben, daß der Zusammenhang nur scheinbar besteht. Länder, deren männliche Bewohner Krawatten tragen, sind meist reicher als Länder, wo die Männer dies nicht tun. Diese Länder können aber nicht durch eine Änderung der Kleidermode modernisiert werden. Das Fehlen einer allgemeinen Theorie ist ein ernster Nachteil aller Konzepte der evolutionären Entwicklung des Rechts. Welcher Mechanismus erzeugt die Entwicklung des Rechts? Warum sollte die Entwicklung nur in einer Richtung gehen? Vernünftiger ist es anzunehmen, daß die verschiedenen Typen der Rechtssysteme parallel zu den verschiedenen Typen der sie umgebenden sozialen Systeme verlaufen. Sind die Faktoren A, Bund C typisch für ein Rechtssystem X, so erwarten wir die Existenz eines solchen Systems immer dann, wenn diese Faktoren vorhanden sind, unabhängig von der Zeit. Als wir z. B. die rechtliche Begründung besprachen, äußerten wir die Ansicht, daß ein geschlossenes System der Begründung immer dann entstehe, wenn bestimmte Voraussetzungen gegeben sind. Die rechtliche Begründung entwickelte sich also nicht evolutionär. Gleichzeitig mit den Faktoren, welche diese Systeme erzeugten, erschienen die geschlossenen und offenen Systeme in der Gesellschaft und verschwanden wieder. Die Lehre von der Evolution des Rechts setzt eine bestimmte Art des geradlinigen Fortschrittes voraus: geordneter und folgerichtiger Fortschritt. Ohne Zweüel verändern sich die Rechtssysteme, und die Geschichte wiederholt sich nicht. Die Geschichte des Rechts ist nicht zyklisch; das Recht der Griechen und Römer ist tot. Bei der Darstellung des Rechtswandels behandeln die Evolutionstheoretiker aber nur einen oder ein paar wenige abstrakte und grobe Züge. Die geordnete, in einer einzigen Richtung sich bewegende Abfolge, von der soviele Evolutionisten ausgehen, gibt es möglicherweise gar nicht. Die Systeme sind einmal positivistischer, zentralistischer, prozeßfreudiger, und dann setzt wieder eine Gegenbewegung ein. Komplizierte Gesellschaften haben eine komplizierte Geschichte. Ein Beispiel hiefür ist das russische Recht. Das zaristische Recht wurde ersetzt durch den revolutionären Positivismus; danach folgte in den frühen 1920er Jahren das positivistische System der Neuen Ökonomischen Politik, welches abgelöst wurde von der Rechtlosigkeit des stalinistischen Terrors; dann begann eine teilweise Wiedergeburt des rechtlichen Formalismus. Die Geschichte ist in vieler Hinsicht lehrreich, gibt aber keine Bestätigung für die Idee von 31

Talcott Parsons: Evolutionary Universals in Society, 29 Am. Soc. Rev.

339, 353 (1964).

Einige Probleme der Evolutionstheorien

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der geradlinigen Rechtsevolution. Die Untersuchung der Art und Richtung des Wandels irgendeines nationalen Systems oder einer Gruppe von Systemen würde zu keinem anderen Resultat führen. Auch die Beobachtung während eines längeren Zeitraums würde nichts daran ändern. Bei den Theorien über die Mikroevolution stellen sich ähnliche Probleme. Das Recht von Institutionen bewegt sich nicht nur in einer Richtung. Die Systeme gleiten von einer Kategorie zur anderen, vorwärts und rückwärts, hinein und hinaus. Betrachten wir das ganze Rechtssystem, nicht nur die Gerichte, betrachten wir alle Gesetze, Verordnungen und sonstigen Rechtsregeln und alle Institutionen, welche dieses Recht anwenden, so mag das Recht der Vereinigten Staaten, Englands und auch anderer Nationen starrer, formaler und routinehafter sein als vor zwei oder drei Jahrhunderten. Heute müssen Rechtssysteme jedoch formal und routinehaft sein. Offene Rechtsräume sind wichtig, aber es darf nur wenige geben. Für eine moderne Gesellschaft ist dies eine nackte Notwendigkeit. Es muß einheitliche Formvorschriften für Bank-Schecks geben, eine individuelle Gestaltung kann wegen ihrer großen Zahl nicht toleriert werden. Vertöße gegen Parkvorschriften können nicht einzeln erörtert werden. Die zukünftige Entwicklung mag in dieser Richtung weitergehen, möglich ist aber auch eine Entwicklung in einer anderen, nicht voraussehbaren Richtung. Wer kann voraussagen, welche Regelung die beste ist für jede nur denkbare Gesellschaft? Auch die ethischen Annahmen der Mikroevolution können in Frage gestellt werden. Das Stadium der Willkür kann nur schwer von jenem der moralischen, sachlichen und autonomen Legalität unterschieden werden. Manchmal sehen sich beide Stadien verdächtig ähnlich. Das willkürliche Vorgehen des einen mag des andern sachlich zutreffende und autonome Lösung des Problems sein. Ist Legalität in Selznicks Sinn immer ihren Preis wert? Das höchste Stadium kostet zweifellos mehr an Geld und Zeit als der Formalismus. Wäre es wirklich besser als die routinemäßige Verhängung der Parkbußen? Ohne Zweifel ist es das bessere Verfahren bei Mordprozessen. Manchmal bestehen gute Gründe, ein Schiff, eine Universität und sogar einen Staat nicht nach Grundsätzen der strikten Legalität zu führen. Die Vermutung soll zweifellos für die Legalität sprechen, jedoch auch diese Vermutung kann und wird oft widerlegt werden. Die Unterscheidung der verschiedenen Typen von Rechtssystemen kann auch unabhängig von rechtlichen Evolutionstheorien durchgeführt werden. Niemand wird den Inhalt des modernen englischen Rechts mit dem Recht zur Zeit Edwards 1., zur Zeit Augustus', oder mit dem Recht der Lozi verwechseln. Keines dieser Rechte enthielt Normen über Eisen-

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Kap. X: Sozialer Wandel und Rechtswandel

bahnen oder das Abhören von Telefongesprächen. Jedes neu geschaffene Werkzeug, jede neue technische Erfindung und jede neue soziale Organisationsform bringt einen Wandel der Rechtsnormen mit sich. Der Inhalt des Rechts ist der entscheidende Faktor. Das Verfahren und die Form passen sich dem Inhalt an und dienen seiner Durchsetzung. Unterscheidet sich das moderne Recht vom nicht modernen auch in der Struktur? Oberflächlich gesehen scheint dies so zu sein. Die bürokratische Organisation ist heute ein Charakteristikum des Staates und des Rechtes. Die Verwaltung lenkt das Wirtschaftsleben, sie gibt für soziale Zuwendungen Milliarden aus. Das Recht der modernen technologischen Gesellschaft muß bestimmter, formaler und legaler sein, mit weniger Raum für Normen des bloßen gesunden Menschenverstands als z. B. das Recht der Lozi. Wahrscheinlich sind die einzelnen strukturellen Merkmale des modernen Rechts nicht absolut neu. Neu ist jedoch die Art ihrer Verbindung. Der bedeutendste Unterschied zwischen modernem und nichtmodernem Recht ist wohl ein kultureller. Wir haben gesehen, daß die traditionellen Legitimitätstheorien von instrumentalen abgelöst wurden. Weber war der Ansicht, das moderne westliche Recht sei rationaler als andere Rechtssysteme. Er gab diesem Begriff eine besondere Bedeutung. Ob das moderne Recht besser als das antike Recht funktioniert, hängt aber von den Zielen des Rechtssystems ab. Es ist möglich, daß die älteren Systeme ihre Gesellschaften besser zusammen hielten, als dies das mexikanische oder schwedische Recht heute tut, oder daß diese Systeme den Bedürfnissen der damaligen Menschen besser angepaßt waren. Ob das moderne Recht rational ist oder nicht, glauben die Menschen, es sei rational oder, was noch wichtiger ist, es sollte rational sein.

über die evolutionäre Entwicklung der Rechtsnormen Jeder Rechtswandel ist ein einzigartiges historisches Ereignis. Soziale Kräfte, Geschichte und Kultur arbeiten fortwährend am Rechtssystem. Sie bewirken die Veränderung der Rechtsnormen, oder sie verlangsamen, formen oder mäßigen deren Wandel. Jeder Rechtswandel hat seine eigene Geschichte. Und doch wandelt sich das Recht in bestimmter, typischer Art und Weise s2 • Rechtsinstitutionen haben ihre Grenzen. Die Gesellschaft limitiert ihre Entscheidungsbefugnisse und Zuständigkeitsbereiche. Die meisten dieser Rechtsbehörden unterstehen einer Aufsicht, ihre Tätigkeiten werden überprüft. Ihre Zuständigkeit ist auf einen bestimmten Bereich 32 Vgl. Lawrence M. Friedman: Legal Rules and the Process of Social Change, 19 Stan. L. Rev. 786 (1967).

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beschränkt. Die Beschränkung erfolgt durch Gesetz, Gewohnheit oder manc~mal auch aus reiner Notwendigkeit. Es ist gut möglich, daß der Zuständigkeitsbereich nicht immer klar ist. Einige Behörden sind weniger beweglich als andere; sie haben geringere Aussichten, ihren Machtbereich zu erweitern und neue Aufgaben zu bewältigen. Manche Leute sind anpassungsfähiger als andere, die einen sind risikofreudig, andere nicht. Wichtiger für die Behörde ist allerdings der gesellschaftlich bestimmte Begriff ihrer legitimen Zuständigkeit. Er umgibt jede Behörde wie ein unsichtbarer elektrischer Zaun. Natürlich sind manche dieser Zäune beweglicher, flexibler als andere. Die Verfügungen der Beamten und Richter sind Rechtsakte, und wie alle anderen Rechtsakte sind sie die Ergebnisse verschiedener überlegungen. Stellt sich einer unteren Gerichtsinstanz die Frage, ob sie eine Rechtsprechung ändern solle oder nicht, so wird sie berücksichtigen, welche Folgen die Änderung für sie haben könnte (ob eine obere Gerichtsinstanz den Entscheid unter Mißbilligung aufheben oder eine andere Behörde sanktionierend eingreifen könnte). Zu beachten ist auch, wie die Allgemeinheit, inklusive die prozessierenden Parteien, reagieren wird. Entscheidend ist natürlich auch die Ausbildung der Richter, ihr Gerechtigkeitsgefühl und das Diktat der Rolle im vorliegenden Fall. Jede Behörde wird sich gemäß dem Druck, der von diesen drei Faktorengruppen ausgeht, verhalten. Zuständigkeitsregeln sind nämlich nichts anderes als die konkretisierte Fonn solcher Einflüsse. Eine Behörde fällt Entscheide und erläßt Regeln. Behörden, die Normen setzen, sind meist wichtiger als solche, die bloß entscheiden. Tun sie beides, so werden sie ihre Rechtssetzungsfunktion meist als wichtiger erachten als ihre übrigen Tätigkeiten. Regeln können objektiv sein oder einen Ennessensspielraum enthalten33 • Eine Regel ist objektiv, wenn ihr Sinn klar und unzweideutig ist. Eine Nonn mit Ennessensspielraum andererseits kann nicht ohne Ermessensbetätigung angewendet werden. Es ist nicht möglich, die beiden Arten von Nonnen scharf voneinander abzugrenzen. Die Regel, die bestimmt, daß das Wahlrecht allen Personen zusteht, die das 18. Altersjahr zurückgelegt haben, ist relativ objektiv; die Regel, daß ein Autolenker für den Schaden verantwortlich ist, den er durch seine Fahrlässigkeit verursacht hat, ist vergleichsweise gesehen eine Regel mit Ennessensspielraum. Das Rechtssystem entwickelt zu jeder Zeit neue Nonnen und ändert die Fonn und den Inhalt der alten Nonnen. Einige der alten Regeln sind Ennessensnonnen, andere nicht. Auch die Veränderungen gehen in beiden Richtungen. Jeder lebende Teilbereich des Rechtssystems be33 Vgl. Kap. II; Lawrence M. Friedman: Law, Rules, and the Interpretation of Written Documents, 59 Nw. U.L. Rev. 751 (1965).

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wegt sich mit dem Ziel, die Unsicherheit zu verringern. Diejenigen, die mit den Regeln arbeiten, wollen genauere Regeln, damit das Risiko und die Kosten der Unsicherheit gemindert werden. Gleichzeitig wirken neue Kräfte auf das Rechtssystem ein, die ihrerseits feststehende Normen in Frage stellen und so neue Unsicherheit bewirken. Wo früher objektive Normen waren, entstehen Normen mit Ermessensspielraum. Diese Ermessensnormen sind unstabil. Sie müssen sich zu näher spezifizierten Normen entwickeln. Ein feststehender Bereich objektiver Normen kann aber bestehen bleiben, solange sie niemand in Frage stellt. In der Gesetzgebung und Rechtsanwendung wird viel Zeit für die Verfeinerung, Differenzierung und Ergänzung allgemeiner Normen verwendet. Teilweise wird dies mit Normen des Gesetzgebers selbst gemacht, teilweise durch Behörden, die durch Delegation berechtigt sind, Subnormen zu erlassen. Die Fabrikgesetze des 19. Jahrhunderts z. B. enthielten vage Vorschriften. Die Arbeitgeber mußten "sichere" Arbeitsplätze zur Verfügung stellen. Ein Arbeiter konnte theoretisch seinen Arbeitgeber verklagen, falls er infolge einer schlecht gesicherten Einrichtung Verletzungen erlitten hatte. "Sicher" war aber ein solch ungenauer Begriff, daß der Ausgang des Prozesses darüber, ob die Klage des Arbeiters begründet sei, sehr unsicher, der Prozeß selbst aber teuer war. Ein wirklicher Schutz der Arbeitnehmer wurde erst geschaffen, als die verschiedenen Staaten spezielle Behörden zur überwachung der Sicherheitsvorschriften in Fabriken einsetzten34 • Diese Behörden erließen Regeln. Die einen waren allerdings reine Ermessensnormen, andere aber ziemlich genau. Die Behörde legte z. B. fest, daß Fabriken nur dann sicher seien, wenn Feuerlöschgeräte vorhanden seien, der Boden feuerhemmend sei und die Fenster eine bestimmte Größe hätten usw. Solange die Subnormen objektiv waren, konnten die Fabrikgesetze selbst viel Ermessensspielraum gewähren. Ist die Routine wichtig, etwa wenn viele Fälle zu behandeln sind, so besteht ein Bedürfnis nach objektiven Normen. Transaktionen, die im System in großer Zahl vorkommen, müssen standardisiert werden. Die Normadressaten können sich auf die objektiven Normen verlassen und vorhersehen, wie das System arbeitet. Das sind allgemeine Bedingungen. Sie deuten an, daß lebende Rechtsnormen sich als Teil ihres Lebenszyklus in Richtung Objektivität bewegen. Eine Norm ist lebend, falls die Rechtsadressaten sie benützen, falls sie von einer Behörde für oder gegen tatsächliches Verhalten angewendet wird oder falls sie Gegenstand der Anfechtung oder einer Kontroverse ist. Lebende Normen haben eine Tendenz zu mechanischer, quantitativer Form. Sie streben einen theoretischen Ruhepunkt an, an 34

z. B. Wis. Laws 1911, eh. 485, at 584.

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dem sie vollkommen quantitativ oder mechanisch sind. Eine Norm erreicht diesen Punkt auf einem von zwei Wegen. Unter Druck bringen die Normschaffenden die Regel selbst in eine quantitative Form, indem sie alle leeren, ermessensbedürftigen Teile ersetzen. Ein anderer Weg ist, die einzelne unklare Norm in verschiedene quantitative Teile zu zerlegen. So kann das Recht eine Regel über Sicherheitsvorkehrungen in Fabriken prismenartig in Subnormen über die Größe der Fenster, die Stärke des Bodens usw. unterteilen35 • Je quantitativer eine Norm ist, desto mechanischer ist ihre Anwendung oder ihr Gebrauch. Objektive Normen sind normalerweise die, welche numerische Begriffe enthalten. In unserer Gesellschaft haben Zahlen als solche zwar keinen magischen Gehalt, jedoch gehören die numerischen Begriffe wohl zu den mechanischsten und objektivsten. Ein Wort hat eine objektive Bedeutung, wenn jedermann mit dieser Bedeutung einverstanden ist, sie also unbestritten ist. Man ist sich einig darüber, daß zwölf Orangen ein Dutzend sind, und man weiß, wieviel zwölf Orangen sind. Man ist sich auch darüber einig, was eine Orange ist. Nicht unbedingt übereinstimmung besteht über die Beschaffenheit, den Geschmack oder den Wert der zwölf Orangen, ebensowenig darüber, wie viel eine Menge oder genügend Orangen sind. Was 18 Jahre alt bedeutet, ist viel eindeutiger, als was alt genug, reif oder erwachsen heißt. Viele Normen sind quantitativ, obwohl in ihrem Wortlaut eigentliche Zahlen fehlen. Nichts ist auch ein quantitativer Begriff. Eine Norm, die ein ausdrückliches Nicht enthält, ist quantitativ, der numerische Begriff dafür ist Null. Das ist eine gewöhnliche Art Norm. Man könnte sie als Rückweisungsnorm (rule of refusal) bezeichnen. Der Supreme Court entschied einmal, daß er auf keine Klage eintreten werde, mit welcher die Neueinteilung der Wahlkreise verlangt wird. Das war eine Rück:weisungsnorm. Sie war objektiv und quantitativ. Das Gegenteil einer Rückweisungsnorm ist eine Eintretensnorm (rule of reception). Auch sie ist quantitativ. Sie enthält ausdrücklich oder stillschweigend das Wort alle. Eine Bestimmung mit dem Wort alle kann umgestülpt und als verneinende Regel neu formuliert werden. So kann eine Norm, die bestimmt, daß das Gericht auf alle wichtigen Fälle eintreten muß, in eine Norm umformuliert werden, wonach das Gericht wichtige Fälle nicht abweisen darf. Eine Rechtsnorm ändert ihre Form natürlich nicht automatisch. Die Tendenz der Normen zur quantitativen Form ist ihnen nicht immanent; nichts in der Norm selbst drängt in diese Richtung. Alles hängt von 35 Der Ausdruck Normschaffende bezieht sich hier natürlich nicht nur auf die Gesetzesstufe; anders gesagt muß unter lebender Norm eine Norm mit all ihren vertikalen Subnormen verstanden werden.

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äußeren Kräften ab. Von rein technischen Änderungen und allgemeinen Gesetzesreformen abgesehen, bewirkt nur Anfechtung die Veränderung einer Norm. Viele Rechtslehrsätze, alte Regeln, Gesetze und veraltete Lehrmeinungen kommen nie vor ein Gericht oder eine andere Behörde, um interpretiert oder in Frage gestellt zu werden. Die einen sind totes Recht, die anderen Regeln starken Konsenses. Die hohen Kosten schirmen viele Rechtsnormen vor der gerichtlichen Behandlung ab. Je höher die Kosten eines Prozesses sind, desto weniger Konsens braucht es, um eine Norm vor Anfechtung zu schützen. Mehr Leute würden hundert als tausend Mark einsetzen, um für eine neue Regel zu kämpfen. Manchmal allerdings fördert der Staat selbst die Anfechtung, und manchmal sind die Leute so sehr daran interessiert, eine Regel anzufechten, daß sie jegliches Hindernis überwinden würden. Keine einzige Norm ist heute völlig stabil, falls sie Rechtsanwälte im Interesse der Öffentlichkeit oder ihrer Klienten ausschalten wollen. Keine Haftungsnorm ist ganz sicher, falls Millionen von Dollars bei ihrer Beseitigung auf dem Spiele stehen. In einem gewissen Sinne ist der Ausgang eines Prozesses niemals sicher. Theoretisch scheint zwar das Ergebnis vom Recht vorausbestimmt zu sein. Eine Partei muß aber immer noch mit Risiken und Unvorhersehbarem rechnen, die ihre Gewinnchancen beeinträchtigen könnten. Risiken gibt es viele: einmal den Richter selbst mit seiner persönlichen Einstellung, weiter die Geschworenen (falls solche vorhanden sind) mit ihren plötzlichen Einfällen oder die Fähigkeit oder Unfähigkeit der jeweiligen Parteivertreter. Es ist auch immer möglich, daß jemand in überzeugender Weise meineidig wird. Ebenso ist ein Fehler oder eine sonstige Unachtsamkeit im Prozeß möglich. Ein Problem ist auch der Sachverhalt selbst und wie er vorgebracht werden soll. Ein Beweis, der als völlig standfest galt, kann unter Umständen aus prozessualen Gründen nicht zugelassen werden. Routinefälle, wie Pfändung, Parkbußen und Konventionalscheidungen sind die am wenigsten unsicheren. Aber jeder wirklich umstrittene Fall enthält ein Risiko. Die Polizei gewinnt im allgemeinen alle Parkbußenfälle, aber nicht mehr unbedingt, wenn ein hartnäckiger Autofahrer den Fall vor Gericht bringt. Das verändert das Bild vollkommen. Die risikolosen Fälle kommen nicht vor Gericht, und alles, was vor Gericht gebracht wird, ist nicht ohne Risiko. Man spricht daher vom Ausgang eines Prozesses in Wahrscheinlichkeitsangaben, wie bei der Wettervorhersage. Eine gerichtliche Anfechtung kostet immer Geld. Die Chancen werden deshalb zum voraus geschätzt. Welche Wahrscheinlichkeit besteht, daß man den Prozeß gewinnt, wenn man eine Norm oder deren Auslegung anficht, sie aufzuheben, zu verändern oder neu auszulegen versucht? Einige Regeln sind formell gesehen sehr klar und

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eindeutig. Auf Autostraßen muß man rechts fahren. Niemand denkt daran, diese Regel anzufechten; es lohnt sich einfach nicht. Es besteht nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß ein Gericht sie ändern würde. Nehmen wir an, ein Automobilist wird wegen Linksfahrens in angetrunkenem Zustande angeklagt. Sein Anwalt könnte theoretisch geltend machen, die Straßenverkehrsbestimmungen seien ungültig, oder rechts im Sinne des Gesetzes bedeute in Wirklichkeit links. Die Erfolgsaussicht dieser Argumente wäre gleich Null. Niemand wird daher die Gültigkeit dieser Norm anfechten. Man kann also feststellen, welche Normen Anfechtung und Wandel am wenigsten unterliegen. Das Ergebnis ist, wenigstens oberflächlich gesehen, kaum aufregend: die Normen sind die stabilsten, deren Änderung am meisten kosten würde. Das sind die Normen, die erstens formell eindeutig klar sind und zweitens von hohem sozialen Konsens gestützt werden. Die beiden Punkte hängen voneinander ab. Nehmen wir an, eine mögliche Anfechtung würde eine Million Mark kosten, andererseits stünden die Gewinnchancen in einem Verhältnis von eins zu tausend. Das würde jedermann abschrecken, der entweder das nötige Geld nicht hat oder dem eine Änderung der Norm nicht soviel wert ist. Aber warum kostet Anfechtung soviel? Warum sind die Gewinnchancen so gering? Nur einen Teil der Kosten kann man mit dem normalen Aufwand erklären, der mit der Beiziehung eines Anwalts, der Anrufung der Gerichte und dem ganzen Verfahren verbunden ist. Der restliche Teil hängt von der Standfestigkeit der Regel ab. Je stärker die die Rechtsnorm stützenden sozialen Kräfte sind, desto schwieriger und teurer ist es, die Norm zu beseitigen. Eine quantitative Norm hat zusätzliche Widerstandskraft. Der Sinn der Regel wird von starkem Konsens gestützt. Ist die Norm verfahrensmäßig gesehen legitim, so hat sie noch eine zusätzliche Hilfe. Zieht dazu noch eine einflußreiche Gesellschaftsgruppe aus der Regel, wie sie ist, ihren Nutzen, so kann sie normalerweise überhaupt nicht geändert werden. Faktisch besteht keine Unsicherheit, und sie kann auch nicht erzeugt werden. Quantitative Normen sind nur ein Spezialfall einer weiteren Kategorie von Normen, solchen, die von der einen oder anderen Sorte gesellschaftlichen Konsenses getragen werden. Legt ein Gesetz das Wahlalter auf 18 Jahre fest, so wäre es bloße Verschwendung von Energie, vor einem Gericht geltend zu machen, daß 17, 19 oder 25 Jahre ein besseres Alter wäre. Niemand würde diesem Argument Beachtung schenken. Das Gericht würde sich an den Wortlaut des Gesetzes gebunden fühlen. Gerichte sind immer an das Gesetz gebunden; was diese Bestimmung aber wirklich bindend macht, ist, daß ihre Bedeutung so eindeutig ist. Eine Bestimmung mit eindeutigem Sinn ist aber einfach eine solche, über deren Bedeutung sich die Leute ganz einig sind, so 20 Friedman

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daß der Richter nicht an der N onn herumspielen und dies als Auslegung bezeichnen kann. Das Gericht wäre der falsche Ort für einen Versuch, das Wahlalter abzuändern. Diese Nonnen sind außerordentlich legitim und von großer fonnaler Stärke. In der Tat haben die Vereinigten Staaten das Wahlalter von 21 Jahren auf 18 Jahre herabgesetzt. Aber die Gerichte spielten bei diesem Wandel keine Rolle. Man konnte das Wahlalter nicht einfach von Fall zu Fall graduell von 21 auf 18 Jahre herabsetzen, indem man die Unsicherheit der Doktrin ausnutzte. Ein Gesetz, das das Wahlalter festlegt, wird durch doppelten Konsens begünstigt: erstens durch den Konsens über den Sinn des Textes und zweitens durch den Konsens über die Art, wie der Richter auf den Wortlaut zu reagieren hat. Es kann sein, daß der materielle Konsens unsicher ist; manche Leute mögen denken, 18 Jahre sei zu alt oder zu jung, andere würden eine gleitende Regelung oder sogar eine Regelung von Fall zu Fall vorziehen. Ist das so, so ist die Regel unstabil, aber nicht vor Gericht. Das war genau der Fall mit der alten Regelung, die das Wahlalter auf 21 Jahre festlegte. Die Regel wurde geändert, aber nicht durch eine richterliche Instanz. Umgekehrt gewährt allgemeiner Konsens über die Sache einer Nonn oder Doktrin auch dann Schutz, wenn deren Wortlaut nicht objektiv ist. Oliver Wendell Holmes bemerkte in einem berühmten Satz, daß die Meinungsäußerungsfreiheit nicht das Recht darauf gibt, in einem überfüllten Theater "Feuer" zu schreien. Aber warum? Das Erste Amendment, das die Meinungsäußerungsfreiheit statuiert, und die verschiedenen Präjudizien äußern sich nicht zu Schreien, Feuer oder überfüllten Theatern. Holmes meinte, daß nach der Meinung der Allgemeinheit eine solche Handlung nie als legitimer Ausdruck des Rechts betrachtet werden könnte. Im 19. Jahrhundert hat nie jemand versucht, ernsthaft geltend zu machen, die Pornographie stünde unter dem Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit. Es war undenkbar, daß die Meinungsäußerungsfreiheit den Auftritt nackter Schauspieler auf der Bühne mit umfaßte. Um es zu wiederholen: Drei Arten von Konsens beeinflussen die Stabilität von Nonnen - Konsens über den Wortlaut, über die Rolle der Institutionen und über das Resultat. Eine Nonn, die von allen drei Arten stark unterstützt würde, wäre nur mit hohem Aufwand zu ändern. Von den drei Arten ist wahrscheinlich der Konsens über den Wortlaut der schwächste und verletzlichste, wenigstens über längere Zeit gesehen und in bezug auf bestimmte Wörter. Viele Nonnen, deren Sinn fonnell gesehen eindeutig klar erscheint, sind in der Praxis sehr kontrovers. Wiederholte Prozesse oder Anfechtungen haben Verwirrung erzeugt, der Sinn des Wortlauts wird unbestimmt, und die Doktrin beginnt die Verwirrung und Kontroverse, die in der Außenwelt

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herrscht, zu widerspiegeln. Unsicherheit aber fördert weitere Anfechtung, weil die Erfahrung zeigt, daß die Nonn ihre Schwachstellen hat, daß sie nachgibt wie Gwnmi. Prozeßparteien fechten nonnalerweise kein eindeutig klares Gesetz an, das die Unterstützung der Allgemeinheit genießt. Manchmal aber, aus welchen Gründen auch immer, sind die Streitparteien so motiviert, daß sie sich entgegen den Chancen verhalten. Sie greifen eine Nonn ~n, die sowohl fonnell eindeutig klar als auch institutionell stabil ist. Das sind im allgemeinen verlorene Fälle, aber jede Anfechtung führt zu einer gewissen Unsicherheit und Unstabilität. Der Kläger kann ein isolierter Exzentriker sein, der sein Geld fortwirft. Repräsentiert er aber eine soziale Kraft, kann seine Handlung den Anfang einer Kon.-troverse, eines ganzen Prozesses bedeuten, indem er der Gesellschaft eine Idee vennittelt. Hämmern genug Leute auf eine Regel ein, die in der Theorie als gefestigt gilt, so haben sie gute Aussichten, die Nonn zum Wanken zu bringen. Unter solchen Umständen müßte man aber immer fragen: Warum greifen soviele Leute die gefestigte Nonn an? Die Parteien oder ihre Anwälte oder beide fühlen, daß ein Wandel in der Luft liegt, oder die Sache ist so wichtig für die Parteien, daß sie die Realität nicht sehen wollen oder können. Hohe Verfahrenskosten haben eine konservative, oder genauer gesagt, eine kanalisierende Wirkung. Sie schinnen die Gerichte vor allen außer den auf allgemein anerkannten Gründen basierenden Klagen ab. Sie stärken die Rolle der Gerichte, indem sie reflektieren, wo sich die Macht wirklich befindet. Nicht allgemein anerkannte Klagegründe können sich durchsetzen, aber nur, wenn die Anhänger sehr hartnäckig, sehr zahlreich, sehr mächtig oder reich sind, oder wenn der Wandel mittlerweile heftig verlangt wird, so daß man im Rückblick sagen kann, die Zeit für die Änderung sei sowieso gekommen. Kurz gesagt, die Kosten verhindern nicht jegliche Evolution, erhöhen aber den Preis für das überschreiten der ersten Schwelle der Änderung. Werden auslegungsbedürftige Nonnen wiederholt angefochten, so ist die natürliche Reaktion darauf, daß sie neu fonnuliert werden, und zwar als mechanische re Regeln, d. h. mit objektiverem Wortlaut als vorher. Als Beispiel nehmen wir durch den Richter geschaffene Nonnen. Wie reagiert ein Gericht auf ungewöhnliche Anfechtung? Jede Klage enthält eine Art Anfechtung, aber meistens nur in kleinster Fonn. Prozeßerledigung ist die nonnale Tätigkeit der Gerichte. Forderungen nach wirklicher Änderung werden meist so vorgebracht, wie wenn sie gar keinen od.e r nur geringen Wandel bezwecken würden. Nonnale Fälle bedrohen das Gericht als Institution in keiner Weise. Manchmal aber tritt ein Fall auf, der außergewöhnlich heikel oder neu ist. Er kann eine ernsthafte Anfechtung enthalten und eine Krise 20·

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androhen oder heraufbeschwören. Es ist allerdings nützlich, zwischen wiederkehrenden und nicht wiederkehrenden Krisen zu unterscheiden. Im Fall Wilson v. Girard31! handelte es sich um einen in Japan stationierten amerikanischen Soldaten. Er mußte ein Maschinengewehr bewachen. Auf einem Feld in der Nähe sammelten japanische Zivilisten leere Patronenhülsen ein. Girard lud einen Granatwerfer mit einer Patronenhülse, schoß und tötete ein Frau. Ganz Japan brach in große Entrüstung aus. Die amerikanische Regierung verzichtete auf Druck der Japaner auf ihr Jurisdiktionsrecht aus Staatsvertrag. Girard erhob darauf Klage beim Bundesgericht und machte sein Recht auf amerikanische Gerichtsbarkeit geltend. In einem kurz gefaßten Entscheid verweigerte ihm der Supreme Court dieses Recht. Nachher wurde Girard von den Japanern angeklagt und verurteilt, allerdings zu einer ziemlich milden Strafe. Der Fall wurde vergessen. Was hier nötig war, war eine rasche und eindeutige Lösung, und der Supreme Court verhielt sich entsprechend. Der Große Steel-Seizure-Fall von 195237 ist ein anderes Beispiel einer nicht wiederkehrenden Krise. Es war zur Zeit des Korea-Krieges, und ein Streik der Stahlindustrie war im Anzug. Um ihn zu verhindern, ließ Präsident Truman die gesamte Stahlindustrie vorübergehend beschlagnahmen. Das war kühn, eine kaum je gesehene Handlung. Ein Orkan von Kontroversen brach aus. Hatte Truman seine Machtbefugnisse als Präsident überschritten? Das war die grundlegende Frage in diesem Fall, der rasch· zur Entscheidung vor den Supreme Court gebracht wurde. In einem gewissen Sinne berührte der Fall den Kern der präsidialen Macht. Realistisch gesehen war es aber ein nicht wiederkehrenderFall. Irgendein Präsident könnte in der Zukunft wieder einmal einen der wichtigsten Industriezweige vorübergehend beschlagnahmen lassen. In diesem Fall würde er sich sicher auf das Präjudiz berufen. Ein Präsident der Vereinigten Staaten läßt aber nicht einfach jeden Tag oder aus Bagatellgründen einen Hauptzweig der Industrie beschlagnahmen. Jede Situation, in der eine Beschlagnahme nötig ist, wird schwierig, heikel und speziell sein, wird singulär zeitgebunden und politisch vorübergehend sein. Diese Faktoren bewirken, daß der Einfluß eines Präjudizes in ein Nichts zerfließt. Eine Krise ist nicht wiederkehrend, wenn sie durch eine bestimmte Person oder ein bestimmtes Ereignis herbeigeführt wird. Paradoxerweise sind viele Krisen nicht Krisen für das Gericht als Institution. Das Gericht entscheidet sie effizient und meist in befriedigender Weise. Die Gesellschaft will und braucht ein legitimes, unabhängiges Gericht, das die nicht wiederkehrenden Krisen regelt. Die wiederkehrenden 36 31

354 U.S. 524 (1957). Youngstown Sheet and Tube Co.\r.Sawyer, 343 U.S. 579 (1952).

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Krisen sind institutionell gesehen viel ernster. Ein neues Problem ist aus dem sozialen Untergrund aufgetaucht. Die Gerichte reagieren vielleicht ermutigend auf eine neue starke Forderung. Soziale Kräfte, die für oder wider die neue Sache sind, verlangen Definition und Lösung des Problems. Das ist eine Krise, die man nicht mit einem Schlag überwinden kann. Dem einen Fall folgt immer wieder ein nächster. Ein Gericht wird versuchen, die Krise auf einen leicht zu handhabenden Umfang zu reduzieren. Um das Problem loszuwerden, wird es versuchen, eine Regel zu entwickeln - eine Norm, die es anderen delegieren kann. Natürlich muß die Lösung richtig sein. Sie muß, so wie es das Gericht sieht, rechtmäßig und korrekt sein und das Problem für die Außenwelt lösen. Die Norm sollte auch in die richtige Form gekleidet sein. Die ideale Norm sollte alle Fragen, die von den Leuten, die sie gebrauchen, vernünftigerweise gestellt werden können, beantworten und dadurch ständige Prozesse vermeiden. Die Norm sollte daher sowohl möglichst objektiv als auch möglichst quantitativ sein. Objektive, quantitative Regeln können von den unteren Gerichten, anderen Behörden und der Öffentlichkeit am besten angewendet werden. Solche Normen bewirken sozialen Konsens über den Sinn des Wortlauts und die Rolle des Gerichts. Ideale Normen sind also numerische Normen, Rückweisungsnormen oder Normen mit sehr eindeutiger Terminlogie. Die Reapportionment-Fälle der 1960er Jahre illustrieren die Tendenz der Doktrin zur quantitativen Form. In den USA werden die Grenzen der Wahldistrikte vön den jeweiligen Staatslegislativen festgelegt. Sehr oft wollten die Legislativen die Grenzlinien der Distrikte nicht neu ziehen, obwohl sich die Einwohnerzahlen geändert hatten. Infolge dieser starren Distriktsgrenzen genossen die ländlichen Gegenden gegenüber den städtischen eine Vorzugsstellung. Die Verfassungen der Gliedstaaten verlangten eine periodische Neueinteilung der Wahlbezirke, aber die Legislativen, in denen Abgeordnete aus ländlichen Gegenden dominierten, beachteten dies nicht. Sie wollten keine Neuerungen, die den eigenen Sitz gefährdeten. Bis zum Jahre 1960 war auch die Rechtsprechung kaum ermutigend. Sie beantwortete Reformanträge mit einer einfachen Rückweisungsregel, der sog. political question doctrine. Die Neufestlegung der Wahlbe· zirksgrenzen war danach ein politisches Thema und nicht geeignet für eine richterliche Entscheidung38. Die Rückweisungsnorm erfüllte alle formellen Voraussetzungen, um die Sache einfach zu erledigen. Sie war quantitativ und klar. Das Problem war, daß sie als materielle Lösung einfach nicht genügte. ~s war keine Kompromißregelung, und diejenigen, welche eine Änderung verlapgten, akzeptierten sie nicht als endgültig. 38

Colegrove v. Green, 328 V.S. 549 (1946).

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Die Nonn übte natürlich eine Wirkung aus: es war sehr schwierig, eine Änderung herbeizuführen. Der Preis war aber nicht hoch genug, um anfechtende Parteien fernzuhalten. Dazu kam ein weiteres Problem. In dem 1960 entschiedenen Fall Colegrove v. Green wurde die Rück~ weisungsregel nur dank einer knappen Mehrheit der entscheidenden Richter angewendet. Dieser knappe Entscheid war ein Zeichen der Un~ stabilität. Er erweckte Hoffnung bei denen, die eine Änderung ver~ langten. Neue Richter und geringe Abweichungen im Sachverhalt gaben Mut zu neuem Vorgehen. Die Rückweisungsnorm konnte nicht mehr mit absoluter Negation gleichgesetzt werden. Ein Vielleicht war auf~ getaucht, und vielleicht ist anders als nicht kein quantitativer Aus~ druck. Eine Rückweisungsregel mit dieser Schwäche verliert aber sogar ihren fonnellen Anspruch auf Gültigkeit. Im Fall Baker v. Carr (1962)39 sprach sich eine Mehrheit der Richtet; gegen die Anwendbarkeit der Rückweisungsnonn aus. In diesem be~ rühmten Fall griffen die Kläger die Verteilung im Repräsentanten~ haus von Tennessee an. Sie machten geltend, daß viele Einwohner des Staates untervertreten waren und ihnen daher die equal protection of the laws vorenthalten werde. Der Supreme Court entschied einschrän· kend: Die Kläger hätten eine gültige Beschwerde erhoben und seien daher berechtigt, angehört zu werden. Der Fall wurde zur neuen Be~ urteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Der Fall Baker v. Carr beseitigte die Rückweisungsregel und ebnete den Weg für weitere Evolution. Die Legislativen verstanden den Wink und begannen, ihre eigenen Lösungen auszuarbeiten. Der Urteilsgehalt war aber formell unstabil. Es mangelte ihm an Genauigkeit, und er konnte nur überleben, falls außerhalb des Gerichts ein Komprorniß ge~ schlossen wurde, er eine Urquelle des Konsenses berührte oder die Sache als so trivial erachtet wurde, daß rechtlich kein Interesse mehr dafür bestehen konnte. Der Entscheid Baker v. Carr führte zu einer Lösung im materiellen Sinne, aber fonnell gesehen entfernte man sich von einer stabilen Lösung. Er stieß eine objektive Norm um und setz~e eine Regel mit Ermessensspielraum an deren Stelle. Im dem Fall Baker v. Carr folgenden Jahr waren 75 Reapportionment~Fälle bei den Bun~ desgerichten hängig. Die rechtsetzenden Behörden tappten im Dunkel~. Einige nahmen geringe Änderungen vor. Die Reformgruppen, die ihren Sieg erahnten, gaben sich damit nicht zufrieden. Der Supreme Court sah sich daher gezwungen, sich zur Grundfrage endlich zu äußern: Welches Kriterium sollte maßgebend sein? Das Gericht wurde aufge~ fordert, selbst eine Lösung zu finden und dann die unteren Gerichte und anderen Behörden anzuweisen, seinem Vorschlag zu folgen. 3D

369 U.S. 186 (1962).

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Was nachher geschah, ist bekannt. Das Gericht schuf eine formelle Lösung. In sechs Fällen, angeführt vom Fall Reynolds v. Sims (1964)40, wurde grundsätzlich entschieden, daß die Sitze beider Abgeordnetenhäuser in den Gliedstaaten nur auf Grund der Einwohnerzahlen verteilt werden dürften. Man drückte sich in diesem Entscheid natürlich sehr vorsichtig aus. Es wurde betol?-t, daß jede Situation sorgfältig und individuell beurteilt werden müsse und daß die Staaten ihre Wahldistriktsgrenzen nicht mit mathematischer Genauigkeit zu ziehen hätten. Im ganzen gesehen stellte das Gericht aber keine Regel mit Ermessensspielraum auf. Ungenau spricht man von der Regel oft als "one man, one vote" (ein Mann, eine Stimme). Damit werden zwar einige Subtilitäten außer acht gelassen, der zentrale Punkt wird aber richtig wiedergegeben. Das Gericht erließ eine Regel, die das Problem formell lösen sollte - kurz eine quantitative Norm. Eine harte, klare Norm stellt natürlich nur einen Versuch dar, ein Problem zu lösen. Eine Norm muß das soziale und institutionelle Problem lösen. Das wird erreicht, falls die Regel soweit akzeptiert wird, daß die Kosten einer Anfechtung gemessen an der Wahrscheinlichkeit einer Änderung auch die noch immer opponierenden Gruppen von weiteren Aktionen abhalten wird. Ist das nicht der Fall, so werden diese Gruppen die Norm weiterhin anfechten, und das Gericht wird nachgeben müssen oder an Macht oder Prestige verlieren. Das Gericht kann nicht zum voraus wissen, wie die Sache enden wird. In den Reapportionment-Fällen waren die ersten Reaktionen gefährlich - explosive Artikel erschienen in der Presse und gehässige Kritteleien in den juristischen Zeitschriften. Aber auch das ging vorüber; heute scheint die Entscheidung auf festen Füßen zu stehen. Viele Faktoren sind für die Stabilität einer Regel maßgebend. Der erste und zweifellos wichtigste ist der Grad der Unterstützung in der Gesellschaft. Er läßt sich aber nicht einfach mittels einer Meinungsumfrage berechnen. Zum Rechtssystem gehören viele Einrichtungen, es hat verschiedene Winkel und Ebenen. Eine bestimmte Einrichtung hat oft ihre eigene Wählerschaft. Die Unterstützung dieser Wählerschaft ist wichtiger als die des restlichen Volkes. Die Bundesgerichte z. B. spielten eine wichtige Rolle als Hüter der Minderheitenrechte. Minderheiten sind wichtige Kunden der Gerichte. Regeln, die sie nicht akzeptieren wollen, sind oft unstabiI, d. h. sie sind wiederholter Anfechtung geöffnet, auch wenn eine national weitverbreitete Mehrheit die Normen an sich unterstützt. Die Form einer Regel beeinflußt ihre Stabilität auch. Sie ist weniger bedeutsam als das Maß der gesellschaftlichen Unterstützung, ist aber 48

377 U.S. 533 (1964).

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dennoch nicht unerheblich. Objektivität (Genauigkeit) ist ein lebenswichtiges Element der Rechtsanwendung. Die Anwendung einer Norm ist letztlich immer konkret. Entweder verhaftet man Herrn Schmid, oder man verhaftet ihn nicht. Entweder spricht das Gericht dem Kläger "Blackacre" zu oder nicht. Gemäß richterlichem Urteil erhält der Kläger 10000 Mark Schadenersatz. Ein Urteil, das eine angemessene Summe zusprechen würde, wäre absurd. Der Fall muß einmal abgeschlossen werden, alles andere wäre bloße Delegation. Ähnlich binär sind Appellationsentscheide; sie bejahen oder verneinen, es wird gutgeheißen oder abgewiesen. Die Objektivität einer Norm beeinflußt die Kosten ihrer Anfechtung. Eine einfache, unmißverständliche Regel, eine mathematische Norm ist vor einem Angriff sicherer als eine ungenaue Regel. Wie wir gezeigt haben, ist dieses Element nur ein Spezialfall einer allgemeineren Aussage; was eine Regel stabil erhält, ist deren soziale Unterstützung. Objektivität beeinflußt, wenigstens in unserer Gesellschaft, das gesellschaftliche Urteil über die Legitimität des richterlichen Verhaltens. Je eindeutiger die Bedeutung des Gesetzeswortlauts ist, desto enger ist das Gericht an ihn gebunden. Andere Behörden können mehr Handlungsfreiheit beanspruchen - die Legislative insbesondere, weil sie primäre Legitimität genießt. Die Reapportionment-Regel veränderte sich von einer Norm mit Ermessensspielraum in eine objektive Norm. Diese Entwicklung ist typisch, aber nicht unausweichlich; sie ist nicht "Gesetz". Eine Norm verändert sich auch nicht in einem bestimmten Tempo. Manche Normen brauchen Jahrhunderte, um eine objektive Form zu erhalten. Alles hängt von der Stärke und dem Willen der interessierten Parteien ab, d. h. von der treibenden sozialen Kraft. In einem Rechtssystem sind zu jeder Zeit viele Normen in Bewegung, andere sind stabil und verändern sich nicht. Manche Normen treiben auf eine quantitative Form zu. Gleichzeitig werden Normen, die auf Grund eines Kompromisses und Ausgleichs geschaffen wurden, angegriffen. Durch öftere und genug harte Angriffe können formell stabile Normen aufgebrochen werden, und neue, annehmbarere Lösungen müssen gesucht werden. Normen und Normschaffende werden dann wie aus ihrem Bau aufgescheuchte ängstliche Kaninchen herumirren, bis sie eine andere, hoffentlich dauerhaftere Bleibe gefunden haben. Jederzeit findet man auch Streitfragen, deren formelle Lösung überhaupt nicht voraussehbar ist. Das Kräfteverhältnis ist ausgeglichen, die Gerichte sind sich nicht einig und die Gesellschaft streitet sich über Mittel und Wege. Unter solchen Umständen wird alles dahintreiben und unsicher sein; Streitparteien werden fortwährend die Grenzen der Doktrin prüfen. Gegenwärtig findet man das obscenity law in dieser

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Lage. Der Konsens des 19. Jahrhunderts über die Grenzen der sexuellen Freiheit ist völlig zusammengebrochen. Kein neuer Konsens ist an die Stelle des früheren getreten. Es wäre leicht, eine Norm zu erfinden, die formelle Stabilität gewähren würde. Die Gerichte könnten z. B. ein für allemal von jeglicher Bücherzensur absehen. Aber ein großer Teil des sich äußernden Publikums ist nicht bereit, so etwas zu akzeptieren, und das Gericht wollte auch nie soweit gehen. Kein einziges objektives Kennzeichen für unzüchtige Veröffentlichungen wurde vom Gericht als annehmbar erachtet. Solche Kennzeichen sind sehr schwierig zu finden, was vorhanden ist, sind leere Formeln. Es gibt keinen logischen Anhaltspunkt. Die öffentlichen Meinungen divergieren stark. Man ist weit entfernt von einer stabilen Lösung, die als Anweisung dienen könnte. Die Gerichte beurteilen jeden Film und jedes Buch einzeln. Es bestehen schwache Versuche der Verallgemeinerung, die Doktrin aber schwankt. Common-Iaw-Gerichte streiten traditionellerweise ab, daß sie neue Regeln schaffen. Sogar heute noch verändern die Richter im großen und ganzen das Recht nur stückweise. Das richterliche Verhalten sollte langsam, evolutionär sein, einem ununterbrochenen Weg entlang kriechen. Traditionellerweise wird ein heimlicher Wandel bevorzugt. Daher werden vage, qualitative Regeln, die ziemlich inhaltslos sind, gefördert; bevorzugt werden Normen, die immer wieder ein bißchen erweitert werden können, Normen mit Ermessensspielraum, die die Tatsache des Wandels verbergen. Diese traditionellen Ideen stören das Gericht aber, wenn Druck nach einer neuen Regelung besteht. Stabile Regeln sind im allgemeinen quantitativ, wie wir gesehen haben. Wie aber kann ein Gericht seinen institutionellen Drang nach stabilen Regeln mit diesem kulturellen Zwang in Einklang bringen? Den Gerichten stehen verschiedene Techniken zur Verfügung. Sie können z. B. einen quantitativen Ausdruck übernehmen, der entweder im Rechtssystem selbst oder in der Außenwelt seine unabhängige Bedeutung oder Legitimität hat. Die Normen, die bestimmen, auf wie lange Zeit Eigentum durch eine Treuhandschaft oder eine ähnliche Einrichtung gebunden werden kann (die sog. rule against perpetuities), enthalten solch einen quantitativen Ausdruck, nämlich 21 Jahre. Wie kam man auf diese Zahl? Einundzwanzig war im common law das Mündigkeitsalter. Es gab wohl Gründe dafür, in die Norm die Altersdifferenz zwischen Geburtund Mündigkeit miteinzubeziehen. Mit der Zahl einundzwanzig war aber noch eine spezielle Bewandtnis verbunden, sie besaß schon eine rechtliche Bedeutung. Die Gerichte konnten sie in eine neu geformte Regel einführen, ohne daß sie ihre institutionellen Grenzen zu überschreiten schienen.

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Kap. X: Sozialer Wandel und Rechtswandel Regel-Systeme

Bis jetzt haben wir die verschiedenen Veränderungsarten individueller Normen behandelt. Das gleiche gilt aber auch für ganze Regel-Systeme netzartig miteinander verbundener Normen. Die Normschaffenden entwickeln Regelsysteme in Richtung objektiver und quantitativer Form. Die Gründe und die Voraussetzungen sind etwa die gleichen, wie bei den einzelnen Normen. Grundlegend ist einmal mehr die Anfechtung. Eine Person in einer autoritären Stellung zieht es zweifellos vor, freie Hand zu haben. Ein Lehrer organisiert seine Klasse gern selbst, ebenso ein Richter sein Jugendgericht. Autorität verabscheut bindende Regelungen. Entsteht aber Anfechtung, so wird sich die Behörde mit spezifischerer Normbildung verteidigen. Wir haben früher ausgeführt, daß Kodifikationen oft dazu dienen, die Macht der richterlichen Behörden einzuschränken. Darüber hinaus sahen wir, daß die Gesellschaft formales Recht braucht, sobald der Konsens zusammengebrochen ist. Spezifizierung ist eine höhere Form der Formalisierung als NichtSpezifizierung. Je geringer das Vertrauen in die Art der Ermessensausübung ist, desto größer wird das Verlangen nach präzisen Regeln. Daher ringt man sich in den Gebieten des lebenden Rechts zu annehmbaren Kompromissen zwischen den opponierenden Parteien durch. Das Ergebnis sind Regeln mit quantitativer Form. Diese Beobachtung gilt für Gesetze und richterliche Regeln. Sie gilt sogar für die Bewegung durch die Rechtseinrichtungen, z. B. für den Wandel von Richterrecht in Gesetzesrecht. Ein üblicher und illustrativer Vorgang läuft folgendermaßen ab: Zuerst legt eine Behörde eine Regel fest. Die Regel bezieht sich auf eine Situation, die Gegenstand eines Konfliktes ist oder wird. Mit der Zeit wird diese Regel unter dem Druck des ständigen Hin- und Herziehens zusammenbrechen. Gerichte und andere Behörden entwickeln dann ein ganzes System immer komplizierterer Normen. Schließlich werden die verschiedenen opponierenden Gruppen auf der Basis eines Kompromisses eine neue rechtliche Lösung ausarbeiten. Diese wird wahrscheinlich mathematischer sein als der frühere Rechtszustand. Als Beispiel nehmen wir die rechtliche Regelung der Industrieunfälle 41 • Ausgangspunkt ist hier die fellow-servant-rule. Sie war eine einfache Rückweisungsnorm. Ein verunfallter Arbeiter konnte seinen Arbeitgeber nicht auf Schadenersatz verklagen, falls der Unfall durch das fahrlässige Verhalten eines feUow-servant, eines Mitarbeiters, verursacht wurde. In der modemen industrialisierten Gesellschaft wurde dem Arbeiter damit jede praktische Möglichkeit genommen, Schaden41 Vgl. Lawrence M. Friedman und Jack Ladinsky: Social Change and the Law of Industrial Accidents, 67 Colum. L. Rev. 50 (1967).

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ersatz für Arbeitsunfälle zu erhalten. Die Arbeitgeber waren in den meisten Fällen Körperschaften oder Unternehmer, die den Betrieb nicht persönlich leiteten. Fahrlässigkeit am Arbeitsplatz mußte die Fahrlässigkeit eines Mitarbeiters sein. Der verletzte Arbeiter konnte natürlich seinen Mitarbeiter einklagen, aber Arbeiter hatten in der Regel kein Geld und waren auch nicht versichert. Die fellow-servant-rule basierte auf einem englischen Fall, Priestley v. Fowler, entschieden im Jahre 1837 42 • Vier Jahre später übernahm ein amerikanisches Gericht diese Regel, um einen Eisenbahn-Fall zu entscheiden. In den 1860er Jahren galt die Regel allgemein. Sie wurde erst aufgehoben, als die Staaten die workmen's compensation-systems übernahmen. Dies geschah sukzessiv zwischen 1911 und 1948. Die fellow-servant-rule war hart, aber formell gesehen stabil. Doch nach einer Generation Enthusiasmus begann sie an politischer Macht zu verlieren. Als die Regel eingeführt wurde, stellte sie genau das dar, was die einflußreichen Leute für nötig hielten, damit die Wirtschaft gedieh. Transportunternehmungen und Fabriken mußten verhätschelt werden43 • Dieses Stadium großer Popularität hielt aber nicht an. Als die Eisenbahnlinien gebaut waren, bestand kein Grund mehr, sie um jeden Preis zu fördern. Die Gewerkschaften entstanden und wurden zum starken Gegner. Die Richter waren auch nicht gegen jegliches Mitgefühl für die Arbeiter gefeit. Die Regel war eine zu starke Droge. Männer wurden durch Industrieunfälle verkrüppelt oder getötet und hinterließen bedürftige Familien. EJs war schwer, den Opfern jegliche Hilfe zu versagen. Richter und Juries begannen, die Regel zu manipulieren. Einige klagende Parteien konnten sich durchsetzen. Das schwächte die Regel natürlich. Diese Schwäche hatte eine unausweichliche Folge: Sie förderte die Prozeßbereitschaft. Die Gerichte entwickelten Ausnahmen. Bald war die Regel nicht mehr eindeutig und klar; sie löste das Problem nicht einmal mehr formell. Nur kontinuierliche Loyalität konnte die Wirksamkeit einer solchen Regel erhalten. Sie bekam oder behielt diese Loyalität aber nicht. Zweifellos verhinderte die Regel Tausende von Prozessen, aber sie erstickte nicht alle Klagen betreffend Industrieunfälle. Parteien und Rechtsanwälte bemerkten diese Schwäche und brachten mehr Streitfälle vor Gericht. Auf der Höhe (oder Tiefe) ihrer Karriere waren aus der einen Regel eine unglaubliche Menge von Sub regeln, Ausnahmen und Ausnahmen der Ausnahmen hervorgegangen. Abhandlungen wurden über das 150 Eng. R. 1030 (Ex. 1837). Vgl. J. Willard Hurst: Lawand the Conditions of Freedom in the Nineteenth Century Uni ted States, 1956; Stanley I. Kutler: Privilege and Creative Destruction, the Charles River Bridge Case, 1971. 42

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Thema geschrieben. Es gab Tausende von fellow-servant-rule-Fällen und unzählige Entscheidungen unterer Gerichte. Im Regelsystem enthalten waren nun auch gesetztes Recht und Teile von gesetztem Recht. Diese zeigten, wie sehr der Konsens in der Doktrin zusammengebrochen war und wie der Druck der pressure groups zugenommen hatte. In bezug auf Eisenbahnbetriebsunfälle verfälschten schon vor 1911 fünfundzwanzig Staaten die Regel. Jedes Jahr vergrößerte die Legislative den Riß in der Regel. In dieser mittleren Periode war die Regel so komplex und kostspielig, daß niemand davon profitieren konnte, weder die Industrie noch die Arbeiter. Die meisten Arbeiter erhielten nie Schadenersatz, und dennoch gaben die Industrieuntemehmen große Summen für Versicherungen, Anwaltshonorare und Ähnliches aus. Die Szene war bereit für einen Komprorniß. Dieser wurde in Form der workmen's compensation geschaffen und beseitigte die fellow-servant-rule ein für allemal 44 • Der Arbeitgeber war nun schadenersatzpflichtig, auch wenn ihn am Industrieunfall kein Verschulden traf. Allerdings beschränkte das Recht auch strikte die Höhe des Schadenersatzes. Unter dem alten Haftpflichtrecht stand es der Jury frei, beliebig hohen Schadenersatz zuzusprechen. In Wisconsin bestimmte das Recht von 1911, daß ein Arbeiter, der durch einen Unfall teilweise arbeitsunfähig geworden war, während der Arbeitsunfähigkeit nicht mehr als 65 0J0 seines Lohnes erhalten konnte. Die gesamte Schadenersatzsumme durfte auch nicht mehr betragen als das Vierfache seines Durchschnittsjahreseinkommens 45 • Das neue System war präzise, objektiv und versicherungsstatistisch. Es sollte quantitativ und klar sein, einen neuen und hoffentlich stabilen Anhaltspunkt bilden, wie die Regel von einem Mann und einer Stimme. Die Regel stellte auch materiell einen Komprorniß dar. Durch sie wurden die immensen Kosten des alten Systems vermieden. Sie brachte beiden Seiten Vorteile. Prozesse waren weniger wahrscheinlich, und die dadurch möglichen Einsparungen wurden auf Kapital und Arbeit verteilt. Das Recht der Industrieunfälle entwickelte sich also in drei Stufen. Auf der ersten schien die Regel einfach, klar und objektiv zu sein. Auf der zweiten Stufe brach die Regel zusammen; Ausnahmen durchlöcherten sie. Auf der letzten Stufe schuf das Rechtssystem eine neue Grundlage. Ein neues Regelsystem wurde kodifiziert. Es enthielt zum größten Teil eindeutig klare Normen. Es besteht also eine unverkenn44 Das erste Gesetz, das in einem Gerichtsentscheid als gültig anerkannt wurde, war dasjenige von Wisconsin, aufrechterhalten im Fall Borgnisv. Falk Co., 147 Wis. 227, 133 N. W. 209 (1911). Ein früheres New Yorker Gesetz hatte nicht standgehalten. 45 Wis. Laws 1911, ch. 50, § 2394-9 (d).

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bare Ähnlichkeit mit der Wahldistriktsgeschichte. Auch dort brach eine mechanische Rückweisungsnorm zusammen, eine komplexe Periode der Unsicherheit folgte, und dann wurde ein stabiler Anhaltspunkt geschaffen, einmal mehr in quantitativer und mechanischer Form. Im einen Fall veränderte eine einzelne Regel ihre Form, im andern Fall zersplitterte eine einzelne Regel in ein ganzes Gebäude von Regeln und erreichte ihren Endzustand in Form einer größeren Kodifikation. Soziologische Rechtstheorien behaupten, daß bestehende Regeln zu jeder Zeit mit einiger Genauigkeit die sozialen Kräfte reflektieren, die sich auf den Gegenstand der Normen beziehen. Manchmal dominiert eine Interessengruppe eindeutig. In einem Gerichtsverfahren gewinnt die eine Partei und die andere verliert. Kompromisse sind nicht ungewöhnlich, kaum aber der Normalfall. In ganzen Systemen von Regeln, seien sie richterlich, legislativ oder beides, ist es viel weniger wahrscheinlich, daß eine Seite völlig die Oberhand gewinnt und die andere gänzlich verliert. Das Rechtssystem reflektiert wahrscheinlich alle sozialen Kräfte im Verhältnis zu ihrem Einfluß und ihrer Macht. Keine der Interessengruppen hat jedoch absolute Macht oder gar keine Macht, zumindest in der Theorie46 • Das Problem des Rechtswandels ähnelt Zenos Paradoxon vom Rennen zwischen dem Hasen und der Schildkröte. Jeder Stand des Rechts stellt eine Art Gleichgewicht dar. Jedermanns Interessen werden im Verhältnis zu seiner Macht wiedergegeben. Wie aber ist dann ein Wandel möglich? Die einfachste Erklärung ist, daß sich die äußere Umgebung ändert. Die Machtverhältnisse verschieben sich. Kriege, neue technische Erkenntnisse, Entwicklung oder Verfall der Wirtschaft verändern die sozialen Relationen, und der rechtliche Wandel folgt diesen rasch und gehorsam nach. Veränderungen in der Einstellung oder Wahrnehmung können auch Antrieb sein für eine Änderung der Art oder Stärke des Drucks, den die Gesellschaft auf das Rechtssystem ausübt. Wie wir gesehen haben, schaffen abstrakte Interessen kein Recht. Was Recht erzeugt, sind Forderungen, tatsächlich eingesetzte soziale Kräfte. Ein Interesse einer Interessengruppe ist keine Tatsache der realen Welt wie ein Pferd oder ein Hurrikan, es ist nur eine Auffassung. Auffassungen aber erscheinen und verschwinden. Leute, die der Ansicht waren, Los Angeles brauche mehr Autobahnen, werden zu Leuten, die die Auffassung vertreten, Autobahnen zerstörten die Stadt. Reformer argumentieren, überreden, mobilisieren, formen und manipulieren die Meinungen. Sie 46 In der Praxis können einige Gruppen auf bestimmten Untergebieten, die die Gesellschaft ihnen abtritt, ihrem Weg in jeder Hinsicht folgen. Andere Gruppen sind solche Außenseiter, daß sie kaum je etwas von Wert für sich gewinnen können.

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überzeugen hauptsächlich, indem sie die Wahrnehmung der Interessen verändern. Ein erfolgreicher Reformer übt eine Wirkung auf die Summe der Kraft aus, die sich gegen rechtliche Institutionen richtet. Er überredet die Leute, ihren Kongreßabgeordneten Briefe zu schreiben und Gerichtsverfahren anzustrengen, ja sogar in den Straßen zu revoltieren. Genauso wichtig ist, daß die Leute überzeugt davon sind, daß es praktisch und richtig von ihnen ist, vom Recht das zu verlangen, was sie als ihre Interessen oder Bedürfnisse ansehen. Zu jeder Zeit stehen viele Normen und Regelsysteme auf der mittleren Stufe ihrer dreistufigen Entwicklung. Dieses Stadium ist unsicher und ineffizient. Es ist kostspielig, große Summen Geldes werden für Prozesse verbraucht, darüber hinaus entstehen als Ausfluß der Unsicherheit viele weitere Kosten. Manchmal wird der Punkt erreicht, an dem die sich streitenden Interessengruppen einsehen, wie sehr sie alle unter dieser Ineffizienz leiden. Sie entdecken, daß sie ohne Verluste eine neue und bessere Stufe des Rechts erreichen können. Sie können die Kosten unter sich aufteilen. Auch das ist eine Quelle des Rechtswandels. Die workmen's compensation kann z. B. als eine stillschweigende Vereinbarung zwischen Unternehmer und Arbeiter betrachtet werden, da sie besser fuhren, wenn sie die alten Haftpflichtregelungen aufhoben, damit auf Rechtsanwälte, Versicherungen und Prozesse verzichteten, so Kosten sparten und diese Einsparungen dann unter sich verteilen konnten. Eine Regel wird, mit anderen Worten, auf ihrer ersten Stufe zum Schutze dominierender Interessen oder populärer Ansichten in Kraft gesetzt oder übernommen. Normalerweise wird die Regel eindeutig und klar sein. Sie verteilt Rechte, Güter oder Macht so, wie es die vorherrschenden Interessen wünschen. Die fellow-servant-rule diente der Wirtschaft und den Eisenbahnen; sie wurde daher von den einflußreichen Leuten wohl allgemein unterstützt. Die zweite Stufe kann auf einen exogenen Machtwechsel folgen. Um 1880 hatten die Arbeiter an Macht gewonnen; die Eisenbahnen waren nicht mehr die Lieblinge der Öffentlichkeit. Aber die Unternehmer im allgemeinen und die Eisenbahngesellschaften im besonderen blieben immer noch stark. Es entstand das Stadium des Konflikts, des Kampfes und der Angleichung - der rechtlichen Komplexität. Formelle Effizienz wurde zu Ineffizienz. Das Recht wurde konfus, verwischt und schwierig. Reibereien führten zu einer Vielzahl von Regeln und Gegenregeln. Das Regelsystem gab mehr oder weniger genau das Gleichgewicht der Kräfte wieder. Die Gesellschaft war über die Behandlung der Industrieunfälle hoffnungslos uneinig. Im Regelsystem spiegelten sich diese Uneinigkeiten. Die Ineffizienz begünstigte die sich entgegen-

Regel-Systeme

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stehenden Kräfte allerdings nicht. Begünstigt waren nur die Mittelleute - Rechtsanwälte und Versicherungsfachleute unter anderen. Vor Erreichen der Stufe drei wurde die Ineffizienz so augenscheinlich und ungeheuerlich, daß es zweclonäßiger schien, die Kosten zu vermindern und die Ersparnis nach einer Kompromißformel wieder zu verteilen. Ein solcher Ausbruch der Rationalität erfolgt nicht zwangsläufig; er kann schnell oder langsam erfolgen; manchmal tragen die Reformer etwas dazu bei. Ideologische Streitereien und Haß zwischen Interessengruppen können ihn verlangsamen. Eine neue eindeutig klare Regel oder ein solches Regelsystem wird der neue Anfang sein und die Machtverhältnisse effizienter wiedergeben als die Regeln der zweiten Stufe. Stufe drei war die Stufe der workmen's compensation. Was hier beschrieben wurde, ist ein Modell, ein Bild oder Muster und keine Theorie. Es ist ein Modell, das in verschiedenen Punkten mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Es hilft erklären, warum einige Gebiete des Rechts verwischt oder konfus sind, andere eindeutig und klar. Es besteht keine Möglichkeit vorauszusagen, wie lange eine Norm oder ein Normensystem auf einer Stufe stehen bleiben wird. Das hängt von den Interessen, den Auffassungen und den tatsächlichen Begebenheiten ab. Einige Regelsysteme sitzen so tief im Schlamme der Stufe zwei, daß man sich fragt, ob sie je daraus herauskommen werden. Die Rechtsberufe haben, nicht zu vergessen, ein finanzielles Interesse an der Stufe zwei, der Stufe der Komplexität, und sie werden für deren Erhaltung mit allen Mitteln kämpfen. Natürlich gibt es andere Muster rechtlichen Wandels. Ausgangspunkt (Stufe eins) kann eine vage Regel sein, eine bloße Delegationsnorm. Auch dies kann Ausfluß einer Situation sein, die von einer dominierenden Macht bestimmt wird. Im Jugendstrafrecht gab es eine vage Regel, die alle Kompetenzen an die Richter der Jugendgerichte delegierte 47 • Gerade jetzt ist dieses System in rascher Veränderung begriffen; welches Ziel angestrebt wird, ist allerdings noch nicht klar. Unterschiedliche soziale Situationen bedürfen unterschiedlicher Ausgangspunkte48 • Eine Norm, welche dem einzelnen Anspruche gewährt, muß eindeutig und klar sein; eine Norm, die dem Staat Herrschaftsbefugnisse gibt wie einem Lehrer in einer altherkömmlichen Schule, kann vage und weit47 Allerdings beruhte die Macht der Jugendrichter auf einer Regel, die bestimmte, daß sich höhere Gerichte nicht in die Entscheidungen der Jugendrichter einmischen sollten. Es handelte sich natürlich um eine Rückweisungsnorm. 48 Es lohnt sich zu wiederholen, daß jede Regel nur analytisch Ausgangspunkt ist. Im wirklichen Rechtsleben findet man keine reinen Stufen. Jede Regel kann für sich selbst als Anfang, Mitte und Ende einer Entwicklung betrachtet werden.

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schweifig sein und ihm selbst oder andern enorme Befugnisse delegieren. In jedem Fall sind die Normen Ausfluß der gesellschaftlichen Einrichtungen; jene ändern sich, wenn diese sich verändern. Sie stehen und fallen mit diesen Kräften, so wie Ebbe und Flut einer unsichtbaren Kraft gehorchen.