Das hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung

271 96 32MB

German Pages [432] Year 1923

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das hebräische Leichenlied im Rahmen der Völkerdichtung

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Abkürzungen
Berichtigungen
Einleitung
Kapitel I. Die Totenklage im Zusammenhang der Trauerbräuche
Kapitel II. Die Totenklage als Zeremonie
Kapitel III. Das Leichenlied als Gattung der Volkspoesie
Kapitel IV. Die Göttertotenklage
Kapitel V. Reste hebräischer Leichenpoesie
Kapitel VI. Das Leichenlied im übertragenen Sinne nach seinen Hauptmerkmalen und -typen
Kapitel VII. Die allmähliche stilistische Auflösung der Gattung
Kapitel VIII. Die inhaltliche Umbiegung der Gattung
I. Sachregister
II. Stellenregister
Front Matter 2
1. Die Aufgabe
2. Namenanzeiger
3. Der Wortlaut mit Übersetzung
4. Grammatikalisches
5. Wortwahl und Wortfügung
6. Formen und Stoffe
Druckfehlerberichtigung
Inhaltsverzeichnis

Citation preview

DAS HEBRÄISCHE LEICHENLIED I I RAHMEN DER VÖLKEBJDIOHTUNG VON

HEDWIG JAHNOW

1923

VERLAG VON ALFRED TÖPELMANN IN G I E S S E N

BEIHEFTE ZUR ZEITSCHRIFT FÜR DIE ALTTESTAMENTLICHE WISSENSCHAFT 36

Made in G e r m a n y Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, vorbehalten

MEINEM HOCHVEREHRTEN LEHRER

HERRN PROFESSOR

HERMANN GÜNKEL

Herr Professor D. Gunkel hat mir vor Jahren die Anregung zu dieser Arbeit gegeben und mich bei ihrer Ausführung und Drucklegung mit seinem bewährten Rat in freundlichster Weise unterstützt. Ihm bringe ich jetzt das Buch in dankbarer Gesinnung dar. Zugleich gilt mein herzlicher Dank Herrn Professor Dr. B a u m g a r t n e r in Marburg, der nicht nur die ganze Mühe der Korrektur mit mir geteilt, sondern die Arbeit durch sein unermüdliches Interesse und seinen wertvollen Beistand wesentlich gefördert hat. Marburg, im Februar 1923. Hedwig Jahnow.

Inhaltsverzeichnis. Verzeichnis der Abkürzungen . Einleitung Kapitel I. Die Totenklage im Zusammenhang der Trauerbräuche § 1. Die Totenklage als israelitische und als allgemein menschliche Sitte § 2. Die Totenklage als ein Trauerbrauch unter anderen . . . § 3. Animistischer Ursprung der Trauerbräuche § 4. Spuren animistischen Ursprungs an der Totenklage . . .

Kapitel II. Die Totenklage als Zeremonie § 1. Das Personal bei der Totenklage . . . . . . . . . § 2. Situation und Aufführungsart der Totenklage § 3. Die Totenklage im Dienst der öffentlichen Meinung . . .

Kapitel III. Das Leichenlied als Gattung der Volkspoesie § 1. Das Versmaß des Leichenliedes § 2. Skizze der Gattung nach Typen, Motiven und Stilformen .

Kapitel IV. Die Götteriotenklage § 1. Alttestamentliche Hindeutungen auf Vegetationskulte . . § 2. Die wichtigsten Züge der Vegetationskulte und der kultischen Leichenlieder § 3. Alttestamentliche Niederschläge der Vegetationskulte . .

Kapitel V. Reste hebräischer Leichenpoesie § 1. Zwei Leichenlieder im Volkston auf Zedekia Jer 38sa S. 124 auf Abner 2.Sam 3 8 ä f. S. 129 § 2. Die Qina in dichterischer Gestaltung Davids Leichenlied auf die Gefallenen von Gilboa 2. Sam Ii»—27 S. 133 Jeremias Lied vom „Schnitter Tod" Jer 9aof. S. 157 (Jer 916—2i S. 158)

Seite VIII

1 2—57 2 4 11 40

57—90 57 73 87

90—108 90 92

108—124 108 110 116

124—162 124

131

Inhaltsverzeichnis.

Kapitel VI. Das Leichenlied im übertragenen Sinne nach seinen Hauptmerkmalen und -typen . § § § §

1. 2. 3. 4.

Hauptmerkmale Totenklage des Threni auf den Leichenlied auf

der Übertragung Arnos um die J u n g f r a u Israel Am 5 2 . . Fall Jerusalems („Klagelieder Jeremiae") . den Untergang Sidons Jes 231—14 . . . .

VII Seite

162—197 162 165 168 191

Kapitel VII. Die allmähliche stilistische Auflösung der Gattung § 1. Zwei Leichenlieder auf den Untergang des davidischen Herrscherhauses Ez 191—9 und 10—14 § 2. Zwei Leichenlieder auf Tyrus Ez 2 6 i 6 - i s S. 211 Ez 271_8. 36—aa S. 212 (Parallele: Leichenliturgie auf „Babylon" Apk 18 S. 219) § 3. Leichenlied auf den Tyrerkönig Ez 2812-19 . § 4. Verstreute Elemente der Qina: Ez 32a. 7f

Kapitel VIII. Die inhaltliche Umbiegung der Gattung § 1. Drei parodistische Leichenlieder . . . auf Pharaos Höllenfahrt Ez 32i9-sa S. 231 auf die Höllenfahrt des letzten Babylonierkönigs Jes 144—21 S. 239 auf die „Dirne" Jerusalem Jes 121—23 S. 253 § 2. Leichengedicht auf den Sühnetod des „Jahweknechts" Jes 53 i _ i 2

I. Sachregister II. Stellenregister

197—231 197 210

221 228 231—266 231

256

266—270 270—272

VIII

Verzeichnis der Abkürzungen.

Berichtigungen.

Verzeichnis der Abkürzungen. ATAO BH JPT KAT

= = = =

J e r e m i a s : Das AT im Lichte des alten Orients Biblia hebraica, ed. K i t t e l Jahrbücher für protestantische Theologie S c h r ä d e r : Die Keilinschriften und das AT, 3. Aufl. vonWinckler und Zimmern KB = Keilinschriftliche Bibliothek OLZ = Orientalistische Literaturzeitung RE = Herzogs Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 3. Aufl. von Hauck RGG = Die Religion in Geschichte und Gegenwart SBOT = The Sacred Books of the Old Testament TuB — G r e ß m a n n : Altorientalische Texte und Bilder ZAW = Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft ZDMG = Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft ZDPV = Zeitschrift des Deutschen Palästina-Vereins Abkürzungen der Übersetzungen im ganzen nach BH.

Berichtigungen.

S. 13 Z. 21 lies 8) für 3). S. 126 Z. 22 lies „Obadia V. 7" für „Obadia 7 \ S. 137 Z. 10 lies „Ach, wie" für „Wie". S. 162 Z. 26 lies „ist" für „st". S. 174 A. 9 lies D'HUD für D^TOD.

S. 198 Z. 12 schiebe hinter „(BH)" ein „und" ein. S. 212 Z. 3 lies „'ek" für ,'ekä". S. 256 Z. 23 lies für TT

-

T

Einen wichtigen Teil der inneren Geschichte eines Volkes erkennt man, wenn man beobachtet, wie sich in ihm das Verhältnis des Einzelnen zur Gattung gestaltet. Wie weit das Individuum mit seinen Erlebnissen und Handlungen noch im Gattungsmäßigen haftet, wie weit es sich davon freizumachen vermag — dadurch wird nicht nur seine persönliche Eigenart, sondern auch die Kulturstufe seines Volkes bezeichnet. Diese inneren Vorgänge lassen sich deutlich aus der Literatur eines jeden Volkes, nämlich aus dem Verhältnis, das der Einzelschriftsteller zur literarischen Gattung einnimmt, ablesen. Daher kann die Erforschung der literarischen Gattungen eines Volkes keinesfalls gleichgültig für die Erschließung seiner geistigen Art sein. Sie ist nicht etwa eine Aufgabe von nur formalem Wert, eine ästhetisierende Betrachtung, der man sich erst hingeben dürfte, wenn die eigentliche, ernsthafte Arbeit getan ist. Besonders bei einem antiken Volke, bei dem der überkommene Stil stärker als bei uns Modernen das geistige Schaffen bestimmt, kann man ohne eingehende Beschäftigung mit den Gattungen weder dem ganzen Volke noch der einzelnen Schriftstellerpersönlichkeit gerecht werden. Mit Bezug auf das hebräische Volk und das alttestamentliche Schrifttum ist diese Erkenntnis noch recht jung; die Erforschung der literarischen Gattungen ist auf diesem Gebiete zum ersten Male von H. Gunkel mit allem Nachdruck zur grundsätzlichen Forderung erhoben worden*). Im Folgenden soll der Versuch gemacht werden, für eine alttestamentliche Gattung, die des Leichenliedes, an der Verwirklichung dieser Forderung mitzuarbeiten. *) Die israelitische Literatur, Kultur der Gegenwart 17 (1906), S. 528. Beihelte z. ZAW 36

1

Kapitel I.

2

§1

Kapitel I. Die Totenklage im Zusammenhang der Trauerbräuche. § 1.

Die Totenklage als israelitische und als allgemein menschliche Sitte.

Daß das Leichenlied im Hebräischen eine besondere literarische Gattung bildet, ist zuerst von K. B u d d e erkannt worden '). Zwar wird uns im Alten Testament keine zünftige Leichenklage geschildert, und wir besitzen kein Beispiel eines wirklich von Klageweibern gesungenen Leichenliedes, aber die Tatsache einer solchen zeremoniellen Totenklage ist uns sowohl im Alten als auch im Neuen Testament bezeugt; sie wird an vielen Stellen des Alten Testaments 4 ), der Apokryphen 3 ) und an einigen neuAuch das Vorhandensein testamentlichen Stellen 4 ) erwähnt. einer Leichensängerzunft erfahren wir aus dem A T 6 ) . Ferner vermögen wir über den Inhalt und die Form der bei der Leichenklage gesungenen Lieder aus dem alttestamentlichen Material Einiges wenigstens mittelbar zu erschließen. Denn wenn wir auch kein vollständiges zünftiges Leichenlied besitzen, so sind doch Bruchstücke davon vorhanden, nämlich einzelne W e h r u f e ' ) ; überdies ist uns ein zwar nicht zünftiges, aber doch wirklich aufgeführtes Leichenlied, nämlich das Davids um Abner 2. Sam3as f., überliefert. Außerdem liegt uns Jer 38«« ein kleines Lied vor, dessen Situation zwar unwirklich ist, das aber den Stil und Inhalt eines echten Leichenliedes zu haben scheint. Auch die individuelle dichterische Umbildung des volkstümlichen Leichenliedes, die wir 2. Sam I i » f f . in dem Trauerliede Davids um Saul und Jonathan kennen lernen, läßt wichtige Rückschlüsse auf jene Urform und ihre Inhalte tun. Schließlich haben wir eine ausgebildete Anwendung des Leichenliedes in einem übertragenen Sinne, die vor allem durch die Propheten gepflegt worden ist, aber auch in den sog. „Klageliedern Jeremiae" vorhegt. Auch ») Das hebräische Klagelied, ZAW 2 (1882), S. lff., ferner 3 (1883), S. 299ff., 11 (1891), S. 234 ff., 12 (1892), S. 31 ff. 261 ff., ZDPV 6 (1883), S. 180ff.; vgl. Kap. III, § 1 dieses Buches. a) Z.B. Gen 50io 1. Sam 25i 28. 1. Reg 14«. is Jer 16sf. ') Z.B. 1. Makk 2?o 920 126«. *) Mt 9 « Mk 5ss LkSes Acta 8s. s)

Jer 9 i e A m ö i « 2. C h r 3525.

« ) 1. R e g 13so Jer 2 2 k

34s.

Kapitel I.

3

aus diesen übertragenen Anwendungen leuchtet die alte Gattung in ihrer ursprünglichen Gestalt hindurch. Die Tatsache, daß das Alltägliche und Bekannte, die zeremonielle Totenklage, nicht eingehend dargestellt, sondern nur gelegentlich vorausgesetzt oder bruchstückweise erwähnt wird, hat nichts Erstaunliches; denn im allgemeinen scheint nur das Außergewöhnliche der Aufzeichnung wert. Aber eine W i e d e r h e r s t e l l u n g der. i s r a e l i t i s c h e n L e i c h e n k l a g e nach ihrer Aufführungsart und der dabei gesungenen Lieder nach Form und Inhalt ist bei dieser immerhin dürftigen Überlieferung a u s d e m a l t t e s t a m e n t l i c h e n M a t e r i a l a l l e i n k a u m möglich. Nun ist aber die Leichenklage durchaus nicht nur israelitische Sitte gewesen. Sie findet sich auch bei den anderen antiken Kulturvölkern, bei den Babyloniern und Assyrern, den Ägyptern, Griechen, Etruskern, Römern, auch bei den Kelten und Germanen. L u c i a n von Samosata (2. Jh. n. Chr.) sagt in seiner berühmten Satire „Von der Totentrauer", alle Völker des Erdbodens schienen sich zu dieser unvernünftigen Gewohnheit der Totenklage das Wort gegeben zu haben'). Freilich sind wir über die Leichenklage dieser antiken Völker nicht viel besser unterrichtet als über die israelitische, und zwar aus denselben Gründen. Wir besitzen allerdings einige Abbildungen von Totenklagen solcher antiken Völker, u. a. eine Tonplatte, die eine feierliche altgriechische Leichenklage 2 ), einen Papyrus, der einen altägyptischen Leichenzug 3) darstellt, Abbildungen ägyptischer Klageweiber und -männer 4 ), sowie etrurische Bas-Reliefs6) und römische Urnen 6 ) mit Klagefrauen. Aber bei den meisten Natur*) Heçl név&ovs, opéra ed. Jacobitz III (1839), 21. ) B e n n d o r f : Griechische und sizilische Vasenbilder (1868), Taf.I und S.3ff. 9 ) E r m a n : Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum (1885), S. 433 gegenüber. *) t. B i s s i n g : Die Kultur der alten Ägypter (1913), Abb. 15; S e e m a n n s Kunstgeschichten (1913), Taf. 11,2. 20,7. 22,1 ; S c h ä f e r : Von ägyptischer Kunst (1919), II. Tafel 35,1; F e c h h e i m e r : Die Plastik der Ägypter (1920), Abb. 143. 159; W i e d e m a n n : Das alte Ägypten (1920), Abb. 14, S. 114. Angeführt bei D e n n i s : Die Städte und Begräbnisplätze Etruriens, dtsch. •on M e i s s n e r (1852), S. 198. 587. Abb. e. Totenklage auf e. Urne: Mélusine 1 (1878), S. 215. 6 ) de S a l l e n g r e : Novus thésaurus antiquitatum III (1735), S. 757f. 1* 2

4

Kapitel I.

Völkern Afrikas, Asiens, Australiens und Amerikas ist noch heut eine fest geregelte Totenklage in Gebrauch; ebenso findet sie bei einer Reihe von europäischen Völkern, die infolge einer gewissen Abgeschlossenheit von der Kultur an alten Sitten zäher festgehalten haben, entweder noch jetzt statt oder ist erst seit kurzer Zeit verschwunden, so bei den Korsen, den Sardiniern und anderen Völkern Italiens, bei den Neugriechen, den Serben, den Bulgaren, den Rumänen '). Die Leichenklage der meisten dieser Völker hat nun sachkundige Beobachter und Darsteller gefunden; z. T. besitzen wir auch Proben von wirklich aufgeführten Leichenliedern, sind also hier weit besser unterrichtet als bei den antiken Völkern. Eine Heranziehung dieses umfangreichen Materials könnte dazu dienen, die im Halbdunkel liegende altisraelitische Totenklage schärfer zu beleuchten. § 2. Die Totenklage als ein Trauerbrauch unter anderen. Freilich bedarf es zunächst einer V o r u n t e r s u c h u n g , um festzustellen, ob die Leichenklage bei den außerisraelitischen Völkern auch wirklich dieselbe Bedeutung wie die im AT erwähnte besitzt. Dabei müssen wir auf die S t e l l u n g eingehen, die sie u n t e r den ü b r i g e n T r a u e r b r ä u c h e n einnimmt. Die Totenklage wird nämlich im AT wiederholt, im eigentlichen und übertragenen Sinne, neben anderen Trauerzeremonien genannt"). Im Folgenden sollen solche atl. Stellen mit entsprechenden fremden Parallelen zusammengestellt werden, in denen die Totenklage auch im Zusammenhang mit anderen Trauerriten vorkommt. Es werden im AT S e l b s t v e r l e t z u n g e n , „Einritzungen", bei der Totentrauer zusammen mit der Leichenklage erwähnt'). Dieses Nebeneinander kommt bei den meisten Völkern, die überhaupt eine Totenklage halten, vor: in Babylonien 4 ), im alten Griechenland'''), im peträischen Arabien 6), in Palästina '), bei den l ) Eine fast erschöpfende Zusammenstellung der geographischen Bereiche der Totenklage bei B o c k e l : Psychologie der Volksdichtung ( 2 1913), S. 98ff. — In Deutschland zeigen sich nur noch geringe Spuren einer zeremoniellen Leichenklage, vgl. S a r t o r i : Sitte und Brauch I (1910), S. 138. 147. *) Besonders Jer 16 s ff. Ez 2 4 n . a 2 f. 27m f. ») Jer 166 4839ff. 4 ) J e r e m i a s : Hölle und Paradies bei den Babyloniern, Der alte Orient 1 3 (»1903), S. 12. ») L u c i a n a. a. 0.12. •) M u s i l : Arabia Petraea IU (1908), S.428. ') D a l m a n : Palästinischer Diwan (1901), S. 324.

Kapitel I.

5

Korsen'), in Albaniens), in Montenegro *), bei den Neugriechen *) liören wir von solchen Selbstverletzungen, besonders vom Zerreißen und Zerkratzen des Angesichts bei den klagenden Frauen. Das S c h e r e n e i n e r G l a t z e wird im AT neben der Leichenklage im eigentlichen 6) und neben der im übertragenen Sinne e ) genannt. Auch in ßabylonien Schoren sich die Trauernden das Haar'), und im alten Ägypten trugen die Klageweiber die Glatze*). In Zanzíbar gehen noch heut Sklavenmädchen mit geschorenem Haupt, Totenklagen singend, in den Straßen umher 9 ). In Albanien schneiden sich die trauernden Frauen das Haar ab I0 ), ebenso im peträischen Arabien "). Auch das Z e r r e i ß e n d e r K l e i d e r steht im AT zuweilen neben der Totenklage 12); ebenso ist es in Babylonien 1S), im alten Griechenland") und noch heut im peträischen Arabien"), in Palästina 16 ) und Ägypten"). Die Hebräer legten das T r a u e r g e w a n d , den Saq, bei der Leichenklage an ,8); an sehr vielen Stellen kommt dieser Saq auch im Zusammenhang mit der Totenklage im übertragenen Sinne vor1(l). Bei den Babyloniern findet sich dieselbe Sitte und sogar dasselbe Wort sakku20). Auch in Syrien tragen die Frauen bei der Totenklage als einziges Kleidungsstück das lange, schwarze ziegenhärene Hemde 21). Ähnliches wird von der Trauerkleidung ') G r e g o r o y i u s : Corsica II (1854), S. 30f. ») y. H a h n : Albanesische Stadien I (1853), S. 150. 8 ) Martinengo-Cesaresco:EssaysintheStudyofPolk-Songs(1886),S.372f. 4 ) L i i b k e : Volkslieder der Griechen in deutscher Nachdichtung ( 2 1897), S. XXIV. Jer 16«. «) Jes 15 * Jer 48 37 f. Ez 27 »1 Am 810. ') J e r e m i a s : Hölle und Paradies, S. 11. 8 ) Vgl. z.B. S e e m a n n s Kunstgesch. T. 22,1. 10 o) B u r 1 0 n : ZanzíbarI (1872), S. 428. ) t . H a h n a.a.O. I,S. 150. 12 ") M u s i l a. a. 0. III, S. 428. ) Z. B. 2. Sam 1 u f. 3si. la ) J e r e m i a s a. a. O. S. 11. ") L u c í a n a. a. O. 12. 16 ) M u s i l a.[a. O. III, S. 428. I6 ) D a 1 m a n a. a. O. S. 324; H. S c h m i d t u. K a h l e : Volkserzählungen aus Palästina (1918), S. 251. ") L a n e : Sitten u. Gebräuche der heutigen Ägypter, deutsch von Zenker i n (1852), S. 148. ») 2. Sam 3ai. ») Z.B. Jes22iü Jer4s 69« 4837 E z 2 7 s i Am810 Jol». ,0 ) KAT (»1903), S. 603. ,l ) W e t z s t e i n : Die syrische Dreschtafel, Ztschr. f. Ethnologie 5 (1873), S. 295 f.

6

Kapitel I.

der Fellachen in und bei Jerusalem '), sowie von der der alten Araber *) berichtet. Auch in der Sahara kleiden sich die Klageweiber in Säcke von Ziegenhaar8). Bei der Totenklage ging man in Israel barhaupt (d. h. man löste den Turban, verhüllte aber andrerseits den Lippenbart) und barfuß*). Auch in Rom gingen die trauernden Frauen barfuß5). Noch heut gehen sie in Syrien barfuß und unbedeckten Hauptes 6 ). In einem palästinischen Leichenliede über einen Beduinenhäuptling heißt es: Zweihundert weiße Mädchen entblößen ihr Haupt in der Nacht über dich . . . *) Auch in Bulgarien stehen bei der Totenklage die nächsten Verwandten des Verstorbenen barhaupt in seiner Nähe ®) ; ebenso bedecken sie in Rumänien den Kopf nicht e ). Bei der Leichenklage und ihrer übertragenen Anwendung s t r e u t e man sich in Israel S t a u b aufs Haupt 1 0 ). Ebenso war es im alten Griechenland; in der Ilias wird uns Achilleus bei der Leichenklage um Patroklos folgendermaßen geschildert: Siehe, mit beiden Händen des schwärzlichen Staubes ergreifend, überstreut' er sein Haupt und entstellte sein liebliches Antlitz*1). Auch im alten Ägypten streute sich das wehklagende Trauergefolge Staub aufs Haupt 12 ). Dasselbe wird von den korsischen Weibern '*), von den Frauen, die im peträischen Arabien die Totenklage vortragen 14 ), und von den arabischen Weibern in der Sahara1S) berichtet. *) L i t t m a n n : Neuarabische Volkspoesie, Abh. d. Kön. Ges. d. Wiss. zu Göttingen M . i . V l (1904), S. 90. 118. 132. s ) N ö l d e k e : Beiträge zur Kenntnis der Poesie der alten Araber (1864), S. 181. *) C e r t e u x e t C a r n o y : L'Algérie traditionnelle I (1884), S. 267. 4 ) Ez 24n. 22f. M i l s . 6 ) Bei der Aufbahrungsdarstellung auf dem Grabmonument der Haterier, vgl. S a m t e r : Geburt, Hochzeit und Tod (1911), S. 110. 7 «) W e t z s t e i n a.a.O. S. 295. ) D a l m a n a . a . O . S. 339. 8 ) S t r a u ß : Bulgarische Volksdichtungen (1895), S. 100. 10 ») S l a v i c i : Die Rumänen (1881), S. 171. ) Ez 27so 3. Makk l t 8 . 12 ") Ilias X V i n , 23f. ) E r m a n a. a. 0. S. 434 u. Abb. S. 433. ,a ) G r e g o r o v i u s a. a. 0 . II, S. 30. ») M u s i l a.a.O. III, S. 429. 16 ) N a c h t i g a l : Sahara und Sudan II (1881), S. 93.

7

Kapitel I.

Bei den Israeliten s e t z t e oder l e g t e man sich in der Totentrauer auf die E r d e und hielt auch die Leichenklage im Sitzen'). Das Hocken auf dem Boden bei der Totenklage finden wir auch bei den alten Ägyptern 2 ); ebenso warfen sich die trauernden Babylonier auf den Boden ä ) und wälzten sich die Griechen auf der Erde 1 ). Unter den anderen Zeremonien kommt im Zusammenhang mit der Leichenklage auch das „ T r ö s t e n " vor"), eine Begräbnissitte, die Israel mit sehr vielen Völkern teilt und die auch in den fest geregelten Trauerapparat hineingehört. Dieselbe Sitte findet sich z. B. in Syrien 6 ), im peträischen Arabien 7 ), in Albanien 8 ), Kampanien und Kalabrien e ). Als besondere Kondolenzriten werden im A T mit der Totenklage zusammen „Trauerbrot" und „Trostbecher" genannt10). Von ähnlichen T r a u e r m a h l z e i t e n hören wir auch bei anderen Völkern im Zusammenhang mit der Leichenklage: bei den Hunnen fand z. B. ein Trinkgelage nach der Totenklage um Attila statt 11 ); bei den Litauern wurde noch im 17. Jahrhundert ein großer Topf Fleisch bei der Leichenklage von den Hinterbliebenen aufgegessen 12). Ebenso halten noch heut viele Völker, welche die Leichenklage üben, ein Totenmahl, z. B. die Neugriechen 13), die Albanesen14), die Bulgaren 1S) und Russen " ) . ' ) Gen 23 a f. 2. Sam 13 ai E z 2 6 i e T h r 2 i o Est 4 s.

Vgl. auch das Relief

aus Askalon bei P i e t s c h m a n n : Geschichte der Phönizier (1889), S. 234. «) Vgl. die Abb. bei E r m a n a . a . O . S. 433, S e e m a n n a. a. O . I I , T . l l , 2 20,7. 8)

Jeremias:

Hölle und Paradies, S. 12; M e i ß n e r :

Assyrien I (1920), S. 425.

4)

e)

W e t z s t e i n a . a . O . S. 300f. 8 ) y. H a h n a. a. O. I, S. 1501. 9) ,0)

Babylonien und

Vgl. L u c í a n a. a. O. S. 12. 7)

6)

Jer I67.

M u s i l a. a. 0. I I I , S. 428.

T r e d e : Das Heidentum in der römischen Kirche I V (1891), S. 413. Jer I67;

lies nach

L X X ü r 6 statt a n b V T

und nach V ^ÜiÓ ( G i e s e "

T :

b r e c h t , D u h m , C o r n i l 1). Trauerbrot kommt auch E z 2 4 n . 22 im Zusammenhang mit der Leichenklage vor; lies dort nach T V G ^ I N ( • n ! ? ) Toy, ll)

(Bertholet,

Kraetzchmar). J o r d a n e s : Gotengeschichte (Geschichtschreiber der deutschen Vorzeit,

2. Gesamtausg. V), dtsch. von M a r t e n s X L I X , 258. >*) Z w e c k : Litauen (1898), S. 171 f. » ) v. H a h n a. a. O. I, S. 151. 16)

13)

L ü b k e a . a . O . S. 340.

>6) S t r a u ß a . a . O . S. 100.

W e s s e l o f s k y : Die neueren Forschungen auf dem Gebiete der russischen

Volkspoesie. I. Die russischen Totenklagen, Russische Revue 3 (1873), S. 503.

8

Kapitel I.

Die vorstehenden Belege mögen genügen, um zu zeigen, daß die israelitische Totenklage in denselben Kreis von Sitten hineingehört wie die Totenklage anderer antiker und moderner Völker. Es dürfen also, wenn auch mit aller Vorsicht, P a r a l l e l e n aus der Leichenpoesie dieser Völker h e r a n g e z o g e n w e r d e n , um die Lücken in unserer Kenntnis von der israelitischen Leichenklage zu ergänzen. Von ganz besonderer Bedeutung werden diejenigen Beispiele sein, welche einem Boden und einer Kulturstufe entsprossen sind, die der israelitischen Art nahe stehen, wie die Leichenlieder im heutigen Arabien, Syrien und Palästina. Für die Erkenntnis der altisraelitischen Totenklage haben diese Beispiele dieselbe Wichtigkeit wie etwa die neugriechischen und italienischen Parallelen für die Wiederherstellung der althellenischen und altrömischen Leichenklage. Wir besitzen neben anderen älteren drei neue große Sammlungen von neuarabischen Volksliedern, die im Vorhergehenden schon gelegentlich erwähnt worden sind: die von G. H. D a l m a n : Palästinischer Diwan, E. L i t t m a n n : Neuarabische Volkspoesie und A. Musil: Arabia Petraea. Alle drei Sammlungen enthalten zahlreiche Beispiele von Leichenliedern. Neues Licht über die Aufftihrungsart der altisraelitischen Totenklage hat neben diesen Sammlungen die anschauliche Darstellung heutiger Leichenklagen im Hauran durch W e t z s t e i n verbreitet 1 ). Wenn wir nun versuchen, den S i n n der T o t e n k l a g e festzustellen, so erhalten wir allerdings im AT keinen unmittelbaren Aufschluß darüber. Nur das tritt unverkennbar hervor, daß sie wie die anderen Trauerriten den Charakter einer u n b e d i n g t e n V e r p f l i c h t u n g hat. Diese Verpflichtung ist so schwerwiegend, daß an mehreren Stellen die Totenklage an Bedeutung geradezu neben dem Begräbnis steht a ). Demnach scheint es im alten Israel ebenso unerläßlich gewesen zu sein, vorschriftsmäßig beklagt als richtig begraben zu werden. Die gleiche Auffassung galt bei den Griechen, denn in der „Antigone" wird es zweimal ausdrücklich erwähnt, daß die Leiche des Polyneikes weder beerdigt noch beklagt werden soll *). Ez 24u ff. wird das Aussetzen ') A.a.O. 5. Die Tafel als Paradebett, S. 294ff. 2) 1. Reg 13 s» f. 1413. is Jer 16«. e 22,» f. •) Sophokles, Antigone 28. 204.

9

Kapitel I.

der Leichenklage als eine Unnatur empfunden, nur verständlich durch seine symbolische Bedeutsamkeit; Jer 16 5 wird die Nichtbeteiligung an der Leichenklage und den anderen Trauerbräuchen unter die besonderen Enthaltungen des Propheten Jeremia gerechnet, die von der herrschenden Sitte aufs stärkste abweichen. Den uns naheliegenden Begriff einer unabweisbaren Liebespflicht dürfen wir aber nicht ohne weiteres auf jene antiken Verhältnisse übertragen. Nur in ganz seltenen Fällen läuft in späterer Zeit einmal bei der Erwähnung der Totenklage ein Ausdruck von wirklicher Empfindung mit unter, wie Jubil 36 24, WO es von der Leichenklage Jakobs um Lea heißt: Er beklagte sie sehr, denn er liebte sie mit seinem ganzen Herzen ganzen Seele.

und

mit seiner

Ez 2417 wird die Leichenklage geradezu in Gegensatz zum stillen Seufzen, dem unwillkürlichen leisen Ausdruck des Gefühls, gesetzt. Noch Jesus Sirach schildert die Verpflichtung zur Trauer um einen nahestehenden Verstorbenen mit folgenden charakteristischen Worten (38i«f.): 18

Mein Sohn, wegen eines Toten laß Tränen fließen, und sei betrübt und stimme die Totenklage an. Und wie es ihm gebührt, bestatte seinen Leib, und entziehe dich nicht bei seinem Abscheiden. 11 Laß bitter sein das Weinen und heiß die Klage, und halte die Trauer, wie es seiner würdig ist, Einen oder zwei Tage wegen der Nachrede, und tröste dich um des Kummers willen').

Die Leichenklage hat also wie die anderen Trauerbräuche einen zeremoniellen Charakter: man vollzieht sie in einer genau vorgeschriebenen Art mit festen Klagezeiten und mit bestimmter Klagedauer und wendet sich nach ihrer vorschriftsmäßigen Erledigung dem Leben wieder zu. Bezeichnend für diesen zeremoniellen Charakter ist es, daß David seinen Hof zur Totenklage um Abner wie zu den anderen Trauerriten „kommandiert" *). Für diese Auffassung der Totenklage haben wir auch viele Belege außerhalb Israels. Bei den Korsen z. B. werden die Zusammengekommenen von einem Weibe aus der trauernden Familie feierlich zum ») Nach S m e n d : Die Weisheit des Jesus Sirach (1906).

') 2. Sam 3»i.

10

Kapitel I.

Klagen eingeladen '). Ebenso wird der Schluß der Klage zu einem bestimmten Zeitpunkt geboten: in der Totenklage um einen Königssohn der Madagasker heißt es zuletzt: Genug der Klagen über meinen Sohn. Fröhlichkeit folge auf die Trauer! Morgen vielleicht gehen wir eben dahin, wohin er ging'). Ähnlich in der Ilias: Denn zu viel aufeinander und scharweis jegliches Tages fallen sie: wer vermöchte dann aufzuatmen vom Kummer? Billig demnach jedweden beerdiget, wie er gestorben, mit verhärteter Seel', und einen Tag ihn beweinend"). Von den Juden in Algier wird uns erzählt, daß die verwandten Weiber sich bei der Totenklage im Heulen und Schreien ablösen und daß die Abgelöste dann gleich wieder ganz munter wird, ihren gewöhnlichen Verrichtungen nachgeht und garnicht an den Trauerfall zu denken scheint, bis wieder ihre Stunde kommt, wo sie klagen, schreien und sich die Haare ausraufen muß 4 ). Derselbe rasche Wechsel in der Stimmung der klagenden Weiber wird z. B. in Polynesien beobachtet: in eine lärmende Schar, die sich in Totenklagen erging, drängten sich einmal zwei Weiber, die riefen, sie seien mit Weinen noch nicht fertig, müßten aber erst Kartoffeln braten, dann wollten sie weiter weinen 6). Ebenso kann man Muhammedanerinnen zu einer bestimmten Stunde an gewissen Tagen in der Woche munter durch die Straße bis zu dem Grabe ihres Anverwandten oder einer Moschee gehen sehen und, sobald sie sich an einen gewissen Platz gesetzt haben, eine ganze Stunde lang weinen und schreien hören, um sie nachher wieder ohne ein Zeichen der Betrübnis weggehen zu sehen"). Ähnlich klingt das, was wir in einem Märchen über die Totenfeier der überaus gefürchteten und verhaßten Frau des Häuptlings Longa-Poa in Tonga hören. Als die Nachricht von ihrem Tode kam, sagte der ') G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 30. ) H e r d e r : Stimmen der Völker, Herders Werke, Ausgabe von H. M e y e r 1 2 (1894), S. 500. ») Ilias XIX, 226 S. 4 ) W a g n e r : Reisen in der Regentschaft Algier II (1841), S. 101. 6 ) W a i t z - G e r l a n d : Anthropologie der Naturvölker VI (1872), S. 111. e ) N i e b u h r : Reisebeschreibung nach Arabien I (1774), S. 1861. s

Kapitel I.

11

König: „Also ist Fekai verschieden! Sie war wirklich eine eigenartige Frau. Wir wollen heute ihr Totenfest feiern. Leute, es soll ein großes Fest werden, denn sie war eine vornehme Frau und die Tochter eines Königs 1).B Da bereiteten die Leute das Totenfest und betrauerten Fekai, daß sie tot war. Viele Stimmen wehklagten, aber kein Auge wurde naß; und als der alte Afu, nachdem das Fest vorüber war, laut sagte: „Im Leben tat sie nie Gutes, doch im Tode hat sie es getan; ich habe auf ihre Rechnung gegessen und bin mehr als satt", da brüllten sie alle vor Lachen . . . 2). Aber überall tritt die unerläßliche Verpflichtung zur Leichenklage mit demselben Ernst wie in Israel auf. A u s o n i u s , der gallische Präfekt und Rhetor (4. Jh. n. Chr.), spricht z. B. in der Praefatio zu seiner Neniensammlung „Parentalia" von jährlichen Verpflichtungen der Hinterbliebenen zur Leichenklage, die nach dem Verwandtschaftsgrad oder der Todesart des Verstorbenen genau abgestuft seien 3 ). § 3. Animistischer Ursprung der Trauerbräuche. 'Die Leichenklage trägt also meistens nicht den Charakter eines spontanen Schmerzensausbruchs, sondern den einer mit Überlegung in Szene gesetzten Veranstaltung. Deshalb liegt der Gedanke nahe, daß sie nicht nur zufällig neben den anderen Trauerbräuchen vollzogen wird, sondern daß sie auch demselben Bereich entstammt wie sie, mit denen sie diesen zeremoniellen Charakter teilt. Soweit der ursprüngliche Sinn dieser Gebräuche noch zu erfassen ist, führt er in eine Vorstellungs- und Gefühlswelt hinein, die von der Totentrauer des modernen Menschen weit entfernt ist. Auch die Totenklage, die ihm von vornherein verständlicher erscheint als die anderen Trauerbräuche, mag dieser fremdartigen Welt einst angehört haben, aber hier haben sich ihre Spuren infolge einer langen Entwicklungsgeschichte noch mehr als an den verwandten Zeremonien verwischt. Wir l

) Ganz parallel sind die Worte Jehus mit Bezug auf Isebel: „Seht doch nach dieser Verfluchten und begrabt sie; denn sie ist die Tochter eines Königs" (2. Reg 9 »i). a ) „Die Geschichte von Longa-Poa", Südsee-Märchen, herausg. von H a m 3 bruch (1916), S. 118. ) A u s o n i i , Opera, ed. societ. Bipont. (1785), V. 6fi.

12

Kapitel I.

wollen deshalb versuchen, an der Hand dieser anderen Trauerriten den Weg zu jener verschollenen Welt zurückzufinden. Die S e l b s t v e r l e t z u n g e n der Klagenden: das Zerkratzen des Gesichts, die Geißelung, die Verwundung mit scharfen Steinen und Messern, könnten ja auch leicht als Äußerungen des verzweifelten Schmerzes der Hinterbliebenen aufgefaßt werden. In entwickelteren Kulturen sind sie es wirklich vielfach geworden und haben sich in Anpassung an diesen neuen Sinn zu einem — oft taktmäßigen — Schlagen der Brust und Hüften oder Wangen abgeschwächt, (das indes auch neben den Selbstverletzungen vorkommt), z. B. im heutigen Palästina 1 ), bei den alten Griechen2), den Neugriechen 3 ), den Albanesen4), in Montenegro5), auf Korsika6). Aber ihre ursprüngliche Bedeutung wird mit dieser Erklärung nicht erschöpft. In den meisten Fällen hören wir nämlich, daß die Selbstverletzungen soweit getrieben werden, bis Blut fließt, und der Gedanke liegt nahe, daß dieses Blutvergießen nicht etwa der gefühlsmäßige Ausdruck eines besonders heftigen Schmerzes, sondern vielmehr der vorbedachte Zweck der Selbstverletzungen ist. Das beweisen Berichte von den Selbstverletzungen neuerer Völker bei der Totentrauer: in NeuSüdwales schlugen sich z. B. die Trauernden am offenen Grabe gegenseitig mit dem Bumerang die Köpfe blutig und hielten sie dann über das Grab, so daß das Blut aus den Wunden auf den Leichnam floß7). In Westaustralien kratzen und schlagen sich am Grabe Männer und Weiber die Schenkel auf, dann stampfen sie mit dem Fuß auf den Boden, so daß sie das Blut rund um sich spritzen. Darauf wischen sie die Wunden mit einem Bündel von Blättern ab und werfen dieses auf den Toten 8 ). Wenn wir ') S c h m i d t - K a h l e a.a.O. S. 252. Auch für das alte Israel ist dieser Gestus des Schlagens anzunehmen, da die Grundbedeutung von "1DD, dem allgemeinen Ausdruck für „Totenklage halten", nach dem Syrischen wohl „schlagen" ist (KAT 8 , S. 604), vgl. auch in übertragenen Anwendungen des Gestus pQD Jer 31ig Ez 21n. — Eine bildliche Darstellung aus Ägypten bei S e e m a n n a. a. 0. T. 20, 7. ») Ilias XVJII, 30 f. 50 f. ') L ü b k e a. a. 0. S. XXIV. v. H a h n a. a. 0 . 1 , S. 150. 6 ) M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a.a.O. S. 372f. •) G r e g o r o v i u s a.a.O. II, S. 30f. ^ R o b e r t s o n S m i t h : Religion der Semiten, dtsch. von S t ü h e (1899), S. 248. *) v. D u h n : Rot und Tot, Archiv für Religionswissenschaft 9 (1906), S. 15f.

Kapitel I.

13

ferner hören, daß bei den Bewohnern von Tahiti sogar ein besonderes Instrument für die Selbstverletzungen bei der Totentrauer hergestellt wurde, mit dem sich jede Frau nach ihrer Verheiratung versah 1 ), so wird es noch deutlicher, daß der Brauch ursprünglich nicht der Ausdruck schmerzlicher Verzweiflung gewesen ist. Offenbar sollte das dabei vergossene Blut dazu dienen, die Totengeister zu besänftigen; diese ursprüngliche Bedeutung des Ritus bei der Totentrauer in Rom war dem Varro noch bekannt 8 ). Die Schatten werden nämlich blutgierig gedacht, weil sie selbst körper- und blutlos sind *). Deshalb sind sie den Lebenden gefährlich, wenn diese Gier nicht befriedigt wird4). Der Primitive hält es überhaupt für möglich, anderen durch Zuführung des eigenen Blutes neue Lebenskraft zu verschaffen: die Spendung von dem Blute gesunder an kranke, schwache oder jugendliche Personen bei denselben australischen Stämmen, die ihr Blut den Toten darbringen 6 ), bestätigt die oben vorgetragene Deutung. Durch die Gesetze Solons6) und die Zwölftafelgesetze') waren die Selbstverletzungen bei der Trauer in Athen und Rom verboten; ganz parallel sind die alttestamentlichen Gesetze, welche die Einschnitte wegen eines Toten untersagen 8 ). Auch daß diese Verbote in Israel nicht befolgt worden sind9), entspricht den Verhältnissen im griechischen und römischen Altertum ,0 ). Diese Verbote bezwecken nicht etwa aus Menschlichkeit die Einschränkung einer übertrieben heftigen Totentrauer, sondern sie bekämpfen offenbar aus religiösen Gründen in den Trauerriten Überreste primitiverer Vorstellungen, die zumeist im A n i m i s m u s *) F r a z e r : Folk-Lore in the Old Testament III (1919), S. 286. 8 ) Varro . . . dicit mulieres in exsequiis et luctu ideo solitas ora lacerare ut sanguine ostenso inferis satisfaciant ( S e r v i u s , in Vergil. Aeneid. commentar. III, 67, rec. T h i l o - H a g e n I 1 (1878), p. 349). ») Odyssee XI, 35lt.; ygl. R o h d e : Psyche I ('- 8 1921), S. 55ff. *) Vgl. S a m t e r : Geburt, Hochzeit und Tod (1911), S. 177. 179. Als Ablösung des Blutopfers ist vielleicht die rote Farbe anzusehen, mit der die Leichen in vielen Fällen bestrichen werden, vgl. v. D u h n a.a.O. S. lfi. 6 6 ) Vgl. F r a z e r a. a. 0. III, S. 301f. ) P l u t a r c h , Solon 21. ') C i c e r o , de legibus II, 59. ») Lev 192a 21 6 Deut 14i. 10 •) Z.B. Jer 16s. ) Vgl. S a m t e r a.a.O. S. 178.

14

Kapitel I.

oder Seelenglauben wurzeln, vielleicht auch sogar die Auswirkungen dieser Vorstellungen im Totenkult 1 ). Ein solcher Ursprung der Trauerriten ist zwar am leichtesten an den Einschnitten und anderen Selbstverletzungen festzustellen — kommen sie doch auch mit der Absicht des Blutopfers im ') Vgl. Literatur über Seelenglauben und Toten Verehrung: T y l o r : Die Anfänge der Kultur, dtsch. von S p e n g e l u. P o s b e (1873); W u n d t : Völkerpsychologie 11 2 (1896), IV (21910); R o h d e a. a. 0.; S c h w a l l y : Das Leben nach dem Tode nach den Vorstellungen des alten Israel und des Judentums (1892); L o d s : La croyance à la vie future et le culte des morts dans l'antiquité israélite (1906); T o r g e : Seelenglaube und Unsterblichkeitshoffnung im Alten Testament (1909); B e r t h o l e t : Die israelitischen Vorstellungen vom Zustand nach dem Tode ( 2 1914); E l h o r s t : Die israelitischen Trauerriten, ZAW Beiheft 27 (1914), S. 117ff.; F r a z e r a. a. 0. III, S. 270ff. — In letzter Stunde vor Drucklegung dieser Arbeit werde ich aufmerksam auf H. N a u m a n n : Primitive Gemeinschaftskultur (1921) und kann leider nur noch flüchtig in Anmerkungen auf Aufsatz II Primitiver Totenglaube, S. 18ff. Bezug nehmen. N a u m a n n entwickelt hier auf Grund eines reichen Materials die Theorie eines Präanimismus auf dem Gebiete des Totenglaubens, die viel Einleuchtendes hat. Die Idee von der Existenz einer menschlichen Seele hat seiner Ansicht nach eine Abstraktion zur Voraussetzung, die dem Urmenschen als ursprüngliche Stufe nicht zugestanden werden kann. Er setzt deshalb vor der „Seele" einen neuen Begriff, den des „Lebendigen Leichnams", an. Der Primitive stelle sich nämlich, weil er den Tod nicht begreift, ein Portleben des Verstorbenen in rein körperlicher Art mit den Eigenschaften des lebendigen Körpers vor, die allerdings zu übernatürlichen Kräften erhöht sind. Daher ist der lebende Leichnam als Wiedèrgânger gefürchtet, und eine ganze Reihe von Vorkehrungen gegen den wiederkehrenden Toten (siehe die Ausführungen unten) möchte Naumann schon dieser Stufe des Präanimismus zuweisen. Aber nicht nur diese Abwehrriten, sondern auch die Bräuche des Totenkults (siehe unten) hält er für vereinbar mit den Vorstellungen vom lebenden Leichnam. Grabritus und Grabbeigaben von Speise und Trank, Werkzeugen, Waffen, Kleidern usw. erklären sich seiner Meinung nach am besten von dieser Vorstellung aus, wonach der Verstorbene sein Leben im Grabe weiterlebt. Ich würde andrerseits annehmen, daß Riten wie Blut- und Haaropfer sich leichter von den amnestischen Vorstellungen aus verstehen lassen; Naumann betont selbst, daß dem Primitiven gerade durch das Weiterwachsen des Haares, Bartes und der Nägel des Toten, sowie durch die Veränderungen, die mit seinem Körper vor sich gehen, das Weiterleben des Toten bewiesen wird (S. 27) ; er wird also solcher Gaben wie Blut und Haar eher auf einer Stufe zu bedürfen scheinen, wo man sich ihn körperlos vorstellt. Im übrigen nimmt Naumann auch Überschneidungen der seelischen und unseelischen Vorstellungen, „fortgeerbten" Präanimismus im Animismus an (S. 24. 31).

Kapitel I.

15

Götterkult vor') — aber es liegt nahe, ihn auch für die übrigen Trauerbräuche anzunehmen. So wird das G l a t z e - und B a r t s c h e r e n wahrscheinlich auf ein ursprüngliches Haaropfer an den Toten zurückzuführen sein. Bei den alten Griechen wenigstens ist ein solches Haaropfer bezeugt: die Myrmidonen werfen die Haare, die sie sich abgeschnitten haben, auf die Leiche des Patroklos 2 ), Achilleus legt sein Haar der Leiche in die Hände 3), Oi'estes bringt am Grabe Agamemnons eine Locke dar 4 ). Ähnliche Haaropfer finden sich noch jetzt; besonders dauerhaft ist die Sitte bei den Arabern: noch heute kann man die schwarzen, im Winde wehenden Zöpfe der Frauen auf frischen Beduinengräbern beobachten 6 ). Aber auch in Griechenland, Apulien, Serbien, Neuseeland und anderen Ländern wird das Haaropfer noch heut bezeugt 6 ). Ob es nun als Ersatz für Menschenopfer aufzufassen ist oder nicht, jedenfalls gilt das Haar ebenso wie das Blut als Kraft- und Lebensträger 8 ). Bei den Israeliten fehlt zwar jede sichere Spur einer Darbringung des Haares an die Leiche oder seiner Niederlegung auf dem Grabe 9 ), aber auch die bloße Haarschur kann kultische Bedeutung gehabt haben; sie kommt auch in Götterkulten vor 10) und könnte deshalb als Trauerritus, auch ohne Zusammenhang mit dem Haaropfer, aus dem Totenkult stammen. Immerhin scheint ein Umstand darauf hinzudeuten, daß nicht die Glatze, sondern das Haaropfer Zweck der Haarschur gewesen ist. Wir hören nämlich bei vielen Völkern, daß die trauernden Frauen bei der Leichenfeier aufgelöstes Haar tragen, z. B. im heutigen ') Siehe 1. Reg 18 as , vgl. Lods a. a. 0. S. 138ff.; E l h o r s t a. a. 0. S. 120; B e r t h o l e t a.a.O. S. 15f.; R o b e r t s o n Smith a.a.O. S. 2468. ») Ilias XXIII, 135. 3) Ilias XXIII, 152f. 4) A i s c h y l o s , Choephoroi 6f. B ) K a r g e : Rephaim (1918), S. 649. — Daß die Araber auch die Mähnen ihrer Rosse bei der Totentrauer Schoren, zeigt deutlich, daß auch das Ausraufen der Haare bei den Menschen ursprünglich nicht gefühlsmäßig begründet war, siehe Goldziher: Muhammedanische Studien I (1889), S. 245. Vgl. auch Herodot 8 IX, 24; Plutarch, Alex. 72. ) Beispiele bei S a m t e r a. a. 0. S. 180f. ') Roh de a.a. 0.1, S. 17 1 ; Samt er a.a.O. S. 183 in vielen Fällen. 8 ) E l h o r s t a. a. 0. S. 120; K a r g e a. a. 0. S. 549; Wundt a. a. 0. IV, S. 102; F r a z e r a. a. 0. HI, S. 302f. ") Es ist fraglich, ob man Jer 7 ig in diesem Sinne verstehen darf, vgl. I0 K a r g e a. a. 0. S. 549. ) Vgl. E l h o r s t a. a. 0. S. 119.

16

Kapitel I.

Palästina'), bei den Indern, in der Bukowina*), bei den Neugriechen *), den Korsen*) und vielen anderen; bei den Israeliten ließen es auch die Männer fliegen8). Diese einander scheinbar widersprechenden Trauertrachten, Glatze und aufgelöstes Haar, lassen sich,so miteinander in Einklang bringen, daß ursprünglich das Haar des darzubringenden Haaropfers wegen, das durch Ausreißen oder Scheren gebracht werden konnte, aufgelöst getragen wurde 6 ). Aus einer Abbildung ägyptischer Klageweiber auf dem Sarg des Anchpechrod erkennt man auch, daß die Trauerglatze nicht etwa in einer Schur des gesamten Haupthaares, sondern nur in einem herausgeschnittenen Zwickel am Rande des Stirnhaars bestand 7 ), und ebenso hören wir im AT einmal von der Glatze „vorn an der Stirn" 8 ). Ähnliches wird von der Totentrauer auf Tahiti berichtet: die um ihr Kind trauernden Eltern Schoren sich dort eine Glatze, die zuweilen nur auf eine Ecke an der Stirn beschränkt war 9 ). Auf Halmahera, einer Insel im Westen von Neu-Guinea, werden zum Zwecke des Haaropfers den Trauernden nur die Spitzen der Augenbrauen und der Schläfenlocken abgeschnitten 10 ). Gerade die kleinen Einschnitte hängen also deutlich mit dem Haaropfer zusammen und deuten auch dort auf diesen Ursprung zurück, wo ein solches Haaropfer nicht mehr bezeugt ist, ebenso wie die Einschnitte in der Haut auf den Ursprung aus dem Blutopfer Ahnlich steht es mit den Einschnitten am Kinnbart, die wir uns in Israel auch als Trauerzeichen vorzustellen h a b e n 1 ; noch heut schneiden sich bei einigen australischen Stämmen die Trauernden Stücke vom Bart ab und werfen sie auf den Leichnam 12). Die Erinnerung ^n den Ursprung dieser Riten aus dem Haaropfer lebte nicht nur im Verbot der Glatze'"), sondern auch 2 ») D a l m a n a. a. 0. S. 324. ) S a r t o r i a. a. 0 . 1 , S. 148 at . 3 ) L ü b k e a. a. 0. S. XXIV. G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 30f. 5 ) Lev 10e (13«). •) Gegen E l h o r s t a.a.O. S. 127 1 , der beide Riten für unvereinbar hält. ') S e e m a n n s Kunstgeschichte 11, T. 22, 1, vgl. dazu G r e ß m a n n : Die Haartracht der Israeliten, ZAW Beiheft 34 (1920), S. 62. 8 10 ) Deut 14i. ») F r a z e r a. a. 0. III, S. 287. ) Ebenda HI, S. 284. ") Vgl. G r e ß m a n n a. a. 0 . S. 62. — Im AT nur als Ritus bei öffentlichem 19 Unglück überliefert: Jes 15> Jer 41» 48 ai. ) P r a z e r a. a. 0. III, S. 297. i3 ) Lev 19 2 , 21s Deut 141.

Kapitel I.

17

in der Untersagung des Fliegenlassens der Haare1) fort. Das Glatzescheren war ja vielleicht ohnehin durch seine Beziehung zu Götterkulten verdächtig, aber das Haarausraufen war doch allmählich zu einer Schmerzgeberde geworden 2 ), und nicht einmal diese Umwandlung vermochte es, diese Sitte endgültig aus der anstößigen animistischen Sphäre in die erlaubte der menschlichen Gefühlsmäßigkeit zu verschieben3). Der Kreis von Trauerbräuchen, die in irgend einer Verä n d e r u n g der K l e i d u n g bestehen, zeigt eine große Mannigfaltigkeit. Am häufigsten kommt das Z e r r e i ß e n der K l e i d e r ») LevlO«. *) Nicht nur die Berichte von den Totenklagen der verschiedensten Völker erwähnen diese Geberde, sondern auch die meisten der auf S. 2f. angeführten bildlichen Darstellungen von Klageweibern stellen diese das Haar raufend oder wenigstens nach dem Haupte fassend dar. Auf den ägyptischen Abbildungen von Leichenbegängnis und Trauerfeier, S e e m a n n s Kunstgesch. I l , T. 11,2. 20,7. 22,1, fassen Männer und Frauen nach dem Haupte, einzelne legen geradezu die Hand auf den Kopf, ebenso die klagende Frau, W i e d e m a n n : Das alte Ägypten (1920), Abb. 14, S. 114, und eine Gestalt auf der etrurischen Abb. Mélusine 1, S. 215. Zwei der Klageweiber, S e e m a n n a. a. 0. T. 22, 1, legen deutlich die Hand auf ihre Glatze; dasselbe gilt vielleicht für die klagenden Männer und Frauen T. 11, 2. Möglicherweise liegt bei dieser Geste ursprünglich die Absicht vor, die Aufmerksamkeit des Totengeists auf sich zu lenken und ihn durch den richtigen Vollzug der Trauerriten zu besänftigen. Wenn 2. Sam 131» Thamar sich die Hand aufs Haupt legt, so ist dies sicher ein echter Trauergestus, den sie unter anderen Riten in übertragener Anwendung ausübt, also entweder ein Nachklang jener eben beobachteten Geberde oder eine Abblassung des Haarausraufens. Derselbe Trauergestus begegnet uns aber auch noch in einer anderen Situation: assyrische Darstellungen von gefangenen Frauen, die aus der eroberten Stadt weggeführt werden, zeigen diese, die Hand auf dem Scheitel haltend, z. B. auf den Schienen der Torflügel von Balawät, Schiene H 6, M 6, Beiträge zur Assyriologie 6 (1909), Heft 1, Tafel III, IV. Durch diese Abbildungen wird übrigens der Sinn der Stelle Jer 2»7 deutlich: Israel wird auch von einem Bündnis mit Ägypten wie von dem mit Assur enttäuscht werden und auch von dort herauskommen „die Hände auf dem Kopf", d.h. mit dem Trauergestus der Gefangenen. — Alle diese Übertragungen haben sich weit von dem Ursprung des Gestus entfernt; eine Entwicklung seines Sinnes liegt aber auch schon in der Totentrauer selber vor: bei einzelnen Leidtragenden auf den herangezogenen ägyptischen Abbildungen haben diese Geberden schon unverkennbar den Ausdruck wirklichen Schmerzes. 3 ) Auch bei anderen Völkern wird nicht nur die Haarschur, sondern auch das Haarausraufen verboten, z. B. bei den Basken, vgl. M i c h e l : Le Pays Basque (1857), S. 278. Beihelte z. ZAW 36

2

18

Kapitel I.

und das A n l e g e n des Saq vor. Ob man bei den Israeliten beides so verbinden darf, daß man sich den Saq als zerrissenes oder geschlitztes Gewand vorstellt ist fraglich, da an vielen atl. Stellen das Zerreißen der gewöhnlichen Kleider als ein besonderer Akt vom Anlegen des Saq getrennt wird 2 ). Freilich sind die ägyptischen Klageweiber auf dem Sarg des Anchpechrod in zerrissenen Gewändern dargestellt"), und diese Trauergewänder zeigen durch die kenntlich gemachte schwarze Farbe, daß sie im übrigen dem Saq aus schwarzem Ziegenhaar entsprechen, wie er noch heut im Hauran getragen wird 4 ) und wahrscheinlich schon ) in Israel üblich war 6 ). Der Oberkörper der Klageweiber ist unbedeckt 6 ); der Saq wurde also auf dem bloßen Körper getragen und war ursprünglich wohl überhaupt nur ein Lendentuch 7 ). Das Abwerfen der Kleider und ihr Ersatz durch den Saq ist zusammenzustellen mit dem A b l e g e n der S a n d a l e n und d e s T u r b a n s 8 ) und mit der Entblößung von Arm und Schulter bei der Totentrauer der Juden in Palästina, von der wir aus dem Talmud hören 9 ). Alle diese Riten sind augenscheinlich Abschwächungen ursprünglicher völliger Nacktheit bei der Trauer 10 ). Manche Erklärer wollen allerdings diese Nacktheit nur als eins der Mittel gelten lassen, die die Hinterbliebenen vor den Totengeistern unkenntlich machen sollen11). Diese Auffassung findet ATAO ( 3 1916), S. 627. ) Z.B. Gen 37 84 und an zahlreichen Stellen, die von der Anwendung des Trauerritus bei öffentlichem Unglück handeln, wie 1. Reg 2 1 « 2. Reg 19i. 3 4 ) S e e m a n n a. a. 0 . T. 2 2 , 1 . ) Vgl. W e t z s t e i n a. a. 0 . S. 295f. ®) Vgl. Apk 6 1 9 . ") Ebenso bei einigen Klageweibern auf der Abb. bei S c h ä f e r a . a . O . T. 3 5 , 1 , bei der klagenden Frau bei W i e d e m a n n a. a. 0 . Abb. 14, bei Klagemännern und -trauen, S e e m a n n a. a. 0 . T. 1 1 , 2 und bei den meisten Leidtragenden auf den Schiffen des ägyptischen Leichenzuges, E r m a n a. a. 0 . S. 433. 7 ) Vgl. auch Gen 37at Jer 48a? Am 810. 9 ) Ez 2 4 n . 28. Vgl. das noch heut übliche Hutabnehmen angesichts der Leiche, siehe S a r t o r i a. a. 0 . 1 , S. 148. 9 ) Vgl. J a s t r o w : Baring of the Arm and Shoulder as a Sign of Mourning, Z A W 22 (1902), S. 117 ff. 10 ) W e i n h o l d : Zur Geschichte des heidnischen Ritus, Abhandl. der Berliner Akad. d. Wiss. (1896), S. 5; S a m t e r a. a. 0 . S. 110. ") Z. B. F r a z e r : Journal of the Anthropolog. Institute 15 (1886), S. 98, der übrigens dem Ritus des Haarabschneidens dieselbe Deutung gibt; u. Folklore III, S. 236. a

Kapitel I.

19

eine Stütze in der Tatsache, daß die Nacktheit häufig in Verbindung mit dem Brauche vorkommt, den Körper zu bemalen oder zu beschmieren'). Andre deuten das Abwerfen der Kleider als Vorsichtsmaßregel gegen den Unterschlupf suchenden Totengeist oder gegen Ansteckungsstoffe, die man sich von der Leiche ausgehend dachte s ). Daß man solche Gefahren wirklich fürchtete, beweist z. B. das Ausschütteln des Gewandzipfels der Hinterbliebenen nach dem Totenmahl bei den vedischen Indern 8 ). Aber auch auf die Möglichkeit eines dem Haaropfer entsprechenden ursprünglichen Kleideropfers4) weisen manche Spuren zurück: in einem babylonischen Gebet versichert ein Besessener, der von einem Totengeist übel zugerichtet ist, er habe diesem schon Kleider, Schuhe, einen Lendengurt usw. gegeben 5 ); bei den Arabern treibt man das Tier, das am allgemeinen Totengedächtnistag jedem Toten geopfert wird, meist eine Kamelin, vor der Tötung mit Kleidern usw. beladen in die Wüste. Sie sind nach dem Glauben der Araber für den Toten bestimmt, der nackt ist und Kleider braucht 6 ). In Syrien und Palästina kann man heut noch an den Gräbern muhammedanischer Heiliger oder an heiligen Bäumen Zeuglappen hängen sehen 7). Auch die vedischen Inder spendeten den Totengeistern Stücke von Gewebe als ihr Kleid8). In dem Christendorfe Ramallah in Palästina nimmt jede ') F r a z e r : Journal of the Anthrop. Inst. 15, S. 98f. Er sucht nachzuweisen, daß die Trauertracht überhaupt der gewöhnlichen stets entgegengesetzt ist. Dieselben Riten wie in der Totentrauer: das Beschmieren mit Schmutz und schwarzer Farbe, das Anlegen von zerlumpter Kleidung, die Unterlassung des Waschens, das Scheren des Kopfes und Einritzen des Gesichtes, kommen auch als Entstellungsmaßregeln zum Schutz gegen den neidischen „bösen Blick" häufig vor, vgl. S e l i g m a n n : Der böse Bück und Verwandtes II (1910), S. 39. 222. 243 ff. 286 f. 2 ) B e r t h o l e t a. a. 0. S. 2ff. hält diese Erklärung für die Sitten des Kleiderzerreißens u. Haarscherens für möglich. ») O l d e n b e r g : Die Religion des Veda (1894), S. 553f. 4 ) R o b e r t s o n S m i t h a. a. 0. S. 260; B e r t h o l e t a. a. 0 . S. 10ff., der aber richtig betont, daß nicht ein „Opfer", sondern nur eine Versorgung des Toten vorzuliegen braucht, S. 10. 6 ) J e r e m i a s : Hölle und Paradies, S. 29. •) K a r g e a.a.O. S. 556. 7 ) R o b e r t s o n S m i t h a.a.O. S. 260; C u r t i ß : Ursemitische Religion im Volksleben des heutigen Orients (1903), S. 96 ff. Abbildungen solcher Bäume bei C u r t i ß a. a. 0. S. 97; TuB II (1909), Abb. 155; V o l z : Die biblischen Altertümer (1914), T. 3a. •) O l d e n b e r g a. a. 0. S. 551. 2*

20

Kapitel I.

Sippe zur Beerdigung ein seidenes Kleid mit, das auf das Grab gelegt wird1). Wenn auch die Hinterbliebenen nachher diese Kleider an sich nehmen oder sie an andre verteilen, so haben wir es doch hier mit dem deutlichen Überrest eines ursprünglichen Kleideropfers zu tun. In den Garmina Nisibena des Ephraim S y r u s lautet eine Stelle: „Die Hingeschiedenen sollen nicht bestattet werden unter Verzweiflung, auf heidnische Weise, in Gewändern, mit Wehklage und Tanz; denn der Lebende zieht nur ein Hemd an, und sollte der Tote eine ganze Kleidertruhe sein')?" Nach dieser Stelle liegt es nahe, einen Zusammenhang zwischen den dem Toten gespendeten Kleideropfern und der dürftigen Trauertracht der Hinterbliebenen zu vermuten. Es gibt also gerade für die Kleiderriten eine ganze Reihe von Erklärungsmöglichkeiten, und es ist wohl denkbar, daß bei demselben Ritus verschiedene Motive zusammenwirken, oder auch, daß mit der Zeit eins das andere verdrängt. Die Nacktheit als den ursprünglichen Zweck des Ritus anzunehmen, liegt deshalb nahe, weil sie uns doch auch sonst in ihrer kultischen Bedeutung vielfach bekannt ist 3 ); in der abgeschwächten Form der Barfüßigkeit begegnet sie uns im Jahwekult*), bei den Muhammedanern, in antiken griechischen, römischen, kappadokischen und kimbrischen Kulten6). Wie neben dieser Nacktheit der Füße die völlige Nacktheit der religiösen Ekstatiker, z. B. des verzückten Saul") und der rasenden Kassandra'), steht, so ist neben der Barfüßigkeit auch die völlige Nacktheit bei der Totentrauer bezeugt, z. B. bei den alten Griechen, in Nordindien8), bei den Arabern"), den Mpongwes in Westafrika und den Ewheleuten in ») Spoer u. Haddad: Volkskundliches aus el-Qubebe, ZDMG 68 (1914), S. 246. ®) W e n s i n c k : Über das Weinen in den monotheistischen Religionen Vorderasiens, Sachau-Festschrift (1915), S. 33. — Auch Solon verbot, den Toten mehr als drei Kleider mit ins Grab zu geben (Plutarch, Solon 21). *) Vgl. Heckenbach: De nuditate sacra sacrisque vinculis (1911). 4 ) Ex 3t Jos 516. Vgl. auch B e r t h o l e t a.a.O. S. 14f. «) 1. Sam 19a«. ») Weinhold a. a. 0. S. 4!. ') Die auf vielen antiken Bildwerken dargestellte Nacktheit der Kassandra in der troischen Schreckensnacht ist wohl mit ihrer Prophetie in Verbindung zu bringen, vgl. Weinhold a. a. 0. S. 6. ») Weinhold a. a. 0. S. 17. *) W e l l h a u s e n : Reste arabischen Heidentums (1897), S. 195.

Kapitel I.

§3

21

Togo1). Auch auf den schon mehrmals erwähnten ägyptischen Abbildungen befinden sich unter den Klagenden und Leidtragenden einige völlig nackte Gestalten*), und ebenso lassen sich im AT ein paar Stellen vielleicht als Spuren völliger Nacktheit bei der Totentrauer auffassen 3 ). Über die allgemeine Erkenntnis, daß diese ursprüngliche Nacktheit bei der Trauer eben einen kultischen Sinn gehabt hat, werden wir nicht hinausgehen können; die Einzelheiten der Deutung behalten einen unsicheren Charakter*). Man wird noch am ersten der Auffassung zustimmen können, daß die rituelle Nacktheit in der Totentrauer wie im kultischen Akt überhaupt eine möglichst starke Ablösung des Menschen vom profanen Leben darstellt 6 ). Die V e r h ü l l u n g des L i p p e n b a r t e s 6 ) ist offenbar eine Abschwächung der Verhüllung des ganzen Hauptes 7 ), für die es eine Reihe von Beispielen in der Trauersitte gibt, z. B. das weiße „Notlaken" in der Lüneburger Heide, die „Surregkapp" der nordfriesischen Frauen, den über den Kopf gehängten Mantel, den in manchen hessischen Gegenden bis vor kurzem der Höchsttrauernde trug, das Tuch, das an niederländischen Orten die Frauen des Hauses um den Kopf zu hüllen pflegen, solange eine Leiche im Hause i s f ) . Freilich scheint diese Verhüllung des Hauptes in die entgegengesetzte Richtung wie die auf ursprüngliche Nacktheit zurückdeutenden Trauerriten zu weisen, und es ist ein Zeichen für das irrationale Moment, das ') S a m t e r a. a. 0. S. 112. ) S c h ä f e r a. a. 0. T. 35,1; S e e m a n n a. a, 0. T, 20, 7. 3 ) Jes 32ii (siehe Duhm z. St.) M i l s . *) Vgl- z . B . E l h o r s t a.a.O. S. 124. s ) W e i n h o l d a.a.O. S. 4; S a m t e r a.a.O. S. 114; ähnlich J i r k u : Zur magischen Bedeutung der Kleidung in Israel, ZAW 37 (1917/18), S. 122 f. (in Bezug auf die Barfüßigkeit). J a s t r o w sieht, a.a.O. S. 117 ff., in der Nacktheit im Trauerritus wie im Kultus eine Rückkehr zu uralter Sitte, staffelt aber, S. 120, die Übergänge von der völligen Nacktheit bis zum Ärmelschlitz im Trauergewande so schematisch, daß man sich fragt, oh sich der Trauernde beim Rückgang auf die jeweilig primitivere Stufe der Kleidung nicht manchmal verrechnet hat! ') Ez 2417. g>. ') Anders G r e ß m a n n , ZAW Beiheft 34, S. 66f., der die Verhüllung des Lippenbartes daraus erklären will, daß die Israeliten den ohnehin kurz geschnittenen „Schnurrbart" nicht scheren konnten. ») S a r t o r i a.a.O. I, S. 148 M . a

22

Kapitel I.

aller Sitte innewohnt, wenn bei Ezechiel die Hauptentblößung unmittelbar neben einem Überrest der Hauptverhüllung steht1); aber auch in der Jahwereligion stehen Entblößung und Verhüllung gelegentlich unbefangen nebeneinander4). Man ist geneigt, bei der Verhüllung des Hauptes an ein Schutzmittel gegen den „Blick" der Götter und Dämonen zu denken3). Aber dieser Ritus ist, ähnlich wie der des Kleiderzerreißens, durch die verschiedenartigen Möglichkeiten der Gefühlsgesellung, von der Furcht zur Ehrfurcht, vom Abscheu zum Schmerz, sehr entwicklungsfähig und darum schwer deutbar. Der um Absalom trauernde David verhüllt sich das Gesicht*), und dieser Gestus steht hier nicht als ein „Trauerritus" unter anderen, sondern wirkt schon als eine rein persönliche Schmerzgeberde. Das israelitische Volksempfinden den alten Trauerriten gegenüber, wie es sich in historischer Zeit in gesetzlichen Verboten ihrer Ausübung bekundet, bietet uns auch nur einen schwachen Wegweiser für ihre Deutung. Denn unter den zahlreichen Riten der Kleiderveränderung wird allein der Ritus des Kleiderzerreißens, und zwar nur den Priestern6) oder gar nur dem Hohenpriester6), wohl als * unvereinbar mit der heiligen Kultkleidung, verboten. Das Volksempfinden unterschied hier augenscheinlich zwischen den einzelnen Trauerriten, indem es den Saq den Priestern zugestand, Einritzungen und Glatzescheren auch den Laien verbot und den Priestern sogar das Fliegenlassen der Haare untersagte7). Aber von welchem Gesichtspunkt aus diese Unterscheidungen erfolgten, wird nicht deutlich; fast scheint es, als ob die gewaltsamen Riten ihren Ursprung aus einer anstößigen Sphäre am unverkennbarsten an sich getragen hätten und deshalb verpönt gewesen wären. In der Trauerzeit unterließen die Hinterbliebenen Waschung 8 ) und Salbung 9 ) des Körpers. Obschon sonst das 2 i)E*24i7.nf. )Ex36f. 8 ) Vgl. Greßmann: Mose und seine Zeit (1913), S. 33 1 ; B e r t h o l e t a.a.O. S. 7ff.; E l h o r s t a.a.O. S. 1181.; Samter a.a.O. S. 149f.; hier und bei S a r t o r i a. a. 0.1, S. 148 Beispiele für das der Verhüllung parallele Verbot des Umsehens beim Begräbnis. Vgl. auch die Verhüllung der Braut ebenda I, S. 79. 6 6 2.Saml9 6 . ) Lev 10 6 . )Lev21i0. ') Vgl. oben S. 17. 8 9 ) 2.Saml2jo Judith 103. ) 2. Sam 12 20 14s Judith 10s.

Kapitel I.

23

Wasser eine weitverbreitete Rolle in den Trauersitten spielt1), finden sich doch auch für die in Israel bei der Totentrauer bezeugte Vermeidung des Waschens zahlreiche Parallelen *). Achilleus will sich vor der Bestattung des Patroklos nicht einmal den blutigen Staub abwaschen 3 ), aber auch heutzutage bestehen bei einer Reihe von Völkern strenge Verbote, sich während der Trauerzeit zu waschen. Wo uns etwas über den Sinn dieser Verbote mitgeteilt wird, erfahren wir meistens, daß sie mit Rücksicht auf den Toten erlassen sind: z. B. bei den Hindus wäscht man sich während der den Manen geweihten Tage nicht, weil man fürchtet, der so entfernte Schmutz könne den Toten treffen und belästigen, und in Mecklenburg darf der im Sarge liegende Tote nicht bespritzt werden, sonst würde er später im Hause spuken 4 ). Es mag aber auch die Befürchtung mitwirken, daß etwas von der Person des sich waschenden Menschen in die Gewalt der Seele des Toten oder der noch umgehenden Dämonen, die sich gern in der Nähe des Leichnams aufhalten, geraten könnte 5 ). Dieselbe Furcht begründet vielleicht auch die Unterlassung der Salbung; diese Vermutung liegt deshalb besonders nahe, weil die ältesten Salben Tierfette waren und damit als Seelenträger betrachtet wurden. Statt sich zu waschen und zu salben, b e s t r e u t e man das H a u p t mit Staub 0 ). Dieser Brauch würde, wenn man ihn mit dem Bemalen und Schwärzen des Körpers, des Gesichts und der Hände, wie es ') Vgl. S a r t o r i : Das Wasser im Totengebrauche, Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 18 (1908), S. 353 ff. 2 3 4 ) Ebenda S. 374f. ) Ilias XXIII, 39ff. ) S a r t o r i a. a. 0. S. 374. 6 ) S a r t o r i a. a. 0. S. 375. — Wenn man hört, daß bei bestimmten Indianerstämmen die Trauernden sich nicht waschen dürfen, solange nur noch die geringste Blutspur von den Selbstverletzungen an ihnen haftet ( P r a z e r , Folklore III, S. 280), dann könnte man auch den Wunsch der Hinterbliebenen, den Toten vom richtigen Vollzug der Trauerriten zu überzeugen, als ein Motiv der unterbleibenden Waschung annehmen, vgl. oben S. 17". ") Mit E lho r s t a. a. 0. S. 125 möchte ich "ION bei diesem Ritus, z. B. 2. Saml3 l 8 , nicht mit „Asche" übersetzen, sondern für ein Synonym von "1DJ? halten. Andere erklären "EN als Asche vom „Leichenbrandangeführt bei B e r t h o l e t a.a.O. S. 19 — Von einzelnen Indianerstämmen hören wir, daß die Trauernden sich das Gesicht mit der Asche des Verstorbenen schwärzen ( F r a z e r , Folklore i n , S. 278), aber diese Nachricht ist zu vereinzelt, um allgemeine Schlüsse zuzulassen.

24

Kapitel I.

häufig bei der Totentrauer vorkommt1), zusammenstellte, als ein Verkleidungsritus zum Schutz gegen die Totengeister erklärt werden können 8 ). Aber der Staub begegnet uns auch noch in anderen Trauerriten, und zwar als Staub vom Grabe, der bei den Arabern zur Betäubung des Schmerzes um einen Toten in Wasser gemischt getrunken wird8). Hier handelt es sich doch augenscheinlich um einen Kommunionsritus, und diesen Sinn wird wohl ursprünglich auch das Bestreuen des Hauptes mit Staub gehabt haben. Denn der Staub gilt als das Element der Toten; im Gilgamesch-Epos wird die Unterwelt „Haus des Erdstaubs" genannt 4 ), und es heißt dort von ihr: „wo Erdstaub ihre (der Toten) Nahrung, ihre Speise Lehmerde ist*)". Dieselbe Vorstellung finden wir bei den Israeliten: die Toten sind „Bewohner des Staubes"6); darum wird während der Trauerzeit das Sterbehaus ein „Todestempel" '), in dem die Trauernden sich nicht nur mit Staub bestreuen, sondern sich auch zuweilen darin wälzen"). Das S i t z e n und L i e g e n der Hinterbliebenen am Boden") oder das Schlafen auf der Erde 10 ) während der Trauer wurzelt wohl auch in demselben Vorstellungskreis11); diese Sitte hat vielleicht !) Vgl. oben S. 19. *) F r a z e r , Journal of the Anthrop. Inst. 15, S. 99, begründet diese Erklärung mit dem Hinweis auf die Anwendung dieser und ähnlicher Riten nicht nur beim Tode eines Freundes, sondern auch eines erschlagenen Feindes durch den Mörder, wo sie nicht als Zeichen der Toten Verehrung verstanden werden können. 3 ) Der sog. sulvän, vgl. W e l l h a u s e n a. a 0. S. 163. 4 ) D n g n a d - G r e ß m a n n : Das Gilgamesch-Epos (1911), S. 22.46 (u. 41). «) Ebenda, S. 21. 38; Tgl. auch den Mythus von Istars Höllenfahrt, TuB I, S. 65, 8. o) Jes 26»,; vgl. ferner Gen3i» Koh 320 Hi 171« 20u 21a« Ps 22ao 30i« U 6 4 ; siehe K a r g e a. a. 0. S. 557f. ') E l h o r s t a. a. 0. S. 125. 8 ) Zu entnehmen aus Stellen, wiß Jer 620 Ez 27so Mi Ii®. ») Vgl. oben S. 7. 10 ) 2. Sam 12 u. Es handelt sich hier offenbar um einen wirklichen Trauerritus. Derselbe Brauch bei den vediscben Indern, vgl O l d e n b e r g a. a. 0. S. 578. n ) Andre erklären es als Platzwechsel, um von dem Totengeist nicht gefunden zu werden, z. B. B e r t h o l e t a. a. 0. S. 9; O l d e n b e r g a. a. 0. S. 590. Bei 0 . auch die Möglichkeit einer etwas abweichenden Erklärung, daß nämlich die Hinterbliebenen fürchten, durch die Spuren ihrer Berührung mit dem Toten ihre gewohnten Plätze und Lagerstätten zu infizieren. Daß dieses Motiv wirklich vorkommt, beweist Tob 2«: Tobit schläft, von der Beerdigung verunreinigt, neben der Hofmauer. Hier würde dann die Furcht vorliegen, nicht nur

Kapitel I.

25

einmal eine sehr konkrete Ursache gehabt: ursprünglich begrub man die Toten gern unter dem Estrich des Hauses; dies wird uns noch heut z. B. bei den zentral- und westafrikanischen Negerstämmen und in der Antike bei Griechen und Römern bezeugt l ). Auch in der alten semitischen Welt wird diese Art der Bestattung durch Ausgrabungen a ), arabische Überlieferungen s ), babylonische*) und atl. Zeugnisse5) bestätigt. Ein Volksmärchen aus Palästina erzählt, daß, während das Grab des Toten gegraben wird, die bei dieser Arbeit nicht beteiligten Angehörigen am Boden hocken'). Bei den alten Arabern schlug man über dem Grabe einer verehrten Person ein Zelt auf und hielt sich längere Zeit darin auf 7 ). In Nordkalifornien sitzt die Witwe einige Tage am Grab ihres Gatten oder begräbt sich halb darin8). Der Boden, auf dem die Trauernden sitzen, ist also wohl ursprünglich das Grab; einem späteren, weniger konkreten Empfinden genügte die Berührung mit der Erde im allgemeinen'), in die nach antiker Vorstellung die Seele des Verstorbenen nach dem Tode eingegangen war. Mit diesen Vorstellungen hängt ja auch die Sitte zusammen, den Sterbenden auf die Erde zu legen, damit seine Seele ohne Aufenthalt in das Totenreich eingehen könne. In Thüringen wurde der Sterbende nicht auf die Erde gelegt, sondern auf ihn wurde etwas Erde gelegt 10 ). Solchen Sitten sind doch offenbar die Trauerriten des Sitzens auf der Erde und des Bestreuens mit Staub ganz parallel, und diese Verwandtschaft weist diese Gruppe der Trauerbräuche mit Wahrscheinlichkeit in das Gebiet der Kommunionsriten. Auch die B e s t a t t u n g s r i t e n weisen in Israel und bei den das Lager, sondern sogar das ganze Haus zu verunreinigen. Im übrigen widerspricht dieses Motiv nicht der oben dargestellten Auffassung des Ritas. s ) Ebenda S. 516. >) K a r g e a. a. 0. S. 515f. *) Codex Hammurabi § 227. ») W e l l h a u s e n a. a 0. S. 179. 6 ) 1. Sam 251 1. Reg 2a*. ") S c h m i d t - K a h l e a. a. 0. S. 85®. ' ) G o l d z i h e r : Muhammedanische Studien I (1889), S. 255. s ) P r e u ß : Die Totenklage im alten Amerika, Globus 70 (1896), S. 342. 9 ) Eine ähnliche Entwicklung zum Inkonkreten finden wir bei der Vorstellung, die ursprünglich der Erde von den Gräbern der arabischen Imame besondere Heil- und Schutzkräfte zuschrieb, die aber dann auf das ganze Erdreich eines größeren Umkreises um ein solches Grab erweitert wurde, vgl. Goldziher a. a. 0.1, S. 260s. ">) D i e t e r i c h : Mutter Erde (1913), S. 26!.

26

Kapitel I.

meisten antiken Völkern auf animistische Vorstellungen zurück. Es galt als eine Schändung der Leichen, sie unbestattet liegen zu lassen; solange der Körper unbeerdigt war, fand die Seele keine Ruhe 1 ). Daher war es eine unbedingte Verpflichtung, die Toten zu begraben"). Wie diese Verpflichtung nicht nur zum Heile der Toten, sondern auch zum Schutze der Lebenden vorlag, wird besonders deutlich bei den Babyloniern und Assyrern. Man fürchtete nämlich von den umherirrenden Schatten der Unbegrabenen, daß sie sich an den Lebenden durch allerlei Plagen rächen würden, und in babylonisch-assyrischen Zaubertexten kommen Beschwörungen vor, die sich gegen die von diesen umherschweifenden Totengeistern drohenden Übel richten "). Die Bestattung verfolgte also denselben Zweck wie die zur Abwehr der Totengeister bestimmten Trauerriten, nämlich die Seele zur Ruhe zu bringen und damit unschädlich zu machen. Die Leichenverbrennung erfüllt diesen Zweck noch gründlicher als die Beerdigung 4 ). Bei den Griechen der homerischen Zeit und bei den vedischen Indern war sie die normale Form der Bestattung 6 ), während sie in der semitischen Welt im allgemeinen nicht üblich war. Die Funde in der Verbrennungshöhle in Geser (aus der Zeit um 2500 v. Chr.) beweisen nicht das Gegenteil, sondern deuten wahrscheinlich auf das Vorhandensein nichtsemitischer Bevölkerungselemente in Palästina hin 6 ). Leichenverbrennung 2 ») 2. Sam 21 «fi. ) Tob I n 2 sff.; vgl. oben S. 8. 3 ) J a s t r o w : Die Religion Babyloniens und Assyriens I (1905), S. 371ff. 4 ) Die Leichenverbrennung spielt eine wichtige Rolle in der Theorie von H. N a u m a n n . Sie schien dem präanimistisch denkenden Menschen — so argumentiert Naumann — zunächst als die wirksamste Vorkehrung gegen die Wiederkehr des „lebenden Leichnams". D a dieser aber trotzdem in Träumen und Phantàsieen der Überlebenden wiederkam, bildet sich nun die Vorstellung von einem geheimnisvollen Ding, das den Leib im Tode, w i e dann auch in Schlaf und Traum verläßt. Die Seelenvorstellung resultiert also nach N a u m a n n erst aus der Verbrennung und ihrer Ergebnislosigkeit, ist „ein logischer Schluß aus einem vergeblichen Abwehrritus" (Primitive Gemeinschaftskultur, S. 59f.). Ist dieser Schluß nicht aber vielleicht zu logisch für den doch auch damals noch auf primitiver Stufe stehenden Menschen? Und widerspricht nicht die Verschiedenheit der Praxis in Bezug auf Leichenverbrennung und Beerdigung bei den einzelnen Völkern (vgl. oben) dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, mit dem dieser Schluß auftritt?

") R o h d e a. a. 0 . I, S. 28fi.; O l d e n b e r g a. a. 0. S. 570. 6 ) K a r g e a . a . O . S. 147f.

Kapitel I.

27

fand bei den Israeliten wohl nur in besonderen Fällen statt 1 ). Der Ausbau des Grabes zu einem ewigen Hause in den ägyptischen Mastabagräbern und Pyramiden, sowie in den palästinischen Dolmengräbern mit ihren gewaltigen Steinkammern 2 ) sollte die Ruhe der Toten vor allen Störungen sichern. Es scheint, als ob die lückenlose Vermauerung dieser Gräber auch den Zweck gehabt habe, das Licht von ihrem Inneren fernzuhalten. Die barbarische Sitte der assyrischen Könige, die Mausoleen der verstorbenen feindlichen Könige zu zerstören, so daß die Sonne hineinschauen konnte, und ihre Gebeine aus den Gräbern zu reißen, deutet wenigstens auf die Vorstellung hin, daß das Licht die Ruhe der Toten störe3). Auch die G r a b s t e l e n dienten der Sicherung der Grabesruhe; sie waren Merk-und Warnungszeichen 4 ) für die Lebenden, das Grab nicht zu verletzen und damit etwa den Zorn des Totengeistes auf sich zu ziehen. Aber zugleich scheint der Grabstein als Wohnsitz des Totengeistes, nach der Verwesung des Körpers als einziges Substrat der Seele betrachtet worden zu sein6). Eine ähnliche Bedeutung haben die heiligen Bäume6) an den Gräbern; wie die Steine gelten sie bei primitiven Völkern als Seelensitz T). Grabstelen hatte man schon im alten Ägypten, in Kanaan, Phönizien und Syrien, bei den Griechen und später bei den Römern"). Im alten Israel werden die aufrechten Grabsteine ebenso wie die Kultsteine als „Masseben" bezeichnet 9 ). Ob sie Stätten des Totenkults gewesen sind, läßt sich nicht mit solcher Sicherheit erweisen wie etwa bei den Heroengräbern der Araber ,0 ) oder bei den Grabstelen der Ägypter 11 ) und Ghetiter12), bei denen schon die darauf angebrachten Darstellungen des Totenmahls auf diesen Ursprung hindeuten. Doch ist wahrscheinlich die Be^"zTbT 1. Sam 3112, vgl. zu 2. Sam l « f . Kap. V, § 2. 3 ") K a r g e a. a. 0. S. 379ff. ) Ebenda S. 529f. 4 ) Im Hebräischen 2. Reg 23n, im Griechischen oft orj|ia für Grab mit und ohne Denkmal, beides bedeutet „Zeichen", K a r g e a.a.O. S. 524. 8 ) Daher heißt die Grabstele im Aramäischen Nt^Ci, vgl. L i d z b a r s k i : Handbuch der nordsemitischen Epigraphik I (1898), S. 139. «) Gen 35, 1. Sam31i 3 , vgl. oben S. 19 und ') Vgl. B e r t h o l e t a.a.O. S. 23; K a r g e a.a.O. S. 525. 9 o) K a r g e a. a. 0. S. 523. ) ¡"QHD Gen 35n. i 0 . 10 ) G o l d z i h e r a. a. 0. I, S. 231ff. ") E r m a n a. a. 0. S. 424. 12 ) Ed. M e y e r : Reich und Kultur der Chetiter (1914), S. 36ff.

28

Kapitel I.

handlung der Massebe am Grabe der Debora 1 ) mit Trankspende und Ölsalbung als Spur ehemaligen Totenkults aufzufassen. Die Beduinen gießen noch heut Öl auf die Grabsteine 2 ); auch bei den alten Griechen kam Begießung 3 ) und Salbung der Grabdenkmäler vor*), diese begegnet uns überhaupt bei heiligen Steinen 5 ); daneben erscheint als paralleler Ritus Blutbesprengung 6 ) oder auch beides, Fett- und Blutbestreichung, zusammen 7 ). Aus dieser Verbindung geht schon hervor, daß es sich auch hier bei der Salbung ursprünglich um Tierfette 8 ), also wahrscheinlich um Darbringung von Opferblut und -fett am Kultstein gehandelt haben wird. Die Massebe, die Absalom sich schon bei Lebzeiten aufrichten ließ'), um die Erinnerung an seinen Namen, die durch keinen Sohn gepflegt werden würde, zu sichern, kann als Stätte des Totenkults nicht in Betracht kommen, da sie kein Grabstein war und ein von der Grabstätte losgelöster Totenkult nicht anzunehmen ist10). Doch ist es nicht unwahrscheinlich, daß der Vorstellungskreis, aus dem ein solcher Akt hervorging, letzten Endes doch mit ehemaligem Totenkult zusammenhängt. Denn ähnliche Maßregeln der Vorsorge finden wir bei Völkern, bei denen Totenkult wirklich bezeugt ist, besonders bei den Ägyptern. Dort baute man sich zuweilen selbst das Grab 1 ') oder setzte Stiftungen ein, aus denen die Kosten des Totenkults für die eigene Seele bestritten werden sollten ,a ). Solche Vorkehrungen sind nur da verständlich, wo wie bei Absalom der Sohn, also der zur Vollziehung des Totenkults Nächstverpflichtete, fehlt"), oder wo sonst J

) Gen 35u, vgl. zum Text G u n k e l : Genesis ( s 1910), S. 379. 381!. s ) Vgl. M u s i l a. a. 0. III, S. 451. ) L u c i a n a. a. 0.19. 4 ) S t e n g e l : Die griechischen Sakralaltertümer ( 3 1920), S. 143. б ) Gen 2818; vgl. ß o b . S m i t h a.a.O. S. 175f. ') Z. B. bei den Arabern, Rob. S m i t h a a. 0. S. 155 ') Z. B. auf Madagaskar, F r a z e r bei v. Duhn a. a. 0. S. 22. ») Vgl. oben S. 23. ») 2. Saml8i» 10 ) Eine vom Totenkult noch weiter entfernte und vergeistigtere Entwicklung der Vorstellung von der Erhaltung des Andenkens im Denkmal enthält der Trost an die Verschnittenen Jes 56 < f., vgl. Duhm z. St. ») E r m a n a. a. 0. S. 429f. ») Ebenda S. 437. 1S ) In einem der bereits erwähnten babylonischen Zaubertexte wird unter den verschiedenen umherirrenden Totengeistern genannt: „ein Etimmu, der keine Nachkommen hat", J a s t r o w a. a. 0 . 1 , S. 359. а

Kapitel I.

29

die Befürchtung besteht, daß die Leistungen der Seelenpflege allmählich einschlafen könnten. Immer aber setzen sie voraus, daß diese Leistungen für den Verstorbenen von höchster Wichtigkeit sind, und immer wieder finden wir den Gedanken ausgesprochen, daß man dem Toten nichts Besseres tun könne, als wenn man durch Erweisung des Kults, auch durch Errichtung von Bildwerken und Inschriften seinen Namen „leben macht" 1 ); gerade auch viele Grabstelen tragen die Bemerkung, daß sie dem Vater von seinem Sohne errichtet seien, der seinen Namen am Leben erhält"). Wie wir gesehen haben, könnte der Heiligtumscharakter des altisraelitischen Grabes durch Baum und Malstein bezeugt werden, wenn auch freilich die andere Möglichkeit nicht abzuweisen ist, daß kanaanäische Heiligtümer von den Israeliten übernommen und als Begräbnisstätten benutzt worden sind; dies gilt vielleicht für das Patriarchengrab zu Hebron8). Dann hätte man den Ort wegen der Sicherheit des Heiligtums gewählt, aber gerade dieser Wunsch nach Sicherung des Grabes, wie der nach rechtmäßigem, erblichem Besitz der Stätte 4 ) kann auch wieder aus dem Bestreben erklärt werden, die Ausübung des Totenkults für die Nachkommen zu ermöglichen. Die Tatsache des Familiengrabes, das uns auch sonst in vielen Stellen bezeugt ist6) und dessen Bedeutsamkeit für das Volksempfinden durch nichts schärfer beleuchtet wird als durch die beiden ihm entgegengesetzten traurigen Möglichkeiten, fern von der Heimat6) oder im Massengrab der namenlosen Leute 1 ) begraben zu werden, weist doch mit Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß nur im Zusammenhang mit Ahnen und Nachkommen der einzelnen Seele die Pflege zuteil werden konnte, deren sie zu ihrem Fortbestand bedurfte. Eine Andeutung Uber Kultus „in den Gräbern" finden wir noch in später Zeit8), und vielleicht läßt sich aus einer anderen Stelle eine Anspielung auf vorhandenen, aber von prophetischer Seite streng bekämpften Ahnenkult heraushören8). Auch die E n t h a l t u n g s - und S p e i s e r i t e n während der ») ») s ) ')

s E r m a n a. a. 0. S. 233. ) Ebenda S. 430. 4 Vgl. zu Gen 23 G u n k e l a. a. 0. S. 274. ) Vgl. Gen 23,ff. Z.B. Jud 8 äs 2. Sam2sa 2 1 n _ n Neh 3 n . •) 2. Saml9»» 1. Reg 13M. Jer 26a». •) Jes 604. ») Jes 63u, vgl. D u h m z. St.

Kapitel I.

30

Totentrauer weisen Spuren von Seelenglauben und -kult auf. Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen worden, daß man sich gefährliche Stoffe von der Leiche ausgehend dachte. Wie die Menschen, die mit ihr in Berührung kamen, als verunreinigt galten'), so auch jedes offene Gefäß, das nicht durch eine besondere (offenbar als Gegenzauber gemeinte) Maßregel geschützt war2), also natürlich auch die in solchen Gefäßen befindlichen Speisen. Da aber die aus den Gefäßen herausgenommenen Speisen in demselben Augenblick auch unrein wurden®), konnte die eben angedeutete Vorsichtsmaßregel nur dazu dienen, die Speisen für späteren Gebrauch rein zu erhalten, und es war augenscheinlich überhaupt nicht möglich, reine Speise im Trauerhause zu essen, solange die Leiche darin war. In dieser Vorstellung ist wohl das T r a u e r f a s t e n begründet, das im AT an einigen Stellen — wenn auch in umgedeuteter Auffassung — vorkommt4). Für dieses Fasten haben wir zahlreiche Parallelen bei anderen Völkern, und zwar zeigen die damit zusammenhängenden Gebräuche eine stark abgestufte Mannigfaltigkeit. Wie an zwei der angeführten atl. Stellen6), so hören wir auch sonst oft von einem Fasten bis zum Abend oder bis zur Beerdigung, was wahrscheinlich gleichbedeutend ist, also solange sich die Leiche im Hause befindet, z. B. bei den Kaffern, bei einigen indianischen Stämmen Nordamerikas, bei den Hindus und auf Korea"). Freilich wird auch vielfach von einem längeren, zuweilen nach dem Verwandtschaftsgrad abgemessenen Fasten berichtet7). Dann gibt es aber auch viele Beispiele dafür, daß die Hinterbliebenen es nur vermeiden, im Sterbehause zu kochen"), daß sie hingegen anderswo gekochte, ihnen von Nachbarn und 3 ») Num 19nfi. *) Numl9uf. ) Vgl. E l h o r s t a. a. 0. S. 121. ) Z.B. l.Sam31is 2.Samlis 386 1 2ie. 6 ) 2. S a m l u 3 86, aber beide Male nicht im Sterbehause, also von dem oben -vermuteten ursprünglichen Sinn des Fastens schon ganz abgerückt. 6 ) F r a z e r , Journal of the Anthr. Inst. 15, S. 91!. ') Ebenda S. 92. 8 ) Einige vermuten, daß dieser Brauch mit der Verlöschung des Feuers im Sterbehause beim Eintritt des Todes zusammenhängt, die uns aus manchen Gegenden berichtet wird und die entweder in der Befürchtung begründet ist, den Totengeist durch das Feuer zu belästigen oder anzulocken oder es durch ihn zu verunreinigen, vgl. F r a z e r a.a.O. S. 908.; Sartori: Feuer und Licht im Totengebrauche, Zeitschr. des Vereins f. Volkskunde 17 (1907), S. 3704. 4

Kapitel I.

31

Freunden gespendete Speise essen dürfen, z. B. bei den Indern, den heutigen Parsen *), den Chinesen, auf Florida, in Albanien *), bei den Alfuren im Indischen Archipel8). Von den Juden wird noch im 18. Jahrhundert berichtet, daß sie weder Fleisch aßen noch Wein tranken, solange eine Leiche im Hause war, d. h. am Todestage, da die Beerdigung auch damals noch in der Regel an diesem Tage stattfand; in dem Raum, in dem sich die Leiche befand, durften sie überhaupt nicht essen oder mußten wenigstens beim Essen etwas zwischen sich und den Toten stellen. Am Abend des Todes durften auch sie nur von Freunden gebrachte Speise genießen*). Bei anderen Völkern hören wir von dem Brauch der Hinterbliebenen, im Freien oder in einem fremden Hause zu essen, z. B. bei den Samoanern*). Alle diese Maßregeln sollen doch anscheinend verhüten, daß durch die im Sterbehause gekochte oder auch nur genossene Speise die todbringende Substanz in die Essenden eindringt 6 ). Es ist anzunehmen, daß das im AT mehrmals erwähnte „Trauerbrot" *) und der „Trostbecher" 8 ) den anderwärts an die Hinterbliebenen gespendeten Speisen und Getränken entsprechen, die sie ursprünglich vor den eben angedeuteten Gefahren schützen sollten, denn das Brot wird dem Trauernden gebrochen, und den Becher läßt man ihn trinken 8 ). Augenscheinlich geschieht dies hier wie anderswo durch Nachbarn und Freunde; ja, es ist sogar möglich, daß die Ausdrücke auf wörtlich zu nehmende Hilfeleistungen an die tabuierten Hinterbliebenen hindeuten, von denen wir auch bei anderen Völkern hören. Bei den Griechen auf den Zykladen kommen Freunde und Verwandte und decken selber den „bittren Tisch", und auf Neuseeland, in Polynesien, besonders aber bei den Samoanern dürfen die Hinterbliebenen, die um den Toten beschäftigt gewesen sind, nicht einmal die Speisen berühren, sondern werden tagelang wie hilflose Kinder von anderen gefüttert 10). Wie so viele andere Riten sind auch die Bräuche des ») ) 6 ) ') •) 10 ) 3

2 O l d e n b e r g a. a. 0. S. 578. 589f. ) F r a z e r a. a. 0 . S. 92!. 4 O l d e n b e r g a. a. 0 . S. 590. ) F r a z e r a. a. 0 . S. 91. 93. Ebenda S.93. •) Vgl. O l d e n b e r g a.a.O. S.590; L o d s a . a . O . S.149f. Jer I67 Ez 24N 22 Hos 9*, vgl. Deut 2 6 u und vielleicht Tob 2B. 9 Jer 16 7. ) Lies nach LXX iniN; vgl. im übrigen zum Text oben S. 7 10 . F r a z e r a. a. 0 . S. 93 und

32

Kapitel I.

Trauerfastens und des Trauerbrotes dann allmählich umgedeutet und mit einem gefühlsmäßigen Inhalt erfüllt worden: das Fasten wurde zum Ausdruck der Trostlosigkeit der Hinterbliebenen, welche die Nahrung zurückweisen, als wollten sie dem Toten nachsterben, und die Spendung der Speisen und Getränke wurde zu einem Kondolenzritus 1 ), durch den Freunde und Verwandte die Leidtragenden nötigen wollen, sich am Leben zu erhalten 2 ). Diese Umdeutung liegt in dem Jeremiawort und auch schon ganz deutlich an der Stelle vor, wo David bei der Totentrauer um Abner zum Essen genötigt wird 8 ). Für die Umdeutung des Brauches finden sich zahlreiche Parallelen bei anderen Völkern. Auch L u c i a n stellt in seiner schon erwähnten Satire das Begräbnisbankett der Griechen als Abschluß des Trauerfastens dar und erzählt, daß es bei diesem Leichenschmaus zur Kondolation der Verwandten gehörte, die Eltern des Verstorbenen zum Essen zu nötigen 4 ), mit den bekannten homerischen Versen: Denn auch die schöne Niobe selbst vergaß nicht der Speise, waren ihr gleich zwölf Kinder auf einmal im Hause gestorben6). In Mingrelien befiehlt beim Leichenmahl der Priester der Witwe des Verstorbenen, etwas zu essen. Sie nimmt ein kleines Stück zwischen die Zähne, verschluckt es aber nicht. Dann folgt ein beschränktes Fasten und ein paar Wochen später wieder ein Mahl, bei dem man die Witwe gradezu zum Essen zwingt 6 ). Auch in Kampanien und Kalabrien wird als alte Ehrenpflicht von reichen Nachbarn beim Todesfall der „Cuonzolo", d. h. „Trost", ein mächtiger Korb mit Speisen, ins Trauerhaus geschickt. Die Verwandten versuchen dann auch hier, die Leidtragenden beim Leichenschmaus zum Essen zu bereden'). Noch im heutigen Palästina hören wir von einer ähnlichen Sitte: „Wenn jemand gestorben ist, bringen diejenigen, die ihn ehren und den Hinterbliebenen Teilnahme zeigen wollen, ein Schaf und bereiten der Familie des Verstorbenen ein Essen, an dem auch Freunde und ') Ûber die Begràbnissitte des „Trôstens" vgl. zu Threni Kap. VI, § 3. s 4 ') Vgl. Duhm zu Jer I67. ) 2. Sam 3»». ) L u c i a n a a. 0. 24. 6 ) Ilias XXIV, 602 f. •) Mourier: L'Etat religieux de la Mingrélie, Revue de l'Histoire des Religions 16 (1887), S. 93î. ') Trede a. a. 0. IV, S. 423.

33

Kapitel I.

Arme teilnehmen dürfen1)." Es ist anzunehmen, daß schon die israelitischen Riten des Trauerbrotes und Trostbechers einem solchen offiziellen L e i c h e n m a h l entsprochen haben*), da diese Sitte für das Spätjudentum gut bezeugt ist 8 ). Die Notiz, die J o s e p h u s beim Bericht über den kostspieligen Leichenschmaus gibt, den Archelaos beim Tode seines Vaters Herodes dem Volke veranstaltete, sagt, daß der Brauch damals schon in einem solchen Umfange geübt wurde, daß viele Juden dadurch verarmten, da es als Pietätlosigkeit galt, ihn zu unterlassen. Dies deutet auf ein hohes Alter der Sitte hin4). Dann erfahren wir aber auch aus dieser Stelle, daß das Leichenmahl nicht mehr für die Hinterbliebenen, sondern von ihnen ausgerichtet wurde und wohl nur noch als Ehrung für den Toten galt6). Die Beziehung des Leichenmahls auf den Toten selber ist aber nicht etwa erst in später Zeit entstanden, sondern ist sicher alten Ursprungs. Wie so viele andere Trauerbräuche ist nämlich ') S c h m i d t - K a h l e : Volkserzählungen aus Palästina, S. 250; vgl. auch S. 95f. 247. D a l m a n a a. 0. S. 316 l . 331. 2 ) Die Stelle Nah 37 wird als Beleg für das Leichenmahl herangezogen, indem D^DIUD statt „Tröster", „Veranstalter des Leichenmahls" übersetzt wird, vgl. W i l d e b o e r , ZAW 22 (1902), S. 318f. Aber das „Trösten" ist ja auch, abgesehen von „Trauerbrot" und „Trostbecher", als Begräbnissitte bekannt, und Ninive scheint an dieser Stelle als verwaiste Mutter gedacht zu sein (vgl. V. 10) die keinen Tröster findet, etwa dieselbe Vorstellung, wie sie uns in Threni — allerdings deutlicher als hier — begegnen wird (vgl. Kap. VI, § 3). Ein ursprünglicher Sinn von n n i = „das Totenopfer darbringen" ist erst recht nicht anzunehmen, da der Ausdruck sonst immer mit Bezug auf die Hinterbliebenen gebraucht wird. Das Bild ist an der Stelle überhaupt nicht genauer ausgeführt, so daß wohl die allgemeinste Übersetzung dos Wortes die richtigste sein wird. 8 ) Brief Jeremias V. 31. J o s e p h u s : De bello Judaico I I l i . — Wahrscheinlich bezieht sich auch die Stelle Tob i n auf das Leichenmahl, wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, daß hier Spenden zum Totenopfer gemeint sind. Im Folgenden wird gezeigt werden, daß auch eine Verbindung von beiden Riten vorkommt. Die Reichlichkeit der Spenden wird hier ebenso wie bei J o s e p h u s 4 als Verpflichtung hingestellt. ) Vgl. T o r g e a. a. 0. S. 196. 6 ) Diesen Sinn hat das Leichenmahl meist, wo es heute noch in Deutschland oder anderen Kulturländern gehalten wird. Die anschauliche Schilderung eines zeremoniellen Leichenschmauses bei G o t t f r i e d K e l l e r : Der grüne Heinrich II, Kap. 4. Hier klingen aber noch deutlich die Motive des „Trostmahls" durch: der Wirt fordert nach dem Essen die Jugend auf, sich die Trauer nicht allzusehr zu Herzen gehen zu lassen, und ein Tanz vermittelt die Rückkehr ins Leben. Beihefte z. ZAW 36

3

34

Kapitel I.

auch das Leichenmahl nicht aus einem einzigen Motiv zu erklären, aus der von uns beobachteten Fürsorge und Teilnahme für die Hinterbliebenen — welcher Art sie auch gewesen sein mag. Denn wenn es nur aus dem Bestreben entstanden wäre, die Hinterbliebenen vor der Berührung mit der Todessubstanz zu schützen, dann wäre es unerklärlich, daß das Trauerbrot, das doch vor Verunreinigung hätte bewahren sollen, selber vor Jahwe als unrein galt'), und die gefühlsmäßige Begründung des Brauches als eines Kondolenzritus würde diese Vorstellung ebensowenig verständlich machen. Die kultische Unreinheit des Trauerbrotes setzt vielmehr denselben Ursprung voraus, der auch andere Trauerriten anstößig machte und sogar ihre Untersagung veranlaßte. Wie bei diesen Riten, so würden auch hier Reste von Totenkult vorliegen und als unvereinbar mit der Jahwereligion empfunden worden sein, und zwar in diesem Fall Reste vom Totenopfer. Unter den im Deuteronomium angeführten Möglichkeiten der Entheiligung des Zehnten würden dann also die beiden Verwendungen als Trauerbrot und Totenopfer *) auch sachlich in engem Zusammenhang miteinander stehen. Das Totenopfer, das wir in verschiedenen seiner Formen, im Blut-, Haar- und Kleideropfer, schon gestreift haben, ist in der Form der Seelenspeisung am verbreitetsten. Ursprünglich gab man dem Toten Speise und Trank, Kleider, Waffen und andere Gebrauchsgegenstände mit ins Grab, weil man glaubte, daß er diese Dinge ebenso wie der Lebende nötig hätte; zugleich mischte sich das Bestreben ein, den Tot engeist von den Wohnungen der Lebenden, wo er nur Schaden anrichten würde, fern zu halten, indem man seine Bedürfnisse freiwillig befriedigte"). Es ist dasselbe Motiv, das auch die bei Naturvölkern häufige Sitte begründet, das Haus, in dem ein Todesfall vorgekommen ist, zu verlassen oder zu zerstören4). Erst dieses zweite Motiv verwandelt die bloße Versorgung der Leichen in ein Opfer5). Die Opferidee wird dann weiterhin noch reicher ausgestaltet durch a *) Deut 26u Hos 9«. ) Deut 26 u. ®) Im Babylonischen gehört zu den gefährlichen Totengeistern „ein Etimmu, für den man kein Totenopfer brachte", J a s t r o w a. a. 0.1, S. 359. *) Vgl. F r a z e r : Folklore i n , S. 2328. ») Vgl. W u n d t a. a. 0. IV», S. 544.

Kapitel I.

35

den Wunsch, dem Totengeist Verehrung zu erweisen und seine Gunst zu gewinnen. Diese über die ganze Welt verbreiteten Totenopfer sind auch für Israel durch atl. Stellen 1 ), Funde von Schüsseln und Krügen in den Gräbern2) und die Schalenvertiefungen auf Gräbern und Dolmen bezeugt, die wohl zur Aufnahme flüssiger Totenspenden bestimmt waren3). Der vorhin angedeutete Zusammenhang des Leichenmahls mit dem Totenopfer, der sich für Israel aus der Unreinheit des Triuerbrotes vor Jahwe ergibt, läßt sich bei anderen Völkern aus einer Fülle von Beispielen nachweisen. Eine solche Spur ist die Abhaltung des Leichenmahls am Grabe unter Beteiligung des Toten, wie Wellhausen sie von den alten Arabern berichtet, die ihre Becher reihum leerten und den Becher ausgössen, so oft die Reihe an den Verstorbenen kam 4 ). Noch die heutigen Beduinen halten das Totenmahl manchmal unmittelbar nach der Beerdigung am Grabe; im Hauran trinken die Angehörigen eines Verstorbenen 3 Tage lang nach der Bestattung ihren Kaffee am Grabe4). Besonders stark ist die Sitte bei den slavischen Völkern entwickelt: bei den Bulgaren werden an bestimmten Gedenktagen auf dem Kirchhof Festessen veranstaltet, deren Überreste auf die Gräber gelegt werden"); bei den Russen werden die Speisen auch auf den Gräbern ausgebreitet und Spenden von Schnaps und Bier ausgegossen; dann bittet man die unterirdischen Gäste, beim Erinnerungsmahle, dem natürlich auch die Lebenden wacker zusprechen, zu essen und zu trinken'). Diese Leichenmahlzeiten auf den Gräbern bestärken uns übrigens in der Vermutung, daß der Boden, auf dem die Hinterbliebenen in der Trauer zu sitzen pflegen, ursprünglich das Grab war 8 ). Aber auch da, wo Leichenmahl und Totenopfer sich getrennt haben, d. h. das Mahl im Trauerhause gehalten und dem Toten am Grabe eine besondere Mahlzeit aufgetragen wird, ist die Vorstellung des Gemeinschaftsmahls mit dem Toten nicht erloschen: 1

) Die schon erwähnte Stelle Deut 26 u, außerdem Ps 10628 Jes Sir 3018. ) Vgl. B e n z i n g e r : Hebräische Archäologie (21907), S. 128. 9 ) K a r g e a. a. 0. S. 557. 594S.; siehe dort auch die Aasführungen aber den Durst der Totengeister S. 557 ff., vgl. hierzu die Trankspende am Grabstein der 6 Debora Gen 3öu. *) W e l l h a u s e n a. a. 0. S. 183. ) K a r g e a. a. 0. S. 551. 6 7 8 ) T y l o r a. a. 0. II, S.36. ) K a r g e a. a. 0. S.553. ) Vgl. oben S.2ö! 3* 2

36

Kapitel I.

bei den alten Griechen galt die Seele des Verstorbenen als beim Leichenmahle anwesend, ja, als der Gastgeber 1 ). Auch bei den alten Preußen bestand die Sitte, beim Leichenschmaus die Seele des Verstorbenen herbeizurufen und, wie auch andere Seelen, zu bewirten, in dem Glauben, daß sie vor der Tür stünden; und jeder Gast warf Brocken unter den Tisch und goß von den Getränken hin, damit sie sich erquicken könnten. Nach beendetem Mahle aber fegte der Priester das Haus aus und trieb die Seelen der Toten hinaus mit den Worten: „Ihr habt gegessen und getrunken, o ihr Seelen, geht heraus, geht heraus 2 )!" Ähnlich diesem Herbeirufen und Verscheuchen der Seelen ist die Rede, die beim Leichenmahle der Bodo in Nordost-Indien der nächste Verwandte des Toten ihm hält, indem er ihm feierlich den gewöhnlichen Anteil eines einzelnen Menschen an Speise und Trank bietet: „Nimm und iß, vormals hast du mit uns gegessen und getrunken, jetzt kannst du es nicht mehr; du warst einer von uns und kannst es nicht länger sein; wir kommen nicht mehr zu dir, komm du nicht zu uns 8 )." An diesen beiden letzten Beispielen wird deutlich, wie sich mit dem Gedanken der communio, der ja unzweifelhaft durch die hier dargestellten Riten belegt wird, ganz eigentümlich Momente der Abwehr vermischen. Auch im AT haben wir eine leise Spur davon, daß das Leichenmahl nicht nur aus der den Hinterbliebenen von Freunden veranstalteten Mahlzeit, sondern auch aus solchen Kommunionsriten hervorgegangen ist. An einer schon herangezogenen Psalmstelle wird den Israeliten vorgeworfen, daß sie Totenopfer gegessen hätten 4 ). Hiermit kann nur die Sitte eines mit dem Totenopfer verbundenen Leichenmahls gemeint sein, wie wir sie in vielen Parallelen kennen gelernt haben, und zwar ist nach dem Wortlaut der betr. Stelle etwa an einen Ritus, ähnlich wie den chinesischen, zu denken, bei dem vorausgesetzt wird, daß die Toten nur eine Art immaterieller Essenz der Nahrungsmittel genießen und die Überlebenden nach einer bestimmten Zeit dann die Speisen für sich selber nehmen 6 ). Dieser Ritus wird von dem Psalmisten heidnischem Götzendienst gleichgestellt, also offen») R o h d e a. a. 0 . 1 , S. 231. ) H a r t k n o c h : Alt und Neues Preußen (1684), S.188. 3 6 ) T y l o r a. a. 0. II, S. 31. ") Ps 106 28 . ) Vgl. T y l o r a. a. 0. II, S. 40. 2

Kapitel I.

37

bar einem fremden Kult, dem Totenkult, zugerechnet. Es ist nach dieser Stelle anzunehmen, daß in späterer Zeit die Totenopfer und damit zusammenhängende Kommunionsriten als religiös anstößig angesehen wurden; die schon erwähnte Stelle bei Jesus Sirach') erklärt das Totenopfer außerdem für sinnlos, da die am Grabe aufgestellten Speisen dem Toten doch nichts nützen könnten, ein aufgeklärter Standpunkt, welcher dem L u c i a n s sehr verwandt ist, der spöttisch fragt, ob etwa die Toten die vom verbrannten Opfer zurückbleibende Asche essen sollen2). Beim Leichenschmaus wird der Gedanke des Trostmahls mit der Zeit die Vorstellung einer communio mit dem Toten mehr und mehr verdrängt haben, und diese Umdeutung ist wahrscheinlich die Ursache von der Auffassung des Trauerbrotes als eines zwar vorübergehend in kultischer Beziehung verunreinigenden, aber doch nicht wie das Totenopfer im religiösen Sinne frevelhaften Brauches. Diese Auffassung war augenscheinlich in der Zeit des Jeremia und Ezechiel die gebräuchliche, da beide Propheten die Riten des Trauerbrotes und Trostbechers unbefangen erwähnen und anscheinend selbst geübt haben 3 ). Auch waren diese Riten durch keine atl. gesetzliche Bestimmung verboten; sie wurden also wohl trotz der verunreinigenden Wirkung, die man ihnen beimaß, zu den harmloseren unter den Trauerbräuchen gezählt. Das kultische Moment, in dem also ein Ursprung des Leichenmahls zu suchen ist, kann auch in Beziehung zu dem Trauerfasten gesetzt werden; von hier aus ist dann eine andere als die oben vertretene Erklärung für dieses Fasten versucht worden. Danach wäre es hier wie vor anderen sakralen Mahlzeiten, z. B. der indischen Diksha, dem Passah der heutigen Juden und dem Abendmahl der Katholiken, eine Vorbereitung auf das Kultmahl, mit dem Zwecke, eine Vermengung sakraler Speise mit profaner zu verhüten 4 ). Diese Erklärung wäre sehr einleuchtend, wenn sie nur durch irgendwelche Belege aus den Fastensitten während der Totentrauer bestätigt würde. Solange solche Belege nicht erbracht werden können, hat doch die durch viele Beispiele bezeugte Auf2 3 ') Jes Sir 30is. ) L u c i a n a. a. 0.19. ) Jer 16? Ez 24i7. *) So B e r t h o l e t a.a.O. S. 20 1 und ähnlich B l h o r s t a.a.O. S. 122, beide im Anschluß an Rob. S m i t h s Theorie vom kultischen Fasten, a.a.O. S. 332f.

38

Kapitel I.

fassung des Trauerfastens als eines Abwehrritus gegen die Berührung mit der Todessubstanz den Vorzug. Dem Totenopfer verwandt ist, mindestens in der Auffassung späterer Zeit, der „Leichenbrand", eine Verbrennung von Spezereien und WohlgerUchen bei der Leichenfeier. Die Ausübung 1 ) oder Unterlassung') dieser Sitte wird im AT nur beim Leichenbegängnis von Königen erwähnt; bei der prunkvollen Bestattungsfeier von König Herodes, die ihm sein Sohn Archelaos veranstaltete, wurde offenbar noch derselbe Brauch geübt : J o s e p h u s erzählt, daß 500 Sklaven und Freigelassene, Wohlgerüche tragend, vor dem Paradebette hergegangen seien11). Augenscheinlich war in diesen Fällen der Ritus als eine besondere Ehrung des verstorbenen Königs gemeint. Aber damit ist der ursprüngliche Sinn des Brauches nicht erfaßt; man kann ihm nur im Zusammenhang mit den über die ganze Welt verbreiteten Sitten, die in irgend einer Verwendung von Feuer und Licht im Totengebrauche *) bestehen, nahe kommen. Diese Sitten zeigen nun als erste Triebfeder die Absicht, böse Einflüsse von dem Sterbenden oder Toten, aber auch von den Überlebenden fern zu halten'), und lassen sich wiederum in einen weiteren Kreis von Bräuchen einordnen, die auch bei anderen Gelegenheiten als bei Todesfällen geübt, alle die abwehrende, reinigende, zauberbrechende Kraft des Feuers voraussetzen 6 ). So wird man auch beim „Leichenbrand" an ein ursprüngliches Ausräuchern von gefährlichen Stoffen oder Dämonen oder an eine Verscheuchung des Totengeistes selber aus der Nähe der Lebenden denken dürfen. Für diesen ursprünglichen Sinn des Ritus gibt es zahlreiche Belege aus der Trauersitte anderer Völker. Wenn auf Celebes ein fürstlicher Leichenzug über die Straße geht, so verbrennen die Bewohner der anliegenden Häuser 2 ') Jer 34B 2. Chr 16n. ) 2. Chr 21i». ) Antiquitatum Judaicarum XVII 8s, de bello Judaico I 33». 4 ) Vgl. S a r t o r i : Feuer und Licht im Totengebrauche, Ztschr. des Vereins f. Volkskunde 17 (1907), S. 361 ff. 6 ) Es ist nicht ausgeschlossen, daß bei diesen Biten die Absicht mitwirkt oder sich später einstellt, dem Toten mit Feuer und Licht auch Wärme und Helligkeit mitzugeben, vgl. S a r t o r i a.a.O. S. 385f.; B e r t h o l e t a.a.O. S. 10; H. Naumann weist auch diese Absicht der präanimistischen Stufe zu (a.a.O. S. 26. 32). Die Sitte des Räucherns deutet allerdings auf das andere, oben angegebene Motiv hin. ') S a r t o r i a.a.O. S. 369 und l . 3

39

Kapitel I.

Salz, um die Dämonen von sich fern zu halten, die, durch den Lärm des Leichenzuges erschreckt, nach allen Seiten auseinanderstieben1). Im Mittelalter wurde in Bayern die Leiche mit einer Glutpfanne umräuchert. Auch in Rom wurden neben dem lectus Rauchpfannen aufgestellt4). Besonders aufschlußreich ist die Schilderung des altindischen Bestattungsbrauches: hier geht vor dem Leichenzuge der „Verrichter" mit einem Feuerbrand, dann kommen noch verschiedene Arten von Feuern (darunter drei irdene Schüsseln, die mit leicht entzündbaren Stoffen gefüllt und in Brand gesetzt sind), u. a. auch das häusliche Feuer. Unmittelbar nach den Feuern kommt der Leichnam; zwischen ihm und den Feuern darf niemand gehen. Nach einigen Quellen wird der Leichnam mitten zwischen den Feuern geführt 9 ). Ähnlich werden wir uns den israelitischen Ritus vorzustellen haben *). W o nun wie bei den im A T erwähnten Königsbestattungen die Verwendung von Spezereien und Wohlgerüchen hervorgehoben wird, ist das Motiv der Abwehr anscheinend schon durch die Absicht einer besonders kostbaren Ehren- und Opfergabe") verdrängt, und wir fühlen uns dabei an die Darbringung von Räucherwerk im Kultus erinnert. Auch für diese Entwicklung des Ritus gibt es viele Parallelen bei anderen Völkern. So wird z. B. bei den siebenbürgischen Rumänen ein Topf mit glühenden Kohlen auf das Grab gestellt, auf die Weihrauch gestreut wird"). Bei den Parsen wird Feuer ins Totenzimmer gebracht und mit duftendem Sandelholz und Weihrauch in einer Vase unterhalten'). Bei den neueren Ägyptern tragen Sklaven bei der Beerdigung ») S c h w a l l y : Semitische Kriegsaltertümer I (1901), S. 32f. s)

S a r t o r i a. a. 0. S. 365.

4)

An der Stelle 2. Chr 16K, der einzigeb atl., die uns näheren Aufschluß

8)

Ebenda

S. 367.

über die A r t des Ritus gibt, kann N^D nicht mit „anfüllen" übersetzt werden, denn wenn man das Paradebett mit den Substanzen

anfüllt, die nachher in

Brand gesetzt werden, dann verbrennt die Leiche mit, was ja in Israel normalerweise nicht üblich war, vgl. oben S. 26f. Vielleicht ist an eine Bedeutung wie „einfassen" zu denken, die das Piel steinen hat, vgl. G e s e n i u s - B u h l : buch19.

von

bei der Verarbeitung von Edel-

Hebräisches und aramäisches Handwörter-

Dann könnte man sich die Bahre von Rauchgefäßen mit Spezereien

„eingefaßt" vorstellen. 6)

betont.

Auch 2. Chr 16u wird die Großartigkeit des Leichenbrandes nachdrücklich e)

S a r t o r i a. a. 0. S. 378.

7)

Ebenda S. 365f.

Kapitel I.

40

Rauchfässer mit brennenden Kohlen und Weihrauch'). Allen diesen Bräuchen liegt die Vorstellung zugrunde, daß die Seelen von den durch das Feuer ätherisch gemachten Stoffen, die sie als feste Substanz nicht annehmen könnten, einen realen Genuß haben, eine Vorstellung, die am Schluß von „Jstars Höllenfahrt", der offenbar die Zeremonie einer Totenbeschwörung beschreibt, in dem Wunsche zum Ausdruck kommt, daß die Toten emporsteigen und den Weihrauch riechen mögen 2 ). § 4.

Spuren animistischen Ursprungs an der Totenklage.

In den vorstehenden Ausführungen ist der Ursprung der meisten Trauerriten aus S e e l e n g l a u b e n und S e e l e n k u l t wahrscheinlich gemacht worden. Wir wollen nun die — allerdings nur dürftigen — S p u r e n aufsuchen, die an der T o t e n k l a g e selber auf den gleichen Ursprung zurückdeuten. Es sind Momente, die auf der Voraussetzung der Beeinflußbarkeit des Toten durch die Lebenden beruhen. Überall ist die L e i c h e n k l a g e wohl u r s p r ü n g l i c h n i c h t s als ein l a u t e s Geschrei gewesen. Von diesem Geheul berichten die Beobachter der Totenklage bei den verschiedensten Völkern, z. B. bei den alten Griechen3), den Korsen4), den Hottentotten 6 ), auf Samoa6) und bei vielen anderen Völkern. Das Geschrei der albanesischen Weiber bei der Totenklage wird geradezu mit einem Wolfsgeheul verglichen, das aber auch mit gellend hohen Tönen vermischt sei. Viele Frauen sollen infolge dieses Geschreis für lange Zeit die Stimme verlierenr). Ähnliches wird von den muhammedanischen Perserinnen erzählt9). Auch im AT und NT wird der Lärm bei der Leichenklage, das überlaute Schreien und Wehklagen an mehreren Stellen hervorgehoben "). Das Trauerhaus wird geradezu „Haus des Kreischens" s ') Lane a. a. 0. III, S. 156. ) Vgl. TuB I, S. 69. ) Lucían a. a. 0.12. 19. 20. G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 29ff. 5 ) F r i t s c h : Die Eingeborenen Südafrikas (1872), S. 335. ') v. Hahn a. a. O. I, S. 150. o) W a i t z - G e r l a n d a. a. O. VI, S. 401!. 8 ) Eichwald: Reise auf dem Kaspischen Meere und in den Kaukasus I (1834), S. 374. •) Z.B. 2. Saml3 s « Mt9sa Mk öss; Mi 1 8 wird der unter dem Bilde der Totentrauer dargestellte Jammer des Propheten mit dem Geschrei der Schakale und Strauße verglichen. 3

Kapitel I.

41

genannt 1 ), ganz ähnlich wie im altägyptischen sog. „Harfnerliede" der Todestag als „Tag des Wehgeschreis" bezeichnet wird2). Bei den Israeliten wie bei den anderen Völkern wird dieses Klagegeschrei deutlich von dem eigentlichen Leichengesang unterschieden, sodaß Geschrei und Gesang — eigentlich zwei verschiedene Entwicklungsstufen der Totenklage — häufig n e b e n einander stehen, z. B. heißt es, daß bei Abners Bestattung David erst laut weint und dann das Leichenlied anstimmt 8 ). Ebenso hören wir von dem Andauern des Geschreis der Menge auf einer Stufe, auf der eine einzelne Person schon zusammenhängend spricht oder singt 4 ), z.B. in Albanien6) und im heutigen Palästina6). Dieselbe Unterscheidung geht deutlich überall da hervor, wo in Leichenliedern die Rede vom Klagegeschrei ist, z. B. heißt es in einem arabischen Leichenliede: 0 Geschrei seiner Frauen in jener o Geschrei seiner Frauen, Es verdarb mein Wohlbefinden

Nacht, 1

).

oder in einem syrischen Leichenliede: Westlich von eueren Hütten vernehm ich Geschrei, ihr Mädchen! Gibt es denn Hochzeit, oder war' ein geliebter Held uns gefallen*)?

Der ursprünglichen Bedeutung des Klagegeschreis kommt man durch folgende Beobachtungen näher. Die Heranziehung gemieteter Klageweiber bei den arabischen Leichenfeiern wird daraus abgeleitet, daß es für die weiblichen Anverwandten des Toten allein zu beschwerlich wäre, beständig zu heulen"). Aus demselben Grunde wird häufig die Ablösung der Klageweiber im Geschrei durch andere nach bestimmter Zeit erklärt; auch die Menge der wehklagenden Weiber hat ursprünglich einfach den Zweck, das Geschrei zu verstärken. Es erscheint also dem Empfinden notwendig, daß bei der Leichenfeier ein möglichst lautes und möglichst anhaltendes Geschrei zustande kommt. Diese Not2 3 ') Jer I65. ) TuB I, S. 199. ) 2. Sam 3saf. ) Ähnlich wird hei der jüdischen Bußfeier gelegentlich vom Schreien der Menge ein besonderes Gebet der Priester unterschieden, z. B. 2. Makk 3is Judith 4 « , vgl. B a u m g a r t n e r : Joel 1 und 2, ZAW Beiheft 34 (1920), S. 15. 5 ) v. H a h n a. a. 0 . 1 , S. 150f. e ) v. G e r a m b : Wallfahrt nach Jerusalem (1837), S. 114. 8 ') M u s i l a. a. 0 . HI, S. 432. ) W e t z s t e i n a. a. 0. S. 299. 9 ) N i e b u h r a. a. 0 . 1 , S. 186. 4

42

Kapitel I.

wendigkeit wird z. B. für die Papuas ausdrücklich betont'). Nun wäre es unrichtig, wenn man den gefühlsmäßigen Einschlag bei diesem Trauergeheul einfach bestreiten wollte, aber das darin bekundete Gefühl ist doch etwas ganz anderes als der Schmerz des modernen Menschen um seine Toten: es ist die „dämonische Scheu", das „blinde Entsetzen" vor dem Unheimlichen, das für primitives Empfinden dem Tode anhaftet2). W o aber das Geschrei wie an den angeführten Beispielen planmäßig in Szene gesetzt oder geradezu vorgeschrieben ist"), da wird man annehmen dürfen, daß wie bei anderen Trauerriten vor allem eine ganz bestimmte Wirkung auf den Toten damit verfolgt wurde. Wenn wir das K l a g e g e s c h r e i den übrigen Trauerriten einordnen, dann ergibt sich die Vermutung, sein u r s p r ü n g l i c h e r Z w e c k innerhalb des ganzen Apparates sei die V e r s c h e u c h u n g des T o t e n g e i s t e s gewesen, auf dessen Entfernung ja auch die übrigen Zeremonien zum Teil gerichtet waren. So würde sich dann der übertriebene Lärm bei der Totenklage und auch die Tatsache erklären, daß das Geschrei mit dem Eintreten des Todes einsetzt 4), oft ohne Unterbrechung bis zur Bestattung andauert und gerade in dem Augenblick, wo der Leichnam in die Erde gesenkt wird, den Höhepunkt erreicht6). In einem altarabischen Leichenliede heißt es:

Unsere Weiber klagen um ihn heiser, wenn (sonst schon) die Klagefrauen (wegen der späten Stunde) still geworden sind'). S t a n l e y erzählt von einem afrikanischen Stamm, es wäre nicht möglich gewesen, vor dem Geschrei der Weiber zu schlafen, die nach einer Niederlage die ganze Nacht hindurch ununterbrochen um ihre Gatten geklagt hätten'). Ebenso hören wir von der Unmöglichkeit, das furchtbare Geschrei der Frauen um die Gefallenen zu unterbrechen, nach einer Schlacht in Montenegro, wo sogar die Befehle der Ärzte im Interesse der Verwundeten ' ) S c h e l l o n g : Über Familienleben and Gebräuche der Papuas der Umgebung von Finschhaien, Ztschr. f. Ethnologie 21 (1889), S. 23. *) Vgl. Rud. O t t o : Das Heilige (»19221, S. 30ff. 148fi., besonders Beilage 14, Mythus und Religion in W u n d t s Völkerpsychologie, S. 362ff. s ) Belege bei S a r t o r i : Sitte und Brauch I, S. 147. *) Belege z. B. bei S a r t o r i a. a. 0. I, S. 128". 5 ) Belege ebenda I, S. 150'. 8 ) N ö l d e k e a. a. 0 S 174 ' ) S t a n l e y : How I lound Livingstone (1872), S. 283f

Kapitel I.

43

nichts gefruchtet hätten1). Auch bei den Rumänen soll in der Zeit, die der Tote noch im Hause zubringt und in der er nie allein gelassen werden darf, die Klage nicht aufhören2). Schließlich wird es auch verständlich, daß das wildeste Geschrei an der Leiche eines gewaltsam Erschlagenen ertönt. Auf Korsika sagt man in solchem Falle : andare alla gridata, d. h. zum Geheule gehen 3 ). Hier mag die Vorstellung zugrunde liegen, daß die Geister der Gemordeten am blutgierigsten und deshalb am gefährlichsten sind; es bedarf also des lautesten Geschreis, um sie zu verscheuchen. Der animistische Ursprung der Leichenklage schimmert vielleicht auch noch an einer Stelle des A T hindurch: der Prophet Jeremia sagt, die Klageweiber sollten eilen, um die Leichenklage zu erheben4). Es lebte also auch noch in späterer Zeit ein Gefühl dafür, daß etwas Wichtiges versäumt werden könnte, wenn die Leichenklage nicht sofort nach dem Tode einsetzte. Aus dem ursprünglichen animistischen Zweck der Totenklage erklären sich wohl auch die oft hervorgehobenen schneidenden oder kreischenden Töne des späteren Leichengesanges 5 ) und die besonders bei der Totenklage von Naturvölkern üblichen lärmenden Musikinstrumente, z. B. der „fürchterliche Ton der Tritonshörner" auf Samoa9). Auch die kleine Flöte der Adonisklage gab scharfe Töne von sich. Gerade bei der Flöte, dem bei der Leichenklage gebräuchlichsten Instrument '), läßt sich aus ihrer Verwendung im Abwehrzauber aller Art auf einen ähnlichen ursprünglichen Sinn auch in der Leichenklage schließen. Nach T h e o p h r a s t weichen Hüftschmerzen den an die leidende Stelle gehaltenen Flötentönen phrygischer Harmonie, und A p o l l o n i u s D y s c o l u s behauptet sogar, daß Flötenblasen, wenigstens fünf Tage fortgesetzt, jeden schmerzenden Teil des Körpers heile8). Ferner spielt die Flöte eine wichtige Rolle im Sturmzauber9); sie kommt bis in unsere Zeit hinein 2 ) S l a v i c i a.a.O. S. 171. ») M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a.a.O. S. 372. 3 ) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 30. 4 ) Jer 9i«f. 6 ) Vgl. z. B. F a u r i e l : Chants populaires de la Grèce moderne I (1824), S. CXXXIV. In der Gascogne heißen die Leichenlieder geradezu „Cris d'enterrements", vgl. B l a d é : Poésies populaires de la Gascogne I (1883), S. XIII. 212ff. «) W a i t z - G e r l a n d a.a.O. VI, S. 402. ' ) Vgl. Kap. II, § 2. ") W e l c k e r : Kleine Schriften I I I (1850), S. 831. 9) G r u p p e : Griechische Mythologie und Religionsgeschichte I I (1906), S. 1252. 15243. 1554«.

u

Kapitel I.

noch in Abwehrriten vor, so suchen auf der Langenberger Höhe im sächsischen Mittelgebirge Knaben am Walpurgistage die Hexen durch den Lärm der Flöten zu vertreiben'). Man wird sich also die auffallende Verbreitung der Flöte als Musikinstrument bei der Leichenklage weniger aus einer prästabilierten Harmonie im musikalischen Geschmack der Völker als aus der dem Flötenspiel allgemein zugeschriebenen apotropäischen Wirkung erklären können. Im späteren Judentum hören wir daß beim Leichenbegängnis als Zeichen der allgemeinen Trauer Schofar geblasen wurde. Aber auch bei diesem Instrument scheint eine apotropäische Wirkung beabsichtigt gewesen zu sein denn man glaubte, den Geist eines Toten, der im Grabe keine Ruhe fand und die Lebenden heimsuchte, gleichfalls dadurch zu bannen, daß man mit dem Schofar blies2). Der Verscheuchung des Totendämons diente wohl auch das Händeklatschen der Klageweiber im späteren Judentum 8 ) und bei den Arabern 4 ), das Schlagen der Becken bei. den Indern 6 ), das „Trauergetöse", welches Naturvölker Indonesiens und Amerikas durch Abschießen von Gewehren, Schlagen der Gongs usw bei Gelegenheit eines Sterbefalls, vor allem aber beim Begräbnis, verursachen 6 ) - und vielleicht einstmals auch das Totengeläut'). Wir haben Anhaltspunkte dafür, daß die Leichenklage mit ihrem Geschrei und Trauergetöse, mit ihren Liedern und Musikinstrumenten ursprünglich auch wirklich dazu bestimmt ist, von dem Toten selbst gehört zu werden. So wird ihm z. B. bei den ••) S a r t o r i a.a.O. III, S. 171 7 - Vgl. auch die apotropäische Bedeutung des Pfeifens, siehe K ö h l e r Zum hebräischen Wörterbuch des Alten Testamentes, ZAW Beiheft 27 (.1914), zu np-lti> S. 253f. 2

) Vgl. S c h e f t e l o w i t z Das Hörnermotiv in den Religionen, Archiv für Religionswissenschaft 15 (1912), S. 487, 8 ) K r a u ß bei B e r t h o l e t a.a.O. S. 10 1 - Auch schon im AT kommt das Händeklatschen als apotropäischer Gestus vor, z. B. Thr 2 « , vgl. K ö h l e r a. a. 0. S. 254. W e l l h a u s e n a. a. 0 S. 181 6 6 ) O l d e n b e r g a. a. 0. S. 581!. ) P r e u ß Globus 70, S. 341 343. 368. 7 ) Manche Forscher wollen das Trauergeläut auch aus der Absicht herleiten, die bösen Geister vom Leichenzuge fernzuhalten, z. B. S a m t er a. a. 0 S. 62f. Dieselbe Absicht könnte auch für die anderen Arten des „Trauergetöses* vermutet werden, da parallele Sitten im Geburtsritus vorliegen, vgl. S a m t e r a a. 0. S. 6311 Auch F r a z e r Folklore III, S. 467f. hält beide Erklärungen für möglich.

Kapitel I.

45

Rumänen das Leichenlied geradezu in die Ofyren gesungen; in der Bukowina und bei den Irokesen hat der Sarg oft zu beiden Seiten an den Ohren der Leiche Öffnungen, damit der Tote die Klagen gut vernehmen könne *). Derselben Auffassung begegnen wir bei A u s o n i u s , der in der Praefatio zu seinen „Parentalia" sagt, die beigesetzte Asche der Toten freue sich, ihre Namen zu vernehmen '2). Die Versuche, die Totengeister zu verscheuchen, werden sich nicht immer auf unartikuliertes Geschrei und Getöse beschränkt haben; in entwickelteren Stadien hat man vielleicht durch Beschwörungsformeln auf sie einzuwirken gesucht. Von solchen Beschwörungen ist uns allerdings in Leichenklagen nichts erhalten; eine schwache Spur davon ist in der eben erwähnten Pra.efatio des A u s o n i u s nachzuweisen. Darin findet sich nämlich die Vorstellung, daß der unbestatteten Seele die dreimalige Namensnennung fast denselben Dienst leiste wie die Bestattung 3 ). Aus dieser Vorstellung läßt sich die Sitte des letzten Zurufs an den Toten mit Nennung des Namens im griechischen und römischen Altertum verstehen 4 ). Auf der Kulturstufe, die A u s o n i u s vertritt, wird natürlich beides, Bestattung und Namensnennung, als Liebesdienst aufgefaßt, der dem Toten die Ruhe verschaffen soll. Dahinter mag aber die alte Auffassung stehen, die sich im letzten Grunde mehr um die Ruhe der Überlebenden als um die der Toten sorgte 6 ). ») S l a v i c i a.a.O. S. 169. 172; M o r g a n : The Leage of the Jroquois (1851), S. 176. Diese Sitten könnten wohl auf die Vorstellung vom „lebenden Leichnam" zurückgehen, wenn sie auch auf der Stufe des Animismus noch bewahrt 2 s werden, vgl. H. N a u m a n n a. a. 0. S. 31. ) A. a. 0. V . I I . ) Ebenda V. 131. 4 ) Xatpe jioi ä näTpoKAe (Horn. II. XXIII, 179); salve aeternum mihi Palla aeternumque vale ( V e r g i l . Aen. XI, 97); vgl. H e r m a n n : Griechische Antiquitäten IV ( 3 1882), S. 370 und 3. — Freilich kann der Zuruf auch den Zweck haben, den Toten zu wecken und zurückzurufen, vgl. unten S. 48. So ruft man im heutigen Griechenland den Toten am Grabe; gibt er keine Antwort, dann ist er wirklich tot, M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a.a.O. S. 376f. 6 ) Parallel ist vielleicht letzten Grundes die Sitte der Namensinschriften auf Gräbern. Nach A u s o n i u s enthalten sie einen Befehl zur lauten Namensnennung (a. a. 0. V. 12), zum Heile der Toten. H. N a u m a n n hält es für möglich, daß diese Sitte aber ursprünglich ein Abwehrmittel gegen den sich entwickelnden Dämon war; er weist dabei auf' das Rumpelstilzchenmotiv und den Glauben hin, daß der Dämon wirkungslos ist, sobald er erkannt und benannt ist (a. a. 0. S. 40").

46

Kapitel I.

Das K l a g e g e s c h r e i , das auch auf solchen entwickelteren Stufen andauert, erhält nun natürlich eine andere Deutung: je lauter es ist, eine desto größere Ehrung des T o t e n bedeutet es. Burkhardt erzählt, daß bei den neueren Ägyptern ein Leichenbegängnis „heiß" genannt wird, wenn es eine große Menge laut jammernder Klageweiber begleitet1). Auch auf Samoa ist das Klagegeheul umso toller, je vornehmer der Verstorbene gewesen ist, am maßlosesten beim Tode des Königs1). Endlich aber treten an die S t e l l e der S c h r e i e die Tränen, deren Menge und Unversiegbarkeit in den Leichenliedern immer wieder betont wird. Wir beobachten also hier einen ganz ähnlichen Vorgang wie bei der Entwicklung der anderen Trauerbräuche: wie sich allmählich die Selbstverstümmlungen, das Haarausraufen und Kleiderzerreißen ihren neuen gefühlsmäßigen Inhalten anpassen, indem sie sich zu bloßen Geberden des Schmerzes abschwächen, so treten für die wilden Schreie die Tränen als Zeichen milderer, menschlicherer Empfindungen ein *). Die an der Leiche ihres Gatten Sigurd klagende Gudrun wird uns in der Edda mit folgenden Worten geschildert: Da weinte Gudrun, Gjukis Tochter, Daß wie tosende Bäche die Tränen rannen Und gellend im Hofe die Gänse aufschrieen, Die weißen Vögel, die das Weib besaß*). In einem altarabischen Leichenliede versichert der Bruder des Toten: *) Burkhardt: Arabische Sprichwörter oder die Sitten und Gebräuche der neueren Ägypter (1875), S. 271. «) W a i t z - G e r l a n d a. a. 0. VI, S. 401f. 3 ) Daß das Klagegeschrei auf primitiveren Stufen wirklich ohne Tränen vor sich geht, zeigen die Beschreibungen der Totentrauer von Naturvölkern: z. B. bei dem Klagegeheul der Arowaken und Juris in Amerika soll keine Spur von Tränen zu bemerken sein, P r e u ß , Globus 70, S. 369. Vgl. auch die tränenlose Klage beim Totenfest der Häuptlingsfrau in Tonga in den „ Südsee-Märchen", siehe oben S. 11. *) Edda, das erste Lied von Gudrun, übs. von Gering (1892), S. 224, 16.

Kapitel I.

47

Ich werde meinen Bruder beweinen, solange noch eine Taube im Tal Albutah eine andere (mit ihren Klagen) erweckt, Und Klageweiber über ihn in der Frühe (zum Klagen) aufregen, und meine Augen sollen die Tränen stromweise vergießen1). Dem Toten selbst liegt viel daran, daß Tränen um ihn geweint werden. In einem neuarabischen Leichenliede werden ihm die Worte in den Mund gelegt: Weine über mich, und des Weinens mache viel! Und weine über meine (hohe) Gestalt, die du (jetzt) verloren hast Ich beschwöre euch, meine Freunde, gedenket meiner in den Tagen des Karnevals, und bei den Festen beweint micha). Die vielen Tränen sollen also augenscheinlich dem Toten zugute kommen. Daß dabei die Furcht noch immer eine gewisse Rolle spielt und daß man hofft, durch Tränen den unheimlichen Totengeist zu begütigen, geht z. B. aus einer Stelle der schon einmal erwähnten Leichenklage der Madagasker um ihren Königssohn hervor. . Dort sagt der König: Scheuet die Wohnung der Toten! Ihr Grimm ist schrecklich, Und ihre Rache ist grausam. Weint um meinen Sohn")/ Und doch erhalten die Tränen bei der Totenklage vielfach eine ganz andere Bedeutung. Die Edda erzählt uns, daß nach Baldrs Tod die Asen alle Menschen und Dinge aufforderten, um Baldr zu weinen, dann wolle Hei ihn zurückgeben 4 ). Im Hintergrund liegt wohl die Vorstellung, daß man einen Toten aus der Unterwelt losweinen kann. In einem neuarabischen Leichenliede finden wir eine ganz ähnliche Bedeutung der Tränen: Beweint ihn, ihr Leute alle, bis er aufwacht, aufsteht und zu euch redet6). Auf demselben Gedanken beruht vielleicht ursprünglich auch folgende Stelle aus einem aromunischen Liede: *) Nöldeke a.a.O. S. 117. *) Herder a. a. 0 . 1 2, S. 499. L i t t m a n n a.a.O. S. 129.

*) L i t t m a n n a.a.O. S. 114. 4 ) Snorra Edda, G e r i n g a. a. 0. S. 346.

48

Kapitel I.

Steh auf, Nika, steh auf, Bruder, denn dich beweinen beide Schivägerinnen. Steh auf, Nika, steh auf, Sohn, deine Mutter weint (am) Kopfkissen (stehend). Steh auf, Nika, steh auf, Sonne, deine Frau weint, am Fußende (stehend) ')• An diesen Stellen begegnen wir also der merkwürdigen Vorstellung, die freilich hier nur noch rhetorische Bedeutung hat,daß Tränen die Kraft haben können, einen Toten wieder zurückzurufen 2 ). Diese Vorstellung ist weit von der anderen Bedeutung des Klagegeschreis, der Verscheuchung des Totengeistes, entfernt, ja sie schlägt geradezu eine entgegengesetzte Richtung ein. Wir haben hier aufs neue die Beobachtung gemacht, die sich uns schon bei der Betrachtung der anderen Trauerbräuche aufdrängte, daß nämlich beide Motive, das der Abwehr und das der Anlockung, am Werke sind. Dahinter aber liegt die gemeinsame Vorstellung, daß die Totengeister überhaupt erreichbar und beeinflußbar sind, und das grundlegende Gefühl einer geheimnisvollen Scheu, die jene dämonischen Objekte bald als anziehend, bald als abstoßend empfindet. W e i g a n d , Die Aromunen II (1894), S. 111. ) Einen anderen Gefühlsinhalt nimmt dieselbe Vorstellung an, wo die Befürchtung eintritt, daß die vielen Tränen den Toten nicht zur Ruhe kommen lassen. Bin Beispiel hierfür gibt eine syrische Erzählung, die offenbar in verschiedenen Passungen in Vorderasien verbreitet gewesen ist. Darin hören wir von einer Mutter, welche die beiden letzten ihrer fünf Söhne verloren hat und sie übermäßig beweint. In einer Vision erblickt sie diese vor dem Thron der heiligen Jungfrau mit traurigen Gesichtern; sie machen der Matter den zornigen Vorwurf, daß sie durch ihre Trauer sowohl sich selbst wie auch die Gestorbenen schädige, vgl. W e n s i n c k , Sachau-Pestschrift, S. 31f. Ebenso im Islam: „Der Tote wird bestraft für manches Wehklagen der Hinterbliebenen", G o l d z i h e r a. a. 0.1, S. 253. Vgl. auch „Das Totenhemdchen" in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder G r i m m (Nr. 109) und die Varianten; siehe B o l t e u. P o l i v k a : Anmerkungen z. d. KHM II (1915), S. 485ff. — Eine Andeutung in derselben Richtung, daß nämlich allzu heftige Klage die Buhe der Toten störe, macht auch L u c i a n , a.a.O. 24, vgl. hierzu R o h d e a.a.O. I, S. 223a. — Auch schon bei dem Sterbenden wird mitunter das laute Weinen der Umstehenden unterdrückt, weil sonst seine sich schon vom Leibe lösende Seele wieder zurückgerufen werden könnte, vgl. S a r t o r i a. a. 0.1, S. 127f. — H. N a u m a n n nimmt dieses „ Tränenmotiv' für die präanimistische Stufe in Anspruch (a. a. 0. S. 34); dann wäre die syrische Erzählung eine spiritualisierte Fortentwicklung des alten Motivs. 2

Kapitel I.

49

Auf höheren Stufen sind die Tränen natürlich der Ausdruck wirklichen Schmerzes, so fast durchgängig im AT, wo bei der Leichenklage, auch bei der im übertragenen Sinne, häufig die vielen Tränen hervorgehoben werden. So wünscht Jeremia, daß sein Haupt Wasser und seine Augen ein Tränenquell wären, um im voraus die Erschlagenen seines Volkes zu beweinen 1 ), und eine besonders große Rolle spielen die Tränen im Buche „Threni" 2 ). Viele Beobachter der Totenklage schildern uns, wie allmählich aus dem Schluchzen der trauernden Frauen ein Singen wird, indem die Stimme nach und nach langsamer wird, indem sich statt der unartikulierten Laute sinnvolle Worte als Ausdrucksmittel des Schmerzes einstellen. Denselben Entwicklungsgang wie im einzelnen Falle hat auch im großen Verlauf der Geschichte die Leichenklage durchgemacht. Aber auch im Stadium dieser sinnvollen Leichenklage behalten die Tränen eine wichtige Rolle. Es bleibt eine Erinnerung daran, daß bei der Totenklage viele Tränen geweint werden müssen. Auf dieser Stufe aber ist das Weinen nicht mehr der eigentliche Inhalt der Leichenklage, sondern tritt als Wirkung derselben ein. Jeremia verlangt, daß die Klageweiber den Wehruf erheben mögen (9n): Auf daß unsre Augen von Tränen fließen und. unsre Wimpern von Wasser triefen. Die Folge von Davids Leichenlied um Abner ist, daß die Volksmenge noch mehr weint als vorher 3). Es ist also das Ziel der Totenklage, daß die Leidtragenden Tränen vergießen mögen. Dies geht auch deutlich aus dem Gleichnis Jesu hervor: wenn die Einen „klagen", dann wird von den Anderen erwartet, daß sie weinen 4 ). Bei der Schilderung der Feier an Hektors Leiche im letzten Gesänge der Ilias heißt es: Und nun mit jammernden Tönen sangen sie Trauergesang, und rings nachseufzten (oisvä^o)) die Nach Andromaches Threnos: [Weiber. Also sprach sie weinend, und rings nachseufzten die Weiber. Nach dem der Hekuba: Also sprach sie weinend und weckt' unermeßlichen ») Jer

8M.

2

Beihefte z. ZAW 36

)

Vgl. Kap. VI, § 3.

3

) 2. Sam 3 34 .

Jammer. 4

) Mt I i i , Lk 7 32. 4

50

Kapitel I.

Nach dem der Helena: Also sprach sie weinend; es seufzt' unzählbares Volk nach1). Hierher gehören auch die vielen Aufforderungen zur Beweinung des Toten, die in Leichenklagen vorkommen. So fordert David in seinem Leichenliede die Töchter Israels auf, um Saul zu weinen 8 ). In einer bulgarischen Totenklage ruft die Mutter zur Beweinung des Sohnes auf: Schwiegertochter, wein', Petkana, tot der Sohn, zugleich dein Gatte, Weine, Schnur, laß uns nun weinen . .. Wein', bekümmre dich nur, Hauswirt *). Spuren v o n S e e l e n g l a u b e n lassen sich aber nicht nur aus dem äußeren Betrieb der Totenklage, aus der ursprünglichen Bedeutung des Klagegeschreis und der Tränen nachweisen, sondern auch aus der s i n n v o l l e n T o t e n k l a g e selber, aus ihren Formen und Inhalten. Solche animistische Wurzeln sind überall da zu suchen, wo die Worte der Totenklage auf den Verstorbenen einzuwirken suchen. Hierbei kommt es vor allem in Betracht, daß die Leichenklage nicht etwa ein Trauergesang über einen Verstorbenen ist, sondern ein an die Leiche selbst gerichtetes Lied, das ja auch, wenigstens in den meisten Fällen, in Gegenwart der Leiche, an der Bahre, vorgetragen wird. Stets enthält also die Leichenklage d i r e k t e A n r e d e n an den Verstorbenen; würde seine Seele nicht in der Nähe des toten Körpers vorgestellt, dann wäre nach antiken Begriffen eine solche Anrede sinnlos. Wie der Tote das Geschrei hört und die Tränen wahrnimmt, so soll er auch die Worte des Leichenliedes verstehen und sich dadurch beeinflussen lassen4). Wie auf den früheren Stufen Geschrei und Tränen den Zweck verfolgten, die Seele entweder zu verscheuchen oder anzulocken, so können sich auch die Worte des Leichenliedes auf beide Ziele richten6). In Litauen baten die Hinterbliebenen bei der Leichenklage die Seele, sie möge doch im Himmel bleiben und sie nicht mehr auf Erden beschweren6). Zuweilen verbinden sich unbefangen mit 3 3 ') Ilias XXIV, 721 ff. ) 2. Sam 1«. ) S t r a u ß a. a. 0. S. 494f. *) Vgl. oben S. 44f. «) T o r g e läßtnur das zweite Ziel gelten, a.a.O. S.180f. 6 ) Z w e c k a. a. 0. S. 172, nach einer Schilderung von B r a n d aus dem Jahre 1683.

Kapitel I.

51

den Mahnungen der Leichenklage an den Toten, zu den Seinen zurückzukehren, Totengebräuche, die Furcht vor seiner Rückkehr verraten, z. B. in Rußland'). Wir sehen also, daß die beiden entgegengesetzten Motive nicht nur abwechselnd, sondern sogar auch nebeneinander wirksam werden, eine Erscheinung, die übrigens auch außerhalb der Trauersitte im Verkehr der Primitiven mit Dämonen zu beobachten ist. So schleudert man z. B. bei den Indern gegen den Schakal, der für besessen von bösen Todesmächten gilt, einen Feuerbrand und nimmt zugleich unter dem Vortrag preisender Sprüche eine verehrende Haltung gegen ihn an. Den Schlangen spricht man seine Huldigung aus und erklärt in demselben Atem, sie vernichten, ihnen Zahn mit Zahn, Kiefer mit Kiefer zusammenschlagen zu wollen 2 ). Aber in den Anreden der Leichenklage kommt doch die Abwehr selten zum Ausdruck, meist enthalten sie wehmütige Anfragen • an den Toten, besonders nach der Ursache seines Scheidens. So lautet die immer wiederkehrende Frage in der litauischen Leichenklage: „Warum bist du gestorben 8 )?" Bei den Malgaschen rufen die Weiber wiederholt in ihrer Totenklage: „0, warum hast du uns verlassen 4 )?" An der Leiche eines kaukasischen Helden fragt die Anführerin der Totenklage: Was ist es, Held? Du bleibst die Antwort schuldig, hast du für deine Krieger nicht Befehl*)? Mit diesen Fragen verbinden sich dann oft die schon erwähnten Aufforderungen an den Toten, wieder zurückzukehren. In einer kabylischen Leichenklage heißt es: Erhebe dich, erhebe dich; warum hast du dich vom Schlaf überwältigen lassen6)? und im Arabischen lautet eine ganz gewöhnliche Formel der Totenklage: „Sei nicht fern 7 )!" In einer russischen Totenklage wird der Vater gebeten, sich in einen Falken zu verwandeln und in sein Haus zu fliegen 8 ). Es gibt auch Leichenlieder, die *) W e s s e l o f s k y : Die rassischen Totenklagen, Rassische Revue 3, Tgl. 4 S. 492 mit 506. ) O l d e n b e r g a.a.O. S. 486. а ) Z w e c k a.a.O. S. 171. ") W a i t z a.a.O. II, S. 442. б ) Rad de: Die Chews'uren und ihr Land (1878), S. 93. 6 ) C e r t e u x - C a r n o y a.a.O. I, S. 265. ') N ö l d e k e a.a.O., z.B. S.70. 8 ) R a l s t o n : The Songs of the Russian Feople (1872), S. 334!. 4*

52

Kapitel I.

schon Sterbenden in die Ohren gesungen werden; so singt bei den Batak auf Sumatra eine Mutter in einer Totenklage um ihren sterbenden Sohn: Ach, mein Sprößling, wage es doch ja nicht, Zu verlassen mich . . . .

Auch bei den Rumänen sind die Bocete (Leichenklagen) der letzte Versuch, dem Verstorbenen das Leben einzureden2). Die Momente, die den Sterbenden oder Toten zur Rückkehr bewegen sollen, sind die Werte des irdischen Lebens, die man ihm — manchmal in recht drastischer Weise — vorhält. In der litauischen Totenklage umgingen noch in der Mitte des 19. Jh.'s die Hinterbliebenen die ausgeputzte Leiche, indem sie ihr Brot, Speck usw. vorzeigten und sie dabei anredeten: Hattest du es nicht gut bei uns? Fehlte dir Brot? Fehlte dir Speck? Fehlte dir Alaus3)? Sieh, es ist genug da, daß du noch leben könntest! Warum verläßt du uns*)?

Zuweilen versucht man auch, den Toten ins Leben zurückzurufen, indem man ihn an seine Pflichten und an seine Unentbehrlichkeit erinnert, z. B. in einem palästinischen Leichenliede: 0 junger Mann, du bescheidener, setze dich aufrecht, und trage Sorge um deine Kinder, es erzieht sie (sonst) ein anderer als du6).

In einem neuarabischen Leichenliede werden dem Toten folgende Worte in den Mund gelegt: . . . . Meine Frau spricht zu mir: mein Herr, Du hast mir deine Kinder hinterlassen, und ich habe doch Mein Herr, komm (doch), sieh deine Kinder! [nichts Mein Herr, komm, sieh mein Elend und meine Not6) /

Allerdings haben wir andere Stellen in Leichenliedern, die zwar zeigen, daß man einmal früher geglaubt hat, die Totenklage könnte die Toten zurückrufen, die aber zugleich die Überwindung *) W a r n e c k : Die Lebenskräfte des Evangeliums (1908), S. 53 Anm. 3 ) S l a v i c i a.a.O. S. 169. ) Bin litauisches Getränk. 4 ) Z w e c k a.a.O. S. 172; eine andere Form dieser Totenklage: Hast du nicht Essen und Trinken gehabt? „ Hast du nicht Kleider und Schuhe gehabt? " (Ebenda S. 171.) 5 ) D a l m a n a . a. 0. S. 326. «) L i t t m a n n a. a. 0. S. 114f. 2

53

Kapitel I.

dieser alten Vorstellung enthalten. In einem neuarabischen Leichenliede heißt es: ...

0 Erde, sei nicht geizig, und gib die jungen Leute heraus. Sie (die Erde) erhob sich (über uns) und sprach: Ihr verrückten (Frauen)! Noch nie ist ein Toter zurückgekehrt, nachdem er

gestorben').

In dem ägyptischen „Harfnerlied" heißt es: Osiris erhört ihr Schreien flicht, und die Klage errettet niemanden

aus dem Grab*).

Wie wir schon an einzelnen Beispielen gesehen haben, gehen die animistischen Vorstellungen so weit, daß dem Toten sogar Reden in den Mund gelegt werden. Alle diese Formen der Rede und Gegenrede sind natürlich in entwickelteren Kulturen meistens rein rhetorischer Art, gehen aber doch auf Animismus zurück 8 ). In den überlieferten israelitischen Leichenliedern, die alle aus verhältnismäßig später Zeit stammen, finden sich derartige Spuren eigentlich nur in der direkten Anrede an den Toten, z. B. 2. Sam S n ; am merkwürdigsten berührt, diese direkte Anrede in dem Leichenliedchen Jer 3822 *), weil hier die Leiche wahrscheinlich nicht anwesend vorgestellt wird; dies beweist, daß die unmittelbare Richtung an den Toten unbedingt zum Stil der Leichenklage gehört; der animistische Ursprung dieser Stilform ist später selbstverständlich nicht mehr empfunden worden. In einigen Motiven des Leichenliedes vermögen wir auch noch Spuren von Seelenglauben und Seelenkult zu finden. Da sind es vor allen Dingen die L o b e s e r h e b u n g e n , die ursprünglich den Zweck hatten, den Totengeist zu begütigen 6 ) und die ») L i t t m a n n a. a. 0. S. 134. ) TuB I, S. 199. Ähnlich: „Die Klage, sie wecket die Toten nicht auf" ( S c h i l l e r : Des Mädchens Klage). s ) Oder sogar schon auf Präanimismus, was gerade bei den in diesefn Abschnitt (oben S. 50ff.) zusammengestellten Zügen der Totenklage naheliegt und auch von H. N a u m a n n in Bezug auf Anreden an den Toten und ihm selbst in den Mund gelegte Reden angedeutet wird (a. a. 0. S. 3 0 f ) . Auf der animistischen Stufe bedeuten diese Momente „fortgeerbten Präanimismus". 4 ) Vgl. zu beiden Liedern Kap. V, § 1. 6 ) „Scheu vor dem unsichtbar Teilnehmenden war es, welche die Sitte eingab, nur lobpreisend seiner . . . . (beim Totenmahle) zu gedenken" ( R o h d e a. a. 0. I, S. 231f.). 2

54

Kapitel I.

auch später noch einen Hauptbestandteil der Leichenklage ausmachen. Vielleicht verrät das bekannte Wort: „de mortuis nil nisi bene" noch etwas von diesem Ursprung der Lobeserhebungen, wenn es nämlich ursprünglich den Sinn hatte: man soll nur Gutes von den Toten sprechen, weil sie einem sonst schaden könnten, also aus Furcht, nicht aus Zartgefühl. In der modernen Kulturwelt hat sich natürlich der Sinn dieses Wortes vollständig geändert: gerade weil man den Toten nicht mehr zu fürchten braucht, weil er aus dem Kampf des Lebens ausscheidet und niemandem mehr schaden kann, deshalb soll man ihm gegenüber objektiv empfinden und nur Gutes von ihm sprechen. Der animistische Ursprung der Lobeserhebungen läßt sich z. B. aus den Schlußversen derPraefatio zu den „Parentalia" des A u s o n i u s erschließen, in denen es heißt, das Besingen der Toten käme den Sängern selbst zugute'). Man könnte geneigt sein, die Lobeserhebungen nicht nur auf animistische Vorstellungen zurückzuführen, sondern sie sogar als Äußerungen des Totenkults aufzufassen, worauf besonders die Uberschwenglichkeiten hindeuten, an denen die preisenden Motive so reich sind3). Aber auch ein anderes dem Leichenliede sehr geläufiges Motiv weist in das Gebiet des Seelenglaubens und Seelenkults zurück, nämlich das Motiv der Rache. Auf früheren Stufen suchte man die Geister der Ermordeten durch besonders lautes Geschrei") und vielleicht auch besonders heftige Selbstverletzungen zu befriedigen und zu entfernen. Sie konnten aber nach altem Glauben erst endgültig zur Ruhe kommen, wenn sie gerächt waren; erst dann war ihre Blutgier gestillt und ihre Gefährlichkeit beseitigt. Diese Vorstellungen können als eine Wurzel der Blutrache angesehen werden, deren Verpflichtungen auch als ein Teil des den Verwandten obliegenden Seelenkults aufzufassen sind4). Auch bei den Israeliten haben wir deutliche Spuren dieses Vorstellungskreises: das Blut der gewaltsam Erschlagenen wird hier klagend und selber Rache heischend gedacht 6 ). Wie früher Geschrei und Selbstverwundungen bei der Totenfeier die zürnende Seele einstweilen bis zum Voll2 *) A. a. 0. V. 15ff. ) Vgl. Kap. III, § 2. ") Vgl. oben S. 43. ) Nach R o h d e a. a. 0 . 1 , S. 263ff. 6 ) Gen 4io 2. Makk 83 Apb Joh 69f. Vgl. dazu M e r z : Die Blutrache bei den Israeliten (1916), S. 12. 46 ff. 4

Kapitel I.

55

zug der Blutrache beschwichtigen sollten, so hat vielleicht auf einer entwickelteren Stufe das dichterische Motiv der Rache im Leichenliede diese Aufgabe erfüllt. Es ist schon erwähnt worden, daß einzelne Trauerbräuche in Israel vom Gesetz verboten waren 1 ) und daß das Trauerbrot im Jahwekult als unrein galt®). Daraus wird deutlich, daß die genannten Bräuche zu einem fremden Kult gerechnet wurden, daß man also ihren Ursprung aus dem Totenkult noch empfand. Die Leichenklage, die doch augenscheinlich auch in Israel demselben Gebiet entstammt und ihm bei Naturvölkern noch heute unverkennbar angehört, wird nicht verboten 3 ). Die Gründe dafür sind darin zu suchen, daß sie eben Worte enthält und deshalb zur Trägerin von Gedanken gemacht werden kann. So wird sie wandlungs- und verkleidungsfähig und vermag in einem ganz anderen Grade als die verwandten Trauerbräuche, die Spuren ihres Entstehungsgebietes abzustreifen; so geht sie in die rein geistige Sphäre der Poesie über. Mit dem Augenblick, in dem zum ersten Mal ein Klageweib statt des bloßen Geschreis Worte fand, wurde die Totenklage weit über die übrigen Trauerriten hinausgehoben und befähigt, eine große Geschichte zu erleben. Mit diesem ihrem einzigartigen Charakter hängt es auch zusammen, daß sie mit der Zeit die übrigen Trauerbräuche mehr und mehr verdrängt. Einzelne prophetische und mehrere ntl. Stellen erwähnen bezeichnenderweise von allen Trauerriten nur noch die Leichenklage4). Dieselbe Entwicklung läßt sich bei den alten Arabern an einem Punkte geradezu verfolgen: ein arabischer Dichter soll der erste gewesen sein, der das Totenopfer unterließ und der Meinung Ausdruck gab, daß ein Trauergedicht denselben Dienst leisten werde 6 ). Wenn man die L e i c h e n k l a g e aber auch vom Standpunkt 2 ») Vgl. oben S. 13f. 16f. 22. ) Vgl. oben S. 34. a ) Auch das spätere Judentum läßt die Leichenklage mit Klageweibern, Musikinstrumenten und dem Wehklagen der Menge gelten, vgl. W e n s i n c k , Sachau-Festschrift, S. 33f. Sie wird dagegen grundsätzlich verboten: von Solon ( P l u t a r c h , Selon 21) und den römischen Zwölftafelgesetzen ( C i c e r o , de legibus II, 59), vom Islam (vgl. G o l d z i h e r a. a. 0 . 1 , S. 253) und im Christentum (siehe Kap. VIII, § 2). 4 ) Jer22ie Sach 1 2 i o - n Mt9as Mk5ss Lk8 5 a Acta8a; vgl. T o r g e a. a. 0. 6 S. 180. ) G o l d z i h e r a.a.O. I, S. 242.

Kapitel I.

56

der Jahwereligion aus nicht als unrein empfand, so war sie doch d u r c h a u s p r o f a n , sie gehört keineswegs etwa der religiösen Lyrik an. Dies muß besonders im Gegensatz zu modernem Empfinden betont werden; denn die christliche Religion hat heut das Gebiet des Todes stärker in ihren Machtbereich gezogen als vielleicht irgend ein Gebiet des Lebens, sodaß sogar Kreise, die sonst der Religion völlig entfremdet sind, im Augenblick eines Todesfalles die religiöse Weihe nicht entbehren wollen oder mindestens unbewußt nach Formen greifen, die der Religion entlehnt sind. Diese religiöse Verklärung des Todes war nur durch den christlichen Auferstehungsglauben möglich. Im alten Israel aber herrscht noch die Überzeugung, daß man Jahwes im Tode nicht gedenkt und ihm in der Scheol nicht lobsingt l ). Der Name Jahwe kommt daher auch im Leichenliede nicht vor, auch nicht in einer Zeit, da man im übrigen schon im Zusammenhang mit dem Tode von Jahwe zu sprechen pflegte 2 ). Der Tod gilt überall da, wo die Totenklage gehalten wird, als der endgültige, unabänderliche Abschluß des Lebens, und die Stimmung der Hinterbliebenen an der Bahre ist vollständige Hoffnungslosigkeit. So ist die Totenklage im Gegensatz zu aller modernen Friedhofslyrik, in der sich Klage und Hoffnung auf eigentümliche Weise miteinander vermischen, völlig einheitlich und geschlossen in der Stimmung. Die Weltanschauung, die der Totenklage zugrunde liegt, ist überall ganz diesseitig gerichtet. Es spricht aus den Leichenliedern, wie sie über die ganze Erde hin gesungen werden, eine heiße Liebe zum Leben und zu der Fülle seiner Gaben. Der Ruhm der Waffen und das Glück des Reichtums, die Freuden der Liebe und die Schönheit des Körpers, alle diese Dinge sind von dem Zauber einer unvergleichlichen Süßigkeit umflossen, und der Tote hat mit ihnen nach Auffassung der Überlebenden alles verloren. So heißt es in der Totenklage um einen Knaben bei den Aromunen: Was hast du gemacht, mein Sohn, in so zartem Alter? ai Von wo traf dich der böse Tropfen? Wie wartete dich die Mutter,

ai

>) PS 6e. ) Vgl. 2. Sam l u f f . mit 2. Sam I n f i , und 2. Sam 3 2 8 . st mit 2. Sam 3 3 s f .

2

Kapitel II.

57

Daß du das heiratsfähige Alter erreichtest! Du hast nicht irohl daran getan. Ganz besonders wegen deiner selbst; eine derartige schöne Jugend, Wie kannst du sie der Ercle geben, der Erde und der Verwesung? Der Körper wird verfaulen, und dort, icohin du gehen wirst, Gibt es keine Hochzeit, keine Freude. Du wirst verschwinden unter den Jünglingen, du tvirst verschwinden unter den Gespielen. Wie härmt sich die Mutter um einen so schönen Burschen. Du trenntest: dich von Vater und Mutter, von Brüdern und Schwestern').

Wo diese weltfrohe Stimmung nachläßt, wo man anfängt, die Werte des Lebens mit geistigen Maßstäben zu messen, da ist eigentlich der Totenklage schon das Daseinsrecht genommen. Dem Spötter L u c i a n erscheint eben deshalb die Totenklage so sinnlos und lächerlich, weil er als Aufklärer die naive Wertschätzung des antiken Menschen für die Güter dieses Lebens nicht mehr aufzubringen vermag 2 ). Dieser Umstand, daß die Totenklage immer nur auf dem Boden einer ganz bestimmten Weltanschauung vorkommen kann, rechtfertigt es auch, daß wir sie zum Zwecke der vergleichenden Betrachtung bei Völkern aufsuchen, deren Kulturverhältnisse sich im übrigen stark voneinander unterscheiden.

Kapitel II. § 1.

Die Totenklage als Zeremonie.

Das Personal bei der Totenklage.

Wir wenden uns nun der K l a g e z e r e m o n i e zu und beschäftigen uns zunächst mit dem P e r s o n a l , dem der Vollzug der Totenklage oblag. Da tritt uns im AT eine große Mannigfaltigkeit entgegen: die Leichenklage kann von einer Person gei) W e i g a n d a. a. 0. II, S. 205.

2

) A. a. 0 . 1 6 f .

Kapitel II.

58

halten werden (Abraham um Sara 1 )) oder von mehreren Personen (das ganze Trauergefolge um Jakob 2 )). Diese Personen können Verwandte des Verstorbenen sein, wie an der ersten angeführten Stelle, oder Leichensänger von Beruf (die Klagekundigen 3 ), die Klageweiber oder sachverständigen Frauen 4 ), die Sänger und Sängerinnen von Leichenliedern6)). Aber es kommt auch vor, daß eine Persönlichkeit die Totenklage erhebt, der weder durch Verwandtschaft noch durch Zugehörigkeit zu einer Zunft diese Berechtigung zusteht (David um Abner 0 )). Die angeführten Stellen beweisen auch, daß beide Geschlechter bei der zünftigen Leichenklage mitwirken, daß aber auch Männer einzeln die Totenklage halten können 7 ). Für diese Verschiedenartigkeit des Klagepersonals nach Zahl, Geschlecht und Befähigung finden sich Parallelen über die ganze Erde hin; es soll versucht werden, die verschiedenen Typen in einen Geschichtsverlauf einzuordnen. Dabei muß man allerdings darauf verzichten, den Vollzug der Klage durch Männer oder Frauen irgendwie gegeneinander abzugrenzen; denn beide Möglichkeiten finden sich in Israel wie bei anderen Völkern auf den verschiedensten Entwicklungsstufen nebeneinander. Es soll zunächst die g e m e i n s a m e A u s f ü h r u n g der Klage d u r c h beide G e s c h l e c h t e r betrachtet werden. Bei der Klagefeier um einen unbekannten Märtyrer, die Sach 12nff. geschildert und wohl nur in der Bedeutung, nicht aber in den Zeremonien von gewöhnlichen Leichenfeiern abweichend vorgestellt wird, sollen getrennte Männer- und Frauenchöre nebeneinander amtieren. Noch im heutigen Palästina ist die getrennte Männer- und Frauenklage erhalten8), und in einer neuarabischen Totenklage heißt es: Wir weinen, alle jungen Wir weinen, alle jungen

Frauen. Männer9).

Auch in der altgriechischen Totenklage sangen Männer- und Frauenchöre abwechselnd. Die schon erwähnte Tonplatte, die eine feierliche griechische Totenklage darstellt10), führt uns den 2 3 4 Gen 23a. ) Gen 50i0. ) Am 5ie. ) Jer 9ie. ) 2. Chr 3525. «) 2. Sam 3ss. ') Ygl. auch Jer 16s. 8 9 ) Dalman a.a.O. S. 316ff.324ff. ) Littmann a.a.O. S. 132. 10 ) Benndorf a.a.O. Tafel I, ygl. oben S. 3. 5

Kapitel II.

59

Augenblick vor, in dem die Männer singen und die Frauen schweigen; beim Tode bewährter griechischer Staatsbeamter hatte ein Chor von 15 Mädchen und ein anderer von Jünglingen im Wechselgesang an der Leiche ein Loblied vorzutragen 1 ). Auch die Babylonier hatten Klagemänner und Klagefrauen, die gemeinsam wirkten 2 ), und bei der Schilderung eines königlichen Begräbnisses heißt es: „Es wehklagten die Gattinnen, es antworteten die Freunde 3 )." In der schon erwähnten Totenklage der Madagasker um ihren Königssohn singt ein Männer- und ein Frauenchor abwechselnd4). Auch dafür, daß M ä n n e r sich e i n z e l n , nicht als Zunft, an der Klage b e t e i l i g e n , finden wir außerhalb Israels Beispiele: im alten Ägypten ergreifen auch männliche Verwandte des Toten, die Priester und Fürsten in der Leichenklage das Wort 5 ). Bei der Leichenfeier um Attila sangen die besten Reiter aus dem Hunnenvolke die Totenklage9). Bei den Arabern, den Iren, den Neuseeländern waren oder sind Männer oft die Sänger, mindestens aber die Dichter von Leichenliedern. Doch kommen diese Beispiele überhaupt nicht auf gegen die überwältigende M e h r h e i t der A n g a b e n , die uns F r a u e n als a l l e i n i g e L e i c h e n s ä n g e r i n n e n zeigen: bei den Neugriechen, den Korsen, den Rumänen, den Russen, den Basken, in Algier und Marokko, bei den Chews'uren, den Abchasen und den muhammedanischen Persern im Kaukasus, in Zanzibar, in der Sahara, bei den Habab in Abessynien, den Hottentotten und vielen anderen Völkern wird uns nur von Frauen bei der Leichenklage berichtet. Wo die Männer zugegen sind, bleiben sie meist stumm; vielfach dürfen sie sogar das Sterbezimmer überhaupt nicht betreten. Selbst die Musik bei der Totenklage wird zuweilen von Frauen ausgeführt; z. B. auf einer etrurischen Urne sehen wir eine Flötenspielerin bei der Leichenklage abgebildet'). Meistens sind die Sängerinnen zugleich auch die Dichterinnen des Leichenliedes, und selbst da, wo es literarische Gattung gel

) ) 4 ) 6 ) ') 3

2 P l a t o leges XII, p. 947B. ) Iitars Höllenfahrt, TuB I, S. 69. J e r e m i a s , Hö. Par.*, S . I I . H e r d e r : Stimmen der Völker a.a.O. S. 499f. 6 E r m a n a. a. 0. S. 433. ) J o r d a n e s : Gotengeschichte XLIX, 256f. Melusine 1, S. 215.

60

Kapitel II.

worden ist, wird es nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen, und zwar mit einer Vorliebe wie keine andere Dichtungsart gepflegt, z. B. bei den alten Arabern'). In dieses Bild, das wir von dem Vollzug der Totenklage bei den meisten Völkern gewinnen, fügt sich Israel ohne Schwierigkeit ein: obwohl Männer bei der Totenklage mitwirken dürfen, scheint es sich doch auch hier um ein Gebiet zu handeln, das im allgemeinen den Frauen vorbehalten ist. Dies wird durch nichts deutlicher als durch den Umstand, daß sogar der einzelne große Schriftsteller im AT, wo er sich der Gattung des Leichenliedes bedient, häufig den poetischen Umweg einschlägt, sein Lied durch einen Frauenchor singen zu lassen oder es ihm einzuüben 8 ) oder ihn wenigstens zur Klage aufzufordern 4 ). Auch bei Personifikationen sind es weibliche Gestalten, denen Leichenklagen in den Mund gelegt werden 5 ). Es ist also eine zwingende Vorstellung, daß Frauen die Totenklage singen müssen, denn sogar der Dichter in seiner besonderen geistigen Lage kann sich nicht frei davon machen. Auch anderwärts begegnen wir dieser Erscheinung. In einem altarabischen Leichenliede sagt der Dichter: Bei meinem Leben! — obwohl meine Zeit nicht dazu da ist, Tote zu beklagen oder mich um ein Unglück oder einen schmerz8 lichen Fall zu betrüben ). Nicht nur bei der gewöhnlichen Leichenklage und ihrer poetischen Anwendung begegnen uns Frauen als die Klagenden, sondern auch bei Götterklagefeiern. Ezechiel findet Weiber am Tempeltor, die den Tammuz beweinen'); die regelmäßige Klage um Jephtas Tochter, die, wie wir sehen werden, wohl ein Nachklang alter Götterklagefeste ist, wird von Jungfrauen gehalten 9 ); Sappho verfaßte für die Frauen von Mytilene eine Totenklage um Adonis 9 ). Sehr schön wird die Tatsache der vorherrschenden Frauenklage durch W e t z s t e i n von der Psychologie des Arabers aus begründet: „ . . . Nach volkstümlicher Anschauung kann der Sieger wie der Gefallene nicht von seinesgleichen, sondern nur *) ) 6 ) 0 ) S. 12 f. 4

2 N ö l d e k e a.a.O. S. 152. ) Jer s 2. Sam I24. ) Jer 49 s Thrlisff. N ö l d e k e a.a.O. S. 104. ') Ez v. W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f f :

3 38 22 Ez 3 2 « . )Jer9i8. 2 so ff. 8 8u. ) Jud 11«. B i o n v o n Smyrna, Adonis (1900),

Kapitel II.

61

vom Weibe vollkommen geehrt werden, sowie der Araber nicht Männern, sondern nur Frauen zuliebe wirklichen Heldenmut zeigt 1 )." Wir denken bei dieser doppelten Aufgabe der Frau, den Sieger wie den Gefallenen zu ehren, an die parallelen Verhältnisse im alten Israel, wo gleichfalls die Frauen nicht nur die Totenklage erhoben, sondern auch die heimkehrenden Sieger mit ihren Jubelchören empfingen 2 ). Wenn die Verteilung der Leichenklage auf die beiden Geschlechter nicht unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklung begriffen werden kann, so ist dies eher bei der Verschiedenheit des Klagepersonals in Bezug auf seine Zugehörigkeit zu dem Verstorbenen, seine Befähigung zur Klage und seine Zahl möglich. Der Vollzug der Klage durch Verwandte des Toten und durch zunftmäßige Leichensänger kommt zwar vielfach nebeneinander vor, und beide Typen verbinden sich dann oft so miteinander, daß ihre Verschiedenheit in einem liturgischen Zusammenwirken ästhetisch aufgelöst wird; aber trotzdem wird man diese beiden Typen als zwei Entwicklungsstufen betrachten und die V e r w a n d t e n k l a g e für u r s p r ü n g l i c h e r als die zünftige halten dürfen. Die Verpflichtung zur Klage wie überhaupt zur Trauer um den Toten dehnt sich z. B. bei den Korsen noch heut über den Kreis der engeren Familie auch auf die weitere Verwandtschaft aus, wie bei den alten Römern die ganze gens zur Vollziehung des Ahnenkultus verpflichtet war. Der Zusammenhang der Totenklage mit dem römischen Ahnenkult schimmert noch bei Ausonius durch: er stellt fest, daß in der vorgeschriebenen Reihe der zu verehrenden Manen der Vater zuerst steht, selbst wenn der Sohn zögern sollte, ihm diese Stellung zu geben 8 ). Sichere Beziehungen zwischen einem von manchen Forschern auch für Israel angenommenen Ahnenkult und der Leichenklage sind nicht nachzuweisen, nur das ist deutlich, daß zu ihrem Vollzug die Verwandten auch hier ursprünglich verpflichtet waren. Diese Tatsache ist aus den bei der israelitischen Totenklage vorkommenden Wehrufen „Weh, mein Bruder"'), „Weh, Schwester" 6 ) und aus der mehrmals im AT 3 ') Zeitschrift für Ethnologie 5, S. 299. ) Jud 1134 1. Sam 18 6 f. 3 4 5 ) Parentalia I, l f . ) 1. Reg 13s» J e r 2 2 i s . ) Jer 22i 8 .

62

Kapitel II.

erwähnten Klage um den „Einzigen" 1 ) oder „Erstgeborenen"") zu erschließen. Nichts ist natürlicher, als daß ursprünglich die zur Leichenklage Verpflichteten überall zugleich auch die Ausführenden waren. Im letzten Gesang der Ilias beklagen die Frauen die Leiche Hektors genau nach der Ordnung der Verwandtschaft 8 ), wobei allerdings berufsmäßige Sänger mitwirken. Auch da, wo individuelle Dichter sich der Gattung des Leichenliedes bemächtigen, stehen die Lieder auf Verwandte meist im Vordergrunde (vgl. z. B. die „Parentalia" des A u s o n i u s , die Leichenlieder der arabischen Dichterin A l c h a n s ä ' 4 ) und neuseeländischer Dichter 6 )). Daß die Leichenklage ursprünglich von den Verwandten gesungen worden und erst dann auf eine Sängerzunft übergegangen ist, erkennt man z. B. ganz genau an den neuarabischen Leichenliedern, die L i t t m a n n in seiner Sammlung bringt. In den meisten dieser Leichenlieder klagen die Verwandten des Toten abwechselnd in der ersten Person; doch wird das Ganze gewöhnlich von einem Klageweibe im Zusammenhang vorgetragen. Ebenso ist es in den Totenklagen, die die russische Klagefrau singt 6 ). Wir können also unsere vorhin gemachte Beobachtung, daß Frauen meistens die Totenklage ausführen, dahin ergänzen, daß die ursprünglichen Leichensängerinnen F r a u e n a u s der V e r w a n d t s c h a f t des Toten gewesen sind 7 ). Diese erste Stufe besteht noch heut bei einzelnen Völkern, die keine Klagezunft hervorgebracht haben, z. B. bei den Neugriechen"), den muhammedanis'chen Persern im Kaukasus 9 ) und den Juden in Algier10). Unter den verwandten Frauen treten bei der Klage die verschiedensten Personen auf: die Mutter, die Tochter, die Schwester, die Base, die Großmutter des Verstorbenen sind z. B. auf der schon mehrmals erwähnten Darstellung einer altgriechischen Totenklage namentlich bezeichnet 11 ). In einem arabischen Leichenliede werden dem Toten folgende Worte in den Mund gelegt: ») ) 6 ) 8 ) 8 ) ») ") 4

2 3 Jer 6j» Am 810 Sach 12io. ) Sach 12io. ) Ilias XXIV, 720ff. N ö l d e k e a.a.O. S.157ff. v. H o c h s t e t t e r : Neuseeland (1863), S. 522ff. W e s s e l o f s k y a.a.O. S. 490f. ') So auch B o c k e l a.a.O. S.97f. Vgl. F a u r i e l a. a. 0.1, S. XXXIXff. 10 E i c h w a l d a.a. 0.1, S. 374!. ) W a g n e r a. a. 0. II, S. 101. B e n n d o r f a.a.O. T. I.

Kapitel II.

63

Es trauern um mich von den Frauen drei, meine Scluvester und die Tochter meiner Schwester und die Tochter meines Oheims . ...'). Im AT könnte aus übertragenen Anwendungen der Gattung auf einen Typus der klagenden Mutter*) und einen Typus der klagenden Töchter 8 ) geschlossen werden. Doch gibt es einen Typus der Frauenklage, der alle anderen an Verbreitung übertrifft und für dessen Ursprünglichkeit ganz bestimmte Anzeichen sprechen: das ist die L e i c h e n k l a g e d e r S c h w e s t e r um d e n B r u d e r . Im Diwan der Hudhailiten, der ältesten Sammlung vorislamitischer Beduinenlieder, die wir besitzen, finden sich mehrere solcher Schwesternlieder 4 ). Sogar in einer Liebesgeschichte singt hier bezeichnenderweise nicht die Geliebte, sondern die Schwester das Trauerlied auf den Toten 6 ). Unter den Liedern der berühmten altarabischen Dichterin A l c h a n s ä ' , die N ö l d e k e in seiner Sammlung bringt, sind die schönsten die Leichenlieder auf ihre beiden gefallenen Brüder"). Sie erzählt, ihr Bruder habe dreimal sein Vermögen mit ihr geteilt; als ihn seine Frau deshalb getadelt, habe er geantwortet: Bei Gott, nicht verwehre ich ihr das Beste davon (vom Vermögen); denn wenn ich stürbe, ivürde sie ihren Schleier zerreißen und ein härenes Trauerhemd anziehen'). Die Leichenlieder dieser Dichterin sind von einem glühenden Rachedurst erfüllt; hier haben wir das Schwestern-Leichenlied in seiner charakteristischen Ausprägung, nämlich als R a c h e l i e d d e r S c h w e s t e r um i h r e n g e f a l l e n e n B r u d e r . Kein Volk aber hat diesen Typus so stark ausgebildet wie die Korsen. Die meisten korsischen Leichenlieder (voceri) sind solche Rachelieder der Schwester, die an der Bahre des Gefallenen gesungen werden. In einem dieser Lieder heißt es: Dir ist blieben vom großen Stamme eine einzige Schwester, nur Eine, Ohne Vettern leiblichen Blutes, eine Waise, Arme und Kleine. l

) M u s i l a. a. O. III, S. 443. ") Jer 31 is Thr I n f i . 2>ofi. ') Jer 49». ) W e l l h a u s e n : Skizzen und Vorarbeiten I (1884), S. 161f. Nr. 227. 229. 6 ) Ebenda S. 157. «) A. a. 0. S. 157ff. ') Ebenda S. 181. l

Kapitel II.

64

Aber deine Vendetta zu nehmen, sei nur ruhig, genügt auch die

Eine').

Aber auch bei anderen Völkern tritt die Schwester bei der Leichenklage hervor. In Montenegro hatte sich bei einer Totenfeier die Erregung einer der Schwestern des Toten, welche die Klage anführte, bis zur Nervenüberreizung gesteigert 2 ). Auch in Sardinien, Serbien, Bulgarien und Albanien ist der Typus der Schwesternklage ausgebildet. Drei Leichenlieder von Schwestern auf ihre Brüder in unserer albanesischen Sammlung enden mit dem Wehruf: „ 0 ich Bruderverwaiste 8 )!" Die Schwesternklage spielt auch im heutigen Syrien und Arabien eine wichtige Rolle. Bei der Bestattung eines syrischen Jakobiten in Damaskus wird uns das auffallende Verhalten der Schwester des Toten folgendermaßen geschildert: „Die Schwester namentlich ging meist rückwärts, jammerte, schrie und geberdete sich, als ob sie sinnlos geworden wäre 4 )." In einem hauranischen Leichenliede heißt es: Früh hörte man des Kaffeemörsers Klang, und liefernd ging der Händler aus und ein, Jetzt ruft sie jammernd: Meines Bruders Haus ivar eingerichtet wie ein fürstlich Haus6).

Die Klage um einen Scheich, der im Kampfe fiel, lautet: Es fliegt der Notruf durch das Land: ihr Reite)', schnell aufs edle Boß! Gonem erreicht den Feincl und würgt-, wie in der Herde wilrgt der Wolf. 0 weh! Hanifas Bruder fällt, von Todes Hand ins Grab gestürzt!

„Hie Hanifas Bruder!" war des gefallenen Scheichs und der Seinen Schlachtruf"). Auch in Leichenliedern aus dem peträischen Arabien wird der tote Bruder manchmal „Brüderchen der Schwestern" angeredet'). Das Hervortreten der Schwester bei ') G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 53. ) M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a. a. 0. S. 373. 3 ) v. H a h n a . a . O . II, S. 138f.; ein bulgarisches Schwestern-Leichenlied von ähnlichem Charakter: S t r a u ß a.a.O. S. 491 f. 4 ) P e t e r m a n n : Reisen im Orient I (1860), S. 108. ') W e t z s t e i n a.a.O. S.298. 6) Ebenda S.299. ') M u s i l a.a. 0. III, S. 440. 2

65

Kapitel II.

§1

der Totenklage um den Bruder ist auf das enge Verhältnis zurückzuführen, das gerade auf primitiven Kulturstufen zwischen den Geschwistern besteht und das oft viel mehr wirkliches Gefühl enthält als die Beziehung zwischen Mann und Frau. Wir denken dabei an die vielen Märchen, die vom Brüderchen und Schwesterchen handeln und in denen die Innigkeit dieses Verhältnisses noch in ihrer ursprünglichen schlichten Selbstverständlichkeit besteht. Daß die Schwester gerade die gegebene Person ist, zur Rache an der Leiche des erschlagenen Bruders anzufeuern und daß diese Rolle nicht der Gattin des Gefallenen zukommt, muß damit zusammenhängen, daß Bruder und Schwester ursprünglich derselben Blutrachegenossenschaft angehört haben, während die Frau zu ihrer eigenen Sippe gerechnet wurde. Auf Korsika ist in einem bestimmten Falle die Schwester des Getöteten, die das Leichenlied singt, zugleich die Frau des Mörders1). Wenn mehrere verwandte Frauen in neuarabischen Leichenliedern redend eingeführt werden, so steht die Schwester häufig an erster Stelle; erst dann kommen Mutter oder Tochter zu Worte 2 ). Ahnlich nennt S e r v i u s unter den leidtragenden Frauen an erster Stelle die Schwester, dann erst die Mutter 8 ). Auch bei den Hellenen galt die geschwisterliche Liebe als das reinste und tiefste Gefühl. Antigone wagt bei der Bestattung des Bruders, was sie weder für den Gatten noch für eigne Kinder gewagt hätte 4 ). Auch die Mythologie zeigt uns Leichenklagen von Schwestern um den Bruder 5 ): die Schwestern Meleagers beweinen, in Meleagriden (Perlhühner) verwandelt, ewig den verlorenen Bruder, die Najaden ihren Bruder Narziß; den Tammuz beklagt neben seiner Jugendgeliebten Istar seine Schwester Gestin-anna"), er wird auch wiederholt in den Kultliedern „Bruder der Mutter Gestin-anna" genannt.'). Verstärkt wird das geschwisterliche Verhältnis noch, wenn das ') R a t h er y : Les chants populaires de l'Italie, Revue des deux Mondes 38 (1862), S. 337 *) Z.B. L i t t m a n n a.a.O. S. 128 ff. 8 ) In Vergil. Aeneid. commentar. IX, 484, rec. T h i l o - H a g e n II (1884), 4 p. 352. ) S o p h o k l e s , Antigone 905. 6 ) Vgl. B a c h o f e n : Antiquarische Briefe, vornehmlich zur Kenntnis der ältesten Verwandtschaftsbegriffe (1880), S. 162 f. 6 ) Z i m m e r n : Der babylonische Gott Tamüz, Abh. der Kgl. Sachs. Ges. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 27 (1909) 20, S. 730. ') Ebenda S. 712. Beihefte z. ZAW 36

5

Kapitel II.

66

geschlechtliche dazutritt. Ein Beispiel dieser Verbindung ist die Totenklage der Isis um den brüderlichen Gatten, in der sie singt: Komm zu deiner Schwester, komm zu deinem Weibe, zu deinem Weibe, du, dessen Herz stille steht. Komm zu deiner Hausfrau. Ich bin deine Schwester von der gleichen Mutter, du sollst nicht fern von mir sein Du hörst meine Stimme nicht, und ich bin doch deine Schwester, die du auf Erden liebtest; du liebtest keine außer mir, mein Bruder, mein Bruder1)! Wie es scheint, finden sich auch im AT Nachklänge von diesem Typus der geschwisterlichen Klage. Unter den Wehrufen, die uns als Bruchstücke einer Leichenklage Jer 22™ mitgeteilt werden 2 ), stehen die beiden: „Weh, mein Bruder!" und „Weh, Schwester!" den anderen beiden voran, die für die Beerdigung eines Königs, wie sie im Gegensatz zu der Verfluchung Jojakims als normal vorausgesetzt wird, viel besser passen würden. An dieser Stelle kommt das geschwisterliche Verhältnis überhaupt nicht in Betracht; augenscheinlich sind hier nur Wehrufe zusammengestellt, die für die Leichenklage typisch waren"). An der Stelle 1. Reg 13ao kehrt der Ruf: „Weh, mein Bruder!" — und zwar als einziger — bei der Totenklage wieder. Der Gottesmann, bei dessen Bestattung er ertönt, wird in einer fremden Stadt und in einem fremden Grabe beerdigt, und die Geschwister, die man sich bei einem Königsbegräbnis noch mit einiger Phantasie hinzudenken könnte, sind hier ebensowenig vorstellbar wie andre Verwandte des Toten, die ihn etwa „Bruder" anreden könnten. Es handelt sich also augenscheinlich um Wehrufe, die zum Stil der Leichenklage gehörten, ja es war vielleicht sogar Stil, den Toten im Leichenliede „Bruder" zu nennen. Dies würde auf eine ursprüngliche Leichenklage der Geschwister zurückdeuten. Ja, man wird vielleicht sogar — gestützt auf die Ursprünglichkeit der Frauenklage im allgemeinen und auf die von ') E r m a n : Die ägyptische Religion (21909), S. 39 f. ) Über die Stellang solcher Wehrufe im Zusammenhang der Leichenklage vgl. Kap. II, § 2. s ) Selbst wenn das von manchen angefochtene „Weh, Schwester!" nicht ursprünglich sein sollte, würde doch auch die Entstehung des jetzigen Textes durch den typischen Charakter dieses Wehrufs erklärt werden können. Vgl. zum Text der Stelle Kap. II, § 2. 4

§1

67

Kapitel II.

uns beobachtete weite Verbreitung der Schwesternblage im besonderen — auch für Israel, eine Urform der Totenklage voraussetzen dürfen, welche die Schwester um den Bruder erhoben hat. Die Entwicklung, die wir hier nur vermutet haben, ist z. B. im Korsischen deutlich zu verfolgen: dort, wo uns die stärkste Ausbildung der Schwestern-Leichenklage begegnet ist, verlangt es der Stil des Leichenliedes, daß der Tote „Bruder" genannt wird. Die Frau vermag hier für den toten Gatten keinen tieferen Zärtlichkeitsausdruck zu finden als: „Er war mein Bruder." In der Klage einer Korsin um ihren Gatten heißt es: 0, du wärest meine Säule, meine Stütze, meine ganze, 0, du warst mein eigner Bruder, meine Perle du voll Glänze1). W i e wir schon angedeutet haben, tritt im allgemeinen die W i t w e des Verstorbenen bei der Leichenklage hinter den blutsverwandten Frauen zurück. Bei den Arabern konnte sie sogar zurückgewiesen werden, wTenn sie nicht einheimisch war"). Bei den Beni Amer in Ostafrika gilt die Klage der Frau um ihren kinderlosen Gatten geradezu für lächerlich, sie kommt auch dort in erster Reihe der Schwester zu 3 ). Vielleicht hat aber dieses Verstummen der W i t w e bei der Totenklage um ihren Gatten noch einen anderen Grund als den des fehlenden Blutzusammenhangs. Bei einigen Stämmen in Afrika, Nordamerika und Australien wird der W i t w e des Verstorbenen für eine bestimmte Zeit nach dem Tode ihres Gatten völliges Schweigen auferlegt, offenbar in der Absicht, die für sie besonders gefährliche Aufmerksamkeit des Totengeistes von ihr abzulenken 1 ). Gregorovius reden

sich

a. a. 0. II, S. 50. —

die Liebenden

E r m a n : Ägypten, S. 222. deine Schwester", ein Mann, schrie:

„mein

Bruder"

Auch

in der ägyptischen

und ' „meine

Schwester"

Lyrik

an,

Auch dort in der Totenklage der W i t w e :

vgl.

„Ich bin

ebenda S. 433. — In einer neubabylonischen Geschichte hört

daß sein Freund gestorben

„0 weh, mein Bruder!"

sei.

(Meißner:

Haupt

und

Neubabylonische Geschichten

Da

schlug

er

sein

aus

dem Iraq, Beiträge zur Assyriologie 5 (1906), S. 35). s)

Wellhausen:

a)

Munzinger:

4)

Frazer:

Reste, S. 1813. Ostafrikanische Studien (1864), S. 325. 327.

Folklore

III,

W o r t ¡"OQ^N, W i t w e mit D^N, T T ; -

•• •

S. 71 ff. stumm

Hier

der Vorschlag,

zu verbinden,

das

S. 7 2 u n d

hebräische diesen Z u -

68

Kapitel II.

Doch gibt es auch Leichenlieder von Witwen; in der neuarabischen Leichenpoesie, die sonst ein so starkes Hervortreten der Schwester aufweist, kommt es auch vor, daß die Frau des Toten zuerst das Wort bei der Klage ergreift *). Einige Angaben haben wir, die uns die F r a u e n des H a r e m s in ihrer Gesamtheit als L e i c h e n s ä n g e r i n n e n zeigen. Bei der altägyptischen Totenfeier klagen im Schiff neben der Leiche die Frauen des Verstorbenen 2). Die Stelle aus der Schilderung eines königlichen Begräbs nisses bei den Babyloniern: „Es wehklagten die Gattinnen )" ist schon erwähnt worden. In einem arabischen Leichenliede heißt es in einer schon herangezogenen Stelle: 0 du mit Staub Bestreute, dein Mond ist untergegangen — o wehe! 0 Geschrei seiner Frauen in jener Nacht, 0 Geschrei seiner Frauen, es verdarb mein Wohlbefinden*). Hier wird auf die Trauer der Hauptfrau und auf das Klagegeschrei der übrigen Haremsfrauen Bezug genommen. Ein anderes neuarabisches Leichenlied, in dem die Worte vorkommen: sammenhang aus der oben erwähnten Sitte zu begründen. Das Schweigen in der Totentrauer ist überhaupt eine neben der lauten Klage mehrfach beobachtete Erscheinung, es wird auch von anderen weiblichen Verwandten des Toten, z. B. bei einem Stamm in Zentralaustralien, geübt, vgl. F r a z e r a. a. 0. III, S. 76f., anderwärts sogar von sämtlichen Leidtragenden, z. B. bei einigen amerikanischen Stämmen, vgl. P r e u ß , Globus 70, S. 341 f. 343. Weist vielleicht die Stelle, Thr 2io auf ein solches Trauerschweigen auch in Israel zurück? Diese Vermutung könnte dadurch annehmbar gemacht werden, daß das Schweigen hier unter lauter echten Trauerriten: auf dem Boden sitzen, Staub aufs Haupt streuen, sich mit dem Saq umgürten, steht. — Mit dieser Trauersitte des Schweigens ist wohl auch ein auf den schon erwähnten ägyptischen Abbildungen bei den Leidtragenden vorkommender Gestus in Verbindung zu bringen, nämlich das an den Mund Legen des Fingers oder auch der ganzen Hand, S e e m a n n s Kunstgeschichte I 1, T. 20, 7, besonders deutlich T. 21, 2; auch T. 22,1; ähnlich bei einer Leidtragenden auf einer etrurischen Urne, Melusine 1 (1878), S. 215. Er wird auch sonst vielfach bezeugt, und zwar als apotropäischer Gestus zur Abwehr unheilvollen Zaubers, vgl. J a h n : Aberglaube des bösen Blicks bei den Alten, Berichte der sächs. Akad. d. Wiss. (1855), S. 47. Über das apotropäische Schweigen außerhalb der Trauersitte vgl. S e l i g m a n n : Der böse Blick und Verwandtes I. II (1910), siehe Register unter „Schweigen". Wahrscheinlich liegt auch an einer Stelle wie Am 610 dem Schweigen ein apotropäischer Sinn zugrunde. a !) Z.B. L i t t m a n n a. a. 0. S. 113f. ) E r m a n , Ägypten, Abb. S. 433. 8 s ) J e r e m i a s : Hö. Par. , S. 11, vgl. oben S. 59. *) M u S i l a.a.O. III, S. 432, vgl. oben S. 41.

Kapitel II.

69

Seine Frauen lassen wir trinken, was wir getrunken haben1), singen die Frauen eines Ermordeten. Zu diesen Haremsklagen haben wir eine sehr interessante Parallele im AT: Die Sängerinnen der Leichenklage um König Zedekia, die das prophetische Ohr des Jeremia schon im voraus vernimmt, sind die noch übrigen Frauen des Palastes s ), also wohl vor allem die Frauen des Harems. In diesem prophetischen Erlebnis spiegeln sich sicherlich tatsächliche israelitische Verhältnisse wider. Wir besitzen eine große Anzahl von Angaben, die uns zeigen, wie die Nachbarinnen und Freundinnen des Hauses (z. B. bei den Neugriechen) oder alle Weiber des Ortes (bei den Nogai-Tataren) oder gar noch Frauen aus den benachbarten Dörfern (bei den Korsen) sich zu den Verwandten des Toten gesellen und den Klagechor vergrößern. In vielen Fällen zieht man auch solche Frauen heran, die sich durch dichterische Befähigung eine gewisse Berühmtheit als Leichensängerinnen erworben haben, z. B. in Irland 3 ) und bei den Neugriechen 4 ). Diese Angaben über die Vermehrung des Chores der verwandten Frauen durch andere belehren uns über die Gründe, die zur Entstehung einer Klagezunft führen. Das Bestreben, den Chor zu vermehren, geht auf die ursprünglich animistisch begründete Bedeutsamkeit des lauten Klagegeschreis zurück 6 ); später ist der große Klagechor als Ehrung des Toten gemeint 6 ). Diesen Sinn hat z. B. auch die Heranziehung des gesamten Hofpersonals zur Klage bei der Bestattung Abners 1 ). Es mag gleichzeitig das ästhetische Interesse dazukommen, das sich von einem größeren Chor eine wirksamere gesangliche Leistung verspricht. Dieses Interesse kommt ebenfalls da in Betracht, wo dichterisch und stimmlich begabte Kräfte zur Führung des Chores gewonnen werden. Aber es tritt noch ein anderer entscheidender Gesichtspunkt hinzu, der zur Verdrängung der verwandten Frauen aus dem Klagechor führt oder ihnen mindestens eine ganz untergeordnete Rolle in demselben zuweist. Auch zur Auffindung dieses Gesichtspunktes weisen uns einige Angaben den Weg: aus Zanzibar wird uns z. B. erzählt, daß die leidtragenden Frauen J

) L i t t m a n n a. a. 0. S. 119. ") Jer 38 sa , vgl. Kap. V, § 1. 4 ) H a l l bei M i c h e l a.a.O. S. 280f. ) F a u r i e l a.a.O.I, S. CXXXV. ») Vgl. oben S. 40ff. •) Vgl. oben S. 46. ') 2. Sam 3u. 8

70

Kapitel II.

von Rang in einsamem Schmerz zu Hause sitzen, während die Sklavinnen in den Straßen umhergehen und Totenklagen singen 1 ). Bei den Ama-xosa in Südafrika fliehen die Frauen des Verstorbenen in die benachbarten Berge und suchen Zuflucht unter den Felsen während im Orte selbst von den anderen Weibern eine laute Totenklage gehalten wird3). Um dieses Zurückweichen der verwandten Frauen aus der Totenklage verstehen zu können, müssen wir uns einmal die psychologischen Bedingungen klar machen, unter denen die Totenklage entsteht. Es liegt in der Natur der Sache, daß das L e i c h e n l i e d der nicht berufsmäßigen Sängerin i m p r o v i s i e r t ist, wenn uns auch aus Ländern, in denen es vollständig in die Volkspoesie übergegangen ist, erzählt wird, daß die Mädchen sich bei ländlicher Arbeit oder beim Zusammensitzen häufig im Erfinden von Totenklagen üben, so bei den Neugriechen ®) und den Korsen4). Immerhin verlangt der Augenblick, in dem die Sängerin dann an der Bahre eines teueren Toten die Klage erhebt, einen Rausch der Erregung, der doch völlig beherrscht und in rhythmische Formen gebannt werden muß, also eine Steigerung der Trauernden über sich selbst hinaus, die nur zu oft in Bewußtlosigkeit oder Hysterie endet 6 ). Je mehr sich die seelische Kultur vertieft und verfeinert, desto unmöglicher wird dem einzelnen ein solches öffentliches Hervortreten mit seinen individuellen Empfindungen, und desto lieber flüchtet er mit ihnen hinter die Maske einer gleichmachenden, festgeregelten Sitte. So tritt eine A b l ö s u n g der eigentlich zur K l a g e Verp f l i c h t e t e n und G e s t i m m t e n durch e i n e geschulte und bezahlte L e i c h e n s ä n g e r z u n f t ein. Bei den meisten Völkern, die überhaupt eine Totenklage halten, ist es zur Bildung einer solchen Zunft gekommen, die entweder allein, oder, was viel häufiger vorkommt, mit Hilfe der verwandten Frauen amtiert. Außer in Israel gab es auch im alten Griechenland und Rom, in Babylonien, Ägypten und bei den alten Arabern Leichensängerzünfte; heutzutage findet man sie noch in Palästina, Syrien, Arabien, im Kaukasus, bei den asiatischen Griechen, in Apulien, 2 ») B u r t o n a. a. 0.1, S. 428, vgl. oben S. 5. ) F r i t s c h a. a. 0. S. 116. ») P a u r i e l a. a. 0.1, S. CXXXV. G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 33. 6 ) Vgl. z. B. über die Neugriechen F a u r i e l a. a. 0. I, S. CXXXIV, über Montenegro M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a.a.O. S. 373.

Kapitel II.

71

Kalabrien, Marokko, Ägypten, in der Sahara, bei verschiedenen ostafrikanischen Stämmen und vielen anderen Völkern. W i r versuchen nun, aus den atl. Stellen, die uns das Vorhandensein von Klagezünften im alten Israel bezeugen, etwas über das W e s e n dieser Z ü n f t e zu erfahren. Ihre Mitglieder werden mit verschiedenen Ausdrücken, nämlich als „Sänger und Sängerinnen 1 )" oder „des Klagegesangs Kundige*)" oder „Klageweiber 8 )" bezeichnet. Diese Ausdrücke geben die gesangliche und dichterische Schulung für beide zur Zunft gehörigen Geschlechter an. Es kommt aber noch eine andere Bezeichnung für die Klageweiber vor; sie werden auch „weise Frauen*)" genannt. Es scheint, als ob dieser Ausdruck nicht ganz gleichbedeutend mit dem „des Klagegesangs Kundige" wäre, sondern noch etwas über die Sachverständigkeit im Leichengesang Hinausgehendes sagen wollte. Das Wort kommt auch sonst im Sinne von geheimnisvoller Weisheit und Zauberei vor 6 ) und wird auch an unserer Stelle diese Bedeutung haben. Die Klageweiber befaßten sich also wohl außer dem Vollzug der Leichenklage noch mit allerlei unheimlichen Praktiken, wie sie dem gefährlichen Toten gegenüber angebracht erschienen6). Einen Eindruck dieses seltsamen, auf dunkle Zwecke gerichteten Treibens erhalten wir z. B. aus der Schilderung der Totenfeier bei den vedischen Indern: „Klageweiber mit aufgelöstem Haar gehen dreimal im Anfang der ') • v lt2' und r m t Tf 2. Chr 3525. • T

Derselbe Ausdruck bei den Babvloniern:

nach dem Tode des Königs wird „der Musikmeister mit seinen Sängerinnen nach der Trauerversammlung Musik machen", J e r e m i a s a.a.O. S . I I . 2 ) i n ; i j n v Am 516. s ) n i J U I p D Jer 9ie. Das Yerburn ist wohl Denominativ von rCp, dessen Etymologie unsicher ist. W e t z s t e i n (a.a.O. S. 2 9 7 u n d B u d d e ( Z A W 2, S. 28) bringen HIPp in Zusammenhang mit dem arabischen Yerbum qäna „künstlich bilden", eig. „schmieden".

*) niDDQ Jer 9is, parallel mit r i U S i p D gebraucht. 5 ) • 1 DDn in dieser Bedeutung z. B. Gen 41s Ex 7u Jes 44¡¡6, nDDn vielleicht in ähnlichem Sinne 2. Sam 14 2 ff. •) Deshalb sollen sie ja wohl auch zur Ausübung ihres Berufes „eilen", Jer 9ief., vgl. oben S. 43. Ähnlich D u h m , C o r n i l l , G i e s e b r e c h t , R o t h s t e i n (bei K a u t z s c h 4 I), V o l z z. St., siehe Literaturangaben zum Buche Jeremia Kap. V, § 1. Vgl. auch E l b o r s t : „Sie kennen das richtige Klagelied", Z A W Beiheft 27, S. 127.

72

Kapitel II.

§t

Nacht, dreimal um Mitternacht, dreimal gegen Morgen um die Gebeine herum in der Weise, wie man unheimlichen Objekten seine Verehrung bezeugt: den Gebeinen die linke Seite zuwendend, mit der Hand den rechten Schenkel schlagend 1 )." Auch von der Art des zünftigen Zusammenhangs zwischen den einzelnen Gliedern der Leichensängerinnenzunft können wir uns ein Bild machen. Jer 9I 9 heißt es: Ja, hört, ihr Weiber, Jahwes Wort, und euer Ohr nehme auf das Wort seines Mundes, Und lehrt eure Töchter den Wehgesang und Eins die Andre das Leichenlied. Denn so, wie sie das Leichenlied, das der Prophet Jeremia ihnen jetzt einüben will, verbreiten sollen, so geben sie im allgemeinen Erzeugnisse der von ihnen gepflegten Gattung weiter: einerseits teilen die Genossinnen sie sich gegenseitig mit, und andrerseits geht der gesamte Vorrat möglichst unverkürzt auf das folgende Geschlecht über. Das Charakteristische dieser Sängerzunft wie jeder anderen besteht also in der lebendig fließenden Tradition, die innerhalb der zeitgenössischen Zunft von Mund zu Munde geht und die sich in den einzelnen Familien von einer Generation auf die andere, hier von der Mutter auf die Tochter, forterbt. So eignet sich eine rührige Leichensängerin mit der Zeit einen großen Schatz von Nenien an, indem sie ihrem teils ererbten, teils selbstgedichteten Vorrat bei jeder Gelegenheit neue Stücke hinzufügt, gegen die sie ihre eigenen Leichenlieder austauscht. Diese Verhältnisse haben sich in Syrien und Palästina bis auf den heutigen Tag erhalten; W e t z s t e i n 2 ) und D a l m a n 3 ) bezeichnen die Kenntnis von Leichenliedern in diesen Ländern als einen wichtigen und einträglichen Wissenszweig und erzählen von dem reichen Nenienvorrat und dem guten Gedächtnis der Klageweiber, wodurch sie befähigt sind, sich bei einer vollständigen, d. h. siebentägigen Klage, die etwa 2 '/a Stunden täglich dauert, nicht zu sehr zu wiederholen. Von einer Aufbewahrung der alten Leichenlieder durch die mündliche Überlieferung der berufsmäßigen Klageweiber wird uns auch aus der Umgegend des Onega-Sees berichtet 4 ); bei den griechisch redenden ») O l d e n b e r g a.a.O. S. 582. *) R a l s t o n a.a.O. S. 341f.

4

) A. a. 0. S. 297.

8

) A. a. 0. S. 316.

Kapitel II.

73

Bewohnern von Süditalien erbt sich das Amt der Klageweiber ebenso wie im alten Israel von der Mutter auf die Tochter fort'). In Apulien und Kalabrien erstreckt sich die Tradition, die seit uralter Zeit besteht, sogar auch auf die Geberden der Klageweiber 2 ). Auch bei den Rumänen in Siebenbürgen erteilen die Klageweiber in der Kunst, den Toten wirksam zu beklagen, förmlichen Unterricht 8 ). Die Leichensängerin kann also ihre eigentümliche Aufgabe, unvorbereitet einem fremden Toten gerecht zu werden und eine große Trauerversammlung zu rühren, nur lösen, indem sie sich von einer breiten, festgefügten Uberlieferung tragen und stützen läßt. Die persönlichen Momente, die in jedem Todesfall liegen, können natürlich von den Klageweibern, die nur auf allgemeingültige Stimmungen und Redewendungen eingestellt sind, nicht ausgeschöpft werden; die vorrätigen Leichenlieder sind nur auf Typen zugeschnitten 4 ) und können nur oberflächlich dem einzelnen Fall angepaßt werden. Aber gerade deshalb mußte sich in den Händen einer solchen Sängerzunft ein ganz fester Bestand an Motiven und Stilformen, also eine scharf umrissene poetische Gattung, ausbilden. Es ist daher verständlich, daß Stoffe und Formensprache des Leichenliedes sich sogar in den Händen individueller Dichter, in die es oft später überging, mit unverwüstlicher Lebenskraft behaupteten. § 2. Situation und Aufführungsart der Totenklage. Wir beschäftigen uns nun mit der Aufführungsart der Leichenklage und vergegenwärtigen uns zunächst die S i t u a t i o n , in der diese Zeremonie sich abspielt. Da begegnen wir im AT drei verschiedenen Möglichkeiten. Die Totenklage kann im Trauerhause an der Leiche stattfinden 6 ). Eine andere mögliche Situation erkennen wir aus Koh 12 6 I>: Denn der Mensch geht hin zu seinem, ewigen Hause, und es kreisen auf der Gasse die Klagenden. Hier ergibt sich die Vorstellung einer Leichenklage auf der Gasse. Dazu kommt als dritter Typus die Klage auf dem Wege zum ') M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a.a.O. S. 382. ) T r e d e a. a. 0 IV, S. 414. 3 ) P r e x l : Geburts- und Totengebräuche der Rumänen in Siebenbürgen, Globus 57 (1890), S. 29. «) Vgl. Kap. III, § 2. ») Gen 23 a. 2

74

Kapitel II.

Grabe und am Grabe selbst'). Zu allen drei Möglichkeiten finden wir Parallelen außerhalb Israels; sie kommen auch oft nebeneinander und nacheinander vor, wie z. B. im heutigen Palästina *) und in Albanien3). Der Typus der K l a g e an der L e i c h e im T r a u e r h a u s e scheint der ursprüngliche und verbreitetste zu sein. In diesem Falle wurde die Leichenklage sofort nach dem Ableben gehalten, da wohl, wie schon erwähnt, in Israel wie im ganzen Orient die Bestattung noch am Todestage erfolgte 1 ). Wie wir gesehen haben, hat das Einsetzen der Leichenklage unmittelbar nach dem Tode wahrscheinlich auch noch seinen Grund in animistischen Vorstellungen 8 ). Die Klage an der aufgebahrten Leiche findet noch im heutigen Palästina 6 ) und in Syrien') statt. Dort wird sie bei den Städtern innerhalb des Hauses gehalten. Auch im alten Griechenland hielt man die Totenklage im Inneren des Hauses, wo der Tote auf der Kline ruhte 8 ). In der Gegend von Neapel wird noch heut der Tote auf einem Katafalk aufgebahrt, der im Eingang des Hauses steht 9 ). Andere Beispiele für diesen Typus finden wir bei den katholischen Griechen oder Melchiten, bei den Aromuüen und in der Nähe des Onega-Sees. Die Totenklage an der aufgebahrten Leiche wird meist auf der Erde sitzend oder liegend gehalten 10 ). Abraham stand auf von der Leiche Saras11), d.h. er beendete die Leichenklage12). Bei palästinischen Klagefeiern lassen sich noch heut die Frauen im Hause und sogar auf dem Friedhof auf der Erde nieder 18 ); ebenso sitzen sie im peträischen Arabien14). Bei den Basken sitzt in jeder Ecke des Saales, in dem der Tote aufgebahrt ist, ein Klageweib auf der Erde 16 ). Der zweite Typus der L e i c h e n k l a g e , den wir aus dem AT f ü r Israel erschließen, spielt sich auf der G a s s e ab19). Er wäre uns kaum verständlich, wenn wir nicht auch hierfür Parallelen l

) ) 6 ) ') •) ") 13 ) ») '") 8

2 2. Sam 3 31 ff. ) D a l m a n a.a.O. S. 316. 4 v. H a h n a. a. 0 . 1 , S. 151. ) Vgl. oben S. 30f. Vgl. oben S. 42f. «) D a l m a n a. a. 0. S. 316. W e t z s t e i n a.a.O. S. 296f. ") B e n n d o r f a.a.O. T. I. 10 T r e d e a. a. 0. IV, S. 413. ) Vgl. oben S. 7. 24f. 12 Gen 23 3 . ) Vgl. G u n k e l : Genesis s , S. 275. D a l m a n a.a.O. S. 331; S p o e r - H a d d a d , ZDMG 68, S. 245. M u s i l a.a.O. III, S. 429. ") M i c h e l a.a.O. S. 278. Vgl. Koh 12&.

Kapitel II.

75

beibringen könnten 1 ). D a l m a n erzählt, daß im heutigen Palästina häufig die Leiche draußen gebettet wird und daß sich dann die erste Abteilung der Totenklage nicht im Hause, sondern vor demselben, also auf der Straße, vollziehta). Auch W e t z s t e i n berichtet, daß im Ostjordanland zuweilen die Leiche auf dem freien Platz vor dem Hause aufgebahrt wird 3 ). Die manchmal in arabischen Leichenliedern vorkommende Anrede an das Haus oder Zelt des Toten 4 ) ist wohl aus dieser Art der Leichenklage zu begreifen, die sich vor dem Hause oder Zelte abspielt. Auch die altrömische Totenklage wurde vor dem Hause des Verstorbenen gehalten 6 ). Dieser Typus der Leichenklage ist bewegter vorzustellen als der zuerst geschilderte; dies erklärt sich schon aus dem größeren Spielraum, den der freiere Platz, im Gegensatz zu der Enge des Hauses, gewährt. An der Stelle Koh 126 heißt es, daß die Klagenden auf der Gasse „kreisen". Dabei hat man wohl an ein rhythmisches Umwandeln der Bahre zu denken. Im Hauran steht die Bahre bei der Totenklage unter einem besonderen Zelt; die Frauen kommen in langem Zuge aus dem Trauerhause, nähern sich langsam dem Zelte, umschreiten es und bilden einen Kreis darum 6 ). Diese Bewegungen nähern sich schon den Trauertänzen, von denen W e t z s t e i n ' ) bei den Nomadenstämmen Syriens, Musil 8 ) aus dem peträischen Arabien, Dalman 9 ) und L i t t m a n n 1 0 ) aus Palästina berichten. Eine besonders anschauliche Schilderung dieser Klagetänze besitzen wir aus dem judäischen Dörfchen el-Qubebe: hier hören wir, daß die klagenden Frauen sich in einen Kreis stellen und daß jede die Hände auf die ') Eine dem Wortlaut nach naheliegende Parallele wäre die oben S. 69 f. erwähnte Sitte der Sklavinnen in Zanzibar, in den Straßen umherzugehen und Totenklagen zu singen. Aber dieser Beleg ist zu vereinzelt, als daß wir von hier aus auf eine gebräuchliche Situation der Totenklage, wonach sie beim Wandern durch die Straßen, fern von der Leiche, gesungen worden wäre, schließen 2 3 dürften. ) A. a. 0. S. 316. ) A. a. 0. S. 295. 4 ) Z.B. L i t t m a n n a.a.O. S. 130, 30; M u s i l a.a.O. III, S. 445. 6 ) R i b b e c k : Geschichte der römischen Dichtung I (1887), S. 8. •) W e t z s t e i n a.a.O. S. 295 f. Mit diesem Wanken der Klagefrauen um das Zelt will W. den syrischen Ausdruck für Leichenlied (ma'id) zusammenbringen, der von einem Wort mit der Bedeutung „hüpfend gehen" abgeleitet 8 wird, S. 297 ') A. a. 0. S. 296. ) A. a. 0. HI, S. 441. l0 ») A. a. 0. S. 333. ) A. a. 0. S. 131.

Kapitel II.

76

Schultern ihrer Nachbarin legt und sich bei der Klage ganz um sich herumdreht 1 ). Diese Klagetänze kommen auch bei anderen Völkern vor und erreichen bei den Korsen den höchsten Grad der Leidenschaftlichkeit2). Überall hören wir, daß sie in rhythmischen Bewegungen bestehen, die beim Umkreisen der aufgebahrten Leiche während der Totenklage ausgeführt werden. Man wird also wohl den hebräischen Ausdruck an der angeführten Stelle auch in diesem Sinne verstehen dürfen 3 ). Aber auch bei dieser Sitte darf man ebensowenig wie etwa bei dem die Leichenklage begleitenden Flötenspiel in erster Reihe an ästhetische Motive denken. Denn ein Umkreisen des Toten kommt vielfach auch ohne jene tanzartigen Bewegungen vor4), bei denen man von modernem Empfinden aus geneigt wäre, eine beabsichtigte ästhetische Wirkung anzunehmen. Wir haben es hier offenbar mit der alten Vorstellung des geweihten Ringes zu tun, der vor bösen Dämonen schützen oder den Totengeist selbst unschädlich machen soll6). Eine L e i c h e n k l a g e auf dem W e g e zum G r a b e u n d am G r a b e selbst wird uns im AT bei der Bestattung Abners geschildert6), und es liegt kein Grund vor, hier eine Ausnahme vorauszusetzen. Die Klagenden gehen auf dem Wege zum Grabe vor der Bahre, David schreitet hinter ihr her, er tritt erst am Grabe als Leichensänger auf, da die Aufmerksamkeit der J

) S p o e r - H a d d a d a . a . O S. 244f. ) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 30f. 3 ) HDD Koh 12o; derselbe Ausdruck wird Ps26e vom Umkreisen des Altars gebraucht. 4 ) In Hamruden gingen die Verwandten dreimal um den Toten, wenn er im Hause auf der Bank lag, und berührten jedesmal eine seiner Zehen, damit er nicht wiederkomme. Der Scheiterhaufen oder Grabhügel altgermanischer Helden und Könige wurde umritten. Bei den Indern geht man auf dem Wege zur Verbrennungsstätte bei wiederholtem Aufenthalt jedesmal dreimal um den Toten herum, S a r t o r i a. a. 0 I, S. 151 11 ; vgl. auch das Umwandeln der Gebeine durch die Klageweiber bei der Totenfeier der vedischen Inder, oben S. 71f. Bei den Rumänen in Südungarn wird das Grab 6 Wochen hindurch dreimal täglich umwandelt. In Norwegen wird vor dem Kirchhof das Pferd vom Leichenwagen abgespannt und dreimal um ihn herumgeführt, S a r t o r i a. a. 0. I, S.151 1 1 . e ) Vgl. den Hochzeitsbrauch des um das Brautpaar geschlossenen Kreises, ebenda I, S. 8 9 ' ) 2 Sam 3 a i ff. a

Kapitel II.

77

Trauerversammlung dem Leichenliede dort mehr als auf dem Wege zugewandt werden kann. Er singt sein Leichenlied in unmittelbarer Nähe des Grabes sofort nach der Bestattung *), benutzt also den ersten Ruhepunkt, der in der Zeremonie eintritt, um zu Worte zu kommen. Auch 1. Reg 133o wird die Totenklage erst nach der Grablegung erzählt; man kann daher annehmen, daß sie hier, wie auch sonst häufig, am Grabe gehalten worden ist. Die Leichenklage auf dem Wege zum Grabe kommt z. B. noch im heutigen Palästina 2 ), im alten und neuen Ägypten '), bei den syrischen Jakobiten in Damaskus 4 ) vor. Nur am Grabe findet sie u. a. bei den Nomadenstämmen Syriens 6 ) und bei den Batak auf Sumatra statt"). Die Klage zu Hause und am Grabe ist sicherlich die wichtigste; auf dem Wege zum Grabe klagt man vielleicht nur weiter, weil nach alter Anschauung die Klage nicht unterbrochen werden darf, bis die Leiche bestattet ist7). Schließlich hören wir noch im AT, daß L e i c h e n k l a g e n auch f e r n von den T o t e n gehalten werden. David und sein Kreis veranstalten im Philisterlande eine Klage um Saul, Jonathan und die übrigen in der Gilboa-Schlacht Gefallenen, mit den üblichen Zeremonien des Kleiderzerreißens und Fastens 9 ). Auch diese Sitte ist nicht eigentümlich israelitisch; die Hellenen hielten ebenfalls Totenfeiern für in der Fremde Gestorbene — allerdings in der Heimat des Toten und am leeren Grabmal —, mit denen ursprünglich der Zweck verbunden war, die Seele des Toten in die Heimat zu rufen'), und noch im heutigen Griechenland wird bei einem Todesfall in der Ferne ein Bild des Verstorbenen hingelegt und beklagt 10 ). Ebenso vollzieht man in Albanien und Bulgarien für Tote, die in der Ferne gestorben sind, alle Trauerriten, auch die Totenklage 11 ); dasselbe erzählt man von den Tiapys in Westafrika ,2 ). 2 ') V. 32Î. ) D a l m a n a.a.O. S. 316. ) E r m a n a.a.O. S. 432ff.; v. P r o k e s c h : Erinnerungen aus Ägypten 4 und Kleinasien I (1829), S. 93. ) P e t e r m a n n a. a. 0 . 1 , S. 107f. 5 ) W e t z s t e i n a.a.O. S. 296. W a r n e c k a.a.O. S. 52. 7 8 3 ) Vgl. oben S. 42 f. ) 2. S a m l n f . ) R o h de a. a. 0. I, S. 66. ,0 ) P a u r i e l a. a. 0 . 1 , S. XL. ") v. H a h n a.a.O. I, S. 152; S t r a u ß a. a. 0. S. 98. 12 ) H e c q u a r d : Voyage sur la côte et dans l'intérieur de l'Afrique occidentale (1855), S. 233. 3

Kapitel II.

78

§2

Wenn wir uns die S i t u a t i o n der L e i c h e n k l a g e anschaulich vorstellen wollen, so müssen wir uns natürlich die Z e r e m o n i e n d a n e b e n vergegenwärtigen, die wir im Anfang kennen gelernt haben und die z. T. zu begleitenden Schmerzgeberden geworden sind. Dann sehen wir die Klageweiber barfuß, von härenen Gewändern umgürtet, mit flatterndem Haar ins Totengemach stürzen. Häufig werden sie uns auch in ganz anderer Haltung geschildert, wie sie in tiefem Schweigen eintreten, als sei der Todesfall ihnen noch unbekannt, und erst beim Anblick der Leiche einen entsetzlichen Schrei ausstoßen. Dann beginnt die schauerliche Klage: die Weiber hocken in dumpfem Schmerz auf dem Boden und bestreuen sich mit Staub, oder sie schwingen sich in leidenschaftlichem Reigen um die Bahre, raufen sich das Haar und zerschlagen sich Brust und Wangen. Dabei ertönen die wilden Klageschreie, bis sich die Wogen der Erregung glätten; dann tritt tiefe Stille ein, und in plötzlicher Inspiration erhebt sich Eine und beginnt den Leichengesang. Wieviel an diesen Schmerzäußerungen Pose ist, wieviel ein Rausch, den die Macht der Stunde erzeugt, das läßt sich nicht ausmachen. Es entspricht dem zeremoniellen Charakter der Leichenklage, daß sie bei allen Völkern g e n a u nach Z e i t und D a u e r g e r e g e l t ist. Gewöhnlich hängt ihre Ausdehnung von dem Ansehen des Toten ab; Jesus Sirach verlangt diese Anpassung überhaupt von der Totentrauer1). Den Ausschlag werden dabei oft auch die Besitzverhältnisse der Hinterbliebenen geben; denn der Vollzug einer feierlichen Leichenklage mit großem Klagepersonal und reichlichem Totenmahl mag kostspielig genug sein. Die Vermutung, daß überall die Klage ursprünglich möglichst ununterbrochen vom Eintritt des Todes bis zur Bestattung fortgedauert haben wird, haben wir schon ausgesprochen2). Es ist aber eine häufig vorkommende Erscheinung, daß sie noch über die Beerdigung hinaus, und zwar oft in regelmäßigen Abständen, wiederholt wird. Im heutigen Palästina z. B. kommen die Frauen nach der Bestattung 10—20 Tage lang täglich im Trauerhause zusammen und singen Leichenlieder3). Im A T finden sich Angaben nur über die Dauer der Trauerzeit im allgemeinen: l)

Jes Sir 38i7.

3)

Vgl. oben S. 42f. 77.

3)

D a l man a. a. 0. S. 316.

Kapitel II.

79

sie betrug wahrscheinlich bei den Israeliten normalerweise 7 Tage'); vermutlich ist hiermit die Klagezeit zusammengefallen. Heut noch dauert in Syrien eine vollständige Totenklage 7 Tage und zwar täglich etwa 27» Stunden 2 ). Bei manchen Völkern werden die Klagen an gewissen Tagen des Sterbemonats wiederholt; bei den Neugriechen erlaubt sich keine Frau aus der Verwandtschaft ein ganzes Jahr nach dem Todesfall ein anderes Lied zu singen als Myriologieen, d. h. Leichenlieder8). Oft werden die Leichenklagen dann zum letzten Mal am ersten Jahrestage des Todes wiederholt; zum Gedächtnis des gefallenen Königs Josia fanden sie vielleicht sogar alljährlich statt4). Auch die im römischen Ahnenkult vorgeschriebenen jährlichen Totenopfer für die verstorbenen Verwandten, die „parentalia", nach denen A u s o n i u s seine Neniensammlung benennt, waren mit einer Klagepflicht verbunden5). Die regelmäßigen Wiederholungen der Totenklage sind wohl ursprünglich nicht nur als Ehrung des Toten aufzufassen, sondern es mögen auch hier noch uralte Vorstellungen mitwirken. Man wird sie möglicherweise auf mehrmalige Beschwörungen des Totengeistes zurückführen dürfen; bei Ermordeten mußte die Leichenklage vielleicht so oft gesungen werden, bis die Rache vollzogen war. Die Totenklage wird bei den meisten Völkern g e s u n g e n , nur selten rezitiert. Dies wird uns bei modernen Völkern von ihren Beobachtern berichtet,. aber auch für antike Völker durch Abbildungen bewiesen. Auf den Darstellungen ägyptischer 0 ), etrurischer*), besonders aber griechischer8) Klagender bemerken wir die für den Gesang charakteristischen Bewegungen: die vorgestreckten Arme, die seinen Rhythmus gleichsam begleiten, den erhobenen Kopf mit zuweilen erkennbar weitgeöffnetem Munde. Daß sich mit der Leichenklage ein ganz bestimmtes m u s i k a l i s c h e s I n s t r u m e n t , nämlich die F l ö t e , verbindet, die uns bei den ver») Vgl. Gen 50io 1. Sam 31is 1. Chr 1 0 u Jes Sir 22n, dazu T o r g e a. a. 0 . S. 202f. Ebenso bei den Babyloniern (od. 6 Tage u. 7 Nächte), vgl. J e r e m i a s a. a. 0 . S. 11. 3

) Pauriel

2

) W e t z s t e i n a. a. 0 . S. 297; vgl. auch S. 296 u. oben S. 72. a . a. 0 . I, S. X L .

') 2 . C h r 35*6.

') Vgl. die Praefatio des A u s o n i u s und oben S. 11. 6 ) Z . B . S c h ä f e r a. a. 0 . II, T. 3 5 , 1 ; E r m a n a. a. 0 . S. 433. 9 ') Melusine 1, S. 215. ) B e n n d o r f a . a . O . T. I.

80

Kapitel II.

schiedensten Völkern begegnet, haben wir schon gesehen 1 ). Sie ist z. B. bei den Babyloniern2), den alten Griechen3), Etruskern 4 ) und Römern 5 ) bezeugt. Daß sie ebenso im späteren Judentum das Instrument der Totenklage war, erkennen wir an den Flötenbläsern, d i e J o s e p h u s erwähnt 6 ). Dies wird auch durch Mischnastellen bestätigt: selbst der ärmste Israelit mußte zum Begräbnis seines Weibes wenigstens zwei Flötenspieler und ein Klageweib mieten 7 ). Schließlich erinnern wir uns der Flötenbläser bei der Klage um die Tochter des Jairus 8 ). Aber auch schon im alten Israel muß die Leichenklage von Flötenspiel begleitet worden sein; dies geht aus Jer 483e hervor, wo es heißt, das Herz des Propheten klage gleich Flöten. Sogar heut ist die Flöte als Musikinstrument bei der Totenklage noch nicht ausgestorben; man findet sie noch in einigen Teilen der Bukowina 8 ). Es hat wahrscheinlich im alten Israel auch feststehende Melodieen für den Leichengesang gegeben. Wenn wir dabei Analogieen aus dem heutigen Palästina heranziehen dürfen, dann haben wir uns diese Melodieen nicht sehr mannigfaltig und kunstvoll vorzustellen. D a l m a n berichtet, daß im Gesänge der Bauern und Beduinen meist nur eine einzige Tonphrase vorhanden sei, die bei jeder Zeile wiederholt wird, und daß aller Ghorgesang, auch der von Männern und Frauen gemeinsam ausgeführte, nur einstimmig sei10). Die von Dalman 1 1 ) und von Musil 12 ) mitgeteilten Melodieen von Leichenliedern sind sehr eintönig und langgezogen; sie bleiben lange auf einem Ton und bewegen sich oft nur einen halben oder ganzen Ton auf- oder abwärts, aber gerade dadurch geben sie die Stimmung hoffnungsloser Trauer vortrefflich wieder. Auch was wir von der Sangesweise anderer Völker bei der Leichenklage hören, hat einen ähnlichen Charakter. Vielfach schreiten aber auch die Klagemelodieen ') Vgl. oben S. 43f. und zur Göttertotenklage Kap. IV, § 2. s 3 ) Vgl. J e r e m i a s a.a.O. S . U . ) L u c i a n a. a. 0 . 1 9 . 4 ) Siehe die Plötenspielerin auf der Abb. Melusine 1, S. 215; vgl. ob. S. 59. 5 ) Vgl. S c h a n z : Geschichte der römischen Literatur I 1 (1907), S. 25. «) De bello Jud. III 9s. ') Nach R. J e h u d a (Mischna Kethuboth IV 4) bei W ü n s c h e : Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien aus Talmud und Midrasch (1878), S. 125. 8 10 ) Mt 92g. •) S l a v i c i a.a. 0. S. 172. ) A. a. 0. S. XXVIIf. 12 ll ) A. a. 0. III, S. 446. ) A. a. 0. S. 368!.

81

Kapitel II.

langsam von tiefen Tönen zu höheren fort, bis sie gleichsam in einem Aufkreischen des Schmerzes enden, so bei den Neugriechen'), oder sie setzen mit sehr hohen Tönen ein und klingen allmählich in tieferen Tönen aus, wie bei den Papuas 2 ) und den Basken3). Ein wesentlicher Punkt in der ursprünglichen Aufführungsart der Leichenklage ist der schon berührte, daß sich das Lied unmittelbar an den Toten richtet 4 ). Ein anderes fast überall zu Tage tretendes Merkmal der Auff ü h r u n g s a r t ist ihr l i t u r g i s c h e r C h a r a k t e r , d. h. das Lied ist auf verschiedene Stimmen oder Chöre verteilt, die es im Wechselgesang vortragen. Eine feierliche ägyptische Leichenklage mit verteilten Rollen stellt uns E r m a n dar 5 ); wir hören hier, wie die Frauen, die Kollegen und Freunde des Toten das Wort ergreifen. Daß bei der liturgischen Aufführungsart getrennte Männer- und Frauenchöre entstehen können, haben wir schon gesehen"). Viel häufiger als die Trennung nach Geschlechtern ist aber die nach der Befähigung, und zwar bilden sich dann entweder zwei Chöre, ein zünftiger und ein Verwandtenchor, oder — und dies ist der gewöhnliche Fall — ein zünftiges Klageweib tritt als V o r s ä n g e r i n des Verwandtenchores auf. Auf diese Rolle der Klagefrau deutet auch ihr altrömischer Name „praefica" hin. W e t z s t e i n gibt bei seiner Schilderung der syrischen Totenklage beide Fälle als möglich an; der erste kommt natürlich nur in größeren, städtischen Verhältnissen vor'). Die Stimmen der Verwandten, die sicherlich ursprünglich in der Verwandtenklage einzeln zu Worte gekommen sind, wie noch heut bei den Neugriechen8), differenzieren sich also später nicht mehr, sondern werden durch das Übergewicht geschulter Elemente zur bloßen Massenwirkung im Chor heruntergedrückt. Wie die Klagefrau die gesamte Verwandtenklage aufgesogen hat, indem sie die auf die einzelnen Familienglieder zugeschnittenen Partieen einfach im Zusammenhang vorträgt, haben wir schon gesehen ®). Das Verhältnis der Vorsängerin zum Chor kann verschieden sein. Von einer vollständigen Mechanisierung *) F a u r i e l a. a. 0 . 1 , S. CXXXIV und dtsche Übersetzung von W. M ü l l e r : Neugriechische Volkslieder I (1825), Vorrede, S. LXIV. 2 3 ) S c h e l l o n g , Ztscbr.f. Ethnologie 21, S. 22. ) M i c h e l a. a. 0 . S. 278. 4 5 ) Vgl. oben S. 50. ) A. a. 0. S. 432ff. «) Oben S. 58f. 7 8 ) A.a.O. S. 296!. ) F a u r i e l a. a. 0. I, S. XXXIX. ») Oben S. 62. Beihefte z ZAW 36

6

82

Kapitel II.

dieses Verhältnisses berichten uns L i t t m a n n und Dal m a n bei ihrer Beschreibung der neuarabischen Totenklage in Palästina: hier singt der Chorführer oder die Chorführerin jeden Vers vorT der dann 10 Mal oder noch öfter vom Chor w i e d e r h o l t wird 1 ). Der Wechsel der Stimmen ist also hier weder musikalisch noch stilistisch oder inhaltlich motiviert. Übrigens wird aus solcher Vortragsart, die recht volkstümlich zu sein scheint, die Tatsache verständlich, daß in der Volkspoesie, so auch in der hebräischen, der Gedanke oft die Zeile nicht überschreitet, daß der Vers also nicht nur die metrische, sondern auch die gedankliche Einheit bildet. In Albanien finden wir eine ähnliche Aufführungsart: dort erweitert sich die Einheit auf zwei Verse, die eine Solostimme vorträgt und die dann der ganze Chor wiederholt'). Eine verwandte, aber etwas abweichende Aufführungsart teilt Musil aus dem peträischen Arabien mit: dort trägt die Vorsängerin das ganze Lied vor; der Chor singt nur die zweite Hälfte des letzten Verses und wiederholt dann das ganze Liedchen einigemale"); wenn zwei Chöre vorhanden sind, dann singt der eine immer einen Vers vor, den der andere wiederholt4). Daß eine solche Aufführungsart auch bei anderen Völkern vorkommt und sogar als bezeichnend für die Totenklage empfunden wird,, beweist der kalabrische Ausdruck für Leichenlied „ripetu", d. h. Wiederholung 5 ). Noch viel charakteristischer für die liturgische Aufführungsart und auch viel häufiger als die eben dargestellten bloßen Wiederholungen ist die Verteilung verschiedener Texte auf verschiedene Personen oder Chöre. Dieser Wechsel von Rede und Gegenrede wird bei gesanglichen Aufführungen herkömmlich mit dem Ausdruck „ r e s p o n d i e r e n " bezeichnet. In der syrischen Leichenklage heißt deshalb der Chor sämtlicher verwandter und befreundeter Frauen, welcher der Vorsängerin gegenübersteht, reddädät, d. h. die „Respondierenden""). In der Klage um einen Scheich in der Sahara wechseln zwei Chöre von Klageweibern miteinander ab; hier respondieren sie sich im eigentlichen Sinne des Wortes: ') a ) 4 ) e )

L i t t m a n n a.a.O. S. 131, D a l m a n a. a. 0 S. 316. 3 y. Hahn a. a. O. I, S. 151 ) A a. 0. III, S. 429 6 Ebenda III, S. 441. ) T r e d e a. a. O IV, S. 415. W e t z s t e i n a. a. 0 S. 297

83

Kapitel II.

1. Chor. Wo ist er? Sein Pferd ist gekommen, er ist nicht gekommen, Seine Flinte ist gekommen, er ist nicht gekommen Wo ist er? 2. Chor. Es heißt, er sei gestorben, mitten ins Herz getroffen

').

Die verbreitetste Form des Respondierens besteht darin, daß der C h o r am S c h l u ß e i n e s A b s c h n i t t e s der von der Vorsängerin gesungenen Klage mit einem W e h r u f einfällt. Dieser Abschnitt kann der Vers oder auch eine der einzelnen Nenien sein, aus denen sich die gesamte Totenklage zusammensetzt. Der Wehruf ist offenbar eine Fortentwicklung des Wehgeschreis, das ursprünglich den einzigen Inhalt der Totenklage ausmachte 2 ). Wir dürfen also den Wehruf als ältesten Bestandteil der Leichenklage ansehen 3 ); gilt doch der Ruf, die naive, unwillkürliche Reaktion des Gefühls auf Eindrücke, überhaupt als ein Urelement aller Volkspoesie 4 ). Daß der Wehruf in der liturgischen Aufführungsart dem Chor vorbehalten ist, läßt sich psychologisch aus dem Bestreben erklären, allen Frauen, die einzeln nicht mehr in der Totenklage zu Worte kommen, Gelegenheit zur Beteiligung zu geben. So wird das Schluchzen, in dem jedesmal die Klagen zu ersterben scheinen, durch Worte ersetzt, dadurch gleichsam organisiert und zu ästhetischer Wirkung umgeformt. Im Folgenden soll eine Reihe von Beispielen für diese Aufführungsart gebracht werden. Im alten Griechenland hieß der Wehruf gewöhnlich ai ott; dort ist die Verteilung des Textes auf Vorsänger und 2 C e r t e u x - C a r n o y a. a. 0 . 1 , S. 268. ) Vgl. oben S. 40ff. ) Diese elementare Bedeutung des Wehrufs für die Totenklage wird z. B. dadurch beleuchtet, daß auf der schon öfter erwähnten Darstellung einer hellenischen Leichenklage zweimal ein Wehruf — oipiot und ocfto — beigeschrieben ist, vgl. B e n n d o r f a, a. 0 . T. I. — Es ist auch bezeichnend, daß die alten Riten, Haarausraufen, Selbstverletzungen und Schlagen, gewöhnlich vom Chor beim Ausstoßen des Wehrufs vollzogen werden, daß also diese primitiven Bräuche gerade an dem ältesten Bestandteil der Totenklage haften. 4 ) Eine stilgeschichtliche Parallele zum Wehraf in der Totenklage bildet im hebräischen gottesdienstlichen Gesang der Jubelruf der Gemeinde „Halleluja", aus dem sich später der Hymnus entwickelt, vgl. G u n k e l : Halleluja, RGG- II (1910). 3

6*

84

Kapitel II.

Chor, welche die Totenklage zeigt, von der Tragödie übernommen worden und spielt eine besondere Rolle in den ältesten Tragödien'). Im alten Ägypten ruft der Chor zur Klage der Gattin: „Wehe das Unglück")!" Im heutigen Syrien respondiert er mit dem Wehruf well, d. h. wehe mir! nach jeder Nenie der Vorsängerin, die meistens aus 2, seltener aus 3—4 Zeilen besteht 3 ). In Palästina antwortet er zuweilen mit dem Ruf: höö! oder öö 4 )! Bei den Juden in Marokko werden die Abschnitte der Totenklage von verschiedenen Klageweibern vorgetragen; zwischen diesen Abschnitten erhebt der Chor laute Jammerrufe5). Bei den Chews'uren im Kaukasus fällt der Chor der leidtragenden Frauen in den Gesang der Chorführerin mit dem Wehruf wai — wai — wai ein 6 ). In Sardinien singt der Chor nach jeder Strophe der Vorsängerin ahi, ahi'), in Korsika deh! deh! deh s )! Bei den Basken ertönt von Zeit zu Zeit der Wehruf der Frauen ayene, d. h. ach*)! In Irland begegnen wir einer besonders kunstvollen Aufführungsart; dort singt am Ende jeder Strophe der Vorsängerin der erste Halbchor: ulla — lulla — lulla — lulla lü lü uch o ong, der zweite Halbchor: o ong ulla — lulla lu ucht o ong 10 ). Bei den Tscherkessen erklingt in der Totenklage der Klageweiber nach jeder Strophe der gedehnte Ruf aiarira! d.h. ach 11 )! Die angeführten Beispiele, die noch bedeutend vermehrt werden könnten, zeigen, wie diese Aufführungsart mit dem Wesen der Totenklage verwachsen ist. Wir haben Grund, anzunehmen, daß sie auch im alten Israel zu Hause war. Das „Respondieren" war dem israelitischen Volksgesange geläufig; eine solche Aufführungsart haben wir uns wohl z. B. bei dem Siegesliede der Frauen nach der Philisterschlacht vorzustellen 12 ). Wir besitzen auch im AT versprengte Wehrufe, die wir uns bei *) N i l s s o n : Totenklage und Tragödie, Archiv für Religionswissenschaft 9 a 8 (1906), S. 286. ) E r m a n a. a. 0. S. 434. ) W e t z s t e i n a. a. 0. S. 297. 4 5 ) D a l m a n a.a.O. S. XXVIII. ) H o r o w i t z : Marokko (1887), S. 104. 6 ) R a d d e a.a.O. S. 93. ') B o u l l i e r : Le Dialecte et les chants populaires de la Sardaigne (1864), S. 235. ') G r e g o r o v i u s a.a.O. II, S. 32. ") M i c h el a. a. 0. S. 278. 10 ) B e a u f o r d bei M i c h e l a.a.O. S. 281 ") B o d e n s t e d t : Tausend und Bin Tag im Orient III (1865), S. 172f. 12 ) 1. Sam 18?; das Verb H2J? hat, wie es scheint, mitunter diesen Sinn, vgl. G e s e n i u s - B u h l : Hebräisches Handwörterbuch 16 zu HJ^ IV.

85

Kapitel II.

der Leichenklage vom Chor gesungen denken dürfen, z. B. den Ruf ho —• ho 1 ) Am 5ie, der zwar hier bei einem öffentlichen Unglück ausgestoßen werden soll, aber sicherlich aus der Totenklage stammt, denn die „Klagekundigen" werden ja zur Wehklage herbeigerufen. Wie wir gesehen haben, hat er sich bis heut in Palästina erhalten2). Vor allem haben wir aber hier an die Wehrufe zu denken, die schon z. T. in anderem Zusammenhange 3) herangezogen sind und die wir dort als für die Leichenklage typisch bezeichnet haben. In der Stelle Jer 22, 8 und in den Parallelstellen4) haben wir eine verwandte Form der Interjektion: hoj6). Die Stelle Jer 22,8") heißt vollständig: Deshalb spricht Jahwe so über7) Jojakim, den Sohn Josias, den König von Juda: Weh über diesen Mann")! (3) Nicht wird man ihn beklagen: „weh, mein Bruder!" (5) und „weh, Schwester!" Nicht ivird man ihn beweinen*): „iveh, Herr!" und „weh, seine Majestät!" (5) Die von einigen Übersetzern nach LXX vertretene Auffassung, der auch hier gefolgt ist, daß der Ausspruch mit dem Wehruf über Jojakim begonnen habe, hat etwas sehr Ansprechendes; die geistreiche Paradoxie, daß Uber Jojakim „Wehe" zu rufen ist, weil an seiner Bahre einst kein „Wehe" ertönen wird, wäre in prophetischem Munde gut vorstellbar. Die Parallele zu dem Rufe „weh, mein Bruder10)!" ist bereits behandelt worden 11 ). Aber auch zu dem Rufe „weh, Herr!" besitzen wir zwei atl. Parallelstellen l

2 3 ) in — in. ) Vgl. oben S. 84. ) Vgl. oben S. 66 f. 6 ) 1. Reg 13so Jer 34s. ) in. e ) Die genauen Literaturangaben zum Buche Jeremia finden sich Kap. V, § 1. — In der Übersetzung der Texte soll durch die eingeklammerte Ziffer hinter der Zeile die Zahl der Versfuße im Urtext bezeichnet werden; (3) bedeutet den Dreier; (4) den Vierer; (5) den Fünfer; (3 + 3) den Doppeldreier; (6) den Sechser ( = 2 + 2 + 2): (7) den Siebener ( = 3 + 4 od. 4 + 3); (4 + 4) den Achter oder Doppelvierer, vgl. S i e v e r s: Metrische Studien I, Studien zur hebräischen Metrik, Abh. d. Kön. Sachs. Ges. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 21 (1901), 1. ') Nach LXX ty. 8 ) Füge nach LXX A n-TD B ' W ^ J f i n ein ( E r b t , C o r n i l l , R o t h s t e i n ) . 4

9

) Nach LXX 133^ t ^ i (Duhm, E r b t , Cornill).

") Vgl. oben S. 6i3.

10

) 1. R e g l 3 3 0 .

86

Kapitel II.

§ 2

in der Weissagung des Schicksals Zedekias1) und in der Klage um den gestorbenen Knaben des Königs Jerobeam s ); eine außerisraelitische Parallele begegnet uns in der Totenklage der Perserinnen im Kaukasus: „ 0 weh, Hüssein, Herrscher Hussein a )!" Solche Wehrufe wie diese und der verwandte Ruf „weh, seine Majestät!" kommen natürlich nur bei der Leichenfeier eines Königs in Betracht, während einer der beiden ersten: „weh, mein Bruder!" oder „weh, Schwester!" herkömmlich an jeder Bahre ertönte. Der Prophet mag sie mit besonderer Absicht bei seiner schrecklichen Weissagung den anderen beiden Wehrufen vorangestellt haben: nicht einmal die menschlichsten, natürlichsten Klagelaute werden dem Könige gelten, wieviel weniger die Rufe, die sonst der Hofstaat oder die große Volksmenge dem toten Herrscher nachsandte. Die Wehrufe, die wir im AT finden, fügen sich also dem Bilde, das wir im allgemeinen von der Aufführungsart der Totenklage gewonnen haben, ganz natürlich ein. Schwierigkeiten bereitet allein der unter den WTehrufen über einen Mann stehende Ruf „weh, Schwester!", an dem sich viele Übersetzer und Erklärer, von LXX 4 ) an bis auf unsere Zeit, gestoßen haben. Und doch hat man den Eindruck, daß dieser unbequeme Text den Vorzug der Ursprünglichkeit besitzt 8 ). „Weh-Bruder-und-wehSchwester-klagen" klingt im Hebräischen wie eine feststehende Wendung, die besagen soll: nach jener bekannten, jedem geläufigen Manier klagen. Logische Widersprüche empfinden ja auch wir in unzähligen, dem Sprachschatz einverleibten und gedankenlos gebrauchten Wendungen nicht mehr. Auch der Ruf „weh, Herr" an der Bahre eines Knaben 6 ) entspricht nicht ganz den strengsten logischen Forderungen und ist uns nur wieder ein Beweis dafür, wie sehr man an diese feststehenden Wehrufe gewöhnt war. Die mit verschiedenen Verwandtschaftsnamen verbundenen Wehrufe finden sich auch anderwärts, z. B. klagen ») Jer34». 2) l . R e g l 2 2 4 m in LXX (Swete). ') E i c h w a l d a. a. 0 . 1 , S.374. ) n r a l i m fehlt in LXX, ebenso Hin "'im in der folgenden Zeile. ») Beibehalten wird nT!K u. a. von D u h m (TlTIN), C o r n i l l , K ö h l e r : Archäologisches, ZAW 34 (1914), S. 149, gestrichen von E r b t , S. 274, der überhaupt bezweifelt, daß es einen feststehenden Klageruf gegeben habe, und von R o t h s t e i n (mit dem ganzen Satz a ß), während G i e s e b r e c h t statt dessen Vfin« ,meine Bruderschaft" liest ( E h r l i c h , Y o l z : i n f l N ) , vgl. oben S. 66*. 1 "'"'*) 1. Reg lästm in LXX, vgl. oben. " 4

Kapitel H.

87

die Frauen der Chauhans in den „Zentralprovinzen" Indiens um ein gestorbenes Familienglied: „ 0 meine Mutter! 0 meine Schwester! 0 mein Vater 1 )!" § 3.

Die Totenklage im Dienst der öffentlichen Meinung.

Die Leichenklage wird durch ihren obligatorischen, zeremoniellen Charakter und dadurch, daß ihre Vollziehung vielfach einer besonderen Zunft obliegt, zu einer durchaus offiziellen Veranstaltung. Es ist daher natürlich, daß man sie auch als O r g a n benutzt, um entweder d e r ö f f e n t l i c h e n M e i n u n g Ausdruck zu geben oder sie zu beeinflussen. Der nächstliegende öffentliche Zweck der Totenklage ist die E h r u n g des V e r s t o r b e n e n durch einen möglichst, großen Kreis. Auch die schon erwähnte Stelle bei Jes Sir a ) verlangt eine angemessene Feier als das gute Recht ®) des Toten; wer es hieran fehlen läßt, setzt sich der Verleumdung aus. Im AT werden an verschiedenen Stellen Totenklagen im großen Stil besonders erwähnt, z. B. die Leichenfeier um Jakob 4 ), ferner die Leichenklagen um Samuel 6 ), um Abia, den Sohn Jerobeams 6 ), um die Makkabäer 7 ), an denen ,,ganz Israel" teilnahm. Wenn uns berichtet wird, daß die Leichenlieder auf den gefallenen König Josia zu einer „Satzung" für Israel gemacht worden sind 8 ), so haben wir, wie schon erwähnt"), dabei vielleicht gar an ein alljährliches Totenklagefest zu denken. Solche Feste wurden auch zum Andenken griechischer Heroen gefeiert, die im heiligen Kampf fürs Vaterland gestorben waren. Besonders feierlich war das Totenfest, das den in den Perserkriegen gefallenen Helden jährlich in Plataiai begangen wurde 10 ). Noch heut verbindet man im Hauran mit der Totenklage um Gefallene diesen Zweck der öffentlichen Anerkennung. W e t z s t e i n schreibt davon: „Der meist in der Vollkraft des Lebens Gefallene starb den schönen Tod für andere, oft für seinen persönlichen Todfeind. Das erheischt eine öffentliche Anerkennung, zu welcher die Umgegend zunächst verpflichtet ist 11 )." a ») F r a z e r : Folklore II, S. 87. ) 38ief. (vgl. oben S. 9). ») BDttfO. 5 ) Gen 50, 0 f. ) 1. Sam 25i 28 3 . «) 1, Reg 14I8. e 1. Makk 2,o 9 2 0 12 62 13M. ) 2. Chr 35«». ») Oben S. 79. 10 ) N i l s s o n : Griechische Feste von religiöser Bedeutung (1906), S. 455. ") A. a. 0 . S. 299. 4

88

Kapitel II.

Aber damit sind die öffentlichen Zwecke der Totenklage nicht erschöpft. Wenn es sich um einen Mord handelt, dann erhebt sich oft an der Bahre des Erschlagenen die Stimme der öffentlichen Gerechtigkeit in der Form der Leichenklage. Hiei wird die Klage zur A n k l a g e 1 ) , und oft ertönt von den Lippen der Leichensängerin zum ersten Mal der Name des Mörders. In Bearn ging einst das Gerücht, daß eine Ehefrau von ihrem Gatten getötet worden sei. Niemand wagte es aber, diesen Verdacht laut auszusprechen. Da kommt die berühmteste Leichensängerin des Ortes, verkündet in ihrem Leichenliede den Mord und verlangt öffentliche Gerechtigkeit 2 ). Auch in Sardinien zogen früher klagende Frauen vor das Haus des mutmaßlichen Mörders und ließen dort Flüche und Klagegeheul erschallen, wie in einer Turiner Handschrift des 18. Jh.'s berichtet wird s ). Als W e r k z e u g d e r B l u t r a c h e wird, wie schon erwähnt, besonders in Korsika das Leichenlied benutzt 4 ); häufig unterstützt dort die Sängerin in sehr eindrucksvoller Weise die Wirkung ihres Liedes durch Vorzeigen des blutigen Hemds. Oft erreicht hier die erschütternde Leichenklage den praktischen Zweck, das Geständnis des Mörders hervorzurufen; er fühlt sich bei diesen Klängen von solcher Gewissensangst erfaßt, daß er sich selber verrät. Ein Mörder hielt einst, verhüllt in den Kapuzenmantel der Totenbrüder, die Totenkerze an der Bahre des von ihm Gemordeten. Als das Rachelied der Leichensängerin ertönte, begann er so zu zittern, daß ihm die Kerze entfiel. Ja, bei Kriminalprozessen gelten die Zeugenaussagen, daß jemand bei der Totenklage gezittert habe, als Schuldbeweise 6 ). Auch im heutigen Palästina und Arabien wird die Totenklage häufig den Zwecken der Anklage und Rache dienstbar gemacht. Die Mutter eines Ermordeten singt: Saht ihr nicht Hamüd, o ihr Reiter ? o Feuer meines Herzens, es schlachtete ihn ein Mutwüli9). Das Leichenlied stellt sich in sehr verschiedenen Abschattierungen der Rache zur Verfügung. Bald sucht es nach dem Gegenstand ') Ursprünglich wurden, wie wir gesehen haben, die Geister der Erschlagenen selber klagend und Rache heischend vorgestellt, vgl. z. B. A i s c h y l o s , Choephoroi 2 324H. und oben S. 54. ) R a t h e r y : Revue des deux Mondes 38, S. 337f. 3 4 ) B o c k e l a.a.O. S.109 4 . ) Vgl. oben S. 63f. 5 6 ) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 31. ) D a l m a n a. a. 0. S. 330.

Kapitel II.

89

der Rache, dem Mörder, wie in folgenden Worten eines neuarabischen Leichenliedes: Heut haben sie cAli getötet! Wen sollen wir jagen, uns auf ihn zu stürzen und ihm die Hand abzuschlagen *) ?

Bald enthält es die Anfeuerung zur Rache: Tötet den Mörder des N., reißet sein Zelt Hier ihm nieder Und versteckt er sich in ein Schlangenloch, so lasset eintreten den Bruder (des Ermordeten) hinter ihm Und: versteckt er sich in den Leib einer Schwangeren, 2 so zerschneidet die Schwangere über ihm ).

Manchmal spricht das Leichenlied geradezu die Androhung der Rache an den Mörder aus: Sagt dem Mörder, er soll schwärzen das Werkzeug 3), o wäre doch sein Hals zur Schlachtung ausgestreckt! Sagt dem Mörder des Schönen, daß er wegziehe und verändere seinen Wohnsitz, ehe ein Trupp den anderen trifft und Ahmad für ihn Rache nimmt *).

Wir haben im AT eine Parallele, die sich in den Kreis dieser öffentlichen Zwecke des Leichenliedes einfügt: nämlich die Totenklage Davids umAbner 6 ). Nicht nur dadurch, daß David seinem ganzen Hofe die Trauer befiehlt und daß er sich selbst an der Totenfeier beteiligt6), nimmt er eine bestimmte Stellung zur Ermordung Altners ein. Er tut dies in noch viel eindrucksvollerer und nachhaltigerer Weise, indem er persönlich ein Leichenlied um ihn anstimmt. Dazu ist er einmal durch seine poetische Begabung befähigt; doch handelt er hier durchaus nicht nur aus dichterischen Antrieben, sondern auch zu einem ganz deutlichen diplomatischen Zwecke. Das zeigt uns der Verfasser, indem er uns den günstigen Eindruck schildert, den das Leichenlied des Königs, wie überhaupt sein ganzes Verhalten auf das Volk machen: alle Welt ist nun überzeugt davon, daß der König an der Ermordung Abners nicht beteiligt war7). Der praktische Zweck seines Leichenliedes bestand also darin, die Volksmeinung in l

2 ) L i t t m a n n a. a. 0. S. 118. ) M u s i l a. a. 0 . III, S. 440. 4 6 ) Die Mordwaffe. ) D a l m a n a. a. 0. S. 336. ) 2. Sam 3asf. «) V. 31 f. ') V. 36 f. 3

90

Kapitel III.

diesem Sinne für sich zu gewinnen; er hat ihn erreicht, indem er in seiner Totenklage öffentlich seine Mißbilligung über die Ermordung Abners ausdrückte. Das Leichenlied enthält also dieselbe R e c h t f e r t i g u n g , die David schon vorher in kleinerem Kreise ausgesprochen hatte 1 ). Daß in diesem Leichenliede kein Wort von Rache vorkommt, ist darin begründet, daß David kein Verwandter Abners war, also zur Vollziehung der Blutrache weder Recht noch Pflicht hatte. Aber auch an der Ausübung der öffentlichen Gerechtigkeit haben ihn bestimmte Gründe verhindert. So begnügt er sich damit, die Rache Jahwe anheimzustellen2). Einen ähnlichen Fall teilt Dal man aus dem heutigen Palästina mit: ein Sultan, der Bruder eines Häuptlings, reinigte sich vom Verdacht, seinen Bruder ermordet zu haben, durch Übernahme der Blutrache und indem er einen Racheschwur dichtete3). Hier ist es also zwar keine Leichenklage, aber doch auch ein Lied, durch das eine Persönlichkeit sich öffentlich rechtfertigt. Wir werden bei dieser Bedeutung des Liedes als Werkzeug der Öffentlichkeit an die Zeiten der mittelalterlichen fahrenden Sänger erinnert, die ja auch mit ihren Liedern öffentliche Zwecke, wie Verbreitung von Nachrichten oder Anerkennung von Persönlichkeiten, verfolgten. So scheint also die Totenklage die Stelle gewesen zu sein, wo man in Ermanglung anderer öffentlicher Institutionen durch Anerkennung des Toten, Erhebung der Anklage, Androhung der Rache, Rechtfertigungserklärungen die Meinung des anwesenden großen, an dem Todesfall teilnehmenden Kreises im Liede aussprach oder sie in Anspruch zu nehmen suchte.

Kapitel III. Das Leichenlied als Gattung der Volkspoesie. § 1.

Das Versmaß des Leichenliedes.

Wir gehen nun zu dem Liede selbst über, das bei der Totenklage gesungen wurde, und betrachten dieses L e i c h e n l i e d als p o e t i s c h e G a t t u n g nach Form und Inhalt. Wo sich das Leichenlied zu einer fest umrissenen dichterischen Gattung ausgebildet hat, da verbindet sich häufig mit dieser Gattung ein bestimmtes ') 3»s.

2

) 3s». 9«.

3

) Dalman a.a.O. S. 145.

Kapitel III.

91

V e r s m a ß . So ist z. B. bei den griechisch redenden Bewohnern Süditaliens der Nenie ein eigenes Metrum vorbehalten 1 ). In der Moldau, in der rumänischen Bukowina und in der Dobrutscha haben die Leichenlieder ein gemeinsames Versmaß 2 ). Bei den Korsen ist das trochäische Maß vorherrschend"). Die altrömische Nenie war vielleicht in Anapästen abgefaßt; wenigstens wird bei dem parodistischen Leichenliede, das S e n e c a in der „Apocolocyntosis" beim Leichenbegängnis des Kaisers Claudius singen läßt, die Anwendung dieses Metrums ausdrücklich betont 4 ). Auch das hebräische zünftige Leichenlied (qinä, nehi5)) scheint ein bestimmtes Versmaß bevorzugt zu haben, das für die Geschichte der Erforschung dieser Gattung wichtig geworden ist. Budde hat nämlich das Vorhandensein der Gattung des Leichenliedes im AT gerade an diesem Metrum, dem „Fünfer", erkannt 6 ), und zwar ist dieses Versmaß weniger an der wirklichen Leichenklage, die uns, wie wir gesehen haben, im AT nur sehr dürftig überliefert ist, als vielmehr an ihrer übertragenen Anwendung in den sog. „Klageliedern Jeremiae" und bei den Propheten festgestellt worden. Danach wäre also ein gebräuchliches Versmaß der Klageweiber dieser ,,Fünfer" gewesen, ein Vers, der aus 2 unregelmäßigen Halbversen besteht: der erste Halbvers setzt sich aus 3, der zweite aus 2 Versfüßen zusammen. Mit diesem Versmaß war für den Vortrag des Leichenliedes ein bestimmter Tonfall gegeben, der sich gewiß mit dem ganzen Auftreten der Klageweiber und mit der Flötenbegleitung der Leichenklage zu ') ) Lit. des *) 5 ) s

Vgl. M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a . a . O . S. 382. Vgl. A l l a n : Das Klagelied im rumänischen Volksmunde, Magazin f. d. 3 Auslandes 49 (1880), S. 530. ) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 39. 5 Bei P e t r o n i u s , ed. B u e c h e l e r ( 1912), 12. Der Ausdruck PTO ist der häufiger gebrauchte, vgl. über seine EtymoT

logie oben S. 71 3 . i n j hängt vielleicht mit "»in zusammen, vgl. B u d d e , ZAW 2, S. 28 1 . Im Syrischen bedeutet das entsprechende Verbum „seufzen", vgl. G e s e n i u s - B u h l : Hebr. Handwörterbuch 16 zu Hill Mit dem'Wort TO steht wahrscheinlich vtjvla, der griechische Ausdruck für Leichenlied, in Zusammenhang. Der semitische Ausdruck mag mit der Adonisklage zu den Griechen gekommen sein, vgl. W e t z s t e i n a . a . O . S. 297 1 . Der Huf „neno, neno" hat sich noch im Volksmund der heutigen Rumänen erhalten; die Klageweiber schließen dort oft ihre Lieder damit, vgl. A l l a n a . a . O . S. 530. •) Vgl. die oben S. 2 1 angegebene Literatur.

92

Kapitel III.

einem äußerst charakteristischen, unauslöschlichen Eindruck verband. Die trostlose Stimmung des Leichenliedes mußte gerade durch diese unregelmäßigen, hinkenden Rhythmen vorzüglich zum Ausdruck kommen; klingt es doch, als ob die Sängerin den zweiten Teil des Verses vor Ergriffenheit nicht vollenden könnte 1 ). Der Fünfer ist als Versmaß des Leichenliedes auch heute noch nicht ganz in Palästina ausgestorben. L i t t m a n n teilt in seiner Sammlung allerdings nur eine Probe davon mit: in einem aus der Umgegend von Jerusalem stammenden bäuerlichen Leichenliede einer Schwester um ihren Bruder, also einem Typus der Klage, den wir als sehr altertümlich erkannt haben, kommen vier Verse vor, die in Fünfern abgefaßt sind®). Man kennt also augenscheinlich noch im heutigen Palästina dieses Versmaß, wendet es nur nicht mehr so häufig wie früher an. Aber auch für die altisraelitische Zeit sind wir nicht berechtigt, den Fünfer als einziges Versmaß der Qina anzunehmen. Wir werden im Folgenden sehen, daß auch andere Versmaße in hebräischen Leichenliedern vorkommen. Auf der anderen Seite zeigen Stellen wie Jes l,off. 40»ff. Jona 2 a ff. Ps 136 u.a., daß der Fünfer auch in anderen Gattungen als der Qina angewandt wurde 3 ). § 2. Skizze der Gattung nach Typen, Motiven und Stilformen. Auf Grund der allgemeinen Beobachtungen, die sich bei der Durchsicht des gesamten israelitischen und außerisraelitischen Materials ergeben haben, wollen wir nun die volkstümliche Gattung des Leichenliedes in einer kurzen S k i z z e nach ihren geläufigsten Typen, Motiven und Stilformen beschreiben. Auf dem Hintergrund dieser Skizze sollen nachher die wenigen hebräischen Leichenlieder, die uns überliefert sind, nach Form und Inhalt untersucht werden. Dabei werden Lieder anderer Völker zum Vergleich herangezogen werden, aber diese können selbstverständlich nicht als ganze neben die atl. Beispiele gesetzt, sondern müssen in kleinste gedankliche und formale Einheiten, also in Motive und Stilformen, zerlegt werden. Denn die Ähnlich B u d d e , ZAW 2, S. 49. ) L i t t m a n n a.a.O. S. 129, 14—17 u. S. 90!. 3 ) Vgl. S i e v e r s a.a.O. I, S. 116. 2

98

Kapitel III.

Verwandtschaft der Lieder untereinander liegt gewöhnlich in diesen kleinsten Einheiten, den Urelementen der poetischen Gattung, viel seltener in dem Charakter und der Haltung des g a n z e n Liedes. Die Abschleifung der einzelnen Steine gegeneinander und die Art ihrer Zusammensetzung, die Bevorzugung oder Auslassung gewisser Motive und Stilformen kommen mehr auf Rechnung der Volkseigenart oder der dichterischen Einzelpersönlichkeit. Nur in diesen Punkten liegt also meistens das Individuelle des Liedes, das sich niemals genau so wiederholt, weniger in den Elementen, die im Leichenlied wie in allen Gattungen der Volksdichtung allgemein menschlich sind. Nur ganz selten einmal vermag das Individuum ein völlig neues Motiv anzuschlagen oder ein altes Motiv in eine noch nie dagewesene Form zu kleiden. Wir verweilen zunächst bei dem U m f a n g des Leichenliedes. Das wirklich aufgeführte Leichenlied ist überall sehr kurz, wie es im Wesen des Volksliedes liegt. In Syrien, Palästina, im peträischen Arabien ist die einzelne Nenie gewöhnlich 2—4 Zeilen lang 1 ) und enthält oft nur ein einziges Motiv. Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, daß die aufgeführte Leichenklage meist aus vielen solcher Nenien besteht, die unendlich oft vom Chor wiederholt werden, wie wir es bei Betrachtung der Aufführungsart kennen gelernt haben. Die Zusammensetzung der Totenklage aus so vielen kleinen Einheiten ist mit darin begründet, daß ursprünglich verschiedene Personen, meistens die Verwandten des Toten, bei der Klage das Wort ergriffen haben und daß die dichterische Befähigung der zünftigen Leichensängerin, die später die Klage ganz und gar übernimmt, nicht zur Schaffung größerer künstlerischer Einheiten ausreicht. Wir haben bei der Betrachtung der Leichensängerzünfte erwähnt, daß ihr Vorrat an Leichenliedern auf gewisse T y p e n von T o d e s f ä l l e n zugeschnitten war 2 ); in diesen Rahmen sind dann außer dem Namen des Toten vielleicht noch ein paar persönliche Züge von ihm eingefügt worden. Wenn wir die verschiedenen Liedersammlungen durchblättern, dann wird uns diese Tatsache ganz deutlich. Da finden wir z. B. Totenklagen „ für Kinder bis zu zehn -1) Siehe die oben auf S. 8 angegebenen Sammlungen.

2

) Vgl. oben S. 73.

94

Kapitel III.

Jahren 1 )", „um einen Knaben 2 )", „über einen jungen Mann8)", „auf einen Verlobten 4 )", „auf eine junge Frau 6 )", „über einen Familienvater')", „auf den Tod in der Fremde 7 )", „auf einen Ermordeten*)". Freilich stehen in unseren Sammlungen unter diesen Liedern typischen Stils auch solche, die für hervorragende Persönlichkeiten und außergewöhnliche Todesfälle eigens verfaßt sind9). Obwohl auch in diesen Liedern der zünftige Charakter der Stoffe und Formen unverkennbar ist, bilden sie doch schon eine Übergangsstufe zu wirklich dichterischer Gestaltung der Gattung. Ähnlich haben wir uns die Verhältnisse im alten Israel vorzustellen, wenn auch das dürftige Material, das uns im AT an wirklichen Leichenliedern überliefert ist, nur auf einen einzigen, nämlich den h e r o i s c h e n T y p u s , zurückweist, der den Tod des Helden besingt 10 ). Begreiflicherweise ist gerade bei diesem Typus, der auch in der Leichenpoesie anderer Völker sehr hervortritt 11 ), der Antrieb zu individueller Ausgestaltung des Liedes verhältnismäßig stark, und wir finden unter den benannten Leichenliedern in unseren Sammlungen gerade viele Lieder, die den Namen eines bestimmten Helden tragen. An verschiedenen Stellen des AT hören wir noch von einem anderen Typus der Leichenklage, der wegen seines ergreifenden Charakters geradezu sprichwörtlich in Israel gewesen zu sein Z.B. v. Hahn a. a. 0. II, S. 134; etwa derselbe Typ R a l s t o n a. a. 0. S. 337; M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a.a.O. S. 383. 2 ) Z.B. W e i g a n d a. a. 0. II, S.205, vgl. oben S.56f; D a l m a n a.a.O. S. 336. 3 ) Z.B. D a l m a n a.a.O. S. 327. 332 f.; L i t t m a n n a. a. 0. S. 113 ff. 128ff.; C e r t e u x - C a r n o y a. a. 0. S. 266f.; Lübke a.a.O. S. 337. 4 ) Z.B. D a l m a n a.a.O. S. 327. 335. 6 ) Z.B. D a l m a n a.a.O. S. 319. 325; Musil a.a.O. III, S. 437f.; L i t t mann a. a. 0. S. Höf.; v. Hahn a. a. 0. II, S. 135; S t r a u ß a. a. 0. S. 487f. ») Z.B. D a l m a n a. a. 0. S. 324. 325f.; R a l s t o n a, a. 0. S. 338ff. ') Z. B. D a l m a n a. a. 0. S. 326f.; L i t t m a n n a. a. 0. S. 116; S t r a u ß a. a. 0. S. 496f. 8 ) Z. B. D a l m a n a. a. 0. S. 327f. 335f.; L i t t m a n n a. a. 0. S. 118f.; Musil a. a. 0. HI, S. 439 f. ») Z. B. Dalman a. a. 0. S. 339-343. 320f. (Nr. 8). 323. 338ff.; fast sämtliche bei G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 43ff. angeführten Leichenlieder; W e t z s t e i n a. a. 0. S. 299; v. Hahn a. a. 0. II, S. 136ff. 10 ) Vgl. besonders 2. Sam 3 33 f. Kap. V, § 1; 2. Sam lieft. Kap. V, § 2. u ) Siehe Beispiele bei der Behandlung der eben genannten atl. Leichenlieder.

Kapitel III.

95

scheint; das ist die K l a g e um d e n E i n z i g e n 1 ) oder Erstgeborenen 2 ). Leider ist uns ein solches Leichenlied um den Einzigen im AT nicht überliefert; doch wird an anderer Stelle wenigstens ein Motiv angeschlagen, das diesem Typus gewiß geläufig war, nämlich im 4. Esra. Esra legt der um ihren einzigen Sohn klagenden Mutter hier die Worte in den Mund (10ia): Ich habe meines Leibes Frucht verloren, die ich in Mühen gekreißt und mit Schmerzen geboren. Diese Wendung kann sehr wohl aus der wirklichen Leichenklage stammen. Die Erinnerung der trauernden Mutter an die Mutterschmerzen bei der Geburt kommt auch anderwärts vor: G r e g o r v o n N a z i a n z sagt in dem „Klagegesangum seine Seele": Oft auch beweinet die Mutter den Sohn, der in blühender Jugend hinsank: abermals fühlt sie um ihn die bittersten Wehen3). Auch in den Evangelien ist es, wie im AT, an zwei Stellen das einzige Kind, um das verzweifelte Klage laut wird: der Jüngling zu Nain 4 ) und Jairi Töchterlein 6 ). Derselbe Typus begegnet uns auch bei anderen Völkern, z. B. scheint es sich bei der Totenklage einer aromunischen Mutter um ihren Sohn auch um den Einzigen zu handeln. Dort heißt es: ... Erstarrt vor Furcht bücke ich mich, um dich zu küssen, und verweile auf deiner marmorkalten Stirn. Ich Unglückliche, mein Haar sträubt sich, allein im Hause, ewig bleibe ich stumm. Hattest du denn kein Mitleid mit mir, o Sohn, der du zum Jüngling herangeivachsen bist, schöne Nachtigall, Löwe bei der Arbeit, geweckten Verstandes, mit einem Lächeln auf den Lippen, lieb und klug, du verläßt mich Unglückliche, damit ich immer klage, nie mehr an Freude denke ... .9). ') Jer 6aa Am 810 Sach 12 io. Vgl. auch zu „ Jephtas Tochter" Jud 11 so—io, Kap. IV, § 3. Bei der Klage um den Einzigen an den angegebenen Stellen wird es sich vor allem um den Schmers der beraubten Bitern handeln. Die alten Vorstellungen vom fehlenden Pfleger des Totenkults, die wohl ursprünglich beim Tode des einzigen Sohnes wirksam waren (vgl. oben S. 28 f.), sind auf dieser 2 Stufe kaum mehr bewußt. ) Sach 12io. 3 ) B ä ß l e r : Auswahl altchristlicher Lieder vom 2.—15. Jh. (1858), S. 12. 6 Lk 712. ) Lk 8 « . «) W e i g a n d a. a. 0. II, S. 202.

96

Kapitel III.

§ 2

Eine bulgarische Mutter klagt mit folgenden Worten um ihre einzige Tochter: 0 mein Gott, mein lieber Gott du, unglückselig, Waise ward ich. Heute morgens in der Dämm'rung starb mir meine Bazdelina. Liebe Tochter, meine einz'ge, liebe Tochter, nicht verlaß mich, Lasse hier nicht deine Mutter . . .*).

Andere Typen des israelitischen Leichenliedes, die aus übertragenen Leichenliedern mittelbar erschlossen werden können und zu denen wir z. T. auch in der außerisraelitischen Leichenpoesie Parallelen finden, sind: die Klage um mehrere Kinder derselben Mutter2), die Klage um die noch nicht erblühte Jugend 3 ), besonders um die Jungfrau 4 ). Nun über die Motive, die in Leichenliedern vorkommen und die man in drei Gruppen ordnen kann: die beiden größeren Gruppen enthalten Motive des Preises und Motive der Klage, die dritte kleinere Gruppe enthält versöhnende Motive. Die animistischen Vorstellungen, auf denen die Lobese r h e b u n g e n im Leichenliede wahrscheinlich letzten Grundes beruhen, haben wir schon kennen gelernt 6 ). Diese Lobeserhebungen machen überall einen wichtigen Teil des Leichenliedes aus; manchmal bilden sie sogar seinen einzigen Inhalt, wie z. B. in einer Reihe der arabischen Leichenlieder auf Frauen bei Musil 6 ) und in der Totenklage, die Mariti im Jahre 1767 in Jafa beobachtete. Dort lieferte jede gute Eigenschaft des Verstorbenen ein kurzes Liedchen, das dann durch Wehrufe und Vollzug der Trauerbräuche seitens des Chores von dem nächsten Lobspruch getrennt wurde 1 ). W e t z s t e i n berichtet, daß ein arabischer Lexikograph sogar die Totenklage als eine Aufzählung der löblichen Eigenschaften des Toten definiert 8 ). Die Klageweiber in Sizilien hießen früher reputatrici und werden in ') ) 4 ) 5 ) 7 ) 3

2 S t r a u ß a. a. 0. S. 481. ) Vgl. zu Threni Kap. VI, § 3. Vgl. zu Jer 9 ao f. Kap. V, § 2. Vgl. zu J u d l l s o - i o Kap. IV, § 3; zu Am 5 2 Kap. VI, § 2. Oben S. 53f. «) A. a. 0. III, S. 437f. 8 Bei B u d d e , ZDPV 6, S. 188. 192. ) A. a. 0. S. 298 3 .

Kapitel III.

97

Kalabrien heut noch so genannt 1 ); der Name wird davon abgeleitet, daß sie hauptsächlich die Vorzüge des Toten zu preisen hatten 2 ). Diese Lobeserhebungen könnte man sich oft genau so gut im Preislied auf den Lebenden vorstellen3). Sie sind selbstverständlich im allgemeinen wenig individuell, wie es ja im Wesen der zünftigen Poesie liegt4), gewöhnlich enthalten sie das Ideal des jeweiligen Kulturkreises. So tritt uns in den alt- und neuarabischen Leichenliedern das Ideal des ritterlichen, gastlichen Beduinen entgegen, der zugleich ein Mörder und ein Hort der Frauen ist 6 ); dem Leichenliede, das A u s o n i u s auf seinen Vater anstimmt, liegt das ganz andersartige, etwas nüchterne Ideal des Staatsbürgers zugrunde, den hohes Alter, Weisheit und Bescheidenheit zieren In den Lobeserhebungen spielen die körperlichen Vorzüge des Verstorbenen eine große Rolle7): seine hohe Gestalt, sein stolzer Gang, seine zarte Haut und seine schönen Augen; aber auch seine prächtige Kleidung, die Zahl seiner Weiber und Kinder, sein Reichtum und Wohlleben 8), seine Herkunft ") und seine angesehene Stellung 10 ) werden gepriesen. Als echt preisende Motive muten uns auch die immer wiederkehrenden Wendungen an, die von den Waffen 11 ) des Helden handeln. Die Lobpreisungen erheben sich häufig bis zur Erklärung der Unersetzlichkeit und Unvergleichlichkeit ll! ) des Toten: man möge durch alle Gaue und alle Reiche, ja durch die ganze Welt gehen, man würde doch keinen finden, der es mit dem Toten an Tapferkeit und Herrlichkeit aufnähme. Es hat etwas Rührendes, daß man diesem Motiv der Unvergleichlichkeit so oft in Leichenliedern ') M a r t i n e n g o - C e s a r e s c o a.a.O. S. 385. ) de S a l l e n g r e : Novus thesaurus III, p. 760. 8 ) Diese Übereinstimmung findet sich z. B. in der mittelalterlichen provenzalischen und deutschen Dichtung. Für das Tempus der Gegenwart im Lohlied ist in der Totenklage nur das der Vergangenheit eingetreten. „Man konnte also, wenn der Gönner gestorben war, das frühere Loblied gleich als Klagelied benutzen, wenn man nur für das Präsens das Imperfektum einsetzte . . N i c k e l : Sirventes und Spruchdichtung, Diss. (1907), S. 50. 4 ) Vgl.-auch die „Tugendkataloge" in den Lobliedern und Totenklagen der mittelalterlichen Dichter, ebenda S. 49 f. 6 6 ) Vgl. zu 2. Samla«ff. ) A u s o n i u s , Parentalia I. 7 8 ) Vgl. zu Thr 4, Jes 53a 52ub. ) Vgl. zu Thr 4 5 Ez 27sff. 8 10 ) Vgl. zu Ez 192. io. ) Vgl. zu Jes 53sf. n la ) Vgl. zu 2. Samlaif. Ez 32 2 i. ) Vgl.' zu 2. S a m l i » Ez 27sa Jes 14io. 2

Beihefte z. ZAW 36

7

Kapitel III.

98

2

begegnet, daß ee also nach Ansicht der Hinterbliebenen so unendlich viele unvergleichlich herrliche Menschen gegeben hat; aber es ist nun einmal ein allgemein menschliches Vorrecht — oder Verhängnis —, daß immer das unwiederbringlich Verlorene dem Beraubten zugleich das Köstlichste auf der Welt ist. Die mannigfaltigsten Abstufungen in der Klangfarbe und Tonstärke finden sich in den M o t i v e n der Klage. Bald erkennt der Klagende resigniert die Unabänderlichkeit und Unabwendbarkeit des Todesgeschickes') an, bald verweilt er wehmütig bei der Vergänglichkeit des Verstorbenen wie alles Schönen und Edlen2), oder er jammert verzweifelt über die Unfaßlichkeit des Todesfalls3). Einmal geht ihm die Verlassenheit und Schutzlosigkeit der Hinterbliebenen 4 ) zu Herzen, ein andermal kommt er über die Katastrophe selbst nicht hinaus 6 ). Wie der Tote den Hinterbliebenen als ein Unvergleichlicher erscheint, so empfinden sie gerade den Todesfall, den sie erleben mußten, als einen besonders traurigen, und in vielen Leichenliedern wird ein solches tragisches Moment des Todesfalls • herausgearbeitet. Dabei kann es vorkommen, daß in zwei Leichenliedern genau das Entgegengesetzte als besonders erschütternd empfunden wird, etwa das Abscheiden mitten im Glück, ohne Betrug und Gewaltsamkeit oder andererseits der Tod durch Verrat und Mörderhand. Dieses Motiv der Todesart wird gewöhnlich im letzteren Falle besonders hervorgehoben, überhaupt wenn der Beklagte eines unnatürlichen Todes gestorben ist6). Es gibt Momente, die hier die erschütternde Wirkung noch verschärfen: etwa die Auffassung von der Ehrlosigkeit eines solchen Todes7) oder der Gedanke, daß der Tote, fern von den Seinen, im fremden Lande gefallen ist8). Dann steigert sich, wie wir schon gesehen haben, oft die Klage zur Anklage9), der Leichengesang zum Racheliede 10), in dem furchtVgl. ) Vgl. Vgl. Vgl. 8 ) Vgl. ebenso wie „Typus" des ,J ) Vgl. 10 ) Vgl. 3

a zu Jer 9 2 i A m ö s Ez 19 9. u ) Vgl. zu 2. Sam 1,». 4 zu 2. Sam 3 s »f. ) Vgl. zu Threni. zu Jer 3822 2. Sam 8auf. Arn 52. 7 zu Jer 3822 2. Sam3ssf. Thr liaf 2 n 2 21 4s. ) Vgl zu 2. Sam3 3 af. zu Jes 14is>. Dieses Motiv wächst sich, wie wir gesehen haben, das vom unnatürlichen Tode, gelegentlich zu einem besonderen Leichenliedes aus, vgl. oben S. 94. oben S. 88 und zu Jer 3822 Thr 221 oben S. 63 f. 88 f. und zu Thr 122.

Kapitel III.

99

bare Flüche über den Mörder, aber auch Uber die Unglücksstätte') ausgestoßen werden. Dabei werden aufreizende Motive angewandt, um zur Rache anzufeuern; besonders häufig wird zu diesem Zweck auf die Schadenfreude der Feinde 2 ) aufmerksam gemacht, die dem antiken, überhaupt dem naiven Menschen unerträglich ist. Wo mehr bei dem persönlichen Schmerz der Leidtragenden verweilt wird, da ist von den vielen Tränen 3 ) die Rede, die bis an ihr Lebensende fließen und endlich zur Erblindung führen werden. Gerade in den Motiven der Klage begegnen uns neben vielen grellen Tönen auch manchmal die zartesten, die von echtem Schmerz und wahrer Liebe zeugen. Die Motive des Lobpreises und der Klage werden sehr häufig in ein bestimmtes Schema eingestellt, in dem sie nach dem ästhetischen Gesetze des Kontrastes doppelt wirksam werden; das ist das S c h e m a „ E i n s t u n d J e t z t " . Da klagt das Leichenlied etwa darüber, daß der Jüngling, der einst blühend und schon einherschritt, nun starr und kalt auf der Bahre liegt, oder daß der Held, der einst der mächtigste und erste war, jetzt dahin gehen muß, wohin zuletzt alle Mächtigen wandern 4 ). Oder das frühere Los der Witwe, das durch den Gatten herrlich und vielbeneidet war, wird mit der Trostlosigkeit ihrer augenblicklichen Lage verglichen 5 ). Es gibt nun aber auch v e r s ö h n e n d e M o t i v e im Leichenliede, welche die Härten des Todesgeschicks in den Augen der Hinterbliebenen mildern. Das Motiv der Todesart, das ursprünglich der eigentlichen Klage angehört, kann in diesem Sinne umgebildet werden. So wird es z. B. als versöhnend empfunden, wenn der Held den ruhmvollen Tod auf dem Schlachtfeld findet und wenn ihm ein ehrenvolles Begräbnis zuteil wird. Die Vollziehung der Leichenklage gehört ja selbst mit in diese aussöhnenden Ehrenbezeugungen hinein. Dieses Motiv vom ehrlichen Tode und ehrlichen Begräbnis wird oft so ausgedrückt, daß der gemeinsame Tod mit anderen gleichwertigen Helden 6 ) oder die gemeinsame a ') Vgl. zu 2. Sam Im. ) Vgl. zu 2. Sam 1 2 0 Thr 1 6 .7.21 2i 5 ff. ) Vgl. oben S. 46If. und zu T h r i v e 2 u . i 9 . 4 ) Z. B. im Leichenlied um Prinz Albert in der Beileidsadresse der MaoriHäuptlinge an Königin Viktoria v. England, v. H o c h s t e t t e r : Neu-Seeland, 5 S. 532. ) Vgl. zu Thr 1. Vgl. zu 2. Samlss. 3

7*

100

Kapitel III.

Bestattung mit ihnen') betont wird. Freilich sind hier die Grenzen zwischen den verschiedenen Empfindungen fließend; zuweilen kann auch gerade eine solche Gemeinsamkeit besonders wehmütig empfunden werden. Aber nicht nur die Ehrungen im Augenblick des Todes kommen in den versöhnenden Motiven vor, sondern auch der Nachruhm des Toten, das ehrenvolle Andenken, das ihm sein Kreis bewahren wird, gehören in diesen Bereich hinein. Der gute Name, den der Tote hinterläßt 2 ), aber auch die Kinder, in denen er fortlebt 3 ), sollen die Hinterbliebenen mit ihrem Verlust aussöhnen. Wir beobachten an dieser Gruppe von Motiven eine gewisse Abschwächung der ursprünglichen kraftvollen Empfindungswelt des Leichenliedes; psychologisch sind sie als Lösungen der heftigen Gefühlsanspannung zu verstehen. Das Leichenlied hat sich eine feste Formensprache geschaffen, die bei den meisten Völkern übereinstimmende S t i l f o r m e n zeigt. Auf einige dieser Stilformen ist schon gelegentlich eingegangen worden. Wir haben gesehen, wie aus alten animistischen Vorstellungen die d i r e k t e A n r e d e an den T o t e n herausgewachsen ist, die bald Fragen, bald Aufforderungen an ihn enthält 4 ). Bei dieser Gelegenheit haben wir auch die eigentümliche Stilform kennen gelernt, die sogar den Toten selber redend einführt 6 ). Alle diese Stilformen haben Entwicklungen durchgemacht. Das „Du", mit dem der Tote angeredet wird und das ursprünglich auf der Vorstellung beruhte, die jedem „Du" zugrunde liegt, daß nämlich der Angeredete hört und hören soll, was man zu ihm sagt, wird auch in solchen Liedern beibehalten, die fern von der Leiche gesungen werden, in denen also die alte Voraussetzung fortfällt. Hier vertieft sich das „Du" zum Ausdruck der Zärtlichkeit und seelischen Nähe 0 ); die direkte Anrede an einen Toten trägt noch heute den Stempel einer besonders ergreifenden Feierlichkeit. Eine große Gruppe von S t i l f o r m e n stammt aus d e r A u f f ü h r u n g s a r t der Leichenklage, die, wie wir gesehen haben, 1

) ) S. 436; ») 6 ) 2

Vgl. zu Ez 3237 Jes 14iaf. 53». Vgl. z. B.: . . „Und redet mir Rühmliches von N.", M u s i l a. a. 0. III . . . „Keine böse Nachrede kann dir folgen", v. H ö c h s t e t t er a. a. 0. S. 532. 6 Vgl. zu Jes 14so f. ") Vgl. oben S. 50ff. ) Vgl. oben S. 53. Vgl. zu 2. Sam las.

Kapitel III.

101

häufig darin besteht, daß Vorsänger und Chor einander respondieren. Aus diesem Verhältnis haben sich mannigfaltige Stilformen entwickelt. Häufig beginnt das Leichenlied einfach mit der V e r k ü n d i g u n g des Todes 1 ). Wir haben uns vorzustellen, daß mit einem solchen Ruf: „Der Held so und so ist gefallen!" die Chorführerin oft die Totenklage unvermittelt und kraftvoll begonnen hat, worauf der Chor mit einem Wehruf einfiel. Dieses Ausrufen des Todes hatte den Charakter einer offiziellen Mitteilung an die ganze Trauerversammlung; oft wächst es sich im Leichenliede zu einer ausführlichen Erzählung des Todesfalles aus. Nilsson sieht gerade in dieser Aufführungsart der Totenklage eine der Wurzeln der altgriechischen Tragödie, in der häufig der Bote etwas erzählt, worauf der Chor klagt 2 ). Mit dieser Verkündigung des Todes verbinden sich oft im Leichenliede Aufforderungen, die Todesbotschaft weiter zu verbreiten 3 ). Auch von dieser Stilform haben wir uns einen ganz konkreten Ursprung vorzustellen: die Vorsängerin bei der Leichenklage, ursprünglich eine nahe Verwandte des Toten, wird sofort von der Leiche die Todesboten in die Umgegend ausgesandt haben. Auf das Verhältnis der Chorführerin zum Chor gehen auch die vielen F r a g e n 1 ) zurück, die das Leichenlied an die Allgemeinheit richtet und die meistens die Fassungslosigkeit über den Todesfall ausdrücken sollen. Diese Fragen, die sich im Leichenliede gewöhnlich an eine unbekannte Adresse wenden, hat bei der aufgeführten Leichenklage die Chorführerin an den mitbetroffenen Kreis gerichtet, um vielleicht keine andere Antwort darauf zu bekommen als einen verzweifelten Wehruf. Also schon hier haben die Fragen einen vorwiegend rhetorischen Charakter, aber wenigstens eine bestimmte Adresse. Die verbreitetsten Stilformen, die in den Leichenliedern fast aller Völker vorkommen, sind die I m p e r a t i v e , die in den meisten Fällen Aufforderungen zur Trauer oder Klage um den Verstorbenen enthalten. Diese Aufforderungen können sich an die verschiedensten L e i d t r a g e n d e n richten; bei der aufgeführten Klage gelten auch sie natürlich dem Chor 5). Wo sie in einem *) Vgl. zu 2. Sam Ii» Am 5 2. ) Totenklage und Tragödie, Archiv f. Religionswissensch. 9, S. 287. 3 4 ) Vgl. zu 2. Sam IM. ) Vgl. zu 2. Sam 3aa. ») Vgl. zu 2. Sam 1 « .

!

102

Kapitel III.

Leichenliede vorkommen, das nicht zur Aufführung bestimmt ist, sind sie psychologisch als eine Hilfslinie des primitiv Empfindenden zu verstehen, der eine persönliche Klage noch nicht auszusprechen vermag und seiner eigenen Trauer dadurch Ausdruck zu geben versucht, daß er andere' zur Klage auffordert. Stilgeschichtlich sind diese Aufforderungen den Imperativen an die Seite zu stellen, die im Hymnus zum Preise ermuntern; wo es im Leichenliede „klagt!" oder „weint!" heißt, da steht im Hymnus ein „singt!" oder „lobt!"1). In beiden Fällen wurzeln die Stilformen ja auch in derselben Aufführungsart, in der Vorsänger und Chor einander gegenüberstehen. Die Aufforderungen zur Klage richten' sich im Leichenliede entweder an Einzelpersonen, meist an Verwandte des Toten, oder, besonders wenn es sich um den Tod von Königen oder Häuptlingen handelt,, durch den weite Kreise mitbetroffen werden, an ganze Gruppen, etwa an die Krieger, an die Richter oder die Poeten"). Diese Stilform hat natürlich ihren Ursprung in einer Differenzierung des Chores, der in Solostimmen oder in Teilchöre zerlegt ist. Es kommt vor, daß das Leichenlied nicht nur Aufforderungen an diese Chöre enthält, sondern daß sogar ihre Leichenklagen zitiert werden 8 ). Eine Abschwächung dieser Stilform bedeutet, es, wenn nur in der dritten Person in Form der Erzählung berichtet wird, wer alles um den Toten trauert 4 ). Der Dichter des Leichenliedes gibt sich dann nicht mehr als Chorführer, sondern einfach als Beobachter der Klagefeier. Diese Stilform, welche die Trauer der einzelnen Leidtragenden schildert, ist ein ausgezeichnetes dichterisches Mittel, den Tod des Besungenen von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu beleuchten. Es werden nun aber auch L e i d t r a g e n d e im ü b e r t r a g e n e n S i n n e herangezogen, durch den Vorgang der Beseelung, der aller Volksdichtung eigen ist, und zwar zunächst Dinge aus der Umgebung des Toten: seine W a f f e n s e i n Haus, seine Fenster, *) Vgl. zum Hymnus G u n k e l : Die israelitische Literatur, Kultur der Gegenwart I 7, S. 64. s ) Vgl. die als Parallele zu Jes 14 4 ff. angeführte Leichenklage um Kaiser Claudius ( S e n e c a , Apocolocyntosis). 3 ) Vgl. zu Ez 26nf. 27s2fi. (ein Chor) Apk 18io. u. isf. Jes 14s. iof. (verl schiedene Chöre). ) Vgl. zu Thr 2io. 6 ) Vgl. z.B. eine zu 2. S a m l s i f . angeführte Stelle.

Kapitel III.

103

seine Tür 1 ). Einer ähnlichen Beseelung sind wir schon begegnet, als von den Flüchen die Rede war, die häufig im Leichenliede über die Unglücksstätte ausgesprochen werden 2 ). Oft beklagen den Toten auch seine Tiere: den Bauern sein Ochsenpaar 3 ) und den Beduinen sein Roß 4 ). Der Dichter fordert in einer anderen eigentümlichen Übertragung auch seine eigenen Augen auf, um den Toten zu weinen 6 ). Im gehobenen Stil beweinen den Toten sogar Sonne, Mond und Sterne 6 ), Berge, Bäume') und Gewässer 8 ), sodaß er wie ein Gott betrauert wird. Auch bei den Leidtragenden im übertragenen Sinne finden wir dieselben stilistischen Möglichkeiten wie bei den wirklichen: es kommen Imperative vor, die sie zur Klage auffordern"), es werden die einzelnen Leichenlieder dieser Leidtragenden angeführt 10), oder es wird in dritter Person von ihrer Trauer berichtet 11 ). Zu den Stilformen, die aus der Aufführungsart stammen, gehört auch der K e h r v e r s 1 2 ) . Er ist aus dem Wehruf entstanden, der in der Leichenklage vom Chor gesungen wurde und der sich nun zu einem ganzen Ausrufsatz mit wehmütigem Inhalt erweitert 18 ). Die ästhetische Bedeutung des Kehrverses besteht darin, daß er die Einheit in der Mannigfaltigkeit darstellt, indem er immer wieder nach den verschiedensten Ausführungen zu der Grundstimmung des Liedes zurückkehrt. Gewöhnlich wird die Empfindung, die der Wehruf unmittelbar gefühlsmäßig ausdrückt, im Kelirvers mit der Klarheit des Gedankens ausgesprochen, eines Gedankens, in dem sich der Schmerz des ganzen Liedes zusammenfaßt. Der Kehrvers hebt also eins der Motive des Leichenliedes heraus und unterstreicht es; oft enthält er auch nur die Tatsache des Todes 14 ). Während in der modernen 2 3 ') Vgl. zu Thr 1 4 2». ) Vgl. oben S. 99. ) L i t t m a n n a. a. 0 . S. 129. ) D a l m a n a . a . O . S. ¿142. — Den Haustieren wird bekanntlich auch ein Todesfall im Hause angesagt, vgl. Sartori a. a. 0 . I, S. 129. 5 ) N ö l d e k e a . a . O . S. 105. 169; D a l m a n a . a . O . S. 317. 322. 6 7 3 ) Vgl. zu Ez 327 f. ) Vgl. zu Ez 31I 5 J e s l 4 8 . ) Vgl. zu Ez31u>. 10 •) Vgl. zu Jes 23i. io. i4. ) Vgl. zu Jes 14 a . !1 ) Vgl. zu Thr I4 2sf. Ez 2 6 « . 14 ) Vgl. zu 2. S a m l i s f f . A p k l 8 i o f f . Ez 32i 0 ff. la ) Es kommen aber auch Wehruf und Kehrvers nebeneinander vor, vgl. zu 2. Sam 1,»ff. ") Vgl. zu 2. Sam I19. S7 . 4

Kapitel III.

104

Lyrik der Kehrvers gewöhnlich am Schluß jeder Strophe steht, ist dies im Leichenliede nicht immer der Fall. Oft ist seine Stellung unregelmäßig 1 ); auch dies wird in der Aufführungsart der Leichenklage begründet sein, da die einzelnen Nenien, die in der aufgeführten Klage durch den Wehruf abgeschlossen werden, nicht gleich lang sind. In den palästinischen Leichenliedern, die D a l m a n mitteilt, kehrt zuweilen derselbe Vers nur innerhalb der einzelnen Strophe, und zwar als Anfangs- und Schlußzeile wieder2). Oft wird in den verschiedenen Strophen der Kehrvers zwar beibehalten, aber etwas abgewandelt8). Wir haben schon einmal auf die Verwandtschaft der Stilformen des Leichenliedes mit denen des Lobliedes aufmerksam gemacht4). Das Leichenlied hat aber außer den Imperativen noch andere S t i l f o r m e n mit dem Loblied gemeinsam. Die Lobpreisungen des Verstorbenen werden nämlich in beiden Gattungen oft in A p p o s i t i o n e n ausgedrückt, die seinem Namen angereiht werden, wie: der Hehre, der König kampfmutiger Völker, der beiden Römerreiche Schrecken, der Städteeroberer 6 ); oder die Vorzüge des Toten werden in R e l a t i v s ä t z e gekleidet, die sich entweder dem Namen des Toten anschließen oder ihn umschreiben"). Diese Stilformen verbinden sich gern mit den Imperativen, etwa nach dem Schema: „Weint um den und den, der die und die Eigenschaften oder Verdienste hatte Es kommt auch ein anderes, verwandtes Schema vor: „Ich weine oder wir weinen um den und den" usw.8). Bei allen diesen Redefiguren finden wir die Neigung zur Häufung gleichartiger Satzteile und gleichartig konstruierter Sätze, die schließlich zur Entstehung der Litanei 9 ) führt. Das Wesen der Litanei besteht eben in solchen Häufungen, oft auch in der Wiederkehr derselben Worte, die immer wieder für denselben Satzteil stehen, während andere Satzteile in den Worten variieren. Wenn sich z. B. die Wendung „wir weinen" mehrere Male wieder>) ) 8 ) 5 ) 6 ) 8 ) •)

2

Vgl. zu Ez 32idS. Z B. a.a. 0. S. 338f. „Über das Haupt eines Geschlechts". 4 Vgl. zu 2.Samli9.a7. ) Vgl. oben S. 102. Vgl. das Leichenlied um Attila, J o r d a n e s : Gotengeschichte XLIX, 257. Vgl. zu Jes 23?f. Ez 26n Jes 14i 6 f. ') Vgl. zu 2. Sam 1 « . Z.B. L i t t m a n n a.a.O. S. 131!. Vgl. zur Göttertotenklage Kap. IV, § 2 u. zu Ez 32ieff.

Kapitel III.

105

holt, dann wechselt das Subjekt: alle Frauen, alle Männer, alle Leute. Der Ursprung dieser Neigung zu Häufungen ist wahrscheinlich im Improvisieren zu suchen; es ist leichter, in gleichartigen Wendungen aus dem Stegreif zu dichten, als immer neue zu finden; auch liebt es gerade die Begeisterung, sich immer wieder in denselben Formen zu entladen. Wir dürfen also die Litanei und die litaneiartigen Ansätze im Leichenliede nach ihrer psychologischen Wurzel mit dem Kehrvers zusammenstellen. Eine solche Häufung von gleichartigen Wendungen im Leichenliede ist sehr wirkungsvoll; sie behandeln oft nur ein und dasselbe Motiv und erwecken so durch Form und Inhalt den Eindruck eintöniger, unerschöpflicher Trostlosigkeit. Einen wichtigen Teil der Stilformen des Leichenliedes machen die B i l d e r aus, die meist für den Toten, aber auch für die Hinterbliebenen und für Tod und Grab gebraucht werden. Das Bild kann unmittelbar für die Person oder Sache gesetzt werden; ebenso häufig kommt es aber vor, daß es als Vergleich herangezogen wird, angeknüpft durch „wie" oder durch einen Komparativ: „schöner als", „stärker als" 1 ). Diese Bilder stammen a u s d e n v e r s c h i e d e n s t e n G e b i e t e n ; mit Vorliebe wird der Tote mit Gestirnen 2 ) oder mit Tieren 8 ), nicht ganz so oft mit Pflanzen 4 ) verglichen. Auch kommen Vergleiche mit Geräten, besonders im heroischen Leichenliede Vergleiche mit Waffen") vor. Die Bilder können preisend gebraucht werden; dann wird der Tote „Stern" oder „Löwe" öder „Zeder" genannt, weil man ihm damit etwas Schönes sagen will. Dieselben Bilder können aber auch vollkommen dem Stil des Leichenliedes angepaßt und so umgestaltet werden, daß sie den für das Leichenlied charakteristischen Gegensatz von „Einst und Jetzt" zum Ausdruck bringen. Dann heißen sie etwa: „gefallener Stern", „gefangener Löwe", „gefällte Zeder". Solche Bilder werden auch mit Bezug auf die Hinterbliebenen gebraucht; so vergleicht sich die Witwe des Verstorbenen z. B. mit welkem Laub 6 ) oder mit einem in den ') ) 4 ) s ) •) s

2 Vgl. zu 2. Saml2 3 . ) Vgl. zu Thr2i J e s H u f f . Vgl. zu 2. Sam 1 2 8 Bz 19 2 ff. 32 b. Vgl. zur Göttertotenklage, zu Jer 9 21 Bz 1910 ff. 31 15. Vgl. zu 2. Sam ltn. Edda, 1. Lied von Gudrun, übs. von G e r i n g , S. 225.

106

Kapitel III.

Brunnen geworfenen Stein'). Wir kommen in diesem Zusammenhang auf die Stilform der klagenden Leidtragenden zurück, die, wie wir gesehen haben, oft auf Dinge übertragen wird2). Aus demselben Gebiet wie das Bild für den Toten wählt das Leichenlied dann auch gern die Leidtragenden, sodaß die Gestirne um den gefallenen Stern 3 ), die Bäume um die gefällte Zeder trauern 4 ). Die natürlichste Erklärung für die Anwendung von Bildern und Vergleichen im Leichenliede wäre die, daß sie aus g e f ü h l s m ä ß i g e n oder ä s t h e t i s c h e n G r ü n d e n gebraucht werden, was auch sicher für entwickeltere Stufen der Leichenpoesie zutrifft. Wir erfahren aber aus dem AT, daß diese Anwendung wahrscheinlich noch einen anderen als den rein poetischen Sinn gehabt hat. Aus der Stelle Thr 2i 3 , an der der Dichter fragt, womit er die Tochter Zion vergleichen soll, um sie zu trösten 6 ), schließen wir, daß ursprünglich im Leichenliede Vergleiche und Beispiele wirklich herangezogen worden sind, um die H i n t e r b l i e b e n e n zu t r ö s t e n , d. h. um den Einzelfall, unter dem sie leiden, aus dem Bereich des persönlichen Erlebens in den des allgemein menschlichen Schicksals zu erheben. Dabei haben wir uns vorzustellen, daß ursprünglich die Klagefrau aus der Fülle ihrer Erfahrung ähnliche Fälle hervorgeholt hat; dasselbe erzählt L u c i a n von dem zünftigen Vorsänger bei der altgriechischen Totenklage 6 ), nur daß er das Schöpfen aus dem Vorrat alter Jammergeschichten nicht mit der Absicht zu trösten, begründet, sondern mit dem Bestreben, die Betrübnis immer in Atem zu halten. Beide Absichten mögen nebeneinander vorgekommen und auch ineinander geflossen sein. In einem altarabischen Leichenliede heißt es: Wahrlich,

wenn

Malik

leer ließ,

so habe ich. Beispiele

so etwas

überhaupt Maliks

und

(durch

seinen

von gleichem

Tod)

Unglück

seine — wenn

Stelle mir

nützt

An (mit ihm gefallenen) Vettern

mir

schon gealterten

an herrlichen

Jünglingen

und noch

unbärtigen

.. . .7).

Also auch hier hören wir, daß man sich bei Todesfällen mit 2 L i t t m a n n a.a.O. S. 118, 78. ) Vgl. oben S. 102f. 6 ') Vgl. zu Ez 32,f. *) Vgl. zu Ez 3116. ) Vgl. z. St. Kap. VI, § 3. 6 ) A. a. 0. 20. ') N ö l d e k e a. a. 0. S. 120f.

Kapitel III.

107

ähnlichen Beispielen zu trösten suchte. Die Heranziehung solcher verwandten Fälle hat sich dann allmählich zum poetischen Vergleich entwickelt, dessen Spitze wohl gewöhnlich die Vergänglichkeit alles Schönen gewesen ist. Vielleicht haben aber die Bilder im Leichenliede noch eine andere Wurzel, die uns wieder in den Kreis der alten animistischen Vorstellungen weist. W a r n e c k erzählt von den Batak auf Sumatra, daß sie für ihre Leichenlieder eine eigene Bildersprache haben, in der alle Dinge mit umschriebenen Namen bezeichnet werden, weniger aus poetischer Neigung als aus Furcht, der Totendämon könne über die mit richtigem Namen genannten Dinge Unheil bringen. Auch der Tote selbst wird mit solchen eigentümlichen Namen belegt. So nennt eine Witwe in ihrem Leichenliede sich selbst eine „Reishülse" und eine „stoßende Kuh" und ihren toten Gemahl „Berg St. Manabun, der leicht einstürzt", „Bär auf der Straße", „Tiger im Tor" *). Vielleicht sind solche e u p h e m i s t i s c h e n U m s c h r e i b u n g e n a u s a n i m i s t i s c h e n G r ü n d e n auch sonst auf einer bestimmten Stufe dem Leichenliede eigen gewesen, und auch aus ihnen haben sich später sinnvolle Bilder und Vergleiche entwickelt 2 ). Euphemistischer Art sind sicherlich a u c h a u f s p ä t e r e n S t u f e n die vielen Bilder, mit denen die Ausdrücke für Tod, Unterwelt und Grab 3 ) umschrieben werden. Auf diese Weise will man es vermeiden, diese unheimlichen Worte auszusprechen. Besonders beliebt ist das Bild, daß der Tote sich auf die Reise begeben habe; es kommt sehr oft in neuarabischen Leichenliedern vor 1 ); daneben ') W a r n e c k a . a . O . S. 52 und ) Ob die Bilder im Leichenliede vielleicht z. T. auch im „Sympathietierglauben" wurzeln? Auf Java z.B. wird nach dem Volksglauben ein Wucherer nach seinem Tode ein bösartiges Raubtier, ein Weiser ein langhaariger Affe, ein angesehener Mann ein Tiger oder ein Krokodil. Selbstmörder oder gewaltsam umgekommene Menschen werden Eulen oder andere Nachttiere. Auf Borneo werden sie Vögel und Schlangen. Auf Island wird der Vornehme ein Eisbär, ein Bär, ein Hirsch oder ein Adler, die weniger Vornehmen sind Wölfe, Füchse usw. Ebenso wie den Sympathietierglauben gibt es auch einen Sympathiebaumund Pflanzenglauben, Tgl. I d a N a u m a n n : Tod und Tierglaube bei H. N a u m a n n : Primitive Gemeinschaftskultur. S. 98ff., besonders S. 101. 3 ) Vgl. zu Jer 3822. 4 ) Z. B. M u s i l a. a. 0 . III, S. 435; L i t t m a n n a. a. 0 . S. 132, 80. 133,100. Auch hier haben wir es möglicherweise mit ursprunglich präanimistischen Vor2

108

Kapitel IV.

findet sich auch das Bild vom Schlaf für den Tod'). Zuweilen wird der Tod auch personifiziert 2 ), und hier wird wohl die Neigung zu poetischer Ausdrucksweise mehr den Ausschlag geben als das Bestreben nach euphemistischer Umschreibung. Mit der vorstehenden Skizze sind die im Leichenliede vorkommenden Motive und Stilformen noch nicht erschöpft. Einzelne sind wegen ihres selteneren Vorkommens ausgelassen worden; andere, die wegen ihrer hebräischen Besonderheit nicht mit aufgenommen sind, werden wir bei der Behandlung der hebräischen Leichenlieder kennen lernen.

Kapitel IV.

Die Göttertotenklage.

Außer der Klage um den verstorbenen Menschen gab es im alten Orient auch eine G ö t t e r t o t e n k l a g e 3 ) , die ihren Platz in Vegetationskulten hatte. Es kommen hierbei besonders die Kulte des Tammuz und Adonis in Betracht, daneben aber auch Klagefeiern um kleinere Gottheiten. Es soll hier auf diese Kulte eingegangen werden, weil sich an verschiedenen Stellen des AT Hindeutungen auf solche Vegetationskulte, an anderen Stellen Niederschläge derselben finden. § 1.

Alttestamentliche Hindeutungen auf Vegetationskulte.

a) Die atl. Stelle, welche die Bekanntschaft der Hebräer mit solchen Kulten am sichersten beweist, ist Ez 814, denn hier wird der Tammuzkult im Tempel zu Jerusalem zur Zeit des Ezechiel ausdrücklich bezeugt. Stellungen zu tun. H. N a u m a n n hält die Entwicklung eines Totenreichglaubens auch schon auf dieser Stufe für wahrscheinlich. Die neuen Schuhe, die vielfach den Toten als Grabbeigaben gespendet werden, würden dann zur Erreichung dieses Reiseziels bestimmt sein, a. a. 0. S 28. ') Z. B. L i t t m a n n a. a. 0. S. 115, 34. Auch hier im Hintergrund die 2 Vorstellung vom „lebenden Leichnam"? ) Vgl. zu Jer 920f. s ) Zu diesem Kapitel vgl. besonders: M a n n h a r d t : Wald- und Feldkulte II (1905), Kap. V, § 3 Adonis; F r a z e r : Adoris, Attis, Osiris (1907); v. B a u d i s s i n : Adonis und Esmun (1911); H e p d i n g : Attis, seine Mythen und sein Kult (1903); Z i m m e r n : Der babylonische Gott Tamüz, Abh. d. Kgl. Sachs. Ges. d. Wiss., pbil.-hist. Kl. 27 (1909), 20; v. B a u d i s s i n : Tammuz, RE, XIX ( s 1907).

Kapitel IV.

109

b) Eine Anspielung auf den Adonisdienst scheint an der Stelle J e s l 7 i o f . vorzuliegen. Die „Pflanzungen der Lieblichkeit (?)"') wären dann eine Umschreibung für die „Adonisgärten", Kästchen oder Schalen, die im Adoniskult mit leicht aufsprossenden und ebenso rasch abwelkenden Sämereien bepflanzt wurden 2 ). Es handelt sich in dem Jesajawort um die Vergänglichkeit, die der Treulosigkeit gegen Jahwe wie ein Fluch folgt, und diese Vergänglichkeit wäre allerdings sehr geistreich durch ein Bild dargestellt, das fremder Kultsitte entnommen ist. c) Die „Klage um Hadad-Rimmon im Tale von Megiddo" Sach 12u bedeutet anscheinend die Totenklage um einen Gott dieses Namens, der hier wohl mit Tammuz vermengt ist 3 ). d) Im Briefe Jeremias V. 30f. wird ein Kult geschildert, bei dem die Priester mit zerrissenen Kleidern und geschorenen Köpfen und Bärten, unbedeckten Hauptes und brüllend in den Tempeln sitzen, indem sie vor ihren Göttern rufen, wie manche tun beim Totenmahl 4 ). Die Vermutung, daß es sich hier um Adonis- oder Tammuzdienst handle, liegt deshalb nahe, weil uns von solchen Trauerbräuchen wie den hier dargestellten in anderen Kulten auf syrisch-phönizischem Boden nichts bekannt ist 5 ). e) Weniger sicher ist das Zeugnis der Stelle Dan IIa?, die von Antiochus Epiphanes sagt, er achte nicht auf die Götter seiner Väter und auf die „Lust der Weiber" 6 ). Mit dem Ausdruck muß eine Gottheit gemeint sein; man wäre zwar geneigt, an Adonis oder Tammuz zu denken, da beide im Mythus von einer Göttin beweint werden und da ihr Kult von Frauen gepflegt wurde, aber der Kult beider Gottheiten hatte nicht die zentrale Bedeutung, die ihre Zusammenstellung mit den „Göttern ') D^DV: lytpj. 2

) Vgl. P r a z e r a. a. 0. S. 194ff.; v. B a u d i s s i n : Adonis und Esmnn, S. 87 f. Abbildung eines Adonisgärtehens nach einem Wandbild aus Pompeji ATAO», S. 648. 3 ) Vgl. K A T 3 , S. 399; ATAO 3 , S. 646; N o w a c k : Die kleinen Propheten ( 3 1922) z. St. 4 ) Vgl. z. St. W. N a u m a n n : Untersuchungen über den apokryphen Jeremiasbrief (1913), S. 10 f. 6 ) Vgl. v. B a u d i s s i n : Adonis und Esmun, S. 91f. W, N a u m a n n hält allerdings die Erklärung dieser Bräuche als Bußriten für ebenso möglich, a. a. 0 .

s. io.

«)

rnpn.

110

Kapitel IV.

seiner Väter" rechtfertigen würde. Es ist deshalb vorgeschlagen worden, eher die Beziehung auf die Göttin Kaukabtä der Syrer, die auch besonders von Frauen verehrt wurde, anzunehmen'). § 2. Die wichtigsten Züge der Vegetationskulte und der kultischen Leichenlieder. Nach v. B a u d i s s i n s Auffassung sind Tammuz und Adonis verschiedene Gottheiten, die aber aus einer gemeinsamen altsemitischen Wurzel erwachsen sind und deren Mythen und Kulte sich auch in der Folgezeit gegenseitig beeinflußt haben 2 ). Die Verschiedenheit der beiden Gottheiten und ihrer Kulte, überhaupt ihr Verhältnis zueinander ist aber im Zusammenhange unserer Untersuchung bedeutungslos; es kommt hier nur darauf an, die Hauptzüge festzustellen, die in diesen und verwandten Vegetationskulten wiederkehren. Ehe wir diese Züge betrachten, erinnern wir uns daran, daß auch der ägyptische Osirisdienst und die phrygischen Attismysterien Ähnlichkeit mit den eben erwähnten Kulten zeigen. Die w i c h t i g s t e n Z ü g e , die in den meisten V e g e t a t i o n s k u l t e n übereinstimmen, sind folgende: Der G e d a n k e , der allen diesen Kulten zugrunde liegt, ist die Darstellung des Sterbens in der Natur durch den Tod eines Gottes. Den klimatischen Verhältnissen entsprechend, aus denen diese Vorstellungen stammen, ist es eine Gottheit der Frühlingsvegetation, die in der Sommerhitze stirbt. Der Charakter der Frühlingsgottheit kommt darin zum Ausdruck, daß der Gott als Jüngling gedacht wird, der vorzeitig dahingerafft wird; das rasche und plötzliche Abwelken der Pflanzenwelt in der Sommerglut wird durch einen gewaltsamen Tod des Gottes dargestellt, z. B. Adonis' Tod durch den Eber. Die K l a g e f e i e r um den gestorbenen Frühlingsgott fand wahrscheinlich im Hochsommer, etwa im Juni—Juli statt 3 ). Das Fest trägt den Charakter einer großen, offiziellen Trauerfeier, bei der Frauen den hingerafften Gott beklagen und beweinen 4 ). v. B a u d i s s i n a.a.O. S. 119f. "•) Ebenda S. 352ff. ) Vgl. v. B a u d i s s i n a. a. 0. für Tammuz S. 100, für Adonis S. 121ff. 4 ) Vgl. Ez 8 u und oben S. 60. Auch die Adonisgärtchen wurden von Frauen gepflegt, vgl. die oben erwähnte Abb. ATAO 3 , S. 648. 3

Kapitel IV.

111

Freilich finden sich auch bei der Vollziehung der Göttertotenklage Männer neben den Frauen, worauf die Schlußzeilen aus der „Höllenfahrt der Istar" hindeuten, in denen „Klagemänner und Klagefrauen" beim Tammuzfeste erwähnt werden 1 ). Danach dürfen auch die im Jeremiasbrief genannten, die Riten vollziehenden Priester nicht gegen eine Beziehung der Stelle auf Vegetationskulte angeführt werden 2 ). Wir beobachten bei der Göttertotenklage auch dieselben Trauerbräuche wie bei der privaten: auch sie wird sitzend gehalten 3 ), auch hier hören wir vom Schreien, Zerreißen der Kleider, Ablegen der Kopfbedeckung, von Haarschur 4 ) und Selbstverletzungen. Das Leichenlied der S a p p h o auf Adonis beginnt mit den Worten: Es stirbt, Aphrodite, Adonis, der zarte, was tun wir? Zerreißt die Gewände, zerfleischt die Wangen, ihr Mädchenb)!

Neben diesen Trauerriten stehen andere Kultussitten von symbolischer Bedeutung, wie z. B. das Pflanzen der Adonisgärten, das Werfen des Adonisbildes oder der Adonisgärten ins Meer"). Das Kultlied teilt mit dem Leichengesang die Begleitung durch die Flöte, die so charakteristisch für die Totenklage ist'). Sie begleitete die Adonis8)-, Attis9)- undTammuzklage; die sumerisch-babylonischen Tammuzlieder tragen vielfach die Unterschrift „FlötenKlagelied" 10). Ob die Flöte aus der kultischen Klage stammt und von dieser auf die Privatklage übertragen worden ist oder umgekehrt, ist nicht zu entscheiden, wie denn überhaupt die Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung von privater und kultischer Leichenklage noch ungeklärt ist. 2 ') Vgl. TuB I, S. 69. ) Vgl. W. N a u m a n n a . a . O . S. lOf. ) Die Tammuzklage Ez 814, ebenso die Adonisklage, vgl. G r u p p e : Griechische Mythologie II, S. 971 und 6 ; auch im Brief Jeremias V. 30 muß diq>peti(o (nach V S) die Bedeutung von „sitzen" haben, vgl. W. N a u m a n n a. a. 0 . S. 37. Brief Jeremias V. 30f. 6 ) v. W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f f : B i o n v. Smyrna, Adonis, S. 13. Die Selbstverletzungen der Mysten spielen auch eine große Rolle im Attiskult, vgl. H e p d i n g a . a . O . S. 131. 158ff. «) Vgl. P r a z e r a. a. 0 . S. 194ff.; v. B a u d i s s i n a. a. 0 . S. 140f. 7 8 ) Siehe oben S. 79f. ) v. B a u d i s s i n a . a . O . S. 354. 9 ) H e p d i n g a. a. 0 . S. 158ff. 10 ) Vgl. Z i m m e r n : Sumerisch-babylonische Tamüzlieder, Berichte über die Verhandl. d. Kön. Sachs. Gesellsch. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 59 (1907) 4, S. 224. 228. 232. 3

112

Kapitel IV.

Unsere Quellen für die Kenntnis der k u l t i s c h e n L e i c h e n l i e d e r sind ziemlich beschränkt. Die von Z i m m e r n übersetzten sumerisch-babylonischen Tammuzlieder sind der sprachlichen Unsicherheit wegen nur mit Vorsicht zu benutzen. Das Adonislied des Bion von Smyrna ist wie das der S a p p h o ein Erzeugnis der Kunstpoesie, das nur stellenweise Rückschlüsse auf den Charakter des alten Kultliedes gestattet. Außerdem besitzen wir noch die Totenklage der Isis an der Leiche ihres Gatten Osiris1). Aus diesem spärlichen Material können wir immerhin erkennen, daß die kultischen Leichenlieder den privaten in Bezug auf Motive und S t i l f o r m e n verwandt sind. Auch hier finden wir Lobeserhebungen : 0 schöner Jüngling,

komm zu deinem Hause

. .. Adonis ist tot, Adonis, . . . Mannhafter,

....').

der holde Knab' .. . .3).

mein Damu

. . ..").

Daneben stehen Motive der Klage, z. B. Ich rufe nach dir und weine, daß man es bis zum Himmel aber du hörst meine Stimme nicht . .. .5).

hört,

Der holde Adonis liegt droben im Wald, zerfleischt sind seine Weichen, Eberzahn; Die weißen, von weißem nun liegt er da, verscheidend ...."). Er geht, er entrinnt zur Brust der Erde, er sättigt sich (die Sonne geht ihm unter) Von Wehklage ist er voll

nach dem Lande der Toten; am Tage, da er in Ungemach fällt. . ..').

Die vorherrschende Stilform dieser Lieder ist die Litanei 8 ); so heißt es z. B. in einem der Tammuzlieder: ») •) 3 ) 4 ) 6 ) 8 )

E r m a n : Die ägyptische Religion 2 , S. 39f., vgl. oben S. 66. Ebenda S. 39. Adonislied des B i o n , v. W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f l a.a.O. S. 1. 5 Z i m m e r n : Tamüzlieder, S. 217. ) Totenklage der Isis a. a. 0 . S. 39. Adonislied des B i o n a. a. 0. S. 1. ') Z i m m e r n : Tamüzlieder^ S. 207!. Vgl. oben S. 104 f.

113

Kapitel IV.

Seine Mutter, Wehklage um ihn möge sie anstellen, Wehklage, Seufzen um ihn möge sie anstellen, Indem sie steht, schmerzliche Wehklage erhebt sie, indem sie sitzt, streckt sie die Hand nach dem Herzen. Wehklage läßt sie erschallen, Wehklage, die schmerzlich ist, Geschrei läßt sie erschallen, Geschrei, das schmerzlich ist....'). Die Klage der Isis hat auch die Form der Litanei. Sie beginnt mit den Worten: Komm zu deinem, Hause, komm zu deinem Hause, o Gott On! Komm zu deinem Hause, du, der du keine Feinde hast! 0 schöner Jüngling, komm zu deinem Hause, daß du mich sehest. . .. Komm zu der, die dich liebt, die dich liebt, Wennofre, du seliger! Komm zu deiner Schwester, komm zu deinem Weibe, zu deinem Weibe, du, dessen Herz stille steht. Komm zu deiner Hausfrau *)• Der Wehruf, der in der privaten Totenklage eine so wichtige Rolle spielt 3 ), kommt auch in der kultischen häufig vor. So heißt es in einem der Tammuzlieder: Wehe, Mannhafter, mein Damu, Wehe, Kind des Ningiszida . . .4) Ein Nachhall wirklich aufgeführter Klage sind wohl auch folgende WTorte aus dem Adonisliede des B i o n : „Wehe, Kytlieres Herrin, iveh", klagen dazu die Eroten5). Auch die Stilform der Klage der verschiedenen Leidtragenden") kommt im kultischen Leichenliede vor; so heißt es z. B. in der Klage der Isis: Die Götter und die Menschen haben ihr Gesicht zu dir gewandt und beweinen dich zusammen . . . . ' ) Soweit es sich bei diesen Leidtragenden nicht um Personen, sondern um Dinge handelt 8 ), mag die Stilform sogar ihren ur>) ) *) б ) 8 ) а

2 Z i m m e r n a. a. 0. S. 223. ) E r m a n a. a. 0. S. 39, vgl. oben S. 66. Vgl. oben S. 83 ff. Z i m m e r n a.a.O. S. 220, vgl. auch S. 207. 208. 217. 223. A. a. 0. S. 3. «) Vgl. oben S. 101 f. ') E r m a n a. a. 0. S. 39. Vgl. oben S. 1021. 106.

Beihelte z. ZAW 36

8

Kapitel IV.

114

sprünglichen Sitz in der mythologischen Klage haben und erst von da auf die menschliche Totenklage übertragen worden sein. Im Adonisliede des B i o n kommen solche „Leidtragende" vor: „Weh", rufen die Berge, „Kypris, weh"; ,,iveh", rufen die Bäume, „Adonis"; Die Bäche beweinen der Kypris Leid, Adonis die Bronnen des Waldes. Es bräunt vor Schmerz sich das Laub im Hain, und über Kytheres Insel Aus jedem Anger, aus jedem Busch der Ruf des Jammers erschallet: „Ich klag' um Adonis, Adonis ist tot, Adonis, der holde Knabe"'). Daß die trauernden Hinterbliebenen bei einem Vegetationsgott die Dinge der Natur selbst sind, ist sehr begreiflich. Der gestorbene Gott wird auch mit Vorliebe durch Bilder aus der Pflanzenwelt bezeichnet. So heißt es in einem der Tammuzlieder: Bei der glänzenden Zeder2), in E-anna, oben und unten,

an weiter Stätte entsprossen, erhebt sie 3 ) Klage.

Ihre Klage ist die Klage um Kraut, ihre Klage ist die Klage um Korn,

Ihre Klage

das im Beet(?) nicht wächst, das in der Ähre nicht wächst.

ist (wie) um einen großen Fluß,

ivoran Weiden(?) nicht wachsen, ihre Klage ist (wie) um ein Feld, worauf Korn und Kraut [nicht wächst. ihre Klage ist (wie) um ein Röhricht, worin Rohr . . . nicht wächst. Ihre Klage ist (wie) um Wälder, worin Tamarisken . . nicht wachsen, ihre Klage ist (wie) um die Steppe, worin Zypressen (?) nicht wachsen. 2 ») A . a . O . S. 3. ) Oder: „über die glänzende Zeder"? ) Wie es scheint, Istar.

3

Kapitel IV.

Ihre Klage

ist (wie)

115

um die Tiefe eines Baumgartens,

worin

Honig und Wein nicht wächst . . .').

Ähnliche Bilder kehren in einem anderen dieser Lieder wieder: Eine Tamariske, die im Garten Wasser nicht getrunken, deren Krone auf dem Feld keine Blüte hervorgebracht hat. Eine Weide (?), die an ihrer Wasserrinne nicht „jauchzte*, eine Weide (?), deren Wurzeln ausgerissen sind. Ein Kraut, das im Garten Wasser nicht getrunken . . .2).

Die Anwendung solcher Bilder aus der Pflanzenwelt auf den gestorbenen Vegetationsgott hätte eine sehr konkrete Wurzel, wenn, wie v. B a u d i s s i n vermutet, der Vorstellung von Tammuz und auch der von anderen Vegetationsgöttern ursprünglich die Beziehung zu irgend einer bestimmten Pflanze, etwa einem Baume, zugrunde läge 3 ). Parallel ist die Zeugung des Attis von dem Granatbaum und seine Verwandlung in eine Pinie und die des Kyparissos in eine Cypresse 4 ). Der grundlegende Unterschied zwischen den soeben betrachteten kultischen Totenfeiern und den Leichenklagen um verstorbene Menschen liegt darin, daß — wenigstens in einigen Kulten — der Totenklage um den gestorbenen Gott ein Aufe r s t e h u n g s f e s t folgte. Im Adoniskult hat nach den Angaben des L u c i a n von Samosata, des O r i g e n e s und C y r i l l u s von Alexandria ein solches Fest stattgefunden 5 ): die Klagen der Weiber um den hingerafften Gott wurden eingestellt und durch Freudenbezeugungen abgelöst, wenn die Botschaft eintraf, daß der Gott wiedergefunden sei. Ähnliche Auferstehungsfeste wurden im Attisund Osiriskult gefeiert'). Auch in den Tammuzliedern scheint neben der Klage um den verschwundenen der Jubel über den wieder zur Erde zurückgekehrten Tammuz zum Ausdruck zu kommen'). Wenn solche Auferstehungsfeste auch nicht für alle verwandten Vegetationskulte nachzuweisen sind, so setzt in der Tat die jährliche Trauerfeier doch den Gedanken des Wiederauflebens des ') ) S. 103. 6 ) 6 ) 7 ) 3

2 Z i m m e r n a. a. 0. S. 236f. ) Ebenda S. 220. Vgl. v. B a u d i s s i n : Tammuz. R E 3 XIX, S. 339. 367; Adonis u. Esmun, 4 ) v. B a u d i s s i n , R E ' XIX, S. 367; Ad. Esm., S. 173. v. B a u d i s s i n : Ad. Esm., S. 134f. H e p d i n g a. a. 0. S. 132. 166f. 196f.; E r m a n a. a. 0. S. 64. 234. 270. Z i m m e r n : Der babylonische Gott Tamüz, S. 726.

8*

116

Kapitel IV.

Gottes voraus 1 ). Das Auferstehungsfest des Adonis fand wahrscheinlich ebenso wie die Klagefeier im Hochsommer statt, obgleich es, streng genommen, als Frühlingsfest hätte gefeiert werden müssen; diese kultische Zusammenschiebung des im Mythus zeitlich Getrennten erklärt sich aus dem Bedürfnis, unmittelbar nach der Klagefeier der Gewißheit Ausdruck zu geben, daß der Gott aus dem Tode wiederkehren würde 2 ). § 3.

Alttestamentliche Niederschläge der Vegetationskulte.

Wir haben am Anfang dieses Kapitels die atl. Stellen geprüft, die sich als Hindeutungen auf Vegetationskulte verstehen lassen, und haben gesehen, daß der Tammuzkult zur Zeit des Ezechiel im Tempel zu Jerusalem mit Sicherheit bezeugt ist3). Da die Bekanntschaft der Hebräer mit diesem Kult feststeht und auch die „Klage um Hadad-Rimmon im Tale von Megiddo"4) wahrscheinlich auf einen gestorbenen Gott zu beziehen ist, so ist der Gedanke nicht abzuweisen, daß sich im atl. Material gewisse N i e d e r s c h l ä g e solcher V e g e t a t i o n s k u l t e finden könnten. Die Vermutung liegt sogar nahe, daß wir in der Erzählung von J e p h t a s T o c h t e r Jud llao-io die S p u r e n eines i s r a e l i t i s i e r t e n V e g e t a t i o n s k u l t s vor uns haben 6 ). Die Erzählung ist die Festsage einer jährlich begangenen Klagefeier um die Tochter des Gileaditers Jephta. Zwei Schichten, eine ältere mythische und eine jüngere sagenhafte, sind in dem vorliegenden Stoffe noch zu erkennen, wenn auch nicht mehr deutlich voneinander zu lösen; das Mythologisch-Kultische wird fast völlig vom Sagenhaften verdunkelt. Doch weisen folgende Züge darauf hin, daß es sich ursprünglich nicht um eine historisch-sagenhafte Figur, sondern um eine Vegetationsgöttin gehandelt hat, deren Tod beklagt wurde: ») v. B a u d i s s i n : Ad. Esm., S. 136. ) Ebenda S. 137. Die zeitliche Zusammenschiebung beider Feste findet sich ebenso im Attis- und Osiriskult, vgl. H e p d i n g a. a. 0 . S. 130, E r m a n 3 4 a. a. 0. S. 270. ) Vgl. Ez 8 u . ) Sach 12u. 5 ) Vgl. zum Folgenden Ed. M e y e r : Die Israeliten und ihre Nachbarstämme (1906), S. 472. 535; G u n k e l : Jephta, RGG III (1912); G r e ß m a n n : Die Anfänge Israels (Schriften des AT in Auswahl I 2 2 1922), S. 227 ff. 2

Kapitel IV.

117

a) Die r e g e l m ä ß i g e j ä h r l i c h e F e s t f e i e r 1 ) , die sich hier nicht nur als Erinnerungsfeier begreifen läßt, sondern der die Vorstellung zugrunde liegt, daß die Gottheit jedes Jahr aufs neue stirbt und deshalb immer wieder beklagt werden muß. Wir hören nur von einer Klagefeier um Jephtas Tochter, nicht von einem Auferstehungsfest, haben ja aber gesehen, daß dieses auch in manchen anderen Vegetationskulten nicht bezeugt ist. b) Es ist ein j u n g e s M ä d c h e n , dessen Tod beklagt wird; in den meisten verwandten Kulten ist es der kaum zum Manne gewordene Jüngling (Adonis, Attis, Tammuz); die bekannteste jugendliche Frühlingsgöttin ist Persephone. Die Jugendlichkeit der Gestalt ist ein Symbol für den Frühling, der so bald sterben muß 2 ). c) Die Betonung des „einzigen" Kindes ist vielleicht aus der Einzigkeit und Unwiederbringlichkeit des kurzen orientalischen Frühlings zu verstehen. Auch Persephone ist das einzige Kind ihrer Mutter Demeter8), und Tammuz wird in der „Höllenfahrt der Istar" der einzige Bruder der Beiiii genannt 4 ). d) Der g e w a l t s a m e Tod der Gestalt wird in irgend einer Form auch in der mythischen Urschicht vorgekommen sein und dort das plötzliche Absterben des Frühlings im Hochsommer bedeutet haben 5 ). e) Das F e s t hat augenscheinlich in den B e r g e n von Gilead stattgefunden. Die Lokalisierung der Feier auf den Bergen deutet auch auf ein ursprüngliches Naturfest hin, und zwar zeichnet sich gerade dieses Gebirge vor allen anderen in Palästina durch überreichen Pflanzenwuchs aus, so daß die Kultstätte einer Frühlingsgöttin hier wohl denkbar ist. „Pflanze drängt sich an Pflanze, so daß es unbegreiflich bleibt, wie jede den nötigen Anteil an Boden, Luft und Licht für sich behaupten kann. Oft schlagen die Gewächse über dem Fußwanderer zusammen, ja mitunter taucht kaum noch das Haupt des Reiters aus dem vielfarbigen l ) Dieser Zug allein würde noch nicht genügen, um die oben vertretene Erklärung zu begründen, da es ja auch jährliche Klagefeiern um verstorbene M e n s c h e n gegeben hat (vgl. oben S 79. 87). Bs müssen eben mit diesem Zug noch andere, im Folgenden auszuführende Momente zusammentreffen, um den 2 Gedanken an ein kultisches Klagefest nahe zu legen. ) Vgl. oben S. 110. 3 ) fiovvoyiveia] Belege siehe bei P r e l l e r : Griechische Mythologie I ( 4 1894), 4 6 S. 756 3 . ) TuB I, S. 69. ) Siehe oben S. 110.

Kapitel IV.

118

Meer auf"'). Ähnlich durch üppige Vegetation ausgezeichnet ist das zu Aphaka beginnende Tal des Nahr Ibrahim, in das man den Sitz des Adonis verlegt hat 2 ), wie man sich überhaupt als Stätte der Vegetationsgottheiten nicht die Natur schlechthin, sondern ursprünglich immer ein ganz bestimmtes landschaftliches Gebiet zu denken hat. So heißt es z. B. in einem Leichenliede auf Tammuz: Der Mannhafte, sein Feld hat er verlassens). Die Berge sind gerade eine Stätte, wo man sich das Verschwinden einer Frühlingsgöttin gut vorstellen kann 4 ). Auch den Ort, wo Persephone entrafft worden ist, sucht man mit Vorliebe da, wo sich Flusse oder zerklüftete Gebirge mit Höhlen finden; da soll der Räuber hervorgebrochen oder mit seiner schönen Beute verschwunden sein 6 ). Im Bergwald sucht auch Kypris den Adonis und Kybele den Attis; dort ist die Stätte ihrer Klage 6 ). Die Erzählung Jud 1 l3o_«> zeigt uns nun, wie das ursprüngliche V e g e t a t i o n s f e s t später mit h i s t o r i s c h e m G e h a l t erf ü l l t , wie die g ö t t l i c h e durch eine m e n s c h l i c h e G e s t a l t e r s e t z t worden ist. Die Frühlingsgöttin von Gilead gehört also in die Reihe der großen und kleinen Gottheiten hinein, die auf Jahwes Altar geopfert worden sind. Die nachträgliche historische Deutung alter Naturfeste ist ein häufiger religionsgeschichtlicher Vorgang, den wir gerade in Israel an der Geschichte der drei großen Ackerbaufeste deutlich beobachten können. Die Einrückung einer menschlichen Gestalt an Stelle der göttlichen im Vegetationsfest hat ihre Parallelen in den Figuren Linos, Hyakinthos, Hylas und Jalemos ? ); sogar eine weibliche Parallele findet sich für „Jephtas Tochter" in Polyboia, der Schwester des Hyakinthos, die wie er in früher Jugend dahingestorben ist 8 ). E c k a r d t usw.: Palästinensische Kulturbilder (1907), S. 17. 3 ) Z i m m e r n : Tamüzlieder, S. 223. ) Vgl. v. B a u d i s s i n a . a . O . S.80f. 4 ) Gegen G r e ß m a n n s Annahme, daß die große „Syrische Göttin" Atargatis, die im Wasser ihren Tod gefunden haben soll und deren heiliges Tier der Fisch war, das Urbild der Tochter Jephtas gewesen sei (Anfänge Israels, S. 229f.), macht K i t t e l mit Recht geltend, daß es sich doch hier eher um eine Berggöttin gehandelt zu haben scheint (Geschichte des Volkes Israel II ( 4 1922), S. 51 3 ). 6 ) Vgl. P r e l l e r a . a . O . I, S. 758. Adonislied deBBion a. a. 0. S. 5; H e p d i n g : Attis, S. 124. s ) P r e l l e r a. a. 0. I, S. 249 1 . ') Vgl. Bd. M e y e r a. a. 0 . S. 472. 2

119

Kapitel I V .

Bei keiner dieser Gestalten findet aber eine so enge geschichtliche Anknüpfung statt wie bei der israelitischen; sie bleiben alle mehr oder weniger im mythologischen Dunkel. Für die Verdrängung einer Vegetationsgottheit durch eine wirklich historische Figur haben wir ein Beispiel in dem schiitischen Hoseinfest. Hier ist die Gestalt des Tammuz durch Hosein, den Sohn Alis, verdrängt worden, der bei Kerbela den Tod fand 1 ). Eine etwas andersartige Parallele bildet das Frühlingsfest der Insel Malta, bei dem an Stelle des Adonis die Gestalt Johannes des Täufers verehrt wurde"). Die Ersetzung einer Göttin durch die Gestalt einer geopferten Jungfrau in einer späteren, euhemeristisch denkenden Zeit liegt bei einer jährlichen Opferfeier zu Laodicea vor 3 ), allerdings ohne Beziehung auf einen Vegetationskultus. Man erzählt sich, die Jungfrau sei bei der Gründung der Stadt geopfert worden. Eine solche Gestalt kommt in ihrem passiven Heroismus „ Jephtas Tochter" schon näher. Ein Fest mit ähnlicher Bedeutung waren die Heräen in Korinth, die zur Erinnerung daran gefeiert wurden, daß die Korinther die Kinder der Medea getötet haben sollen. Es war ein Sühnfest, bei dem sieben Jünglinge und sieben Mädchen im Trauergewand und mit geschorenem Haar im Heiligtum, wo die Kinder begraben waren, jährlich die Leichenklage wiederholten 4 ). Die alte Klagefeier im ßerglande von Gilead galt, wie wir gesehen haben, dem Tode einer Frühlingsgöttin. Die naturhafte allgemeine Bedeutsamkeit ihres Sterbens ist von der Sage im sittlich-nationalen Sinne umgewandelt worden, indem der Tod der weiblichen Gestalt in Beziehung zu einer geschichtlichen Persönlichkeit — Jephta — und zu einem historischen Ereignis — seinem Siege über die Ammoniter 5 ) — gesetzt wurde. Die Anknüpfung gerade an die Gestalt des Jephta ist Vgl.

Eerdmans:

Der

Ursprung

der Ceremonien

des

Hosein-Festes,

Zeitschrift für Assyriologie 9 (1894), S. 280ff.; M e i ß n e r : Babylonische Bestandteile in modernen Sagen usw., Archiv für Religionswissenschaft 5 (1902), S. 230ff.; anders S t r e c k , Sachau-Festschrift, S. 395ff. 2) 3)

Vgl. W ü n s c h : Das Frühlingsfest der Insel Malta (1902), S. 50ff. R o b e r t s o n S m i t h : Die Religion der Semiten, S. 224.

4)

Vgl. N i l s s o n : Griechische Feste, S. 57f.

6)

Wofür wohl „die Moabiter" einzusetzen sind, siehe K i t t e l zu Jud l l i e

(bei K a u t z s c h 4 I).

120

Kapitel I Y .

wohl daraus zu erklären, daß dieser „wie ein Magnet alle Geschichten seiner Heimat an sich zog" 1). Die Verbindung des ursprünglich mythischen mit dem geschichtlichen Stoffe ist auf eine höchst volkstümliche Weise vollzogen worden, nämlich durch Vermittlung eines weit verbreiteten Sagen- und Märchenmotivs, wonach „ein Mann einem Geiste zum Lohn, daß er ihm geholfen, das erste verspricht, was ihm begegnet, und ihm begegnet dann sein Kind" 2 ). Es ist sehr aufschlußreich, unsere Erzählung mit anderen Beispielen dieses Typus zu vergleichen, weil sich dabei herausstellt, wie deutlich sie „in ihrer schauerlich ernsten Haltung" unter dem Zeichen des — allerdings noch primitiven — monotheistischen Jahwismus steht3). Zu demselben Ergebnis gelangen wir aber auch, wenn wir Sagen neben sie stellen, die nicht in diesem Motiv, sondern in der Umdeutung eines alten Naturfestes mit ihr verwandt sind. Während z. B. Hyakinthos durch den Diskos des Apollon getötet wird und auch die Parallelfiguren entweder durch den Grimm oder das Versehen eines Gottes fallen, ist es in der israelitischen Erzählung ein freies Gelübde und eine heroische Tat, die den Tod der Gestalt herbeiführen. Wir können also wieder einmal in einem kleinen Ausschnitt die u m s c h a f f e n d e K r a f t der i s r a e l i t i s c h e n R e l i g i o n bewundern. Gerade weil diese umgestaltende Kraft so groß ist, weiß die Erzählung selbst von dem alten Vegetationsmythus nichts mehr. Die Lösung der beiden Schichten voneinander, der mythischen und der sagenhaften, ist auch deshalb so schwer, weil beide gerade mit ihren Spitzen ineinander geschoben sind, d. h. weil die M o m e n t e in der Erzählung, die durch ihre Betontheit zur Deutung auffordern, nicht nur einen verhüllten m y t h o l o g i schen Sinn in sich bergen, s o n d e r n zugleich auch im menschl i c h e n Sinne b e d e u t u n g s v o l l sind. Gerade auf dieser Gemeinsamkeit der Motive beruht die geheime Anziehungskraft, welche die beiden sonst so verschiedenartigen Stoffe zueinander G r e ß m a n n , Anfänge Israels, S. 230. 2)

Vgl. v. d. L e y e n bei G u n k e l R G G I I I . Sp. 297; G u n k e l : Das Märchen

im A T (1917), S. 120; G r e ß m a n n a. a 0. S. 230; vor allem Jephtas Gelübde,

Archiv

gehende Untersuchung des Motivs und Zusammenstellung a)

Baumgartner:

f. Religionswiss. 18 (1915), S. 2400.,

B a u m g a r t n e r a . a . O . S. 2461.

der

eine

ein-

der Parallelen bietet.

Kapitel IV.

121

g e t r i e b e n u n d i h r e V e r s c h m e l z u n g e r m ö g l i c h t hat. vom

menschlichen

Standpunkt

T o c h t e r als J u n g f r a u s t i r b t ;

aus

So ist es a u c h

erschütternd,

der T o d

daß

Jephtas

e i n e r J u n g f r a u wird im

H i n b l i c k auf ihr u n e r f ü l l t e s G e s c h i c k b e i a l l e n V ö l k e r n b e s o n d e r s schmerzlich

betrauert').

Diesem Gedanken

in der „ A n t i g o n e " des S o p h o k l e s ; eigenen Tod im Hades, Mich

zu

Lebend

entführt

Schenker

der

allen dem

nicht

Es mir

Nun führt

Buh',

ertönte es

bald

als Braut

U n d an einer anderen Stelle heißt bevor Und

ergreift das

zarter

er mit

Brautlied Kinder

erscholl

Brautgesang;

Acheron

Und jetzt

Pflege

es:

Gewalt

mir

und

ertönt, mir

führt

der Ehe

beschieden

Stellen die Jungfräulichkeit des Mädchens nur

ihr

jugendliches

Alter;

heim1).

mich

In der E r z ä h l u n g v o n Jephtas Tochter nicht

ihren

Ufer

ein Hochzeitslied,

nimmer

w i r z. B .

voraus:

Acherons. Mir

begegnen

dort beklagt A n t i g o n e

dieses

mich

fort,

Glück ward1).

wird wie

an

ausdrücklich Moment

diesen

betont4),

scheint

m y t h o l o g i s c h e n S i n n e nicht o h n e weiteres deutbar z u sein,

im denn

*) Im Hintergrunde dieser besonders heftigen Trauer beim Tode von Jungfrauen, überhaupt von Unvermählten, scheinen alte Vorstellungen von Buhlgeistern zu liegen, die auf Erden um den Liebesgenuß gekommen sind und sich deshalb nach ihrem Tode, ruhelos umherschweifend, rächen, vgl. K a r g e : Rephaim, S. 540; R o h d e : Psyche II, S. 392 412. Daher werden auch bei manchen Völkern — anscheinend mit apotropäischer Absicht — besondere Umgänge um den Grabhügel von Ledigen vorgenommen, vgl. S a r t o r i : Sitte und Brauch I, S. 1 5 1 n . In einem schon mehrmals erwähnten babylonischen Zaubertext werden unter den umherirrenden, den Lebenden durch Quälereien besonders gefährlichen Totengeistern „eine unverheiratete Magd" und „ein unverheirateter Mann" genannt, J a s t r o w : Religion Babyloniens und Assyriens I, S 358. Die Ruhelosigkeit und Gefährlichkeit der Unvermählten nach ihrem Tode ist auch damit zu begründen, daß ihnen die Nachkommen fehlen, die ihnen den Totenkult vollziehen könnten, daher sind sie als Wiedergänger und Opfererpresser besonders gefürchtet. Auch die Scheinhochzeit, die zuweilen am Grabe von Jünglingen und Jungfrauen vollzogen wird, dürfte von da aus zu verstehen sein, vgl H. N a u m a n n : Primitive Gemeinschaftskultur, S. 38f. s 8 4 ) V. 8 1 0 - 8 1 6 . ) V. 9 1 6 - 9 1 8 . ) Jud l l 8 9 b .

122

Kapitel IV.

die meisten Vegetationsgötter (Adonis, Attis, Tammuz) werden im Gegensatz hierzu gerade liebend dargestellt. In der Sage ist dieser Zug viel verständlicher: beim Tode des einzigen Kindes erhöht er die Größe und Tragik des Opfers. Daß Jephtas Tochter das e i n z i g e K i n d ihrer Eltern ist, wirkt im Zusammenhang der Erzählung eben auch als ein Motiv, das ihren Tod vom menschlichen Standpunkt aus besonders rührend darstellen soll. Die Erzählung arbeitet also mit einer Häufung erschütternder Motive: das einzige Kind, die kaum erblühte Jungfrau wird durch ein Gelübde des eignen Vaters dem Tode überantwortet, und dies entscheidet sich noch dazu an seinem höchsten Ehrentage: Siegeslied und Leichenklage vermischen sich! Über die Art der K l a g e f e i e r hören wir leider nur wenig, und das dabei gesungene Leichenlied ist uns nicht erhalten. Es ist möglich, daß zur Zeit der Abfassung unserer Erzählung das viertägige Fest mit weiter Beteiligung begangen wurde; denn wir erfahren, daß die „Töchter Israels", nicht nur die Gileaditerinnen, daran teilnahmen. Es ist wahrscheinlich, daß es Jungfrauen sein mußten, die noch mit keinem Manne verkehrt hatten obgleich es in der Erzählung nicht ausgesprochen oder angedeutet wird. Wenn es so war, dann ist es nicht deutlich, ob dieser Ritus aus der alten Form der kultischen Feier oder aus ihrer Umwandlung zu Ehren von „Jephtas Tochter" stammt. Hingegen kann, wie wir schon gesehen haben, die Lokalisierung der Klagefeier in den Bergen nur aus dem alten Vegetationskult verstanden werden 2 ). Die Mädchen,, die den Kult pflegten, mögen über die Berge geschwärmt sein, Leichenlieder singend und die entschwundene Göttin suchend. Dieses Klagefest in den Bergen bedarf aber im Zusammenhang der späteren, sagenhaften Erzählung einer neuen Begründung. Denn die Opferung der Tochter Jephtas erfolgte ja nicht in den Bergen, sondern in Mizpa, dem Wohnort ihres Vaters; es wird ausdrücklich erzählt, daß sie aus den Bergen zu ihrem Vater zurückkehrte und daß er dann das Gelübde an ihr vollzog 3 ). Nach der vorliegenden Erzählung müßte also die Klagefeier ein Stadtfest von Mizpa, nicht aber ein Bergfest in 2)

G r e ß m a n n a . a . O . S. 229, Vgl. oben S. 117f. und G r e ß m a n n a. a. 0 . S. 229.

8)

V. 39.

123

Kapitel IV.

Gilead sein; denn der gegebene Festort wäre die Opferstätte. Die Erzählung sucht nun das Bergfest zu begründen, indem sie ein Moment einschiebt, nämlich die zwei Klagemonate in den Bergen vor der Opferung. Dieses Moment ist also in erster Reihe ätiologisch: so soll Jephtas Tochter zur Begründerin der Kultsitte am Kultort gemacht werden 1 ). Daneben besteht aber die Möglichkeit, daß die Klage um die Jungfrauenschaft (denn nur von einer solchen spricht der hebräische Text, nicht von einem „Sterben im Jungfrauenalter") irgendwo im wirklichen Leben ein Vorbild hatte. Und in der Tat ist diese Klage sehr verbreitet — und zwar als Hochzeitssitte. Unter den Hochzeitsliedern gibt es einen besonderen, ernsten Typus: „Lieder des Abschieds vom Elternhause und der Klage um Jungfrauschaft und Jugendlust" e ). B o c k e l hat eine ganze Reihe von Liedern dieser Art (aus Litauen, Oberschlesien, Böhmen, verschiedenen deutschen Gegenden, Estland, Finnland, Rußland, Frankreich, Griechenland usw.) gesammelt 3 ). Darunter sind Abschiedslieder der Braut und Abschiedslieder der Gespielinnen. Also auch hierin die Berührung mit der Erzählung von Jephtas Tochter. Diese Lieder haben vielfach einen geradezu tragischen Ton, in Rußland heißen sie sogar „Prichitan'ya", d . h . Leichenlieder 4 ). In einem besonders charakteristischen syrjänischen Abschiedsliede der Braut heißt es: Da Stunde, Als

geehrte

weinen Alle

nicht Zorn

Die

mit frohem,

harten

der

Tage

letzter,

seht ihr,

den

Steine

heitern muß

0

Sinne

ich

brausen,

bersten, ruft.

augenblicklich, Eltern.

lassen

ihr

Und mich

In

euch auf

des Frühlings

Wo die hohen Bäume wohl

singt

der

Mädchen

nun

verlasse, Kindheit,

die ich nun den

letzte gebiete,

meiner

Jetzo ivo der Kummerkuckuck, Früh

die

armes

Da ich alles Freunde

Gegen mich, Mit

es naht

Wo ich meiner Lieb Laß

in eurem Herzen

ivo alle Bäche

lingskuckuck

sitze

Tränen

bei

Hegt

Nun

nun

Jungfrau

Hundert

Freude

Alles,

ist

Wo noch gilt mein guter Wille,

scheide,

Wiesen

weilte,

ersten

Tagen,

stürzen

Und

Wo der

Kummerkuckuck,

die

FrühDoch

') B a u m g a r t n e r . «) B o c k e l : Psychologie der Volksdichtung2, S. 373. s ) Ebenda S. 374 ff. *) R a l s t o n a.a.O. S. 334. — Auch Thamar beklagt den Verlust ihrer Jungfrauenschaft, wie man sonst Tote betrauert (2. Saml3i9), vgl. oben S. 17"

124

Kapitel V.

noch früher werd' ich Arme In der neuen Heimat singen! Lebt nun wohl, geliebte Eltern! Lebe wohl, du Jugendfreude1)! Bei den alten Preußen und Litauern forderte die Braut nach ihrem Abschiedsmahl im Elternhause die - Gäste zu einer feierlichen Beweinung ihrer Jungfrauenschaft auf, die sie selbst durch eine Wehklage mit echten Klagerufen begann 2 ). Der Gedanke ist also zu erwägen, ob nicht vielleicht bei der Klage von Jephtas Tochter und ihren Gespielinnen um ihre Jungfrauenschaft eine eigentümliche Übertragung dieser Hochzeitssitte vorliegt. Damit schließen wir die Betrachtung der Göttertotenklage und ihrer Nachwirkungen im AT zunächst ab; wir werden gelegentlich noch Niederschläge kultischer Totenklagen in israelitischen Leichenliedern behandeln.

Kapitel V. § 1.

Reste hebräischer Leichenpoesie. Zwei Leichenlieder im Volkston.

Wir kehren nun zur privaten Totenklage zurück und beschäftigen uns mit den im AT ü b e r l i e f e r t e n L e i c h e n l i e d e r n und zwar zunächst mit dem L e i c h e n l i e d e J e r e m i a s auf Z e d e k i a J e r 382a, das wir mit der zu seinem Verständnis notwendigen Einleitung V. 21 wiedergeben 3 ): Wenn die (König Zedekia) die Übergabe aber verweigerst — das ist's, was Jahwe mich schauen ließ: 22Sieh, alle Weiber, die im Palaste des Königs von Juda noch übrig sein werden, die werden zu den Obersten cles Königs von Babel hinausgeführt werden und werden dabei singen: Es haben dich verführt und überwältigt deine guten Freunde, (5) Lockten4) deinen Fuß in den Sumpf, zogen sich zurück. (5) ') B o c k e l a. a. 0. S. 377 f. Ebenda S. 374 f. 3 ) Vgl. die Kommentare zum Buche Jeremia: H i t z i g (1841); D u h m (1901); C o r n i l l (1905); G i e s e b r e c h t ( 2 1907); H. S c h m i d t : Die großen Propheten (Schriften des AT in Auswahl II 2 (1914); V o l z (1922) und Studien zum Text des Jeremia (1920); ferner E r b t : Jeremia und seine Zeit (1902); R o t h s t e i n : Das Buch Jeremia (bei K a u t z s c h : Die heilige Schrift des AT I ( 4 1922). 4 ) Lies mit Y IJQtin (Duhm, E r b t , C o r n i l l , G i e s e b r e c h t , V o l z ) .

Kapitel V.

125

Die Behandlung des vorstehenden Liedes in diesem Zusammenhang bedarf noch einer Begründung; denn keinesfalls haben wir es an dieser Stelle mit einem bei der Bestattung aufgeführten Leichenliede zu tun. Es handelt sich vielmehr um ein Lied, das Jeremia in einer prophetischen Audition im voraus vernimmt, so daß seine Einstellung in den Zusammenhang des prophetischen Leichenliedes, mit dem sich diese Untersuchungen in den folgenden Kapiteln beschäftigen sollen, natürlicher erscheinen könnte. Aber dieses Lied steht den volkstümlichen Leichenliedern näher als den prophetischen Nachahmungen der Gattung und hat daher hier seine Stelle gefunden. Wir vergegenwärtigen uns zuerst die B e d i n g u n g e n , aus denen das p r o p h e t i s c h e E r l e b n i s , in welches das vorliegende Leichenlied hineingehört, entstanden ist: die Babylonier belagern Jerusalem (588—586), und König Zedekia läßt sich gegen seine Überzeugung von den „Patrioten" beeinflussen, die es um keinen Preis zu einer Übergabe der Stadt an den Feind kommen lassen wollen, obgleich gerade diese Übergabe nach der Überzeugung des Propheten der einzig verständige Schritt gewesen wäre. Jeremia rät unbedingt zu diesem Schritt; folgt Zedekia seinem Rat nicht, dann wird er von seinen Gesinnungsgenossen, die ihn jetzt zur Fortsetzung des Widerstandes anfeuern, nachdem sie ihn soweit gebracht haben, im Stich gelassen werden. Dann wird die ganze Angelegenheit mit einem Leichenliede schließen, d. h. mit dem Untergang des Königs. Wir begegnen hier der eigentümlichen seelischen Veranlagung der Propheten, mit der wir es noch später zu tun haben werden, daß Zwischenglieder in der Kette der Ereignisse einfach von ihnen übersprungen werden und in kühner, außerordentlich wirkungsvoller Weise nur das Schlußergebnis, die endgültige Katastrophe, vorweggenommen wird '). Unser Leichenlied wird in keiner der wirklich gebräuchlichen S i t u a t i o n e n gesungen, aber in einer Lage, deren Erfindung eines großen Dichters würdig ist: es ist der schimpfliche Augenblick, in dem der Harem des besiegten Königs den feindlichen Offizieren preisgegeben wird. Die Frauen des Harems, die von *) Vgl. Gunkel: Die israelitische Literatur, Kultur der Gegenwart 17, S. 86.

126

Kapitel V.

der Königsburg hinaus ins Lager getrieben werden'), singen ihrem bisherigen Herrn das Leichenlied2), ehe sie dem neuen gehören sollen, das Letzte, was sie für ihn tun können! Ob nun die Leiche des Königs in der Nähe gedacht ist, ja selbst, ob er als tot vorgestellt wird oder nicht, ist gleichgültig; es ist ja eben eine Vision, die uns mitgeteilt wird, keine alltägliche Wirklichkeit. Für sein Reich, für seine Hauptstadt und seinen Palast ist jedenfalls der König in diesem Augenblicke tot. Auch daß Jeremia dem Zedekia an anderer Stelle einen friedlichen Tod und eine feierliche Leichenklage verheißt 3 ), darf uns nicht verwundern: diese freundlichere Verheißung scheint für den Fall zu gelten, daß Zedekia sich rechtzeitig ergibt 4 ). Das Lied selbst wird in seinem V e r h ä l t n i s zu der volkstümlichen G a t t u n g d e r Qina sehr verschieden beurteilt. Daß es dieser Gattung überhaupt angehört, hat B u d d e in seinem Aufsatz „Ein althebräisches Klagelied" ö) festgestellt. Er hält es sogar für „ein wirkliches Klagelied welches bei solchen Todesfällen von den Klageweibern gesungen wurde und jedem geläufig war'"). Auf einen anderen Standpunkt stellt sich Cornill, der das Lied als aus der Situation herausgeflossen, also von Jeremia im Augenblick völlig frei geschaffen ansieht. Die Parallele Obadia 7 bezeichnet er als sekundär'); wir folgen ihm in diesem Punkt und schalten damit diese Stelle für die Behandlung unserer Frage aus. G i e s e b r e c h t bestreitet überhaupt die Zugehörigkeit dieses Liedes zur Gattung der Qina; er hält es für „ein Spottlied und keine Totenklage" 8); es wäre seiner Ansicht nach sonst „ein Leichtes gewesen, den Jammer und das Mitgefühl der Frauen zum Ausdruck zu bringen" 9). Die Vermutung B u d d e s , daß Jeremia aus dem lebendigen Liedervorrat der Klageweiber geschöpft habe, erscheint uns aller') Etwa in der Trauerhaltung, wie wir sie auf den oben S. 17 * erwähnten assyrischen Abb. beobachtet haben. -) Vgl. über Klagen des Harems oben S. 68 f. 3 s ) Jer 346. ") Vgl. C o r n i l l a. a. 0. S. 377. ) ZAW 3, S. 299ff. 6 ) Ebenda S. 305, vgl. auch ZDPV 6, S. 194: „ . . . Ein echtes Gelegenheitsklagelied , wie es bei der Leiche eines in ungleichem Kampfe gefallenen Mannes gesungen zu werden pflegte." ') A . a . O . S. 404f. 8 ) Ebenso S c h m i d t , V o l z , R o t h s t e i n , vgl. z. St. 9 ) G i e s e b r e c h t a . a . O . S. 208.

Kapitel V.

127

dings zu weitgehend, da ihr Vorrat kaum auf so individuelle Fälle wie den in diesem Liede behandelten zugeschnitten war J). Doch muß man zugeben, daß der volkstümliche Ton des Leichenliedes darin ganz vorzüglich getroffen ist. Der Einwand von G i e s e b r e c h t wird für den hinfällig, der Leichenlieder aus dem heutigen Palästina und Syrien kennt. Auch diese enthalten häufig nichts als Tatsachen und keine ausdrückliche Klage; diese Tatsachen sind eben erschütternd genug, um die eigentümliche Stimmung des Leichenliedes hervorzubringen. Auch in der Kürze und im Ton ist das vorliegende Leichenliedchen diesen Liedern so ähnlich, daß es, ebenso wie die Qina 2. Sam 383 f. in einer der modernen Sammlungen von Musil oder D a l m a n stehen könnte, ohne aufzufallen. Bei einer feierlichen Leichenklage war vielleicht ein so kurzes Liedchen wie dieses nicht das einzige vorgetragene, sondern, wie wir es uns auch bei dem Leichenliede 2. Sam ßsaf. vorzustellen haben, eins unter vielen. Daß die Propheten, um die Wirkung ihrer Rede zu steigern, Gattungen der Volksdichtung aufgegriffen haben, ist uns ja auch sonst bekannt 2 ). Ob sie bei solchen Anwendungen den vorhandenen Liedervorrat ihrer Zeit benutzt oder nur den Stil der Gattung nachgebildet haben, muß von Fall zu Fall untersucht werden. Wir entscheiden uns jedenfalls bei dem vorliegenden Leichenliedchen im letzteren Sinne. Aber nicht nur vom literargeschichtlichen, sondern auch vom psychologischen Standpunkt aus wird man der Ansicht nicht zustimmen können, daß dieses Lied ein Spottlied sein soll3) oder daß hier die Gattung der Qina auch nur mit spöttischer Absicht vom Propheten angewandt worden wäre. Jeremia will doch durch dieses Lied, das er dem König in die Ohren singt — wie B u d d e annimmt, in der Melodie des Leichenliedes oder wenigstens mit Andeutung ihres Tonfalls 4 ) — eine ganz bestimmte Wirkung auf sein politisches Handeln ausüben. Zedekia soll so handeln, daß ») Vgl. oben S. 73. 93!. ) Andere Beispiele dafür sind die Trinklieder Jes 22is 56i2, das Wächterlied Jes 21n und das Dirnenliedchen Jes 23ie, vgl. G u n k e l s Einleitung zu H. S c h m i d t : Die großen Propheten, S. LIX. 3 ) Auch Duhm und C o r n i l l lehnen G i e s e b r e c h t s Auffassung ab 4 ) ZAW 3, S. 304. 2

128

Kapitel V.

die vom Propheten ausgemalte Situation nicht eintrifft, daß die Frauen also keine Gelegenheit haben, ihm dieses Leichenlied zu singen. Jeremia will demnach den schwachen König ängstigen, indem er ihm, der in seiner Kurzsichtigkeit nicht einmal die nächsten Folgen seiner unklugen Politik übersieht, ihre allerletzte Konsequenz als eine nackte Tatsache — ohne Wehklage und ohne Spott — vor Augen stellt. Prophetischer Spott sieht anders aus; wer eine echte Probe davon kennen lernen will, braucht nur das Leichenlied auf die Höllenfahrt des letzten Babylonierkönigs *) zu betrachten! Wir beschäftigen uns nun mit den Einzelheiten des Liedes. Es wendet sich in d i r e k t e r A n r e d e an den T o t e n , wie es ja zum Stil der Leichenklage gehört 2 ). Das einzige Motiv, welches das kurze Leichenlied enthält, ist die T o d e s a r t : der Tote ist durch Treulosigkeit gefallen, und zwar — dies ist ein Moment, das die Tragik des Todesfalles vertieft — durch Treulosigkeit der Freunde und Gesinnungsgenossen. Das Lied ist im Ton der A n k l a g e gehalten, die sich hier gegen diese treulosen Freunde richtet. Ursprünglich und gewöhnlich wurde sie, oft in Verbindung mit dem Motiv der Rache, gegen den Mörder erhoben 8 ). Ahnlich wie hier wird in einem Leichenliede aus dem peträischen Arabien von der Todesart im Ton der Anklage gesprochen, die sich in diesem Liede gegen die Mörder richtet: Schürze dein Hemd, mach' deine Füße leicht, sie haben dich eingeholt, den ich beweine, Sie zerschnitten dein Fleisch stückweise4).

Unser Lied enthält auch ein Bild für den Untergang des Helden, das Bild vom Sumpf, in den der Fuß des Betrogenen gelockt wurde, bis er hülflos darin stecken blieb. Es ist denkbar, daß Jeremia bei seiner Anleihe an die volkstümliche Leichenpoesie so weit gegangen wäre, hier ein Bild zu wählen, wie es in wirklichen Leichenliedern vorkam, und zwar als euphemistische Bezeichnung für Grab oder Unterwelt 6 ), worin der Tote rettungslos versinkt. Ein palästinisches Leichenlied wendet in der Tat dasselbe Bild wie Jer 38s2 in diesem Sinne an: s Jes 14*ff.p vgl. Kap. VIII, § 1. ) Vgl. oben S 50. 100. 4 ) Vgl. oben S. 88. 98. ) M u s i l a. a. 0. III, S. 439. 6) Vgl. oben S. 107f.

3

129

Kapitel V.

Zieht nicht so eilig von dannen, vor euch ist Sumpf und Lehm, Vor euch ist der Wurm der Verwesungl). Das L e i c h e n l i e d D a v i d s auf A b n e r 2. Sam Ssaf.") ist die einzige wirklich aufgeführte Totenklage, die uns im AT überliefert ist; David hat dieses Lied selber bei der Bestattung Abners gesungen. Situation und öffentlichen Zweck dieser Qina haben wir bereits kennen gelernt 3 ). Sie lautet: 33b 34

Mußte Abner sterben eines Gottlosen Tod? Deine Hände waren nicht gebunden, deine Füße nicht in Fesseln geschlagen, (Und) fielst (doch), ioiel) Frevler fallen!

(4) (3 + 4?) (3)

Auch dieses Lied hat, wie schon gesagt, ganz den Charakter des zünftigen Leichenliedes, wenn es auch wie das vorher behandelte von einem Dichter für einen bestimmten Todesfall verfaßt ist. Es zeigt nicht das Fünfer-Versmaß, sondern ziemlich unregelmäßig gebaute Metren, vielleicht nach dem Schema 4 | 3 — — | 4- | B s ). Das einzige Motiv ist hier wie in dem Liede Jer 8822, mit dem das vorliegende Leichenlied inhaltlich überhaupt einige Ähnlichkeit hat, das der T o d e s a r t . Hier wie dort handelt es sich um einen Helden, dem auf heimtückische Weise der Untergang bereitet worden ist, dort durch Unzuverlässigkeit der Freunde, hier sogar durch Meuchelmord. Das tragische Moment in dem Tode Abners besteht also nach Davids Leichenlied in der Sinnlosigkeit, daß man einen freien, wehrhaften Recken durch meuchlerischen Überfall in den Zustand der Wehrlosigkeit versetzt hat, in dem sich sonst nur ein an Händen und Füßen gebundener Verbrecher befindet. In einem neuarabischen Leichenliede finden wir auch das Mitleid mit der Wehrlosigkeit des Gefallenen: ') D a l m a n a.a.O. S. 329, 8. ) Vgl. die zu 2. Sam lieft, in § 2 dieses Kapitels angegebene Literatur. ») Vgl. oben S. 76f. 89f. 4 ) 'OD1? ist Zusatz, vgl. V. 33b ( S i e v e r s : Metr. Stud. I, S. 424, K i t t e l ) . б ) Die metrische Gliederung ist nicht ganz klar; G u n k e l vermutet wegen der Ungleichmäßigkeit von V. 34a den Ausfall eines Wortes bei HCIDN (bei S i e k e r s a. a. 0 . 1 , S. 578). а

Beihefte z. ZAW 36

9

130

Kapitel V.

0 Schläger, schlage nicht den Nackten, sein Leib ist zart und sein Hemd von Linnen, Er besitzt keine Kraft tcider das Schlagen1). In unserem Liede wird die Wehrlosigkeit des Ermordeten als beschimpfend und unwürdig empfunden. Auch in dem vorhin zu Jer 38aa herangezogenen Leichenliede bezeichnen die Worte: Sie zerschnitten dein Fleisch stückweise2) die Ehrlosigkeit des Todes. Der Körper des Erschlagenen ist nicht wie der eines ehrlichen Helden behandelt worden. Genau entgegengesetzt wie in diesen Liedern heißt es z. B. in dem Leichenlied um Attila: Er fand nicht durch eine Wunde der Feinde, nicht durch den Trug der Seinigen, mitten im freudigsten Glück, im Glanz seines Volkes, sonder Schmerzensempfindung, den Toda). Wenn die Verse in Davids Leichenlied ziemlich frei gebaut sind, so ist der gedankliche Rhythmus des Liedes um so strenger und reiner: die erste und vierte Zeile drücken denselben Gedanken, daß der Held einen unehrlichen Tod sterben mußte, in verschiedener Form aus; der Schluß kehrt also zum Anfang zurück, während der mittlere Vers den Einwand gegen diese Todesart erhebt. Wie in dem Liede Jer 38 22 werden auch hier k e i n e L o b e s e r h e b u n g e n ausgesprochen. Das vollständige Fehlen der preisenden Motive können wir in vielen Leichenliedern um gewaltsam Getötete beobachten*). Die Stimmung in diesen Liedern ist eben zu aufgeregt zu ruhiger Betrachtung. Freilich enthält Davids Fassungslosigkeit über den unehrlichen Tod Abners unausgesprochen das feine Lob, daß er einen untadeligen Helden in ihm gesehen hat. Natürlich fehlen in einem solchen Leichenliede erst recht die versöhnenden Motive. Das Motiv vom ehrlosen Tode wird im ersten Verse in die S t i l f o r m der F r a g e gekleidet. Wie in allen aufgeführten Leichenklagen richtet sich die Frage nicht an eine unbestimmte Adresse, sondern an die Trauerversammlung. Sie drückt hier die Unfaßlichkeit des Todesfalles aus; ähnlichen Sinn hat folgende 2 ) Ebenda III, S. 439. ') Musil a. a. 0. III, S. 439. s ) Jordanes: Gotengeschichte XLIX, 257. 4 ) Siehe außer den beiden aus der Musilschen Sammlung angeführten Beispielen Dalman a.a.O. S. 320, 7. 330, e.

Kapitel V.

131

Frage in einem neuarabischen Leichenliede: Wie kommt es, daß er so eilig von seinen Freunden schied')? oder die Häufung von Fragen in dem Leichenliede auf einen Häuptling in Fez: Wer ist nun noch sicher? ... Wo soll Fez sich jetzt nach einem Beschützer umsehena) ? Dasselbe Motiv, das die Frage enthält, wird in unserem Leichenliede in einer direkten Anrede an den T o t e n wiederholt, die den Ton des mitleidigen Erstaunens hat. Der Gedanke, daß der Ermordete als freier Mann überfallen worden ist, wird nach hebräischer Stilregel in zwei parallelen Wendungen ausgedrückt: seine Hände waren nicht gebunden, seine Füße n i c h t in Fesseln geschlagen. Diese gewichtigen N e g a t i o n e n kommen sehr oft in Leichenliedern vor; das tragische Moment wird dann herausgearbeitet, indem der Todesfall als eine Negation alles Normalen hingestellt wird. Z. B. klagt Andromache um Hektor: Denn nicht hast du mir sterbend die Hand aus dem Bette gereichet, a noch ein Wort mir gesagt voll Weisheit ). In der Aeneis redet die Mutter des Euryalus ihren toten Sohn folgendermaßen an: ... Nicht war dich, der du in solche Gefahren dich stürztest, scheidend zu sprechen, der elenden Mutter vergönnt? Nicht hob' ich Mutter dich, deine Leiche begleitet, 4 zugedrückt dir die Augen oder die Wunden gewaschen ). In einem neuarabischen Leichenliede um eine junge Frau heißt es: Sie war noch nicht alt, und ihre Schläfen waren noch nicht grau1'). § 2. Die Qina in dichterischer Gestaltung. Wir haben im Vorhergehenden das Wenige kennen gelernt, was uns von wirklicher Leichenklage im AT überliefert ist. Wir können aber die allgemeinen Beobachtungen, die wir über Motive und Stilformen des Leichenliedes gemacht haben, auch für Israel noch in ausgiebigerer Weise als bisher bestätigen, denn die L e i c h e n k l a g e ist in Israel wie auch bei manchen, anderen Völkern zur L i t e r a t u r g e w o r d e n . Die von einer Zunft gepflegte Gattung der wirklich an der Leiche aufgeführten Klage ist in späterer l

) L i t t m a n n a. a. 0. S. 134, III. ) Denham and Clapperton: Narrative of Travels and Discoreries in Northern and Central Africa II (1826), S. 174. ») Uias XXIV, 743 f. 4 ) Aeneis IX, 483f. 486f. ') L i t t m a n n a.a.O. S. 133,94. 9* a

132

Kapitel V.

Zeit von Dichtern höherer Art aufgenommen und umgestaltet worden. Diese Dichter haben ihre Lieder aufgeschrieben und uns auf diese Weise die alten Inhalte und Formen des Leichenliedes erhalten. Wir erfahren dies für Israel aus der Stelle 2. Sam 1 is: Davids Leichenlied auf Saul und Jonathan ist im „Buche des Redlichen" aufgeschrieben; dies war eine Sammlung israelitischer Gesänge aus verschiedenen Gattungen *). Nach der Stelle 2. Chr 35 25 hat es aber auch eine besondere Sammlung „Qinöth" gegeben, in der u. a. Leichenlieder auf König Josia gestanden haben sollen, darunter auch ein von Jeremia verfaßtes (oder mehrere?). Diese Sammlung ist uns nicht erhalten, denn das kanonische Buch der Threni enthält keine Leichenlieder auf wirkliche Tote. Wir ziehen aber immerhin aus dieser Notiz den wichtigen Schluß, daß Leichenlieder als literarische Gattung empfunden und bewußt gesammelt worden sind2). Es muß sich in dieser Sammlung um dichterische Leichenlieder auf berühmte Tote gehandelt haben, nicht um Beispiele der zünftigen Klage; denn diese wurden, wie wir gesehen haben, nur in mündlicher Tradition fortgepflanzt. Dieselbe Entwicklung von der volkstümlichen Nenie zum literarischen Leichenlied finden wir bei den Römern. Die schon häufig erwähnten „Parentalia" des A u s o n i u s , denen er eine zweite Sammlung von Leichenliedern, „Commemoratio Professorum Burdigalensium", zur Seite stellt, sind Beispiele solcher literarischen Leichenlieder.

E i n anderer Vertreter dieser Gattung, auch aus

der römisch-gallischen Kultur, ist S i d o n i u s Apollinaris 3 ).

') Vgl. Jos 1013. ) Im übrigen ist die Notiz ziemlich unklar. Es scheinen hier zwei verschiedene Dinge durcheinander gebracht zu sein: die Sammlung aufgeschriebener, also literarischer Leishenlieder und irgend eine von zünftigen Leichensängern und -Sängerinnen geübte feststehende Sitte. Damit kann eine regelmäßig wiederkehrende Klagefeier für König Josia gemeint sein (vgl. oben S. 79. 87) oder vielleicht die Gewohnheit der zünftigen Leichensänger, in späteren Liedern auf Gefallene an den Namen dieses Heldenkönigs anzuknüpfen. Für diese letztere Auffassung bringt B u h l , ZAW 29 (1909), S. 314 einen arabischen Beleg: „Und bis auf den heutigen Tag ist es Sitte, daß die Weiber, wenn Einer von den Ansaren gestorben ist, erst Hamza (einen in der Schlacht bei Uhud gefallenen Oheim Muhammeds) und dann den Toten beweinen." 3 ) Vgl. zur Entwicklung der römischen Nenie de la V i l l e de M i r m o n t : La „Newa", Revue de Philologie 26 (1902), S. 2633. 335ff. 2

Kapitel V.

133

Ob wir es im einzelnen Falle mit einem wirklich aufgeführten oder literarischen Leichenliede zu tun haben, braucht nicht unbedingt aus dem Liede selbst hervorzugehen. Bei A u s o n i u s wird die Tatsache, daß seine Leichenlieder Literatur sind, ganz deutlich: er spricht in der Praefatio davon, daß die Teuren, die er jetzt besingen will, schon durch ein angemessenes Begräbnis bestattet und durch Tränen beweint sind'). Das Merkmal aller ursprünglichen Leichenklage, ihre Aufführung an der Leiche, fehlt also diesen Liedern. Ein schönes Beispiel für das L e i c h e n l i e d in dichterischer Gestaltung bietet uns das AT in D a v i d s L e i c h e n l i e d auf die G e f a l l e n e n v o n Gilboa 2 ). Daß dieses Lied nicht in Anwesenheit der Leichen gesungen worden ist, wissen wir nur durch einen Zufall: der Dichter ist den Toten fern, er singt sein Lied im Feindeslande. Ob das Leichenlied selbst einen volkstümlichen oder literarischen Charakter trägt, werden wir erst nach der Betrachtung des Liedes erwägen können. 2. Sam liB-s? 3 ). V. 19. Streiche den Artikel und lies Hil nach Ez 30a (Greßmann). — Das 2. Versglied ergänzt nach V. 25 ( G r e ß m a n n 1 ) . — V. 20. n t i O r v ^ W — bß. Streiche mtr es ]D und den Artikel vor CiHji. — V. 21. Füge nach LXX T P ein, und zwar nicht vor ( K l o s t e r m a n n , S m i t h , Nowack), sondern vor QD^y (BH). — Nach LXX L @ Q j e se ich nniDn "Ht£>. — ^CD (Greßmann). — "63 ( J e n s e n : Gilgamesch-Epos I (1906), S. 4751, G r e ß m a n n ) . — Streiche JDttd als erklärenden Zusatz (Gunkel). — V. 22. üiiypi (Budde, G r e ß m a n n ) . — V. 23. Stelle das Zaqeph zu DD^Sttm um (Lohr, D r i v e r ) . — Y. 24. ~by statt "^N. — D"0"HD für CWiy ( G r a e t z : Geschichte der Juden I (1874), S. 1 9 2 K l o s t e r m a n n , S m i t h , G r e ß m a n n ) . — V. 25 ist als Variante zu V. 19 zustreichen ( G r e ß m a n n , R o t h s t e i n ) . — V. 26. ¡nJID1 ist, entgegen der Akzentuation, zur 2. Halbzeile gezogen ( K l o s t e r m a n n ) . — HN^DJ ( K i t t e l ) . l

) A. a. 0. V. II. ) Der Name „Bogenlied", den dieses Leichenlied herkömmlich nach V. 18 führt, beruht auf Textverderbnis (vgl. B u d d e z. St.). 3 ) Vgl. die Kommentare zu den Samuelisbüchern: K l o s t e r m a n n (1887); L o h r ( 3 1898); H. P. S m i t h (1899); N o w a c k (1902); B u d d e (1902); G r e ß m a n n : Die älteste Geschichtsschreibung und Prophetie Israels (Die Schriften des AT in Auswahl I I I ('1910, 2 1921); wo in den obenstehenden textkritischen Bemerkungen keine Auflageziffer angegeben ist, ist die 2. Aufl. gemeint); K i t t e l (bei K a u t z s c h : Die Heilige Schrift des AT I (4 1922)). Ferner W e l l s

134

Kapitel V.

"Weh, du Stolz Israels auf deinen Höhen erschlagen! Ach, wie sind die Helden gefallen im dichtesten Kampf! 50

Meldet's nicht in Gath, noch verkündet!s auf Askalons Gassen, Daß sich nicht freuen der Philister Töchter, nicht jubeln die Töchter der Unbeschnittenen!

§ 2

(5) (5) (5) (3 + 3)

51

Ihr Berge von Gilboa, nicht Tau noch Regen fall' auf euch, ihr Todesgefilde! (4 + 4) Denn dort ward besudelt der Helden Schild, der Schild Sauls, die Waffe des Gesalbten, (4 + 4) 12 Mit dem Blut der Erschlagenen, mit dem Fett der Helden. (4) Der Bogen Jonathans wich nie zurück, und Sauls Schwert kam nie leer heim. "Saul und Jonathan, einander lieb und hold, im Leben wie im Tode nicht getrennt, Waren schneller als Adler, stärker als Löwen. 44

Ihr Töchter Israels weint über Saul, Der euch gekleidet in Purpur und Linnen, der Goldgeschmeide gehaftet auf euer Gewand! ist mir weh um dich, mein Bruder! Jonathan, wie warst du mir so hold! Wundersamer war mir deine Liebe, als Frauenliebe (ist).

(4 + 4) (4 + 3) (4) (4) (3 + 3)

"Es

(3 + 3) (5)

sl

Ach, wie sind die Helden gefallen und verdorben die Waffen des Streits!

(3 + 3)

Dieses Lied beginnt so, als ob es eine große Leichenklage auf alle in der Gilboaschlacht Gefallenen werden wollte, und wir dürfen wohl aus diesem Anfang schließen, daß es solche g r o ß e T o t e n k l a g e n um s ä m t l i c h e in einem Kampfe g e f a l l e n e H e l d e n gegeben hat. Das Eigentümliche an dem Liede besteht b a n s e n : Der Text der Bücher Samuelis (1871); D r i v e r : Notes on the Hebrew Text and the Topography of the Books of Samuel 1913); R o t h s t e i n : Die Klagelieder Davids, Atl. Studien für K i t t e l (1913), S. 154ff.; T i k t i n : Kritische Untersuchungen zu den Büchern Samuelis (1922).

Kapitel V.

135

aber darin, daß sich in den folgenden Strophen die Klage immer individueller zuspitzt, bis sie sich am Schluß der letzten Strophe wieder allen Helden zuwendet. Wir haben es also mit einem Strang zu tun, der allmählich aufgedreht wird: aus der Schar aller toten Helden werden erst die beiden Fürsten Saul und Jonathan herausgehoben; dann wird der Faden noch feiner: der Dichter vertieft sich in den Verlust des Herzensfreundes. Schließlich werden die Fäden wieder kraftvoll zu einem Strange zusammengefaßt. David beteiligt sich also zunächst an der offiziellen Trauer, er klagt um die, die allgemein beweint werden; aber sein Gefühl geht mit ihm durch und klammert sich an den geliebten Freund. So gelangt er erst auf dem Umweg der öffentlichen Trauer um das Heer und den König dahin, wohin ihn sein persönliches Empfinden drängt. Wir beobachten also hier einen r i n g e n d e n I n d i v i d u a l i s m u s , der es noch nicht vermag, sich von vornherein frei auszusprechen. So wagen sich die individuellen Gefühle zuerst nur im Schutze der hergebrachten und allgemeinen hervor. Dieser psychologische Vorgang findet in der Struktur des zweiten Teils unseres Liedes einen deutlichen dichterischen Ausdruck. In der 4. Strophe sucht David noch das Gleichgewicht zwischen den beiden großen Toten, Saul und Jonathan, zu wahren: er spricht abwechselnd von beiden, bis er sie in V. 23 verbindet. In der 5. Strophe löst er aber diese Verbindung wieder, indem er die Klage um Saul an die Töchter Israels abgibt und dann selbst um Jonathan weiter klagt. Gerade diese abwechselnde Verschlingung und Lösung der Fäden macht einen Reiz des Liedes aus. Nach dem von uns angenommenen Text würde unser Lied mit einem W e h r u f begonnen haben. Wir haben schon andere Formen des hebräischen Wehrufs kennen gelernt und gesehen, daß der Wehruf überall aus der aufgeführten Totenklage stammt und dort vom Chor gesungen wurde'). Wie in jenen versprengten Wehrufen „weh, Bruder" usw., so verbindet sich auch hier im Leichenliede die Interjektion mit einer Anrede an die Toten. Auch im Arabischen fangen die Leichenlieder manchmal mit „o" (ja) und einer Bezeichnung des Toten an, z. B. „0 Brüderchen" 2), 2

Vgl. oben S. 83 fi. ) M u s i l a.a.O. III, an 3 Stellen: S. 435. 440 (2mal).

136

Kapitel V.

„ 0 unser junger Häuptling" '), „0 die mit den Armspangen""). In der aufgeführten Leichenklage erklang aber der Wehruf meist nicht am Anfang, sondern am Schluß eines Abschnittes8), begreiflich genug, da er ursprünglich vom Chor gesungen wurde und nicht dieser, sondern Vorsänger oder Vorsängerin die Totenklage anstimmte. Im Hebräischen hat die zünftige Leichenklage anscheinend mit einem f e s t s t e h e n d e n A n f a n g s w o r t eingesetzt, das uns David auch in seinem Leichenlied überliefert hat, mit dem Wort 'ek 4 ). Daß dieses Wort herkömmlich den Anfang des zünftigen Leichenliedes bildete, schließen wir aus den vielen übertragenen Anwendungen der Totenklage im AT, die dieses Wort, und zwar meistens gerade am Anfang, aufweisen. Die ursprüngliche Form des Wortes war 'ekä e ); die abgekürzte Form 'ek kommt besonders in prophetischen Leichenliedern vor"). Das Wort ist etwa „ach wie" zu übersetzen; es richtet sich zuweilen in direkter Anrede an den Toten'), an anderen Stellen, wie auch in Davids Leichenlied, verbindet es sich mit der dritten Person. In diesem Wort hat sich die wehmütige Grundstimmung des Leichenliedes zu einer festen Stilform verdichtet. Auch sonst ist der Anfang der literarischen Einheit in der hebräischen, wie überhaupt in der antiken Poesie häufig durch die Sitte gegeben; so beginnt der hebräische Hymnus ganz gewöhnlich mit „Singet dem Herrn", die prophetische Scheltrede mit „Ha ihr, die ihr . . . . " " ) . David hat nun sein Lied nicht mit dem feststehenden Anfangswort des zünftigen Leichenliedes begonnen; auch darin zeigt er die Freiheit des großen Dichters. Andrerseits wurzelt er so stark in der volkstümlichen Poesie, daß das für die Gattung charakteristische Wort auch durch sein Lied hindurchklingt, um die Stimmung zu erwecken, welche die so oft gehörte Leichenklage in jedem Israeliten auslöste. Er verfährt etwa so wie ein moderner Komponist, der die Melodie eines alten Volksliedes in seinem Werk als Motiv verwendet. Diese Verwendung ist gerade deshalb so wirksam, weil das Wort 'ek im Kehrvers®) steht, ») Ebenda an 2 Stellen: S. 441f. ') Vgl. oben S. 83. *) TpN.

2

5

) L i t t m a n n a a. 0 . S. 132, 89. ) n ^ N , T h r l i 2 i 4,.a.

7 •) Z. B. Jes 14«. m Ez 26'«. ) Z. B. Jes 14i 2 Ez 26it. 9 ) G u n k e l : Atl. Literatnrgeschichte, RGG I (1909), Sp. 1192. *) Vgl. zum Kehrvers oben S. 103 f. Da der Kehrvers aus dem vom Chor

Kapitel V.

187

der mit abgewandeltem zweiten Gliede die erste und letzte Strophe abschließt. Die inhaltliche Bedeutung des Kehrverses in unserem Liede besteht darin, daß er bei der immer individuelleren Zuspitzung der Klage, die wir beobachtet haben, den pietätvollen Gedanken an die große Schar der toten Helden doch aufrecht erhält. Wir haben zu diesem Kehrvers eine bemerkenswerte Parallele 1. Makk 9 2 i. Hier lautet der bei der Totenklage um Judas Makkabäus wirklich gesungene Kehrvers oder auch vielleicht der Anfang des Leichenliedes: Wie ist der Held gefallen, der Retter Israels')/ Diese Übereinstimmung mit dem Kehrvers in Davids Leichenlied legt den Gedanken nahe, daß David bei seiner Anleihe an die zünftige Leichenpoesie nicht nur das Anfangswort, sondern vielleicht sogar einen f e s t s t e h e n d e n V e r s benutzt hat, der dem heroischen Typus 2 ) des Leichenliedes geläufig war und bei dem nur von Fall zu Fall der Singular durch den Plural ersetzt und das zweite Glied abgeändert wurde; auch in Davids Leichenlied kommt es ja in zwei verschiedenen Fassungen vor. Dann hätte David also wirklich aus dem lebendigen Yolksgesang geschöpft, und unsere Vermutungen, daß die zünftige Leichenpoesie die Gebundenheit durch die Sitte mit einer gewissen Bewegungsfreiheit vereinigt habe 3 ), würden durch diese Beobachtung bestätigt. Solche Kehrverse, die mit Abänderungen immer wieder vorkommen, finden sich auch bei anderen Völkern, die eine zünftige Leichenpoesie haben. Im Neuarabischen ist der Kehrvers „Wie schade (ja höf) um den und den" oder „um die und die" sehr häufig; er kommt z. B. in folgenden verschiedenen Formen vor: Wie schade um (die und die), daß sie tot ist*)! Wie schade, o Parfüm, du betauender, wie schade um die Gestalt, daß sie hingestreckt wird1)! gesungenen Wehruf entstanden ist, stehen in unserem Liede zwei verschiedene stilgeschichtliche Entwicklungsstufen, Wehruf und Kehryers, nebeneinander. *) Im hebräischen Original ist dies ein Fünfer gewesen. 3 ») Vgl. oben S. 94. ) Vgl. oben S. 72f. 93. 4 6 ) L i t t m a n n a. a. 0. S. 133, 94. ) D a l m a n a. a. 0. S. 318.

138

Kapitel V.

Die Mutter der Kinder ist ausgestreckt, wie schade um sie! Sie starb so jung'). ....

wie schade um den Vater Slemans .. ").

Einen ganz ähnlichen Kehrvers wie Davids Leichenlied enthält die Totenklage auf den afrikanischen Häuptling Boo Khaloom: Boo Khaloom, der Gute und Tapfere, ist gefallen*). Wir betrachten nun unser Lied im Zusammenhang. An seinem Anfang steht wie in vielen Leichenliedern, hier mit dem Wehruf verbunden, die V e r k ü n d i g u n g d e s T o d e s , die wir auch aus der Aufführungsart der Leichenklage erklärt haben*). Andere Beispiele dafür sind folgende: Heut haben sie 'All getötet5)! Was gibt es dort, ihr Frauen? Selman Toto ist erschossen worden0)! Mein Sohn ist im Kampfe gefallen'')! ...... Der unsres Stammes Stolz war, der blinde Sänger ist tot*)! Es ist sehr bezeichnend, daß auf die Verkündigung des Todes in unserem Liede unmittelbar der Kehrvers folgt, der ja eine Fortentwicklung des vom Chor gesungenen Wehrufs ist, denn in der wirklich aufgeführten Leichenklage hat dieser gewiß sofort eingesetzt, nachdem die Vorsängerin den Todesfall verkündet hatte. Noch greifbarere Spuren derselben liturgischen Aufführungsart trägt das an sich durchaus literarische Adonislied des Bion. Es beginnt mit den Worten: Ich klag' um Adonis: „Adonis ist tot, Adonis, der holde Knabe!" Unmittelbar darauf heißt es: J

s ) Musil a. a. 0. III, S. 437. ) Dalman a. a. 0. S. 339. 4 ) Denham-CIapperton a. a. 0. II, S. 174. ) Vgl. oben S. 101. 5 ) L i t t m a n n a. a. 0. S. 118, 80. ") v. Hahn a. a. 0. II, S. 137. ') Totenklage um den Königssohn der Madagasker, Herder: Stimmen der Völker a. a. 0 . 1 2, S. 499. 8 ) Totenklage der Tscherkessen, B o d e n s t e d t a.a.O. III, S. 171. 3

Kapitel V.

139

„Adonis ist tot, der holde Knab',u klagen mit mir die Eroten1). In diesem Liede folgt also auch auf die Verkündigung des Todes, hier allerdings in wörtlicher Wiederholung derselben, als Kehrvers des Ganzen die Wehklage des Chores. Der „Stolz" 4 ) Israels, dessen Untergang hier — in seltsamer dichterischer Umbiegung der alten Stilform — mit direkter Anrede an die Toten selber verkündet wird, ist seine junge Mannschaft. Packend ist der Gegensatz, der sich in den beiden Worten „Stolz" und „erschlagen" zusammendrängt. Diese Behauptung, daß gerade der Tote der Beste und Herrlichste war, ist, wie wir gesehen haben, ein beliebtes Motiv des Leichenliedes 3 ). In dem Trauergesang der altarabischen Dichterin Alchansä' auf ihren Bruder heißt es: Und sage, daß der Beste und Edelste der Banü Sulaim in der Niederung von Al'aqiq (begraben) ist1). Es geht durch die Leichenlieder aller kraftvollen, kriegerisch gesinnten Völker die tiefe Überzeugung, daß gerade der Held, der Gute und Tapfere untergehen muß, daß dies nun einmal sein Geschick ist: „Ja, der Krieg verschlingt die Besten!" Dieser heroische Pessimismus wird sogar manchmal im Leichenliede grundsätzlich ausgesprochen, z. B. in altarabischen Liedern: Nicht freue dich je über dich selbst, denn ich sehe, daß der Tod jeden überfällt, der sich kühn zeigt5) oder: Sie sprechen: „Einen Edlen schlugen wir von euch." So ist's; in Edle ist verliebt der Pfeil. Am Quell Obäg wir haben mit dem Tod geteilt, da nahm von uns der Tod das bessre Teile). Der Tod scheint aufzusuchen von uns die besten nur, als grollt' er ihnen eigens und kennte recht die Spur'). 1) 2)

v. W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f l : Bion von Smyrna, Adonis, S. 1. In dem Anklang von "GÜ Stolz an fQÜ Heer liegt vielleicht ein beab-

s ) Vgl. oben S. 97f. sichtigtes Wortspiel, Greßmann a. a. 0. S. 120. 6 ) N ö l d e k e a.a.O. S. 109f. *) N ö l d e k e a.a.O. S. 180. o) Hamäsa, übs. von R ü c k e r t , I (1846), S. 319. ' ) Ebenda I, S. 364.

140

Kapitel V.

In einem kabylischen Leichenliede heißt es: Der Gute steigt ins Grab hinab, während der Böse ihn überlebt') In V. 20 wendet sich der Dichter an die T o d e s b o t e n ; er gibt sich auch hier, wie bei der Verkündigung des Todes, als Anordner der T r a u e r f e i e r N o r m a l e r w e i s e müßte er nun die Boten beauftragen, die Todesnachricht in bestimmten Gegenden odei gar im ganzen Lande zu verbreiten. Von der Tätigkeit des Todesboten handelt z.B. ein altarabisches Leichenlied: Wahrlich, der Todesbote rief aus den Verlust des Mannes der Milde so laut, daß er — bei meinem Leben — wahrhaftig (weit) gehört ward3). Imperative, die Aufforderungen zur Verbreitung der Todesnachricht enthalten, kommen sehr häufig in den Leichenliedern vor. In einem neuarabischen Leichenliede heißt es: Sagt seiner Mutter, der betrübten, sie solle ihr Kleid mit chinesischer (Farbe) färben (d. h. sagt ihr, daß ihr Sohn tot ist)1). Mit einer besonders poetischen Wendung singt der Tote selbst in einem neugriechischen Leichenliede: Ihr Vöglein, die ihr flieget hoch durch alle weiten Lüfte, Fliegt, bringt dem Frankenland die Kund' und allen Christenorten, Gebt meiner Pharmakina auch die Botschaft meines Todes*)! Im Adonisliede des Bion von Smyrna wird Kypris angeredet: Schläfst du noch, Kypris, auf -purpurnem Pfühl? Wach auf, nimm Trauerflore, Schlage die Brüste, sag' es dem All, tot ist Adonis, der holde"). Der Wunsch, die Todesbotschaft zu verbreiten, kleidet sich auch ') C e r t e u x - C a m o y a. a. 0.1, S. 265. Ähnlich in S c h i l l e r s „Siegesfest": „Denn Patroklos liegt begraben, Und Thersites kommt zurück." 2 3 ) Vgl. oben S. 138!. ) Nöldeke a. a. 0. S. 175. *) L i t t m a n n a.a.O. S. 119, 85. 6 F a u r i e l a. a. 0., übs. von Müller, II, S. 193. «) A. a. 0. S. 1.

Kapitel V.

141

in andere Stilformen als die eben angeführten Imperative. In einem korsischen Leichenliede heißt es: Allerorten soll es erschallen: die zivei Helden sind gefallen'). Es ist also etwas ganz Ungewöhnliches, daß David nicht die Verbreitung, sondern die Unterdrückung der Todesbotschaft gebietet. Er wendet sich ja auch nicht an die Boten, die im eigenen Lande die Todesnachricht zu verbreiten haben, sondern an die Siegesboten des feindlichen Volkes 2 ). Der Zusammenhang mit dem Vorhergehenden ist sehr eng: dieselbe Nachricht, die David soeben verkündet hat, wird nun auch bald in den Straßen der Hauptstädte der Philister ertönen. Deshalb wendet er sich an die Boten und ruft ihnen zu: „Sagt es nicht!" Er weiß ja, daß von dem Augenblick an, da der Sieg der Philister in ihren Städten ausgerufen wird, die Siegeslieder der Philisterinnen nicht mehr verstummen werden, und gerade er ist dazu verurteilt, diese Lieder von früh bis spät anzuhören. Ein seltsames Schicksal! Während er im Geiste auf dem Schlachtfelde von Gilboa steht und an den Leichen seiner Volksgenossen, seines Königs und seines liebsten Freundes die Totenklage leitet, lebt er in Wirklichkeit unter einem jauchzenden Volke. Dieselben teuren Namen, die er im Leichenliede feiert, klingen ihm aus Sieges- und Spottliedern geschmäht und verhöhnt entgegen, und er wünscht sich weit fort aus dem Lande des Siegesjubels in das Land der Leichenklage. Diese S c h a d e n f r e u d e d e r F e i n d e über den Tod des Beklagten ist ein häufiges Motiv des Leichenliedes"). In einem palästinischen Leichenliede heißt es z.B.: Seid nicht schadenfroh, o Feinde4)/ In einem neugriechischen Leichenliede werden dem Sterbenden die Worte in den Mund gelegt: Dann schlaget meinen Kopf mir ab, daß es nicht tun die Türken, Und gehn damit zum Pascha hin, daß er im Diwan stehe; Ihn sehn die Feind' und f reuen sich, die Freunde, und sie trauern6). l

) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 61. 2) Vgl. 1. Sam 31». 3) Vgl. oben S. 99 *) D a l m a n a. a. 0. S. 338. 5) F a u r i e l a. a. 0., übs. v. M ü l l e r , II, S. 163.

Kapitel V.

142

§2

In einem anderen heißt es: So raubt mitleidlos der Tod uns Einen Kämpfer nach dem andern, der fürs Vaterland geblutet, Und der Ruhm, zum Hohn der Fremden, ist verlassen, ist verwaist'). Auch in einer Elegie auf Byron kommt dieses Motiv noch vor: Und während sie2) vergießen heiße Tränen, frohlockt der Feind, erfüllt von wildem Hassen'). Eine Korsin sieht bei der Totenklage im Fenster des gegenüberstehenden Hauses den Todfeind des Verstorbenen, der über ihr Leichenlied lacht, und singt zu ihm herüber: Lache du nur an deinem Fenster, spotte du nur der Furcht und Reue*). Die Schmach der Niederlage wird in unserem Liede noch dadurch verschärft, daß die schadenfrohen Sieger Unbeschnittene sind. Einen ähnlichen Gedanken finden wir in dem Leichenliede auf den Häuptling Boo Khaloom in Fez. Dort heißt es: Der Speer des Ungläubigen siegt. An einer anderen Stelle: Der vergiftete Pfeil des Ungläubigen siegt . .. Der Speer des Heiden gewinnt6). Sehr häufig verbindet sich sonst mit dieser Motivgruppe — Verkündigung des Todes, Verbreitung der Todesbotschaft, Schadenfreude der Feinde — das Motiv der Rache. Die Verbreitung der Todesnachricht verfolgt oft den praktischen Zweck, zugleich zur Vollziehung der Rache aufzufordern, und der Gedanke an die Schadenfreude der Feinde soll die Empörung steigern und die Rache beschleunigen8). Hier fehlt nun dieses Motiv durchaus; denn zur Rache gegen den Erbfeind der Israeliten kann der Vasall der Philister nicht aufrufen. *) ) *) 6) 3

B o y s e n : Sammlang neugriechischer Gedichte (1902), S. 24. 3 ) B o y s e n a . a . O . S. 29. Die Griechen. G r e g o r o v i u s a. a. 0 . II, S. 60. D e n h a m - C l a p p e r t o n a. a. 0 . II, S. 174. «) Vgl. oben S. 99.

§2

143

Kapitel V.

In V. 21 wendet sich der Dichter mit einem F l u c h e g e g e n die U n g l ü c k s s t ä t t e , die Berge von Gilboa. Die Verfluchung der Unglücksstätte gehört zu den Motiven, die auf dem dichterischen Vorgang der B e s e e l u n g beruhen. Die Dinge, die zu dem Toten gehört haben, die Stätten, mit denen er es im Leben oder im Tode zu tun gehabt hat, werden als lebende Wesen behandelt, denen Empfindungen zugeschrieben werden und auf die sich deshalb auch Empfindungen des Sängers richten können'). Solche beseelte Stätten sind außer der Todesstätte das Grab oder auch das Haus des Verstorbenen. Die eindrucksvollste Art der Beseelung liegt aber in der Verfluchung der Todesstätte, wie wir sie in Davids Leichenlied vor uns haben. Solche Verfluchungen müssen wir uns natürlich ursprünglich an Ort und Stelle, angesichts der Unglücksstätte, ausgestoßen denken. So singt in einem korsischen Leichenliede die Ghorführerin: Ist das nicht das Dorf da droben, wo mein Vetter mußt? erblassen? Möge Feuer es verschlingen, lieg' es verödet und verlassen 2) /

In Davids Leichenlied wird auch Öde auf die „Todesgefilde" herabgewünscht, die Öde der Dürre und Unfruchtbarkeit. Die schon von anderen herangezogene auffallende Parallele zu unserer Stelle aus dem Diwan der Hudhailiten soll auch hier Platz finden: Möge weder Tau noch Regen auf Umul fallen

3

)/

Die Verfluchung der Todesstätte erhält in unserem Liede noch eine besondere Begründung: auf ihr sind die Schilde der Helden, sogar die königliche Waffe, mit dem Blut und Fett ihrer Besitzer besudelt worden 4 ), statt wie sonst die ehrenvollen Spuren von dem Lebenssaft der bezwungenen Feinde an sich zu tragen. 2 ») Vgl. oben S. 99. 102!. ) G r e g o r o v i u s a.a.O. II, S. 70. 3 ) W e l l h a u s e n : Skizzen und Vorarbeiten I, S. 139. *) Es wäre zu erwägen, ob nicht zwischen dem Selbstmord Sauls und seines Waffenträgers, auf den hier angespielt wird (vgl. l . S a m 3 1 i ! . ) , und der au! die Todesstätte herabgewünschten Dürre ein besonderer Zusammenhang besteht, d. h. ob nicht vielleicht im Hintergrunde dieser Verfluchung alte animistische Vorstellungen liegen. Man stellte sich nämlich die Seelen von Verunglückten, gewaltsam Getöteten und Selbstmördern besonders durstig vor (vgl. oben S. 35 3 ) und glaubte deshalb, daß 6ie die Feuchtigkeit der Wolken an sich

144

Kapitel V.

Die Verfluchung der Unglücksstätte ist also in Davids Leichenlied eng mit einem anderen Motiv zusammengezogen, das im heroischen Leichenlied sehr häufig vorkommt, dem Motiv von den W a f f e n d e s Helden 1 ). Dieses Motiv gehört sonst gewöhnlich in den Lobpreis des Toten hinein; in der 4. Strophe ist es auch hier in diesem Sinne weiter ausgesponnen, während es in der 3. im Zusammenhang der Klage steht. In einem korsischen Leichenliede ist auch wie hier in klagendem Ton von den Waffen des gefallenen Helden die Rede: Nicht gefrommt hat dir die Flinte, nicht gefrommt die Pistolette, Nicht gefrommt die Dolchesklinge, nicht gefrommt dir die Terzette*). Der augenblickliche traurige Zustand der Heldenwaffen ruft die Erinnerung an ihre einstige Herrlichkeit wach. Damit geht das Lied in der 4. Strophe von der Klage zum Lobpreis über und konzentriert sich auf die beiden großen Toten, Saul und Jonathan, eine Verengung, die schon in der 3. Strophe dadurch angedeutet wurde, daß der Dichter aus den Heldenschilden den Schild Sauls herausgriff. Zum Schilde gesellen sich jetzt Bogen und Schwert, die wie ihre Träger, Jonathan und Saul, einander in genauem Parallelismus gegenübergestellt werden. Die preisende Erwähnung der Waffen lag bei der wirklich aufgeführten Leichenklage schon deshalb nahe, weil diese Waffen bei den Israeliten zögen und den Regen verhinderten. In Bußland und China gibt es eine Reihe von Beispielen dafür, daß man in den Seelen von Qehängten und Selbstmördern solche Trockenheitsdämonen, d. h. Urheber von großer Dürre, fürchtete, vgl. K a r g e : Rephaim, S. 564f. 588f.; S t e n i n : Über den Geisterglauben in Rußland Globus 57 (1890), S. 285. Bei den Chinesen glaubt man, die Seelen der Selbstmörder und Erhängten dadurch unschädlich zu machen, daß man ihre Leichen ausgräbt und verbrennt, vgl. K a r g e a. a. 0. S. 589. Vgl. auch über Geister der Dürre und über Verbrennung gefährlicher Leichname H. N a u m a n n : Primitive Gemeinschaftskultur, S. 56 ff. — Hier drängt sich uns die — sonst unerklärliche — Verbrennung (vgl. oben S. 26f.) der Leiche Sauls (und der Leichen seiner Söhne?) durch die Bewohner von Jabes 1. Sam 3112 als Parallele auf. Wenn die Vorstellung, daß die Seelen gewaltsam Getöteter als Trockenheitsdämonen wirksam werden, auch der Geschichte von den Gibeoniten 2. Sam 21iff. zagrunde liegt (so K a r g e a. a. 0 . S. 564), dann hätte David, der Dichter -unseres Leichenliedes, ja in diesem Vorstellungskreise gelebt. *) Vgl. oben S. 97.

2

) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 56.

Kapitel V.

145

wie bei so vielen anderen Völkern dem Helden mit ins Grab gegeben wurden'); sie wurden vielleicht auch mit dem Toten aufgebahrt, und der Sänger oder die Sängerin hatte sie während der Leichenklage vor Augen. Auf der Abbildung einer griechischen Vase sieht man sie unter der Kline des Toten liegen 2 ). Bei der Leichenfeier eines Scheichs in der Sahara sind die Waffen des Verstorbenen am Sattel seines Lieblingstiers angebunden 3 ). Bei der Verbrennung eines litauischen Fürsten lagen die Waffen, deren er sich in seiner Jugend bedient hatte: Degen, Spieß, Köcher mit Pfeilen und Bogen, auf dem Scheiterhaufen, nicht weit vom Leichnam 4 ). Freilich, bei der Leichenklage um Saul und Jonathan, die ihnen die Bewohner von Jabes wohl gehalten haben werden, mußten diese Ehrenzeichen fehlen; denn die Philister hatten die eroberten Waffen der besiegten Helden natürlich als Trophäen mit heimgenommen 6 ). Das Motiv von den Waffen des Helden ist dem Lobliede auf den lebenden Helden ebenso geläufig wie dem heroischen Leichenliede; der Vers vom siegreichen Bogen und Schwert könnte ebensogut in einem fröhlichen Heldenpreisliede stehen; wir brauchen nur an Ps4Ö4.c zu denken, wo vom Schwert und von den Pfeilen des königlichen Bräutigams in ganz ähnlicher Weise die Rede ist wie hier von den Waffen der Gefallenen. Nur der traurige Vers von den besudelten Schilden der Helden, der in unserem Liede dem Preis ihrer Waffen vorangeht, könnte natürlich in einem Lobliede nicht vorkommen; hier ist das Motiv also dem Charakter des Leichenliedes entsprechend umgestaltet. Die verherrlichten Waffen, Bogen und Schwert, sind in wundervoller Weise beseelt; wie zwei Recken werden sie dargestellt, von denen gerühmt wird, daß sie furchtlos in jeden Kampf hineingegangen und nie unverrichteter Sache heimgekehrt sind. Auch in den Leichenliedern anderer Völker finden wir, daß die Waffen des Toten wie beseelte Wesen vorgestellt werden. In dem Leichenlied auf einen Beduinenhäuptling werden den Bestandteilen seiner Rüstung sogar Worte in den Mund gelegt: ') -) 3 ) *)

Vgl. Ez 32a 7 , dazu Kap. VIII, § 1 und oben S. 34. Angeführt bei B e n n d o r f : Griechische und sizilische Vasenbilder, S. 7. C e r t e u x - C a r n o y a. a. 0 . I, S. 267. 6 H a r t k n o c h : Alt und neues Preußen, S. 189. ) 1. Sam 31ef.

Beihefte z. ZAW 36

10

146

Kapitel V.

Es sagt der Brustpanzer: verkauft mich, oder iverft mich ins Feuer! Seit du fort bist, o 'Alt, ging ich nicht hinab am Tage des Kampfs. Dieselben Worte wiederholen dann das Schwert und der Speer des Toten'). Aber der Preis der Waffen kommt auch sehr häufig im Leichenliede ohne Beseelung derselben vor, z. B. an folgenden Stellen: Das Schwert steht dem Hochgewachsenen, ... und der Speer wird getragen vom Jüngling ... Sein Gewehr gibt donnernden Knall ...s). Bei den Chews'uren: Steh, Held der Helden auf! Es rostet sonst dein Schild, erblinden will die Schneide deines Schwerts ....'). Bei den Kurden: Weithin schimmerte sein rot Gewand, wenn er, hoch die Lanze in der Hand, Sich zu Bosse in den Bügel schwang und den Schild, gleich einem Flügel schwang1). Die preisende Wendung, daß der tote Held bisher n i e f e i g e z u r ü c k g e w i c h e n ist und n i e m a l s einen e r f o l g l o s e n Waffengang unternommen hat, findet sich auch sonst häufig im heroischen Leichenliede, mit und ohne Erwähnung der Waffen, z. B. in einem Liede, das ein isländischer Skalde auf seinen gefallenen Bruder singt: Der mutige Thorolf fiel, der Töter Jarls, der ohne Furcht in den gewaltigen Lärm Odins (den Kampf) 5 oder in einem altarabischen Liede: [ging ) Nicht blieb er stehen, wenn die Rosse (vor den Feinden) zurückscheuten, noch war er ein Unbesonnener oder Einer, der in der Schlacht verächtlich behandelt ward. Und nicht waren seine Waffen gegen den Feind stumpf, mochte er mit einem Leichtgerüsteten oder einem Gepanzerten zusammentreffen 6). ») 4 ) 6 ) 6 )

2 a D a l m a n a. a. 0. S. 340. ) Ebenda S. 333. ) Radde a. a. 0. S. 93. B o d e n s t e d t a.a.O. III, S. 23. Olrik: Nordisches Geistesleben (1908t, S. 120. N ö l d e k e a.a.O. S. 105,12f.

§2

147

Kapitel V.

Ähnlich heißt es in einem neuarabischen Leichenliede: Wenn er die Keule in seiner Hand hielt er seine Angreifer

zurück

schwang, und

brachte seine Genossen in

und in einem albanischen Leichenliede: Wenn du in eine Verschanzung kamst du mit einem Kopf

[Sicherheit...')

sprangst,

in der Hand

zurück2).

Dasselbe Motiv finden wir auch auf die Verhältnisse des Jägers angewandt, z. B. in einem grönländischen Totenlied: Siehe,

du kamst!

Du kamst mutig

angerudert

mit Jungen und Alten. Du kamst nie leer von der See: dein Kajack war stets mit Seehunden oder Vögeln beladen3).

Wir kehren nun zu Davids Leichenlied zurück. In V. 23 sind die beiden Helden Saul und Jonathan aufs engste mit einander verknüpft, einmal in einem Motiv, das ihre persönliche Zusammengehörigkeit besingt, und dann im Lobpreis ihrer gleichwertigen Kampftüchtigkeit. Das Motiv v o m . g e m e i n s a m e n Tode eng verbundener Helden gehört ebenso wie das verwandte vom gemeinsamen Begräbnis in die Gruppe der versöhnenden Motive hinein 4 ). In einem korsischen Leichenliede heißt es: Sehet ihr nicht, wie meine

Augen

als zwei Quellen mir überwallen? Um die zwei vielsüßen Brüder, die in Einer Stunde gefallen1).

Die Kampftüchtigkeit der beiden Helden drückt unser Lied durch zwei V e r g l e i c h e aus, die gerade für ein Königsleichenlied gut gewählt sind; denn Löwe 6 ) und Adler galten zu allen Zeiten als die Könige unter den Tieren der Erde und der Luft. Die Bilder sind hier nur im p r e i s e n d e n S i n n e angewendet, sind also nicht durchaus charakteristisch für das Leichenlied; wie die meisten Motive des Preises wären sie auch im Lobliede denkbar'). Das Bild vom Löwen zum Lobe des starken und mutigen Helden ») M u s i l a. a. 0. III, S. 447. ') v. Hahn a. a. 0. II, S. 139. ) H e r d e r , Stimmen der Völker, a. a. 0. I 2, S. 39. e *) Vgl. oben S. 99!. ) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 52. •) Das Bild des Löwen wird uns noch in 2 atl. Königsleichenliedern, Ez 19,ff. und 32 a , begegnen. ') Vgl. oben S. 97. 105. 3

10*

Kapitel V.

148

ist bei vielen Völkern sehr beliebt und findet sich deshalb auch oft in Leichenliedern. Auch die Verbindung des Bildes mit Komparativen, wie wir sie in unserem Liede vor uns haben, und die natürlich eine Steigerung des Lobes bedeutet, kommt sonst vor; z. B. heißt es in einem altarabischen Leichenliede: Ein Mann, schüchterner als ein verschämtes tapferer als ein Löwe, wenn er sich verteidigt').

Mädchen,

aber

Ahnlich wird der Tote in einem Leichenliede aus dem Diwan der Hudhailiten gepriesen: Kein . . . Löwe . . . . ist Icühner und unternehmender,

als er war").

Viel häufiger als die Anwendung dieser Vergleiche ist aber die einfache Setzung des Bildes für den Toten; so fragt die Witwe eines Scheichs in der Sahara: Wo ist mein

Löwe*)?

und in einem palästinischen Leichenliede heißt es: Sichtbar

wurde die Flinte,

aber der Löwe kam

nicht*).

Für andere Typen des Leichenliedes sind wieder Bilder von anderen Tieren bezeichnend, z. B. wird in palästinischen Leichenliedern das Bild der Antilope für junge Mädchen oder Jünglinge angewendet 6 ). Durch den Vergleich mit dem Adler soll die Schnelligkeit des Besungenen gepriesen werden. Sie ist neben der Kraft die wichtigste Tugend des antiken Helden; man denke nur an den „fußschnellen Achilleus". Der Preis der einstigen Geschwindigkeit des Helden ist im Leichenliede gerade durch den Gegensatz zu der starren Ruhe des Toten von besonders packender Wirkung. So heißt es in der Totenklage um einen Nadowessier, dem Urbild des S c h i l l e r s c h e n Gedichtes: Warum sind diese Füße ohne Bewegung, die noch vor einigen Tagen schneller ivaren als das Beh auf jenen Gebirgen6) ? 2 ») N ö l d e k e a. a. 0. S. 104, 4a. ) W e l l h a u s e n a. a. 0. I, S. 126, 14f. 3 ) C e r t e u x - C a r n o y a. a. 0 . 1 , S. 268. 4 ) D a l m a n a.a.O. S. 335. — Auch außerhalb des Leichenliedes kommt „Löwe" als Bezeichnung für Männer, Krieger vor, z. B. auf sabäischen Inschriften, vgl. L i d z b a r s k i : Ephemeris für semit. Epigraphik I (1902), S. 235. 6 ) Z.B. D a l m a n a . a . O . S. 321. 333. 6 ) Carver: Reisen durch d. inneren Gegenden v. Nord-Amerika (1780), S. 334.

149

Kapitel V.

Mit dem Adler wird z. B. auch in einem neuarabischen Leichenliede der Tote verglichen; da heißt es: Hogr, der Jüngling,

der diesem Adler

gleich

')•

Neben dem Adler wird in Leichenliedern auch der Falke zu rühmlichem Vergleich herangezogen 2 ). In einem neuseeländischen Leichenliede wird die Schnelligkeit eines toten Häuptlings auch durch den Vergleich mit einem Vogel gepriesen: Wie der Vogel Kawau in seinem, Flug nach oben, um Beute zu ergreifen, plötzlich niederschießt, So stürzte Pi, der Tapfere, Kühne, sich keuchend auf den Feind . . ..3).

In russischen Leichenliedern heißen das Mädchen und die junge Frau: „der weiße Schwan", „die Schwalbe" 4 ). In der 5. Strophe von Davids Leichenlied tritt die Einkleidung, die ihn als Vorsänger bei der Klagefeier zeigt, am deutlichsten hervor; denn hier redet er seinen Chor geradezu an und fordert ihn zur Beweinung des toten Königs auf. Der ursprüngliche Sinn dieser so häufig im Leichenlied vorkommenden A u f f o r d e r u n g e n zur B e w e i n u n g und die Entwicklung der imperativischen Stilform aus der Aufführungsart ist bereits nachgewiesen worden 6 ). Mit einem gewaltigen Klagechor will David auftreten: alle Frauen Israels sollen heut zu Klageweibern werden! Es ist das Gegenstück zum Chore der jubelnden Philisterinnen, vor deren Siegesliedern es David graut. Sehr bezeichnend ist es nun, worüber die israelitischen Frauen klagen sollen: über den Verlust an herrlichen Beutestücken, die ihnen sonst der siegreiche König aus der Schlacht mitzubringen pflegte"), an kostbaren Gewändern und Goldgeschmeide. Die F r e i g e b i g k e i t mit der Beute, besonders den Frauen gegenüber, ist Königstugend. Sie spielt auch in arabischen Leichenliedern eine große Rolle und fügt sich dort mit dem verwandten Zug der Gastlichkeit und mit der Tugend der Tapfer») M u s i l a. a. 0. III, S. 446. ) Vgl. z. B. im Neuarabischen: L i t t m a n n a. a. 0 . S. 134, 111; im Russischen: W e s s e l o f s k y a. a. 0. S. 519; im KabyliBchen: C e r t e u x - C a r n o y a a . a . O . S. 265. ) D a v i s : Maori Mementos (1885), S. 174. 4 ) W e s s e l o f s k y a . a . O . S. 518. 6 a ) Vgl. oben S. 46ff. 101 f. und zum Frauenchor S. 60. ) Vgl. Jud 5 30 . 2

150

Kapitel V.

keit zu dem charakteristischen B e d u i n e n i d e a l zusammen '). Die Tugenden, die Saul nachgerühmt werden, sind also eigentlich, der Einfachheit seines Königtums entsprechend, echte Beduinentugenden. Im Folgenden mögen einige Stellen aus alt- und neuarabischen Leichenliedern angeführt werden, die dieses Ideal preisen: Ob sie wohl sagen werden: „Sei nicht fern", denn manche Not hast du durch Kühnheit und durch Milde durchbrochen *) / Mit der einen Hand war er stark, während die andere sich melken ließ"). Wo er schenkte, war er Wolkenüberschwang, aber Löwentrotz, wo er zum Kampf andrang *). Sie pflegten des Nachts wegzuziehen, ohne mich zu wecken, brachten Beute und beglückten mich, Während der Feigling zu schlafen pflegt und sich um nichts kümmerf ) . (Trauernd) um euch werde ich keine seidenen Stirnbinden um euch, o Leute der Großmut und Kraft, Um euch werde ich schwarze Stirnbinden tragen, um euch, o Leute der Güte und Freigebigkeit").

tragen,

An allen diesen Stellen ist es also dieselbe eigentümliche Verbindung von Tapferkeit und Großmut, die auch Saul nachgerühmt wird. Wir verweilen noch bei der Stilform in V. 24, die sich im Hebräischen aus einem I m p e r a t i v und zwei Partiz i p i e n zusammensetzt, welche an den Namen des Beklagten angeschlossen sind. Wir haben schon gesehen, daß ähnliche Schemata auch in I^eichenliedern andrer Völker vielfach vorkommen und daß sie besonders häufig mit Lobeserhebungen ausgefüllt sind7). Diese Anreden an den Chor im Imperativ, dem Lobpreisungen in Appositionen, Partizipien oder Relativsätzen folgen, sind ja auch dem eigentlichen Lobliede geläufig. Im Hebräischen werden im religiösen Hymnus die preisenswerten Eigenschaften und Taten Gottes mit Vorliebe in aneinandergereihten Partizipien aufgezählt8). 2 a Vgl: oben S. 97. ) N ö l d e k e a.a.O. S. 70. ) Ebenda S. 167. 5 ) H a m ä s a I, S. 300, 10. ) M u s i l a. a. O. III. S. 432. 7 «) Ebenda S. 445. ) Vgl. oben S. 104. 8 ) Z. B. Ps 103i—« (hier auch die Zusammenstellung von Imperativen mit Partizipien) 104i—» Gebet des Manasse 2f. Vgl. hierzu G u n k e l : Ausgewählte 4

Kapitel V.

151

Dieselbe Stilform, die also überhaupt im gehobenen Stil häufig ist, finden wir in Davids Leichenlied zur Umschreibung der Vorzüge des Toten. Ähnlich ist der preisende Stil z. B. in einem schon einmal herangezogenen Leichenlied der Tscherkessen: Den alle Frauen liebten, den alle Männer ehrten, Der unsres Stammes Stolz war, der blinde Sänger ist tot1). In altarabischen Leichenliedern finden wir sogar dieselbe Zusammensetzung von Imperativen, die zur Beweinung auffordern, mit preisenden Relativsätzen wie in Davids Leichenlied, z. B. in einem Leichenlied der Hudhailiten: Drum, mein Auge, weine über Dubajja, der festhielt an der Verwandtschaft und freigebig war gegen den Bittenden2). oder: Auf, beiveint den Kühnen, Schönen; auf, beweint den Mann, den Häuptling Mit langem Wehrgehenk, hohem Zeltpfahl, der (schon) seines Geschlechtes Haupt war, als er (noch) bartlos, Der, wenn die Leute ihre Hände nach dem Ruhm empor streckten, das Gleiche tat Und Ruhm erreichte, der für ihre Hände zu hoch war, und dann immer noch höher kam3). Weine über den Häuptling,

den Fürsten, den Sohn der hohen Häuptlinge und Fürsten, Der auf sich nahm die Sorgenlast der niederdrückenden Unglücksfälle, Der dem Verschwägerten den zerbrochenen Knochen heilte, den Gabenreichen, Der da schenkte die hundert edlen Kamele, hochgetürmte Renner, Der dem Verwandten (selbst) große Vergehen vergab, der freundlich •war im Umgange Und zurück trieb den hastigen (Angriff) des Feindes und den Stolz des heimtückischen Hassers*). Psalmen ( 4 1917), S. 141. 147. 238»; dort auch Hinweise auf babylonische, ägyptische und griechische Parallelen. B o d e n s t e d t a.a.O. III, S. 171, vgl. oben S. 138. 4 ) W e l l h a u s e n a. a. 0 . 1 , S. 112,12. ') N ö l d e k e a. a. 0. S. 170. 4 ) Ebenda S. 173 f.

152

Kapitel V.

§ 2

Wir sehen an den angeführten Beispielen, daß die Aufzählung der Vorzüge des Toten weit umfangreicher sein kann als in Davids Leichenlied; wir haben uns vorzustellen, daß die improvisierende Leichensängerin oft in der Anführung solcher Vorzüge, die sie immer wieder in die gleiche Form kleidete, geradezu unerschöpflich war. In Davids Leichenlied tritt die Stilform knapper auf; dies ist eine dichterische Selbstbeschränkung, die wohl überhaupt für die künstlerische Umformung volkstümlicher Poesie bezeichnend ist. Die Lobeserhebungen kleiden sich eben hier in mannigfaltige Formen (vgl. die vorhergehenden und folgenden Verse), statt in der immer wiederkehrenden gleichen Stilform als Litanei abgesungen zu werden. Wir haben gesehen, daß in V. 24 eine Trennung der bisher gemeinsam besungenen Helden eintritt, indem der Dichter die Klage um den toten König den Frauen überträgt. Sie mögen von Purpur und Gold singen, wie sie in der ganzen Welt zu singen pflegen, wenn ein freigebiger Herr die Augen geschlossen hat — er selber weiß dem F r e u n d e noch ein p e r s ö n l i c h e s W o r t zu sagen. Es ist bezeichnend, daß David erst hier in der letzten Strophe, die ganz seinem Verhältnis zu Jonathan gewidmet ist, den Freund direkt anredet 1 ) und den Zärtlichkeitsausdruck „ B r u d e r " für ihn findet, während er vorher in dem offizielleren, objektiver gehaltenen Teil des Liedes vom Königssohn wie vom König in dritter Person gesprochen hat. Wir haben gesehen, daß das Leichenlied um den Bruder ein besonders stark ausgebildeter Typus der Verwandtenklage ist 2). Es ist charakteristisch für die Entwicklungsstufe, die Davids Leichenlied darstellt, nämlich für die literarische Umbildung des ursprünglichen Volksleichenliedes, daß der Dichter nicht nur nach uralter Verpflichtung verwandte Tote besingt, sondern daß sein Lied häufig das freie Geschenk des Freundes ist. Zuweilen reflektiert der Dichter auf dieser Stufe über sein Verhältnis zu dem Toten. A u s o n i u s hat in ') Daß der Tote mit Namen angeredet wird, gehört wohl zum uralten Bestand der Leichenklage, vgl. die Sitte der Namennennung bei der altgriechischen und altrömischen Bestattung, oben S. 45 u. 4. Bei den im Krieg Gefallenen, auf der See, in der Ferne Umgekommenen, deren Leiche nicht in der Heimat ruht, wird die Namennennung in dreimaliger Wiederholung zur besonderen Pflicht ( H e r m a n n : Griechische Antiquitäten IV 3 , S. 370®). 3 ) Vgl. oben S. 63 ff.

Kapitel V.

153

seiner Sammlung „Parentalia" auch Leichenlieder auf entferntere Verwandte, wie Schwager und Kusine, verfaßt und sucht nun in diesen Liedern zwischen sich und den Besungenen einen Zusammenhang herzustellen, der sich wenigstens dem geschwisterlichen Verhältnis nähert. So sagt er von seinem Schwager, er stehe ihm an Stelle des Bruders, wenn er auch nicht durch Blutsverwandtschaft sein Bruder sei 1 ); von seiner Kusine, sie sei ihm fast eine Schwester gewesen 2). Aus solchen Wendungen geht noch deutlich hervor, daß die Geschwisterklage ein ursprünglicher Typus des Leichenliedes gewesen ist. Ähnlich heißt es in einem arabischen Liede, das allerdings nicht im strengen Sinne ein Leichenlied, sondern ein Gedenklied an einen Toten ist: Ich soll mich beklagen, über wen? Ich bin weder sein Onkel, noch, sein Vetter .. 0 wie weint das Herz über den Liebling, der ihm nicht zuteil wurde '1).

Also auch hier die Vorstellung, daß die Klage, wenn auch nicht gerade den Geschwistern, so doch herkömmlich den Verwandten gilt. In Davids Leichenlied findet sich nichts von solcher Erwägung; er gibt dem Toten einfach den Brudernamen, weil er ihn liebt. Für seinen Schmerz und seine Liebe findet David schlichte und doch leidenschaftliche Worte. Der hebräische Ausdruck, der hier mit „es ist mir weh" übersetzt ist, heißt eigentlich: „es ist mir eng" und bezeichnet vortrefflich die Empfindung, die ja auch wir als ein Zusammengepreßtsein der Brust beschreiben. Es liegt ein eigener Zauber unseres Liedes darin, wie David, der verschlagene Recke, verwundert auf die Stimmen seines Inneren lauscht und sie zu deuten sucht 4 ). Sie kommt ihm selber seltsam vor, diese Liebe, die ihn mit dem Toten verband, und er kann ihr nur Ausdruck geben, indem er sie m i t d e r ursprünglichsten menschlichen Empfindung, der L i e b e z w i s c h e n d e n Ges c h l e c h t e r n , v e r g l e i c h t . Ja, Jonathan ist ihm sogar noch mehr gewesen als eine geliebte Frau! 2 3 A. a. 0. XV, 1. ) A. a. 0. XXVIII, 4. ) M u s i l a. a. 0. III, S. 466. *) Es ist sicherlich eine zu einfache Lösung für die widerspruchsvollen Züge im Charakterbilde Davids, wenn man ihm dieses Lied, wie überhaupt Befähigung und Neigung zur Dichtkunst abspricht, so T i k t i n a. a. 0. S. 39f. Auch Ed. M e y e r : Geschichte des Altertums I (1884), S. 361, behauptet, daß das Lied „natürlich nicht von David verfaßt" sei.

154

Kapitel Y.

Persönliche Empfindungen für den Toten werden auch Sonst nicht selten im Leichenliede ausgesprochen. In einem altarabischen Leichenliede heißt es z. B. : Und du warst meiner Seele süßer als Wasser mit dem schönsten Bienenhonig

Wie häufig singen arabische Leichenlieder davon, daß der Tote dem Sänger teurer war als seine Augen, als sein Herz! Diese Bilder haben gerade in der arabischen Leichenpoesie etwas Abgegriffenes und Herkömmliches. David wendet für seine tiefsten Empfindungen gar kein Bild an, sondern bleibt mit seinem Vergleich im Gebiete des Seelischen. Die Freundschaft zum Manne wird auch von den Beduinen häufig tiefer empfunden als die Liebe zum Weibe. Ein Beduine gibt im Leichenliede mit folgenden Worten der Geliebten den Abschied, um die gefallenen Helden seines Geschlechtes zu beklagen: Sollf eines Weibes Abschied rühren mich, nachdem der Ritter fiel von Dhu Tilal2) !

Ein anderer Beduine soll nach seines Bruders Tode bei der Scheidung von seiner Frau gesagt haben: Ich sage zu Hind, da ich ihr Benehmen nicht mag: ist das Liebesziererei oder das Benehmen eines widerspenstigen Weibes? Oder verlangt sie nach der Scheidung ? Nun, jeden Scheidenden vermissen wir ohne Schmerz nach Muliks Tode *).

Ein schönes Beispiel einer Freundesklage haben wir in den Worten Rolands an der Leiche seines Freundes Olivier: Jahr und Tag haben wir zusammengehalten, niemals haben wir einander Böses getan; Nun du tot bist, ist es mir ein Schmerz zu leben1).

Davids Leichenlied klingt im Kehrvers aus, der diesmal ein Bild für die gefallenen Helden anwendet: sie werden „verdorbene Streitwaffen" genannt. Der V e r g l e i c h des H e l d e n mit e i n e r W a f f e liegt nahe. Wie innig beide zusammengehören, geht gerade aus unserem Liede deutlich hervor: die 2 ») N ö l d e k e a. a. 0. S. 115, 3a. ) Hamâsa I, S. 374. ») N ö l d e k e a. a. 0. S. 119. *) La Chanson de Roland, texte critique, accompagné d'une traduction nouvelle par G a u t i e r , I (1872), S. 163.

Kapitel V.

155

Waffen werden als Helden beseelt l ), und die Helden werden mit Waffen verglichen 2 ). Ein Vergleich des Helden mit der Waffe liegt auch in den bekannten Namen Judas Makkabäus und Karl Martell vor. Beide Beinamen bedeuten „Streithammer". Man findet den Vergleich mit Waffen denn auch ziemlich häufig im heroischen Leichenliede. Eine Korsin besingt z.B. ihren Mann: Bist mein feines Schwert gewesen, meine starke Wehr und Waffen*). Besonders beliebt sind diese Vergleiche in arabischen Leichenliedern. Ein solches beschreibt den Toten mit folgenden Versen: Einen Jüngling, zugeschnitten nach des Schwertes Schnitte, Schmächtig nicht, noch aufgedunsen um die Brust und Mitte*). Ein arabischer Held besingt den von ihm erlegten Feind, um sich selbst damit zu erheben: Gott über Teim! welch eine Lanze zum Jagen fand ihn der Tod, welch eine Klinge zum Schlagen6)! In einem anderen Leichenliede rühmt der Dichter seinen Bruder: Ein glorreicher Bruder, der am Wahlplatz mich nicht verließ, dem Schwert Amrus gleich, dem nie versagte die Schneide'). Unserer Stelle in Davids Leichenlied ist die folgende wohl am ähnlichsten: Die Ehre siehet ihren Schild zertrümmert und hoffet nicht Herstellung ihrem Schilde*). Denn hier wie dort umfaßt das Bild den G e g e n s a t z v o n E i n s t u n d J e t z t 8 ) , während an den bisher angeführten Stellen die Bilder sich nur im preisenden Sinne auf die Vergangenheit bezogen. Wenn wir an dieser Stelle noch einmal auf die Anw e n d u n g v o n B i l d e r n u n d V e r g l e i c h e n " ) im g a n z e n L i e d e zurückschauen, so machen wir die Beobachtung, daß die drei verschiedenen Möglichkeiten, die es überhaupt auf diesem Gebiete im Leichenliede gibt, in unserem Liede vorkommen: das Bild im ») V. 22. ») V. 27. ) Hamäsa I, S. 389. ') Ebenda I, S. 347.

4

>) G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 50. ) Ebenda I, S. 255. ") Ebenda I, S. 420. 8 ) Vgl. oben S. 105f. ») Vgl. oben S. 105«. 6

156

Kapitel V.

objektiven, preisenden Sinne'), der Vergleich zur Kennzeichnung des subjektiven Wertes, den der Tote für den Sänger hatte 2 ), und schließlich das Bild, das Preis und Klage zugleich ausdrückt, das also für das Leichenlied in besonderem Maße bezeichnend ist8). Es bleibt uns nun noch übrig, zu erwägen, in welchem Verh ä l t n i s das eben betrachtete Beispiel künstlerischer Leichenpoesie zu der u r s p r ü n g l i c h e n v o l k s t ü m l i c h e n G a t t u n g steht. Wenn wir zunächst den äußeren Umfang des Liedes betrachten und ihn etwa mit dem des Leichenliedes 2. Sam 383 f. vergleichen, so machen wir die selbstverständliche Beobachtung, daß die wirklich aufgeführten Leichenlieder weit kürzer waren als die aufgeschriebenen. In Davids Leichenlied auf die Gefallenen von Gilboa sind die einzelnen Abschnitte noch ganz deutlich voneinander zu lösen; man wäre beinahe imstande, das Lied in eine Reihe kleiner volkstümlicher Leichenlieder zu zerlegen. Die künstlerische Abschleifung der Motive gegeneinander und ihre Verschmelzung ist also noch nicht vollzogen, ein Umstand, den wir nicht dankbar genug begrüßen können; denn auf diese Weise sind uns ja eben die alten volkstümlichen Motive in ihrer Reinheit erhalten, wie die vielen aus der Leichenpoesie anderer Völker herangezogenen Parallelen uns gezeigt haben. Wie nahe Davids Leichenlied dieser Stufe noch steht, das lehren die Vergleiche mit anderen Literaturen, die Leichenlieder aufweisen. Die „Parentalia" des A u s o n i u s sind z.B. reine Lobgedichte, in denen vom Tode kaum mehr die Rede ist. David dagegen steht im Geist an den Leichen der Gefallenen, er redet die philistäischen Siegesboten, die Todesstätte, den Klagechor der israelitischen Frauen und den toten Freund geradezu an. Dadurch bewahrt er uns neben den alten Motiven auch einige der ursprünglichen Stilformen auf, die aus der Aufführungsart der Leichenklage stammen. Wir sehen also hier in ein erstes Stadium der künstlerischen Gestaltung des alten zünftigen Leichenliedes hinein. Die konkrete Frische dieser Dichtung entschädigt uns für die dürftige Überlieferung der volkstümlichen israelitischen Leichenpoesie und füllt die Lücken in unserer Kenntnis derselben aus. Dieser Umstand mag die vorstehende ausführliche Behandlung des Liedes begründen. Die lückenhafte Überlieferung hebräischer Leichendichtung ») V. 23.

*) V. 26.

3

) V. 27.

Kapitel V.

157

wird so recht dadurch gekennzeichnet, daß wir unmittelbar neben das soeben besprochene Leichenlied Davids als nächste Stufe der Entwicklung ein zwar dichterisch hochstehendes, aber von der volkstümlichen Leichenpoesie schon viel weiter entferntes Stück zu stellen haben: das L i e d J e r e m i a s vom „ S c h n i t t e r T o d " J e r 9,of. Wir behandeln dieses Stück ebensowenig wie das J e r 38 2 2 unter den eigentlichen „prophetischen" Leichenliedern, weil es wie jenes die entscheidenden Merkmale dieser Umbildung der Gattung, die wir im nächsten Kapitel kennen lernen werden, nicht zeigt 1 ). Jeremia hat hier, ähnlich wie dort, nur die Gattung der Qina benutzt, um seine Rede volkstümlicher zu gestalten 2 ), ohne tiefgehende Veränderungen mit ihr vorzunehmen. — Wir wissen nicht, was für ein Ereignis in diesem Leichenliede beklagt wird, und können daher auch nicht sicher erkennen, ob es der jüngsten Vergangenheit oder der Zukunft des Propheten angehört. Das Lied wird von manchen auf die babylonische Katastrophe und damit auf die Zukunft bezogen 3 ). Aber es findet sich darin keine Anspielung auf ein politisches Ereignis, so daß man fast geneigt wäre, es auf ein anderes öffentliches Unglück, etwa auf eine verheerende Seuche 4 ), zu deuten. Dann wäre die nächstliegende Erklärung, daß dieses Unglück eben geschehen ist, wenn es auch nicht ausgeschlossen ist, daß hier ein großes Sterben durch die Pest für die Zukunft verkündet wird. Wir haben das Stück schon an früheren Stellen unserer Untersuchungen gestreift. Die Tatsache der vorwiegenden Frauenklage fanden wir zuweilen in einer Stilform nachklingend, in Avelcher der Dichter als Vorsänger eines Frauenchors auftritt 6 ); hier haben wir wieder ein Beispiel dieser Einkleidung, mit der leisen Abwandlung, daß der Prophet sich in diesem Liede als Lehrer des Leichengesangs gibt. Auch die Bedeutung der Stelle für unsere Kenntnis der hebräischen Klagezunft haben wir bereits kennen gelernt 6 ). Das ganze Stück soll trotzdem hier noch einmal im Zusammenhang folgen. l

) Vgl. oben S.125. 2 ) Vgl. oben S. 127. ') So R o t h s t e i n , V o l z , vgl. z. St. ) Das Wort niD (V. 20) kann diese besondere Bedeutung haben, z. B.

4

V T

J e r 15 2 I821 4 3 u H i 2 7 i s Thr I20, vgl. auch &dvatog Apk6s 18s und den mittelalterlichen Ausdruck „der schwarze Tod" für die Pest. 6 ) Vgl. oben S. 60 und 2. Sam U*. 6 ) Vgl. oben S. 71 f.

Kapitel V.

158

Jer 9k—ai'V V. 16. Streiche die Eingangsworte n i t G ü n V P "IDN DD: die Pron. suff. der 1. Pers. (lii^V usw.) weisen nicht auf Jahwe, sondern auf den Propheten als den Redenden hin ( C o r n i l l , R o t h s t e i n , Volz). — Scheide liiiann und 1 nach LXX mtr es aus ( E r b t , C o r n i l l , R o t h s t e i n ) . — Streiche rONiam, da neben ¡"D'Wani in demselben Verse unmöglich, und ziehe rOinQJYl aus V. 17 zu Y. 16: auch LXX liest an Stelle von nJNIDHI und nyinDDI nur ein Verbum: xal daß sie eilen TJnd über uns Wehgesang anstimmen, Auf daß unsre Augen von Tränen fließen und unsre Wimpern von Wasser triefen. Ja, hört, ihr Weiber, Jahwes Wort, und euer Ohr nehme auf das Wort seines Und lehrt eure Töchter den Wehgesang und Eine, die Andre das Leichenlied:

Mundes,

(3 + 4) (3) (3 + 3)

(3 + 3) (3 + 3)

*) Vgl. die Literatur zum Buche Jeremia zu Jer S8sif. oben S. 124®.

Kapitel V.

§ 2

159

so

„Der Tod stieg durch unsre Fenster ein, er drang in unsre Paläste, Vertilgend das Kind von der Gasse, die Jünglinge von den Plätzen.

2>

(5) (5)

Es liegen der Menschen Leichen umher auf weitem Feld (5) Wie Garben hinter dem Schnitter, und keiner liest sie auf!" (5) Die Klageweiber sind ja immer auf neue Leichenlieder aus, und hier handelt es sich überdies um einen besonderen, schrecklichen Fall, auf den sie in ihrem Liedervorrat nicht eingerichtet sind: Tote liegen auf Schritt und Tritt umher! Da will sie der Prophet ein neues Leichenlied lehren. An eine wirkliche Aufführung dieses Liedes ist, auch wenn es sich auf ein vergangenes Ereignis bezieht, natürlich nicht zu denken, schon aus dem einfachen Grunde, weil die Leichen der Verstorbenen an verschiedenen Orten liegen. So wenig man bei der Menge der Toten eine richtige Bestattung vornehmen kann'), so wenig kann man ihnen die vorschriftsmäßige Leichenklage halten. Wir haben es also wieder, wie bei Jer 3822, mit einem Leichenliede zu tun, das in u n w i r k l i c h e r S i t u a t i o n gesungen wird. Trotzdem können wir hier wie da aus dem angeführten Leichenliede unsere Kenntnis der Gattung bereichern, wenn auch dieses Lied in seiner unbestimmten Haltung, ohne Richtung an benannte Tote viel stärker als die bisher behandelten hebräischen Leichenlieder den Charakter der Kunstlyrik trägt. Das Lied Jeremias bezieht, sich nicht wie der Anfang von 2. Sam l 1 9 ff. auf Helden, die in der Schlacht gefallen sind, sondern — und das gibt ihm den wehmütigen Ton — auf wehrlos Hingeraffte. Hier ist es nicht die reife Mannschaft, die beklagt wird, sondern die n o c h n i c h t e r b l ü h t e J u g e n d : Kinder und Jünglinge! Wir erwähnten in der Skizze, die das Leichenlied als poetische Gattung beschrieb, auch die Bilder, die häufig im Leichenliede gebraucht werden, um den Tod zu umschreiben8). Wir finden hier zwei solcher B i l d e r für den Tod, übrigens als einzige Beispiele in der atl. Leichenpoesie. Die Personifikation des Todes liegt bei einer unheimlichen Seuche ') V. 21.

s

) Vgl. oben S. 107 f.

160

Kapitel V.

fast noch näher 1 ) als beim Kriege, denn da ist es wirklich, als ob der Tod in Person uniginge. In unserem Liede wird er zunächst als e i n b r e c h e n d e r D i e b personifiziert. Eine ganz ähnliche Personifikation finden wir in einer rumänischen Leichenklage: Als der Tod, als der Berserker, ist auf Erden niemand stärker. Er schreckt nicht vor Jünglings Armen, hat mit Kindern kein Erbarmen, Dringt selbst in bewachte Häuser und raubt Könige und Kaiser1*). In neugriechischen Leichenliedern tritt der Tod meist als Charon auf; da heißt es z . B . : Wer Kinder hat, verberge sie, wer Brüder, nehm' in Acht sie. Ihr Frauen wackerer Männer, auf! verberget eure Gatten! Denn Charon schickt' sich eben an, zum Plündern auszuziehen3). Oder an einer anderen Stelle: Ich sah den Charon, der zu Pferd durch weite Felder sprengte, Die Greise schleppt• er an der Hand, die Jungen an den Haaren, Und an dem Sattel führf er mit die Kindlein angereihet*). In einem russischen Leichenliede klagt eine Witwe sich selbst an, daß sie den heranschleichenden Tod eingelassen hat 6 ). *) Vgl. die Bilder fiir die Pest in dem Gedicht „der schwarze Tod" von L i n g g , die lebhaft an Jer 92of. erinnern: „Talein und aus, bergauf und ab, Ich mäh' zur öden Heide Die Welt mit meinem Wanderstab . . . „ N u n liegt das Volk wie welkes Blatt, Und wer das Laub zu sammeln hat, Wird auch der Mühe ledig . . . . " „Mir ist auf hohem Felsvorsprung Kein Schloß zu hoch, ich komme . . . . " 2 ) P r e x l : Geburts- und Totengebräuche der Rumänen in Siebenbürgen, Globus 57 (1890), S. 29. 3 ) B e r n h . S c h m i d t : Griech. Märchen, Sagen u. Volkslieder (1877), S. 159f. 4 ) P a s s o w: Liebes- und Klagelieder des Neugriechischen Volkes (1861), S. 55. 5 ) W e s s e l o f s k y a . a . O . S. 491.

161

Kapitel V.

§2

Eine Korsin singt beim Tode ihrer beiden Brüder: Tod, o Tod, wie bist so schwarz da, weil dies Leid uns überkommen, Denn ein Haus, ein volles, hast du bis aufs Nest-Ei ausgenommen'). Die beiden Bilder im Leichenliede des Jeremia gehen fast unmerklich ineinander über"). Das zweite Bild bestimmt viel stärker als das erste den Charakter des Liedes. Dies Bild vom S c h n i t t e r Tod ist eine geläufige poetische Vorstellung: „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod." Der erbarmungslose Schnitter schneidet soviel, daß er die Garben achtlos liegen läßt. Für die Toten haben wir hier also das Bild von den geschnittenen und hingeworfenen Garben. Das zweite Bild verweilt viel ausdrücklicher als das erste bei der Jugend. In den Häusern findet man auch Greise; wenn man es aber auf Kinder und Jünglinge abgesehen hat, dann muß man besonders auf Gassen und Plätzen suchen, wo sie sich im- munteren Spiel tummeln. Auch bei anderen Völkern ist das Bild der a b g e r i s s e n e n Pflanze bezeichnend für den Typus der Kindertotenklage3). So singt ein albanesisches Leichenlied, das beim Tode von kleinen Kindern angestimmt wird: 0 RosenJcnospe! Eine Blume warst du, bist gepflückt worden. 0 frische Rose! Du wurdest vor der Zeit gepflückt *)/ In einem rumänischen Leichenliede heißt es ähnlich: Gestern eine Woch' erst schwand, seit der Tod durchs Gartenland Ging mit Goldkind an der Hand, pflückf der Blumen stolze Pracht Und hat Sträuße draus gemacht"). Der Schluß unseres Liedes besteht in einer schneidenden Negation, die den Gegensatz zum Normalen ausdrückt; denn ') ) 3) 5)

a

G i e g o r o v i u s a. a. 0 . II, S. 51. Das zweite Bild fängt schon mit n 1 "On'? an. 4 ) v. H a h n a. a. 0 . II, S. 134. Vgl. zu diesem oben S. 93f. A l l a n , Magazin f. d. Lit. des Auslandes 49, S. 531.

Beihelte z. ZAW 36

11

Kapitel VI.

162

im allgemeinen hebt man Garben auf und läßt sie nicht liegen. Wir haben ja schon gesehen, daß solche Negationen häufig in Leichenliedern vorkommen').

Kapitel VI. Das Leichenlied im übertragenen Sinne nach seinen Hauptmerkmalen und -typen. Wir finden das Leichenlied aber nicht nur in den Händen der Propheten als eine der vielen Gattungen der Volksdichtung, die sie zur Veranschaulichung ihrer Rede anwandten, wie wir es an den Beispielen Jer 38sa und 9sof. gesehen haben. Die Gattung ist noch viel nachhaltiger von ihnen benutzt und zu einem Ausdrucksmittel ihrer eigentümlichen Gedankenwelt umgeprägt worden. Keine andere dichterische Gattung hat sich so wie diese unter dem Einfluß des prophetischen Geistes dehnen und pressen, verbiegen und zerbrechen lassen müssen. § 1.

Hauptmerkmale der Übertragung.

Bei den beiden bisher behandelten Proben prophetischer Leichenlieder bestand die Unwirklichkeit der Gattung, wie schon gesagt, nicht im Inhalt, sondern nur in der Situation der Lieder 2 ). Bei den p r o p h e t i s c h e n L e i c h e n l i e d e r n im. e n g e r e n S i n n e , denen wir uns jetzt zuwenden, dringt die umbildende Kraft der prophetischen Dichter tief ins Mark der Gattung ein. Diese Entwicklung des Leichenliedes steht einzig in der Weltliteratur da und erhebt die hebräische Qina, bei all ihrer Verwandtschaft mit der Leichenpoesie anderer Völker, weit über diese. Der Ged a n k e n k r e i s , aus dem das prophetische Leichenlied erwachsen st, ist der e s c h a t o l o g i s c h e . Zur Ausmalung der letzten Zukunft konnte kein rhetorisches Mittel geeigneter sein als das letzte Lied, die Leichenklage. Der Prophet singt es meistens im voraus, wie wir es schon bei dem Liede Jer 3822 gesehen haben 3 ); er wählt, ohne sich mit Vorläufigkeiten aufzuhalten, ohne wie ein braver Pädagoge eine schonende Vorbereitung vorauszuschicken, den allerletzten Schlußpunkt der Katastrophe, das Lied, das ohne weiteres im Ohre jedes Hörers den Eindruck der unwiderruflichen Endgültigkeit erweckt. Da es aber eine Eigentümlich») Vgl. oben S. 131.

-) Vgl. oben S. 125f. 159.

3

) Vgl. oben S. 125.

Kapitel VI.

163

keit der Unheilspropheten ist, die furchtbare Zukunft dem Volke gerade in Zeiten der ruhigen Sicherheit vor die Seele zu stellen, so ist damit der scharfe K o n t r a s t z w i s c h e n d e r S t i m m u n g d e s L i e d e s u n d d e r j e n i g e n d e r H ö r e r gegeben. Gilt das Leichenlied einer feindlichen Macht, dann tritt eine noch viel kompliziertere Veränderung im Stimmungsgehalt des Liedes selbst ein. Die prophetische Zukunftserwartung hat es in erster Reihe mit dem Schicksal der Gesamtheit, nicht mit dem des einzelnen zu tun; es liegt daher nahe, daß der Prophet, um das Leichenlied seinen Zwecken dienstbar zu machen, in der L e i c h e die P e r s o n i f i k a t i o n e i n e r G e s a m t h e i t sieht. So wird im prophetischen Leichenliede in den meisten Fällen der T o d zum B i l d e d e s p o l i t i s c h e n U n t e r g a n g s , der für die einzelnen nicht Tod zu bedeuten braucht. Daß der Tod selbst zum Bilde wird, ist ein Ergebnis schwerer nationaler Erfahrungen: nicht die Toten soll man beweinen; es gibt Schlimmeres als solch persönliches Unglück. Bezeichnend für diese Übertragung sind etwa die Worte des Jeremia (22i 0 ): Weint nicht um den Toten1), und bedauert ihn nicht! tveint um den, der gegangen2) /

In Rußland beklagen die Mütter den Aufbruch ihrer Söhne zum Heere und die Bräute die Trennung vom Elternhause mit Liedern, die Prichitan'ya, d. h. Leichenlieder, genannt werden 3 ). Also auch hier wird das Leichenlied vom Tode auf einen andersartigen Abschied übertragen. Eine Parallele für die eschatologische Wendung des prophetischen Leichenliedes finden wir in folgenden Worten des Apokalyptikers: Und warum also Magen wir wiederum über die, die tot sind? Oder warum weinen wir über die, die in die Unterwelt dahingehen? Möchten doch die Wehklagen aufbewahrt werden für den Anfang der zukünftigen Pein, nnd möchten die Tränen niedergelegt werden für das Herbeikommen des Untergangs, der alsdann eintritt *). ') Nach LXX 2

) D. h. um den nach Ägypten fortgeführten Joachas statt um den ge3 fallenen Josia. ) R a l s t o n a. a. 0. S. 334, vgl. oben S. 123. 4 ) Syrische Baruchapokatypse 522f. 11*

164

Kapitel V I

D i e U m b i l d u n g e n , die die Gattung in den Händen der Propheten erfährt, können also in folgenden verschiedenen Momenten bestehen: a) darin, daß das Leichenlied im voraus gesungen wird, wobei freilich die eschatologische Anwendung nicht immer im strengsten Sinne mit Bezug auf die „letzte Zeit" zu verstehen ist; b) in der Umgestaltung des Stimmungsgehaltes; c) darin, daß die Leiche nicht ein einzelner Mensch, sondern eine personifizierte Gesamtheit (Land oder Stadt) ist; d) darin, daß nicht der Tod, sondern die politische Vernichtung beklagt wird. Wir werden sehen, daß die soeben zusammengestellten Z ü g e , die im unwirklichen Leichenliede vorkommen, nicht i m m e r alle z u s a m m e n z u t r e f f e n brauchen, sondern daß sie auch einzeln und in verschiedenen Verbindungen auftreten können. Nicht einmal die Anstimmung des Liedes im voraus oder die personifizierte Übertragung sind unerläßliche Merkmale des prophetischen Leichenliedes. Neben der Übertragung des Leichenliedes durch die Propheten geht als Parallelerscheinung die übertragene Anwendung der Trauerriten auf die verschiedensten Arten von öffentlichem Unglück her 1 ). Ja, es ist anzunehmen, daß diese Übertragung älter ist als die prophetische Umbildung der Qina2). Begreiflich genug ist es, daß wir die Urheber der Übertragung von Trauerbräuchen auf nationale Nöte nicht nennen können. Sie hat sich unmerklich vollzogen, weil der Sinn dieser Bräuche, wie wir im ersten Kapitel dieser Untersuchung gesehen haben, wandlungsfähig war, ohne daß sie selber wesentlich verändert zu werden brauchten. Hingegen war die übertragene Anwendung des Leichenliedes nur durch eine innere Umgestaltung möglich, und diese schließt sich wie alle geistigen Leistungen an bestimmte große Persönlichkeiten an. Wir haben schon beobachtet, daß bei der wirklichen Totentrauer die übrigen Riten allmählich hinter der Leichenklage zurücktreten3). Es ist möglich, daß die meisten dieser so volkstümlichen Bräuche mehr und mehr in das Gebiet ' ) Z . B . 1 Sam4ia Thr 2io E s t 4 i . 3 2)

1 Reg 2 1 «

2. Reg 6 so 19t Jes 20 a Jer 41 6

Esr 9 3 2. Makk 3 i » 3. Makk Iis.

Vgl. besonders 1. Sam 4is.

3)

Vgl. oben S. 55.

Mils.io

165

Kapitel VI.

§ 2

übertragener Trauer übergegangen sind1), wo die Beziehung zu den unheimlichen Totengeistern wegfiel, die sie bei der wirklichen Totentrauer anstößig machte. Wir betrachten nun im Folgenden die einzelnen Beispiele der übertragenen Anwendung des Leichenliedes. § 2.

Totenklage des Arnos um die Jungfrau Israel Am 5t. Am 5 2 . Gefallen

ist,

nicht

die Jungfrau Geworfen und

ist keiner

steht

mehr

auf

Israel; sie auf hilft

ihr ihr

(5) Land, auf!

(5)

Dieses L e i c h e n l i e d , mit dem Arnos den leichtfertigen Jubel seiner Zeit in grellem Mißton durchbrach, ist die älteste im AT erhaltene Übertragung des Leichenliedes, vielleicht überhaupt die e r s t m a l i g v o l l z o g e n e A n w e n d u n g der Gattung im unwirklichen Sinne, wie wir sehen werden. Die Gattung des unwirklichen Leichenliedes setzt hier gleich bei ihrem ersten Auftauchen mit der vollen Wucht ein und zeigt alle c h a r a k t e r i s t i s c h e n Z ü g e , die später nicht wieder so vereinigt vorkommen: das Lied wird im voraus gesungen; es gilt nicht, wie es später vorkommt, einer feindlichen heidnischen Macht, sondern Israel; es ertönt in einem Augenblick, in dem nichts auf eine Katastrophe hinzudeuten scheint, denn Israel steht damals auf dem Gipfel des politischen und wirtschaftlichen Glückes; die Übertragung ist innegehalten, d. h. das Bild der wirklichen Leiche ist streng durchgeführt. Dabei ist das Lied von einer knappen Kürze, die, wenn man es mit späteren Beispielen der Gattung vergleicht, deutlich als Stempel der Ursprünglichkeit zu erkennen ist. Diese Ursprünglichkeit kann aber eben nur an der Knappheit und Bildhaftigkeit des Liedes empfunden werden; denn der reine Gedankeninhait würde auch zulassen, daß das Lied an einer anderen als der ersten Stelle in der Geschichte der übertragenen Gattung *) Z B. in den Makkabäerbüchern hören wir dreimal bei wirklicher Totentrauer nur von der Leichenklage und nichts von anderen Riten: 1. Makk 270 9sof: 1326. Die (oben S. 164 1 angeführten) einzigen Stellen in diesen Büchern, die von Riten handeln, beziehen sich, wie gesagt, auf Nationaltrauer im übertragenen Sinne.

166

Kapitel VI.

seinen Platz fände. Im letzteren Falle würde diese Geschichte etwa folgendermaßen zu denken sein: zuerst ist die Gattung des Leichenliedes auf das politische Gebiet übertragen worden, dabei hat man unter dem Bilde der Leiche gefallene Städte oder Länder beklagt. Dieser einfache Typus würde im AT durch die „Threni" vertreten sein, die man wegen der genau zu bestimmenden geschichtlichen Lage, aus der sie entstanden sind, als eine späte Entwicklungsstufe der Gattung bezeichnen müßte. Die eschatologische Wendung und alle damit zusammenhängenden Züge würden dann als eine Umbildung des politischen Leichenliedes in der Hand der Propheten zu erklären sein. Aber die Geradlinigkeit dieser geschichtlichen Entwicklungslinie macht mißtrauisch gegen ihre Richtigkeit. Denn die Linien der Wirklichkeit verlaufen überraschender und weniger logisch als die Gedankengleise des menschlichen Geistes, der sie nachzuziehen versucht. Die Zusammengedrängtheit charakteristischer Züge, die Zugespitztheit derselben zu einem knappen, einheitlichen Ganzen läßt das Leichenlied des Arnos doch als e i n e n e r s t e n W u r f und nicht als ein Glied mitten in einer folgerichtigen Entwicklungsreihe erscheinen. Die Kühnheit, die in der erstmaligen Übertragung der Leichenklage gerade auf Israel und in der Anstimmung des Leichenliedes v o r dem Fall liegt, darf man nicht damit mildern und entschuldigen wollen, daß eine solche Gattung in ihren ersten Stadien schon vor der Zeit des Arnos vorlag 1 ); diese Kühnheit ist furchtbar und genial zugleich, d. h. eben prophetisch. Für die Ursprünglichkeit des Liedes spricht auch seine S p a r s a m k e i t mit M o t i v e n : das Bild der Leiche genügt hier vollkommen, weil es eben zum ersten Male im übertragenen Sinne angewandt ist; diese ü b e r t r a g e n e A n w e n d u n g an sich i s t die P o i n t e des Liedes. Wir werden sehen, daß sie nicht ein zweites Mal in dieser Einfachheit zur Bildung eines neuen Liedes ausreichen wird. In seiner Kürze und Schlichtheit, sowie in dem Umstand, daß das Lied uns tatsächlich an die Leiche führt und sie uns schildert, entspricht es dem ältesten Typus der wirklichen Leichenklage, der, wie wir gesehen haben, meistens ) Statt einer solchen dichterischen Vorstufe für das prophetische Leichenlied könnte man die Anwendung der Trauerriten auf öffentliche Nöte als erste Stufe der Übertragung annehmen. x

Kapitel VI.

167

von ganz geringem Umfange ist 1 ). Das V e r s m a ß des Liedes ist der Fünfer; der Prophet kann umso eher darauf rechnen, gleich in seiner Absicht verstanden zu werden, wenn er dieses gebräuchliche Versmaß des Leichenliedes wählt 2 ), überdies hat er selber das Lied in seiner vorangestellten Einführung als „Qina" bezeichnet. Wie das eigentliche Leichenlied so ist wohl auch diese Totenklage auf Israel g e s u n g e n worden, und wahrscheinlich in der feststehenden Melodie der Leichenklage 3 ). Auch darin entspricht unser Lied der einfachsten und ältesten Form der wirklichen Leichenklage, daß es ü b e r d e n G e d a n k e n d e s T o d e s s e l b s t n i c h t h i n a u s g e h t ; besonders fehlt jeder Ausdruck von persönlicher Empfindung. Sogar die Vergleiche zwischen Einst und Jetzt kommen nicht vor; Arnos kann sie sich sparen, da nach der Eigenart der Übertragung, die er vollzieht, das von der Leichenklage aus gerechnete blühende Einst die eigene Gegenwart des Dichters ist. Die Klage setzt sehr wirkungsvoll mit der abrupten V e r k ü n d i g u n g d e s T o d e s der „Jungfrau Israel" ein 4 ). Die V e r b i l d l i c h u n g Israels durch die Gestalt einer J u n g f r a u hat nichts Uberraschendes, da in Israel wie bei den verschiedensten Völkern die Darstellung des Landes durch eine Frauengestalt beliebt ist (man vergleiche nur unsere „Germania"). Auch Joel l s wird Juda mit einer Jungfrau verglichen, die aber nicht beklagt wird, sondern selber klagt. Aber im Liede des Arnos hat es noch einen besonderen Sinn, daß Jsrael gerade als Jungfrau gedacht ist. Wir haben gesehen, daß, wie überall, so auch bei den Hebräern der Tod einer Jungfrau als besonders traurig empfunden wurde 6 ). Diese menschliche Bedeutsamkeit des Jungfrauentodes ist hier verbildlicht und ins Heroische gesteigert: die Jungfrau, die noch nie Eroberte, liegt hingestreckt da! Wir fühlen uns bei diesen klagenden Worten an das traurige Geschick einer jungen, bisher ungebrochenen Amazone erinnert. Daß die Jungfrau auf ihrem Grund und Boden hingestreckt liegen, daß also Israel im eigenen Lande zum ersten Male niedergeworfen werden wird und daß diese Niederwerfung endgültig sein soll, das sind die einzigen Gedanken des Liedes. Letzterer ist der Hauptgedanke, denn er a ») 2 - 4 Zeilen, vgl. oben S. 93. ) Vgl. oben S. 91 f. 3 4 5 ) Vgl. oben S. 79 f. ) Vgl. oben S. 101. 138. ) Vgl. oben S. 121.

168

Kapitel VI.

wird zweimal variiert. Das N i e d e r g e s t r e c k t s e i n des einst Stolzen und Aufrechten im Tode kommt auch als Motiv der wirklichen Leichenklage vor: . .. Die Erde taumelt hin und her, denn der große Häuptling liegt am Boden, heißt es in einer neuseeländischen Totenklage')• Der S c h l u ß unseres Liedes besteht in einer ähnlichen Negation, wie wir sie Jer 9 2 I beobachtet haben"). Der Ton dieser Stilform ist Wehmut über die Unwiderruflichkeit des Todesschicksals,. sie ist deshalb als ein gebräuchlicher Schluß der wirklichen Leichenklage wohl denkbar.

§ 3.

Threni auf den Fall Jerusalems („Klagelleder Jeremiae").

Das zweite Beispiel einer Übertragung der Gattung im A T liegt in den sog. „ K l a g e l i e d e r n J e r e m i a e " * ) vor, die den Fall Jerusalems zum Gegenstand haben. Der T i t e l des Buches läßt darüber keinen Zweifel bestehen, daß wir es hier wirklich mit- einer Umbildung der Gattung des Leichenliedes zu tun haben: in der hebräischen Bibel führt es den Namen ,,'ekä" nach dem stehenden Anfangswort der Gattung 4 ), das auch hier die Lieder Kap. i. 2. 4 einleitet; im Talmud und bei den Rabbinen heißt es gewöhnlich „qinöth", in L X X „threnoi" und in der patristischen Literatur ebenfalls threnoi oder lateinisch threni, lamentationes. Sämtliche Namen beweisen also, daß die Verwandtschaft des Buches mit der alten Gattung des Leichenliedes in den verschiedensten Perioden richtig empfunden worden ist. Freilich bezieht sich diese Verwandtschaft nur auf die schon erwähnten Kapitel 1. 2. 4, für die denn auch nur der Titel des Buches paßt. Die Kapitel 3 und 5 gehören anderen Gattungen x)

D a v i s : Maori Mementos, S. 165. •) Vgl. oben S. 161f. Vgl. die Kommentare zu den „Klageliedern": O e t t l i (1889); Budde (1898) und ZA W 2 (1882), S. 1 ff.; 12 (1892), S. 264 ff.; L ö h r ( 2 1906) und bei K a u t z s c h * I I ; E h r l i c h : Randglossen zur hebr. Bibel V I I (1914); H. S c h m i d t : Die großen Propheten und ihre Zeit (Schriften des A T in Auswahl I I 2 (1915), S. 461 ff. (Thr 2 u, 4). Ferner B i c k e l l : Carmina Vet. Test, metrice (1882) und Krit. Bearb. der Klagelieder, Wiener Ztschr. f. d. Kunde d. Morgenl. 8 (1894), S. 101 ff; G u n k e l : Klagelieder Jeremiae, RGG I I I (1912). *) Vgl. oben S. 136. 3)

Kapitel VI.

169

an'); ihre Behandlung scheidet deshalb auch in unserem Zusamraer hange aus. Das V e r s m a ß dieser „Leichenlieder" ist schon lange Gegenstand der Untersuchung gewesen. B u d d e hat mit seiner Entdeckung, des „Qina-Verses" bei den „Klageliedern" eingesetzt 2 ). In ihnen ist aber außer der rhythmischen Bindung noch ein anderes formales Prinzip durchgeführt: ihre Abfassung in Akrostichen, d. h. die strophische Gliederung der Lieder nach der Ordnung der Buchstaben des Alphabets. Diese beginnen in den Gedichten Kap. 1 und 2 Strophen von je 3, in dem Gedicht Kap. 4 Strophen von je 2 Zeilen. Von diesen strophischen Einheiten ist S i e v e r s bei seinen neuen rhythmischen Beobachtungen ausgegangen") und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, daß, während in Threni 2 und 4 allerdings die Fünfer durchaus vorherrschen, in Threni 1 die Vierer eine größere Rolle spielen, und zwar zuweilen mit dem Fünfer zu dem Schema 5 + 4 + 4 zusammengefügt sind. Die Threni weisen also neben den reinen Fünfern Spuren geregelter Wechselmetra auf. Vielleicht wird spätere Forschung einen genaueren Einblick in diese metrischen Fragen erhalten. Die akrostichische Form der Gedichte zeigt übrigens einen weiten Abstand von der ursprünglichen Gattung, die g e s u n g e n wurde, in der also nur Gesetze des Klanges formgebend wirken konnten, während hier ein formales Mittel angewandt ist, das nur vom Auge gewürdigt werden kann. Schon dadurch geben sich diese Lieder als zum L e s e n bestimmt, also als Literatur im eigentlichen Sinne. Freilich ist es keine Literatur hohen Ranges, die sich das Gesetz durch den Buchstaben statt durch den Geist geben läßt, und es ist eine notwendige Folge dieser Künstelei, daß der gedankliche Zusammenhang in den Gedichten kaum jemals über die Strophe hinausreicht. Wenn wir diese Gedichte mit dem Leichenliede des Arnos vergleichen, dann erkennen wir in ihnen eine deutliche Abs c h w ä c h u n g der dort beobachteten umbildenden Kraft. Zugleich aber tritt ebendadurch in einigen Punkten wieder eine ') Kap. 3 gehört der Gattung der individuellen, Kap. 5 derjenigen der 2 Volksklagepsalmen an, vgl. G u n k e l a.a.O. Sp. 1502. ) Vgl. oben S. 91. 3 ) Metrische Studien I, Studien zur hebräischen Metrik a. a. 0. S. 120ff

170.

Kapitel VI.

A n n ä h e r u n g a n d i e a l t e G a t t u n g des wirklichen Leichenliedes ein: die Lieder sind n i c h t v o r , sondern n a c h der Katastrophe verfaßt; infolgedessen ist auch ihre Stimmung wieder .wie im alten Leichenliede die e i n h e i t l i c h e S t i m m u n g der Trauer, die Dichter und Zuhörer oder Leser miteinander ohne Mißton verbindet. Freilich zeigen die Gedichte auch bei einem Vergleich mit der Gattung des eigentlichen Leichenliedes gewisse Züge der Abwandlung: der krasse, unversöhnliche Gegensatz zwischen Einst und Jetzt — ein wesentliches Merkmal des alten Leichenliedes, hervorgerufen durch die Unbegreiflichkeit des Todesschicksals — ist in ihnen gemildert 1 ) durch Einschiebung eines Zwischengliedes: die Katastrophe, die hier beklagt wird, ist nicht unbegreiflich, sie ist b e g r ü n d e t d u r c h J e r u s a l e m s S ü n d e 2 ) . In dieser Auffassung macht sich prophetischer Einfluß geltend; auch bei Arnos steht natürlich dieser Gedanke im Hintergrund, ist aber nicht ausgesprochen. Aber noch in einer anderen Beziehung zeigen unsere Gedichte eine Abweichung von der Eigenart des alten Leichenliedes: dieses beklagte den Todesfall als unabänderlich, es wußte nichts von Hoffnung, während das Gedicht Threni 4 geradezu mit der prophetischen H o f f n u n g auf Wiederherstellung Zions schließt 3 ). Nur in abgewandelter Form konnte also das Leichenlied jene hochbedeutsame Umgestaltung erleben, die wir in den Threni finden: die U m g e s t a l t u n g einer ursprünglich ganz profanen Gattung 1 ) z u m r e l i g i ö s e n G e d i c h t . Auch literargeschichtlich läßt sich diese Entwicklung feststellen, nämlich als eine B e e i n f l u s s u n g d u r c h die sonst streng vom Leichenliede zu unterscheidende G a t t u n g d e s V o l k s k l a g e p s a l m s . Diesen Einfluß zeigen besonders die Stücke: l 9 c . itc. 20 —22 220—22« und zwar am deutlichsten durch die Anrufung Jahwes, dessen Name ja im wirklichen Leichenliede nicht vorkommt 6 ). Der wesentliche In") Trotz dieser gedanklichen Abwandlung ist in den Threni im einzelnen der Gegensatz von Einst und Jetzt als Stilform durchaus beibehalten, vgl. die 2 3 im Folgenden angeführten Beispiele. ) ls. a. n. 20. 22 2 n 4e. is. ) 422. J ) Vgl. oben S. 56 f. 6 ) Vgl. oben S. 56. — In den Threni kommt der Name Jahwe auch ohne direkte Anrufung an einer ganzen Reihe von Stellen vor. Die Anrufung Jahwes im Vokativ findet sich in den Volksklagepsalmen z.B. Ps 442 74i 79i 80a 83»-

Kapitel VI.

171

halt dieser Stücke ist: die Klage Uber die gegenwärtige Not 1 ), die Bitte an Jahwe, dareinzuschauen 2 ), das Bekenntnis, an dem Elend selber schuld zu sein 3 ) — alles häufige Motive des Volksklagepsalms, die hier an Stelle des Volkes dem personifizierten Zion in den Mund gelegt sind. Bei anderen Motiven und Stilformen werden wir weniger eine Beeinflussung durch die Volksklagepsalmen als eine gewisse Gemeinsamkeit beider Gattungen annehmen dürfen, z. B. bei den verzweifelten Fragen *), die dem Leichenlied ebenso eigentümlich sind 5 ) wie dem Klagepsalm 0 ), und bei noch anderen Stoffen und Formen, die uns im Folgenden begegnen werden. Die Verbindung von Religion und Totenklage, die sich in den Threni findet, ist an sich nicht einzigartig; sie vollzieht sich sogar bei christlichen Völkern der Gegenwart 7 ), aber meist ohne innere Auseinandersetzung. Bei den Christen in Südpalästina z.B. findet eine Klagefeier, sogar ein Klagetanz während der kirchlichen Trauerfeier vor der Kirche statt 8 ). Bei den Korsen amtiert die katholische Totenbruderschaft unmittelbar nach den Klageweibern 6 ). Ahnliche Erscheinungen werden in Sardinien, bei den NeugrieGhen, in Spanien und in der Gascogne beobachtet. In einem neuarabischen Leichenliede ertönt an der Bahre eines ermordeten Christen der furchtbare Fluch über den Mörder: „Sein Blut ströme über sein Blut 10 )!" und in einer korsischen Totenklage folgt dicht hinter einem glühenden Rachegelöbnis die christlich begründete Ermahnung, den Feinden zu vergeben"). Es kommen sogar bei Christen und Muhammedanern auch Gebete in Leichenliedern vor 12 ). Es leuchtet ohne weiteres ein, daß in den Threni eine ganz andersartige Verbindung von Religion und Leichenlied vorliegt 1 9 . 1 1 . 2 0 — 2 2 2 2 1 . 2 2 , V g l . P S 4 4 1 0 — 1 7 . 20. 28. 26 7 4 4 — 9 79l—4 1 2 3 3 . 1 . -) l s . 11. 20. 21 220, Vgl. PS 4424. 27 74«. 8. 18 -23 7 9 5—12 8 0 2—4.8.16—20 8310—19

')

8 6 5 . 7- 8а

) I20.22, im Psalter selten, z. B. Ps 79 8 . 9; häufiger in der von den Pro4 pheten angewandten Gattung, z . B . Jes 59i2.13 644.« Jerl47.2o. ) 220. б ) Vgl. oben S. 101. 130f. Vgl. z. B. P s 44 21 . 26 74i.io. u 79 6 85«. ') Diese Verbindung geht her neben der grundsätzlichen Verwerfung der Totenklage im Christentum, vgl. oben S. 55 3 und unten Kap. VIII, § 2. 8 9 ) Vgl. D a l m a n a . a . O . S. 333. ) G r e g o r o v i u s a. a. 0 . II, S. 33f. ">) L i t t m a n n a. a. 0 . S. 119, 82 und 3. ") G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 70f. »«) Z. B. L i t t m a n n a . a . O . S. 130, 43; D a l m a n a . a . O . S. 323.

172

Kapitel VI.

als in diesen Beispielen, da es sich ja hier um keinen wirklichen Todesfall handelt, sondern der Tod nur als Bild für eine andere Katastrophe angewandt wird. Die Übertragung, die einst von prophetischem Geist vollzogen worden war, wird also auch hier wieder, diesmal von Epigonenhand, geübt. Aber gerade bei dieser Übertragung und der damit zusammenhängenden P e r s o n i f i k a t i o n machen sich bemerkenswerte Unterschiede zwischen diesen Gedichten und dem Leichenliede des Amos geltend: Jerusalem wird nicht als beklagte Tote, sondern als k l a g e n d e H i n t e r b l i e b e n e , als Witwe und ihrer Kinder beraubte Mutter, personifiziert 1 ). Eine Abschwächung gegenüber dem Liede des Amos liegt also einmal in der Tatsache, daß hier nicht der Tod, sondern der Schmerz um den Tod besungen wird — dementsprechend tritt im Inhalt der Lieder der Todesfall selbst hinter seinen Wirkungen zurück. Dann aber macht sich auch darin eine ästhetische Entartung geltend, daß eben zwei Bilder unvermittelt nebeneinander stehen, das der Witwe und der um ihre Kinder trauernden Mutter (außerdem heißt es auch noch gelegentlich unbefangen: ,,die jungfräuliche Tochter Zion" 2 ); es fehlt die kraftvolle Ursprünglichkeit einer einheitlichen künstlerischen Anschauung. Daß sich die „Klagelieder" nicht mit der Leiche, sondern mit der Hinterbliebenen beschäftigen, hat allerdings in der wirklichen Totenklage ein Vorbild. Auch hier gibt es Lieder, in denen weniger von dem Todesfall selbst als vom Schmerz der Hinterbliebenen und der bedrängten Lage, in die sie durch den Todesfall geraten sind, die Rede ist*); in vielen solchen Liedern wird der Todesfall nicht einmal erwähnt, sondern nur vorausgesetzt. Ein großer Teil dieser Lieder spricht nun gerade von der Witwe des Toten oder redet sie an oder läßt sie selbst ihre traurige Lage beklagen. Der Inhalt dieser Lieder bestätigt uns wieder, daß die Totenklage der Witwe überhaupt nicht charakteristisch und ursprünglich ist 4 ). Dieselbe Abschwächung, die sie *) Schon bei Jeremía kommt die Personifikation des Volkes oder Zions als trauernde Fraaengestalt vor, die aufgefordert wird, sich mit dem Saq zu umgürten, sich in der Asche zu wälzen (Jer 62«), mit geschorenem Haupte das Leichenlied zu singen (Jer 7 29). Mindestens an der ersten der beiden Stellen scheint wie in den Threni die Vorstellung der klagenden Mutter zugrunde zu liegen, da hier von der Trauer wie um den „Einzigen" die Bede ist. 3 4 2i8. ) Vgl. oben S. 98. ) Vgl. oben S. 65. 67.

Kapitel VI.

178

den Leichenliedern gegenüber bedeuten, in denen der Todesfall im Mittelpunkt steht, stellen die Threni im Verhältnis zum Leichenliede des Arnos dar. In diesen W i t w e n l i e d e r n tritt nun ein Zug stark hervor, der auch in den „Klageliedern" bei der Personifikation Jerusalems als Witwe ausschlaggebend gewesen zu sein scheint: die Witwe wird hier wie dort als die sozial Heruntergekommene hingestellt. So heißt es in einem neuarabischen Liede von der Frau des Toten: Meine Habe will ich verkaufen, (und) meine Hand ward matt, und mein stolzer Sinn ward nach seinem Tode matt und schwand oder: [dahin ...') Die N. ist eine Taube, im Käfige hat man sie erzogen, seine (des Gefallenen) schöne Geliebte hat man über alle Frauen bis sie die Hochnäsigen niedergetreten haben .. .8) [erhoben, oder in der Edda im 1. Lied von Gudrun: Erhabner schien ich den Helden des Königs als die hehren Jungfraun in Herjans (Odins) Saal; Nun hängt so tief mein Haupt hernieder wie am Weidenbaume das welke Laub 3). Ganz ähnlich im Ton ist der Anfang der „Klagelieder" gehalten: Ii Ach, wie so einsam sitzt, die4) einst reich an Volk ivar, Wie eine Witwe ist geworden, die groß tvar unter den Nationen; Die Fürstin über Provinzens) ist zur Fronmagd geworden.

(5) (5?)

(5?) Das Schema Einst und Jetzt, das gewöhnlich auf den Toten selbst angewandt wird, ist also in diesen Beispielen auf die Hinterbliebene übertragen worden. Wie wenig aber das Bild der Witwe hier durchgeführt ist, geht schon daraus hervor, daß nirgends gesagt ist, wer der tote Gatte sein soll, um den sie trauert. s ») L i t t m a n n a. a. 0 . S. 114, 4. ) M u s i l a. a. 0 . III, S. 446. ) Die Edda, iibs. von G e r i n g , S. 225,19; vgl. oben S. 105. *) "Tyn ist nach B u d d e als verdeutlichender Zusatz zu streichen; dadurch wird nicht nur das Metrum gebessert, sondern auch die Personifikation voll6 ständig. ) Diese Übersetzung nach Budde. 3

174

Kapitel VI.

In diese Lieder, welche die Not Jerusalems beklagen, sind nun an drei Stellen k l e i n e L e i c h e n l i e d e r J e r u s a l e m s auf i h r e K i n d e r eingestreut 1 ). Eine Verbindung zwischen den beiden Elementen ist wenigstens an einer Stelle geschaffen worden, nämlich dadurch daß der Dichter als Vorsänger auftritt und die Leidtragende zur Klage aufruft 2 ); diese Stilform haben wir aus der liturgischen Aufführungsart wirklicher Leichenklagen erklärt 8 ); sie kommt aber ebenso bei der Aufführung der Volksklage am Bußtag vor 4 ). Eins dieser kleinen Leichenlieder, das kürzeste und vielleicht eindrucksvollste, lautet: 2ao— 33 20

21

2i

Schau' her, Jahwe, und sieh darein: wem noch hast du solches angetan*)? Dürfen denn Frauen ihre Leibesfrucht essen, ihre Hätschelkinder6) ? Dürfen in deinem Heiligtum') gemordet werden Priester und Prophet? Ks liegen am Boden in den Gassen 8) Knabe und Greis, Meine Jungfrauen und Jünglinge sind durchs Schwert gefallen. Du hast gemordet am Tage deines Zornes; geschlachtet, nicht verschont! Du beriefst wie zum Versammlungstag Schrecknisse") von ringsumher, Und keinen gab's an deinem Zornestag,0), der entkam und entrann: Die ich gepflegt und großgezogen, mein Feind hat sie vertilgt!

(5) (5) (5) (5) (5) (5) (5) (5) (5)

Obwohl sich, wie wir oben gezeigt haben, gerade in diesen Stücken die Beeinflussung durch die Gattung des Volksklagepsalms geltend macht, haben die kleinen Leichenlieder Jerusalems a 3 ') l n c - 1 6 . 18-22 220-22. ) 2,sf. ) Vgl. oben S. 101 f. *) Vgl. z. B. Joel 1 und dazu B a u m g a r t n e r , ZAW Beiheft 34, S. lOff. 6 6 ) Diese Übersetzung nach E h r l i c h . j Diese Übersetzung nach B u d d e . 7 ) der sonst durchgeführten Anrede entsprechend (Budde). 8

) n O T i ? (Budde).

») D ^ i J D (BH).

">)

( B u d d e ) , vgl. zu 20c.

§ 3

Kapitel VI.

175

auf ihre Kinder doch darin den Vorzug größerer Ursprünglichkeit für sich, daß das Bild der klagenden Mutter wirklich durchgeführt ist: ihre toten Kinder sind die gefallenen Bewohner Jerusalems. Dieses Bild ist wohl aus der Anschauung entstanden: man hatte es erlebt, wie manche Mutter nach der Schlacht, in der sie mehrere Söhne verlor, solche verzweifelte Totenklage anstimmte. Wir finden das B i l d d e r um v i e l e t o t e K i n d e r k l a g e n d e n S t a m m u t t e r auch sonst im AT 1 ) und sogar in derselben geschichtlichen Periode noch einmal, nämlich: Jer 31 15 2 ) 3 )Ein Ton ivird in Rama laut: Wehklage, bitterliches Weinen! (3 + 3) Iiahel beweint ihre Kinder, will sich nicht trösten lassen*), denn sie sind nicht mehr5). (3 + 3) Hier klagt der Totengeist der Stammutter Rahel an der Stätte ihres Grabes um die fortziehenden Kinder, wie man sonst um Tote klagt. Die Vorstellung ist hier noch lebendiger und poetischer als in den Threni, weil die klagende Stammutter keine bloße soeben erfundene Personifikation, sondern die wohlbekannte Gestalt der Sage ist. Mi 116 scheint es wieder Jerusalem zu sein, das als trauernde Mutter angeredet wird: 6 Mach' dir eine Glatze und schere dich, ) um deine geliebten Kinder! (5?) Mach' dir eine Glatze, so breit ivie der Geier, denn sie müssen von dir ziehen! (5) Ebenso findet sich die Vorstellung der trauernden Stammmutter an mehreren Stellen der atl. Apokryphen und Pseudepigraphen: in der syrischen Baruchapokalypse 10i« *) Ein — allerdings sehr verblaßtes — Beispiel ist uns schon Nah 3?. io be,J gegnet, vgl. oben S. 33 ) Vgl. die Literatur zum Buche Jeremia oben S. 124®. 3 ) Streiche die hier nicht in den Zusammenhang passende Einführung n nDN HD4 ) Streiche nach LXXA das zweite ( D u h m , G i e s e b r e c h t , Corn i l l , R o t h s t e i n , E h r l i c h , H. S c h m i d t ) . s ) Lies nach den Übersetzungen D7N (BH). e ) An dieser Stelle (oder am Anfang des Verses?) ist vermutlich ein Ortsname ausgefallen; G u t h e : }V2rrD (bei K a u t z s c h 4 II).

176

Kapitel VI.

§3

Oder wozu sollen die Menschen noch Kinder haben, oder warum soll vom Geschlechte ihres Wesens noch die Bede sein, Dort, wo diese Mutter vereinsamt ist und ihre Kinder gefangen fortgeführt sind ? Im Buche Baruch 49-iü 8

9

Ihr betrübtet auch, die euch großgezogen hat: Denn sie sah den Zorn von Gott her über euch kommen und sprach:

Jerusalem;

(Nun folgt das Leichenlied Zions) „Hört, ihr Nachbarinnen Zions, denn Gott hat großen Jammer über mich gebracht, 10 Sah ich doch die Gefangenschaft meiner Söhne und Töchter, die der Ewige über sie verhängt hat. 11 Denn mit Freuden hatte ich sie großgezogen, doch mit Weinen und Klagen entließ ich sie. 12 Niemand erfreue sich an mir, die Witwe geworden und von Vielen verlassen ist . .. Hier haben- wir in genauer Übereinstimmung mit Threni die Personifikation Zions als Witwe und kinderlose Mutter1). In allen angeführten Parallelen bezieht sich die Leichenklage der Stammutter nicht nur auf die toten, sondern auch auf die weggeführten Kinder. Auch 4. Esra 107 in dem Gesicht Esras finden wir Zion als eine trauernde Mutter personifiziert, die um ihre Kinder klagt: Ist doch Zion, unser aller Mutter, selber in tiefer Trauer, in schwerem Leid., in bitterer Klage. An dieser Stelle haben wir aber noch ein anderes seltsames Gegenstück, das in denselben Vorstellungskreis hineingehört, nämlich die V o r s t e l l u n g v o n der Mutter Erde 2 ), die um ihre immer wieder sterbende oder ins Verderben gehende Menschheit klagt: ') Dieselbe Personifikation Jes 47sf. von Babel. ?) Vgl. auch'4. Esrä 5m und zu dieser Vorstellung D i e t e r i c h : Mutter Erde.

Kapitel VI.

177

4. Esra IO9-14 ' Frage (aber) die Erde, sie wird dir's sagen, daß sie es ist, die 10 über so viele klagen müßte, die auf ihr entsprossen sind. Aus ihr haben wir alle den Anfang genommen, andere werden aus ihr kommen: (fast) alle aber gehen ins Verderben, ihre Menge wird vernichtet. 11 Wer sollte also mehr klagen: nicht sie, die solche Menge verloren hat? etwa du, die du nur um den Einen Leid trägst? 111 Oder wirst du erwidern: Mein Jammer ist dem der Erde nicht gleich; ich habe meines Leibes Frucht verloren, die ich in Mühen gekreißt und mit Schmerzen geboren'). 13 Der Erde aber ergeht es nur nach ihrer Natur: die Menge, die auf ihr lebte, ist dahingegangen, wie sie gekommen ist. Aber ich entgegne dir: 14 Wie du mit Schmerzen gekreißt hast, ebenso hat auch die Erde im Anfang ihrem Schöpfer ihre Frucht, den Menschen, hervorgebracht. Dieser Vorstellung von der klagenden Mutter Erde steht die Gestalt der großen b a b y l o n i s c h e n M u t t e r g ö t t i n Istar nahe, die nach der Sintflut ihrer untergegangenen Menschheit gewissermaßen das Leichenlied singt: (Es schreit Istar wie eine Gebärende) Die vergangene Zeit9) ist zu Lehm geworden, weil ich in der Götter Versammlung Böses gebot; Ja, ich gebot in der Götterversammlung Böses, Zur Vernichtung meiner Leute gebot ich den Kampf. Ich allein gebäre meine Leute! (Und nun) füllen sie ivie Fischbrut das Meer"). Wir sehen also aus den angeführten Beispielen, daß die um ihre Kinder klagende Stammutter eine b e l i e b t e Gestalt alto r i e n t a l i s c h e r D i c h t u n g gewesen ist. In mehreren der erwähnten Lieder wird bei der Schilderung des Schmerzes der klagenden Stammutter auf die Mutterschmerzen in der Stunde der Geburt zurückgegriffen: im Liede der Istar heißt es, sie schreit wie eine Gebärende, 4. Esra 10n wird von der Mutter Zion gesagt, sie habe ebenso wie die Mutter Erde mit Schmerzen gekreißt, und auch Jer31i 5 liegt wohl der Gedanke zugrunde, daß Rahel wie ') Vgl. oben S. 95. Beihefte z. ZAW 36

9

) D. h. wohl: die frühere Menschheit.

3

) TuB I, S. 53. 12

Kapitel VI.

178

bei Benjamins Geburt, so auch jetzt, da ihre Kinder ihr geraubt sind, weint und seufzt und sich nicht trösten lassen will. Wie bereits erwähnt, haben wir es hier vielleicht mit einem aus der wirklichen Leichenklage herübergenommenen Motiv zu tun 1 ). Sogar die neugriechische Poesie zeigt uns noch eine Parallele zu der Vorstellung von der trauernden Stammutter. Das Erdbeben von Chios 1881 wird in folgendem Gedicht beklagt: 0 Chios, einst so hochberühmt, von aller Welt geehret, Wie bist du jetzt so todesbleich, von bitterm Harm verzehret! Wie schwand die Blütenpracht dahin, wo blieb nur deine Schöne? Der Töchter wonnigsüßer Reiz, die frische Kraft der Söhne ? ... Allmächtiger, du großer Gott, ach, hab mit uns Erbarmen! Laß jammern dich der Kindelein, der unschuldsvollen, armen *)! ... Wenn wir nun die L i e d e r des Buches Threni im e i n z e l n e n betrachten, dann verzichten wir auf eine Charakteristik der drei verschiedenen Gedichte in Kap. 1. 2 und 4. Mit der akrostichischen Form der Lieder hängt es, wie schon gesagt, zusammen, daß ein geschlossener Gedankenfortschritt in ihnen nicht zu beobachten ist. Daher kann auch von einer poetischen Eigenart der einzelnen Lieder kaum die Rede sein — mögen sie nun von demselben Verfasser stammen oder nicht. Die letztere Vermutung, daß verschiedene Verfasser anzunehmen seien, wird durch die Verschiedenheit der alphabetischen Reihenfolge nahegelegt, welche Kap. 1 einerseits, Kap. 2 und 4 andererseits befolgen. Es interessieren uns also hier n i c h t die L i e d e r a l s g a n z e , s o n d e r n d i e k l e i n e n E i n h e i t e n , aus denen sie bestehen: die M o t i v e . Wir werden nach der ganzen Anlage dieser Untersuchung besonders darauf zu achten haben, inwieweit hier Motive aus der wirklichen Leichenklage erhalten oder umgebildet sind. ') Vgl. oben S. 95.

2

) Lübke a.a.O. S. 344.

179

Kapitel VI.

Das Schema E i n s t u n d J e t z t , in das die Motive des Preises und der Klage so häufig eingestellt sind1), ist hier mit großem Nachdruck durchgeführt, z. B. in den schon angeführten Anfangsversen des ersten Liedes4), ferner in den später zu behandelnden Stellen: 2ib 2i 6 c 4i. a . Auch in den folgenden Versen tritt dieses Schema stark hervor: l

l)ie

4 6 . •>.» Leckerbissen®) gegessen hatten,

verschmachteten auf den Gassen, die auf Purpur getragen worden waren, umfingen Misthaufen. (4 + 4) 7 Beiner waren ihre Fürsten als Schnee, weißer als Milch, (o) Röter waren sie als Korallenäste saphirblau ihr Geäder5). (5) e Nun ist schwärzer als Ruß ihr Aussehen, man erkennt sie nicht auf den Gassen, (5) Ihre Haut bildet Runzeln auf ihren Knochen, ist trocken*) wie Holz. (5) Diese Verse zeigen überhaupt den Charakter des alten Leichenliedes ganz unverfälscht. Gerade das Verweilen bei den einstigen p r ä c h t i g e n L e b e n s u m s t ä n d e n d e s V e r s t o r b e n e n , zu denen seine augenblickliche Armseligkeit einen traurigen Gegensatz bildet, ist ungemein bezeichnend für die Gattung. So spielt in neuarabischen Leichenliedern der Kaffee, den der Tote einst getrunken und anderen gespendet hat, eine große RolleT). In den Lobeserhebungen eines solchen Liedes werden auch Eine Speiseschüssel mit vier Dienern*), Teller mit fließendem Fett") erwähnt. Von dem elenden Lager des Toten1(>) ist auch sonst in Leichenliedern viel die Rede 11 ), z . B . : 2 *) Vgl. oben S. 99. ) Oben S. 173. ) Streiche b vor DvnyD (Budde).

3

') ') 8 ) 10 )

4

) O ^ D ijjJJD (Bicke'll).

e Diese Übersetzung nach B i c k e l l . ) Streiche ITH (Budde). Z. B. D a l m a n a. a. 0. S. 327, 4. 334,1. 341, 4. 9 D.h. nur vier Diener können sie tragen. ) D a l m a n a.a.O. S. 343. Thr 4Ö. ") Vgl. auch zu J e s l 4 u Kap. VIII, § 1. 12*

180

Kapitel VI.

Statt schimmernd

reicher

statt des königlichen Und perldurchwirkten wie er für Liegst

Decken,

Bettes Baldachins,

dich sich ziemte,

du, auch der Gewände bar,

auf schnödem

Ufersande').

W i e in den Threni, so ist auch an dieser Stelle durch das Außergewöhnliche der Todesart der Gegensatz zu dem Einstigen und dem Toten Geziemenden noch verschärft. Dasselbe gilt von dem Aussehen der Toten 2), dem ihre einstigen körperlichen Vorzüge gegenübergestellt werden'). Diese Vorzüge nehmen in der Leichenpoesie aller naiven Völker einen breiten Raum ein*). Ähnlich wie die Threni die „Herrchen wie Milch und Blut 6 )" beklagen, singen die Klageweiber im neueren Agj^pten von der schönen Gestalt und dem prächtigen Turban des Verstorbenen6). Diese Motive spielen auch eine große Rolle in korsischen Leichenliedern: 0

du lieblich

Angesichte,

ganz gemischt von Milch Weißer

warst du denn der

Sag, wo sind sie nur deine Farben, Ach,

und

Weine').

Bergschnee').

geblieben,

die gesunden,

das Rosenrot

der

wie ist es so ganz

Wangen, entschwunden9)!

Und ein palästinisches Leichenlied singt: Was für der Hals

ein Knabe ist

er!

iveiß und wie silberdurchwirkter

Musselin

10).

Das Aussehen der Toten in realistischen, für uns Moderne fast abschreckenden Farben auszumalen,

schrickt

auch

sonst

die

' ) Aus Belthandros und Chrysantza, E l l i s s e n : Analekten der mittel- und neugriechischen Literatur V 2 (1862), S. 209, l l ö ö f f . l)

Vgl. oben S. 97.

6)

s)

Thr 4„.

а)

Thr 4t.

б)

Vgl. L a n e : Sitten und Gebräuche der heutigen Ägypter I I I , S. 148. 8)

B u d d e zu Thr 4,.

7)

G r e g o r o v i u s a. a. 0. II, S. 50.

9)

H ö r s t e l : Die Napoleonsinseln Korsika und Elba (1908), S. 142. — Diese

Ebenda S. 71.

alten Motive des Leichenliedes klingen sogar noch in unserer Karfreitagspoesie nach: „Die Farbe deiner Wangen, vergangen . . .

1

0

)

Der roten Lippen Pracht

D a l m a n a. a. 0. S. 336, 6.

Ist hin und ganz

181

Kapitel VI.

Leichenpoesie nicht zurück. Ein neuarabisches Leichenlied legt dem Toten selbst folgende Worte in den Mund: Blicket und sehet, meine Hände sind vertrocknet, und der Wurm der Verwesung ist in mich eingedrungen').

Dieser Zug im Leichenliede ist wohl auf den „Reiz des Anziehend-Unheimlichen" zurückzuführen, der für den Primitiven um das Totengebein wittert 2 ). Die T o d e s a r t spielt im eigentlichen Leichenliede eine große Rolle3); auch hier ist von ihr die Rede4), im Hinblick auf die Kinder der Mutter Zion. Das Schwert würgte sie draußen, wie die Seuche drinnen 6 ); Priester und Älteste6), sogar Kinder und Säuglinge mußten verschmachten *). Mit dieser Erzählung der Todesart verbindet sich, wie oft im wirklichen Leichenliede, die Anklage"), die sich aber hier seltsamerweise gegen Jahwe selber richtet: ¿21

C

Du hast gemordet am Tage deines geschlachtet, nicht verschont!

Zornes, (5)

Die V e r l a s s e n h e i t der „ H i n t e r b l i e b e n e n " ist, wie schon gesagt, ein Hauptmotiv der Threni"). Von dieser Verlassenheit, nicht nur von der sozialen Erniedrigung der „Witwe", ist schon im ersten Vers dieser Lieder die Rede: die „einst reich an Volk" war, sitzt nun „einsam". Ähnlich klagt die ägyptische Witwe am Grabe ihres Gatten: . , . Du Großer, verlasse mich nicht . . . . Daß ich nun von dir bin — — ivas soll das? Nun gehe ich allein'").

fem

') L i t t m a n n a. a. 0. S. 118, 71. ») Vgl. Rud. O t t o : Das Heilige 9 , S. 148f., besonders S. 363. Anscheinend ist die Beschäftigung der Phantasie gerade mit diesen Eigenschaften des Toten, mit seiner zunehmenden körperlichen Entstellung, seiner häßlichen blauschwarzen Farbe usw. bezeichnend für die präanimistische Stufe und die von ihr hervorgebrachte Vorstellung vom „Lebendigen Leichnam", vgl. H. N a u m a n n : Pri3 mitive Gemeinschaftskultur, S. 22. 30. ) Vgl. oben S. 98. 4 ) Dieses Motiv des Leichenliedes fällt hier gelegentlich mit dem Klagepsalmmotiv »Klage über die Not" zusammen, so lao 2u. 6 ) 120, vgl. auch 2ai. Stelle in I20 nach LXX die beiden letzten Worte um 6 7 (Lohr bei K a u t z s c h 4 II). ) I n , vgl. auch 4». ) 2 n , vgl. auch 4«. 8 ) Vgl. oben S. 98. 128. ») Vgl. oben S. 172f. 10 ) E r m a n : Ägypten, S. 433f.

182

Kapitel VI.

Eine arabische Witwe singt im Leichenliede: Es ereilte uns ein Hungerjahr, es ereilten uns Heuschrecken, Es verschwand der Schmuck von den Köpfen der Angesehenen, und doch hast du mich allein gelassen, o Vater meiner Kinder ...'). Der S c h m e r z wird in den Threni wie auch sonst oft im Leichenliede k ö r p e r l i c h g e s c h i l d e r t 2 ) ; darin zeigt sich eine primitive Kunst, die seelischen Schmerz noch nicht darzustellen vermag: Jahwe hat die Tochter Zion „siech" gemacht3), ihre „Eingeweide gären"*), ebenso die des Dichters5), das Herz „dreht sich ihr im Leibe um"'), sie soll ihr Herz „wie Wasser" ausschütten 7 ), die „Leber" des teilnehmenden Dichters ist „ausgegossen zur Erde"8). Eine Parallele zu diesen Wendungen findet sich in einem arabischen Leichenliede, worin es heißt: 0 Trauer über sie, sie zerschnitt meine Eingeweide, sie zerschnitt mein Herz und die Gedärme9). Bei den Äußerungen des Schmerzes der Tochter Zion werden häufig ihre T r ä n e n erwähnt10). Sie netzen ihre Wange 11 ), sie sollen wie ein Bach rinnen1'), ihr Auge zerfließt sogar in Tränen13), und auch dem Dichter schwinden in Tränen die Augen dahin"); auch Jer 9i 7 sollen (nach dem Wortlaut) die Augen „als Tränen dahinfließen"15). Ähnlich heißt es in arabischen Leichenliedern: Ich will mein Auge zubinden um deinetwillen — — und sagen: es ist dahin ....ia). Und wir wollen deiner Tochter sagen, daß sie ihre Augen salbe. Denn ihre Augen sind krank deinetwegen, seit du aus dem Hause gingst1''). Mein Auge will nicht (schlafen), und sein Splitter quält es immer ivieder mit Augenschmerz18). 2 ') M u s i l a. a. 0. HI, S. 435. ) Vgl. z. B. zu 2. Sam l*e oben S. 153. 4 6 9 ") 113, vgl. 32. ) ls-o. ) 2n. «) 1 so. ') 2i». ) 2,i. 10 ') M u s i l a. a. 0. III, S. 436. ) Vgl. oben S. 46ff. 99. ») ls. 1S ) 2„. ") 1 1B . u ) 2ii. — Auch an diesen Stellen finden Berührungen mit der Gattung der Klagepsalmen statt, vgl. z. B. Ps 67 39i3 421 102io und B a u m g a r t n e r : Die 16 Klagegedichte des Jeremia (1917), S. 79 4 . ) Vgl. oben S. 49. 158. 16 ) L i t t m a n n a.a.O. S. 129, 22. ") Ebenda S. 132, 85f. 19 ) N ö l d e k e a.a.O. S. 167.

Kapitel VI.

183

Ein neugriechisches Leichenlied singt: Wo wein' ich all die Tränen hin, die ich um dich vergieße? Wein' ich sie auf den dunklen Grund: kein Gras wird dort mehr sprießen, Wein' ich sie in den tiefen Fluß: so wird die Flut sich stauen, Wein' ich sie in das weite Meer: die Schiffe werden scheitern ....'). Das Motiv, das in den Threni am allerhäufigsten angeschlagen wird, ist das „ T r ö s t e n " . Zwar werden auch andere Trauerriten erwähnt: das Sitzen auf dem Boden, das Bestreuen des Hauptes mit Staub, das Anlegen des Saq a ), aber naturgemäß steht in einer Liedersammlung, die es vorwiegend mit der Hinterbliebenen zu tun hat, der Ritus im Vordergrunde, der nicht dem Toten, sondern den Hinterbliebenen gilt. Im ersten Liede ist das „Trösten" geradezu das Leitmotiv: Zion hat keinen Tröster, so heißt es immer wieder 3 ). Im zweiten Liede versucht der Dichter selbst, die Rolle des „Trösters" zu übernehmen 4 ). An dieser einzigen Stelle kommt das '„Trösten" in Threni im positiven Sinne vor. Die Sitte des Tröstens gehörte auch in die festgeregelten Zeremonien der Bestattungsfeier hinein 6 ). Sie kommt außer den Threni noch an mehreren anderen Stellen des AT vor, im Zusammenhang mit den Kondolenzriten des Trauerbrots und Trostbechers 6 ) und ohne diese 7 ). Die Situation ist in Israel so vorzustellen, daß die teilnehmenden Verwandten und Freunde trauernd auf dem Boden sitzen, bis sie zum ,,Kondolieren" aufstehen 8 ). In St. Giugliäno bei Neapel sitzen die Angehörigen um den Katafalk des Toten, dann erscheinen befreundete Personen, deren jede nach Gefallen sich neben einem der Angehörigen niederläßt, um ihm als Tröster zur Seite zu sein 9 ). Vielleicht hat es bei den Israeliten auch einen bestimmten Kondolenzgestus gegeben: das Kopfschütteln L ü b k e a. a. 0. S. 335f. ) 2io, vielleicht auch das Schweigen, vgl. oben S. 67 4. 3 4 ) 1«.«. i«.n. 2i, vgl. Nah 3 7 , oben S. 33 2 . ) 2ia. 6 ) Vgl. oben S. 7. «) Jer 16,, vgl. oben S. 7. 31 f. ') Z. B. Gen 37äs 2. Sam 10 a Nah 37 1. Chr 7m 19af.; zur Bezeichnung des Ritus werden die beiden Ausdrücke o p j Pi und 113 gebraucht. 9 9 ) Gen 3735 4. Bsra 10*. ) T r e d e a. a. 0. IV, S. 413. s

184

Kapitel VI.

des Bedauerns 1 ). — J e r B l i s heißt es von Rahel, sie -will sich nicht trösten lassen2), d. h. ihr Schmerz ist zu groß, er spottet allen Trostes. In den Threni dagegen sehnt sich ?Aon vergeblich nach*Trost: sie streckt ihre Hände aus8), sie ruft den Vorübergehenden zu: Ii.

0 daß ihr auf mich*), all ihr Wegiuanderer, blicktet und sähet, Ob noch ein Schmerz ist wie mein Schmerz, der mir angetan ist, Mit dem Jahwe mich") betrübt hat am Tage seiner Zornesglut.

(5) (5) (5)

So sitzen noch heute die älteren Frauen in der Nähe von Jerusalem fern vom Grabe auf der Erde und singen, indem sie ihren Ärmelzipfel oder ein Tuch in der Hand drehen: Ich will mich setzen zur Seite des Wegs, vielleicht einem Edlen, dessen Herz zart, Entbrennt das Herz über mich*)! Hier haben wir also dieselbe Haltung, die von den Vorübergehenden Teilnahme heischt, wie in Threni. Nun gibt es bei den meisten Völkern, die den Ritus des „Tröstens" haben, ganz feststehende K o n d o l e n z f o r m e l n , die herkömmlich aufgesagt werden. Im heutigen Palästina stehen die Angeseheneren dabei vor den Blutsverwandten und sagen, einer nach dem andern, die folgenden W o r t e : „Unsere Gedanken sind bei euch", „euer Leid geht uns zu Herzen", „Gott erbarme sich des Dahingeschiedenen!" Dann erfolgt immer eine der Anrede entsprechende Antwort'). Eine arabische Kondolenzformel lautet: „Möge Gott dein gebrochenes Gemüt aufrichten 8 )!" In Albanien sagen die Tröstenden zu dem Trauernden: „Mögest du selbst, möge deine Herrlichkeit gesund bleiben!" und legen ihm die rechte Hand auf die Schulter"). Bei den Aromunen *) Dies ist wenigstens die ursprüngliche Bedeutung von Hj, vgl. Gese3 ) Vgl. auch Gen 37s5. nius-Buhl". ') l u . ' ) Im Anschluß an L X X (lies ot statt ol) T V "6k tffr (Budde). •) Nach L X X S "031D ( B i c k e l l , Budde). «) Dalman a. a. 0. S. 331, B 1. ' ) W e t z s t e i n , Ztschr. f. Ethnologie 5, S. 300f. 9) v. Hahn a. a. 0.1 : S. 150f. •) Musil a. a. 0. III, S. 428.

Kapitel VI.

185

wird die Mutter des Toten einmal mit folgenden Worten getröstet: „Schweige, jammere nicht, schweige, arme Joana, denn so wollte es Gott, du sollst leben. Ertrage, was alle deine Freundinnen ertragen müssen, daß du fühlst den Schmerz, den du nicht kanntest 1 )." Auch im alten Israel mag es solche feststehende Trostformeln gegeben haben. Dies ist vielleicht die Wurzel der schönen Wendung in der schon angeführten Stelle bei Jeremia: als bei der weinenden Stammutter Rahel kein Trost verfängt, da will kein Geringerer als Jahwe selbst ihr „Tröster" sein und sagt ihr das Trostwort: Jer 3116. i7 16

Halte deine Stimme vom Weinen zurück und deine Augen von Tränen, Denn es gibt noch einen Lohn für deine Mühe 17 3 )eine Hoffnung für deine Zukunft*).

(5) (5)

Auch der Versuch des Dichters, die Tochter Zion im zweiten Liede der Threni zu trösten, ist vielleicht eine Nachbildung solcher Kondolationsformeln: 213

Was soll ich dir gleichsetzen•was dir vergleichen, du Tochter Jerusalem? (5) Was soll ich dir an die Seite stellen, um dich zu trösten, du jungfräuliche Tochter Zion ? (5) Groß ivie das Meer ist dein Verderben, wer könnte dich heilen? (5)

Diese Trostformel enthält keinen wirklichen Trost, sie sagt im Gegenteil: Zions Schmerz ist unvergleichlich und namenlos. Aber der Dichter greift in seiner Not nach einem Bilde: Zions Verderben ist groß wie das Meer. Wir haben bereits festgestellt, daß die Bilder im Leichenliede z. T. aus der Absicht entstanden ') W e i g a n d a.a.O. II, S. 202. ) Streiche den Schluß des Verses ( E r b t , B o t h s t e i n ) . 3 ) Streiche ^ (Rothstein). 4 ) Streiche den Schluß des Verses ( R o t h s t e i n ) . Die durch die vorher bezeichneten Streichungen gewonnene Lesart entspricht in der Unbestimmtheit der darin enthaltenen Weissagung dem Charakter der alten Prophetie besser als die bestimmte Beziehung au! die Rückkehr aus dem Exil. Auch stilistisch und metrisch ergibt sich so ein schöner Parallelismus. ®) Lies nach Jes 40u ( M e i n h o l d , ZAW 15 (1895), S. 286; Lohr). 2

186

Kapitel VI.

sind, die Hinterbliebenen durch Analogieen des eigenen Unglücks au trösten'); der Vergleich, den der Dichter schließlich findet, ist hier allerdings schon rein poetischer Natur. In den Threni findet sich auch eine Anspielung auf den Kondolenzritus des „Trauerbrotes" 8 ): 4,o Die Hände weichherziger Frauen kochten ihre Kinder, Sie dienten ihnen zum Trauerbrot3) beim Zusammenbruch der Tochter meines Volkes.

(5) (5)

In Ps 69*2 findet eine ähnliche Übertragung statt: der Trostbediirftige bekommt hier Galle zum „Trostbrot". An unserer Stelle ist die Übertragung von noch viel raffinierterer Grausamkeit: beim Tode Zions essen die Frauen ihre eigenen, von ihnen selbst geschlachteten Kinder als Trostbrot*). Hier findet übrigens eine Verschiebung der grundlegenden Vorstellung der Threni statt, indem Zion als Tote hingestellt wird, die von anderen betrauert wird"), während sie sonst die Hinterbliebene ist, die selber des Trostes bedarf. Aber nicht nur, daß ihr dieser gebräuchliche Trost versagt wird — sie muß obendrein in ihrem Schmerz noch grausame S c h a d e n f r e u d e ertragen. Wir haben das Motiv der Schadenfreude bei der Behandlung von Davids Leichenlied um Saul und Jonathan kennen gelernt 6 ). In den Threni kommt dieses Motiv etwa ebenso häufig vor wie die Klage über den fehlenden Tröster'). Das Motiv der Schadenfreude ist hier etwas anders gewandt als in Davids Leichenlied: während dort die siegreichen Feinde sich über Israels Niederlage freuen, ist in Threni von den schadenfrohen Zuschauern die Rede. Eine Parallele dazu finden wir im Arabischen: Haben Eure Fürsten nicht gehört, ivas Älmuchill getan, daß darüber jeder, welcher (durch MaliJcs Tod) betrübt ist, erzürne, 3

2 Vgl. oben S. 106 f. ) Vgl. oben S. 7. 31 ff. ) Lies nach Ps 69 22 nrüi> ( O e t t l i , BH, E h r l i c h ) .

Das Essen des

Trauer- oder Trostbrotes wird auch sonst durch rVO ausgedrückt, vgl. 2. Sam 3 35. 4 6 ) Vgl. E h r l i c h . ) Vgl. auch 2n. «) Vgl. oben S. 141f. ') 16.7.21 215ff. Hier wieder eine Verwandtschaft mit den Motiven der Volksklagepsalmen, vgl. z . B . Ps 44»ff. 79 4 8 (Ehrlich, Duhm). — V. 2. Lies 1013 nach 151, wo HDU und "nty parallel gebraucht sind (Cheyne, M a r t i , 'Guthe), (Ehrlich), statt lies rtl^D (Gunkel), mit Herübernahme des 1 a u s V . 3 (Marti, G u t h e , Ehrlich) und ziehe auch C U I C D S aus V. 3 zu Y. 2 (Duhm, Cheyne, M a r t i , G u t h e , Ehrlich). — Y. 3. Streiche mtr es T ä p (Duhm) und das in LXX fehlende TW als Varianten -ZU -mtf JTIT, lies nriNian und streiche nach LXX Tini (Duhm, Cheyne, M a r t i , G u t h e , E h r l i c h , Schlögl). — V. 4. Streiche DTI tl}?D als Glosse (Duhm, C h e y n e , M a r t i , G u t h e , Schlögl). — Ich lese "HON und streiche das durch Dittographie entstandene • und das des Zusammenhangs wegen hinzugefügte 13, wodurch auch dem Metrum aufgeholfen wird. Zu der in V. 4 enthaltenen poetischen Vorstellung der Stadt als Mutter vgl. 541 66?ff., während sich die Vorstellung des Kinder zeugenden Meeres (Duhm, Marti) nicht aus dem AT belegen läßt. — Streiche V. 5 als prosaischen -Zusatz (Duhm, C h e y n e , M a r t i , Guthe). — V. 8. Lies jlTS (Duhm, M a r t i , Guthe) und mtä}?Dn (Renan: Hist. du Peuple d'Israel II (1889), S. 525 Cheyne, M a r t i , Guthe) und streiche mtr es PPiJWS als Variante zu m n D (Duhm, Cheyne, M a r t i , Guthe). — Y. 9. Lies statt es mit dem Folgenden zu verbinden, stelle "QS'^S hinter bpnb (Duhm, Cheyne, M a r t i , Guthe) und ersetze das offenbar aus V. 8 hier eingedrungene durch die graphisch nahe verwandten beiden ersten Wörter von V. 10, die pNTTOJ? zu lesen sind (Duhm, M a r t i , Guthe). — V. 10. Lies die übrigen Konsonanten von 10 a im Anschluß an LXX und entsprechend V. 1 als t W i n ni'JN 133 (in Anlehnung an Duhm: M a r t i , Guthe) und TilD statt • *t: : T TITO (Duhm, M a r t i , G u t h e , Schlögl). — V. 11. fTOD ( K i t t e l , Cheyne, - " T V._ T M a r t i , G u t h e , Schlögl). — V. 12. Streiche aus inhaltlichen und metrischen Gründen "iDtf>i (Cheyne, M a r t i , Duhm, G u t h e , Schlögl) und das in LXX fehlende n ^ T Q (Cheyne, M a r t i , Duhm, Guthe) und lies HOTO (Cheyne. Marti). — Y. 13 ist offenbar aus anderem Zusammenhang hierher geraten (Ehrlich) und ganz zu streichen. 1

Jammert, ihr Tarsisfahrer, daß zerstört die Einfahrt! Vom Lande der Kitthäer her

ward's

ihnen kund.

(5) (4)

') Vgl. die Kommentare zum Buche Jesaja: D i l l m a n n - K i t t e l (61898) C h e y n e (SBOT 1899); M a r t i (1900); E h r l i c h : Randglossen zur hebräischen Bibel IV (1912); Duhm (31914); Schlögl: Die Hl. Schriften des Alten Bundes IV (1915); G u t h e (bei K a u t z s c h * I).

§

Kapitel VI.

4

193

2

Vernichtet sind die Bewohner der Küste, der Kaufmann Sidons, s Dessen Schiffer fuhren auf vielen Wassern, Dessen Gewinn die Saat des Schichor, der Erwerb der Völker war. 4 Verzweifle, Sidon, sprich: „Nicht kreißtf und nicht gebar ich, Nicht zog ich Jünglinge groß, brachte Jungfrauen empor!"

(5) (4) (5) (5) (5)

6

Zieht hinüber nach Tarsis, jammert, Bewohner der Küste! 7 Ist dies euch die fröhliche, deren Ursprung in der Vorzeit, Deren Füße sie trugen, sich weithin anzusiedeln? 8 Wer beschloß dies über Sidon, die Gekrönte, Deren Kaufleute Fürsten waren, die Angesehensten der Erde? * Jahwe Zebaoth beschloß es, zu schänden die Hoffart, Zu entehren allen Prunk, allen 10 Übermut der Erde.

Weint, ihr Tarsisfahrer, kein Hafen mehr! 11 Seine Hand streckte er über das Meer, erschütterte Königreiche, Jahwe gebot über Kanaan, zu zerstören seine Festen. 12 Nicht sollst du hinfort fröhlich sein, du mißhandelte Tochter Sidon. Nach Cypern auf! Zieh hinüber! Auch dort kommst du nicht zur Ruhe. 14 Jammert, ihr Tarsisfahrer, daß zerstört eure Feste!

(5) (5) (4) (5) (5) (5) (4) (5) (5) (5) (5) (5) (5)

Seinem Stoff nach steht dieses Lied den Leichenliedern des Ezechiel auf den Untergang von Tyrus, die im nächsten Kapitel behandelt werden sollen, bedeutend näher als den Threni; aber vom literargeschichtlichen Gesichtspunkt aus, der für diese UnterBeiheite z ZAW 36

13

194

Kapitel VI.

suchung der leitende ist, gehört es etwa auf dieselbe Stufe wie die Lieder auf den Fall Jerusalems. Der Redaktor zwar, der das Stück fälschlich auf Tyrus bezieht1), bezeichnet es als „Orakel"®); doch sprechen gewisse Anzeichen dafür, daß das Lied wie die Threni nach der Katastrophe verfaßt ist. Diese scheint in der Zerstörung Sidons durch Artaxerxes III. Ochus bestanden zu haben (348 v. Chr.)"); die in dem Gedicht vorausgesetzten Verhältnisse, wonach Sidon damals als Hauptort Phöniziens aufgetreten sein und durch seine führende Rolle beim Aufstand auch den Hauptanteil an der Züchtigung davongetragen haben muß, passen wenigstens am besten in diese Zeit. Mit Jesaja hat also das Lied nichts zu tun. Was die m e t r i s c h e Gliederung des Liedes betrifft, so ist es in Fünfern abgefaßt, die nur von wenigen Vierern unterbrochen sind. Entweder liegen beabsichtigte Wechselmetra vor 4 ), oder die Vierer sind verderbte Fünfer. Die zerstörte Stadt ist auch in diesem Leichenliede als weibliche Gestalt p e r s o n i f i z i e r t 8 ) , und zwar vorwiegend als Beklagte. Nur einmal finden wir einen Ansatz dazu, sie als Klagende einzuführen, an der Stelle, wo wie in Threni und den dort herangezogenen Parallelen deutlich die Vorstellung der ihrer Kinder beraubten Mutter zugrunde liegt"). Da soll sie selber verzweifelt darüber klagen, daß sie ihre (wohl in die Sklaverei verkauften) Einwohner so rettungslos verloren hat, als habe sie niemals Kinder geboren und erzogen1). Als „Leidtragende" sind die Tarsisfahrer personifiziert, die großen Meerschiffe, die danach benannt sind, daß sie zuerst zu Fahrten nach der phönizischen Kolonie Tarsis in Spanien gebraucht wurden. Die Ü b e r t r a g u n g d e r K l a g e auf l e b l o s e D i n g e 8 ) steht hier nicht wie z.B. bei Wegen, Mauern und Toren in den Threni9) in der 3. Person, sondern in der ursprünglicheren Stilform der Imperative 1 0 ). 2 3 *) V. 1. 8. ) V. 1. ) Vgl. D u h m , G u t h e z. St. *) Vgl. zu Threni oben S. 169. ») V. 4. 7!. 12. «) V. 4. ') Vgl. Thr 2aib. 23c oben S. 174. 8) Vgl. oben S. 102f. e) Vgl. oben S. 190f. 10 ) Daß gruppenweise geklagt wird (V. 1. 4), ist wieder der aufgeführten Leichenklage (vgl. Sach 12isff. und oben S. 8lff. lOlf.) und der Volksklage am Bußtag (vgl. J o e l l u. dazu B a u m g a r t n e r , ZA.W Beih. 34, S. l l f . ) gemeinsam. Die Begründung der Klage mit "O, wie wir sie hier haben (Jes 23i. 14), scheint besonders der Volksklage eigen zu sein (vgl. B a u m g a r t n e r a. a. 0. S. 11).

Kapitel VI.

195

Eine Parallele zu dieser Stilform bieten z. B. die folgenden Verse aus einem rumänischen Leichenlied : Weine, Haus und Tisch, und wimmer, N. verläßt euch nun für immer! Trauert auch, ihr kalten Mauern, denn auch ihr bleibt zum Bedauern! Klage Feld in deiner Sprache, denn auch du bleibst öd' und brache')! Auf der Heimfahrt nach Phönizien ist den Schiffen, als sie vom Kitthäerlande2), der letzten Station vor ihrem Bestimmungsort, aufbrachen, die Schreckensbotschaft auf irgend eine Weise mitgeteilt worden, daß der Heimathafen Sidon zerstört ist, eine höchst konkrete Situation, welche ebenso wie die in unserem Liede ausführlich und farbig dargestellten Folgen der Zerstörung Sidons die oben vertretene Auffassung von der Entstehung dieses Liedes n a c h der Katastrophe nahe legt. Diesem „Trauerfall" gilt die Klage, zu der der Dichter die Tarsisfahrer am Anfang der 1. und am Anfang und Schluß der 3. Strophe auffordert, während sich der Anfang der '2. Strophe an die Küstenbewohner wendet. Die wirtschaftlichen Folgen der zerstörten Einfahrt für diese sind unabsehbar: der königliche Kaufmann Sidons, dessen Schiffer einst die Gewässer der ganzen Erde befuhren und die Ernte des Landmanns am Schichor8) für ihn einheimsten, dem der Ertrag des „Weltschachers 4 )" zufiel, ist jetzt „ruiniert". Der Gegensatz von Einst und Jetzt ist also hier, wie auch sonst zuweilen, auf die „Leidtragenden" angewandt 6 ). In der 2. Strophe werden die, phönizischen Küstenbewohner aufgefordert, die Mutterstadt zu verlassen und sich in ihren Kolonien anzusiedeln. Der Klageruf über Sidon, den ältesten Vorort Phöniziens, die einst so glück») P r e x l , Globus 57, S. 29. ) Die Kitthäer sind ursprünglich die Bewohner der Stadt Kition auf Cypern, später die Cyprier überhaupt, vgl. Ez 27a. a ) Ein mehrmals vorkommender Flußname; hier der Nil, an den auch der Glossator denkt. Da parallel mit der Saat des Schichor der Ausdruck „Erwerb der Völker" gebraucht ist, handelt es sich hier um die die halbe Welt versorgende ägyptische Kornernte. Nach D u h m ist mit dem Schichor vielleicht ein Fluß im südlichen Asser (Jos 19 20) gemeint. 4 ) D u h m z. St. Vgl. oben S. 173. 13* 2

196

Kapitel VI.

liehe Handels- und Kolonialmacht1), erinnert an Thr 2 l5 a ). An diese und die folgende Frage schließen sich preisende Relativsätze an. Wir werden es bei solchen F r a g e n , die voller S t a u n e n und E r s c h ü t t e r u n g das traurige Jetzt mit dem fröhlichen Einst vergleichen, wohl mit einer aus dem wirklichen Leichenlied übernommenen Stilform zu tun haben, und gerade die Verbindung der Frage mit preisenden Relativsätzen oder Appositionen scheint ein beliebtes Schema der hebräischen Qina gewesen zu sein. Sie kommt in den Leichenliedern anderer Völker nur selten vor; z. B. ruft in der Aeneis die Mutter des Euryalus beim Anblick seines Hauptes aus: So, Euryalus, seh' ich dich wieder? später Trost, konntest allein mich

Du, meines lassen')?

Alters

Ahnlich, also ganz stilgerecht, S c h i l l e r in den „Kranichen des Ibykus": Und muß ich so dich wiederfinden

.....'

4

Auch die folgende Frage ) hat ihr Urbild in der volkstümlichen Totenklage; Fragen nach der U r s a c h e des Todes kommen, wie wir gesehen haben, häufig in Leichenliedern vor 6 ). In unserem Liede wird die Frage aber nicht nach der Todesursache, sondern nach dem geistigen Urheber der Katastrophe gestellt und kraftvoll mit dem altehrwürdigen Namen Jahwe Zebaoth beantwortet. Er hat es getan und zwar um des Frevels willen, der für den Religiösen die Sünde aller Sünden ist, um der Hoffart willen. In gewaltigen Worten schildert uns die letzte Strophe .diese göttliche Souveränität Jahwes, unter dessen Hand Königreiche'1) erbeben. Wir sehen also, wie die in Threni beobachtete Entwicklung des Leichenliedes zum religiösen Gedicht ^ auch in diesem Liede vorliegt; freilich findet sich hier im Unterschied x ) V. 7. — Vgl. zu den historischen Verhältnissen, denen die Charakteristik Sidons in unserem Liede etwa entspricht, Ed. M e y e r : Geschichte des Altertums III (1901), S. 138!. 3 ) Vgl. oben S. 187; nur ist Thr 2ie der Lobpreis deutlich in Spott ver3 wandelt. ) V e r g i l , Aeneis IX, 481 f. ") V. 8. 6 ) Vgl. oben S. 51 und das 1. Beispiel S. 131. ') Der Name Kanaan ist hier im engeren Sinne, also gleichbedeutend mit Phönizien, gebraucht; vgl. B ö h l : Kanaanäer u. Hebräer (1911), S. 8. 7 ) Vgl. oben S. 170f.

Kapitel VII.

197

von Threni kein Gebet und kein Ausdruck der Hoffnung. Der Dichter von Jes 23 steht eben dem Schicksal der heidnischen Handelsstadt viel kühler gegenüber als die Verfasser der Threni dem Untergang Jerusalems, wenn auch der Spott über die heidnische Stadt, den wir in anderen prophetischen Leichenliedern finden werden, hier fehlt. Die 3. Strophe zeigt einen deutlichen Gegensatz zur 2.: die einst Fröhliche soll nicht mehr fröhlich sein, die einst Gekrönte — so heißt Sidon als Vorort der phönizischen Stadtkönigreiche — ist jetzt die Mißhandelte, d. h. Eroberte 1 ). Ihre Bewohner sind zu ewiger Heimatlosigkeit verurteilt; auch die Flucht bringt sie zu keiner Ruhestätte. Wenn wir dieses Lied und die Threni in ihrer G e s a m t f ä r b u n g miteinander vergleichen, dann ergibt sich eine große Verschiedenheit schon aus der Ungleichartigkeit der Stoffe. Das Lied Jes 23 hat trotz seiner religiösen Grundanschauung einen viel p r o f a n e r e n Charakter als die T h r e n i : für die phönizische Handelsstadt spielen Hafen, Schiffe, Kaufmannschaft und Welthandel dieselbe Rolle wie für die heilige Stadt Jerusalem Priester, Sabbath, Tempel und Altar.

Kapitel VII. Die allmähliche stilistische Auflösung der Gattung. Die Gattung des Leichenliedes ist in umfassendster Weise vom Propheten E z e c h i e l im übertragenen Sinne angewandt worden. Durch seine Leichenlieder werden alle verschiedenen Möglichkeiten der Übertragung verwirklicht; zugleich kann man an ihnen allen eine Auflösung der charakteristischen Merkmale der Gattung beobachten. § 1. Zwei Leichenlieder auf den Untergang des davidischen Herrscherhauses Ez 19»-» und 10-1*. Die erste Stufe in dieser Entwicklung stellen z w e i L e i c h e n l i e d e r dar, die den U n t e r g a n g des d a v i d i s c h e n H e r r s c h e r h a u s e s besingen. ') Vgl. V. 7 mit V. 12.

Kapitel VII.

198

Ez 19i—»•). V . l . by (Toy, K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — Nach LXX vgl. V. 2u. 10 ( H i t z i g , E w a l d , C o r n i l l , v. O r e l l i , B e r t h o l e t , T o y , K r a e t z s c h m a r , BH). — V. 2. Ziehe nach dem Metrum gegen die Akzente H5J31 zur zweiten Zeile und punktiere ¡"13Q"1 (Bertholet, Kraetzschmar, t : T R o t h s t e i n ) . — V. 4. Lies lyDttni als Hiphil ( H i t z i g , C o r n i l l , B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n , E h r l i c h ) ; mit R o t h s t e i n , E h r l i c h fasse ich D^J als Objekt. — Nach LXX yfy;, vgl. J e r ö l « (Bert h o l e t , T o y , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — Lies mtr es iniN WD^I (Cornill). — V. 5. n^DJ ( K r a e t z s c h m a r ) . — Nach LXX IHN ( C o r n i l l , B e r t h o l e t , T o y , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n , E h r l i c h ) . — V. 7. Lies für die beiden ersten unverständlichen Worte "ly^l (BH) "pnSiyQB —: • t t ; • ( G u n k e l im Anschluß an H i t z i g ) . — - p i n n D 1 " n j n ( R o t h s t e i n ) . — V. 8. lil"P1 (D. H. M ü l l e r : Die Propheten in ihrer urspr. Form (1896), S. 146; B e r t h o l e t , R o t h s t e i n ) . — V. 9. Streiche OTI!"d, das bei S fehlt, und nnSD3 lnJO 1 : Babylon war keine Bergfeste (Cornill). — Lies bv für (Toy, K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . 1 s Du aber stimme ein Leichenlied an über den Fürsten Israels und singe: Was war deine Mutter für eine Löwin unter den Löwen! (5) Sie lagerte in der Mitte der Leuen, zog ihre Jungen groß. (5) 5

Und brachte eins ihrer Jungen es ward ein Leu Und lernte Beute erbeuten, fraß Menschen.

auf: (5) (5)

1

Man bot Völker gegen ihn auf, in ihrer Grube ward er gefangen, Man führte ihn an Haken ins Land Ägypten.

5

Und da sie sah, daß geschwunden, dahin war ihre Hoffnung, Da nahm sie ein andres ihrer Jungen, machte es zum Leuen.

(5) (5) (5) (5)

') Vgl. die Kommentare zum Buche Ezechiel: H i t z i g (1847); E w a l d (»1868); C o r n i l l (1886); t. O r e l l i (1896); B e r t h o l e t (1897); Toy (SBOT 1899); K r a e t z s c h m a r (1900); E h r l i c h a. a. 0. V (1912), R o t h s t e i n (bei K a u t z s c h 4 I).

Kapitel VII.

199

"Er stolzierte inmitten von Löwen, ward ein Leu Und lernte Beute erbeuten, fraß Menschen. 7

9

Und brüllte auf seinem Lager und erschreckte die Herden, Daß das Land und was darin vor seinem lauten Gebrüll.

(5) (5)

(5) war,

erstarrte (5)

Da

lagerten sich wider ihn Völker ringsum aus den Gauen Und breiteten ihr Netz über ihn, in ihrer Grube ward er gefangen.

* Und sie legten ihn in den Käfig und brachten zum König von Babel, Daß man nicht mehr seine Stimme höre auf Israels Bergen.

(5) (5) ihn (5) (5)

Ez 19 io—ü. V. 10. D"155 1033 ( R o t h s t e i n ) . — T. 11. Mit K r a e t z s c h m a r behalte ich die Plurale tilttD und bei und nehme dahinter den Ausfall einer Zeile an, wodurch zugleich auch hier eine dreizeilige Strophe gewonnen wird. — Lies rYOy „Wolken" (Toy), nach LXX zu Ez31 ä .io.ii, wo der Zusammenhang keine andere Übersetzung gestattet. Filr ¡"Q"1?}? ist nach den genannten Stellen pir'PN zu lesen ( B a u m g a r t n e r ) . — V. 12. Für "|p"IDrin ITHD lies nrflNDn "H3 ( B a u m g a r t n e r im Anschluß an C o r n i l l und B e r t h o l e t ) . (BH). — Y. 13. Nach LXX rrfrntf ( C o r n i l l , R o t h — Nach LXX s t e i n ) . — Streiche NQ2T nach LXX ( B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — V. 14. Lies fflSÖD ( K r a e t z s c h m a r , E h r l i c h ) . — Streiche nach LXX ITHD als Dittographie zu ¡TH3 ( C o r n i l l , B e r t h o l e t , T o y , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — Nach LXX Vim ( C o r n i l l , B e r t h o l e t ) . 10

Deine Mutter war wie eine Rebe im am Wasser gepflanzt, Reich an Früchten und Ranken war vom vielen Wasser. 11 Und es wurden ihr mächtige Aste zu. Herrscherstäben.

Weinberg, (5) sie (B) (5)

200

Kapitel VII.

bis in die Wolken hinein Und hoch wurde sein1) Wuchs durch die Menge seiner und fiel auf durch seine Höhe, Ranken. (4 -f 4) 12

Da ward sie ausgerissen im Zorn, Und der Ostwind dörrte aus ihre prächtigen Zweige. Es verdorrte ihr mächtiger Ast, Feuer fraß ihn.

zur Erde geworfen,

"Nun hat man sie verpflanzt in die Wüste, in dürres Land. 14 Und Feuer ging aus von ihrem Aste, fraß ihre Zweige, Und, nicht Hieb an ihr ein mächtiger Ast, ein Stab zum Herrschen.

(4) (5) (5) (5) (5) (5)

Ein Leichenlied ist dies und werde zum Leichenlied. Daß es sich in dem Stück Ez 19 wirklich um z w e i v e r s c h i e d e n e L i e d e r handelt, geht zunächst aus seinem Inhalt hervor. Denn in V. 10 haben wir offenbar einen neuen Anfang vor uns: eine zweite allegorische Erzählung mit einem neuen Bilde setzt ein, nicht eine Fortsetzung der ersten. Beide Lieder sind vielleicht erst später durch Einleitung und Schluß zu einem Ganzen verbunden worden"). Aber auch eine Beobachtung der strophischen Gliederung des Stückes scheint zu demselben Ergebnis zu führen: V. 2—9 sind in Strophen zu 2 Zeilen, V. 10—14, wenn die obige Wiederherstellung richtig ist, in Strophen zu 3 Zeilen abgefaßt 3 ). Diese Strophenabteilung wird im zweiten Liede wiederum durch seine inhaltliche Gliederung nahe gelegt: Str. 1 und 2 handeln von der Schönheit, Str. 3 und 4 von dem Niedergang der Weinrebe. Ezechiel bezeichnet seine Lieder selbst ganz ausdrücklich als zur Gattung der Qina gehörig 4 ). Ein wichtiges stilistisches ') Die Beziehung des Suffixes ist der vorangehenden Lücke wegen nicht ganz klar. In unserer Übersetzung ist es auf das Wort nt3D (V 12. 14) bezogen, dessen Erwähnung in der ausgefallenen Zeile vorausgesetzt ist 8 ') R o t h s t e i n . ) Baumgartner. *) V. 1. 14.

Kapitel VII.

§1

•201

Merkmal der Gattung, das Anfangswort 'ekä, hat er allerdings in diesen Leichenliedern ebensowenig wie Arnos in dem seinigen angewandt. Metrisch bestehen sie aus Fünfern, die nur im zweiten Liede in V. 11 f. von 3 Vierern unterbrochen sind. Es. handelt sich also wieder entweder um Wechselmetra 1 ), oder die Vierer sind verderbte Fünfer 2 ), was durch ihre verschwindend kleine Anzahl und ihre ununterbrochene über die Strophe hinausgehende Folge an nur einer Steile3) des Liedes wahrscheinlich gemacht wird. Mit dem Leichenliede des Arnos und den Threni sind diese Lieder insofern verwandt, als auch in ihnen der Dichter die Katastrophe des eigenen Staates beklagt. Aber an Stelle der Personifikationen, die uns in jenen Liedern begegnet sind, finden wir hier w i r k l i c h e P e r s ö n l i c h k e i t e n , wenn auch durch Bilder verhüllt: der Untergang des Staates wird an dem persönlichen Schicksal seiner Könige dargestellt. Auch in stilistischer Beziehung hat Ezechiel eine Umwandlung mit der Gattung des Leichenliedes vorgenommen: seine Lieder tragen einen ganz epischen Charakter. Dabei hat er die Bilder und Vergleiche, die schon zum Stil des alten lyrischen Leichenliedes gehörten, benutzt und sie dem veränderten Charakter der Gattung angepaßt. Sie leuchten nun nicht mehr blitzartig auf, um wieder rasch zu verschwinden, sondern werden zur durchgeführten Allegorie, zur bildlichen Erzählung, für die Ezechiel überhaupt eine besondere Vorliebe hat 4 ). Auch in den Leichenliedern anderer Völker kommt die Umbiegung der Gattung in die Form der Erzählung vor. So heißen bei den Basken in Biscaya die Leichenlieder „eresiac", d. h. Genealogieen oder Erzählungen, weil man darin die Herkunft des Verstorbenen und die Großtaten seiner Vorfahren erzählte. Ähnlich sind die Leichenlieder der Schotten"); auch in Albanien enthalten sie zuweilen eine, Art Lebensgeschichte des Toten"). Ansätze zu allegorischen v

) Vgl. oben S. 169 und S i e k e r s : Metr. Studien I, S. 121 ff. ) Vgl. oben S. 194. a ) Diese Stelle steht durch den unmittelbar vor den Vierern anzunehmenden. Ausfall einer Zeile ohnehin im Verdacht der Verderbnis. Vgl. die Kapp. (15). 16. 17. 23. 27. •) Vgl. M i c h e l : Le Pays Basque, S. 273. 280. •) Vgl. T. H a h n a. a. 0. II, S. 134. a

202

Kapitel VII.

Erzählungen, wenn auch nicht so ausgeführte Allegorieen wie bei Ezechiel, finden sich gleichfalls in der Leichenpoesie anderer Völker. So heißt es mitten in einem neuarabischen Leichenliede auf den Tod einer jungen Frau: 0 die junge Stute, unter den Pferden, eine schnell eilende, ihre Zügel sind mit Perlen und Korallen besetzt. Sie hatte wenig Glück, ihr Seil ging verloren, sie ward im Staube begraben1).

Die inneren Gründe für die epische Umgestaltung des ursprünglich lyrischen Leichenliedes durch Ezechiel liegen in der Veränderung des Stimmungsgehaltes der Gattung. Die Wirkung des alten Leichenliedes beruhte auf dem unvermittelten Gegensatz von Einst und Jetzt und auf der Stimmung der Wehmut, die dieser Gegensatz auslöste. Von dieser Stimmung weiß der grausame Ezechiel nichts; er kann deshalb den Untergang eines ganzen Herrschergeschlechtes als das Ergebnis einer folgerichtigen Entwicklung mit epischer Ruhe darstellen. Der historische Hintergrund der beiden Leichenlieder ist die Vernichtung des davidischen Königshauses. Sie wird im ersten Liede an der Deportation zweier königlicher Brüder dargestellt. Unter der „Mutter", die in beiden Liedern im Mittelpunkt der Klage steht, versteht die Mehrzahl der Erklärer irgend eine Personifikation von Volk oder Staat. Es ist aber gar kein Grund dafür einzusehen, warum die Löwenmutter anders gedeutet werden soll als die beiden Löwenjungen, bei denen doch nach Zusammenhang und Überschrift keine andere als die Deutung auf Personen möglich ist. So nehmen wir an, daß mit ihr die wirkliche Mutter der beiden im Leichenliede besungenen Fürsten gemeint ist*). Da die Beziehung des ersten Löwenjangen auf Joachas unverkennbar ist — denn nur er ist nach Ägypten weggeführt worden —, kann unter der Mutter nur de seinige, nämlich Chamutal, die Tochter Jirmejahus aus Libna, Terstanden werden *). Man hat wohl mit Recht in der aktiven Rolle, welche l

) L i t t m a n n a.a.O. S. 116, 39f. Daß das Tier nicht nur eis Vergleich •angewandt, sondern einlach für den Toten gesetzt wird, wie in diesem Beispiel and Ez 19«8., finden wir ja auch schon im lyrischen Leichenliede, vgl. oben S. 148. *) So auch v. Orelli, E r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n , Lebmann-Haupt: -Israel (1911), S. 155. ») Vgl. 2. Reg 23,t.

Kapitel VII.

203

die Löwenmutter beim Emporkommen des zweiten Löwenjungen im Liede spielt1), ein Spiegelbild des politischen Einflusses gesehen, den die Königinmutter bei der Einsetzung ihres zweiten Sohnes zum König gehabt haben mag, und dabei an die wichtige Stellung erinnert, die sie überhaupt herkömmlich am judäischen Hofe einnahm'). Von der Herkunft des Toten ist auch im alten Leichenliede, und zwar im preisenden Sinne, die Rede3). Wo die Mutter des Beklagten vorkommt, wird meist die persönlich Betroffene oder ihrer Stütze Beraubte bemitleidet, ein Typus des Leichenliedes, wie er in den Threni nachgeahmt wird. Hier aber handelt es sich um einen ganz individuellen Fall von einzigartiger Tragik: Ghamutal sieht mit dem Königtum zweier hoffnungsvoller Söhne zugleich Herrschergeschlecht und Staat zusammenbrechen. — Aber wer ist der zweite dieser Söhne? Man wäre geneigt, sich Jojachin, der ja wirklich nach Babel deportiert worden ist, unter dem zweiten. Löwenjungen zu denken 4 ); aber gegen diese Auffassung spricht der Umstand, daß Ghamutal nicht die Mutter Jojachins 6 ), wohl aber die Zedekias war 6 ). So bat die Deutung von V. 5 —9 auf Zedekia7) die größere Wahrscheinlichkeit für sich. — Bei dem zweiten Leichenliede unterliegt die Beziehung auf Zedekia keinem Zweifel: nach der geschichtlichen Situation kann nur er mit dem Ast gemeint sein, von dem das Feuer ausging, das die Weinrebe mit all ihren Zweigen verzehrte. Eine andere wichtige Frage ist die, ob die Entstehung der Lieder vor oder nach der Katastrophe anzusetzen ist, ob also Ezechiel die Wege des Arnos beschritten hat oder ob er wenigstens im zeitlichen Verhältnis des Dichters zu dem beklagten Ereignis der Gattung des alten Volksleichenliedes treu geblieben ist. Für V. 1—4 ist diese Frage selbstverständlich gar nicht zu stellen; denn für denjenigen, der die zweite Wegführung im Auge hat, gehört die erste natürlich der Vergangenheit an. Über die zeitliche Beziehung der Vv. 5—9 und des ganzen zweiten Liedes zur ') V. 5.

*) Siehe 1. Reg2i» 15is 2. Reg 10 ls 24ia Jerl3ie 29s, Tgl. K r a e t z s c h m a r z. St. a

) Vgl. oben S. 97. 201 und eine Reihe von Stöcken bei Musil a. a. 0. III, 4 S. 437ff. ) So Ewald, Cornill, B e r t h o l e t . ") Vgl. 2.Reg24». •) Vgl. 2. Reg 24i§. ') So H i t z i g , T. Orelli, K r a e t z s c h m a r , Ehrlich.

204

Kapitel VII.

Deportation des Zedekia sind aber die Meinungen geteilt. Ein sicherer Anhalt zu ihrer Feststellung wird sich kaum finden lassen. Höchstens wäre der Singular „Fürst" in V. 1, der als ursprünglich anzunehmen ist, da eine nachträgliche Änderung des viel besser in den Zusammenhang passenden Plural in den Singular unwahrscheinlich ist, im Zusammenhang mit der singularischen Anrede in V. 2 und 10 dafür anzuführen, daß die beiden Leichenlieder, die doch mehrere Fürsten besingen, im Grunde nur für Einen bestimmt sind, also für den noch regierenden Zedekia, der aus ihnen lernen soll1). Ebenso scheinen die geheimnisvollen Worte am Schluß des zweiten Liedes: „Ein Leichenlied ist dies und werde zum Leichenlied" darauf hinzudeuten, daß diese Qina eigentlich erst in Zukunft ihren traurigen Zweck erfüllen soll. Auch eine psychologische Betrachtung der Persönlichkeit des Ezechiel legt den Gedanken nahe, daß er von V. 5 an, wo scheinbar der epische Faden so gelassen weitergesponnen wird, in Wahrheit zu der gefürchteten Zukunft übergeht, die er als erlebte Vergangenheit erzählt, um sie auf diese Weise als unentrinnbar darzustellen. Damit wäre eine Wirkung auf Zedekia berechnet, ganz ähnlich, wie sie Jeremia mit seinem an denselben König gerichteten Leichenliede *) beabsichtigt hatte, nur nach der Art des Ezechiel noch erbarmungsloser, da sich Zedekia durch die Anreihung an seinen unglücklichen Bruder wie Einer vorkommen mußte, über den das Rad der unerbittlichen Weltgeschichte schon hinweggegangen war, während die mahnenden Worte des Jeremia 3 ) dem König im Falle einer Änderung seiner Politik noch die Möglichkeit einer günstigen Schicksalswendung eröffneten. Das Peinigende, das der zweimalige Ablauf desselben unheilvollen Geschehens hat, ist in der Geschichte von den beiden Löwenjungen durch die W i e d e r h o l u n g der Erzählung mit f a s t d e n s e l b e n A u s d r ü c k e n zu ästhetischer Wirksamkeit gebracht worden: wie man um den Einen, schon Verlorenen, klagt, so wird man einst auch den Anderen, dem sicheren Untergang Ge') Beide Lieder werden von v. O r e l l i , das zweite wird von E w a l d , C o r n i l l , B e r t h o l e t vor der Katastrophe angesetzt. 3 ") Jer 38m, vgl. oben S. 1258. ) Jer 38M.

205

Kapitel VII.

weihten, beklagen. Das Bild des L ö w e n , das im ersten Leichenliede zur Allegorie ausgesponnen wird, ist, wie wir schon gesehen haben, bei den meisten Völkern eins der geläufigsten Bilder des Leichenliedes, besonders gut paßt es ins Königsleichenlied'). Es kann aber ebensogut im heroischen Preislied stehen wie im Leichenlied. Auch in dem Lobpreis des Judas Makkabäus heißt es (1. Makk 84): Er glich einem Löwen in seinen Taten und einem jungen Löwen, der nach Raub

brüllt.

Daß der junge Löwe Beute macht, Menschen frißt und laut brüllt, wird im antiken Sinne zum Preise des Helden gesagt. Bei Ezechiel klingt allerdings ein Nebenton des Tadels mit; denn vom prophetischen Standpunkt aus sind es Äußerungen der Vermessenheit, der Hybris des Menschen, denen notwendigerweise die Strafe folgt. — Es ist vielleicht kein Zufall, daß Ezechiel in seinem Leichenliede dasselbe Bild anwendet, mit dem schon im Segen Jakobs Juda gepriesen wurde 2 ). Dort wird uns zum Teil sogar mit denselben Ausdrücken s ) von dem Löwenjungen erzählt, das zum Leu heranwächst. Ezechiel hat sich möglicherweise durch diesen Segen über den Stamm Juda dazu anregen lassen, auch den Untergang des judäischen Königshauses mit demselben Bilde zu besingen. Hier wie dort ist es eine kleine Geschichte, die vom Löwenjungen erzählt wird, nur hat sie dort einen glücklichen Schluß: der alte Leu, mit dem niemand anbindet 4 ), und hier einen traurigen: der gefangene Löwe, der an Haken fortgeführt (oder in den Käfig gelegt) wird. Auch das Bild vom gefangenen Löwen und von der verstummten Löwenstimme kommt sonst im Leichenliede vor. In einem neuarabischen Leichenliede auf einen jungen Mann heißt es: Und möge deine Stimme nicht verstummen! 0 Grab, wenn du den Löwen kenntest, den du eingeschlossen hast5) /

In diesem Liede ist augenscheinlich das Grab als Fallgrube oder als Käfig gedacht. In unserem Liede sind die Löwen, die an Haken fortgeführt und in den Käfig gelegt werden, besonders treffende Bilder für die gefangenen Könige, weil assyrische ') Vgl. zu 2. Sam I23 oben S. 147f. ) G u n k e l : Genesis», S. 481.

4

2

6

3 ) Gen 499. ) "113 und n t y . ) L i t t m a n n a.a.O. S. 130, 45.

Kapitel VII.

•206

Herrscher wirklich die besiegten Könige an Ketten legten und in Käfige einsperrten'). Die Heldenstimme, die früher das Gebiet verödet hat und jetzt so plötzlich verstummt ist, kommt auch ohne Bild als Motiv des Leichenliedes vor: 0 laß noch einmal deine Stimm' erschallen, die einst erschütterte die Felsenwände Und in die Flucht vertrieb der Kisten Schar

2

).

Bei der epischen Umwandlung, die Ezechiel mit der Gattung des Leichenliedes vorgenommen hat, wundert es uns nicht, daß in seinen Liedern n u r wenige c h a r a k t e r i s t i s c h e S t i l f o r m e n e r h a l t e n sind. Zu diesen wenigen gehört zunächst die direkte Anrede des „Toten" am Anfang der beiden Leichenlieder V. 2 und 10. Sie scheint zwingend zum Stil des Leichenliedes zu gehören 3 ), denn in eine solche Erzählung, die durchgehend in der dritten Person gehalten ist, paßt sie eigentlich nicht. Ferner ist der Schluß beider Leichenlieder offenbar bezeichnend für die Gattung. Wir haben schon an anderen Stellen gesehen, daß die Negationen des Normalen zum Stil des Leichenliedes gehören 4 ) und daß sie besonders eindrucksvoll den Schluß desselben bilden, dem sie die Stimmung der Unabänderlichkeit aufprägen 5 ). So auch hier (V. 9): Daß man nicht mehr seine Stimme auf Israels Bergen.

höre

(V. 14): Und nicht blieb an ihr ein mächtiger ein Stab zum Herrschen.

Ast,

Mit ähnlichen Wendungen schließt ein neuarabisches Leichenlied: Das Kamel

ist nicht

und Zusammentreffen

mehr

da, und seine Traglasten

mit den Feinden

sind

sind

nicht

mehr nicht mehr

da, da"),

*) „Eine Hundekette machte ich ihm und ließ ihn einen Käfig hüten", D e l i t z s c h : Assyrisches Handwörterbuch (1896), S. 640. 2 ) Radde: Die Chews'uren und ihr Land, S. 93. Die Kisten sind ein Volksstamm im Kaukasus. ») Vgl. oben S. 50. 100. 128. 131. 152. 5 *) Vgl. oben S. 131. ) Vgl. zu Jer 9ai oben S. 1611., zu Am 5s S. 168 •) L i t t m a n n a.a.O. S. 117, 65.

Kapitel VII.

207

und die griechische Totenklage um einen Jüngling, die L u c i a n in seiner schon mehrmals erwähnten Satire (vielleicht mit etwas verzerrtem Inhalt, aber doch wohl mit echten Stilformen) mitteilt: Du wirst nicht wieder schwärmen, noch in Liebe entbrennen, mein Kind, noch beim Gastmahl mit deinen Gefährten zechen1).

Auch das Bild des z w e i t e n L e i c h e n l i e d e s scheint nicht von Ezechiel erfunden zu sein; ähnliche Bilder kommen besonders häufig in G ö t t e r t o t e n k l a g e n vor. In den sumerischen Leichenliedern auf Tammuz spielen Bilder aus der P f l a n z e n w e l t eine große Rolle, wie sie ja auch für einen Vegetationsgott am besten passen. Da heißt es z. B. (an einer schon angeführten Stelle) von Tammuz: Eine Tamariske, die im Garten Wasser nicht getrunken, deren Krone auf dem Feld keine Blüte hervorgebracht hat. Eine Weide (?), die an ihrer Wasserrinne nicht „jauchzte", eine Weide (?), deren Wurzeln ausgerissen sind .. .3).

Hier ist parallel zu Ez 19i 0 ff. die Gleichsetzung der am reichlichen Wasser wachsenden und gedeihenden Pflanze mit dem Leben, der ohne Wasser verdorrenden oder entwurzelten Pflanze mit dem Tode. Im Tammuzliede heißt es, die Krone der Tamariske habe keine Blüte hervorgebracht, im Leichenliede des Ezechiel, dem Weinstock sei kein mächtiger Ast geblieben 3 ). Die Vermutung, daß es sich hier nicht um frei erfundene, sondern überlieferte Stoffe handelt, wird auch dadurch nahegelegt, daß Ezechiel die Zerstörung durch verschiedene Bilder darstellt, die zum Teil unorganisch nebeneinanderstehen: erstens durch das Entwurzeln, zweitens durch das Verdorren oder in die Wüste Verpflanztwerden, drittens durch das Verbrennen. Das Verbrennen paßt am wenigsten in das Bild hinein; Ezechiel hat das Bild vom Feuer, das von dem mächtigsten Aste der Weinrebe ausgeht, augenscheinlich angewandt, um die Gewaltsamkeit zum Ausdruck zu bringen, mit der Zedekia das judäische ») A. a. 0 . 1 3 . ) Z i m m e r n : Sumerisch-babylonische Tamüzlieder, S. 220, vgl. oben S. 115. 3 ) Dabei muß freilich eingeräumt werden, daß andere Züge aus der Allegorie Bz 19iofi. der allgemeinen Bildersprache angehören mögen, da sie auch sonst im AT häufig vorkommen, besonders das Hochwachsen der Pflanze als Bild des Übermutes, z.B. Ez 31 3 ß. Dan 4 7 B. 2

208

Kapitel VII.

Königshaus zu Falle brachte. Die Bilder vom Entwurzeln und langsamen Verdorren, die wohl zum übernommenen Stoff gehörten, genügten ihm offenbar noch nicht zur Veranschaulichung dieses Gedankens. Das Verbrennen durch Feuer ist überhaupt bei Ezechiel ein beliebtes Bild für den Untergang 1 ). Die Allegorie von der Prachtzeder Ez 31 (ein Bild für Pharao) hat zwar einen anderen Stoff zum Hintergrund, nämlich die mythologische Vorstellung vom Weltbaum s ) und ist mit der Gattung des Leichenliedes höchstens durch das Schema „Einst und Jetzt" verwandt, das sie anwendet. Aber beim Untergang, der Zeder wird Ez 3Ii» eine Trauerfeier geschildert, deren Züge wieder stark an das erinnern, was wir in Leichenliedern auf Vegetationsgottheiten hören: ßo spricht der Herr Jahwe: Am Tag, da sie stürzte3), verhüllte ich1) den Ozean, (4) Daß er") seine Ströme anhielt, das reichliche Wasser versiegte, (4) Kleidete ich schwarz den Libanon a), das Gefilde trauerte'). (4) Auch Tammuz wird gelegentlich mit einer Zeder verglichen'), und im Adonisliede des B i o n treten „Leidtragende" auf, die aus den durch das Sterben der Vegetationsgottheit geschädigten Gebieten genommen sind') und etwa den Ez 31 u genannten entsprechen: Weh, rufen die Berge, Kypris, weh. (Kleidete ich schwarz den Libanon Ez 3hs.) Die Bäche beweinen der Kypris Leid, Adonis die Bronnen des Waldes. (Verhüllte ich den Ozean, daß er seine Ströme anhielt Es Es bräunt vor Schmerz sich das Laub im Hain. (Kleidete ich schwarz den Libanon Ez 31m.)

oln).

') Z. B. Ez 154 ff. 28is; an letzterer Stelle gehört aber das Motiv vom Feuer anscheinend einem überkommenen Stoffe an, vgl. § 3. a ) Vgl. G u n k e l : Das Märchen im Alten Testament, S. 21ff. s ) Streiche n^Nt? als Auffüllung. *) Streiche "Tl^ND als Erklärung des weniger deutlichen TDD — ebenso 8 6 das dreimalige V^Ji. ) Lies yjDni (Cornill). ) Streiche ') Lies

— Die vorstehenden Textänderungen in der Hauptsache nach

G u n k e l a. a. O. 'S. 23. 8 ) In einem der schon herangezogenen sumerisch-babylonischen Leichenieder, Z i m m e r n a. a. 0. S. 236, 5, vgl. oben S. 114. ®) v. W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f f a.a.O. S. 3., vgl. oben S. 114.

Kapitel VII.

209

Diese letzte Wendung bedeutet im Adonisliede die gebräunte Farbe des im Hochsommer vertrockneten Laubes. So wird man wohl auch unter der schwarzen Kleidung des Libanon die Trauer seiner verdorrenden Bäume um die gefällte Zeder verstehen dürfen. Einen ähnlichen Stoff, in dem es sich aber hauptsächlich um die Verödung in der Tierwelt handelt und die Natur nicht wie in Ez31 1 6 Leid trägt, sondern beweint wird, enthält das Leichenlied Jer 9 S ') : Uber die Berge erhebe ich Weinena) und über die Auen der Trift3) ein Leichenlied, Denn sie sind verödet*), ohne Wanderer, und vernehmen kein Herdengebrüll. Vom Gevögel des Himmels bis zum Getier — davongeflogen, entwichen!

(3 + 3) (3 + 3)

(6)

Das Lied zeigt den Stilcharakter der Qina ganz unverfälscht: „Was einst den Ruhm der Berge und Triften ausmachte, das ist dahin: der Wanderer, die Herde, die Vögel, das Wild. So sang man auch des Toten Ruhm an seinem Grabe 6 )." An Stilformen sind hier besonders die Negationen bezeichnend für das Leichenlied'). Beim Vermissen des Herdengebrülls werden wir wieder an Stellen in den Tammuzliedern erinnert. Da heißt es z. B., daß der Hirte in Vernichtung dasitzt1), und an einer anderen Stelle: Das Mutterschaf und sein Lamm fällen sie, die Ziege und ihr Zicklein fällen sie'). Parallelen zu den eben behandelten atl. Stoffen finden sich allerdings nicht nur in kultischen, sondern auch in profanen Leichenliedern anderer Völker. In einem neugriechischen Leichenlied heißt es z.B.: 0 Liakos, ganz Agrapha beweint dich, Baum und Quelle*). l

) ) ») 4 ) •) •) s

Vgl. die Literatur zum Buche Jeremia oben S. 124®. Streiche nach LXX TUl (Erbt, Cornill, R o t h s t e i n , H. Schmidt). Lies nancn (Duhm, Erbt, Cornill). Lies IJü (Duhm, Erbt, Cornill). *) Erbt a.a.O. S. 209. Vgl. oben S. 206f. ') Zimmern a.a.O. S. 208, 5. Ebenda S. 207, 5. 10. ») F a u r i e l a. a. O. II, S. 163.

Beihefte z. Z A W 36

210

Kapitel VII.

Ein neuseeländischer Häuptling wird mit den Worten besungen: .... Sie sind vertrocknet, Die Quellen der Tiefe, der Seegott ist tot1), und in einem anderen neuseeländischen Leichenliede heißt es: Die Wasser des Ozeans weinen bei Ebbe und Flut, die Berge des Südens schmelzen dahin 2 Die Erde taumelt hin und her ). Wir werden aber auch bei diesen Liedern an eine Beeinflussung durch mythologische Vorstellungen denken dürfen. § 2. Zwei Leichenlieder auf Tyrus. Die im vorigen Abschnitt behandelten Lieder des Ezechiel nehmen unter seinen Leichenliedern eine Sonderstellung ein: sie sind nämlich die einzigen, die seiner eigenen Nation gelten. Unter seinen Orakeln über die Nachbarvölker Israels im engeren und weiteren Sinne (Kap. 25—32) haben aber eine ganze Reihe die Form des Leichenliedes. Sie beziehen sich sämtlich auf die Zukunft. Die beiden L e i c h e n l i e d e r auf T y r u s 26i5-i 9 und 27i-«. je—3« sind wohl in dem Augenblick verfaßt, als man nach der Einnahme Jerusalems die Belagerung der Stadt Tyrus durch Nebukadnezar erwartete"). Das Interesse des Ezechiel am Untergang von Tyrus erklärt sich aus der feindselig-schadenfrohen Haltung, welche die Tyrer ihrerseits beim Falle Jerusalems eingenommen hatten 4 ). Am nächsten stehen diese Lieder von den bisher behandelten atl. Beispielen der Totenklage Am 5 a : hier wie dort eine im voraus angestimmte Klage um eine politische Größe. y. H o c h s t e t t e r a. a. 0. S. 523. ) D a v i s : Maori Mementos, S. 165, vgl. oben S. 168. 3 ) Der eschatologische Charakter der Leichenlieder an! Tyrus und den Tyrerkönig bedarf keines Beweises, wenn es Nebukadnezar nicht gelungen ist, Tyrus zu bezwingen, wie man aus der Stelle E z 2 9 n f . zu entnehmen pflegt. Aber selbst wenn die Belagerung von Tyrus mit der Eroberung der Stadt geendet hätte (so H ö l s c h e r : Geschichte der israelitischen und jüdischen Beligion (1922), S. 99 f.), könnten wir aus der farblosen, inkonkreten Art, in der diese Lieder vom Untergang der Stadt und vom Sturz des Königs handeln, auf ihre Abfassung v o r der Katastrophe schließen. Vgl. im Gegensatz dazu zum Leichenlied auf Sidon Jes 23iff. oben S. 195. *) Vgl. Ez 26afl. l

§ 2

Kapitel VII.

211

Ez 2615-1». Y- 15. Lies 3VQ ( C o r n i l l , B e r t h o l e t , T o y , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) und nach LXX m n ( C o r n i l l , B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — V. 16b ist überfüllt; streiche mit R o t h s t e i n WDIT) T N I DIT^yDTlN, da onöp"1 als Handelsartikel von Tyrus konkreter ist als •¡7,^>iyD) und lies für n m n nach Jes 503 n m p ( K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n , E h r l i c h ) . — Streiche CTJtt-l'? mtr es ( R o t h s t e i n ) . — V. 17. Streiche nach LXX mtr es niDN » C o r n i l l , T o y , R o t h s t e i n ) . — Lies nach LXX ( C o r n i l l , v. O r e l l i , T o y , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — Nach LXX C D ( C o r n i l l , Toy). — Streiche nach LXX rraitvn a ^ npin n n i n ( H i t z i g , C o r n i l l , Toy). — Lies nach LXX n Tm •n• Hirtf ( H i t z i g , C o r n i l l , T o y , R o t h s t e i n , E h r l i c h ) . — Lies T J T mit Bezug auf Qi ( C o r n i l l , B e r t h o l e t , Toy). — V. 18. Lies n^ND (BH). — Lies mit £ S T V ( R o t h s t ein). — Streiche V. 18 b nach LXX, da er unvermittelt in Prosa übergeht und sich auch inhaltlich als Zusatz verrät (Cornill, Toy, Rothstein). 16

So

spricht

der Herr

Jahwe

zu,

Tyrus:

Werden nicht vom Dröhnen deines Sturzes, wenn die Gefallenen stöhnen, Wenn das Schwert in deiner Mitte mordet, die Küsten erbeben? 10 Da werden steigen von ihren Thronen alle Fürsten des Meeres, Ihre buntgestickten Kleider ausziehen1), in Trauergewand sich kleiden, Auf die Erde sich setzen und zittern und verstört über dich sein. 11

Und sie werden anreden:

ein Leichenlied

über dich

„Ach, wie bist du vom Meer du hochberühmte Stadt, Die Furcht einflößte all seinen Bewohnern! 18 Jetzt erbeben die Küsten am Tage deines Falles!"

anstimmen

(5) (5) (5) (5) (5) und

dich

verschwunden,

') Zu den in V. 16 geschilderten Trauerbräuchen vgl. oben Kap. I. 14*

(5) (5) (5)

212

Kapitel VII.

Das Leichenlied, das die Fürsten des Meeres der Schwesterstadt singen, ist in Fünfern abgefaßt und zeigt das gebräuchliche Anfangswort 'ekä. Wir haben es hier nicht wie in Kap. 19 mit einer Allegorie zu tun, sondern die P e r s o n i f i k a t i o n ist n i c h t einmal d u r c h g e f ü h r t ; sie liegt eigentlich nur in der Tatsache, daß eben auf Tyrus eine Leichenklage gesungen wird wie sonst auf einen toten Menschen. Der Gegensatz von Einst und Jetzt ist scharf herausgearbeitet. Der Lobpreis ist, wie häufig im Leichenliede, in einem Relativsatz ausgedrückt, welcher der Bezeichnung des beklagten Gegenstands angeschlossen ist 1 ); inhaltlich ist er etwa den Motiven des Königsleichenliedes nachgebildet. Eine Parallele dazu finden wir z. B. in dem Leichenliede auf Attila, das J o r d a n e s in seiner Gotengeschichte3) mitteilt. Da heißt es von dem Hunnenkönige: .. . Der wie kein andrer vor ihm SJcythiens und Germaniens Reiche mit unerhörter Macht allein regierte, der beiden Römerreiche Schrecken

Daß der König den anderen Reichen Schrecken einjagt, ist sein größter Ruhm. Dies ist übrigens der einzige Zug in dem Leichenliede auf Tyrus, der eine Art von Personifikation der beklagten Stadt enthält. Der letzte Vers des Liedes nennt als „Leidtragende" die durch den Fall von Tyrus mitbetroffenen Küstenstädte, die im Handelsverkehr mit Tyrus standen. Diese sind deutlicher personifiziert als Tyrus selbst; denn sie „erbeben11 s). Die ironische Anwendung der Leichenklage ist in diesem Falle aus der ganzen Stellung des Ezechiel, der natürlich der schadenfrohen Stadt kein ernstgemeintes Leichenlied widmen kann, nicht aber aus dem Liede selbst zu erschließen. D a s z w e i t e L e i c h e n l i e d auf T y r u s (Kap. 27) ist nicht nur viel umfangreicher als das erste; es verhält sich auch in Bezug auf Reichtum und Farbigkeit der Darstellung zu diesem wie die Ausführung zum Entwurf. Um es in seiner ursprünglichen Reinheit herzustellen, bedurfte es allerdings einer textkritischen Arbeit, die von Manchot 4 ) und unabhängig, aber in ») Vgl. oben S. 104. 150ff. 196. *) XLIX, 257; vgl. oben S. 104. *) Vgl. auch V. 15 und zur Übertragung der Trauer auf Dinge an anderen Stellen oben S. 190!. 194. 4 ) Ezechiels Weissagung wider Tyrus, JPT 14 (1888), S. 423ff.

Kapitel VII.

213

Übereinstimmung mit ihm von B e r t h o l e t 1 ) geleistet worden ist. Danach besteht Ez 27 aus zwei Elementen, die sich nach Form und Inhalt voneinander unterscheiden. In eine Qina, die fast durchgehend in Fünfern abgefaßt ist und eine sorgfältig durchgeführte Allegorie enthält, ist ein Prosastück, eine realistische Schilderung des tyrischen Handelsmarktes, hineingearbeitet. Für die Qina bleiben: Ez 27 t—8. 36—80* V. 3. Die ausgeschiedenen Worte bilden den Eingang zu dem Handelsverzeicbnis V. 9—25 ( M a n c h o t , B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r ) . — Statt "ON rriDN lies n y i N JTON ( G u n b e l ) . — V. 4. Streiche mtr es "JOS ( R o t h s t ein), das vielleicht aus 123 in der folgenden Zeile entstanden ist ( G u n k e l ) . — T. 5. Lies -pnrft ( T o y , R o t h s t e i n , E h r l i c h ) . — •p-in ( R o t h s t e i n ) , vgl. V. 6. — V. 6. Ziehe mtr es das letzte Wort von V. 5 zu V. 6 und lies IV^J? ( B e r t h o l e t ) . — Streiche aus metrischen und sprachlichen Gründen das vielleicht durch Dittographie entstandene ( R o t h s t e i n , E h r l i c h ) . — Lies mit den meisten Neueren O'Htt'NrQ. — V. 7. Streiche "j^ nvr"6 aus metrischen und inhaltlichen Gründen: die Schiffe der Alten hatten keinen Wimpel ( C o r n i l l , B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — Streiche mtr es iitf und lies Htt^ND ( R o t h s t e i n ) . — Was unter " t t ^ N zu denken ist, ist unsicher; es kommen Sizilien (Süditalien), Karthago oder der Peloponnes in Betracht. Für diesen könnte das Vorkommen der Purpurschnecke sprechen (vgl. R o t h s t e i n z. St.). — Punktiere nach Gen 8i» ( C o r n i l l , v. O r e l l i , B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — T. 8. Lies nach LXX "Wti»} ( C o r n i l l , K r a e t z s c h m a r ) . — Lies "ipjj iDDn, das phönizische Simyra ( K r a e t z s c h m a r ) . — V. 9 und 10 gehören wahrscheinlich nicht in die Allegorie hinein: in V. 9b ist doch wobl die Stadt gemeint; aber auch 9a paßt nicht in die Beschreibung des Schiffes, die Übersetzung von ipTID mit „Leckausbesserer" ist willkürlich ( M a n c h o t a. a. 0. S. 426f.). In Bezug auf V. 10 ist es nicht einzusehen, daß das Aufhängen der Waffen hier einen anderen Sinn haben soll wie in V. 11. Zu den inhaltlichen kommen formale Gründe: der sonst bis V. 35 durchgeführte Fünfer ist in V. 9 und 10 nicht herzustellen; zieht man V. 9a zu der Allegorie, dann fehlt die zweite Strophenhälfte, da 9 a unmöglich mit 25 b zusammenzustellen ist, wie B e r t h o l e t vorschlägt. Das Stichwort C O i ist nicht beweiskräftig für das Wiedereinsetzen der Allegorie, es ist vielmehr ein Versuch, zwischen Einsatz und Allegorie,zu vermitteln ( E h r l i c h ) , die erst in V. 26 fortgesetzt wird ( R o t h s t ein). Im Zusammenhang der Allegorie ist V. 25 b neben 26 überhaupt unmöglich: das Schiff kann nicht „im Herzen der Meere" befrachtet ') Das Buch Hesekiel, S. 138 ff.

214

Kapitel VII.

§ 2

und dann erst auf hohe See gebracht werden. — V. 27. Lies nach LXX T V ""P'IJ'DI ( K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — Streiche aus stilistischen, metrischen und strophischen Gründen von bis *p ( M a n c h o t ) und nach LXX das zweite "lEW ( R o t h s t e i n ) und lies nach LXX S T mit den meisten Neueren Der Vers ist durch Zusätze nach V. 8—10 überfüllt worden. — V. 28. mt£>"0D ist unübersetzbar; da die zweite Hälfte der Strophe fehlt, ist Verderbnis der Stelle anzunehmen. — V. 29. Lies Qin ^ n n Q T f e ( B a u m g a r t n e r ) und nach LXX b]3 statt (BH). — V. 31. Lies beide Male I^J? ( K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — V. 32. Streiche mtr es und lies DrPf"l33> vgl. 32i« ( E h r l i c h ) . — Lies nach Aquila HCT 3 ( B e r t h o l e t ) . - V. 33. Streiche nach LXX mtr es ( B u d d e (ZAW % S. 18®), C o r n i l l , B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — Lies Tpin, da pn sonst nur im Sing, vorkommt ( E h r l i c h ) . — Streiche, dem ersten Halbvers entsprechend, p N und lies ( C o r n i l l ) . — V. 34. Punktiere nach LXX (Toy). — V. 35. S T V mit den meisten Neueren ny. — Lies Lies nach LXX S 1JJOT ( C o r n i l l ) . ' — Lies nach LXX S T DiTOD ( C o r n i l l , : r T o y , R o t h s t ein). — V. 36. Der Schluß vers bildet, von den vorangehenden Versen abweichend, einen Doppelvierer, vgl. zu b Ez 28m b. 1

Und es geschah das Wort Jahwes zu mir: *Du Menschensohn, hebe über Tyrus ein Leichenlied 8und rede Tyrus an:

Tyrus, du bist ein prachtvolles Schiff von vollendeter Schönheit! 4 Im Herzen der Meere ist dein Gebiet, sie machten dich vollendet schön. 6

Aus Zypressen

vom Senir

bauten sie

alle deine Planken, Eine Zeder vom Libanon nahmen deinen Mast zu bauen. 'Aus

den höchsten

Eichen

von

Buntdurchwirkter Byssus war dein Segel, Blauer und roter Purpur deine Bedachung. l

) Vgl. oben S. 195*.

aus

(5) (5) dir (5)

sie, (5)

Basan

machten sie deine Ruder, dein Verdeck aus Buchsbaumholz von den Inseln der Kitthäer'). 1

er-

(5) (5)

Ägypten (5)

aus

Elisa (5)

§ 2

Kapitel VII.

215

* Fürsten von Sidon und Arwad waren deine Ruderer, Die Kundigen von Simyra weilten in dir, sie waren deine Steuerer.

(5) (5)

Auf hohe See trachten dich deine Ruderer — Der Ostwind zerbrach dich im Herzen der Meere.

(5) (5)

"Dein Reichtum und deine Güter und deine und alles Volk in deiner Mitte, Sie müssen fallen im Herzen der Meere am Tage deines Falles. "9 Von dem lauten Schrei deiner erbeben die

Ware (5) (5)

Steilerer (5) (5)

2

"Da steigen von ihren Schiffen herab alle, die das Ruder führen, Alle Matrosen, die Steuerer des Meeres steigen ans Land,

80

Und lassen über dich ihre Stimme ertönen und schreien jämmerlich Und werfen sich Staub aufs Haupt, wälzen sich in der Asche, Und scheren sich deinetwegen eine Glatze und umgürten sich mit Trauergeioändern Und tveinen über dich in Herzensjammer jämmerliche Klage,

32

Und ihre Töchter erheben ein Leichenlied und klagen um dich: „Wer war wie Tyrus in seinem Stolz mitten im Meere?

"Als

deine Güter dem Meere entstiegen, machtest du Völker satt,

(5) (5) (5) (5) (5) (5) (5) (5) (5)

216

Kapitel VII.

Mit der Menge deines Reichtums und deiner Waren machtest du Könige reich. "Nun bist du gescheitert auf dem Meere in Wassertiefen, Deine Ware und all deine Volksmenge versanken mitten in dir.

§ 2

(5) (5) (5)

6

" Alle Bewohner der Küsten entsetzen sich über dich, Und ihre Könige schaudern heftig, ihr Antlitz tränt.

(5) (5)

"Die Krämer unter den »Völkern pfeifen bei deinem Anblick, und bist dahin für ein Schrecknis bist du geworden immer!" (4 + 4) Tyrus wird in diesem Liede als ein großes Handelsschiff dargestellt. Damit nähert sich Ezechiel wieder der a l l e g o r i s c h e n U m b i l d u n g der Qina, wie wir sie in Kap. 19 kennen gelernt haben. Dort hatten wir beobachtet, daß die Allegorieen aus Vergleichen entstanden waren, die dem Leichenliede geläufig sind. Hier scheint es, als habe Ezechiel das Bild eigens für dieses Lied erfunden. Aber auch für das Bild vom Schiff findet sich eine Parallele, und zwar in der korsischen Leichenpoesie. Eine Witwe besingt dort ihren toten Gatten: Du mein Schiff auf hohem Meere, das gar bald schon landen wollte Und den Hafen nicht erreichte, weil der Sturmwind plötzlich grollte, Und samt allen schönen Schätzen jäh in sein Verderben rollte1). Jedenfalls ist das Bild von Ezechiel sehr gut gewählt: die mächtige Seehandelsstadt könnte durch nichts treffender dargestellt werden als durch das stolze Kauffahrteischiff. Der S t i l der großen Qina (in die V. 32b—36 noch eine kleine eingebaut ist), ist durchaus e p i s c h wie in Kap. 19. Die Schilderung des Schiffes ist nämlich äußerst geschickt in Handlung aufgelöst: es wird nicht beschrieben, wie das Prachtschiff aussieht, sondern Hörstel a.a.O. 8. 144.

Kapitel VII.

217

erzählt, wie es einst entstanden ist, wie zu seiner Herstellung das kostbarste Material aus der ganzen Welt zusammengetragen wurde, wie die Vornehmsten und Geschicktesten seine Bemannung bildeten. Diese Erzählung entspricht inhaltlich den Lobeserhebungen im alten Leichenliede, etwa denen, die sich mit der körperlichen Herrlichkeit des Verstorbenen, mit seinem Reichtum, seiner schönen Kleidung und seiner Vornehmheit beschäftigten'). In V. 26b erfolgt, ähnlich wie Ez 1 9 e i n jäher Umschwung: der Ostwind zerbricht das Schiff, es versinkt mit Mann und Maus in den Tiefen des Meeres8). Von dichterischer Schönheit ist das mehrmals wiederholte „im Herzen der Meere", da es zugleich die Höhe von Tyrus' Macht und die Tiefe seines Falles bezeichnet. Dasselbe Element, das Tyrus groß gemacht hat, wird ihm zum Verderben. Aber es ist wohl zu beachten, daß dieser Untergang im Meere eben zum Bilde des Schiffes gehört*); m Wirklichkeit war natürlich als Ausgang der Belagerung von Tyrus eine Vernichtung der Stadt durch Sturm und Meer nicht möglich. Sehr ausgesponnen ist in unserem Liede das Motiv von der Trauer der v e r s c h i e d e n e n L e i d t r a g e n d e n . Alle, die nur irgendwie durch den Fall von Tyrus betroffen werden, bekunden ihren Schmerz in den bekannten Trauerbräuchen. Die Fülle der angegebenen Leidtragenden soll zeigen, wie weite Kreise durch den Untergang der großen Handelsstadt in ihrer Existenz erschüttert sind*). Das kleine Leichenlied, das die Töchter der Trauernden auf Tyrus anstimmen, trägt deutlicher als die große Allegorie den Stil der alten Qina, schon weil es ganz lyrisch gehalten ist; es ist dem Leichenlied 26 t 7 f. ähnlich. Der Anfang dieses Liedes enthält das Motiv der Unvergleichlichkeit5). Ahnlich finden wir es z. B. in dem Leichenliede des A u s o n i u s auf seinen Vater Julius Ausonius: .... Unser Zeitalter gab ihm diesen Titel: Daß Ausonius keinen hatte, der ihm voranging und keinen, der ihm gleichkam')! Vgl. oben S. 97. ») V. 34. ) Gegen M a n c h o t , der in Kap. 26 u. 27 eine ältere Weissagung auf Zerstörung der Stadt durch eine wirkliche Flut nachgewiesen zu.haben glaubt, 4 a. a. 0. S. 460!. ) Vgl. Ez 26 »ff. ») V. 32b, vgl. oben S. 97f. 139f. ') A u s o n i u s , Farentalia I, 16ff. 3

218

Kapitel VII.

oder in einem Leichenliede der Hudhailiten: Sie trafen Abu Zaid, dem kein Lebender gleicht, Abu Zaid, meinen Bruder und Freund') / oder in der Klage, welche die Witwe eines Scheichs in der Sahara anstimmt: Wo ist mein Löwe? Wo finde ich seinesgleichen2)? Ebenso war es in den Lob- und Leichenliedern der mittelalterlichen deutschen und provenzalischen Dichter: auch sie machten ihren Helden zu dem Einzigen®). Der Zug, daß Tyrus einst Völker gesättigt und Könige bereichert habe*), entspricht etwa dem Lob der Freigebigkeit in der alten Qina, besonders im Königsleichenliede6). Bezeichnend ist der Schluß des Liedes, im Hebräischen eine Negation, wie wir sie schon mehrmals beobachtet haben 6 ). Die S t i m m u n g des Liedes ist eine eigentümlich gemischte. Die Schilderung des Prachtschiffes wird zwar von einer gewissen Bewunderung getragen, deren sich der Israelit, und selbst der Prophet, einer überlegenen Kultur gegenüber nicht ganz erwehren kann, aber trotzdem betrachtet er den Sturz der stolzen Stadt mit Gelassenheit'). Die Leidtragenden zeigen nicht nur teilnehmende Erschütterung, sondern von den Krämern wird erzählt, daß sie beim Anblick der untergegangenen Stadt pfeifen 9 ). Das ist an dieser Stelle noch viel deutlicher als in Threni 2 ir ein apotropäisches Pfeifen"), denn über ein „Schrecknis" höhnt man nicht schadenfroh, wie die meisten Erklärer es verstehen wollen, sondern übt Vorsichtsmaßregeln, um gleiches Unglück von sich selber abzuwehren; man „bekreuzigt sich" davor — so etwa könnte man den Sinn der Sitte in unsere Geberdensprache übersetzen. 1

) W e l l h a u s e n : Skizzen und Vorarbeiten I, S. 126. ) C e r t e u x - C a r n o y a.a.O. S. 268, vgl. oben S. 148. 3 ) Vgl. N i c k e l : Siryentes und Spruchdichtung, S. 51. 4 ) V. 33. In der Hand der Könige lag damals der Handel, vgl. Salomos Handelsbeziehungen 1. Reg 9aeff. lOu.12. » f . ") Vgl. z. B. Sauls Preis 2. Sam lsi, oben S. 149!. •) Vgl. oben S. 161!. 168. 206!. ') V. 26!. ») V. 36. "j Vgl. oben S. 187. Wie Ez 27 se steht das apotropäische Pleiien ohne andre Gesten: 1. Reg 9a Jerl9 8 4917 50ia; wie Thr 215 mit dem Händeklatschen zusammen: H i 2 7 u Jes Sir 12I9. s

Kapitel VII.

219

(Parallele: Leichenliturgie auf „Babylon" Apk 18.) Die eben behandelte Qina auf Tyrus hat ein Gegenstück im 18. K a p i t e l der A p o k a l y p s e J o h a n n i s 1 ) . Dort finden wir eine gewaltige L e i c h e n l i t u r g i e auf den Untergang „ B a b y l o n s " (Roms). Sie wird vorbereitet durch die Verkündigung des Falles von Babylon aus dem Munde eines Engels. Diese Verkündigung hat die Form eiDes eschatologischen Leichenliedes: 2 Gefallen, gefallen ist Babylon'), die Große, und ist eine Wohnung von Dämonen und ein Gefängnis für alle unreinen Geister und ein Gefängnis für alles unreine und verhaßte Gevögel geivorden; 8 denn von dem Zomwcin ihrer Unzucht haben alle Völker getrunken, und die Könige der Erde haben mit ihr gebuhlt, und die Kaufleute der Erde sind von ihrer strotzenden Üppigkeit reich geworden. Das Lied erinnert in seinem Anfang an Am 5 2 ; es nennt schon die durch den Fall Babylons Betroffenen, die der Stadt nachher die Klagefeier halten sollen. Wir haben die Vermutung ausgesprochen, daß wirkliche Trauerfeiern manchmal durch die Chorführerin mit der Verkündigung des Todesfalles eröffnet worden sind 3 ). Der Engel steht hier also an der Stelle des Vorsängers bei der Klagefeier, freilich wird diese Feier noch einmal durch eine andere Himmelsstimme (V. 4-—8) aufgehalten, setzt dann erst V. 9 ein und wird V. 11—14 noch einmal durch ein Verzeichnis der Waren unterbrochen, mit denen „Babylon" einst gehandelt hat. Die Klagefeier ist nicht so streng im Stil der eschatologischen Qina gehalten wie der erste Klageruf. Während dieser den Untergang Babylons als bereits geschehen voraussetzte, wird die Klagefeier doch als zukünftig vorgestellt. Das Motiv der verschiedenen klagenden Personen, das ursprünglich aus der wirklichen Aufführungsart der Totenklage herstammt, dann im Leichenliede häufig in die dritte Person umgesetzt worden ist, wird hier, bei der übertragenen Klagefeier, wieder in seine erste Entwicklungsstufe zurückverwandelt: es ist nicht nur von der Trauer der verschiedenen Leidtragenden die Rede, sondern ihre L e i c h e n l i e d e r werden sogar a n g e f ü h r t * ) . In wirklichen *) Vgl. zur Apokalypse Johannis: B o n s s e t s Kommentar ( 2 1906); Job. 3 W e i ß - H e i t m ü l l e r : Schriften des NT IV ( 3 1920). ) Vgl. Jes 21». a ) Vgl. oben S. 101. 138. 167. *) Vgl. oben S. 102.

Kapitel VII.

220

Leichenliturgieen finden wir ja auch verschiedene Chöre1), etwa solche der Männer und der Frauen2), mit entsprechendem Inhalt ihrer Leichenlieder3). In den Stücken Ez 26i 7 f. und 27 32ff. vereinigten sich alle Stimmen in einem Liede, während hier in dramatischer Weise die Chöre unterschieden werden. Es sind drei: der Chor der Könige, der Krämer und der Seeleute, also etwa dieselben Gruppen, die in dem zweiten Leichenliede des Ezechiel um Tyrus trauern; der Dichter von Apk 18 hat sich zweifellos von Ez 27 anregen lassen 4 ). Aber sein Lied ist umsoviel großartiger als das des Ezechiel, wie die Bedeutung der Welthauptstadt die der phönizischen Handelsstadt überragte. Chor der K ö n i g e 18iob: Wehe, wehe, du große Stadt in Einer

Stunde

dein Gericht

Babylon, gekommen

du gewaltige

Stadt,

daß

ist!

Chor der Krämer 18i 8 : Wehe,

wehe,

Leinen

und

gestein

und Perlen

vernichtet

du

Purpur

große

Stadt,

und Scharlach B

die und

du

gekleidet

warst

bedeckt mit Gold,

) — daß in Einer Stunde

all dieser

in Edel-

Reichtum

ist!

Chor der S e e l e u t e 18isb.n: l8

b Wo ist eine Stadt, der großen gleich? " Wehe, wehe, du große Stadt, in der reich geworden sind alle, die da Schiffe auf dem Meere haben, durch ihren Reichtum — daß sie in Einer Stunde verödet ist!

Der Inhalt der einzelnen Chorlieder ist nach dem Standpunkt der Sänger verschieden. Das Lied der Könige ist am unpersönlichsten gehalten, sie stehen dem Fall am fernsten. Das Erschütternde des plötzlichen Unterganges ist das einzige Motiv ihres Liedes. Der Chor der Kaufleute singt nach seiner Art von Purpur, Gold und Edelsteinen, der Chor der Seeleute von der wirtschaftlichen Bedeutung der Stadt für die Schiffsherren (auch hier wieder der Lobpreis in der Stilform aneinandergereihter *) Vgl. oben S. 81 ff. ") Vgl. z.B. Sachl2iaff. und oben S. 58f. ') Z. B. H e r d e r a.a.O. Ia, S. 499f.; E r m a n : Ägypten, S. 432ff. *) Vgl. besonders die Übereinstimmung Ton Apk 1 8 u - u mit Ez 27 u—) Vgl. oben S. 83ff. 135f. ) Vgl. oben S. 103f. 136fi. 4 ) V. 10. 16. 19. ») V. 13. ») V. 20.

222

Kapitel VII.

R o t h s t e i n ) und ziehe DHU gegen die Akzente zum Folgenden ( B e r t h o l e t , v. O r e l l i , K r a e t z s c h m a r ) . — Lies ^niPlD s t a t t " p c n ( F r a n k e n b e r g , Gött. gel. Anz. 163 (1901), S. 682). - rOJ&D ist Autfüllung, "]i3p:i Variante zu - p n i r © und "|3 durch Dittographie entstanden; auch "]N13n DVD ist als Variante zu V. 15 zu streichen ( B a u m g a r t n e r ) . — Streiche in 13a p y als Zusatz zu Qinbtf p, lies DTI^N p 3 uöd schließe an 13 a die aus V. 14 umgestellten Worte -pnna (Ohne 1) EHp m n ( B a u m g a r t n e r ) . — Lies rtfil3 und ziehe das Wort zu V. 14 ( G u n k e l , R o t h s t e i n ? ) . — T. 14. Lies nach LXX n « ( H i t z i g , C o r n i l l , B e r t h o l e t , T o y , K r a e t z s c h m a r , E h r l i c h ) , lies D i a r o ( B e r t h o l e t , K r a e t z s c h m a r , E h r l i c h ) , rPBto ( G u n k e l ) und streiche den Artikel vor -piD- — Stelle n u n DiPl^N an den Schluß von V. 14 ( G u n k e l ) . — V. 15. Ziehe - p ¡Tl^iy N S ö n y zum Folgenden. — V. 16. Streiche tttMIPl ( R o t h s t e i n ) und "¡^HNl als Varianten zu -pttHpD n ^ n in V. 18; diese Worte stelle ich vor V. 16 und lese -]KhpD. — Lies nach LXX S JIN^D ( R o t h s t e i n ) . — Mit Bezug auf das voranstehende "¡tthpD lese ich OIO; die falsche Endung ist leicht durch Angleichung an die Umgebung zu erklären. Das Wort DDP! bedeutet auch sonst im AT nicht Sünde, die das Innere des Menschen erfüllt, sondern äußere Gewalttat, mit der z. B. die Erde (Gen 6 n ) , ein Land (Jes 60is), eine Stadt (Jer 67), ein Haus (Zephlo) erfüllt werden. — Die AnfaDgsworte von V. 16 " ¡ r t a l 3 1 3 stelle ich an den Schluß der Strophe. — Setze zur Herstellung des Zusammenhangs V. 18 c vor 16c ( B a u m g a r t n e r ) und lies auch hier 131210 ( E h r l i c h ) . — Lies ' p r n S N ( B a u m g a r t n e r ) und streiche 3113 und das in LXX fehlende "piDD als falsche Lesart zu V. 14 ( K r a e t z s c h m a r , R o t h s t e i n ) . — V. 17. Ziehe "¡rij®i gegen die Akzente zum Folgenden und streiche b)}, lies i r O ^ H ( B a u m g a r t n e r ) und ziehe nach LXX -pjlj; 3*1D aus V. 18 zu 17' ( C o r n i l l , K r a e t z s c h m a r ) . — V. 18. Streiche " [ r f a l bli?3 als Variante zu "]nb31 3 1 3 in V. 16 ( E T i r l i c h ) . 12

Du

warst und

1 h

' Mit

allerlei und

13 a

Im

auf

* Bei

Siegel

Gold

den

warst

heiligen

den Keruben

Im

Kreise

""ein 15

Schuldlos vom

Tage,

bedeckt,

Eingrabungen.

(5)

ich dich,

(5)

du, stellte du

eingesetzt

Gesalbter. Steine

(5)

ivandeltest

du,

du, du

da

(5)

du

deine

wardst

warst

warst

warst

Berg

feuriger

Gott

Vollendung

Schönheit,

ivaren

als schirmender liä

cler

der

Edelsteinen

aus

Gottesgarten

iih 11

das

die Krone

(5)

in deinem

Wandel

du geschaffen

wardst,

(5)

§3

Kapitel VII.

Bis ein Vergehen an dir erfunden ward, ltb du dein Heiligtum entiveihtest, ltb Sein Inneres mit Frevel erfülltest ,ea durch die Größe deines Handels! c

"

1,0

118

Da ließ ich Feuer aus ihn hervorgehen, das fraß dich, Vom Gottesberge rottete ich dich aus, aus dem Kreis der feurigen Steine. Hofl'artig war dein Herz ob deiner Schönheit, du verdarbst deine Weisheit, Deine Herrlichkeit stürzte ich zur Erde 18& ob der Menge deiner Sünden.

"b Vor den Königen gab ich dich preis, ihre Lust an dir zu schauen, iii Ich machte dich zu Asche auf der Erde vor den Augen aller, die dich sahen. 19

223 (5) (5) (5) (5) (5) (5) (5) (5)

Alle, die dich kannten unter den Völkern, schauderten über dich, ein Schrecknis bist du geworden und bist dahin für immer! (4 + 4)

Das vorliegende Stück ist ein sehr zusammengesetztes Gebilde, in dem sich zwei verschiedene E l e m e n t e voneinander abheben. a) Ein z e i t g e s c h i c h t l i c h e r T a t b e s t a n d : der reiche, stolze König von Tyrus, der vor dem Untergang steht. b) Ein alter Mythus, der vom Fall einer übermenschlichen,, halbgöttlichen Gestalt erzählt'). Diese beiden so verschiedenartigen Stoffe werden verbunden durch die moralisierende Auffassung des Ezechiel, der mit großartiger Einseitigkeit überall in der Welt denselben gewaltigen Z u s a m m e n h a n g von Schuld und S t r a f e sieht, sowohl im politischen Geschehen seiner Tage als in den dunklen Mythen der Vorzeit. So kann ihm der Mythus zum Bilde der Zeitgeschichte werden: hier wie dort gottloser Ubermut, unweise Vermessenheit; darum muß hier der Sturz erfolgen, wie er dort eingetreten ist, ja, man kann schon mit ') Vgl. zur Rekonstruktion dieses Mythus G u n k e l : Genesis 3 , S. 34, durch persönliche Mitteilungen abgeändert.

224

Kapitel VII.

solcher Sicherheit davon erzählen, als sei er bereits geschehen. Ezechiel hat in dieser Qina statt der Stadt Tyrus') den Tyrerkönig selbst besungen; kann er doch den Zusammenhang von Sünde und Strafe an einer Person viel wirksamer darstellen. Aber nur diese Bedeutung hat der König für den Propheten: er ist die vermenschlichte Herrlichkeit und Überheblichkeit der Stadt Tyrus ohne irgendwelche konkreten Züge einer geschichtlichen Persönlichkeit. Die W i e d e r h e r s t e l l u n g des alten Mythus, zu der auch 4er Anfang des Kapitels2) heranzuziehen ist, wird natürlich durch •die Vermischung der beiden Elemente erschwert. Die Erzählung ist nach Art der A l l e g o r i e absichtlich in schillernden, geheimnisvollen Ausdrücken gehalten und liegt überdies in einem unsicheren Texte vor. Einige Forscher wollen nun diesen Text so wiederherstellen, daß er eine Verstoßung des Urmenschen durch den Kerub erzählt'). Aber der in unserem Stück vorausgesetzte Mythus ist, obgleich er auch von einem Sündenfall berichtet, doch keine Parallele zu Gen 3; bisher sind uns überhaupt keine genauen Parallelen zu diesem Mythus bekannt1). Der entscheidende Unterschied zwischen ihm und der Paradiesesgeschichte besteht darin, daß jene Gestalt getötet wird, während der Urmensch nur erniedrigt wird und Nachkommen zeugt®). Für den vertreibenden Kerub ist wohl auch schon deshalb in unserem Stück kein Raum, weil ja dreimal darin erzählt wird, daß Jahwe selbst den Vermessenen vernichtet 6 ). Durch Heranziehung der Paradiesesgeschichte ) Vgl. oben S. 103. ») C e r t e u x - C a r n o y a. a. 0 . 1 , S. 266. ') Vgl. Jes öu. 4 ) Aber doch des „lebenden" Leichnams, denn auch in dem Liede Ez 32 reden die Toten und haben ihre Waffen bei sich. 6 ) Jesl4iob. Vgl. zur Frage als häufiger Stilform des Leichenliedes oben S. 100. 187. 196. 221. «) Vgl. oben S. 236 f. ') Vgl. oben S. 97. 139 f. 217 f. 221.

Kapitel VIIL

246

dies allgemein menschliche Anrecht auf Unvergleichlichteit im Tode mit höhnischen Worten abgestritten. Daß unter den Totengeistern von der Art des Liegens, des „Gebettetseins" in der Unterwelt die Rede ist, haben wir auch schon in dem Leichenliede Ez 82 gesehen; auch in unserem Liede erzählen sie von dem grausigen Bettuch und der eklen Decke, die den neuen Ankömmling empfangen, der also nicht wie sie den ehrenvollen Thronsitz erhalten soll. Ähnlich heißt es in einem neuarabischen Leichenliede: „Ihr Grabesbewohner, da habt ihr einen Gast die ganze Nacht. Bringt ihm ein Bett und bringt ihm eine Decke." „Wir haben kein Bett, und wir haben keine Decke; legt euch auf die Erde, wie wir uns gelegt haben1)," und in einem anderen: Das Grab ist keine Wohnstätte für dich, es sind in ihm keine Mädchen, die die Teppiche ausbreiten .. Im letzten Teil unseres Liedes finden wir dasselbe Motiv v o m „ u n e h r l i c h e n Begräbnis", das den Hauptinhalt der Litanei des Ezechiel bildete, hier mit der etwas abweichenden Wendung, daß der König nicht im Erbbegräbnis der babylonischen Könige ruhen, sondern fern von der Heimat sterben und grablos hingeworfen werden soll3). Das Motiv „fern von der Heimat gestorben und begraben" kommt auch im wirklichen Leichenliede vor*), dort natürlich im Tone der Wehmut. So singt ein palästinisches Leichenlied: Das Grab des Fremden — klar waren mir seine Zeichen, die Dornen umgeben es, weil wenige es besuchen''), und' eine bulgarische Mutter klagt um ihren in der Fremde gestorbenen Sohn: . . . Fremde Erde gab dir Ruhe, liegst in unbekanntem Grabe*). In diesen beiden Beispielen ist das Motiv modern-gefühlsmäßig gewandt, doch liegt ihm die antike Vorstellung zugrunde, daß dem Verstorbenen nur die Genossen der eigenen Familie die Dienste der Seelenpflege erweisen können'). l

2 ) L i t t m a n n a. a. 0. S. 115, 2öfl. ) Musil a. a. 0. III, S. 433. 4 s ») V. 18f. ) Vgl. oben S. 94. 98. ) Dalman a. a. 0. S. 327. •) S t r a u ß a.a.O. S. 497. ') Vgl. oben S. 29.

Kapitel VIII.

247

In unserem Liede ist die Schmach der fehlenden Bestattung wohl als gerechte Vergeltung dafür gedacht, daß der grausame Tyrann selber nie seine Gefangenen in die Heimat entließ'). Der K e r n des g a n z e n L i e d e s ist die ironische K l a g e um d e n g e f a l l e n e n S t e r n . Wi,r haben es hier wieder wie schon zweimal in prophetischen Leichenliedern 3 ) mit einem a l l e g o r i s i e r t e n Mythus zu tun, und zwar hier mit dem schönsten Beispiel eines solchen. Es steht dem Vergleich Pharaos mit dem Krokodil Ez 32 2 näher als der Gleichsetzung des Tyrerkönigs mit dem Wächterdämon Ez 28, bei welcher der Prophet in seine ausgeführte Erzählung auch Züge des Mythus mitaufgenommen hat, die zu seiner allegorischen Anwendung garnicht passen. Der Dichter von Jes 14 hat diese Klippe glücklich umschifft: seine Allegorie ist ganz lyrisch gehalten. Er erzählt nicht den Mythus, sondern stellt nur die Schlußkatastrophe, den Sturz vom Himmel, fest. Da aber auch der Anfang des Mythus sich zur Allegorisierung des Tyrannen und seines Schicksals vorzüglich eignet, läßt er diesen Anfang höchst anschaulich und wirkungsvoll durch eine Rede des Leuchtsterns (d. h. des Großkönigs) in erster Person nachholen, die in all ihrer Kürze doch seinen ganzen Lebensplan enthält*). Auf diese Weise erfahren wir nur die Züge des Mythus, die sich der dichterischen Absicht des Propheten einfügen, doch lassen sie sich zu einem geschlossenen Bilde vereinigen: Der „Leuchtstern, der Sohn der Morgenröte", d. h. also wohl der Morgenstern (die hebräischen Worte für „Leuchtstern" und ,,Morgenröte"') wirken als Eigennamen) wurde danach als ein kühner Kämpe personifiziert, der es allen anderen Gottessternen zuvortun wollte. Auf Wolkenhöhen wollte er emporklimmen zum Versammlungsberge und dort 'Eljon gleich sein. Aber er ward aus höchster Höhe in die tiefste Tiefe der Unterwelt hinabgeschleudert, von dem, welchem gleich zu sein er sich vermessen hatte. Man beachte wohl den Hohn, der in der Verbindung der beiden unvereinbaren Begriffe „Stern" und „Unterwelt" liegt")! Wir sehen, wie der Prophet auch hier wieder den frechen l

) V. 17.

a

) Ez 2819ff. und 32 a .

a

) V. 13!.

4

) ^ " ¡ 1 und

) Die Rekonstruktion des Mythus nach G u n k e l : Schöpfung und Chaos, S. 132ff.; dort auch die Deutung des Mythus. l

248

Kapitel Vili.

Übermut, die gottlose Vermessenheit als Sünde der Sünden ansieht, ganz parallel zu der Auffassung des Ezechiel vom Hochmut und Sturz des Tyrerkönigs Ez 28 und wahrscheinlich mit größerem Rechte als dort. Auch schon die vorausgesetzten Mythen haben eine gewisse Verwandtschaft, die trotz der gemeinsamen Vorstellung vom Götterberg weniger in den Stoffen als in dem Grundgedanken vom gestürzten Übermut liegt. Die babylonische Herkunft des Mythus vom gestürzten Stern läßt sich bis jetzt nicht beweisen, da die Lage des Götterberges im Norden durch die Keilschriftdenkmäler noch nicht bezeugt ist, vielmehr umgekehrt die babylonische Kosmologie gerade in der Stelle Jes 14i3 den sichersten Stützpunkt zur Bestimmung dieser Lage findet'). Es würde freilich gut zum Stilcharakter der Parodie passen, daß der Prophet den besungenen Großkönig mit einem Mythus seines eigenen Volkes verspottet. Zum Sturz des Sternes haben wir schon eine andere, wenn auch abgeblaßte Parallele Thr 2i *) kennen gelernt. Deutlicher klingt unser Mythus in den Sibyllinischen Orakeln 5™ nach, wo es von Memphis heißt: Von den Sternen bist du herabgefallen, zum Himmel wirst du nicht emporsteigen! Das Bild vom gefallenen Stern finden wir ebenso wie die Trauer der Gestirne*) auch in der Leichenpoesie anderer Völker; auch hier werden mythologische Vorstellungen zugrunde liegen. Am augenfälligsten sind folgende Parallelen. Im Leichenliede auf einen neuseeländischen Häuptling heißt es: Der Stern, der über dich, o Mangaroa, wachte, fiel auf das bange Land und löschte aus für uns *). Ein arabisches Lied singt von zwei fürstlichen Brüdern: Monde waren beide: glänzend scheint in Baghdads Schloß der eine, Und in Grabes Nacht versinkend, ging in Tüs der andre unter1). ') So Jensen: Kosmologie, S. 2089., während A. Jeremias die Identität des Götterberges Jes 14 u mit dem babylonischen Olymp für sicher hält, Hand5 buch der altorientalischen Geisteskultur (1913), S. 56. ) Vgl. oben S. 189. 4 •) Siehe zu Ez 32,1. oben S. 2301. ) v. H o c h s t e t t e r a. a. 0. S. 524. Brockelmann: Geschichte der arabischen Literatur (1901), S. 82.

§1

Kapitel VIII.

249

Im letzten Teil unseres Liedes begegnen wir wieder der U m k e h r u n g e i n e s g e l ä u f i g e n M o t i v s der L e i c h e n p o e s i e . In die Gruppe der versöhnenden Motive gehört die Zusicherung des guten Namens, den der Verstorbene und sein Geschlecht in seinem Kreise behalten soll'). Nach der Anschauung des antiken Menschen gibt es für den Toten eben ein wirkliches F o r t l e b e n n u r in seinem N a c h r u h m — u n d in seinen K i n d e r n . Darum gedenkt das Leichenlied nicht nur mit Teilnahme, sondern oft auch mit Stolz der Kinder des Verstorbenen. So singen die Klageweiber in der Sahara der Witwe eines Scheichs mit folgenden Worten Trost zu: Er ist nicht tot, er ist nicht tot, er hat dir Brüder hinterlassen, Er hat dir Kinder hinterlassen, sie werden Bollwerke für deine Schultern sein. Er ist nicht tot, er ist nicht tot1). In unserem Liede aber heißt es im Gegensatz dazu: In Ewigkeit werde nicht mehr genannt ein Sproß deines Leibes*)! Für die Söhne des Toten weiß dieses grausame Lied nichts anderes als die Schlachtung, damit die Welt vor der Tyrannenbrut und ihrem gefährlichen Treiben hinfort sicher sei. So soll mit der Auslöschung des Tyrannennamens gleich blutiger Ernst gemacht werden. Wir finden also das von Ezechiel in seiner Litanei begonnene Verfahren der Umkehrung gebräuchlicher — besonders versöhnender — Motive des Leichenliedes hier noch weiter entwickelt. Das andere Mittel, das der Dichter anwendet, um die p a r o d i s t i s c h e Wirkung zu erzielen, ist die V e r w e r t u n g g e l ä u f i g e r S t i l f o r m e n der Qina. Gleich die Eingangsworte: „Ach, wie ist so still geworden" könnte man sich gut als den Anfang einer echten Qina vorstellen — bis einen das Wort „Fronvogt" jäh in die Parodie hineinwirft. Auch die (ursprünglich preisenden) Partizipien V. 6. 12, besonders in Verbindung mit dem durch 'ek eingeleiteten Klageruf V. 12 *), sind charaktel

2 s ) Vgl. oben S. 100. ) C e r t e u x - C a r n o y a. a. 0.1, S. 269. ) V. 20. ) Hier habeD wir die ursprünglichere Form der direkten Anrede des ,Toten" (vgl. Ez 26n), die überhaupt last durch das ganze Lied geht. 4

250

Kapitel VIII.

§i

ristisch für die Gattung. Eine andere für die Qina bezeichnende Zusammenstellung finden wir in V. 16 b. Hier sind die „preisenden" Partizipien an die Frage angeschlossen, die von den verwunderten Zuschauern gestellt wird: Ist's dieser, der die Erde erzittern, die Reiche erbeben ließ1)?

Diese Partizipien stellen mit den folgenden Relativsätzen den Besungenen als einen Verderber aller menschlichen Kultur hin. Der Dichter hat also hier Stilformen, die sonst dem Lobpreis dienen, mit den schwersten Vorwürfen erfüllt, und das im wirklichen Leichenliede so oft vorkommende wehmütige „nicht (mehr)"8) hat in seinem Liede den Ton der Erleichterung"). Trotz der großen dichterischen Originalität, die unsre Parodie kennzeichnet, hat sie doch nach Form und Inhalt eine Parallele, die einer ganz fernab hegenden Literatur angehört, die Nenie, die Seneca in seiner Satire, der Apocolocyntosis, dem toten Kaiser Claudius anstimmt4), den Agrippina eigenmächtig zum Gotte erhoben hatte: Laßt

Tränen

strömen,

Klagen ertönen, Erheuchelt Trauer, es schalle von Jammergeheul Das Forum! Gefallen ist der herrlich Beherzte Mann, den kein andrer Auf der ganzen Welt an Mut übertraf! Er verstand es, in eilendem Lauf Schnelle zu überholen, die rebellischen ') Eine Parallele für die Frage: Thr 2i»c, vgl. oben S. 187; für das ganze Schema: Jes 23, f., vgl. oben S. 196. a ) Vgl. oben S. 161f. 168. 206f. 209. ') V. 8b. 20f. *) Bei P e t r o n i u s , ed. Buecheler (»1912), 12 (siehe oben S. 91); vgl. Birt: Seneca, Preuß. Jahrb. 144 (1911), S. 282ff.; Kleba: Das dynastische Element in der Geschichtsschreibung der römischen Kaiserzeit, Histor. Zeitschr. N. F. 25 (1889), S. 213 ff.

Kapitel VIII.

Parther zu schlagen, zu erreichen den Perser Mit flucht'gern Geschoß und mit sicherer Hand Den Bogen zu spannen, der die hinstürzenden Feinde erlegte mit kleiner Wunde, Und der fliehenden Meder bemalten Schild traf. Der zwang die Britannier jenseits der Ufer Des bekannten Meeres, und den Briganten Mit blauen Schilden bog er den Nacken Unter Romulus' Joch, und vor der neuen Gewalt Des römischen Beils ließ zittern er selbst OIceanos' Flut. Beweinet den Mann, Welcher so rasch wie kein andrer verstand, Rechtsfälle zu entscheiden, wenn er auch nur Eine Partei gehört, oft auch keine. Wer wird nun als Richter Prozesse anhören Das ganze Jahr? Dir wird abtreten Den Richterstuhl der, welcher dem schweigenden Volke Recht spricht, der Herr über hundert Städte von Kreta. Schlagt mit wehvollen

252

Kapitel VIII.

Händen die Brust, ihr Advokaten, Käufliche Bande, und ihr Dichter, Ihr Neulinge, trauert, und ihr vor allen, Die großen Gewinn ihr geerntet habt Mit dem Würfelbecher!

Im weiteren Verlauf der Satire wird Claudius, nachdem ihm die. Aufnahme in den Himmel versagt worden ist. in die Unterwelt geschleppt, wo er von seinen Opfern, 35 Senatoren, 221 römischen Rittern, mit Jauchzen empfangen und schließlich dem Kaiser Gajus als Sklave zugesprochen wird, der ihn dann weiter verschenkt. Der römische Satiriker macht also ebensowenig wie der hebräische Dichter Halt an den Pforten der Hölle, an die auch schon die Nenie mit dem höhnischen Vorschlag gerührt hatte, Claudius solle doch wegen seiner hohen juristischen Begabung von nun an im Totenreiche den Richter spielen. Aber auch sonst beobachten wir überraschende Ähnlichkeiten mit unserer Parodie: die peinlich genaue Innehaltung der herkömmlichen Stilformen; hier finden wir die Verkündigung des Todes, ferner Imperative in Fülle, die Aufforderungen zur Bekundung der „erheuchelten" Trauer enthalten, dann die gebräuchlichen, ursprünglich zum Preis bestimmten, hier mit Spott erfüllten Relativsätze: Gefallen ist der Beherzte Mann,

herrlich

dm kein andrer Auf der ganzen Welt an Mut übertraf! Beweinet den Mann, Welcher so rasch wie kein andrer verstand, Bechtsfälle zu entscheiden . . .

Diese Beispiele sind in Bezug auf die Stilform Jes 14 6 f. i«f. parallel; inhaltlich erinnern sie an Jes 14i 0 : sie enthalten ironische Anwendungen des Motivs der Unvergleichlichkeit wie diese Stelle.

Kapitel VIII.

258

Einen etwas anderen parodistischen W e g schlägt der römische Dichter ein, wenn er am Schluß seiner Nenie die Advokaten und die Dichter-Neulinge zur Trauer auffordert. Die Klage dieser Leidtragenden soll echt sein 1 ), denn sie haben ja in dem Toten einen Herrscher verloren, unter dem ihre eigene Unfähigkeit und Bestechlichkeit eine goldene Zeit hatte. Trotz der Verwandtschaft, die diese beiden Gedichte in Bezug auf die literarische Gattung unverkennbar zeigen, atmet doch ein ganz verschiedener Geist in ihnen. Aus dem römischen Hofmann spricht keine moralische Empörung — er versteht nur witzig von den Rechtsbeugungen des Kaisers zu plaudern —, auch nicht einmal eine politische Überzeugung, sondern nichts als persönlicher Haß, dessen Ursache die Verbannung Senecas vom Hofe des Claudius war. Diese unedle Gesinnung wird nicht einmal durch einen Schimmer von Mut verklärt, denn Senecas Kaiser Nero erging sich selbst gern in Spötteleien über Claudius und mußte sich überhaupt durch dieses Werk, dessen erste Kapitel Huldigungen für ihn enthielten, geschmeichelt fühlen *). Anders der judäische Prophet! Sein Gedicht ist frei von allen persönlichen Empfindungen, die Person des Tyrannen geht ihn überhaupt nichts an, wie wir das schon bei Ezechiel beobachtet haben. Aber sein sittliches Empfinden empört sich über den Mann, der in frevelhafter Überhebung das Nationalitätsgefühl und die Kulturarbeit unterworfener Völker mißachtete8). Darum ist auch der eschatologische Charakter des Liedes, der es von der römischen Parallele unterscheidet, kein unwesentliches Moment zur Bestimmung seiner geistigen Höhenlage: die sichere Erwartung vom Untergange des Tyrannen tritt mit dem Ernst und der Unerbittlichkeit eines sittlichen Postulats auf. Eine noch vorgeschrittenere Stufe in der Auflösung der Gattung als die zuletzt behandelten Stücke vertritt der Anfang des Liedes Jeslaiff. 1 ), die K l a g e um die „Dirne" J e r u s a l e m : Etwa wie die der leidtragenden Könige, Krämer und Seeleute beim Falle „Babylons" Apk 18, vgl. oben S. 221. 2 ) Vgl. K l e b s a.a.O. S. 216 und s . ») V. 5f. 16f. 4 ) Daß wir dieses der zeitlichen Entstehung nach verhältnismäßig frühe Stück auf eine so späte Entwicklungsstufe zu setzen haben, ist ein Beweis

254

Kapitel VIII. JeS lai-as1).

11

Ach, wie ist zur Birne geworden die treue Stadt, 16) Die einst von Recht erfüllt war, in der die Gerechtigkeit wohnte und jetzt Mords) / (6) Dein Silber ward zu Schlacken, dein edler Wein verschnitten1). (5) "Deine Führer wurden Aufrührer und Diebsgesellen, alle lieben sie Geschenke und laufen der Bezahlung nach. (4 + 4) Der Waise verschaffen sie nicht Recht, und die Sache der Witwe kommt nicht vor sie. (6) Auch dieses Gedicht ist eine Parodie, und zwar gilt sie einer personifizierten Größe, wie sie im Leichenliede des Arnos und in den Threni besungen wird. Besonders nahe stehen sich die Anfangsworte dieses Liedes und diejenigen von Thr 1; der Gedanke drängt sich wieder auf, als liege hier ein altes Eingangsschema der wirklichen Qina vor, das sich dem Fünfer stilistisch besonders gut angeschmiegt hätte. In V. 22 beschleunigt sich das gedankliche Tempo: das „Einst und Jetzt", das sich in V. 2 1 a und b je über einen metrischen Vers ausgedehnt hatte, schiebt sich hier in je einem Halbvers zusammen. Wenn wir an dieser Stelle noch einmal auf die Q i n a - S c h e m a t a zurückschauen, deren Spuren uns in den atl. Leichenliedern begegnet sind, dann ergeben sich etwa drei verwandte Typen, die Lob und Klage in sich vereinigen und denen die preisenden Partizipien oder Relativsätze (oder Appositionen) gemeinsam sind: a) Ach, wie bist du so still geworden (oder untergegangen oder Ähnliches), N. N., der du einst die und die Eigenschaften oder Verdienste hattest (oder in 3. Person) 4 )! dafür, wie spärlich und zufällig die Ausschnitte sind, die wir aus der Literaturgeschichte der atl. Qina besitzen. ') Vgl. die Kommentare zum Buche Jesaja oben S. 192 2 ) DViriD (Gunkel). 3 ) Streiche D">D3 als Glosse (Budde, ZAW 11 (1891), S. 246; Cheyne, M a r t i , Guthe, H. S c h m i d t , Duhm). 4 ) Vgl. Thr I i 4if. Ez 26i 7 Jesl4 4 ff.i 2 Jes I n .

255

Kapitel VIII.

b) Ist das N. N., der einst die und die Eigenschaften oder Verdienste hatte')? c) Weint um N. N., der die und die Eigenschaften oder Verdienste hatte*)! Diese Schemata kommen schon in unseren Beispielen in abgewandelten — einfacheren oder reicheren — Formen vor. Daß sie einstmals abwandlungsfähig gewesen sein müssen, ergibt sich, wie wir gesehen haben, schon aus dem Wesen der zünftigen Leichenpoesie. Parallelen aus der Dichtung anderer Völker gibt es für Schema c in größerer Zahl8), für b wenige1), für a gar keine. Schema a ist also offenbar für die hebräische Leichenpoesie besonders charakteristisch gewesen; es wird ja auch durch das stehende Anfangswort 'ekä gekennzeichnet und kommt in unseren Stücken weitaus am häufigsten vor. Wir kehren nun zu unserem Liede Jes 121 ff. zurück. Die Parodie, der wir also vielleicht auch hier wieder die Aufbewahrung echten alten Stilguts verdanken, hat in diesem Beispiel die Form allerdings völlig ausgehöhlt, d.h. inhaltlich erinnert außer den in den Gegensatz von Einst und Jetzt eingeordneten Motiven des Preises und der Klage nichts mehr an das alte Leichenlied. Das Eingangswort 'ekä erweckt zwar ohne weiteres die Vorstellung eines Todesfalles, — aber in unserem Stücke ist im Unterschied von allen vorher behandelten Beispielen der Gattung der Tod nicht einmal zum Bilde geworden. Doch gerade diese nur im Hintergrund lauernde Todesstimmung gibt dem Gedicht etwas Unheimliches. Um die sittliche Fäulnis der Stadt Jerusalem darzustellen, hat der Prophet nicht das Bild der Leiche, sondern das der Dirne gewählt. Die Käuflichkeit und Zuchtlosigkeit ihrer Führer hat der einst so „treuen" Stadt dieses Brandmal der Schande aufgeprägt. Nur die Bilder in V. 22 sind der Qina eigentümlich; besonders das zu Schlacken gewordene Silber erinnert an Threni 4if.°). Aber die so verdünnte und stofflich entleerte Gattung reicht nicht mehr zur Bildung einer größeren dichterischen Einheit aus; schon in V. 28 gleitet die Qina in eine prophetische Scheltrede über. s ») Vgl. Thr 2i5o Jes 23, Jes 14,ebf. ) Vgl. 2. Sam IM. a ) Vgl. oben S. 104. 151. 252 („Beweinet den Mann, welcher 4 ) Vgl. oben S. 196. ») Vgl. oben S. 189.

").

256

Kapitel VIII.

§ 2.

Leichengedicht auf den Sühnetod des „Jahweknechts". Wir haben gesehen, wie das hebräische Leichenlied sich stilistisch in der Erzählung, inhaltlich in der Parodie auflöste; es bleibt uns nun noch übrig, eine andersartige letzte Entw i c k l u n g s s t u f e in der Geschichte der Gattung zu beobachten. Sie wird durch eins der umstrittensten und zugleich weitwirkendsten Stücke vertreten, die wir überhaupt im AT haben, nämlich durch das Lied auf den „Knecht Jahwes" im Buche des Deuterojesaja. Jes 53 l—is Im Gegensatz zu den meisten Neueren, welche die Zusammengehörigkeit dieses Stückes mit Jes 52 u—» behaupten, halte ich Jes 52 is—i» und 531—u für zwei inhaltlich parallele Stücke, durch deren Zusammenziehung das zweite viel von seinem eigentümlichen Charakter verlieren würde. 531 scheint mir gerade in seinem abrupten Stil der ursprüngliche Anfang des zweiten Stückes zu sein, während 52 is als Anfang die Wendung in 53 io vorwegnähme, so daß sie nicht mehr als geheimnisvolle Unbegreiflichkeit wirken würde. — Y. 1. Lies "injflptt^ (G.unkel). — V. 2. HD1 N1? statt TOD1? (Volz). — Streiche Tin N^l' als Dublette zu "INtVN^ und ziehe IHiOil in die erste Halbzeile hinüber (Bert h o l e t , M a r t i , S t a e r k , Beer). — Hinter V. 2 ist 52ub einzuschieben, was sich hier in den Zusammenhang einfügt, den es nach 52i«a stört ( M a r t i , Duhm). — 52 Y. 14b. r r a t o (Duhm, M a r t i , Budde, E h r l i c h , S t a e r k , T : I

,

Schlögl). — V. 3. Ergänze NID nach HQ3 (Budde, Schlögl), lies 711 statt Viril und streiche DU^N als durch Dittographie entstanden (Cheyne, Ehrlich, Staerk). — Lies nach LXX mtr es den Singular 31N3D (Duhm, Beer), WiS "lYlWI für D-OD "IDDDD1 und inpJI für HT33 (Ehrlich, Staerk). — Y. 4. Streiche mtr es NID in der 1. Halbzeile (Baumgartner) und setze es mit KSre, vielen Hdscbr. und S V in der 2. ein (Marti, Budde, S c h l ö g l , Köhler). — Y. 5. ^ P D (Cheyne, M a r t i , S t a e r k , Köhler, Gunkel). — V. 6b ist wahrscheinlich Verstümmelt. — V. 7. Streiche DO^tO (Köhler) und mit für n n (Gunkel), den meisten Neueren b als Wiederholung. — Y. 8. Lies 1DJ7 für iDJi (Köhler, Gunkel) und nach LXX die beiden letzten Worte niD^> V33 (Duhm, K i t t e l , Cheyne, M a r t i , Schlögl, Beer, Köhler). — ') Vgl. außer der oben angegebenen Literatur zum Buche Jesaja: B u d d e : Das Buch Jesaja Kap. 40—66 (bei K a u t z s c h 4 I); B e r t h o l e t : Zu Jes 53 (1899); Zillessen: Jesaja 52m—53u hebräisch nach LXX, ZAW 25 (1905), S. 261ff.; S t a e r k : Die Ebed Jahwe-Lieder in Jesaja 40B. ( K i t t e l s Beiträge zur Wissenschaft vom AT 1913); Cornill: Jesaja 53ia, ZAW 36 (1916), S. 243f.; B e e r : Die Gedichte vom Knechte Jahwes in Jes 40—55, ZAW Beiheft 33 (1918), S. 39ff.; Yolz: Jesaja 53, ZAW Beiheft 34 (1920), S. 1803.; Köhler: Jes 52u—53IÜ, Kirchenblatt für die reformierte Schweiz (1920), S. 51.

257

Kapitel VIII.

T. 9. Lies (Marti, B u d d e , E h r l i c h , S t a e r k , Köhler), j n ifcty für T W ( B ö t t c h e r : Exeget.-krit. Ährenlese z. AT (1849), S. 34; K i t t e l , B u d d e , E h r l i c h , S t a e r k , Schlögl, K ö h l e r ) und "jnD3 für lTCO (Duhm, E h r l i c h , S t a e r k ) . — V. 10 und I I a . Der Text ist hier stark verderbt und nur versuchsweise wiederherzustellen. — V. 10. Lies "¡{TOT für 1ND1 (vgl. Duhm), " 6 r p nach LXX für i^nn ( Z i l l e s s e n , Gunkel), streiche in der 1. Halbzeile die unverständlichen Worte DttW D^BTTDN, lies Hl^ü"» für nb^ 1 (Köhler) und ziehe mit den meisten Neueren i?DJ?D aus V. 11 zu V. 10. — Über 1TD vgl. zum folgenden Vers. — V. I I a . Streiche UtfSJ (Köhler). — Füge nach LXX TVitQ, das im hebräischen Text als "H"Q nach V. 10 verschlagen ist, ein (Köhler). — V. I I b . Lies pvjjp pl^H ( E h r l i c h , S t a e r k ) und streiche mtr es TQJ? ( S t a e r k , Beer). — V. 12.' Lies nach LXX für pbnN (Duhm, C h e y n e , M a r t i , Z i l l e s s e n , C o r n i l l , G u n k e l ) , streiche 3 vor D"0"l and lies bb&b n ^ f ü r bfoü p^!T (Cornill). — Streiche moi? (Duhm, C h e y n e , M a r t i , B u d d e , S t a e r k , B e e r , K ö h l e r , G u n k e l ) und lies nach LXX Dirytito^) für ffjt®^ (Budde, Z i l l e s s e n , B e e r , Gunkel). 1

Wer hat seiner Predigt geglaubt, und Jahices Arm, wem hat er sich enthüllt ? 2 Er wuchs ja auf wie ein unschönes Eeis und wie eine Wurzel aus dürrem Lande.

(3 + 4) (3 + 3)

Keine Gestalt hatte er, daß wir ihn ansahen, und kein Aussehen, daß er uns gefallen hätte. (3 + 3) 52n b So geschändet, nicht mehr menschlich war sein Aussehen und seine Gestalt nicht wie die von Menschenkindern. (3 + 3) ® Verachtet war er und niedrig, ein Schmerzensmann und vertraut mit Krankheit, Sodaß wir uns vor ihm verhüllten'), ihn mißachteten und ihn für nichts rechneten. 1

(3 + 3) (3 + 3)

Aber unsre Krankheiten trug er, und unsre Schmerzen, er lud sie auf; Doch wir hielten ihn für gezeichnet, von Gott geschlagen und geplagt.

(3 + 3) (3 + 3)

') Offenbar ein apotropäisches Verhüllen vor einem Gezeichneten, mit Unglück Geschlagenen, ähnlich dem Verhüllen vor dem „bösen Blick", vgl. S e l i g mann a. a. 0. II, S. 278 ff. Über andere apotropäische Gesten vgl. oben S. 187. 218, über das Verhüllen als Trauerbrauch oben S. 21 f. Beihefte z. Z A W 36

17

258

Kapitel VIII.

* Und doch ward er geschändet um unsrer Sünden willen, mißhandelt ob unsrer Verschuldungen; (8 + 3) Strafe uns zum Heile lag auf ihm, (3 + 3) und durch seine Strieme ward uns Heilung. * Wir irrten alle wie Schafe, wandten uns ein jeder seines Wegs, Da ließ Jahwe ihn treffen unser aller Schuld. 7

Gequält ward er und demütigte sich doch und tat nicht seinen Mund auf, Wie ein Lamm, das zum Schlachten geführt wird, und wie ein Schaf vor seinen Scherern.

* Aus Kerker (?) und Gericht ward er geschleppt, und seine Sache, wer sann ihr nach? Daß er ausgetilgt ward aus dem Lande der Lebenden, ob der Sünde seines Volkes zu Tode getroffen, 'Daß ihm bei den Frevlern sein Grab gegeben ward und bei den Übeltätern sein Hügel (?), Obwohl er keinen Frevel getan und kein Betrug in seinem Munde war.

(3 + 3) (5) (3 + 3) (3 + 3) (3 + 3) (3 + 4) (3 + 3) (3 + 3)

10

Aber Jahwe gefiel es, ihn von Krankheit zu reinigen: er wird Nachkommen sehen, langes Leben haben, (4 + 4) Und Jahwes Wille ist es, ihn aus der Not zu retten: 11 er wird seine Lust an seinem Licht sehen, sich von seiner Erkenntnis sättigen. (4 + 4)

Recht wird er schaffen den Vielen, weil er auflädt ihre Schuld, 11 Darum wird er Viele zum Besitz erhalten und die Gewaltigen zur Beute nehmen. Dafür daß er hingab sein Leben und unter die Frevler sich zählen, ließ, Während er doch die Sünde Vieler trug und für ihre Missetaten eintrat.

(3 + 3) (3 -f- 3) (3 + 3) (3 + 3)

Kapitel VIII.

259

Dieses Lied wird einer Idealgemeinde in den Mund gelegt, und es gilt einer Idealgestalt 1 ). Sie trägt den Charakter einer Prophetenfigur: Prophetenauftrag und Prophetenlos hat der Jahweknecht gehabt. Seine Leiden, die eigentlichen Ehrenzeichen seines Berufes, sind als Sündenstrafe mißverstanden worden, und Menschenhände haben sich vermessen, das vermeintliche Gottesgericht an ihm grausam zu vollenden. Aber lange nach seinem Tode werden die verblendeten Augen für den Sinn seines Leidens geöffnet. So hat sich Jahwes Arm ihnen endlich doch enthüllt"). Nicht Strafleiden ist es gewesen, was sie erlebt haben, sondern stellvertretendes Leiden, sie haben den Träger ihrer eigenen Schuld verachtet und verstoßen. Aber nun hat sich eine wunderbare Wiederherstellung an ihm vollzogen: Leben und Licht, Nachkommen und Macht trägt er davon 8 )! Die rätselhafte W i e d e r b e l e b u n g des Jahweknechts hat man als eine Herübernahme aus Kulten, die den getöteten und auferstandenen Gott feierten"), erklären und das Gedicht J e s 5 3 i - n ') Diese Auffassung von dem Jahweknecht, der geheimnisvollen Figur, die sich durch die Reden der deuterojesajanischen Schrift zieht, vertrat zum erstenmal G u n k e l : Knecht Jahwes, RGG III (1912), Sp. 1541ff. Nach seiner Ansicht ist in dieser Gestalt mancherlei zusammengeflossen: „die Erlebnisse Israels in seinem Exil, das Bild großer Propheten wie Jeremias, eigene Erfahrungen des Dichters und der Glaube, daß am Ende der Dinge ein neuer Moses einen neuen Bund stiften werde" (Sp. 1543). Diese Auffassung des „Knechtes" als einer Jdealfigur ist neuerdings aufgenommen worden von M o w i n c k e l : Der Knecht Jahwäs (1921), aber mit der Verschiebung, daß er die eigenen Erfahrungen des Propheten Deuterojesaja für die Grundlage der ganzen Gestalt hält, daß also, kurz gesagt, der Jahweknecht in seinen Augen gleichbedeutend mit dem Propheten selber ist, der aber ein schon vorhandenes Ideal, das des unschuldig leidenden Frommen aus den Klagepsalmen, auf sich übertragen habe. Dieser Auffassung M o w i n c k e l s tritt jetzt auch G u n k e l bei: Ein Vorläufer Jesu (1921). Die folgenden Ausführungen sollen sich nun nicht mit der Frage nach der Person des Jahweknechts beschäftigen, da diese Frage unmöglich allein von dem Liede Jes53i—ia aus, sondern nur aus dem Zusammenhang sämtlicher Knecht-Jahwe-Lieder mit der übrigen deuterojesajanischen Schritt geprüft und entschieden werden kann. Ich lasse daher die Untersuchung des Leichenliedes Jes 53i—ia im ganzen so folgen, wie sie vor dem Erscheinen des Mowinckelschen Buches niedergeschrieben worden ist, und werde mich nur gelegentlich in Bezug auf den literargeschichtlichen Charakter dieses Liedes mit M o w i n c k e l auseinandersetzen. ') V. 1. *) V. 10ß. *) Vgl. oben Kap. IV, § 2. 17*

260

§2

Kapitel VIII.

solchen Kultliedern an die Seite stellen wollen 1 ). Wenn aber wirklich eine derartige Übertragung stattgefunden hat, dann müßten die b e s t i m m e n d e n G e d a n k e n in unserem Liede eine einschneidende Umbildung erfahren haben, denn die G e g e n s ä t z e sind schließlich g r ö ß e r als die G e m e i n s a m k e i t e n . Gemeinsam ist der göttlichen und der prophetischen Figur der Tod von allgemeiner Bedeutsamkeit; beim Gotte ist es aber die Bedeutung seines Sterbens für die Natur, beim Propheten der Wert seines Todes für die sittlich-geistige Welt, und der T o d des Propheten ist gerade das heilbringende Moment, während der Tod des Gottes das Aufhören der Vegetation und der Zeugung bedingt, die erst durch sein Wiederaufleben neu erstehen 2 ). So heißt es in einem der Tammuzlieder: Wie lange noch, daß das Sprossen festgehalten ist, wie lange noch, daß das Grünen gebunden ist; Das Geschick (?), daß es niedergehalten ist, der Hirte in Vernichtung dasitzt, Die Satzung des Landes, daß sie niedergehalten

wird')?

Diese Gegensätze machen eine Herübernahme des Auferstehungsgedankens aus den genannten Kulten unwahrscheinlich. So hat die Annahme viel mehr für sich, daß der Gedanke der W i e d e r b e l e b u n g des „Knechtes" sein V o r b i l d in den atl. K l a g e p s a l m e n hat, in denen nicht selten — allerdings als naive Übertreibung — die Rede davon ist, daß Gott den schon Toten wieder lebendig machen könne, und in denen von solcher Wundertat Jahwes große Wirkungen auf die Menschen erwartet werden 4 ). Jedenfalls wäre die Übertragung und Höherentwicklung dieser geläufigen Gedanken ein leichter zu begreifender Vorgang als die nirgends faßbare Beeinflussung durch Mysterienkulte. Aber auch wenn wir den S t i l c h a r a k t e r des Liedes betrachten, haben wir den Eindruck, daß J e s 5 3 i - 1 2 n i c h t m i t d e n K u l t l i e d e r n zu v e r g l e i c h e n ist, wie sie die Mysten am Todestage des Gottes sangen. Zu einer solchen rauschenden Klage mit *) Vgl. besonders G r e ß m a n n : Der Ursprung der israelitisch-jüdischen 2 Eschatologie (1905), S. 326H. ) Ähnlich M o w i n c k e l a.a.O. S. 60f. *) Z i m m e r n : Sumerisch-babylonische Tamüzlieder, S. 208. «) M o w i n c k e l a. a. 0. S. 55ff.

Kapitel VIII.

261

ihrer liturgischen Aufführungsart, wie wir sie etwa aus Sach 12nff. für die Feier um Hadad-Rimmon erschließen können') und wie sie wohl auch bei Tammuz- und Adonisfesten gehalten wurde, hätte sich dieses stille Gedicht mit seinem Ton inniger Ergriffenheit nicht geeignet: es hat auch mit seinen langen, gedankenschweren Versen nichts Gesangliches an sich. Es klingt mit keinem Worte an den Kultus an, dessen Riten auch nicht einmal, wie es sonst so häufig beim Übergang vom kultischen zum geistlichen Liede geschieht, als Bilder in ihm fortleben 5 ). Und doch hat unser Lied einen gewissen Mysteriencharakter: es schwingt in ihm das Hochgefühl einer neuen, geheimnisvoll überwältigenden religiösen Erfahrung nach. Dieses Mysterium vom stellvertretenden Leiden des Gerechten hat zwar seinen Ursprung im Kultischen, wenn auch nicht in den vorher erwähnten Kulten von leidenden und sterbenden Gottheiten, sondern im „Sühnopfer", aber es hat hier diesen Ursprung völlig abgestreift und ist ganz in die sittlichreligiöse Sphäre erhoben worden 3 ). Aber nicht nur von den kultischen, sondern auch von den profanen Leichenliedern unterscheidet sich unser Lied, und zwar zunächst durch sein z e i t l i c h e s V e r h ä l t n i s zum T o d e s f a l l . Es wird nicht an der Leiche gesungen wie die wirkliche Totenklage, sondern es wird nachträglich, lange nach dem Todesfall, dem Toten gewidmet 1 ). Wir haben uns zuweilen nach den *) Vgl. oben S. 58. 109. Die Stelle kann auch im übrigen nicht zur Erklärung von Jes53ifi. herangezogen werden, da man nicht feststellen kann, wer die Größe ist, die hier beklagt werden soll und eine dunkle Stelle nicht durch eine andere ebenso dunkle zu verdeutlichen ist. 2 ) Gegen Mowinckel, der den Vergleich mit dem Opferlamm V. 7 als Bild für das stellvertretende „Sühnopfer" des Knechtes auffaßt, a. a. 0. S. 47. Das Lamm steht hier vielmehr als Typ des schweigenden Duldens. was schon der Zusammenhang mit dem Vorhergehenden and mit der folgenden Zeile beweist. Es ist ein Bild, das zum Stil des Klagepsalms gehört, vgl. Jer Iii» PS44IJ.«S, siehe Baumgartner: Die Klagegedichte Jeremias, S. 30f. ') Vgl. Mowinckel a.a.O. S. 47ff. *) Dies ist wenigstens die Situation, die das Lied selbst voraussetzt. Dabei bleibt die Möglichkeit bestehen, die Mowinckel und Gunkel annehmen und die sich aus der Gleichsetzung des „Knechtes" mit Deuterojesaja ergibt, daß der Prophet selber im voraus das Leichenlied gedichtet hat, da,s ihm einst nach seiner Auferweckung und Erhöhung von denen gesungen werden soll, für die er gelitten hat. Während sonst bei den Propheten die Anstimmang des

262

Kapitel VIII.

Gründen gefragt, warum der und jener Dichter gerade die Gattung des Leichenliedes zur Einkleidung seiner Gedanken gewählt hat; hier liegt der Grund darin, daß in einem solchen Liede herkömmlich das abschließende Gesamturteil über eine Persönlichkeit zum Ausdruck kommt. So ist das Leichenlied die geeignetste Form zur endlichen R e h a b i l i t a t i o n des g r o ß e n T o t e n , dem bei seinem Tode einst die Ehrung der Totenklage gefehlt hat, da man ihm bei Frevlern sein Grab gab 1 ). Daß das Lied aber doch der Gattung des Leichenliedes angehört*), zeigen seine Motive. Es sind deutlich die M o t i v e des L e i c h e n l i e d e s , aber in einer seltsamen, ja einzigartigen Umkehrung. Daß solche Umkehrungen des Hergebrachten dem prophetischen Geiste entsprechen, haben wir in den Parodieen auf die Höllenfahrt des ägyptischen und des babylonischen Königs gesehen. Dort war es eine Umkehrung in der Stimmung: Hohn statt Trauer, infolgedessen Schmähungen statt der Lobeserhebungen und versöhnenden Wendungen. Hier aber ist die U m k e h r u n g auf eine g r u n d s t ü r z e n d e U m w a n d l u n g der gesamten W e l t a n s c h a u ung zurückzuführen. Wir haben am Anfang unserer Ausführungen gesehen, daß die Totenklage ursprünglich auf einer ganz diesseitigen Weltanschauung beruhte3): alle nur möglichen Werte waren in den Gütern dieses Lebens enthalten, daher bedeutete der Tod, die Verneinung dieses Lebens, nichts anderes als das Aufhören aller Werte. Die wesentlichsten Motive der Klage beschäftigten sich deshalb mit dem Verlust dieser Güter, mit der Art des Todes, mit seiner Plötzlichkeit und Endgültigkeit. In unserem Liede beobachten wir es zum ersten Male, daß der Tod nicht als die nackte Verneinung des Lebens gefaßt wird: er hat hier einen positiven Sinn, ja, er ist aller lebendigen Kräfte voll, er kann deshalb auch nicht endgültig sein. Von diesem Punkt aus, daß der Tod eine bewußte Tat des freien, sittlichen Willens ist, gestaltet sich die gesamte Gedankenwelt des Leichenliedes um. Die L o b e s e r h e b u n g e n des alten Leichenliedes betonten mit Vorliebe die körperliche Schönheit des Toten 4 ). Diese Motive Leichenliedes im voraus die Vorwegnahme des Todesfalls bedeutet, hieße sie hier Vorwegnahme der Rechtfertigung des Besungenen. ») V. 9. •) So auch M o w i n c k e l a. a. 0. S. 63f. ») Vgl. oben S. 56f. niffia w n 2 II rieb irfosn 1 inx liai) ron 3+2 11 Bi&bu yäpi isita 1 nsii i-iis ns-o 3+« II ins"' rnhs « 2

Die Worte «toi lp-nai sind metrisch nicht zu Hause, auch haben sie kein eigenes Objekt, sie sind als spätere Auffüllung zu streichen, KÖHLER.

^

Übersetzung: Steig auf den hohen Berg, Du Freudenbotin Zion! Erhebe deine Stimme laut, Du Freudenbotin Jerusalem! Erheb sie ohne Furcht! Sag zu den Städten Judas: „Sieh da, euer Gott! „Sieh da, der Herr Jahwe Kommt mit Macht, »Und sein Arm schaltet! „Sieh da, sein Lohn kommt mit ihm, Seine Erstattung vor ihm her, „Wie ein Hirt, der seine Herde hütet, Mit seinem Arm die Lämmer sammelt, „Die Muttertiere umsorgt". 40, i«

II -pn mita niattäi 1 ep o^wisa -ria •'n s + s II Q i - i n

o i s a

i p a i i

1 y

x

aH>eia

i>ai

a + s

II o-'jixaa rrisaji 2

3. Der Wortlaut mit Übersetzung.

14

7

II i»irn ins» iìì-X n w I nini nrrr,N •pn-vo 3+3 II esoa rnxn -¡-nai^i I n i m psia 3+3

Ihssmf-n'i'cn ^TÌI 3 II i2\ön5-D'iitxn pnüiai 1 "ina -ma d^b "¡fi »+« II 153 "n 'pK Ii li'ai p-13 D^X p 3 + 3 II n!Ji5 "vi -p« in-m 3 Die metrische Gliederung entspricht der von 40, 6—8 in drei Untergruppen von Stichen, mit der hier auch die inhaltliche Gliederung sich deckt. Zum Text: Für o">a •'bssn lies qi o^sioa Duhm; -as streiche mit G; für -pan lies, weil auch die parallelen Objekte ohne Artikel sind — der Artikel steht bei Dtjes nur zur metrischen Füllung, also nur euphonisch —, p « Köhler. Für mti lies, um «in Fragewort zu gewinnen, mt rrw Köhler. Tilge mit G ran vt-rob->i. Für bi-ji lies iia>> Bühl. » 18

Übersetzung: Wer mißt in der hohlen Hand das Meer? Und bemißt mit der Spanne den Himmel? Wer umfaßt im Dreimaß die Erde? Und wägt auf der Wage die Berge Und die Hügel auf Wagschalen? Wer bemißt den Geist Jahwes? Und wer ist der, der seinen Plan erfährt? Wen zieht er zu Rat, daß er ihm Einsicht schaffe? Und ihn im Gang des Rechts belehre? Den Weg der Einsichten ihn erfahren lasse? Sieh, die Völker sind wie der Tropfen am Eimer, Und wie das Staubkorn auf der Wagschale gelten sie. Sieh, die Inseln wiegen wie das Stäubchen, Und der Libanon reicht nicht zum Feuerbrand Und sein Wild reicht nicht zum Opfer. «a. « « 41,6

II il'-iaaäna inni Doxa I -ri» psia o^n-ba ihS-ówi niai-nai l bk pann •TO-ski II uspii anta trai l ustri tps bosn Ii pin -rosr rróòi I rrcji rór-n» urw II ose BinttjiöBpiÜrm l tps~n« «rin pirm II DW ¡*i wnaöaa inpTrvi I «Vi a*o pa^b in»

3+3 3+3 s+s 3+3 »+» 3+3

8

3. Der Wortlaut mit- Übersetzung.

II irn1' ap-p-nb ys i: ji-n^ cjoa nipn-ft s+s II bw* xi btsB •paVfc i iV-uäpai sin ttä-in 3+3 Zum Text: Für DBK» lies DBH= DELITZSCH. Tilge 40, 7 - M vor rinn als Prosaisierung K Ö H L E E . Für ppis 19 b lies sps* K I T T E L . Tilge rrann •po«n mit Yulgata. Daß 41, 6. 7 zwischen 40, 19 a und 19 b gehören, ist fast allgemein anerkannt.

4», 191). 20

Übersetzung: Da alle Völker wie Nichts vor ihm sind, Als nichtig und wesenlos ihm gelten, Wem wollt ihr Gott vergleichen Und was als sein Abbild aufstellen? Der Former gießt ein Bild aus, Daß der Feinschmied es mit Gold beziehe, Einer hilft dabei dem Andern Und sagt zum Gefährten: „Munter!" Der Former ermuntert den Feinschmied, Der mit dem Hammer glättet, den mit dem Klöppel. Zur Lötung meint er: „Sie ist gut!" Festigt's mit Nägeln, daß es nicht wackelt, Schmiedet sich silberne Ketten, Wählt sich Holz, das nicht fault, Sucht sich einen tüchtigen Former, Ein Bild zu erstellen, das nicht wackelt. — Das Sachliche ist nicht ganz abgeklärt, deshalb bleibt in der Übersetzung manches fraglich, und die Unklarheit wirkt vielleicht auch auf die erreichbare Textgestaltung. Man hat bisher kein Auge dafür haben wollen, daß im 1. Stichus das Subjekt vor dem Verbum steht, ohne einen besonderen Nachdruck beanspruchen zu können. Es ist also ein Nebensatz, und dieser erst ergibt eine sachgemäße und scharf abgegrenzte Einleitung. •to, 21 22 23 24

II tfcib irina isn xiin I •»bot xii'n -wm trVn 4 + 4 II •päh riWB crwan xiÜn * II craaro n-öri l -pin rn-bs nm-t 3+2 II rouib bnib sni-ici 1 oncw p4a neun s+a II frc» inns •p!« "deu: 1 -pitb own -(nun 3+3 II ESTS

TTNITJ

BA-CI«1 '®"LT

TI» VTA TA-S|K

II BKian taps rnaei I latan ona C|ttj3 w

4+4

3+a

9

3. Der W o r t l a u t m i t Ü b e r s e t z u n g .

Ii lcrtp -iisrns«< 3 + 3 Zum Text: öbsBwa 14 ist unverständlich, G hat tpevyovvag

rravzas, 42, 22 hat G ein dem itavxag

gleichbedeutendes c/ua f ü r

OTAS, lies so hier und dann v i a KÖHLEB. Übersetzung: So sagt Jahwe, Euer Loskaufer, der Heilige Israels: „Um euretwillen schick ich nach Babel. „Ich stoße die Kerkerriegel herunter, Herunter die Chaldäer auf ihren Schiffen voll Jammer. „Euer Heiliger bin ich, Jahwe, Der Israel geschaffen, euer König".

3. Der Wortlaut mit Übersetzung.

21



II mm last ns 2 11 navo dto oiaai 1 ^-.n n^'a "¡rran 3+3 i' II w TOI bin I diüi as-i xisian 3+3 II iaa nnires issi I naipi-ba •nasji 3+3 II wanti-bK niijanpi I mim-. ram-bi« 3+3 1» II msmi näxn nrs I nithn nias i'ssn 3 +s II ni-ina •¡ioiura I •sroa D^ix ei« 3 + 3 s» 11 njyi nisai ö^sr I nnian nvi wasn 3+3 11 -linaia niini 1wa laiaa innj 13 3+3 21 II iÜ T-a- n-ns I: i-nna *n» nipainb 3 + 3 II TTBBI inbnr 2 Zum Text: Lies 19 für msir xibn mit G ms-ini. Übersetzung: So sagt Jahwe, Der im Meer einen Weg macht, Und einen Pfad in starken Wassern, Der Wagen und Roß ins Feld ruft, Heeresmacht und Gewaltige zumal — Da liegen sie, stehn nicht mehr auf, Verlöschen, verglimmen wie der Docht —: „Denkt nicht mehr an das Frühere! Habt des Vormaligen nicht mehr Acht! „Siehe, ich mache Neues, Nun sproßt's, daß ihr's merkt. „Ja, ich lege einen Weg in die Wüste, In die Einöde Ströme, „Das Wild des Feldes soll mir Ehre geben, Die Schakale und die jungen Strauße. „Denn in die Wüste lege ich Wasser, Ströme in die Einöde, „Um mein erwähltes Volk zu tränken, Das Volk, das ich für mich gebildet. „Meinen Ruhm soll man erzählen!" 43,22 23 24 25

II bvHtm ia r®ai 1 apsi niop im ab-, 3+3 II i:n-iaa ta pax Ts 3 + 8 II ^pàsxs-te vc^a-1 -,s---5S Tii-i psa

4 5

s+3

II Dia-ia^s ca-sa I -min o^a-paa inaxi s+3 llapsi-biia N-p^ nn 1 -,asr m s+s Il nt ÌW ist-to"! aioai I ¡-¡irrt vr> afiai nn 3+3

3. Der Wortlaut mit Übersetzung.

23

Zum Text: Lies mit G in 4 tn» zwischen yas und -nsn. Punktiere 5 SR,^ LOWTH und MS? OOET. Füge hinter ¡TOI ein RIT e i n

KÖHLER.

Übersetzung: Und nun. Höre, Jakob, mein Sklave, Und Israe], den ich erwähle! So sagt Jahwe, der dich macht, Vom Mutterleib an dich bildet, dir hilft: „Fürchte dich nicht, Jakob, mein Sklave, Und Jeschurun, den ich erwähle! „Denn ich gieße Wasser auf das Durstige Und Rieselfluten auf das Trockne. „Ich gieße meinen Geist auf deine Nachkommen Und meinen Segen auf deine Sprößlinge. „Sie sprossen wie zwischen Wassern das Gras, Wie die Weidenbäume an den Wasserbächen. „Der sagt: „Ich gehöre Jahwe!" Und der nennt sich mit Jakobs Namen. „Der schreibt auf seine Hand: „Jahwe gehörig!" Und der trägt den Zunamen: „Israel". II nixna mm lÜioi I hbiiiai Tjha laa-m

«

s+»

II BVlbx p!* •0352121 i •pm 156« "JITOStl "¿K 3 + 3 H •£> NA^M RMM I SNPII -IBSI IJIAA-IAI

'
Nb ^ i s I ^¿T ib'a-i>3 2+2 8 isuain tftK I wpri iwft-bsn I n-irn iiaa 1 nb'na nst

n nim-st« 1 inxa tipptsi Zum T e x t : Lies 14 ipmn für ipm GBÄTZ. •^NFC.

2+ 2

L i e s 16 NSN QEBE.

2

+a

«+2

2+2

Lies ins«? und

S t r e i c h e 17 ACMNI DUHM.

Übersetzung: „Der Bedrückung bleibst du fern, Du fürchtest dich nicht, „Und fern dem Schrecken, Er kommt nicht an dich.

3. Der Wortlaut mit Übersetzung.

54

„Greift man gleich an — Von mir ist's ja nicht. „Wer dich auch angreift, Stürzt an dir nieder. „Siehe, ich selber Schaffe den Schmied — „Er bläst in die Glut der Kohle, Er fördert die Waffe seines Werks — „Siehe, ich selber schaffe Den Verderber zum Verheeren. „Jegliche Waffe, gegen dich Gebildet, hat kein Glück. „Jegliche Zunge, gegen dich Gerichtet, überführst du. „Das ist das Erbteil Der Sklaven Jahwes „Und ihr Glück von mir" — Ist der Ausspruch Jahwes. Der 6. Stichus ist verdächtig, er fällt aus dem Zusammenhang. 55, i

II -ab ppa ib-p» -ratti I niàb

xna-ba »-M

II ab'm -pi' una xihai I cpi-xiba li'axi raia s + « 2

II nsaiöb xiba bdsw I onb'-Niba Fpi-ibpuin nib s + 3 II cóiÉB! -¡lsia jjsnni I ai-j-ibasti

s

is'atò a + »

II EiausEJ inni isati siati i labi bmtk ian II Biaxin nri fion Irisi»n^a asb nnisxi II B^ixb nixai Ttb i vnns B'rób -w •¡n II laiii ^pb's« -ps-n-abi I «•ipri sin xb 71

* s

t+^ *+* 3 4- » 3+3

II Tpxs is btéiayitiripbiI -pnbx ¡v,m ^sab s + s Zum Text: Tilge 1 iin G, und i-ati isbi G. Versetze 2 siati zwischen isati ibx. Lies 4 hinter i s Biasb für B^aixb Ooet. Lies 5 »bi für xb iui Köhleb. Übersetzung: „Ihr Durstigen alle, geht zum Wasser!

Und wer kein Geld hat, geht! „Kauft und eßt ohne Geld! Und ohne Kaufpreis Wein und Milch! „Warum zahlt ihr Geld ohne Brot? Und eure Arbeit ohne Sättigung? „Hört auf mich und eßt Gutes! Eure Seele labe sich an Fett! „Neigt euer Ohr und kommt zu mir! Höret doch und eure Seele lebe! „Einen ewigen Bund Schenke ich euch, Die beständigen Gnaden Davids. „Sieh, ich mach ihn den Völkern zum Zeugen, Zum Führer und Weiser der Nationen.

3. Der Wortlaut mit Übersetzung.

55

„Sieh, du rufst das Volk, das du nicht kennst, Und die dich nicht kennen, eilen zu dir, „Wegen Jahwes, deines Gottes, Des Heiligen Israels, der dich verherrlicht." II aiip "irnina inxip I insana nírn nun

55, c 7

II TrnaianB yix

Iwi

3+3

aty

II niísob ná-p-ia írV&írhsr I írrárrm ¡-ñni-bx a ¿ i

3+s 3+3

Übersetzung: Suchet Jahwe, er läßt sich finden, Ruft ihn an, er ist nahe! Der Frevler lasse seinen W e g Und der Schlechte seine Gedanken. Er kehre zu Jahwe, der sich sein erbarmt, Zu unserm Gott, weil er viel vergibt. II l i n oá^aii xb'i I nsvnattirra níiaitína «V is

s

3+3

II nirn-öi« 2 »

II náwra w i "fas "¡a I •pxa arím ¡rma *>a 3 + :s II Bá*rroit5náa waujnai 3

10

II o^áujn—j« sbiom I orón -ni i m a ia II •pxi-rnx ním dx *a I aiiír

3+3

naró

I! jrmb SÍT inn l pirnasm ¡rrfcím

3+3 3+3

II biixb nnbS 2 11

II i¿a KSI I "ñai n w p H •man im-nx

n;¿s-BX

2+2

1 a p i ^'K aufr xb

3+3

II ninbia -reä« rrÜsni 3 vi

II -pSain trirchi I uren innato t

2+2

II rrai aáijsb inasn I nsaarii QiiVtn 34-3 II qa-isnai niian iss-bai 13

II ttííia r í j i I •psssn nnti

2+2

II ö'in nb'si I iB-ion nnrn

2+3

II níai ttb teis níxb I nirb mVri nvn Zum T e x t : Lies 9 masaba KLOSTERMANN. KÖHLEB.

s

3+3

Streiche 11c nute

L i e s 13 nnm hinter m í a KETHIB.

Übersetzung: „Denn eure Gedanken sind nicht meine Gedanken Und meine W e g e nicht eure Wege,"

56

4. Grammatikalisches.

Ist Jahwes Aussprach. „Denn wie der Himmel höher ist als die Erde, Sind meine Wege höher als eure Wege, Und meine Gedanken höher als eure Gedanken. „Denn wie der Regen niedersteigt Und der Schnee vom Himmel her „Und kehrt nicht mehr zurück, Sondern tränkt die Erde, „Macht sie voll Leben und Sprossen, Und gibt dem Sämann Saat „Und Brot dem Esser, „So ist mein Wort, Das aus meinem Munde kommt, „ E s kehrt nicht leer zu mir zurück. „ E s vollbringt, was mir gefällt, Führt aus, wozu ich es gesendet. „Ihr sollt mit Freuden ziehen, Sollt heil geleitet werden, „Daß die Berge und die Hügel Vor euch jubelnd erbrausen, „Daß alle Bäume des Feldes In die Hände klatschen. „Statt der Dornenhecke Wächst die Zypresse, „Und statt der Nessel Wächst die Myrte." E s wird für Jahwe geschehen zum Preis, Zum ewigen Zeichen, unvertilgbar.

4. Grammatikalisches. § 1. Die Stilkritik will klarlegen, was das ist, wodurch die Ausdrucksweise eines Schriftstellers ihr Eigentümliches, sie von anderen Ausdrucksweisen Besonderndes bekommt. Sie f r a g t deshalb, w i e d e r S c h r i f t s t e l l e r d a s z u m A u s d r u c k g e b r a c h t h a t , w a s e r s a g B n w o l l t e ; denn jeder Schriftsteller hat, um sich auszudrücken, die verschiedensten Möglichkeiten, jeder wählt aber, sei es aus Absicht, Geschmack und Urteil heraus, sei es, weil seine Begabung begrenzt ist, nur eine bestimmte Reihe der Möglichkeiten des Ausdruckes. Dies gilt schon für das Gebiet des Grammatikalischen, wird am schnellsten erkannt auf dem Gebiete der Wortwahl, die aber deshalb doch nur ein Stilmittel neben den anderen bleibt, und geschieht auch auf dem Gebiete der höheren Stilformen. § 2. Wir beginnen mit dem Grammatikalischen, wo es sich natürlich nur um die Aufzählung der bemerkenswerten Erscheinungen, nicht aber um eine grammatikalische Behandlung des Dtjes-nischen Stiles nach allen möglichen Seiten hin handelt.

4. Grammatikalisches.

57

§ 3. 1. Dtjes setzt den b e s t i m m t e n A r t i k e l nur aus Gründen des Wohlklanges, also nur ausnahmsweise. Fälle, wo der Artikel gesetzt ist: 40, 4 apsn. o^oaim V. 6 -raan-isa. rvten v. 17 eron v. 19 itsen V. 21 p x n v. 22 ssri-t, rrawi v. 23 ^nun v. 26 ^man v. 28 •pan. Zur Beleuchtung die Fälle, wo in c. 40 der Artikel weggelassen ist: 40, 5 -torrta, nicht schlüssig, weil kollektiv — alle, die aus Fleisch sind v. 7 -ran das Gras 2 X , p s die Blume 2 X v. 11 die Lämmer, nito die Muttertiere v. 12 cn das Meer, d^sto den Himmel, p a die Erde, ta-nn die Berge, nwas die Hügel Y . 14 CFFLÜA das Recht, rvwnn die Einsichten v. 15 DTJ die Völker, die Inseln v. 19 sjin der Former, q-ns der Feinschmied v. 22 v a a der Himmel v. 23 tpam die Herren, p x die Erde v. 25 lörip der Heilige v. 30 n-nsa die Jünglinge, tmina die jungen Männer. Ein den metrischen Einfluß gut zeigendes Beispiel ist 42, 16 D-ns-in. Die Beispiele genügen, denn das Verhältnis von Setzung und Nichtsetzung des Artikels würde sich durch Häufung weiterer Belege nicht ändern. Besonders deutlich ist v. 22: p « am-bs nisii-i wäre klanglich unschön. Man kann wohl annehmen, daß Spätere einmal den Artikel hinzufügen (was als P r o s a i s i e r u n g zu bezeichnen ist, s. z. B. 40,12), denn das entspricht ihrer Neigung, aber man wird es weniger wagen, ihn einmal als weggefallen wieder einzusetzen. In 44, 26—28 steht wohl imn, um Verwechslung mit der Imperfektform zu vermeiden. § 4. 2. Dtjes setzt d i e n o t a o b j e c t i n x nur aus Gründen des Wohlklangs, also nur ausnahmsweise: 40, 13, um eine tonlose Silbe zwischen zwei Tonsilben zu haben 40,14, um nicht mit der Tonsilbe zu beginnen 41, 6, um die tonlosen Silben zu mehren 41, 22 nos-ns 51, 17 r»sp-n&< aus Analogie mit oia-m, das nach 40, 14 zu beurteilen. Wie mit 40, 13 ist es mit 48, 14, wie mit 4 0 , 1 4 mit 51, 17. 22, wie mit 41, 6 mit 41, 7 ; 49, 21. 26; 50, 4. 49, 25 steht mi zweimal in Entsprechung. 4 9 , 2 6 fragt man sich, ob nicht einfach ta-ä» zu lesen sei, 53, 6 steht rix wohl des Nachdrucks wegen und ist deshalb auch Tonsilbe, 53, 8 steht es der Deutlichkeit halber, 49, 6 haben wir es als Prosaisierung gestrichen. Die Fälle, wo determiniertes Objekt gemeint ist, ohne daß die nota objecti gesetzt wurde, begegnen allerwärts und bedürfen keiner Aufzählung.

58

4. Grammatikalisches.

§ 5. 3. D i e R e l a t i v p a r t i k e l i m steht in der Regel nicht. Beispiele: 40, 20 Holz, das nicht fault; 46, 10 meinen Plan, der eintrifft; 41, 25 den, der meinen Namen anruft. Die Belege für diese Erscheinung sind: 40, 13. 20. 20; 41, 2. 2 (Spreu, die zerstiebt). 25; 42, 1. 1. 16. 16; 44, 2; 45, 20; 46, 10; 47, 11. 13. 15; 48, 17 (der dein Lehrer ist); 51, 1. 1. 2. 7. 12. 12. 22; 53, 7; 54, 1. 1. 12. 17; 55, 5. 5. Besonders 40, 11, wo alles Relativsatz zu ¡uns ist. Aber es gibt Fälle, wo i m gesetzt ist; nämlich der metrischen Fülle wegen: 41, 8; 43, 10; 46, 10; 49, 23; 50, l c . 10; 51, 17. 23; 55,11 c; und der Deutlichkeit wegen einfaches i m : 52,15; -tósi : 44, 7; 52, 15; 55, 1; erst recht nm-nx : 41, 22; 55, 11 b (daß auch in diesen beiden Fällen das Bedürfnis der metrischen Fülle hineinspielt, zeigt aber der oben angeführte Beleg 41,25); i m i 49, 9. Daß 43, 4 i m o = denn, 47, 13 -tono = woher und 53, 12 i m nnn = dafür daß einer gesonderten Betrachtung unterstehen, ist klar. Man wird nach dem Gesagten jedes i m auf den Grund ansehen, aus dem es steht, und da ergibt sich, daß es 41, 9; 4 5 , 1 ; 47, 15; 49, 3. 7 (Jahwe, der zuverlässig ist); 50, 1; 55, 11c als Prosaisierung zu streichen ist. Diese Form des „nackten Relativsatzes" erklärt zum Teil, weshalb Dtjes das attributive Adjektiv so spärlich verwendet, s. auch § 35. ^sa nini 49, 7 ist nicht der grammatikalischen Fügung, wohl aber dem Sinn nach = der zuverlässige Jahwe. § 6. Eine besondere Beachtung erfordert d e r S a t z . Wir gehen dabei vom A u s s a g e s a t z aus, d.h. von demjenigen, der einfach feststellt, und zwar vom e i n f a c h e n A u s s a g e s a t z , d. h. von demjenigen feststellenden Satz, der nicht durch ein begründendes ^s = denn oder etwas Ähnliches eingeleitet und in seiner Anlage bedingt ist. Dabei halten wir uns zunächst an den K u r z s a t z , d. h. an die einfachste, auf sich selbst stehende vollständige Satzeinheit, und behandeln das S a t z g e f ü g e , d.h. die für Dtjes eigentlich typische Aneinanderfügung und Schachtelung mehrerer Sätze zu einer Einheit, später (s. § 29). § 7. Um was es sich handelt, zeigt der Vergleich mit dem Deutschen. Das Deutsche hat — innerhalb gewisser, hier für uns belangloser Grenzen — f r e i e S t e l l u n g . Der Satz 43, 11 „ihr seid meine Zeugen" kann im Deutschen zwei Bedeutungen

i . Grammatikalisches.

59

haben; die eine ist: „ihr seid — meine Zeugen und nicht meine Richter, Ankläger, Verteidiger oder was sonst"; die andre, ebensogut mögliche Bedeutung ist: „meine Zeugen — seid ihr und nicht diese, jene, andre." Die nämlichen zwei Bedeutungen kann auch der Satz in der Form: „meine Zeugen seid ihr" haben. In geschriebenem Deutsch entscheidet nur der Zusammenhang und der aus ihm fließende Sinn über die gemeinte Bedeutung, d. h. darüber, was in diesem Satze Subjekt (im folgenden = S) und was Prädikat (im folgenden = P ) ist. § 8. Diese freie Stellung kennt das Hebräische nicht, sondern das Hebräische hat im einfachen Aussagesatz, und nur von ihm ist die Eede, die Wortfolge: erst P, dann S; das Hebräische hat g e b u n d e n e S t e l l u n g . Dies ist für das Verständnis, wie auch durch Beispiele außerhalb Dtjes leicht zu zeigen wäre, von der größten Bedeutung. Daher heißt 43, 11 tjnx nur: „meine Zeugen seid ihr und nicht andre", oder n w o s t 133X 43, 11 nur: „Jahwe bin ich, ich und kein andrer" (also heißt es nicht auch: „Ich, ich bin Jahwe und nicht Marduk"). In diesen Beispielen, wo P hebräisch nur aus [der weggelassenen Kopula und] einem Prädikativ besteht, ist das bis jetzt nicht genügend beachtet worden, wohl aber ist deutlich, daß man deutsch „Jahwe sagt so" und auch „So sagt Jahwe" sagen kann, dagegen hebräisch nur w ias< na und nicht auch mm ro, oder wie man sonst umstellen mag. Geht man mit dieser elementaren Einsicht in die gebundene Stellung des Aussagesatzes an Dtjes heran, so wird man der Fülle inne, mit der sie sich belegen läßt. Nur einige Beispiele: ihn bcsn 40, 19 mma lan rrroa 40, 27 mm tbv vAs 40, 28 r^s-nx ia-n pirm 41, 7 stm am 41, 7 nm na» 41, 9 mfcci -pxa rtn -pii "róx 41, 11 mm -¡«ir 41, 21 inrriaa DTOO m 41,25 inn- rv*=i arreos 41, 29 usw. usw. § 9. Die Fülle dieser Fälle steigert sich noch ganz gewaltig, wenn man d e n i m p l i z i e r t e n S a t z hinzunimmt, d. h. denjenigen Satz, dessen Subjekt nicht in einem besonderen Worte zum Ausdruck kommt, sondern im Verbum mitenthalten, impliziert ist. Man wird die Behauptung nicht bestreiten wollen, daß, wenn das Subjekt in diesen Fällen expliziert wäre, es nach und nicht vor dem Prädikat stünde. Also 42, 1 vrmnru steht für, wenn man das Subjekt expliziert -nbs irrn inna.

60

4. Grammatikalisches.

§ 10. Was bedeutet dann aber vi» vrn nns -sx? Mit andern Worten: was bedeutet die Folge erst S, dann P ? Auch diese Fälle sind bei Dtjes häufig, und wer ihre Eigenart übersieht, geht an einer stilistischen Feinheit ersten Ranges achtlos vorüber. Wir nennen diese Folge den i n v e r t i e r t e n S a t z . a) 43, 27 son fnom heißt nicht „dein erster Vater hat gesündigt" (DUHM U. a.), sondern „Schon dein erster Vater hat gesündigt". 45, 2 tpx -psi heißt nicht „Ich gehe vor dir her" (KLOSTEEMANN), sondern „Ich selber gehe vor dir her" (von DUHM „Ich, ich . . und BUDDE, der „Ich" gesperrt druckt, erkannt). 46, 2 robn ia«s BIBBJI heißt nicht einfach „Und sie selbst sind in die Gefangenschaft gewandert" (DUHM), sondern „so daß sie selber . . ." § 11. b) W e n n S v o r P s t e h t , ist durch diese Folge immer etwas für das hebräische Sprachempfinden Besonderes, Betontes, Nuanciertes gesagt, an dem man nicht achtlos vorbeigehen darf. Und zwar wird diese besondere Folge erst S, dann P angewendet, 1. um ein Subjekt zu betonen, 2. um eine Folge, einen Begleitumstand, eine Einräumung, kurz einen Nebensatz (dazu wird es bei getreuer Wiedergabe des Sinnes im Deutschen) zu kennzeichnen, 3. um zwei Subjekte zueinander in Gegensatz » zu bringen. Der 3. Fall liegt z. B. 44, 5 ansi rm • • • « v eine ruft . . ., der andere schreibt . . ." vor. Dieses Stellungsgesetz ist für das Hebräische von der größten Wichtigkeit. Es schafft Ersatz für die verhältnismäßige Armut des Hebräischen an Partikeln und Konjunktionen, oder vielmehr sprachgeschichtlich richtiger ausgedrückt: weil das Hebräische durch einfachen Stellungswechsel die verschiedensten Modulationen der logischen Beziehung zwar nicht ausdrücken, aber zulänglich andeuten kann, darum bedarf es der Partikeln und Konjunktionen weniger. § 12. Diese Beobachtung ist so wichtig, daß ich hier sämtliche in Dtjes begegnenden Fälle buche, wo es angebracht erscheint, eine Erläuterung beifügend. D a s S u b j e k t i s t , um es zu b e t o n e n , dem Prädikat vorangestellt. 40, 8 aber das Wort unsres Gottes . . . 40, 22—24 Er, der hoch über . . . DUHM 40, 26 Er, der ihr Heer . . . 40, 27 und mein Recht . . . (hier ist.irfora im ersten, icauna nur im zweiten Range betont) 40, 30 und selbst die jungen Männer . . . 40, 31

4. Grammatikalisches.

61

Dagegen die, die auf Jahwe . . . 41, 4 Ich, Jahwe, bin . . . 41, 5 Selbst die Enden der Erde . . . 41, 8 Du aber bist . . . = 4 1 , 1 6 4 1 , 1 3 Eben ich helfe dir = 4 1 , 1 4 4 2 , 6 Eben ich, Jahwe, rufe . . . = 42, 8 42, 9 Ich [nicht die andren Götter] künde . . . 42, 21 Aber Jahwe ist . . . 42, 22 Aber es ist ein Volk . . . 43, 2 und auch die Flamme soll . . . 43, 4 und ich selber habe . . . 43, 12 Nur ich künde . . . 43, 27 Schon dein erster Vater . . ., und gerade deine Wortführer . . . 44, 6 Eben ich bin der Erste und eben ich der Letzte . . . 45, 2 Ich selber gehe . . . 45, 12 Ich bin es, der die Erde = 45, 13 45, 12 Nur meine Hände heben . . . 45, 13 Eben er baut . . . 45, 14 Ägyptens Bauer, . . . Sabäer, sie ziehen . . . 45, 17 Aber Israel findet . . . 45, 18 Nur er ist Gott 45,18 Nur er stellt sie hin 46, 4 trage ich selber, ich selber tue es und ich selber hebe auf und ich selber trage . . . 48, 12 nur ich bin . . ., ja, nur ich bin . . . 48, 13 Ja, nur meine Hand . . ., nur meine R e c h t e . . . 48, 14 Der, der mein Liebling, . . . 48, 15 Ich, ich nur . . . 49, 1 Jahwe selber hat . . . 49, 4 Ich aber dachte . . . 49, 5 und mein Gott selber ist . . . 49, 7 Selbst Könige sehens . . ., selbst Fürsten . . . 49, 14 mein eigner Herr . . . 49, 21 ich aber war . . . 49, 21 diese aber, wo . . ., s. § 15. 49, 25 ich selber befehde . . . 49, 25 ich selber rette . . . 50, 4 Mein Herr Jahwe selber gab . . . = 50, 5. 7 50, 5 Ich aber . . . 51, 6 Aber meine Rettung . . ., und mein Heil . . . = 51, 8 51,12 Ich, ich selber bin . . . 51, 15 Ich aber, dein . . . 51, 19 Gerade diese z w e i . . . 52, 8 Deine Wächter . . . (der Ton ist hier im Deutschen nicht durch eine besondere Partikel wiederzugeben). 53, 5 Gerade er war . . . 53, 7 Gerade er war erniedrigt. 5 3 , 1 0 Aber Jahwe wollte . . . 53, 11 Gerade er hat . . . 53,12 Gerade er trug . . . 54, 3 Gerade deine Nachkommen . . . 53, 6 Aber Jahwe 54, 10 aber meine Gnade . . ., und mein Bund . . . 54, 16 Ich selber schaffe . . . § 13. Das Subjekt ist dem Prädikat vorangestellt, um eine logische Beziehung anzudeuten, zu deren Wiedergabe im Deutschen ein N e b e n s a t z erfordert wird. 40. 17 Da alle Völker . . . 40, 19 Daß der Feinschmied . . . 40, 24 so daß die Windsbraut... 40, 26 so daß keiner . . . zurückbleibt 41, 3 ohne daß der Pfad an seine Füße kommt 4 1 , 1 6 = 40, 24 43, 7 weil jeder von ihnen . . . = Denn jeder von

62

4. Grammatikalisches.

ihnen . . . 43, 9 Da alle Völker zu Häuf . . . 43, 14 so daß die Chaldäer . . . 45, 1 daß auch die Tore . . . 45, 8 daß Gerechtigkeit sproße zumal 46, 2 während sie selber . . . 46, 13 so daß meine Rettung . . . 47, 14 so daß Feuer . . . 49, 11 so daß meine Straßen . . . 4 9 , 1 6 so daß deine Mauern . . . 49,17 während deine Verderber . . . 50, 9 so daß die Schabe . . . 51, 3 so daß Freude und . . . 51, 20 so daß deine Söhne . . . 53, 5 weil die Züchtigung . . . 55, 12 so daß die Berge . . . § 14. Z w e i (oder mehr) S u b j e k t e sind vorangestellt, weil sie z u e i n a n d e r i m G e g e n s a t z stehen (Griechisch o ¿«v . . . , ö de . . .). 40, 4 Jedes Tal soll . . . und jeder Berg und Hügel s o l l . . . 40, 6 Alles Fleisch ist . . . und alle seine Anmut i s t . . . 41, 17 Die Elenden suchen . . a b e r ich, J a h w e , . . . 44, 5 Der s a g t . . . und der r u f t . . . und der s c h r e i b t . . . 49, 15 Sogar diese mögen vergessen, ich aber . . . 53, 4 Gerade er hatte . . . , wir aber . . . 53, 6 Wir (unsererseits) alle . . ., Jahwe aber . . . 54, 17 Jegliche Waffe . . ., jegliche Zunge . . . § 15. Fälle, die in §§ 12—14 nicht untergebracht werden können und eine besondere Besprechung erheischen. 41, 2 inx-pi p-ra S im Relativsatz als betont vorangestellt. 4 1 , 6 uiiK ist nicht S, sondern Apposition zum S: Einer den Andern, helfen sie [sich]. 44, 28 isvn gehört nicht in diesen Zusammenhang, denn es ist nicht S, sondern steht elliptisch .für isviVi. Zu 47, 15 «r« s. das zu 41, 6 Bemerkte. 49, 17 cta w i •rnapj ist konstruiert, wie ein Satz mit ¡-un (s. § 24), mit dem ^to inhaltlich gleich ist. 49, 21 an rm1« ¡-fa* rechnet nur bedingt unter § 12, wo es gebucht ist. Ist es nötig zu sagen, daß die in §§ 12—15 der Genauigkeit halber gewählten Übersetzungen bei einer Wiedergabe in flüssigem Deutsch nicht alle beibehalten werden können? § 16. Wir bleiben im Gebiet der Kurzsätze, wenn wir eine Übersicht über diejenigen Sätze geben, welche mit einer den Satz bestimmenden Partikel beginnen. a) Zunächst die F r a g e s ä t z e . Ihre Typen sind folgende. 1. e i n g e l e i t e t m i t i». Es macht für den Satz nichts aus, ob P ein Perfekt ist: 40, 13 mm m-rm pn -b w mw weil Jahwe mir dauernd hilft, darum weiß ich ein für alle Male nichts von Schmach 53, 4 tabao er trägt sie (das Faktum wird festgestellt):: 53, 11 "sabi er trägt [sie] (das festgestellte Faktum wird beschreibend erwähnt). § 42. Verzeichnen wir noch Fälle, in denen aus dem Zusammenhange heraus d i e Z e i t s p h ä r e so w i c h t i g wird, daß sie in der deutschen Wiedergabe nach Ausdruck verlangt. 40, 5 rrt-n und . . . wird werden 41, 15 ann du wirst dreschen 43, 3. 4 Tinj fortgeführt durch schilderndes, ausführendes -rx- ich werde geben und werde geben 43, 22 n m nxip du hast gerufen, hast dich gemüht 43, 10 is-nni wasim v n ihr w e r d e t . . . 46, 11 nsins« ich habe [es] gebildet, ja, ich werde es tun 51, 6 der Himmel ist verflattert mbos und die Erde zerfällt nbai 48, 21 sie werden dürsten. § 43. Die Fälle, wo I m p e r f e k t u m k o n s e k u t i v u m steht, a) rein erzählend: 49, 14 p s Zion sagte . . ., am Anfang eines Abschnittes 53, 2 Er stieg wie ein Schoß auf 48, 5 Ich tat es längst kund 51, 13 Du vergaßest . . du bebtest . . . b) erzählend, aber als Fortführung einer Reihe feststellender Perfekta, also im Übergang von der Feststellung zur Erzählung : 41, 9 -iiaxi -pninp • • -pnpmn Ich nehme dich . . ., ich rufe dich . . ., ich sagte . . . 41, 25 Ich weckte . . ., er kam 42, 6 Ich rief . . ., ich nahm . . ., ich formte dich und machte dich (dreimal, aber als Konjektur) 42, 25 er goß 43, 28 ich machte (Konjektur) 45, 4 ich rief 47, 6 ich gab sie 47, 7 Du sagtest . . . 47, 10 Du trautest und sagtest 48, 3 Ich ließ es hören (Konjektur), es kam 49, 23 er machte, er machte mich, er sagte 49, 6 er sagte . . ., Fortführung der Formel 49, 5 So s a g t . . . 51, 2 ich segnete ihn, ich machte ihn zahlreich (beides Konjektur) 53, 3 er machte 51, 16 ich legte . . . (Übergang von den ständigen Taten Jahwes in der Natur, die im Partizip gegeben sind, zur geschichtlichen, es folgt ein- feststellendes Perfektum) 53, 9 Man gab ihm . . . c) erzählend, als Fortführung von schilderndem Imperfektum oder Partizip: 41, 6. 7 inptrpi • • ptm • • • -mir 40, 22 . . . ami cnnan • naisn, die Partizipienfolge wird dann wieder auf-

76

4. Grammatikalisches.

genommen, also reines Bedürfnis nach Variation. 41, 2 pix bs^ inx-pi, im Relativsatz 49, 7 ^inaT ajnp -pi« mrp -pai um Jahwes willen, der zuverlässig ist, des Heiligen Israels, der dich erwählte, also wiederum im Relativsatz und parallel zu einem Partizip. d) Die in b) und c) belegten Übergänge von Feststellung (Perfektum) und Schilderung (Imperfektum) in den Bericht beruhen stilistisch auf der in vielen Merkmalen sich bekundenden Neigung Dtjes's zur Variation, s. darüber § 66. Liegt es an dieser Neigung, daß Dtjes das Imperfektum konsekutivum auch in dem nachstehenden Falle verwendet? 48, 21 s p m . . . Wn.. was . . . wm sie werden nicht dürsten, er wird ihnen Wasser herauslocken, er spaltet den Felsen, und die Wasser rinnen. Dann wäre hier das Imperfektum konsekutivum futurisch verwendet. Es sind noch zwei andre Möglichkeiten vorhanden. Die eine ist die, daß man übersetzt: „er spaltete den Felsen, und die Wasser rannen". Dann wäre hier musivisch ein Zitat aus der Exoduslegende eingearbeitet; das ist an sich denkbar und gibt noch keinen Grund dafür ab, 48,21b für unecht zu erklären. Die andre Möglichkeit ist die, daß hier in einfache Imperfekta sßrri, ¡ m zu ändern ist, welche in Einzelheiten das Herauslocken des Wassers schildern. Aber unstreitig verwendet Dtjes das Imperfektum konsekutivum auch da, wo es nicht historisch erzählt. 40,14 Mit wem berät er sich yya, daß er ihm Einsicht gäbe und ihn belehre . . ., die Fortführung verwendet für diesen Modalis (s. darüber § 44) die Auflösung mit einfachem Imperfektum: t w n • • Tpni. Auch 51,12 stth nnx na Wer bist du, daß du dich fürchtest? zeigt modalen Gebrauch des Imperfektum konsekutivums. Ebenso 48,18 vm • • • nacpn tri» o merktest du auf, dann wäre . . .! Ob öl, 23 mmtim berichtet: du machtest, oder ob es die Imperative, die vorangehen, weiterfuhrt: und mache, darüber kann man streiten; ich halte das Letztere für dem Zusammenhang nach wahrscheinlicher. § £4. Unter M o d a l i s ist im Folgenden sowohl die Erscheinung gemeint, daß ein Optativ, Jussiv oder Konditionalis gemeint sein muß, als auch die Erscheinung, daß im Deutschen Hilfszeitwörter wie „müssen, können, mögen, dürfen" usw. nötig werden, um den vollen aus dem Zusammenhang sich ergebenden Sinn der hebräischen Form zum Ausdruck zu bringen.

4. Grammatikalisches.

40, 4 40, 6 40, '25 41,1

77

soll sich heben, sollen sich senken soll ich rufen? 40, 18 wollt ihr vergleichen? 40, 25 45,11 daß ich gliche rüTi • • nar tretet herzu! redet!, folgt auf Imperative, so noch 41, 10—12; 45, 8. 21; 55, 7 41, 26 daß wir erkennen . . . und sagen könnten 41^28 daß sie Bescheid gäben 43, 9 sie sollen hören lassen, sollen Zeugen stellen, Recht bekommen, man soll . . . hören und sagen 43, 21 man soll erzählen 44, 7 er trete auf und rufe und . . . und . . .! 47, 8 ich muß nicht als Witwe sitzen 47,13 sie sollen auftreten . . . die . . . sollen helfen 49,16 mögen sogar sie vergessen . . . 49, 25 mag auch genommen werden . . . Ist in diesen zwei Fällen a steigernd ( = sogar sie) oder einräumend (— mag auch)?? 50,8 er stelle sich! 50,10 er höre! er vertraue! er stütze sich! § 45. Liebt es Dtjes auf der einen Seite, seine Gedanken in langgestreckten Großsätzen dahinfließen zu lassen, so liebt er es auf der andern Seite auch, die einzelnen Gliedmaßen dieser Großsätze unverbunden nebeneinander zu stellen; er liebt d i e A s y n d e s e . So ist 40,6—8 ein einziger Satz mit sechs asyndetischen Einsätzen: Kufe, alles Fleisch, das Gras, die Blume, das Gras, die Blume . . . Die künstlerische Absicht ist unverkennbar. Der Großsatz würde langatmig, träte an die Stelle der Asyndese hier jedesmal ein formaler Übergang. Die Asyndese rückt die einzelnen Glieder dicht aneinander, sie folgen sich Schlag auf Schlag, und zugleich ist doch die Gliederung deutlich spürbar; ein höchst lebendiges Stakkato ist so erzielt. Ebenso ist es 40,9—11: Erhebe deine Stimme, erhebe sie, fürchte . . . , sage, siehe, siehe, siehe, in seinem Arm, die Muttertiere . . . Ebenso ist es 52, 7: Die Füße des Boten, des Heilkünders, des Glücksbotens, des Kettungkünders, des zu Zion Sagenden . . . Ebenso ist es 53,10f.: Er sieht Nachwuchs, er lebt lange Tage, und es gefällt Jahwe, ihn aus der Mühsal zu retten, er sieht seine Lust, er sättigt sich . . . Dies sind Beispiele mit gehäufter Asyndese; weit öfter begegnet sie nur einmal, so 40,1 Tröstet . . ., redet . . . und sagt . . ., oder im nämlichen Vers: daß . . . vollendet ist, daß . . . abgetragen ist; 40, 3: in der Wüste bereitet..., macht in der Öde . . . Neben

5. Wortwahl und Wortfügung.

78

diese asyndetische Aufreihung zweier Kola tritt die von dreien: 40, 22—23 -¡man . . • ntsisn • • • sarm und selbst die von vieren Oder genauer, denn ihrer sind j e zwei zu einem Imperfekt- und zu einem Perfektpaar zusammengeordnet, von zwei Paaren: 40, 21 die vier Sätzchen mit a-fen. Die a s y n d e t i s c h e Reihung hat grammatikalisch vor allem insofern Bedeutung, als, wenn man auf sie achtet, verständlich wird, mit welcher Leichtigkeit Dtjes aus der Apposition in den a p p o s i t i o n e i l e n Kurzs a t z — wie man dieses Gebilde nennen könnte — hinüberg l e i t e t : 40,28 zum Subjekt n w tritt die Apposition p x n map tosk 51,17 •m-nsnn i-msnn 52,1 -ms -ms 52,11 monio, bezeichnenderweise meist im Imperativ. § 71. Ein Seitengänger der nominalen, aber weit weniger im Schwange als sie, ist d i e v e r b a l e Z w e i e r r e i h e . Dtjes bedient sich ihrer: (40, 14 inr:n pis ?) 40, 25 m«s« wnnn 41,4 bsE 41,11 labaT miiai 41,22

49,2> arx . . . rp-ni-n» m, -^o • • • --oh. Bei Jesaja findet man das Wortspiel in seiner schönsten Form, als knappste Schlagkraft, man denke nur an nsuia • • .usnaa und npss • • • npna 5, 7. Aber eben das ist der Unterschied: bei Jes Prägnanz, bei Dtjes Rhetorik. § 76. D a s k e n n z e i c h n e n d e E i g e n s c h a f t s w o r t , ohnehin bei den Hebräern im Vergleich zu den Griechen — man denke an Homer! — selten, begegnet bei Dtjes nur spärlich. Über eine Art Ersatz s. § 35. Belege: 40, 20 E^n ein 41,2 t p Ep 41, 15 min a-na 41, 18; 49, 8; 53, 2 rra p x 42, 3 p n rap 42, 3 nns nnus 42, 10 unn tu» 42, 22 110101 tto ös 43, 16 ons c a 45, 16 innoa bs< 45, 16 s^siia b t o 45, 21 jniäiai pma bx 52, 1 1-® iznpn (Adjektivumschreibung) 52, 10 iia-ip siit (ebenso) 52, 15 n-n-i cra 54, 3 niairs d^-o 54, 6 rm röissi mus ncx 54, 7 -pcp s n 54, 7 Qiin-a n^am 55, 3 Qisatwrt m -Hon. Von stehenden Eigenschaftswörtern kann man nicht reden, höchstens die Bildung ¡-ps p x , die dreimal begegnet, ausgenommen. § 77. D e r R e i m findet sich bei Dtjes 41, 11—13 in einer Reihe von sechs Stichen. 49, 10 ebnai • •. m w ? Das heißt: auch Dtjes kennt den Reim nicht, und man kann überhaupt von ihm sagen, daß er den üblichen Kunstmitteln eher aus dem Wege geht und eigne Mittel sucht, mit denen er allerdings eine große Wirkung erreicht, der es kaum Abtrag tut, daß sie eine rhetorische heißen muß.

102

6. Formen und Stoffe.

6. Formen und Stoffe. § 78. Hier werden zwei Fragen behandelt: 1. in welchen Formen sich Dtjes ausdrückt, und 2. welches seine Stoffe sind, wobei gelegentlich sich ein Wort darüber nahelegt, woher diese Stoffe stammen. Weil sich beobachten läßt, daß die Stoffe zumeist ihre Form in sich tragen und fordern, ist es gegeben, diese beiden Fragen in einem einheitlichen Zusammenhang zu erörtern. § 79. D e r B o t e n s p r u c h "und s e i n e A b w a n d l u n g e n . Gleich der erste Satz 40,1—2 ist ein gutes Beispiel einer stark entwickelten Abwandlung des ursprünglichen Botenspruches. Dieser besteht darin, daß ein Absender A zu einem Empfänger B einen Boten C schickt und dem Boten wörtlich beibringt, was er zu sagen hat; so geschieht es im Altertum allgemein — auch der antike Brief ist nichts andres als ein geschriebener Botenspruch — und noch heute da, wo man ungebildete Boten verwendet, denen man nicht zutraut, daß sie der Ausrichtung einer Botschaft mit selbstgewählten Worten ohne Beeinträchtigung des Inhaltes fähig sind. Im Botenspruch redet der Absender, der Bote ist nur Stimme, eine einleitende Formel nennt den Absender, oft auch den Empfänger. Oft begegnet auch eine Abschlußformel. Beispiele: „Zu Sin-idinnam sage: So [sagt] Hammurapi: Jetzt sende ich hiermit den . . (Ungnad, Babylonische Briefe aus der Zeit der Hammurapi-Dynastie, 1914, S. 21). „Zu Lu-Bau sage: So [sagt] Achum: Den . . . und seine Töchter lass frei" (ebenda, S. 91). „So sagt zu Amanappa, meinem Vater, ßib-adda, dein Sohn: Ich falle zu den Füßen m e i n e s . . . " (Knudtzon, Die El-AmarnaTafeln, 1915, 371). Gen 32, 4—6 Jakob schickte Boten vor sich her zu seinem Bruder Esau . . . und befahl ihnen: „So sollt ihr zu meinem Herrn Esau sagen: So sagt dein Sklave Jakob: Ich war Schutzbttrger bei Laban und . . . ich schickte aus, um es meinem Herrn zu melden und . . ." Ex 4, 21—23 Jahwe sagte zu Mose: „Sage zum Pharao: So sagt Jahwe: Israel ist mein erstgeborener Sohn. Ich sagte '¿vi dir: Entlass meinen Sohn, er soll mir dienen. Du weigertest

6. Formen und Stoffe.

103

dich, ihn zu entlassen. Siehe, ich töte deinen erstgeborenen Sohn —". Am 1, 6—8 So sagt Jahwe: „Wegen der drei Freveltaten von Gasa und . . . kommt um" — sagt Jahwe. Jer 2, 1—2: Das Wort Jahwes erging an mich: „Geh und rufe in die Ohren Jerusalems: So sagt Jahwe: «Ich gedenke dir . . . und Unglück kommt an sie» — ist der Ausspruch Jahwes." Die beiden Beispiele aus Gen und Ex zeigen den Botenspruch in der Entstehung aus dem Botenbefehl, wie ihn die Erzählung erhalten hat. Das Beispiel aus Jer zeigt ihn ebenso im Ichbericht. Die babylonischen drei Beispiele zeigen eine entwickelte Form seiner Abwandlung zum Briefstil. Das Beispiel aus Am endlich zeigt ihn in seiner geringen Abwandlung zum Prophetenspruch. Wenn man nun 40, 1—2 in einen Prophetenspruch der üblichen Form umwandelt, erhält man: Sage zu Jerusalem: „So sagt Jahwe: Deine Schuld ist abgetragen. Denn du empfingst von meiner Hand das Zwiefache für deine Sünden." Es ist wichtig, daß man beachtet, wie in diesem Satze alles gesagt ist, was sachlich in 40,1—2 von Belang ist. Welches sind die Abwandlungen, durch die 40, 1—2 entsteht? a) Der Satz, welcher den Absender der Botschaft angibt, steht nicht mehr vor der Botschaft, sondern ist parenthetisch in den Auftrag zur Botschaft eingeschaltet, b) Der Absender wird nicht einfach mit Namen genannt, sondern an dessen Stelle tritt eine Bezeichnung, und diese Bezeichnung wird durch eine Zueignung gefühlsbetont: „euer Gott", c) Der Bote wird überhaupt nicht genannt, was die Exegeten in Tätigkeit und Rätselraten ver